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German Pages 302 [301] Year 2022
Wissenschaftlicher Beirat: Andreas Anter, Erfurt Horst Bredekamp, Berlin Norbert Campagna, Luxemburg Sebastian Huhnholz, Hannover Florian Meinel, Göttingen Herfried Münkler, Berlin Henning Ottmann, München Walter Pauly, Jena Wolfram Pyta, Stuttgart Volker Reinhardt, Fribourg Peter Schröder, London Kazuhiro Takii, Kyoto Pedro Hermilio Villas Bôas Castelo Branco, Rio de Janeiro Loïc Wacquant, Berkeley Barbara Zehnpfennig, Passau Moshe Zimmermann, Jerusalem
Staatsverständnisse | Understanding the State herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 128
Lore Hühn | Sebastian Schwenzfeuer [Hrsg.]
„Wir müssen also auch über den Staat hinaus!“ Schellings Philosophie des Politischen
© Titelbild: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling (Joseph Karl Stieler, 1835).
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-4028-4 (Print) ISBN 978-3-8452-8310-4 (ePDF)
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1. Auflage 2022 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Editorial
Das Staatsverständnis hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder grundlegend gewandelt. Wir sind Zeugen einer Entwicklung, an deren Ende die Auflösung der uns bekannten Form des territorial definierten Nationalstaates zu stehen scheint. Denn die Globalisierung führt nicht nur zu ökonomischen und technischen Veränderungen, sondern sie hat vor allem auch Auswirkungen auf die Staatlichkeit. Ob die „Entgrenzung der Staatenwelt“ jemals zu einem Weltstaat führen wird, ist allerdings zweifelhaft. Umso interessanter sind die Theorien früherer und heutiger Staatsdenker, deren Modelle und Theorien, aber auch Utopien, uns Einblick in den Prozess der Entstehung und des Wandels von Staatsverständnissen geben. Auf die Staatsideen von Platon und Aristoteles, auf denen alle Überlegungen über den Staat basieren, wird unter dem Leitthema „Wiederaneignung der Klassiker“ immer wieder zurückzukommen sein. Der Schwerpunkt der in der Reihe Staatsver ständnisse veröffentlichten Arbeiten liegt allerdings auf den neuzeitlichen Ideen vom Staat. Dieses Spektrum reicht von dem Altmeister Niccolò Machiavelli, der wie kein Anderer den engen Zusammenhang zwischen Staatstheorie und Staatspraxis verkörpert, über Thomas Hobbes, den Vater des Leviathan, bis hin zu Karl Marx, den sicher einflussreichsten Staatsdenker der Neuzeit, und schließlich zu den zeitgenössischen Staatstheoretikern. Nicht nur die Verfälschung der Marxschen Ideen zu einer marxistischen Ideologie, die einen repressiven Staatsapparat rechtfertigen sollte, macht deutlich, dass Theorie und Praxis des Staates nicht auf Dauer voneinander zu trennen sind. Auch die Verstrickung Carl Schmitts in die nationalsozialistischen Machenschaften, die heute sein Bild als führender Staatsdenker seiner Epoche trüben, weisen in diese Richtung. Auf eine Analyse moderner Staatspraxis kann daher in diesem Zusammenhang nicht verzichtet werden. Was ergibt sich daraus für ein zeitgemäßes Verständnis des Staates im Sinne einer modernen Staatswissenschaft? Die Reihe Staatsverständnisse richtet sich mit dieser Fragestellung nicht nur an (politische) Philosophen und Philosophinnen, sondern auch an Geistes- und Sozialwissenschaftler bzw. -wissenschaftlerinnen. In den Beiträgen wird daher zum einen der Anschluss an den allgemeinen Diskurs hergestellt, zum anderen werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse in klarer und aussagekräftiger Sprache – mit dem Mut zur Pointierung – vorgetragen. Auf diese Weise wird der Leser/die Leserin direkt mit dem Problem konfrontiert, den Staat zu verstehen. Prof. Dr. Rüdiger Voigt
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Editorial – Understanding the State
Throughout the course of history, our understanding of the state has fundamentally changed time and again. It appears as though we are witnessing a development which will culminate in the dissolution of the territorially defined nation state as we know it, for globalisation is not only leading to changes in the economy and technology, but also, and above all, affects statehood. It is doubtful, however, whether the erosion of borders worldwide will lead to a global state, but what is perhaps of greater interest are the ideas of state theorists, whose models, theories and utopias offer us an insight into how different understandings of the state have emerged and changed, processes which neither began with globalisation, nor will end with it. When researchers concentrate on reappropriating traditional ideas about the state, it is inevitable that they will continuously return to those of Plato and Aristotle, upon which all reflections on the state are based. However, the works published in this series focus on more contemporary ideas about the state, whose spectrum ranges from those of the doyen Niccolò Machiavelli, who embodies the close connection between the theory and practice of the state more than any other thinker, to those of Thomas Hobbes, the creator of Leviathan, those of Karl Marx, who is without doubt the most influential modern state theorist, those of the Weimar state theorists Carl Schmitt, Hans Kelsen and Hermann Heller, and finally to those of contemporary theorists. Not only does the corruption of Marx’s ideas into a Marxist ideology intended to justify a repressive state underline the fact that state theory and practice cannot be permanently regarded as two separate entities, but so does Carl Schmitt’s involvement in the manipulation conducted by the National Socialists, which today tarnishes his image as the leading state theorist of his era. Therefore, we cannot forego analysing modern state practice. How does all this enable modern political science to develop a contemporary understanding of the state? This series of publications does not only address this question to (political) philosophers, but also, and above all, students of humanities and social sciences. The works it contains therefore acquaint the reader with the general debate, on the one hand, and present their research findings clearly and informatively, not to mention incisively and bluntly, on the other. In this way, the reader is ushered directly into the problem of understanding the state. Prof. Dr. Rüdiger Voigt
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Inhaltsverzeichnis
Lore Hühn / Sebastian Schwenzfeuer Einleitung
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Franck Fischbach Das politische Denken Schellings
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Hans Jörg Sandkühler Das Recht, der Staat und die Freiheit des Individuums. Zu Schellings kritischer Philosophie des Politischen
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Günter Zöller Vom Rechtsstaat zum Religionsstaat. Schelling über Staat und Kirche
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Wolfgang M. Schröder Schellings Neue Deduction des Naturrechts (1796/97) als aphoristische Rechtsphilosophie. Ein historisch-rechtstheoretischer Einordnungsversuch
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Alexander Bilda Das höchste Gut und der Staat. Zur Notwendigkeit und zum Verfall des Staates in Schellings System des transzendentalen Idealismus als Abgrenzung von Kant und Fichte
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Johannes-Georg Schülein Ontologie und Staat bei Schelling und Spinoza
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Ryan Scheerlinck Schellings Politische Philosophie, oder die Grenzen der Politik
207
Christoph Binkelmann Reden an die metaphysische Nation. Schellings politische Philosophie um 1807
237
Christian Danz Wissenschaft, Religion und Staat. Schellings Deutung der Reformation
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Moritz May Die politische Theologie des Verfassungsstaates. Schelling und Marx über Restauration und Revolution
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Autoreninformationen
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Lore Hühn / Sebastian Schwenzfeuer Einleitung
„Schelling ist kein politischer Denker.“1 Diesem Urteil von Jürgen Habermas dürfte wohl kaum zu widersprechen sein. Die ‚gelegentlichen Skizzen‘ und Ansätze Schellings zu einer Staats- und Rechtsphilosophie sind wohl in der Tat wenig geeignet, sein Denken auf einer Ebene mit Hegels politisch sehr viel ambitionierterer Rechtsphilosophie anzusiedeln und gewissermaßen auf Augenhöhe beide Repräsentanten der nachkantischen Philosophie ins Gespräch bringen zu wollen. Es gehört offensichtlich zum Schicksal von Schellings politischer Philosophie, dass sie im Schatten von Fichtes und Hegels ungemein wirkmächtigen Staats- und Rechtsphilosophien wahrgenommen und rezipiert wurde. So treffend dieses Urteil vordergründig auch ist, so komplex gestaltet sich das Thema bei einer näheren Betrachtung. „Wir müßen also auch über den Staat hinaus!“2 Diese radikale, für diesen Band titelgebende These ist demjenigen Fragment entnommen, das Franz Rosenzweig 1917 erstmals unter dem von ihm gewählten Titel Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus publiziert hat. Entstanden ist es wahrscheinlich zwischen Ende 1796 und Anfang 1797.3 Unangesehen der Autorschaft – Hegel, Hölderlin und Schelling werden seit der Veröffentlichung als mögliche Autoren gehandelt – trifft die zitierte Sentenz einen Nerv von Schellings staatstheoretischen Überlegungen. Noch in den Stuttgarter Privatvorlesungen 1810 behandelt Schelling den Staat als Folge eines Übels, das nicht sein sollte. Und wenn, wie in den Würzburger Vorlesungen, zwischen 1803 und 1806 gehalten, der Staat als Idee positiv gewertet wird, versäumt Schelling nicht zu betonen, dass es dabei weder um die wirklichen Staaten gehe, noch um die Idee einer Republik im Sinne Kants, von der er nicht viel hält.4 Dabei entspringt Schellings reservierte Haltung gegenüber den wirklichen Staaten einerseits und den republikanisch orientierten Staatskonzeptionen der aufgeklärten Bildungseliten andererseits einer emphatischen Analyse menschlicher Freiheit. Schon die Begründung für das oben angeführte Zitat zeigt dies deutlich: „Denn jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören“.5 In dem Maße, wie der Mensch frei ist und
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Habermas 1978, S. 172. AA II,6,1, S. 483; die Sigle AA, Reihe, Band, Seite verweist auf Schelling 1976ff. Vgl. ebd., S. 472. Vgl. AA II,7,2, S. 442. AA II,6,1, S. 483.
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diese Freiheit den normativen Maßstab hergibt, gilt es, die Mechanik des Staates zu negieren. Dabei ist Schelling keineswegs allein mit seiner staatskritischen Haltung. Zieht man etwa Wilhelm von Humboldts liberale, erst aus dem Nachlass publizierte Frühschrift Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen von 1792 heran, dann sieht man, dass menschliche Freiheit und staatliche Institutionen auch dort in einem äußerst spannungsreichen Verhältnis zueinander gesehen werden können, wo nicht der Ruf nach deren Abschaffung ergeht. Angesichts der obrigkeitsstaatlichen Ausgestaltung vieler damaliger Institutionen verwundert dies wenig. Wenn die Freiheit und Bildung des Einzelnen maßgeblich werden, kann dem Staat in Humboldts Überlegungen nur eine äußerlich sichernde, keineswegs aber irgendwie positive und auf irgend ein gesellschaftliches Wohl abzielende Funktion zugeschrieben werden.6 Die „Einförmigkeit“,7 die der junge Humboldt aus wohlfahrtsstaatlichem Handeln entspringen sieht und die seiner Ansicht nach „einer wahren, von den höchsten, aber immer menschlichen Gesichtspunkten ausgehenden Politik unangemessen“ sei,8 ist der Furcht vor einer Mechanisierung des Menschlichen nicht unähnlich, wenngleich die daraus gezogenen staatstheoretischen Konsequenzen nicht dieselben sind. Man sollte Schellings eher spärliche Einlassungen zum Thema und seine Zurückhaltung in den staats- und rechtsphilosophischen Debatten seiner Zeit ernstnehmen, immerhin erstreckt sich die Erfahrungszeit seines Lebens von der französischen Aufklärung bis hin zu den revolutionären Bestrebungen 1848/49. Und zu gewichtig ist doch seine Theorie menschlicher Freiheit und Subjektivität, als dass man seine Analysen des Politischen, des Rechts und des Staates einfach übergehen könnte. Das Spannungsfeld der damit angesprochenen Themen zu sondieren und Perspektiven auf das Politische bei Schelling zu werfen, ist Aufgabe der hier in diesem Band versammelten Beiträge. Diese zeigen, dass es eine vielfältige und durchaus auch kontroverse Forschung zum ‒ im weitesten Sinne verstandenen ‒ Bereich des Politischen bei Schelling gibt. Sie bieten einen Einblick in Debatten, die vermutlich weniger prominent sind als vergleichbare Auseinandersetzungen im Bereich der Kant-, Fichte- und Hegelforschung. Es sei um der Übersicht und eines ersten Eindruckes willen erlaubt, die Beiträge im Folgenden kurz zu referieren. Franck Fischbach konzentriert sich auf die Entwicklung von Schellings politischem Denken im Ganzen. Zunächst zeigt er dafür auf, dass Schelling in seiner Neuen Deduction des Naturrechts den Ausgang von der Disposition des endlichen Ich nimmt. In seinem praktischen Streben nach dem Absoluten erfährt das Ich einen Widerstand, der die Existenz eines anderen, moralischen Ichs indiziert. In dieser 6 Vgl. Humboldt 1851, S. 17-19. 7 Ebd., S. 18. 8 Ebd.
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Konzeption diagnostiziert Fischbach eine folgenschwere Aporie. Auf der einen Seite soll der einzige Zweck des allgemeinen Willens darin beruhen, die Freiheit des individuellen Willens zu konservieren. Weil die Form des individuellen Willens die Materie des allgemeinen Willens bedinge, könne dieser dem Individuum keinen Inhalt aufzwingen. Auf der anderen Seite muss der allgemeine Wille eine Einflusskraft auf den individuellen Willen ausüben können, indem er von diesem eine Handlungsweise fordert, welche die Koexistenz der Freiheit aller Individualwillen sichert. In dieser Konstellation entdeckt Fischbach den hermeneutischen Schlüssel, um die scharfe Kritik am individualistischen Standpunkt der modernen Naturrechtsdebatte einzuordnen, die Schelling in seinen späteren Texten übt. Auch Hans Jörg Sandkühler legt in seinem Aufsatz den Schwerpunkt auf das Bedingungsgefüge von Recht, Staat und Freiheit des Individuums innerhalb Schellings kritischer Philosophie des Politischen. In seiner leitenden These schließt er sich der prominenten Ansicht an, dass die Freiheit als „Invariante auf Schellings philosophischem Weg“ zu begreifen ist. Daher müssen auch das Recht und der Staat als geschichtliche Konsequenzen des ursprünglich freien, und darin zum Guten und zum Bösen disponierenden Handeln des Menschen verstanden werden. Indem Schelling die Freiheit des Individuums als Mittelpunkt bestimmt, erweist er sich nach Sandkühler als „ein durchaus moderner Theoretiker der Freiheit und des Rechts“. In Schellings Überlegungen zum Politischen muss nach Sandkühler stets eine janusköpfige Ambivalenz berücksichtigt werden. So plädiert Sandkühler dafür, Schellings vermeintlich restaurativ-reaktionäre Äußerungen unter der Signatur der konkreten, tagespolitischen Erfahrung revolutionärer Bestrebungen und im Hinblick auf die zeitgenössische Entwicklung des Kommunismus zu interpretieren. Hingegen könne Schellings Anti-Etatismus in philosophisch-systematischer Hinsicht als eine Konstante betrachtet werden. Nach Sandkühler ist keine „zweite Formulierung für Schellings kritisches Staatsverständnis so repräsentativ wie die geschichtstheoretische, das Sündenfall-Motiv aufnehmende Bilanz“, die in den Stuttgarter Privatvorlesungen gezogen wird. Der Aufsatz von Günter Zöller diskutiert Schellings Überlegungen zum Verhältnis von Staat und Kirche vor dem Hintergrund der Unterscheidung von Rechtsstaat und Religionsstaat. Ein wesentliches Anliegen des Beitrages gründet in der Ausarbeitung eindeutiger Distinktionskriterien, durch welche die divergierenden Beurteilungen des Staates in der Neuen Deduction des Naturrechts, in den politischtheologischen Ausführungen der Stuttgarter Privatvorlesungen und in den späten Vorlesungen zu Kants Auffassung des Staates als „Geltungsgrund von Bürger-Recht und rechtlicher Freiheit“ abgegrenzt werden können. Zunächst wird aufgezeigt, dass Fichte und Schelling sich von dem tradierten Paradigma neuzeitlichen Natur- und Vernunftrechts abwenden, wonach dem Recht ein überpositiver Begründungsgehalt inhäriere. Sodann widmet sich Zöller Schellings positiver Beurteilung des Staates
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in der Phase der Identitätsphilosophie. Insgesamt gelangt Zöller zu dem Fazit, dass sowohl Fichte als auch Schelling durch die Bevorzugung der ethisch-religiösen Organisationsform des „Reiches“ gegenüber dem Staat eine „historische Gelegenheit“ verspielten. Obwohl Fichte und Schelling mit dem geschichtlichen Ereignis einer Erringung der „bürgerliche[n] Freiheit in der Amerikanischen und der Französischen Revolution“ konfrontiert waren, hätten beide Denker darauf verzichtet, der von „Kant sekurierten sittlichen Autonomie die politische Autonomie an die Seite zu stellen“. Wolfgang M. Schröder entfaltet in seinem Aufsatz Schellings Neue Deduction des Naturrechts als aphoristische Rechtsphilosophie einen historisch-rechtstheoretischen Einordungsversuch dieses 1795 veröffentlichten Werkes. Schröder weist nach, dass Schelling die soziale Normativität des Rechts in seiner Neuen Deduction aus der unbeschränkten Selbstmacht des absoluten Ichs abzuleiten intendiert. Schellings ‚unendliches Naturgesetz‘, das sogar das Moralgesetz fundieren soll, lautet: „Seye absolut-identisch mit dir selbst.“ Dementsprechend benennt Schröder die Profilierung der „Selbstbestimmung und Herrschaft des absoluten menschlichen Ich in der ‚Welt der Erscheinungen‘“ als Grundthema der Neuen Deduction. Auf dieser Basis arbeitet Schröder drei Kernziele der Neuen Deduction heraus. Die Autonomie soll (1) als Naturordnung expliziert und begründet werden, (2) in ihrer Geltung legitimiert und (3) in ihrem aporetischen Charakter transparent gemacht werden. Es ist die dezidierte These Wolfgang Schröders, dass Schelling durch die Erfüllung des letztgenannten Erkenntnisziels den materialethischen Horizont der klassischen Naturrechtslehre überwinde. Der Beitrag von Alexander Bilda (Das höchste Gut und der Staat) konzentriert sich auf eine textnahe und detaillierte Untersuchung des Begriffs des Staates in Schellings System des transzendentalen Idealismus. Um die Funktion des Staates inmitten des Spannungsgefüges zwischen der Willkür und dem höchsten Gut ausloten zu können, stellt Bilda seinen Überlegungen zwei aufeinander bezogene Thesen als Ordnungsrahmen voran. Die erste These lautet, „dass der Staat als solcher ein notwendiger Bestandteil des ganzen Systems und menschlichen Handelns“ sei. Die hauptsächliche Legitimation des Staates gründe in der Aufgabe, die Freiheit innerhalb des Wechselwirkungskomplexes der Individuen zu sichern. Während die erste These die Unumgänglichkeit des Staates als freiheitssicherndes Regulativ unterstreicht, akzentuiert die zweite These des Aufsatzes die Notwendigkeit des binnengeschichtlichen Verfalls der Verfassungen. Gerade der permanente Wandel der Verfassungen und der faktische Untergang zahlreicher Staaten in der Geschichte bezeuge die „Macht der Willkür“. Dergestalt bekräftige sich Schellings Auffassung, dass die intendierte Vereinigung von Freiheit und Notwendigkeit in der Realität niemals durch den Staat gestiftet und dauerhaft erhalten werden könne.
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Johannes-Georg Schülein widmet sich in seinem Beitrag einer Gegenüberstellung von Ontologie und Staat bei Schelling und Spinoza. Im Falle Schellings richtet Schülein den Fokus auf die aus der Würzburger Zeit stammende, identitätsphilosophische Staatstheorie, wie sie sich besonders im System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere (1804) manifestiert. In seinem Aufsatz sucht Schülein die These zu plausibilisieren, dass die politische Differenz zwischen beiden Denkern – Schelling votiert 1804 für einen rigiden Ständestaat, wohingegen Spinozas Sympathie für die Demokratie sowohl in der Ethik als auch im Politischen Traktat unverkennbar ist – auf einem Unterschied der jeweiligen Ontologien beruhe. Im Hinblick auf Schelling möchte der Beitrag den Nachweis erbringen, dass in seiner Identitätsphilosophie „das Sein alles Einzelnen ontologisch prekär ist.“ Im Verlauf des Aufsatzes wird demonstriert, weswegen Schelling die Freiheitsprätention des Individuums angesichts der Ubiquität des unendlichen Seins Gottes als bloßen Schein oder gar als Hybris beurteilt. Daher könne der Einzelne nicht „als eine belastbare politische Legitimationsquelle“ fungieren. Demgegenüber soll bezüglich der Philosophie Spinozas veranschaulicht werden, dass die ontologische Dignität des Individuums angesichts der Conatus-Lehre keineswegs als schein- oder sündhafte Selbstüberhöhung markiert wird. Daraus ergebe sich, dass die Freiheit des Einzelnen bei Spinoza „eine größere ethisch-politische Rolle“ einnehmen könne. Ryan Scheerlinck beleuchtet in seinem Beitrag Schellings politische Philosophie, oder die Grenzen der Politik den Begriff des Gesetzes in der Darstellung der reinrationalen Philosophie. Zudem befasst sich Scheerlinck mit der Unterscheidung zwischen den Freien und Nicht-Freien im Würzburger System. Im Hinblick auf die Bedeutung des Gesetzes demonstriert Scheerlinck, dass dieses von Seiten Schellings als eine weder gottgegebene noch menschengemachte, sondern vielmehr als eine intelligible Ordnung verstanden wird. Das Gesetz lässt sich als „Idee einer [in] jeglicher Form von Gemeinschaft enthaltene[n] Rangordnung oder Ungleichheit von Herrschenden und Beherrschten“ definieren. Hinsichtlich des Entwurfs eines vollkommenen Staates sowie der Differenzierung zwischen den Freien und den Nicht-Freien lautet die Kernthese Scheerlincks, dass diese 1804/1805 entfaltete Konstruktion keineswegs im „Dienst der Praxis“ stehe und durch „sie kein politisches Programm aufgestellt werden [soll], um dessen praktische Umsetzung der Philosoph sich nach Verbündeten umzusehen hätte“. Stattdessen verfolge Schelling das Ziel einer Grenzziehung des Politischen, die sich notwendigerweise mit der Depotenzierung überschwänglicher Hoffnungen auf eine sinnstiftende Funktion des Staates verbinde. In seinem Aufsatz Reden an die metaphysische Nation untersucht Christoph Binkelmann die politische Philosophie Schellings im Jahre 1807, wobei das Fragment Ueber das Wesen deutscher Wissenschaft den Referenztext bildet. In dem Beitrag arbeitet Binkelmann fünf Faktoren heraus, welche die Politisierung der schellingschen
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Philosophie in dieser Phase erklären sollen. Erstens sei die Identitätsphilosophie Schellings nach seiner Berufung an die Würzburger Universität „politisch und religiös motivierten Anfeindungen“ ausgesetzt gewesen, sodass Schelling den Drang verspürt habe, sich politisch zu positionieren. Damit reagierte Schelling zweitens auf den prominenten Vorwurf, die Identitätsphilosophie vernachlässige die praktischen Elemente des menschlichen Lebens zugunsten spekulativer Überlegungen über das Wesen der Natur und der Kunst. Drittens sah sich Schelling veranlasst, auf die von Seiten des Schweizer Historikers Johannes von Müller im Jahre 1806 kolportierte Kritik zu antworten, wonach die spekulative Philosophie die „altväterischen Ideen von Freyheit, Muth, Selbständigkeit, Ehre, übertönt“ habe. Als vierten Beweggrund für Schellings ansteigendes politisches Interesse profiliert Binkelmann den „Wandel auf der politischen Landkarte“, der aus den militärischen Erfolgen Napoleons resultierte. Der fünfte Faktor kann laut Binkelmann in Schellings 1806 vollzogener Ernennung zum Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften aufgespürt werden, insofern sich diese als „genuin politisches Institut“ verstand. Der Aufsatz von Christian Danz befasst sich mit Schellings Deutung der Reformation. Danz weist nach, dass Schelling sich erst im Zuge der Ausarbeitung der Freiheitsschrift dezidiert und inhaltlich mit Luthers Theologie auseinandersetzte. Dabei studierte Schelling besonders Luthers Streitschrift De servo arbitrio (1525). Während der Frühphase im Tübinger Stift rekurrierte Schelling vornehmlich auf Luthers Bibel-Übersetzung, um philologisch-exegetische Sachprobleme aufzuhellen. Vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels und der napoleonischen Kriege widmete sich Schelling ab 1807 verstärkt einer Verortung der geistesgeschichtlichen Stellung der Reformation. In seinem Aufsatz votiert Danz für die These, dass sich in Schellings Werken von dem Fragment Ueber das Wesen deutscher Wissenschaft (1807) bis hin zu dem im Frühjahr 1846 verfassten Vorwort zu H. Steffens nachgelassenen Schriften die Kontinuität des Narrativs einer „unvollendeten Reformation“ konstatieren lasse. Einerseits habe die Reformation den ‚Sturz der Hierarchie‘ evoziert und die Herausbildung der freien Wissenschaft befördert. Andererseits habe sie die Trennung von Staat und Kirche hervorgebracht und befestigt. Danz zeigt auf, dass Schelling der Philosophie im Allgemeinen und der ‚organischen Metaphysik‘ der eigenen Identitätsphilosophie im Besonderen die entscheidende Rolle konzedierte, die diagnostizierte Entzweiung von Wissenschaft und Religion aufzuheben. Überlegungen zum Status der schellingschen Konzeption einer ‚philosophischen Religion‘ runden den Aufsatz von Danz ab. Moritz May wendet sich im abschließenden Beitrag Die politische Theologie des Verfassungsstaates. Schelling und Marx über Restauration und Revolution einem Vergleich zwischen den politischen Denkformen bei Schelling und bei Marx zu. Dabei geht er zunächst der Rezeption der schellingschen Philosophie bei Feuerbach und bei Marx nach. May vertritt die These, dass im Hinblick auf das Politische die
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Rede von dem „einen Schelling“ berechtigt sei. So habe Schelling zeit seines Lebens einen Konservatismus vertreten, der die wesentlichen geistigen, philosophischen und künstlerischen Tätigkeiten des Menschen von dem Wirkradius der staatlichen Einflussmacht distanziere. Dementsprechend habe Schelling zu keiner Phase seines Werkes für eine prinzipielle Ablehnung des Staates votiert. Stattdessen müsse Schellings vermeintliche Aufforderung zur Aufhebung des Staates stets als Kritik an einer Gemeinschaftsvorstellung interpretiert werden, in welcher der Staat als „letzter und einziger Einheitsgarant für die Gesellschaft“ gilt. Im Anschluss daran zeigt May Parallelen zwischen Schellings konservativer und Marxʼ revolutionärer Kritik des Verfassungsstaates auf. Während Schelling sich mit seinem Konservatismus sowohl gegen die Revolution als auch gegen die Reaktion richte, gelange Marx trotz einer ähnlich begründeten, kritischen Auffassung des säkularen Verfassungsstaates zu einer revolutionären Überbietung einer auf den Staat beschränkten, politischen Emanzipation zugunsten einer Umwälzung der bürgerlichen Gesellschaft. Die Herausgeber möchten Prof. Dr. Rüdiger Voigt, dem Nomos-Verlag und Dr. Jan Kerkmann für das Zustandekommen und die Unterstützung bei der Erstellung des Bandes ganz herzlich danken. Für die Übersetzung des Beitrages von Franck Fischbach sei Dr. Lucian Ionel und Louisa Estadieu herzlich gedankt.
Literatur Habermas, Jürgen, 1978: Dialektischer Idealismus im Übergang zum Materialismus. In: Ders.: Theorie und Praxis, Frankfurt a. M., S. 172-227. Humboldt, Wilhelm von, 1851: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau. Schelling, Friedrich W. J., 1976ff.: Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hrsg. von Buchheim, Thomas/Hennigfeld, Jochem/Jacobs, Wilhelm G./Jantzen, Jörg/Peetz, Siegbert. Stuttgart-Bad Cannstatt.
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Franck Fischbach Das politische Denken Schellings1
Unter den drei großen Denkern des deutschen Idealismus ist Schelling zweifelsohne der am wenigsten politische. Fichte erklärt, der Französischen Revolution „die ersten Winke und Ahnungen (seines) Systems“ zu verdanken, sofern dieses sich als „das erste System der Freiheit“ behaupten sollte.2 Hegel seinerseits hat in einem berühmten Brief an Schelling betont, dass seine „wissenschaftliche Bildung […] von den untergeordneten Bedürfnissen des Menschen anfing“, womit implizit gesagt ist, dass das Studium des sozialen, politischen und religiösen Lebens des Menschen eine notwendige Vorbereitung für die Erhebung zur wissenschaftlichen Form des Systems bedeutet – und von welchem System ausgehend es dann nach Hegel wiederum gelte, die „Rückkehr zum Eingreifen in das Leben der Menschen zu finden“.3 Während also Fichte wie auch Hegel zu erkennen geben, dass das Politische eine bedeutsame Rolle in ihrer philosophischen Bildung gespielt hat, so scheint Schelling für seinen Teil früh einen direkten Zugang zu den reinsten metaphysischen Problemen gefunden zu haben, und dies in gänzlicher Gleichgültigkeit gegenüber dem Politischen. Das ist angesichts der Jahre, in denen er seinen Bildungsgang abschloss, durchaus verwunderlich. Diese sozusagen ‚originelle‘ Gleichgültigkeit gegenüber dem Politischen hat zur Folge, dass Schelling auch der einzige der drei großen Idealisten ist, der kein Werk – genauer kein abgeschlossenes Werk – zur politischen Philosophie oder zur Philosophie des Rechts verfasst hat. In der Phase, in der seine Philosophie noch die für den ganzen Deutschen Idealismus kennzeichnende Form annimmt, also die der systematischen Darstellung, hat Schelling gewiss auch auf die Philosophie des Rechts Bezug genommen, und diese findet in der Tat gleichermaßen im System des transzendentalen Idealismus wie auch in der sogenannten ‚Identitätsphilosophie‘ ihren Ort. Im System des transzendentalen Idealismus schlägt Schelling zwar eine Rechtsphilosophie vor, die in ihrer Deduktion des Rechts direkt von Fichtes Grundlage des Naturrechts inspiriert ist; zugleich aber verliert diese Deduktion des Rechts bei Schelling den eigentümlich architektonischen Charakter, der ihr noch im ersten Systemansatz Fichtes zukam, wo das Recht die Verbindung
1 Die Übersetzung aus dem Französischen wurde von Lucian Ionel und Louisa Estadieu angefertigt. 2 Fichte, Brief an Baggesen, in GA III,2, S. 300. Fichtes Werke werden nach Fichte 1962-2012 zitiert (= GA Reihe, Band, Seite). 3 Hegel, Brief an Schelling, 2. November 1800, in Hegel 1952, S. 59-60.
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der Freiheit und der Natur ermöglicht hatte.4 Im Unterschied zu Fichte ist es dann die Philosophie der Kunst, und nicht die Philosophie des Rechts, der Schelling eine solche architektonische Funktion in der Ökonomie des Systems zuerkennt. Gleichfalls wird auch, nach 1800, das Identitätssystem noch auf die Theorie des Rechts und des Staats Bezug nehmen, allerdings hat Schelling zu keinem Zeitpunkt das Bedürfnis empfunden, das später Hegel empfand – nämlich seinerseits die Philosophie des Rechts und des Staats für sich selbst darzustellen. Hegel hat dies getan, indem er aus der Philosophie des Geistes der Enzyklopädie die Grundlinien der Philosophie des Rechts extrahiert hat. Im Übrigen: Sofern man sagen kann, dass Fichte und Hegel ihre philosophisch nachhaltige Wirkung zu einem großen Teil ihrer politischen Philosophie verdanken – ersterer der Grundlage des Naturrechts und den Reden an die deutsche Nation, letzterer den Grundlinien der Philosophie des Rechts oder den Partien der Phänomenologie, die dem Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft gewidmet sind –, so ist die weitestgehende Tilgung Schellings aus der Geschichte der Philosophie zweifellos darauf zurückzuführen, dass ein ausdrücklich entwickeltes politischen Denken in seinem Werk fehlt. Erst in jüngerer Zeit, insbesondere durch Jürgen Habermas und Manfred Frank, hat eine stärker politische Rezeption des schellingschen Denkens stattgefunden. Es ist bekannt, dass Habermas sich in seiner Dissertation Schelling gewidmet hat,5 und man könnte durchaus zeigen, dass der Gegensatz von Arbeit und Interaktion,6 den Habermas bereits in seinen ersten Schriften entfaltet, weit mehr in Schellings System des transzendentalen Idealismus als in Hegels früher Philosophie des Geistes ihre Quelle hat. Die Dissertation von Habermas hat ihre Fortsetzung 1963 in einem Aufsatz unter dem Titel „Dialektischer Idealismus im Übergang zum Materialismus“ gefunden.7 Dieser Aufsatz, und in seiner Folge die Arbeit von Manfred Frank,8 versuchen zu zeigen, dass Schellings Spätphilosophie von einer Erschöpfung des Idealismus zeugt, von der her der Übergang zu Marx’ historischem Materialismus verständlich wird. Ohne also selbst ein veritables politisches Denken formuliert zu haben, kommt Schelling demnach doch eine entscheidende Rolle in der Geschichte des politischen Denkens zu: Zwischen Hegel und Marx erscheint er als das fehlende Mittelglied. Wenngleich es bedeutsam ist, dass weder Jürgen Habermas noch Manfred Frank auch nur den geringsten positiven Verweis von Marx auf Schelling zu belegen vermögen, wollen wir hier keineswegs die geschichtliche Rolle diskutieren, die diese beiden Autoren Schelling zuschreiben. Vielmehr werden wir es unternehmen, eine Annahme kritisch zu prüfen, die Habermas nicht eigentlich ausweist: Vgl. Renault 1986. Vgl. zudem Fischbach 1999b. Habermas 1954. Vgl. Habermas 1968. Habermas 1963. Diese Studie von Habermas ist Gegenstand eines präzisen und kritischen Kommentars von Maesschalck 1991, Kap. 6, S. 92-114. 8 Frank 1992.
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nämlich die Annahme eines Fehlens zwar nicht jeglichen politischen Denkens bei Schelling, aber doch das Fehlen eines kohärenten politischen Denkens – ein Fehlen, das Habermas zu der Behauptung führt: „Schelling ist kein politischer Denker“.9 Ehe wir aber versuchen wollen, Schelling zu ‚retten‘, indem wir ihn trotz allem in die große Tradition einschreiben, die von Hegel zu Marx führt, – und ehe wir seinem Denken auf diese äußerliche Weise eine politische Bedeutsamkeit zuschreiben, die das Fehlen einer kohärenten politischen Lehre kompensieren soll, ist es dieses Fehlen selbst, das es zu überprüfen gilt, und zwar im geduldigen Nachvollzug eines Werks, das sich – und dies ist für die vorliegende Untersuchung nicht gleichgültig zu bemerken – im Wesentlichen zwischen 1793 und 1848 entfaltet.10 Die Neue Deduktion des Naturrechts ist der erste Text, in dem sich Schelling explizit mit der Rechtsphilosophie auseinandersetzt. Dieses Werk, vermutlich 1795 entstanden, ist unvollendet geblieben. Allerdings wurden zwei Teile von Schelling in den Jahren 1796 und 1797 im Philosophischen Journal Niethammers publiziert. Die Texte Schellings erscheinen somit im selben Jahr wie Fichtes erster Teil der Grundlage des Naturrechts, kurz vor Kants Rechtslehre. Schellings Ausgangspunkt in der Neuen Deduktion des Naturrechts von 1796 gleicht demjenigen von Fichte 1794 in den Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten: Schelling geht vom endlichen Ich und seinem praktischen Streben nach dem Unbedingten bzw. nach dem reinen Ich oder dem Absoluten aus.11 In seinem Streben nach dem absoluten Ich stößt das endliche Ich auf einen Widerstand, der dem Ich die Endlichkeit seiner selbst zu erschließen vermag. Der hier begegnende Widerstand ist nicht der physische Widerstand, den die Natur der physischen Kraft des Ichs entgegensetzt, sondern ein Widerstand gegen die moralische Kraft des Ichs, der das Dasein anderer Ichs manifestiert. Schelling schreibt: „Indem ich meine Freiheit beschränkt fühle, erkenne ich, dass ich nicht allein bin in der moralischen Welt“.12 Es verhält sich hier wie in Fichtes Vorlesungen von 1794: Intersubjektivität ist noch kein Gegenstand einer Deduktion, sondern wird lediglich als ein Faktum festgestellt. Sofern – wie Fichte 1796 in der Grundlage des Naturrechts und dann Schelling selbst 1800 im System des transzendentalen Idealismus aufgezeigt hatten – das Schicksal des Rechts als Gegenstand einer selbständigen Disziplin von einer strengen Deduktion der Intersubjektivität abhängig ist, gefährdet das Fehlen dersel-
9 Habermas 1963, S. 172. 10 Schellings politisches Denken ist in Frankreich bereits Gegenstand einer sorgfältigen Untersuchung von Rivelaygue 1983 gewesen, der wir viel verdanken und die wir hier nur zu ergänzen suchen, da Rivelaygue in seiner Untersuchung nicht über die Stuttgarter Privatvorlesungen hinausgegangen ist. 11 Vgl. AA, I,3, S. 139f.; Schelling wird nach folgenden Ausgaben und Siglen zitiert: Schelling 1976ff. (= AA, Reihe, Band, Seite) und Schelling 1856-61 (= SW, Reihe, Band, Seite). 12 AA, I,3, S. 142.
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ben in der Schrift von 1796 von Beginn an die Möglichkeit, zu einer Deduktion des Rechts und der Grundlage einer eigenständigen Wissenschaft zu gelangen. Dieser Hinweis ist eine Vorwegnahme. Wir kommen nun auf die Neue Deduktion zurück. Wie soeben herausgestellt, hängt die Endlichkeit des Ichs mit der Begegnung eines moralischen Widerstands zusammen, der seinem eigenen moralischen Bestreben entgegengesetzt ist. Daraus ergibt sich die Frage, wie dieser Widerstand selbst möglich sein kann. Denn das andere Ich, sofern es gleichermaßen moralisch ist, wird vom gleichen Bestreben wie mein eigenes Ich angetrieben. Woher kommt also sein Vermögen, mir zu widerstehen? Selbst wenn das Streben der Ichs auf dasselbe Ziel (auf das reine Ich) gerichtet ist, geht das Streben von endlichen Ichs aus. Das heißt, dass ihr Streben ein Bestreben in der Zeit ist, so dass ihre Kausalität „so mannichfaltig, (nicht-identisch), als die Objecte der empirischen Welt“ ist:13 „Also wird die unbedingte Causalität der moralischen Wesen im empirischen Streben widerstreiten, und ich fange an, meine Freiheit, der Freiheit aller übrigen entgegenzusetzen“, wie Schelling schreibt.14 Die Endlichkeit des Ichs fordert also eine ‚Übersetzung‘ der unendlichen Neigung in ein empirisches moralisches Streben. Dies führt zu der wichtigen Unterscheidung zwischen dem Bereich der Moral und einem Bereich, den Schelling hier als Ethik bezeichnet. Die Moral besteht aus einem Imperativ, der sich an das einzelne Individuum adressiert, und zwar in Abstraktion von seinem Verhältnis zu anderen, da auf der Ebene der reinen Moralität nichts vorhanden ist, was die Individuen voneinander unterscheidet. Angesichts dieses Imperativs sind alle Ichs identisch, oder, wie es Fichte in den Beiträgen von 1793 formuliert hat: alle Ichs bilden in dieser Hinsicht nur ein einziges Ich bzw. ein einziges Individuum.15 Wird aber ersichtlich, dass das moralische Streben des endlichen Ichs ein empirisches Streben ist, das mit dem empirischen Streben eines anderen Ichs in Konflikt treten kann, dann gilt es den Imperativ der Moral zu ergänzen. Und zwar indem das Streben des endlichen Ichs nach dem Unbedingten derart gefasst wird, dass „das empirische Streben aller andern [endlichen Ichs] zugleich mit dem seinigen bestehen könne“.16 „Hier treten wir aus dem Gebiet der Moral in das der Ethik“, schreibt Schelling, und die Ethik ist „ein Gebot, das ein Reich moralischer Wesen voraussetzt“.17 13 Ebd., S. 143. 14 Ebd. 15 Vgl. Fichtes Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die französische Revolution, GA I, 1, S. 193-404. 16 AA, I,3, S. 145. 17 Ebd. An dieser Stelle ist es interessant, auf die große Nähe Schellings zu Fichtes Ausführungen in den Beiträgen von 1793 zu verweisen, in denen das Verhältnis zwischen Moral, Naturrecht und positivem Recht in der Form von konzentrischen Kreisen beschrieben wird. Ähnlich wie Fichte geht Schelling hier von der intelligiblen Natur des Ichs zur empirischen Vielfältigkeit der Ichs über. Fichte hat allerdings die Ansicht vertreten, dass diese empirische Vielfältigkeit ausreichend ist, um den Bereich des Naturrechts als „Sittengesetz, in wiefern es die Welt der Erscheinungen bestimmt“ (GA I,1, S. 278) zu begrenzen. Schelling geht es seinerseits um die
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Diese Unterscheidung zwischen Moral und Ethik führt wiederum zu der Unterscheidung zwischen einem individuellen und einem allgemeinen Willen. Ersterer ist der moralische Wille, letzterer ist derselbe moralische Wille, jedoch ein moralischer Wille, der mit dem individuellen Willen der anderen vereinbar ist. In diesem Sinne erhält der allgemeine Wille seine Form vom individuellen moralischen Willen und diese Form ist die Freiheit. Schelling schreibt, „weil und insofern ich Anspruch auf Individualität mache, unterwerfe ich mich dem allgemeinen Willen“,18 der seinerseits wiederum meinen individuellen moralischen Willen mit dem Willen der anderen vereinbar zu machen vermag. Zugleich sehen wir hier, dass selbst die Materie des allgemeinen Willens, d. h. der Inhalt seines Imperativs, von der Form der individuellen Freiheit bestimmt wird, da die Ethik nichts fordern kann, was gegen die Form der Freiheit verstößt. Dies besagt weiterhin, dass ich akzeptiere, mich dem allgemeinen Willen zu unterwerfen, sofern ich darin ein Mittel erkenne, meinen individuellen moralischen Willen zu behaupten.19 Demnach schreibt die Ethik Pflichten vor und fordert das Handeln nach einem Gesetz, das die Koexistenz der Freiheiten ermöglicht. Diese Forderung hat allerdings nur dann einen Sinn, wenn der individuelle Wille zugleich aufrechterhalten wird und zwar sowohl seiner Form als auch seinem Inhalt nach, d. h. in seiner Möglichkeit, sich selbst Inhalte zu geben. Die ethische Forderung ist an die Bedingung gebunden, dass sie dem individuellen Willen von vornherein ermöglicht, sich selbst einen Inhalt zu geben. Nur aufgrund dieser Möglichkeit vermag sie diesen Inhalt unter Berücksichtigung der Allgemeinheit zu bestimmen. Diese Bestimmung kann sich ihrerseits nur dann realisieren, wenn die Ethik die Form des individuellen Willens bzw. seine Freiheit aufrechterhält. Da die Ethik demnach verpflichtet ist, die dem Willen eigentümliche Möglichkeit zu bewahren, sich selbst Inhalte zu geben, eröffnet sie den Raum des Rechts als einen Raum der Unbestimmtheit. Der Ethik kommt dabei die Aufgabe zu, diese Unbestimmtheit um den Preis des Selbstwiderspruchs aufzubewahren. Wenn die Ethik den Inhalt des individuellen Willens gänzlich bestimmen würde, d. h. wenn sie dem Willen die Möglichkeiten abspräche, sich selbst einen Inhalt zu geben, dann würde sie zugleich die Form des individuellen Willens aufheben, was mit dem angestrebten Zweck der Ethik in Widerspruch zu stehen scheint. Dieser Zweck liegt, wie bereits erwähnt, in der Aufrechterhaltung der individuellen Freiheit in und durch die Vereinbarkeit der individuellen Freiheiten untereinander. Es ist somit die Ethik selbst, die den Raum für eine andere Disziplin öffnet, die das Naturrecht ist: Vermeidung einer solchen unmittelbaren Deduktion des Rechts im Ausgang der Moral, an der Fichte noch 1793 festhält. Dies ist auch der Grund, weshalb Schelling eine neue Ebene bzw. einen zusätzlichen Kreis einführt: die Sphäre der Ethik. Es wird zu zeigen sein, dass Schelling unsicher ist, ob diese neue Sphäre ausreicht, um die Autonomie des Rechts zu gewährleisten. 18 AA I,3, S. 145. 19 Ebd., S. 148.
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„[D]er Ethik, d.h. demjenigen Theile der Moral, welcher Allgemeinheit des Willens der Materie nach fordert, muß eine andre Wissenschaft entgegenstehen, welche Individualität des Willens der Form nach behauptet“.20 Schelling gelangt so zu einer Deduktion des Naturrechts, die auf der Entgegensetzung zwischen Sollen und Können, zwischen Sollen und Mögen beruht. Hierdurch hofft er, die Autonomie „der Wissenschaft des Rechts“ zu garantieren, insofern sich diese „einzig und allein im Gegensatz gegen die Wissenschaft der Pflicht“ behauptet.21 Die Trennung des Rechts und der Ethik setzt trotz allem voraus, dass die Rechtsbehauptung des individuellen Willens bloß in Opposition zum allgemeinen Willen möglich ist. Doch welches Recht hat der individuelle Wille, dem allgemeinen Willen entgegengesetzt zu sein? Der individuelle Wille hätte nur dann ein Recht gegen den allgemeinen Willen, wenn sich das Gebot desselben der Form des individuellen Willens entgegensetzen würde, wenn „die Materie desselben der Form meines Willens zuwider wäre“.22 Wir haben jedoch gesehen, dass eine solche Trennung unmöglich ist, da der einzige Zweck des allgemeinen Willens in der Aufbewahrung des individuellen Willens besteht, sofern er diesen mit den anderen individuellen Willen zu vereinbaren vermag. Denn es ist immer die Form des individuellen Willens, die den Inhalt des allgemeinen Willens bedingt. Umgekehrt erhebt der allgemeine Wille den Anspruch, auf die Materie oder auf den Inhalt des individuellen Willens ein Recht auszuüben: Der allgemeine Wille fordert vom individuellen Willen eine Handlungsart, die die Koexistenz der vernünftigen Wesen ermöglicht. Aufgrund dieses Anspruchs, dem individuellen Willen einen Inhalt aufzuzwingen, verneint der allgemeine Wille die Form des individuellen Willens – was er allerdings nicht tun kann, ohne sich selbst zu widersprechen.23 „Alles, selbst der allgemeine Wille“, so Schelling, „beugt sich vor der Freiheit des Individuums, wenn sie zu ihrer eignen Rettung wirksam ist“, und „ich habe ein Recht zu jeder Handlung, wodurch ich die Selbstheit des Willens behaupte“.24 Da aber allen anderen Individuen dasselbe Recht zu Teil ist und da ich kein Recht habe, das Recht der anderen einzuschränken, so folgt daraus, dass das Naturrecht sich allein durch Gewalt und Zwangsausübung zu behaupten vermag. Dies besagt weiterhin, dass das Naturrecht sich verneint, insofern es sich behauptet. In der Deduktion geht Schelling nicht vom Naturrecht zum politischen Recht über. Die Logik des Textes legt allerdings die Vermutung nahe, als hätte Schelling hier den Gedanken entwickelt, dass die Koexistenz der Individuen allein anhand einer Unterwerfung unter einen gemeinsamen Zwang möglich zu sein vermag; obgleich die Legitimation des Zwangs problematisch ist, da sie zwangsläufig die Negation der individuellen Freiheit implizieren würde. 20 21 22 23 24
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Ebd., S. 150. Ebd., S. 153. Ebd., S. 160. Ebd., S. 161. Ebd., S. 171.
Die Ratlosigkeit, in die Schelling dadurch geraten ist, hängt damit zusammen, dass die für die Begründung des Rechts notwendige Setzung der juristischen Ordnung als eines Systems von Zwängen, das ausschließlich aus Machtverhältnissen besteht, zur Negation der individuellen Freiheit führt, die Schelling zu Beginn als Absolutes gesetzt hatte. Diese Aporie kann Schelling später nur lösen, indem er den individualistischen Standpunkt verlässt und eine immer radikalere Kritik am modernen Naturrecht formuliert; insbesondere da er davon ausgeht, dass dieses einen individualistischen Standpunkt voraussetzt. Der Staat und das Recht als Zwangsinstitutionen erscheinen Schelling also nicht bloß legitim, sondern auch absolut notwendig zu sein, da sie das entscheidende Gegenstück zur modernen Entwicklung des Individualismus bilden, den sie durch ihre Funktion einzuschränken und zu zügeln vermögen. Dies wird nun die allgemeine Tendenz von Schellings gedanklicher Entwicklung in Bezug auf das Politische sein. Zumindest, wenn man die Phase zwischen 1801 und 1806 vernachlässigt, d. h. die sogenannte ‚Identitätsphase‘, auf die wir erst später eingehen wollen, da sie eine Ausnahme in dieser allgemeinen Entwicklungstendenz darstellen könnte. Nachdem Schelling das Recht in der Neuen Deduktion von 1796 als reinen Zwang deduziert hat, wird sein erster Schritt ein Gestus der Ablehnung aller rechtlichen Institutionen und dabei insbesondere des Staats sein. Von einer solchen Ablehnung zeugt insbesondere Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, das 1917 von Rosenzweig wiedergefunden und veröffentlicht worden ist.25 Es ist bekannt, dass Rosenzweig diesen Text Schelling zugeschrieben hat, obgleich er doch auf Hegel zurückgeht. Andere, namentlich Wilhelm Böhm26 und Ludwig Strauss27, haben hingegen in Hölderlin den Autor oder Inspirator des Textes erkannt, bevor Otto Pöggeler28 die Autorschaft Hegel und Xavier Tilliette29 dann erneut Schelling zugeschrieben haben. Ohne diese Debatte zu vertiefen, können wir doch festhalten, dass die radikale Kritik am Staat, wie sie im Ältesten Systemprogramm formuliert ist, völlig verständlich wird, wenn man sie im Anschluss an Schellings Schlussfolgerungen aus der Neuen Deduktion von 1796 verortet. Derselbe, der zu dem Schluss gelangt ist, dass jede Geltendmachung des Rechts zugleich auch eine Zwangsausübung impliziert, hätte im Ältesten Systemprogramm in diesem Sinne weiterschreiben können: es [gibt] keine Idee vom Staat […], weil der Staat etwas Mechanisches ist, so wenig als es eine Idee von einer Maschine gibt. Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee.
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Rosenzweig 1917. Böhm 1926. Strauss 1927. Pöggeler 1969. Tilliette 1973; aufgenommen in Tilliette 1987.
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Wir müssen also auch über den Staat hinaus! – Denn jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; u. das soll er nicht; also soll er aufhören.30
Die Idee des Staats als einer Zwangsinstitution, die einen ähnlichen Mechanismus ins Werk setzt wie den, der im Reich der anorganischen Natur waltet, ist eine Konzeption, die Schelling noch 1800 im System des transzendentalen Idealismus vertritt. Allerdings mit dem Unterschied, dass der Zwang an dieser Stelle Gegenstand einer Deduktion ist, die den Zwang zu legitimieren sucht. Der Deduktion des Rechts geht die Deduktion der Intersubjektivität bzw. der Wechselverhältnisse zwischen den Ichs voraus: „Aber Vernunftwesen können handeln, und eine Wechselwirkung zwischen solchen durch das Medium der objectiven Welt ist sogar Bedingung der Freyheit“.31 Auf eine sehr ähnliche Weise wie Fichte in der Grundlage des Naturrechts, zeigt Schelling hier auf, dass das Ich nur dann ein Bewusstsein seiner selbst als frei Handelndem zu erlangen vermag, wenn es dem eigenen Handeln eine Schranke setzt.32 Diese Schranke, die erst ermöglicht, dass das Ich sich auf sich selbst bezieht und sich hierdurch seiner eigenen Freiheit bewusst wird, kann nun ihrerseits keine Schranke sein, die die Negation dieser Freiheit als Resultat hätte. Daraus folgt, dass die Schranke nichts anderes als das freie Handeln eines anderen, eines ebenso freien Ichs zu sein vermag. Entgegen Schellings Ansatz in der Neuen Deduktion von 1796, wird die Endlichkeit des Ichs nun nicht länger vorausgesetzt; sie wird allerdings als Möglichkeitsbedingung des selbstbestimmenden konstitutiven Akts des Selbstbewusstseins deduziert. Bisher wurde Intersubjektivität als Ermöglichungsbedingung von Selbstbewusstsein deduziert. Im Folgenden wird zu zeigen sein, dass auch die Deduktion des Rechts zugleich die Möglichkeitsbedingung von einem bestimmten Grundzug des Selbstbewusstseins impliziert. Dieser Grundzug ist seine Permanenz. Wären sich alle Ichs der Handlung anderer Ichs als der Möglichkeitsbedingung der eigenen Freiheit und damit des eigenen Selbstbewusstseins stets bewusst, dann würden sie auch alle „ihr Handeln durch die Möglichkeit des freyen Handelns aller übrigen einschränken“.33 Dies ist allerdings nicht der Fall, da das Ich durch zwei verschiedene Tätigkeiten charakterisiert ist: Auf der einen Seite existiert eine subjektive Tätigkeit, „ein absolutes Wollen, das seiner Natur nach kein anderes Object hat, als das Selbstbestimmen an sich“ und von der das Ich anhand des moralischen Gesetzes ein Bewusstsein zu erlangen vermag.34 Auf der anderen Seite kann diese Tätigkeit dem Ich nur dann bewusst werden, wenn sie einer anderen Tätigkeit entgegengesetzt ist, und zwar einer „objective[n] Thätigkeit“, die so heißt, da ihr
30 31 32 33 34
24
Rosenzweig 1917, S. 6. AA I,9,1, S. 281. Ebd., S. 81-83. Ebd., S. 281. Ebd., S. 277.
Gegenstand „ein Aeußeres“ ist, auf den sie wie „ein Naturtrieb […] völlig blindlings wirkt“.35 Die subjektive und die objektive Tätigkeit bezeichnen im endlichen Ich also den Konflikt zwischen dem moralischen Willen und dem natürlichen Bestreben, das wesentlich ein eigennütziges Streben ist.36 Aufgrund dieses Konflikts besteht die Möglichkeit, dass sich das Individuum vom eigennützigen Streben bestimmen lässt und es folglich ohne Rücksicht auf das freie Handeln anderer handelt. Damit das Wechselverhältnis also tatsächlich stattfinden kann, bedarf es einer neuen notwendigen Bedingung. Diese Bedingung ist das Recht: „Es muss durch den Zwang eines unverbrüchlichen Gesetzes unmöglich gemacht seyn, dass in der Wechselwirkung aller die Freyheit des Individuums aufgehoben werde“, wie Schelling schreibt.37 Dieser Zwang wird gegen das objektive Streben, d. h. gegen das natürliche und eigennützige Streben ausgeübt. Wie wir sehen, ermöglicht es Schelling, die Unterscheidung zwischen diesen beiden Arten des Strebens, das in der Neuen Deduktion aufgezeigte Hindernis, zu überwinden. Die subjektive Tätigkeit, d. h. die Freiheit, wird auf diese Weise nämlich weder verleugnet noch durch einen Zwang gefährdet, da dieser nur auf die objektive Tätigkeit bzw. auf das natürliche Streben wirkt. Sofern dieses natürliche Streben auf die Außenwelt gerichtet ist, gilt es hierbei, die äußere Welt so zu organisieren, dass das natürliche Streben in der Außenwelt einen Rückstoß erleidet, durch den es in der Interaktion mit einem Anderen seine Freiheit aufhebt. Dieser Rückstoß hat das eigennützige Streben mit sich selbst in Widerspruch zu setzen. Das Streben muss eine solche Erfahrung der Unlust machen, dass durch diese sein egoistisches Verlangen nach Glück zerstört wird. Dieser Vorgang ist die Ermöglichungsbedingung und Gründung „einer zweiten Natur“. Wie Schelling schreibt: Es muß eine zweyte, und höhere Natur gleichsam über der ersten errichtet werden, in welcher ein Naturgesetz, aber ein ganz anderes, als in der ersten Natur herrscht, nämlich ein Naturgesetz zum Behuf der Freyheit. […] Ein solches Naturgesetz […] ist das Rechtsgesetz, und die zweyte Natur, in welcher dieses Gesetz herrschend ist, die Rechts-Verfaßung.38
Wie bereits 1796 führt Schelling die Rechtsordnung hier hauptsächlich auf die Ausübung des Zwangs zurück, jedoch mit dem wesentlichen Unterschied, dass der Rechtszwang nun Gegenstand einer gelingenden Deduktion ist, die zugleich deren reüssierte Legitimation gewährt. Die mechanische Natur bzw. der mechanische Charakter der Rechtsordnung, der in der Neuen Deduktion noch unbegründet blieb und der dann im Ältesten Systemprogramm heftig kritisiert wurde, wird nun von Schelling gänzlich affirmiert und als Notwendigkeit ausgewiesen. Wird das 35 36 37 38
Ebd., S. 273. Ebd., S. 281. Ebd. Ebd., S. 281f.
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Mechanische dergestalt als ein fast natürlicher Zwang verstanden, der gegen das natürliche Streben des Ichs gewendet wird, d. h. als ein Zwang, der das natürliche Streben gegen es selbst wendet, so scheint es, als sei der Zwang des Rechts radikal unabhängig von der Moral: Es erhellt aus dieser Deduction von selbst, dass die Rechtslehre nicht etwa ein Theil der Moral, oder überhaupt eine practische Wissenschaft, sondern eine rein theoretische Wissenschaft ist, welche für die Freyheit eben das ist, was die Mechanik für die Bewegung, indem sie nur den Naturmechanismus deduciert, unter welchem freye Wesen als solche in Wechselwirkung gedacht werden können.39
Sofern die Rechtslehre auf der Seite des natürlichen, an Gegenständen orientierten Strebens steht und indem sie sich als ‚Regulationstechnik‘ dieses natürlichen Strebens darstellt, gewinnt die Rechtslehre ihre Autonomie gegenüber der Moral. Hierdurch öffnet sich zugleich ein ganz neuer theoretischer Bereich: die Wechselwirkungen, die für eine zweite Natur konstitutiv sind, werden Gegenstände einer theoretischen Disziplin, die erst einmal nur von der Rechtslehre besetzt ist. Noch eine letzte Bemerkung, bevor wir das System des transzendentalen Idealismus verlassen. Wenn Schelling das Recht als Errichtung der mechanischen Ordnung eines legitimen Zwangs beschreibt, begreift er diese keineswegs als das Produkt eines Vertrags, sei dieser reellen oder, wie bei Kant, rein regulativen Charakters. Die transzendentale Deduktion geht vielmehr vom Bedingten zur Bedingung über. Das Bedingte ist hier als die Selbstbestimmung des Ich gefasst, d. h. als das Bewusstsein seiner selbst als freier Tätigkeit, und es kommt nun darauf an, die Ermöglichungsbedingungen eines solchen Bewusstseins zu bestimmen. Diese Bedingungen sind die Intersubjektivität und das Rechtssystem. Soll also Selbstbewusstsein möglich sein, dann ist zugleich eine Rechtsordnung notwendig, da diese die Ermöglichungsbedingung für die Permanenz des Bewusstseins ist. Anders gewendet: Existiert Selbstbewusstsein, dann existiert auch notwendigerweise das Recht, dessen Dasein dem Selbstbewusstsein vorauszugehen hat. Es existiert also keine mögliche Freiheit und kein mögliches Bewusstsein der Freiheit außerhalb des Rechtssystems, das immer schon vorhanden ist. Diese Schlussfolgerung, zu der Schelling 1800 gelangt, impliziert eine Kritik am modernen Naturrecht, nicht zuletzt, weil sie jede Vorstellung von einem subjektiven oder individuellen Naturrecht ablehnt. Wir werden sehen, dass sich diese antiindividualistische Tendenz im Laufe des schellingschen Wegs bis zum Punkt einer radikalen Anfechtung der Modernität verschärfen wird. Wie angekündigt, lassen wir erst einmal die Texte der ‚Identitätsphase‘ beiseite und behandeln zunächst die sogenannte ‚mittlere‘ Phase, die mit den Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit von 1809 und den Stuttgarter Privatvorlesungen von 1810 anhebt. 39 Ebd., S. 282.
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In den Stuttgarter Privatvorlesungen entwickelt Schelling eine Theorie des Staats, die trotz einer gewissen Wandlung innerhalb seiner Systemkonzeption unmittelbar an das System des Idealismus von 1800 anknüpft. Hier heißt es: „Die Natureinheit, diese zweite Natur über der ersten, zu welcher der Mensch nothgedrungen seine Einheit nehmen muß, ist der Staat“.40 Diese Ausdrücke – die „zweite Natur“ und das Notgedrungensein – sind uns aus dem System des transzendentalen Idealismus bekannt. Jedoch werden sie nun in den Rahmen einer im Anschluss an die Untersuchungen vollständig erneuerten Ontologie gestellt, mit der wir uns nun kurz beschäftigen wollen. Die zwei Teile der Identitätsphilosophie, d. h. das Reelle und das Ideelle oder auch die Natur und der Geist werden hier nun als zwei Prinzipen in Gott selbst begriffen. Das Reelle ist jetzt der Grund, und zwar der Grund bzw. das Fundament der Existenz Gottes, während das Ideelle diese Existenz selbst bezeichnet. Anders formuliert: Das Reelle ist das, was ohne Gott nichts wäre, zugleich aber das, was in Gott nicht Gott selbst ist – es ist das Bewusstlose oder das Sein Gottes. Hingegen ist das Ideelle dasjenige, was in Gott wahrhaft Gott ist, d. h. der seiende oder bewusste Gott. Das erste Prinzip, das zugleich auch die erste Kraft ist, nennt Schelling die „Selbstheit, den Egoismus in Gott“.41 Dieses Prinzip repräsentiert eine kontrahierende und verschließende Kraft. Das Ideelle wird dieser Kraft als eine zweite Kraft entgegengesetzt, die ihrerseits expansiv ist; sie ist eine Kraft der Ausbreitung, die Schelling als „Liebe Gottes“ bezeichnet und kraft derer Gott seine eigene Existenz und die Existenz der anderen Dinge von seinem eigenen Grund zu befreien vermag. Dabei ist die Schöpfung „die Unterordnung des göttlichen Egoismus unter die göttliche Liebe“,42 die durch den Standpunkt des Egoismus, d. h. des Reellen als Natur, realisiert wird sowie anhand eines Prozesses, durch den die Natur allmählich dem ideellen Prinzip untergeordnet und hierdurch ‚gemildert‘ wird. Dieser Prozess findet seine Erfüllung im Menschen, dessen Erscheinung zur Erweckung des ideellen Prinzips in der Natur selbst führt. Indem der Mensch das in der Natur entstandene ideelle Prinzip repräsentiert, kommt ihm eine Zwischenstellung zu, die ihn von den beiden Extremen zu befreien vermag. Mit den Worten Schellings: „Dadurch also, daß der Mensch zwischen dem Nichtseyenden der Natur und dem absolut-Seyenden = Gott in der Mitte steht, ist er von beiden frei“.43 Diese Freiheit verleiht dem Menschen eine Möglichkeit, über die Schelling ab 1804 nachzudenken beginnt: Es ist die Möglichkeit zu irren, zu sündigen und zu verfallen. Sofern der Mensch zwischen der kontraktiven und egoistischen Kraft der Natur auf der einen Seite sowie der expansiven göttlichen Kraft auf der anderen Seite steht, verfügt er über die Möglichkeit, die erste Kraft zu wählen. Er vermag sich 40 41 42 43
AA II,8, S. 146. Ebd., S. 106. Ebd., S. 108. Ebd., S. 140.
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somit für eine egoistische Existenz, eine ganz eigene Existenz zu entscheiden. Statt zu sein, was er sein sollte, d. h. ein Punkt des Durchgangs und des Überganges auf einer kontinuierlichen Linie von der Natur zum Geist, hat der Mensch schließlich „das natürliche, eigne[...] Prinzip“ aufgeweckt, das den ganzen natürlichen Prozess zu einer „relativen Unthätigkeit“ geführt hat,44 wenngleich der „Proceß, der in der Natur begonnen hatte, […] in ihm aufs neue und wieder von vorne an[fängt]“.45 Indem der Mensch bzw. die Menschen also aufgehört haben, ein Punkt des Gleichgewichts zwischen Natur und Gott zu bilden, hat die Menschheit zugleich darauf verzichtet, in Gott die eigene Einheit zu finden. Aus diesem Grund sind die Menschen gezwungen, nach einer natürlichen Einheit zu suchen, die zugleich ihrem Wesen, frei zu sein, widerspricht. Diese natürliche Einheit, die die Menschen als Ersatz für die Unmöglichkeit einer geistigen Einheit herstellen, ist nun eben jene „zweite Natur“, die im Staat erkannt wird. Das Dasein des Staats ist somit der Beweis des Abfalls. Dennoch formuliert Schelling noch 1810 eine Deduktion des Staats, die nun allerdings nicht länger transzendentalen, sondern vielmehr metaphysisch-religiösen Charakters ist. Trotz der Umwälzung des systematischen und metaphysischen Rahmens, sind hier zahlreiche Elemente aus Schellings früherer Staatskonzeption enthalten. So ist die Institution des Staats 1810, wie bereits 1800, nicht unabhängig von der Analyse eines eigennützigen Strebens zu verstehen. Die Institution des rechtlichen Zwangs erscheint jedes Mal als ein Instrument der Regulation und der Korrektion eines natürlichen und egoistischen Strebens, insofern dieses gegen sich selbst gewendet wird, d. h. insofern der Staat das physische und natürliche Mittel des Zwangs gegen das ebenso physische und natürliche Streben des Egoismus einsetzt. Der Staat wird bei Schelling immer als ein natürlicher Mechanismus zweiter Ordnung begriffen, der die Natur gegen sich selbst wendet. Dieselbe Konzeption, die 1800 Schelling zur Trennung der Staatslehre von der Moral geführt hat, mündet nun in der Behauptung, dass der Staat keine geistige Realität zu sein vermag und es damit zugleich unmöglich ist, ihn als eine solche zu betrachten. Es gilt den Staat als eine rein natürliche Realität aufzufassen, die den Rückfall des Menschen unter die Herrschaft des natürlichen oder reellen Prinzips belegt. Die Standpunkte, die Schelling 1800 entwickelt hatte, werden somit nicht verändert, sondern vertieft und führen so zu einem radikalen politischen Pessimismus, der durch eine religiöse Perspektive verstärkt wird; eine Perspektive die sich bereits im Ältesten Systemprogramm abzeichnet. Der Staat, so Schelling in den Stuttgarter Privatvorlesungen, ist „der Versuch die bloß äußerliche Einheit hervorzubringen“.46 Dieser Versuch bringt die freien Wesen dazu, ihre Freiheit zugunsten einer natürli44 Ebd. 45 Ebd., S. 142. 46 Ebd., S. 152.
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chen und somit unfreien Einheit aufzugeben. Der in diesem Gedanken herrschende Widerspruch führt unvermeidlich zum Scheitern dieses Versuchs, denn, wie Schelling schreibt: „Meine Meinung ist, daß der Staat als solcher gar keine wahre und absolute Einheit finden kann, daß alle Staaten nur Versuche sind, eine solche zu finden, Versuche, organische Ganze zu werden, ohne sie je wirklich werden zu können“.47 Demnach ist es letztlich unmöglich, dass eine Einheit wie der Staat, der sich aus dem Rückfall des Menschen in das Unorganische herausgebildet hat, sich selbst zu einer organischen Einheit transformiert. Dies wäre nur möglich, wenn der Staat aufhören würde zu sein, was er ist, d. h. er müsste aufhören ein Staat zu sein. Damit er also weiterhin bestehen kann, hat der Staat keine andere Alternative, als seine natürliche und äußere Einheit – und demnach die immer unerbittlichere Ausübung des reinen Zwangs – zu verstärken: „[D]er Druck politischer Tyrannei [hat] immer zugenommen“, so Schelling, und er wird „immer noch zunehmen […] bis zu seinem Maximum, wo denn vielleicht nach diesen einseitigen Versuchen die Menschheit endlich das Rechte findet“.48 Die wahre Einheit ist allerdings keineswegs diese natürliche und äußere Einheit, die der Staat repräsentiert, vielmehr ist sie eine innere und geistige Einheit. Die Erscheinung dieser Einheit würde bedeuten, dass der Mensch den ‚Stützpunkt‘ und das Gleichgewicht seines Seins in Gott wiedergefunden hätte. Der Zugang der Menschheit zu einer solch inneren Einheit würde zugleich zur Abschaffung des Staats führen. Schelling schließt damit an die Möglichkeit einer Überwindung oder eines Verfalls des Staats an, eine Möglichkeit, die bereits in der Zeit des Ältesten Systemprogramms vorhanden gewesen ist. Im selben Zuge, indem Schelling verneint, dass die wahre Einheit eine politische zu sein vermag, heißt es nun – wie bereits zuvor im Ältesten Systemprogramm –, dass die wahre, innere und geistige Einheit nur auf eine religiöse Weise zugänglich sein kann: [S]o ist so viel gewiß, daß die wahre Einheit nur auf dem religiösen Wege erreichbar seyn kann, und daß nur die höchste und allseitigste Entwicklung der religiösen Erkenntniß in der Menschheit fähig seyn wird, den Staat, wo nicht entbehrlich zu machen und aufzuheben, doch zu bewirken, daß er selbst allmählich sich von der blinden Gewalt befreie, von der er auch regiert wird und sich zur Intelligenz verkläre.49
Selbstverständlich ist die hier angesprochene religiöse Erkenntnis nicht länger die „neue Religion“ von 1796, welche die „ewige Einheit“ unter den Menschen herrschen lassen sollte. An dieser Stelle geht es nun um die Erkenntnis des Christentums, durch die der Mensch wieder zu lernen hat, dass seine Einheit in Gott ist und dass Gott Mensch geworden ist, um diese Einheit wiederherzustellen.
47 Ebd., S. 148. 48 Ebd., S. 152 u. 154. 49 Ebd., S. 154.
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Als Schelling vierzig Jahre später in der Darstellung der reinrationalen Philosophie, deren langwierige Ausarbeitung etwa in die Zeit von 1847 bis 1852 fällt, dem Staat erneut eine kurze Betrachtung widmet, fokussiert er abermals auf die Verbindung zwischen dem Dasein des Staats und der ursprünglichen Sünde. Was der Staat fordert, so Schelling, „sind wir ihm schuldig, d. h. es ist eine Schuld, die wir dadurch büßen oder abtragen“,50 und zwar indem wir uns seinem Zwang unterwerfen. Weiter heißt es: „die intelligible Ordnung der Dinge, von der der Mensch sich lossagt, ist dieser dem Staat schuldig geworden“.51 Diese Lossagung ist darauf zurückzuführen, dass der Mensch „ganz sein selbst“ sein wollte, dass er „sich mächtiger als die Vernunft fühlend, sich auch eine Vernunft für sich erschafft“.52 Der Abfall besteht gänzlich in eben diesem Akt, durch den die Vernunft in den „Dienst des Ich“ gestellt wird.53 Diejenigen Lehren, die den Staat in den ‚Dienst des Ich‘ stellen, d. h. das moderne Naturrecht, vermögen in diesem Sinne nichts anderes zu tun, als die ‚Logik‘ des ursprünglichen Akts des Abfalls zu entfalten. Mit einer gewissen Radikalität verurteilt Schelling diese Lehren, die „den Staat so viel möglich dem Ich gerecht und genehm machen möchten – ganz der Wahrheit entgegen“.54 Denn die möglichen praktischen Konsequenzen solcher Lehren sind keine anderen als die einer „Staatsumwälzung“ und der Versuch, „den Staat in seiner Grundlage aufzuheben“55 – ein Versuch, den Schelling als „ein Verbrechen“ bezeichnet, „dem keines gleichkommt und von allen anderen nur etwa Elternmord (parricidium) gleichgeachtet wird“.56 An dieser Stelle stellt sich die Frage, ob Schelling mit dieser Konzeption des Staats als einer Ordnung, der sich der Mensch zu unterwerfen hat, um so für den Vollzug der Ursünde zu büßen, nicht in einen Widerspruch mit seiner Idee einer möglichen Staatsüberwindung gerät, die er bisher vertreten hatte. Diese Frage ist zu verneinen. Denn indem Schelling den Staat als ein ‚Mittel‘ des Ichs gänzlich ablehnt, schließt er zugleich die Betrachtung des Staats als eines Zwecks an sich aus. Insofern der Staat eine „äußere[...] Ordnung“ ist, ist er einem „innern Reich“ untergeordnet,57 zu dem er den Zugang zu gewähren hat. Es gibt in der Tat ein Bestreben des Menschen, den Staatszwang zu überwinden, aber „diese Ueberwindung muß“, wie Schelling präzisiert, „als innerliche verstanden werden“58 und keineswegs als ein äußerlicher Überwindungsakt des äußerlichen Zwangs: „Innerlich über den Staat
50 51 52 53 54 55 56 57 58
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SW XI, S. 547. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. SW XI, S. 548. Ebd.
hinaus seyn – das darf nicht bloß, das soll jeder“.59 Dieses Streben ist somit nicht nur erlaubt, sondern es bezeichnet ein Sollen, angesichts des politischen Lebens nach einem höheren geistigen Leben zu streben. Der Staat bleibt dabei die Bedingung und der Grund für eine solch innere Erhebung. Neu ist hier allerdings Schellings Gedanke, dass der Staat und das politische Leben aus einer mittleren und vermittelnden Sphäre oder ‚Ordnung‘ der Realität entspringen. Ohne auf irgendeine Weise auf den quasinatürlichen Charakter der Seinsweise des Staats zurückzukommen, fügt Schelling nun hinzu, dass der Staat keineswegs auf diesen einen Aspekt zu reduzieren ist. Nach Schelling ist der Staat „die thatsächlich gewordene intelligible Ordnung“,60 was besagt, dass er sowohl von natürlicher als auch geistiger Realität ist. Mit anderen Worten: Der Staat steht sozusagen mit einem Bein in der Natur und mit dem anderen in der Intelligibilität; und aufgrund dieser Tatsache vermag der Staat den Menschen vom ersten zum zweiten Reich zu geleiten: „Sich-unfühlbar machen, wie die Natur unfühlbar ist, dem Individuum Muße und Ruhe gewähren, ihm Mittel und Antrieb seyn zur Erreichung des höheren Ziels, das soll der Staat“.61 Diese Überwindung des Zwangs ist eine Überwindung, die der Staat selbst ausführt und die dabei keineswegs die tatsächliche Auflösung des Staats impliziert. Der Staat vollendet sich also nicht in seiner tatsächlichen Überwindung, sondern indem er sich selbst als zweite Natur aufhebt, indem er sich bis zu dem Punkt naturalisiert, an dem sein Drang genauso empfindungslos wie derjenige der Naturkräfte wird. Zwischen 1796 und 1850 erscheint der Staat bei Schelling also stets als Institution eines äußeren, mechanischen und quasinatürlichen Zwangs. Die Gleichsetzung des Staats und des Rechts mit einem solchen System wird bei Schelling zugleich von einer Kritik am modernen Prinzip der Subjektivität und des Individualismus begleitet. Diese beiden Aspekte – der Staat als mechanischer und natürlicher Zwang und die Kritik des Individualismus – erweisen sich somit als die beiden Konstanten der schellingschen Politikkonzeption. Zum Abschluss gilt es nun noch auf Schellings Identitätsphilosophie einzugehen, die wir bisher absichtlich beiseitegelassen haben. Kennzeichnend für die Texte aus dieser Phase ist, dass sie von dem ersten grundlegenden Aspekt des Politischen eine Ausnahme zu machen scheinen, um dagegen den zweiten Aspekt zu bestätigen. Im Folgenden ist dieser relative Ausnahmecharakter der Identitätsphilosophie im Rahmen von Schellings politischem Denken zu untersuchen. In den Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums von 1803 wird der Staat, sofern er „Gegenstand der Historie“ ist, als Prozess der „Bildung
59 Ebd., S. 548f. 60 Ebd., S. 550. 61 Ebd., S. 551.
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eines objectiven Organismus der Freyheit“ begriffen.62 Ein solcher Ansatz, nach welchem dem Staat ein organischer Charakter zukommt, steht in radikaler Opposition zu der bisher entfalteten Bestimmung des Staats als einer mechanisch wirkenden Zwangskraft, die den Zuständen der anorganischen Natur entspricht. Weit davon entfernt, den Staat einzig auf die Ausübung des Zwanges zu reduzieren, wird er in den Vorlesungen von 1803 als „der äußere Organismus einer in der Freyheit selbst erreichten Harmonie der Nothwendigkeit und der Freiheit“ bestimmt.63 Es ist bekannt, dass in der Ökonomie des Identitätssystems alle Dinge als Ausdruck oder vielmehr als Mitteilung der absoluten Identität des Ideellen und des Reellen, des Subjektiven und des Objektiven, der Freiheit und der Notwendigkeit begriffen werden. Selbst der Staat drückt auf eine äußerliche und damit objektive Weise die subjektive Identität des Ideellen und des Reellen, der Freiheit und der Notwendigkeit aus. Ist die Natur der Prozess, der die objektive Einheit von Subjekt und Objekt in eine subjektive Einheit transformiert, dann ist die Geschichte andersherum derjenige Prozess, der die subjektive Einheit von Subjekt und Objekt objektiv zu machen vermag. Dieser Prozess ist an der Verwirklichung des Staats orientiert, insofern dieser die vollendete Objektivierung der subjektiven oder ideellen Einheit von Subjekt und Objekt darstellt. Wie Schelling schreibt: „Die vollendete Welt der Geschichte wäre demnach selbst eine ideale Natur, der Staat“.64 Schelling versteht den Staat demnach zwar noch immer als eine zweite Natur, jedoch hat dieser Ausdruck an dieser Stelle eine ganz andere Bedeutung: die hier anvisierte Natur ist die Natur des ethischen Lebens, sie ist eine organische Natur, die nicht auf das mechanische Verhältnis des einfachen Zwanges zu reduzieren ist. Die Konstruktion der Idee des Staats führt also zu diesem Ergebnis: In der Konzeption des Staats als einer freien Einheit von Natur und Freiheit wird der Begriff des Zwangs nun vollständig ausgeklammert, der, wie wir gesehen haben, alle anderen Phasen von Schellings politischem Denken bzw. seiner Rechtsphilosophie dominiert. Das Verschwinden des Zwangsbegriffs in der Identitätsphilosophie ist ein Hinweis auf den Ausnahmecharakter, der dieser in Schellings politischem Werdegang zukommt. Die Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums wurden 1803 veröffentlicht, jedoch bereits im Sommer 1802 an der Universität Jena gehalten. Im November-Dezember 1802 veröffentlichte Hegel im Kritischen Journal der Philosophie einen ersten Teil seines Aufsatzes Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, bevor der Rest zwischen Mai und Juni 1803 erschienen ist. Hegels Aufsatz entwickelt eine radikale Kritik am rechtlichen Formalismus und an dessen zentralem Begriff des Zwangs, den Hegel als eine
62 AA I,14, S. 140. 63 Ebd., S. 135. 64 Ebd.
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„wesenslose Abstraktion[…]“ bestimmt.65 Der Formalismus in Bezug auf den Staat und das Recht beruht, so Hegel, auf „der Trennung des Begriffs und des Subjektes der Sittlichkeit“, da ihr Verhältnis so „nur formell und äußerlich“ verstanden werden kann: „und dieses Verhältnis heißt der Zwang“.66 Es ist ein notwendiges und unfreies Verhältnis, dem man fälschlicherweise die Funktion der Wiederherstellung der freien Einheit zwischen der Freiheit des einzelnen Individuums und der Freiheit aller oder der allgemeinen Freiheit zugeschrieben hat. Schelling seinerseits stellt in den 1802 gehaltenen Vorlesungen fest, dass sich „am hartnäckigsten [...] in diesem Theil der Philosophie [d. h. in der Rechtsphilosophie; FF] [...] das analytische Wesen und der Formalismus erhalten“ haben.67 Schelling bezieht sich an dieser Stelle ausdrücklich auf die bisherige „Behandlung des sogenannten Naturrechts“, bzw. auf all diejenigen, die sich anhand der Setzung einer Trennung zwischen dem Eins-Sein und dem Vieles-Sein als unfähig erwiesen haben, die wahre Idee des Staats als einer freien, objektiv realisierten Einheit von Einem und Vielen zu denken. Es scheint somit, dass der Ausnahmecharakter, durch den sich die politischen Texte der Identitätsphase auszeichnen, insbesondere auf Schellings enge Verbindung zu Hegel in eben jener Zeit zurückzuführen ist, eine Zeit, in der sie auch gemeinsam am Kritischen Journal der Philosophie gearbeitet haben.68 Im Hinblick auf die Theorie des Staats und des Rechts ist Schelling somit unbestreitbar einer – wie JeanFrançois Marquet es genannt hat – „hegelschen Versuchung“ erlegen. Bei Schelling finden sich zahlreiche Passagen, die eine solche Behauptung legitimieren. So heißt es etwa in den Vorlesungen von 1802, dass die Geschichte „die höhere Potenz der Natur“ ist69 – ein Gedanke, der an Hegels Formulierung aus dem Text über das Naturrecht erinnert: „der Geist [ist] höher als die Natur“.70 Schelling nimmt diese Behauptung auf, obgleich sie schwer mit seiner eigenen Identitätsphilosophie zu vereinbaren ist. Der Einfluss von Hegel auf Schelling reicht im Bereich der politischen Philosophie jedoch weit über die Vorlesungen von 1802 hinaus. Insbesondere in den Würzburger Vorlesungen von 1804, eine der wohl vollständigsten Darstellungen der Identitätsphilosophie, ist der Einfluss von Hegel deutlich erkennbar. Am Ende der Würzburger Vorlesungen heißt es: „Was der Staat objektiv, ist subjektiv […] die Philosophie selbst als harmonischer Genuß und Theilnahme an allem Guten und Schönen in einem öffentlichen Leben“.71 Und Schelling fügt hinzu: „Philosophie – 65 GW 4, S. 429; zitiert nach: Hegel 1968ff. (= GW, Band, Seite). Vgl. der Kommentar von Bourgeois 1986 und dabei insbesondere das Kapitel V, B: „Le droit de contraindre, pseudo-principe du droit“, S. 244-272. 66 GW 4, S. 442. 67 AA I,14, S. 142. 68 Das Verhältnis zwischen dem politischen Denken von Schelling und Hegel wird in Fischbach 1999a vernachlässigt. 69 AA I,14, S. 135. 70 GW 4, S. 464. 71 AA II,7,1, S. 443.
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die nicht mehr Wissenschaft ist, sondern zum Leben wird – ist das, was Plato das πολιτεύειν nennt, das Leben mit und in einer sittlichen Totalität“.72 Gegen die andernorts durchgehende Unterordnung des politischen Lebens unter Philosophie und Religion macht Schelling hier das öffentliche Leben innerhalb einer ethischen Totalität zum Ort der Erfüllung der Philosophie selbst. Schelling schreibt, dass die Philosophie „nicht an sich selbst leben kann, solange es an dem öffentlichen Leben fehlt, in dem sie sich anschauen könnte“.73 Mit diesen Worten steht Schelling in größter Nähe zu Hegels Naturrechtsaufsatz, indem es heißt, dass „die Griechen den Namen politeuein hatten, was in und mit und für sein Volk leben, ein allgemeines dem öffentlichen ganz gehöriges Leben führen ausdrückt; – oder das philosophiren“.74 An keiner anderen Stelle war und ist der Einfluss, den Hegel auf Schellings politisches Denken ausgeübt hat, so präsent, wie in Schellings Übernahme der hegelschen Verabsolutierung der Sittlichkeit, auf die Hegel allerdings später selbst verzichten wird,75 obgleich diese im Aufsatz über das Naturrecht mit besonderem Nachdruck formuliert ist, von dem Schelling hier auch die Bestimmungen übernimmt. Für Schellings Denken insgesamt ist es allerdings keineswegs charakteristisch, den Gedanken anderer leicht zu ‚erliegen‘. Somit verwundert es auch nicht, dass Schelling selbst in den Jahren, in denen der Einfluss von Hegels politischem Denken deutlich erkennbar ist, doch eine ganz eigene Perspektive einnimmt. Über diese wollen wir abschließend einige Worte sagen. Nachdem Schelling in den Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums die Idee des Staats als eines Organismus entwickelt hatte, der auf eine objektive Weise die Einheit von Freiheit und Notwendigkeit zu manifestieren vermag, stellt Schelling immer wieder heraus, dass es sich hierbei einzig um die Idee des Staats handelt; eine Idee, der die vorhandene und moderne Realität des Staats entgegengesetzt ist: Die wissenschaftliche Construction des Staats würde, was das innere Leben desselben betrifft, kein entsprechendes historisches Element in den späteren Zeiten finden, außer in wie fern selbst das Entgegengesetzte wieder zum Reflex desjenigen dient, von dem es dieß ist.76
Der Staat als Sittlichkeit bzw. als Ethik vermag die Natur mit der Freiheit zu versöhnen, und es ist dieser Staat an sich selbst, den die bestehenden Staaten nur unvollkommen zu reflektieren vermögen. Diese Überlegung ist jedoch in gewisser Weise problematisch, da sie die zugrunde liegende Idee verzerrt und verfälscht. Denn die ‚eigentliche‘ Idee drückt die Einheit des Einen und Vielen aus. Die eben formulierte Überlegung stellt jedoch vielmehr ihre Trennung und ihre Entgegensetzung in der 72 73 74 75 76
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Ebd. Ebd. GW 4, S. 455. Zu dieser Entwicklung von Hegel vgl. die Studie von Bourgeois 1992. AA I,14, S. 140.
Form einer Unterteilung von Privatem und Öffentlichem heraus: „Das Privatleben und mit ihm auch das Privatrecht hat sich von dem öffentlichen getrennt“.77 Schelling fügt hinzu: Da in der gänzlichen Zurückziehung des allgemeinen und öffentlichen Geistes von dem einzelnen Leben dieses als die rein endliche Seite des Staats und völlig todt zurückgeblieben ist, so ist auf die Gesetzmäßigkeit, die in ihm herrscht, durchaus keine Anwendung von Ideen und höchstens die eines mechanischen Scharfsinnes möglich [...].78
Der rechtliche Formalismus ist sicherlich unfähig, die Idee des Staats zu konstruieren. Für die Charakterisierung der modernen Staaten ist er hingegen völlig geeignet, denn die in den modernen Staaten vorherrschende Trennung von Privatem und Öffentlichem, der individuellen Freiheit und der Freiheit aller, verweist auf die Äußerlichkeit eines Verhältnisses von reinem Zwang. Im Rahmen dessen, was Schelling selbst als den „Gegensatz der neuen mit der alten Welt“ beschreibt,79 kommt er nicht umhin, diesen Übergang als eine Degeneration zu denken, wodurch sich die Thematik des Abfalls ankündigt, der, wie bereits herausgestellt, eine entscheidende Rolle im politischen Denken Schellings ab 1810 zukommt. Wie wir gesehen haben, stehen Schellings politische Texte aus den Jahren 1803 bis 1804 dem ‚Buchstaben‘ nach in vielfacher Hinsicht unter dem Einfluss von Hegels Texten aus eben jener Zeit. Für den ‚Geist‘ derselben ist Schelling hingegen weniger offen. Im Aufsatz über das Naturrecht von 1803 gelangt Hegel in der Tat zu dem Gedanken, dass sich die moderne Welt insbesondere durch die Erscheinung einer „relativen Sittlichkeit“ im Gegensatz zur „absoluten Sittlichkeit“ auszeichnet, wobei erstere wesentlich eine Sphäre des Bedürfnisses und der Arbeit bezeichnet.80 Es ist eine Sphäre „der relativen Einheit, oder des praktischen und rechtlichen“, wie Hegel schreibt.81 In dem Augenblick aber, in dem Hegel die Kategorien der schellingschen Naturphilosophie auf die Politik anzuwenden beginnt und dabei erkennt, dass das Recht Ausdruck einer spezifisch modernen Charakteristik ist, „welches die Sittlichkeit ihrer unorganischen Natur und den unterirdischen Mächten giebt, indem sie ihnen Theil ihrer selbst überläßt und opfert“,82 erkennt Schelling seinerseits im unorganischen Charakter der Moderne nichts anderes als den Verlust einer ursprünglichen, antiken Sittlichkeit. Den Hinweis einer Überlegenheit der modernen Sittlichkeit, die fähig wäre, durch sich selbst ihrem Entgegengesetzten gerecht zu werden, vermag Schelling dabei nicht zu erkennen. Um diesen Gedanken zu fassen, hätte Schelling in der Einheit der Sittlichkeit „den Reichtum ihrer Mannigfaltigkeit
77 78 79 80 81 82
Ebd., S. 140f. Ebd., S. 141. Ebd. GW 4, S. 454. Ebd., S. 455. Ebd., S. 458.
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zugleich in der höchsten Energie der Unendlichkeit und Einheit“ denken müssen.83 Diesen Gedanken hat er auf eine bemerkenswerte Weise in der Sphäre der Natur ausgeführt, obgleich ihm dieser in der politischen Sphäre große Mühe bereitet hat. Vor diesem Hintergrund verstehen wir die relative ‚Armut‘ von Schellings politischem Denken nun besser. Der Grund für diese Armut ist, um es in hegelschen Termini auszudrücken, dass Schelling niemals die Versöhnung mit seiner eigenen Zeit gesucht hat, wodurch er in einem kritischen Konservatismus gefangen geblieben ist. Diese Haltung hat sein Vermögen eingeschränkt, das Neue und genuin Eigene seiner Zeit im Vergleich mit früheren historischen Epochen anzuerkennen.
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83 Ebd., S. 462.
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Hans Jörg Sandkühler Das Recht, der Staat und die Freiheit des Individuums. Zu Schellings kritischer Philosophie des Politischen
1. Bedingungen der Möglichkeit von Recht und Staat Die in der Perspektive der Freiheit verstandene Geschichtlichkeit des Menschen bestimmt in Schellings Philosophie die Orte von Recht, Staat und Politik. Was Schelling beabsichtigt, ist eine zunächst transzendentale und dann metaphysische ‚Kritik‘: Es geht ihm um die Bedingungen der Möglichkeit von Recht und Staat.1 Das Recht und der Staat gehören als Folgen eines ursprünglichen freien Handelns zur Geschichte des Menschen, der frei ist zum Guten und zum Bösen. Sie gehören intrinsisch zu dem, was Schelling den ‘Sieg des Subjektiven über das Objektive’ nennt. Freiheit ist der selbst grundlose Grund der Geschichte. Doch die Freiheit ist in der Ambivalenz der Möglichkeiten zum Guten und zum Bösen problematisch. Sie verlangt nach einer auf Notwendigkeit gegründeten Ordnung. Freiheit ist die Invariante auf Schellings philosophischem Weg. Variationen finden sich in Konzeptualisierungen der Notwendigkeit und des Verhältnisses von Freiheit und Notwendigkeit. Die Variationen sind von der Janusköpfigkeit dieses Philosophen und Zeitbeobachters geprägt: Sein Philosophieren zielt auf die Freiheit des Individuums; die tagespolitischen polemischen Urteile des radikale Umbrüche befürchtenden Beobachters sind spätestens in seiner Berliner Zeit restaurativ, ja oft reaktionär. Schelling hat – anders als Kant, Fichte und Hegel – kein spezielles Werk zur Rechts- bzw. Staatsphilosophie verfasst. Dies hat ihm den Ruf eines unpolitischen Denkers eingetragen – zu Unrecht. Schelling ist ein Philosoph mit Bedeutung für die politische Theorie. Er ist es allerdings auf andere Weise als Hegel; man muss seinen Beitrag zur Theorie des Politischen weitgehend aus Implizitem und Fragmenten rekonstruieren. Schellings Einstellung zu Recht und Staat ist gegen Revolutionen und Utopien gerichtet, ohne aber auf die Dimension einer befreiten Zukunft zu verzichten. Deshalb sollte man bei ihm nicht nur eine Re-Legitimierung der Vergangenheit sehen, nicht nur ein reaktionäres altständisch-feudales Zurück zum sozialen und politischen ancien régime, nicht nur die Rehabilitierung des Mythos einer in vergan-
1 Ich greife in diesem Beitrag in Überarbeitung auf meine im Literaturverzeichnis genannten Studien zu Recht, Staat und Politik bei Schelling zurück.
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genen ‘Goldenen Zeitaltern’ wiedererkennbaren Ordnung, die nun bürgerlich und – so Schellings Wahrnehmung des Vormärz und der 1848er Revolution – auch schon durch eine neue soziale Klasse und politische Bewegung sozialistisch oder kommunistisch bedroht ist. Schelling, der ein Vierteljahrhundert länger lebt als Hegel, nimmt als erster innerhalb des Deutschen Idealismus die neue geschichtliche Rolle der Proletarier wahr, d.h. die Kampfansage nicht mehr allein gegen eine bestimmte staatliche Organisationsform, sondern gegen die bürgerliche Gesellschaft insgesamt. Im November-Journal seines Tagebuchs von 1848 findet sich – mit affirmativem Bezug auf die Schrift des Konservativen Thiers De la Propriété (Paris 1848) – die kritische Reflexion: Man will (d.h. man bewirkt durch die Zentralisation), daß jeder, auch der Ungebildetste und Beschränkteste, seine Wirksamkeit in den allgemeinen Angelegenheiten des Landes übe. […] Dieser schändliche Neid, der sich in dem wissenschaftlichen Leben erhebt gegen den, dessen Geist seiner Zeit vorausgeeilt, hat sich bis auf das Handwerk erstreckt. Ein geschickter Arbeiter bringt in 5 Tagen zustande, wozu ein minder geschickter 10 braucht. Diesem Unterschied gemäß wurde das System der Bezahlung der Arbeit eingeführt. Aber das bringt Ungleichheit hervor. Also muß der geschickte wie der ungeschickte Tagelöhner [bezahlt werden], und die Bezahlung der Arbeit ohne Rücksicht auf die Zeit – le système du marchandage – muß abgeschafft werden.2
Im Unterschied zu den meisten seiner philosophischen Zeitgenossen kennt Schelling den Sozialismus und Kommunismus seiner Zeit. Verschließt man sich diesem für seine Entwicklung wesentlichen Sachverhalt nicht, wird man nicht nur explizite Erwähnungen sozialistischer und kommunistischer Bestrebungen berücksichtigen, sondern auch Implizites enträtseln können. Die Hegel-Kritik der Münchner Vorlesungen Zur Geschichte der neueren Philosophie (1827) erscheint so in neuem Licht. Es lasse sich – führt Schelling gegen Hegels System ins Feld – nicht übersehen, „in welchen Schichten der Gesellschaft es sich noch am längsten behaupten mußte“; nachdem es in den „gelehrten oder überhaupt höher gebildeten Ständen“ seine Wirkung verloren habe, sei „leicht wahrzuhaben, daß diese neue, aus der Hegelschen Philosophie hervorgegangene Religion ihre Hauptanhänger im sogenannten großen Publikum gefunden, unter Industriellen, Kaufmannsdienern und anderen Mitgliedern dieser in anderer Beziehung übrigens sehr respektablen Klasse der Gesellschaft“.3 Wer sind die ,Industriellen‘? Welche ‚Klasse‘ meint Schelling? Kein Zweifel – die ‚Industriellen‘ sind die industrielles (Handwerker) Saint-Simons und der Saint-Simonisten, die ‚Klasse‘ die classe industrielle. Der frühe französische Sozialismus ist in Schellings politischer Wahrnehmung zum Bezugspunkt geworden. 1834 spricht
2 Schelling 1990, S. 165f. 3 SW X, S. 160f.; Schelling wird zitiert nach Schelling 1856-61 (= SW Band, Seite) und Schelling 1976ff. (AA Reihe, Band, Seite).
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er in seiner Vorrede zur deutschen Cousin-Übersetzung explizit vom „plumpe[n] Skandal des St.-Simonismus“.4 Der eigentliche Adressat seiner Kritik war freilich nicht der an sozialpolitischen Reformen interessierte Sozialismus, sondern der die bürgerliche Gesellschaft insgesamt attackierende Kommunismus französischer Provenienz. Nicht auf den Sozialismus der Reformer zielt Schellings Kritik an jenen, die „alle Unterschiede“ aufzuheben sich anschickten, „auch die, welche die Sanktionen der Ideenwelt für sich hatte, wie Eigentum und Besitz, wodurch zuerst der Mensch über das bloß Materielle zur Herrlichkeit sich erhebt, die aber, weil Ausschließlichkeit zu ihrer Natur gehört, Ungleichheit einführen, alle diese, vornehmlich aber ,alle Obrigkeit und Gewalt‘ aufzuheben, und damit gleich jetzt, ohne den Herrn zu erwarten, auf dessen Ankunft das Christentum die arme blödsinnige Menschheit vertröstet, den Himmel auf Erden einzurichten“.5 Schelling kennt zu dieser Zeit Proudhon und im Tagebuch 1849 finden sich Exzerpte aus Bakunin. Im Revolutionsjahr 1848 notiert er im Jahreskalender als Fazit seiner Lektüre eines Artikels über Louis Blanc in der Revue des deux mondes: In der Tat mit dem wissenschaftlichen Communism fing’s an; jetzt ist’s schon soweit, daß jeder über die Linie der Gemeinheit und Alltäglichkeit sich erhebende proskriebirt wird. La propriété c’est le vol; dieser saubere Grundsatz [Proudhons, H.J.S.] ist auch auf Ideen ausgedehnt worden.6
Die philosophische Theorie und die politische Wahrnehmung bilden bei Schelling einen wechselseitigen Wirkungszusammenhang. Dass die Revolutionen seit 1789 den Gründezusammenhang dieser Philosophie darstellen, ist damit nicht behauptet. Revolutionen und der aufkommende Sozialismus/Kommunismus sind Anlässe, nicht mehr und nicht weniger. Schellings explizite Stellungnahmen zu den Revolutionen von 1789, 1830 und 1848 scheinen es nahezulegen, die frühe Zustimmung zur französischen und die späte Ablehnung der deutschen Revolution als Indizien eines grundlegenden Meinungswandels zu nehmen. Was sich in der Tat ändert, ist seine Einschätzung der faktischen Notwendigkeit des Staates. Was sich nicht ändert, ist diese Überzeugung: Rechts- und Staatsfunktionen haben keinen Wert in sich und sind nur als Mittel zum Zweck der Freiheit des Individuums akzeptabel. 4 Ebd., S. 223. Fragt man nach den Quellen, aus denen er seine Kenntnisse hat schöpfen können, so ist auf deutsche Übersetzungen zu verweisen. Die erste in Deutschland veröffentlichte SaintSimon-Übersetzung war bereits 1815 in den Europäischen Annalen bei Schellings Verleger, Cotta in Tübingen, erschienen. Es handelte sich um Claude Henry de Saint-Simon und Augustin Thierry: Von dem Wiederaufbau der europäischen Staaten-Gesellschaft. Augustin Thierry war später – 1838 – Schellings Korrespondenzpartner. Wer 1827 in Deutschland auf die ‚Industriellen‘ verwies, konnte sich in der von Fr. Buchholz herausgegebenen Neuen Monatsschrift für Deutschland durch Übersetzungen Bazards, Blanquis, Buchez’, Carnots, Comtes, Enfantins und auch Pierre Leroux’ informieren. 5 SW XI, S. 538. 6 Schelling 1990, S. 64.
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2. Freiheit und die Notwendigkeit von Recht und Staat Freiheit ist der Ausgangs- und Endpunkt der ganzen Schelling’schen Philosophie. In einer ersten radikalen Konzeption plädiert Schelling in seiner Neuen Deduktion des Naturrechts (1796),7 seinem ausführlichsten rechtstheoretischen Text, nicht für den Staat, sondern dafür, das Recht als die andere Seite der Freiheit zu verstehen. Die starke Prämisse lautet, mein Ich müsse „das absolute Seyn, das in jedem Daseyn sich offenbart, als identisch mit mir selbst, mit dem Letzten, Unveränderlichen in mir denken“,8 und dies mit der Konsequenz, „die höchste Foderung aller praktischen Philosophie“ könne in dem Satz ausgedrückt werden: „Sei! im höchsten Sinne des Worts: höre auf, selbst Erscheinung zu sein: strebe, ein Wesen an sich zu werden!“.9 Die Wissenschaft, „welche mich lehrt, die Individualität des Willens zu behaupten“, ist die „Wissenschaft des Rechts [...], und der oberste Grundsatz aller Rechtsphilosophie“ lautet gem. § 68: „Ich habe ein Recht zu allem, wodurch ich die Individualität meines Willens der Form nach behaupte“.10 In § 72 deutet sich ein Argument zum Verhältnis von Ethik und Recht11 an, das Schelling wieder aufnehmen wird: Die Ethik löst das Problem des absoluten Willens dadurch, daß sie den individuellen Willen mit dem allgemeinen, die Rechtswissenschaft dadurch, daß sie den allgemeinen Willen mit dem individuellen identisch macht. Hätten je beide ihre Aufgabe vollkommen gelöst, so würden sie als entgegengesetzte Wissenschaften aufhören.12
Entsprechend kann in der Ethik „der oberste Grundsatz alles Rechts nur negativ lauten: Du darfst schlechterdings nichts, wodurch die Individualität des Willens der Form nach aufgehoben wird“.13 Auch das „Problem der gesammten RechtsPhilosophie“ besteht in nichts anderem, „als die Form des individuellen Willens zu behaupten“14 und zu begründen, dass die „Materie meines Willens durch nichts anderes, als diesen Willen, bestimmt oder bestimmbar“ ist.15 Auch was „die Materie des allgemeinen Willens bestimmt, ist einzig und allein die Form des individuellen Willens“,16 und „der allgemeine Wille existirt nicht mehr, sobald es Rettung der
7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
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Vgl. hierzu die ausführliche Interpretation in Hollerbach 1957, S. 97-122 und Hofmann 1999, S. 33ff. AA I,3, S. 139. Ebd. Ebd., S. 153. Vgl. zu ‚Ethik als Sicherung der Moral‘ und ‚Recht als Schutz vor vereinnahmender Ethik‘ Hofmann 1999, S. 71-76; zur Trennung von Ethik und Recht vgl. ebd., S. 79. AA I,3, S. 154. Ebd. Ebd., S. 158. Ebd., S. 159. Ebd., S. 160.
Freiheit gilt“.17 Das traditionelle Naturrecht führt – so lässt Schelling diese Schrift enden – nothwendig auf ein neues Problem: die physische Macht des Individuums mit der moralischen des Rechts identisch zu machen, oder auf das Problem eines Zustandes, in dem auf der Seite des Rechts immer auch die physische Gewalt ist. Indem wir aber zur Lösung dieses Problems übergehen, treten wir auch in das Gebiet einer neuen Wissenschaft.18
Dass Schelling hier auf eine Theorie des Staates abhebt, bedarf keines Kommentars. Er wird sie aber bald aus der Kritik des kontraktualistischen Naturrechts begründen. In dem nun folgenden Jahrzehnt ringt sich Schelling durch zu einer Selbstkritik seiner individualistischen Neuen Deduktion des Naturrechts. Doch auch die pragmatische Theorie des Rechts (das Recht kompensiert die Vernunftdefizite der Individuen) und die funktionale Theorie des Staates (der Staat ist die Macht, welche die Sanktionen des Rechts durchsetzt), die er 1800 im System des transzendentalen Idealismus vorlegt,19 wird seinen Ansprüchen nicht genügen; er wird sie bald aufgeben zugunsten einer Metaphysik, in deren Mitte die Theorie des Organischen steht. Schellings Text Über das Wesen deutscher Wissenschaft aus dem Jahre 1807 zeigt, warum er seine frühe radikale Konzeption aufgegeben hat: Was zuvörderst das allgemeine Verhältniß der Menschen zueinander betrifft, so war der Ausgangs- und Unterstützungspunkt der sämmtlichen Theorien die absolute Personalität des Einzelnen. Nicht damit ein dem All ähnliches Ganzes entstünde, nur um eines Ganzen willen, sondern damit der Einzelne für sich, abgeschlossen und gesondert bestehen könnte, gab es Recht und Gesetze. [...] Auf diese unsinnigste Anmaßung absoluter Egoität wurde eine [...] Wissenschaft gegründet, ein sogenanntes Naturrecht, das allen zu allem ein gleiches Recht gibt und keine innerlich bindenden Pflichten, sondern nur äußeren Zwang, keine positiven Handlungen, sondern nur Unterlassungen und nur Einschränkungen kennt [...]. Aus dieser trüben Quelle schnödester Selbstsucht und Feindseligkeit aller gegen alle entstand sodann der Staat durch menschliche Uebereinkunft und gegenseitigen Vertrag. [...] Vollkommene Mechanisirung aller Talente, aller Geschichte und Einrichtungen ist hier das höchste Ziel. Alles soll nothwendig seyn im Staat, nicht wie in einem göttlichen Werk alles nothwendig ist, sondern wie in einer Maschine durch Zwang, durch äußeren Antrieb.20
Trotz seiner Nähe zu Kant und obwohl er dessen Idee einer weltbürgerlichen Rechtsordnung zunächst nicht ablehnt, sieht Schelling für den Optimismus von Kants Zum ewigen Frieden (1804) schon früher keine guten Gründe. Liest man die Würzburger Vorlesungen zum System der gesammten Philosophie (1804), so haben die
17 18 19 20
Ebd., S. 171. Ebd., S. 174. Vgl. Hollerbach 1957, S. 122-140. AA II,7,2, S. 486f.
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menschenfreundlichen Ideen eines künftigen goldenen Zeitalters, eines ewigen Friedens u. s. w. [...] großentheils ihre Bedeutung [verloren]. Das goldene Zeitalter würde von selbst kommen, wenn es jeder in sich darstellte, und wer es in sich hat, bedarf es nicht außer sich.21
Eine Folge ist, dass Schelling – anders als Hegel – Recht und Staat nicht als substanzielle Entitäten begreift, sondern durchgängig pragmatische, funktionale Bestimmungen vorlegt. Recht und Staat sind für ihn geschichtlich notwendig; sie sind Folgen jener Freiheit, die auch in der Wahl des Bösen ausgeübt werden kann. Diesen Wandel in seinen Auffassungen belegt bereits das System des transzendentalen Idealismus (1800). Hier thematisiert Schelling seine rechts- und staatstheoretischen Überlegungen noch in Nähe und schon in Distanz zu Kant. Hier sind auch Probleme der Moralphilosophie von Bedeutung, freilich im Horizont einer transzendentalen „Deduktion der Denkbarkeit und der Erklärbarkeit der moralischen Begriffe überhaupt“.22 Das Grundproblem, vor das sich Schelling – nicht anders als Kant – gestellt sieht, ist das Determinismus-Problem, das Problem der Beziehung zwischen Freiheit und Notwendigkeit. Schelling plädiert für einen Lösungsweg, der in den Begriffen einer zweiten Natur und eines „Naturgesetzes zum Zwecke der Freiheit“ zu einer Harmonisierung von Freiheit und Notwendigkeit führen soll: Ob nun alle Vernunftwesen ihr Handeln durch die Möglichkeit des freyen Handelns aller übrigen einschränken, oder nicht, dieß hängt von einem absoluten Zufall, der Willkühr, ab. So kann es nicht seyn. [...] Es muß durch den Zwang eines unverbrüchlichen Gesetzes unmöglich gemacht seyn, daß in der Wechselwirkung aller die Freyheit des Individuums aufgehoben werde. [...] Es muß eine zweyte, und höhere Natur gleichsam über der ersten errichtet werden, in welcher ein Naturgesetz, aber ein ganz anderes, als in der sichtbaren Natur herrscht, nämlich ein Naturgesetz zum Behuf der Freyheit. Unerbittlich, und mit der eisernen Nothwendigkeit, mit welcher in der sinnlichen Natur auf die Ursache ihre Wirkung folgt, muß in dieser zweyten Natur auf den Eingriff in fremde Freyheit der augenblickliche Widerspruch gegen den eigennützigen Trieb erfolgen. Ein solches Naturgesetz, wie das eben geschilderte, ist das Rechtsgesetz, und die zweyte Natur, in welcher dieses Gesetz herrschend ist, die Rechts-Verfassung, welche daher als Bedingung des fortdaurenden Bewußtseyns deducirt ist.23
Die Idee des Rechts als einer zweiten ‚Natur‘ mag auf den ersten Blick irritieren, kennt und teilt Schelling doch Kants Überlegungen zu den Grenzen der Naturkausalität und des Determinismus. Doch es gibt zwei gute Gründe dafür, dass er den Begriff des Rechts aus der Natur begründet. (i) Der erste Grund ist ontologischer Art; dient aber dazu, pragmatische Ziele zu plausibilisieren: Diese Natur ist kein dem Menschen äußerliches Sein; vielmehr umfasst sie auch jene menschliche ‚zweite Natur‘, in der Notwendigkeit und Freiheit koexistieren; deshalb kann ‚Natur‘ 21 AA II,7,1, S. 433. 22 AA I,9,1, S. 230. 23 Ebd., S. 281f.
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als Rechtsbegründung dienen. (ii) Der zweite Grund ist explizit pragmatischer Art und theoretisch nahe bei Kants Implementierung der Natur in die Geschichts- und Rechtstheorie: Menschliche Freiheit impliziert nicht per se die Hoffnung auf ein Ordnungssystem, in dem die Freiheiten aller miteinander verträglich wären; erst die Teleologie der Natur verbürgt die Perspektive einer weltbürgerlichen Verfasstheit des Zusammenlebens. Denn dass sich alle Individuen zu wechselseitiger Gewährung von Freiheit und Rechten verpflichten, ist für Schelling „zweifelhaft und ungewiß, ja unmöglich, da bey weitem die meisten sich jenen Zweck nicht einmal denken“.24 Seine Frage „Wie läßt sich nun aus dieser Ungewißheit herauskommen?“ verweist mit Kant „auf eine moralische Weltordnung“; doch anders als bei Kant ist deren Evidenz aber nicht mehr durch Vernunft gesichert: Allein wie will man den Beweis führen, daß diese moralische Weltordnung als objectiv, als schlechthin unabhängig von der Freyheit existirend gedacht werden könne? Die moralische Weltordnung, kann man sagen, existirt, sobald wir sie errichten, aber wo ist sie denn errichtet? Sie ist der gemeinschaftliche Effect aller Intelligenzen, sofern nämlich alle mittelbar oder unmittelbar nichts anders, als eben eine solche Ordnung wollen. So lang dieß nicht der Fall ist, existirt sie auch nicht.25
Wäre Schelling der Hegel der Rechtsphilosophie (1820), so wären an dieser Stelle Analysen zur modernen bürgerlichen Gesellschaft zu erwarten. Doch Schellings politische Urteile sind vorrangig vom Unbehagen an der Instabilität der ‚modernen Gesellschaft‘ motiviert; mit der politisch-ökonomischen Struktur der bürgerlichen Gesellschaft befasst er sich nicht; mit der klassischen Nationalökonomie ist er nicht vertraut. Schelling zeigt sich an der bürgerlichen Gesellschaft so uninteressiert, dass er von ihr nur in seinen Vorlesungen zur Methode des akademischen Studiums (1803) beiläufig im Kontext des Problems der Wissenschaftsfreiheit spricht: „Wenn die bürgerliche Gesellschaft uns großentheils eine entschiedene Disharmonie der Idee und der Wirklichkeit zeigt, so ist es, weil sie vorläufig ganz andre Zwecke zu verfolgen hat, als aus jener hervorgehen, und die Mittel so übermächtig geworden sind, daß sie den Zweck selbst, zu dem sie erfunden sind, untergraben. [...] Die bürgerliche Gesellschaft, solange sie noch empirische Zwecke zum Nachtheil der Absoluten verfolgen muß, kann nur eine scheinbare und gezwungene, keine wahrhaft innere Identität herstellen.“26
24 Ebd., S. 295. 25 Ebd. 26 AA I,14, S. 75.
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3. Recht versus Moral Der Abschied von Kants anthropozentrischer Idee universeller weltbürgerlicher Rechtsverhältnisse, die ohne die Annahme einer von den Menschen selbst bewirkten Kausalität aus Freiheit, ohne den kategorischen Imperativ, ohne Ethik bzw. Metaphysik der Sitten nicht denkbar gewesen wäre, ist damit auch vollzogen. Die sich bereits im System des transzendentalen Idealismus abzeichnende metaphysische Tieferlegung der Begründungsinstanz für Moral, Recht und Staat in eine Identitätsphilosophie des Absoluten, das er philosophisch, nicht aber theologisch als das schlechthin Unbedingte und deshalb als ‚Göttlichkeit‘ oder ‚Gott‘ versteht, wird zur Weichenstellung für die weitere Entwicklung. Zwar betont Schelling 1804 in Immanuel Kant emphatisch, die nachkantische Entwicklung habe dazu geführt, „das reine Gold“ dieser „Philosophie von den Zuthaten der Zeit zu scheiden und in reinem Glanze darzustellen“, und „für ein geistig und moralisch aufgelöstes und zerflossenes Zeitalter“ sei es eine Wohltat, „sich an der Rigidität eines so herrlichen Geistes in seiner Cohäsion wieder zu erhöhen“.27 Der Sache nach aber ist die KantKritik um so schärfer, als Schelling kein Argument anführt, sondern das Kantische ethische Denken als bloße Spiegelung der Zeit verstanden wissen will: Die Kürze ihrer sittlichen Formeln, wodurch über moralische Fälle mit größter Bestimmtheit entschieden werden konnte, der Rigorismus sittlicher und rechtlicher Grundsätze, den sie vertheidigte, wie die Erhebung derselben über alle Abhängigkeit von Erfahrung, durch die sie etwa geprüft werden sollten, – alles dieses fand in dem großen moralischen Schauspiele der Zeit [der Französischen Revolution] seine Empfehlung, seine Parallele und den reichsten Stoff der Anwendung. – Wenn mit der Ebbe der Revolution auch die des Kantischen Systems eingetreten zu seyn scheint, so wird der Kenner den Grund nicht so sehr in dem Aufhören der zufälligen Unterstützung, welche das Interesse an diesem von jener erhielt, als weit mehr in einer wirklichen innern Uebereinstimmung und Gleichheit beyder suchen, indem beyde den bloß negativen Charakter und die unbefriedigende Auflösung des Widerstreits zwischen der Abstraction und der Wirklichkeit, gemein hatten, der diesem ebenso in der Spekulation wie für jene in der Praxis unüberwindlich war.28
4. Das Absolute, die Übel der Welt und das Böse Schellings Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803) sind ein wichtiges Dokument der Weiterentwicklung seines Denkens zu einer Philosophie der Identität, die um den Begriff des Absoluten kreist. In der 7. Vorlesung Ueber einige äußre Gegensätze der Philosophie, vornämlich den der positiven Wissen27 Ebd., S. 211. 28 Ebd., S. 212.
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schaften nimmt Schelling zunächst eine kritische Bestandsaufnahme der Philosophie seiner Zeit vor: „Als ein äußerer Gegensatz der Philosophie ist der schon früher angeführte von Wissen und Handeln, in seiner Anwendung auf jene, zu betrachten. Dieser ist keineswegs ein solcher, der in dem Geist der modernen Kultur überhaupt gegründet wäre, er ist ein Produkt der neuesten Zeit, ein unmittelbarer Sprößling der wohlbekannten Aufklärerey. Dieser Richtung zufolge giebt es eigentlich nur eine praktische und keine theoretische Philosophie. Wie Kant, nachdem er in der theoretischen Philosophie die Idee Gottes, der Ewigkeit der Seele u. s. w. zu bloßen Ideen gemacht hatte, diesen dagegen in der sittlichen Gesinnung eine Art von Beglaubigung zu geben suchte, so spricht sich in jenen Bestrebungen nur die endlich glückliche Erreichung der vollkommenen Befreiung von Ideen aus, für welche eine angebliche Sittlichkeit das Aequivalent seyn soll.“29 Sein Gegenkonzept bestimmt nun Sittlichkeit als „Gottähnliche Gesinnung, Erhebung über die Bestimmung durch das Concrete ins Reich des schlechthin Allgemeinen“. Dem entspricht Schellings Begriff von Philosophie: Sie „ist gleiche Erhebung, und darum mit der Sittlichkeit innig eins, nicht durch Unterordnung, sondern durch wesentliche und innere Gleichheit“. Die metaphysische Begründung dieses Konzepts besteht in dem Satz: „Es ist nur Eine Welt, welche so, wie sie im Absoluten ist, jedes in seiner Art und Weise abzubilden strebt, das Wissen als Wissen, das Handeln als Handeln.“30 Dies hat Folgen für die Moralphilosophie. Weil die Welt des Handelns, nicht anders als die Welt des Wissens, Moment des Absoluten ist, ist „die Moral eine nicht minder spekulative Wissenschaft als die theoretische Philosophie“; sie kann „so wenig als Philosophie ohne Construction gedacht werden“. Schelling weiß, „daß eine Sittenlehre in diesem Sinne noch nicht existirt“; er sieht aber ihre Grundlegung mit „der hergestellten Absolutheit der Philosophie“ als bereits gegeben an: Die Sittlichkeit wird in der allgemeinen Freyheit objectivirt und diese ist selbst nur gleichsam die öffentliche Sittlichkeit. Die Construction dieser sittlichen Organisation ist eine ganz gleiche Aufgabe mit der Construction der Natur, und ruht auf spekulativen Ideen. [...] Die Sittlichkeit, nachdem der Begriff derselben lange genug bloß negativ gewesen, in ihren positiven Formen zu offenbaren, wird ein Werk der Philosophie seyn. Die Scheu vor der Speculation, das angebliche Forteilen vom bloß Theoretischen zum Praktischen, bewirkt im Handeln nothwendig die gleiche Flachheit wie im Wissen. Das Studium einer streng theoretischen Philosophie macht uns am unmittelbarsten mit Ideen vertraut, und nur Ideen geben dem Handeln Nachdruck und sittliche Bedeutung.31
In seinen Würzburger Vorlesungen über das System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere (1804) und in seiner Abhandlung Philosophische 29 Ebd., S. 110. 30 Ebd., S. 276f. 31 Ebd., S. 110f.
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Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809) nimmt Schelling auf dieser identitätsphilosophischen Grundlage ein Thema auf, das ihn seit seiner Magisterdissertation von 1792 bewegt – das der Übel in der Welt und einer angesichts des Bösen32 denkbaren Rechtfertigung Gottes (Theodizee33). Er verortet im Gegensatz zur frühen Naturrechtsschrift das „ursprünglich Böse“ nun „darin, daß der Mensch etwas für sich selbst und aus sich selbst seyn will“; er folgert hieraus, „daß die Moralität als eine eben aus diesem für-sich-selbst- und aus-sich-selbst-Handeln folgende zwar im Einzelnen mit dem Rechten und Guten zusammentreffen mag, aber im Princip und Grunde ganz mit diesem übereinstimmt (selbst nur ein Begriff im Gegensatz, also nichts Absolutes ist).34
Schelling fasst die Theodizee neu und verteidigt nun mit seinem Konzept „einer universellen, den Menschen zur Natur zurückführenden Philosophie“ die Behauptung, Handlungen und Dinge [seien] nicht in Bezug auf das Subjekt, sondern an sich selbst und in Bezug auf die Ordnung der Natur zu betrachten, in welcher nichts an sich selbst unvollkommen ist, sondern, wenn gleich in verschiedenen Graden, alles die unendliche Realität ausdrückt.35
Angesichts der Übel in der Welt, insbesondere der moralischen, sei man in der Philosophie auf die traurige Alternative verfallen, „entweder Gott zum Urheber und Theilnehmer des Bösen zu machen, oder ihm das bloße Zusehen und Zulassen dabei zu lassen, welches beides das Unwürdigste ist, was von Gott gedacht werden kann“.36 Schelling geht auf Distanz zu Leibniz: Zwar Leibniz schon sagt, daß von Gott nur das Positive der Dinge emanire, nur ihre Vollkommenheit, die Privation oder Unvollkommenheit aber lediglich in ihnen selbst liege. Aber Leibniz erhebt sich nicht zu der Einsicht, daß auch diese Privation oder Unvollkommenheit nur respective stattfindet, und an sich betrachtet nichts unvollkommen oder mangelhaft seyn kann. Denn alles, was ist, folgt aus der unendlichen Natur, und es folgt als dieses, weil es nur als dieses durch die unendliche Natur affirmirt ist, weil also nur dieses zu seinem Wesen gehört, nichts anderes. Auch die Privation also ist nur Privation respective unseres Verstandes, nicht aber in Ansehung Gottes.37
Die Frage, die hiermit aufgeworfen ist und die mit den „gewöhnlichen Begriffe[n] unserer Sittenlehre“ nicht zu beantworten sei, lautet:
32 Vgl. hierzu Schelling, Aus der Allgemeinen Zeitschrift von Deutschen für Deutsche (Briefwechsel mit Eschenmayer) (1813), SW VIII, S. 157f. 33 Zu Schellings Auseinandersetzung mit Leibniz’ Theodizee vgl. AA I,11,1, S. 70f.; AA II,7,1, S. 81-87; AA I,15, S. 142f.; AA I,17, S. 167; SW X, S. 54-57; SW XI, S. 580f. 34 AA II,7,1, S. 431. 35 Ebd., S. 418f. 36 Ebd. 37 Ebd., S. 545f.
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[F]ällt denn nun hiemit nicht, wie diese Lehre sonst und auch jetzt wieder gemißdeutet wurde, aller Unterschied des Rechten und des Unrechten, also eben damit auch aller Unterschied des Recht- und Unrecht-Handelns, alles Verdienst und alle Schuld hinweg? Wir wollen sehen. In allem, was ist, sagten wir, und in jeder Handlung drückt sich, absolut betrachtet, eine Perfektion aus, absolut betrachtet ist daher nichts unvollkommen, sondern nur in Vergleichung. Da nun Gott die Dinge nicht in Vergleichung miteinander, sondern jedes für sich als eine besondere Welt schafft, nicht nach einer gemeinsamen Definition, so ist vor Gott nothwendig nichts unvollkommen. [...] Dem Unrechthandelnden ist eben der geringere Grad der Realität, der in ihm ausgedrückt ist, selbst die Strafe. Absolut betrachtet ist auch er als Glied der Welt nothwendig, und insofern nicht strafbar und sogar entschuldbar. [...] wer seine Begierden, seine Leidenschaften nicht zähmen kann, ist zwar wegen seiner Schwäche entschuldbar, die, an ihrer Stelle, weil alle Grade der Perfektion von den niedrigen bis zu den höchsten im Universum seyn müssen, gleichfalls nothwendig ist, aber er geht doch nothwendig verloren, und eben diese Schwäche selbst, dieß, daß er so handeln muß, wie er handelt, ist seine Strafe.38
Mit Schellings Identitätsphilosophie ist eine aus individueller Freiheit folgende moralische Zurechenbarkeit nicht mehr denkbar. Gegen diejenigen gewandt, die unter „Freiheit nichts anderes als Willkür, d.h. ein Vermögen zu thun, was ihnen beliebt“, verstehen, stellt Schelling – verbunden mit Verständnis für die Position des Fatalisten39 – die These der substantiellen ontischen Identität von Freiheit und Notwendigkeit im Absoluten auf; aus ihr folgt: Das sittliche wie auch das unsittliche Handeln sind notwendig und zugleich frei; dies gilt auch für den ‚Sündenfall‘ als notwendigen ersten Akt der Freiheit: Das unmittelbare Verhängniß der Freiheit als Willkür, als in-sich-selbst-Seyn, ist also die Verwicklung mit der Nichtigkeit, der Endlichkeit mit derjenigen Nothwendigkeit, welche dem Seyenden selbst nur ein zufälliges Daseyn läßt, d.h. mit der empirischen. Der Grund der Endlichkeit liegt nach unserer Ansicht einzig in einem nicht-in-Gott-Seyn der Dinge als besonderer, welches, da sie doch ihrem Wesen nach oder an sich nur in Gott sind, auch als ein Abfall – eine defectio – von Gott oder dem All ausgedrückt werden kann.40
Damit hat Schelling die Begründung gefunden, die seine endgültige Abkehr von Kants Ideen weltbürgerlicher Rechtsverhältnisse und eines ewigen Friedens – sie sind aus der Freiheit der menschlichen Vernunft begründet – bestimmt und sein gesamtes weiteres Denken prägt: Der Mensch kann sich in seinem Handeln nicht mit der Willkür und Freiheit aller begnügen, von welcher etwas Zusammenstimmendes und eine vernünftige Entwicklung zu erwarten ebenso thöricht wäre, als sie von einem Schauspiel erwarten, das keinen Dichter hat, und in dem jeder für sich und nach Gefallen seine Rolle spielt.41
38 39 40 41
Ebd., S. 546-548. Ebd., S. 554. Ebd., S. 552. Ebd., S. 555.
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Schellings Gegenposition: Das einzig wahre System für das Handeln ist der unbedingte Glaube, d.h. nicht ein zweifelhaftes Fürwahrhalten, sondern das feste Zutrauen zur absoluten Nothwendigkeit, die in allem handelt (frei zugleich ist). Hierin allein das Heilige, dessen der Mensch bedarf.42
Schelling sieht nun in der Religion die wahre Grundlage der Sittlichkeit: Religion ist der „Ausdruck der höchsten Einheit des Wissens und des Handelns, welche unmöglich macht, seinem Wissen im Handeln zu widersprechen“;43 Religion ist „Heroismus“.44 Er empfiehlt, „statt aller aufgeblasenen Moral“ den „Glauben“ und die „Treue gegen sich selbst und das Göttliche [...] als die einzige wahre Frucht der Philosophie mit in das Leben [zu] nehmen“.45 Den Zeitgenossen ist nicht verborgen geblieben, dass es in Schellings Theorie tatsächlich keinen Platz mehr für eine systematische Theorie der Moral gab. 1810 schreibt Eschenmayer an Schelling über dessen Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit: Darf ich es Ihnen jedoch ohne Mißdeutung gestehen, so scheint mir Ihr Versuch über die menschliche Freiheit eine völlige Umwandlung der Ethik in Physik, eine Verschlingung des Freien durch das Nothwendige, des Gemüths durch den Verstand, des Sittlichen durch das Natürliche, und überhaupt eine völlige Depotenzirung der höhern Ordnung der Dinge in die niedere zu seyn. Pflicht, Recht, Gewissen und Tugend, wo sollen sie ihre wahre Stelle in Ihrem System finden?46
Auch wenn Schelling diese Kritik (erst 1812) nicht argumentativ, sondern als bloßes Missverstehen seiner Konzeption und mit Verweis auf die von Eschenmayer unbegriffene „Natur des Bösen“ zurückweist,47 wird nun offensichtlich, welche Konsequenzen Schellings Absage an Moralphilosophie über den Bereich der Moral hinaus hat: Auch seine früheren Auffassungen zu Recht und Staat werden in Mitleidenschaft gezogen; aus der Moralkritik folgt, wie das Nachlass-Fragment Über das Wesen deutscher Wissenschaft (1807) belegt, Rechts- und Staatskritik: Nicht damit ein dem All ähnliches Ganzes entstünde, nur um eines Ganzen willen, sondern damit der Einzelne für sich, abgeschlossen und gesondert bestehen könnte, gab es Recht und Gesetze. Der Charakter, unter dem der Einzelne betrachtet wurde, war (dem höchsten, den mechanische Physik kennt, ähnlich) moralische Undurchdringlichkeit, absolutes Vermögen für sich zu seyn und seine Sphäre mit Ausschließung aller andern zu erfüllen. Auf diese unsinnigste Anmaßung absoluter Egoität wurde eine den Alten in diesem Sinn völlig unbekannte Wissenschaft gegründet, ein sogenanntes Naturrecht, 42 43 44 45 46 47
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Ebd. Ebd., S. 558. Ebd., S. 559. Ebd., S. 559. SW VIII, S. 150. Ebd., S. 176.
das allen zu allem ein gleiches Recht gibt und keine innerlich bindenden Pflichten, sondern nur äußeren Zwang, keine positiven Handlungen, sondern nur Unterlassungen und nur Einschränkungen kennt, die sich jeder an seinem ursprünglichen Recht bloß in der Absicht gefallen läßt, um den ihm übrig bleibenden Rest desselben desto sicherer in selbstgenügsamer Abgeschlossenheit genießen zu können. Aus dieser trüben Quelle schnödester Selbstsucht und Feindseligkeit aller gegen alle entstand sodann der Staat durch menschliche Uebereinkunft und gegenseitigen Vertrag.48
Schelling hat diese Position in der weiteren Entwicklung seines Denkens nicht mehr verändert. Von ihr ausgehend hat er immer wieder – in weit größerer Nähe zur Hegelschen ‚logisch‘-metaphysisch gestützten Konzeption der Sittlichkeit, als ihm selbst bewusst ist – gegen die „die Freiheit des Willens anpreisende neuere Sittenlehre“ polemisiert, der zufolge „es noch ein besonderes Verdienst des Individuums“ sei, „daß es sittlich ist“. Er hat Front gemacht gegen den „allgemeinen moralischen Hochmuthsgeist, der die guten Werke über den Glauben, Sittlichkeit über die Religion setzt“.49 Es habe, dies ist seine Wahrnehmung, „kaum je eine solche Auflösung aller rechtlichen Begriffe geherrscht [...], als in diesem moralischen Zeitalter“.50
5. Die Kritik des Staates Schelling plädiert nicht für einen Verzicht auf den Staat als Institution der Ordnungssicherung, ja er fordert in der Tagespolitik angesichts der ihn irritierenden politischen Entwicklung den ‚starken‘, selbst den ‚despotischen‘ Staat. In systematischer Hinsicht bleibt Schelling bei seiner Forderung: Der Staat ‚soll aufhören‘. Solange er existiert, gibt es nur eine einzige Legitimation: Er muss Mittel zur Freiheit der Individuen sein. Ein so legitimierter Staat existiert allerdings nicht, und Schelling ist mehr als skeptisch hinsichtlich der Frage, ob er überhaupt zu verwirklichen ist. Schellings Interesse gilt spekulativer Philosophie, und so kann es nicht verwundern, dass auch seine Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803) nicht auf eine deskriptive Staatswissenschaft zielen; auch von der im Titel der 10. Vorlesung angekündigten „Jurisprudenz“ ist kaum die Rede; es geht um die spekulative Konstruktion des Staates, der sein soll. Schelling betont: Als den Gegenstand der Historie im engern Sinne bestimmten wir die Bildung eines objectiven Organismus der Freyheit oder des Staats. Es gibt eine Wissenschaft desselben, so nothwendig es eine Wissenschaft der Natur giebt. Seine Idee kann um so weniger aus der Erfahrung genommen seyn, da diese hier vielmehr selbst erst nach Ideen geschaffen und der Staat als Kunstwerk erscheinen soll.51 48 49 50 51
AA II,7,2, S. 487. AA II,7,1, S. 430. Ebd. AA I,14, S. 140.
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Insofern das „vorzüglichste Werk“ der Geschichte „die Bildung der Rechtsverfassung ist“, ist auch „die Wissenschaft des Rechts, oder die Jurisprudenz“52 unter die Geschichte zu subsumieren. Die geschichtliche Situation, in der Schelling seine Vorlesungen in Jena hält, hat im Text der Vorlesungen nahezu keine identifizierbaren Spuren hinterlassen. Es handelt sich in ihnen um ein Programm spekulativer Philosophie, nicht um Zeitgeschichte: der Autor selbst betont, „daß hier [...] kein Bild des Staats aus der wirklichen Erfahrung gemeint ist“, und erläutert noch einmal sein Programm: Es geht ihm nicht um einen Staat, der bloß formell ist, der, um eines äußeren Zwecks willen errichtet gedacht wird, etwa nur zur wechselseitigen Sicherstellung der Rechte (wie die bisher construirten Staaten). Dieß sind bloße Zwang- und Nothstaaten, wie denn alle bisher, besonders seit Kant in der Wissenschaft construirte Staatsformen nichts enthalten als die bloß negativen Bedingungen eines Staats, durch die noch nichts Positives gesetzt ist, nichts von dem lebendigen, freien, organischen Staat, dem einzigen, wie er in der Vernunftidee ist.53
Angesichts des Ziels einer metaphysischen Konstruktion des Staates war nicht zu erwarten, dass die Virginia Bill of Rights (1776), die Verfassung der Vereinigten Staaten (1788), die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789), die Erklärung der Menschenrechte in der Revolutionsverfassung von 1791 und die Diktatur Napoleons den Vorlesungen ihren Stempel aufdrückten. Per negationem ist die politische Geschichte und die Rechtsentwicklung in Deutschland präsent, also die Auflösung des alten Deutsche Reich seit 1802, die Entschädigungsansprüche der Reichsstände nach der Abtretung des linken Rheinufers an Frankreich im Frieden von Luneville, die radikale Veränderung des politischen Besitzstandes im Reichsdeputationshauptschluss von 1803, usf. In Schellings Erörterungen zum Recht sind Theoretiker wie Pütter und Runde, Möser, Hugo, Savigny und Feuerbach ausgeblendet, gerade so, als habe ihn der in dieser Zeit tobende Streit zwischen rationalistischem Naturrecht und der Historischen Schule nicht interessiert. Aber auch dieser Eindruck täuscht: Der Begriff ‚Organismus‘ wird zum Hebel der Kritik am „Formalismus“ des modernen Naturrechts, vor allem „Kantische[r] Juristen“,54 an der kontraktualistischen Konzeption des Staates und an der Dominanz des Privatrechts gegenüber dem öffentlichen Recht.55 Es ist Schellings Diagnose einer Krise der Moderne, die ihn der Philosophie ihre Aufgabe zuweisen lässt; sie besteht darin, die „Sittlichkeit“, deren Begriff bei Moralisten und im Naturrecht „lange genug bloß negativ gewesen“ sei, „in ihren positiven 52 53 54 55
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Ebd., S. 116. AA II,7,1, S. 442. AA I,14, S. 143. Ebd., S. 140f.: „Das Privatleben und mit ihm auch das Privatrecht hat sich von dem öffentlichen getrennt; jenes hat aber, abgesondert von diesem, so wenig Absolutheit, als es in der Natur das Seyn der einzelnen Körper und ihr besonderes Verhältniß untereinander hat.“
Formen zu offenbaren“.56 Denn die „bürgerliche Gesellschaft“ verfolgt „empirische Zwecke zum Nachtheil der Absoluten“; sie kann deshalb „nur eine scheinbare und gezwungene, keine wahrhaft innere Identität herstellen“.57 Schelling konfrontiert die moderne Gesellschaft, in der „die großen Objectivitäten der Staatsverfassungen und selbst des allgemeinen religiösen Vereins“ verschwunden seien und „sich das göttliche Princip von der Welt“ zurückgezogen habe,58 mit der Idee eines Staates, der „in dem Verhältniß vollkommen [ist], in welchem jedes einzelne Glied, indem es Mittel zum Ganzen, zugleich in sich selbst Zweck ist“.59 Die Verfassung dieses Staates ist nach dem Muster von Platons Politeia60 „ein Bild der Verfassung des Ideenreichs“; die staatliche Macht geht nicht vom Volke aus, sondern gründet im Absoluten.61 Der Paradigmenwechsel zur Leitidee des ‚Organismus‘, den Schelling schon 1797 in seinen Ideen zu einer Philosophie der Natur vollzogen hatte, bestimmte jetzt auch die Theorie von Staat und Recht. Was bedeutet ‚Organismus‘? Der Begriff bezeichnet die ganzheitliche autopoietische und selbstreferenzielle Organisation eines Produkts, das den Grund seines Daseins und seinen Zweck in sich selbst hat. Anders als etwa in reduktionistischen sozio-biologischen Konzeptionen der politischen Romantik – ganz anders als politische Romantiker wie etwa J. Görres und A. Müller – erklärt Schelling den Staat als einen „objectiven Organismus der Freyheit“,62 in dem eine Harmonie der Notwendigkeit und der Freiheit erreicht ist: Die vollkommene Erscheinung [...] ist der vollkommene Staat, dessen Idee erreicht ist, sobald das Besondere und das Allgemeine absolut Eins, alles was nothwendig zugleich frey und alles frei Geschehende zugleich nothwendig ist.63
Im weiteren Kontext gelesen, sind allerdings auch derartige Passagen nicht als metaphysische Überhöhungen einer ‘Staatsidee‘ zu verstehen. Der Staat ist in Funktion der Geschichte notwendig; zugleich sind Grenzen seiner Wirksamkeit zu beachten. Er soll sich auf das notwendig zu Regulierende beschränken; in praxi – so Schelling in seinen Stuttgarter Privatvorlesungen (1810) – darf er weder zu stark noch zu 56 Ebd., S. 111. Zur Kritik an „unserer die Freiheit des Willens anpreisenden neueren Sittenlehre“ vgl. AA II,7,1, S. 430. Schelling will „überhaupt keine Sittlichkeit zugeben in dem Sinn unserer jetzigen Moralisten, nämlich als eine Sittlichkeit des Menschen. – Schon das Wort ist ein Produkt unserer neueren Aufklärerei; es gibt nur Tugend, virtus, d.h. es gibt eine göttliche Beschaffenheit der Seele, aber es gibt keine Moralität, die das Individuum als Individuum sich geben, oder deren es sich rühmen könnte“ (ebd., S. 428). 57 AA I,14, S. 75. Vgl. ebd., S. 142: „Die sogenannte bürgerliche Freyheit hat nur die trübste Vermengung der Sklaverey mit der Freyheit, aber kein absolutes und eben dadurch wieder freyes Bestehen der einen oder andern hervorgebracht.“ 58 Ebd., S. 107. 59 Ebd., S. 72. 60 Vgl. ebd., S. 142. 61 Ebd., S. 97; vgl. ebd., S. 115. 62 Ebd., S. 140. Hervorhebung von mir. 63 Ebd., S. 141.
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schwach sein: „Will man dem Staat die Kraft-Einheit geben, so verfällt er in den abscheulichsten Despotismus: beschränckt man die oberste Staats-Gewalt durch Verfaßung und Stände, so hat er nicht die gehörige Kraft.“64 Kaum eine zweite Formulierung ist für Schellings kritisches Staatsverständnis so repräsentativ wie die geschichtstheoretische, das Sündenfall-Motiv aufnehmende Bilanz, die er bereits 1810 zieht: Die Natureinheit, diese zweite Natur über der ersten, zu welcher der Mensch notgedrungen seine Einheit nehmen muß, ist der Staat, und der Staat ist daher [...] eine Folge des auf der Menschheit ruhenden Fluchs [...]. Es ist bekannt, wie viel Mühe man sich, besonders seit der Französischen Revolution und den Kantischen Begriffen, gegeben hat, eine Möglichkeit zu zeigen, wie mit der Existenz freier Wesen Einheit vereinbar, also ein Staat möglich sey, der eigentlich nur die Bedingung der höchstmöglichen Freiheit sey. Allein dieser ist unmöglich.65
Schelling hat sein späteres theoretisches Veto gegen ein restauratives bloßes Erhalten folgerichtig auch auf den Staat bezogen: Auch der bestehende Staat verdient es nicht, erhalten zu werden. Die Kritik des Staates durchzieht Schellings gesamte Philosophie. In seiner ‚positiven Philosophie‘ ändern sich die systematischen Gründe für sein Verdikt nicht mehr. So heißt es in der 31. Vorlesung der Münchner Grundlegung der positiven Philosophie aus dem Winter 1832/33 im Kontext einer scharfen Hegel-Kritik: Der Staat, so viel positives er in sich schliesst, so gehört er doch gegen alles Positive, gegen alle Erscheinungen des höheren und geistigen und sittlichen Lebens auf die Seite des Negativsten. [...] Die wahre, aber sehr missverstandene Aufgabe unserer Zeit ist, den Staat selbst und den Staat überhaupt, d.h. in jeder seiner Formen, zu beschränken, nicht bloss etwa in der monarchischen.66
Auch die Berliner Vorlesungen ab 1841 zur Philosophie der Mythologie führen hinsichtlich der Staats-Kritik keine neuen Argumente ein. Die immer bestehende Ambiguität zwischen systematischer Begründung und aktuellem politischem Urteil wird nun allerdings unübersehbar: Die philosophische ‘Kritik des Staates’ und der auf konkrete Erfahrungen gestützte politische Ruf nach dem ‘starken Staat’ stehen geradezu unvermittelt nebeneinander. Die Ursachen liegen auf der Hand: Es sind die revolutionären Ereignisse des Jahres 1848.
64 AA II,8, S. 149. 65 Ebd., S. 146. 66 Schelling 1972, S. 235.
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6. Revolution und Staat Schelling lässt sich von konkreten politischen Erfahrungen beeindrucken; dies gilt insbesondere für die Zeit des Vormärz und der 1848er Revolutionen.67 Der Berliner Schelling ist in seiner Wohnung Unter den Linden Augenzeuge, geängstigter Beobachter und Kritiker der Revolution. Entscheidend für seine Urteilsbildung ist sein enger Kontakt mit dem Hof und führenden Köpfen der preußischen Politik sowie mit dem bayerischen Königshaus. Tagebucheintragungen wie die vom 20. April 1848 sind keine Ausnahme: Zu Mittag bei Königlicher Hoheit Prinz Wilhelm (General Reyher, Oberst v.Weber, Direktor Waagen). Zu Hause gefunden die bayerischen lithografierten Entwürfe bezüglich auf die künftige [Bundes]Verfassung, mit einem Schreiben von König Max. [...] Habe Besorgnis wegen republikanischer Emeuten in Frankfurt.68
Schelling ist hinsichtlich der Entwicklungstendenzen der Revolution so argwöhnend wie weitsichtig: Er verwirft sie wegen ihrer demokratischen Ziele und wegen der Rolle, welche die Proletarier in ihr spielen. Zu der folgenden Tagebuch-Eintragung im Frühjahr 1848 hat er nachträglich notiert, er habe sie „[v]or den Pariser FebruarEreignissen geschrieben“: Bis jetzt diente das Politische noch als Vorwand; aber man lasse es erreicht sein, und es wird das Scheusal der allgemeinen, nichts mehr, so wenig Göttliches als Menschliches, über sich erkennen wollenden Selbstsucht und Unbotmäßigkeit, die sich aller Stände bemächtigt hat und einer immer größeren Zahl von Individuen sich bemächtigt, sichtbar hervortreten. Die Krankheit sitzt also viel tiefer als in politischen Meinungen; es ist nicht mehr davon die Rede, eine Regierung, eine Dynastie oder gar nur ein Ministerium, man beabsichtigt, die ganze Gesellschaft umzustürzen.69
Am 20. Oktober 1848 arbeitet Schelling an „Aristotelica“; im Tagebuch folgt ein langes Exzerpt aus einem nicht identifizierten Text, den sich Schelling offensichtlich zu eigen macht: „Wir sind im Revolutionszustand. Mit dieser Phrase wurde seit den Märztagen jede Mahnung zur Beachtung des bestehenden Staats- und Bundesrechts, jede Hinweisung auf die in Kraft befindlichen Verfassungen der einzelnen Staaten – zurückgewiesen. [...] Wir sind im Revolutionszustand, d.h. wir haben jetzt gar keinen Rechtsboden. [...] [W]o soll noch ein Ankergrund bleiben für den Glauben an die Herrschaft des Rechts, für eine friedliche Zukunft? Die Mißachtung aller Lehren der Geschichte trägt ihre Früchte. Unvermeidliche Folge eines durch Jahre andauernden Revolutionszustandes, daß dem Volke der Sinn für die Heiligkeit eines Rechtszustandes ganz verloren geht“. – Noch länger, „so kommt wie
67 Vgl. Schraven 1989. 68 Schelling 1990, S. 80. 69 Ebd., S. 24.
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in Frankreich über das aufgewühlte Volk der Fluch des ewigen Juden, und die Revolution kann nicht mehr sterben, außer im eisernen Arme neuer bleibender Gewaltherrschaft.“70
In Schellings Philosophischer Einleitung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung der reinrationalen Philosophie findet sich folgende theoretische Reflexion über den Staat: Vernunft – ja, aber nicht die schlechte des Individuums, sondern die Vernunft, welche die Natur selbst, das über dem bloß erscheinenden und zufälligen Seyn stehen bleibende Seyende ist, die Vernunft in diesem Sinne bestimmt den Inhalt des Staats, aber der Staat selbst ist noch mehr, er ist der Act der ewigen, dieser thatsächlichen Welt gegenüber wirksam, d.h. eben praktisch gewordenen Vernunft, ein Act, der wohl erkennbar, aber nicht erforschlich ist, d.h. nicht durch Nachforschen sich in den Kreis der Erfahrung hereinziehen läßt. Der Staat hat insofern selbst eine thatsächliche Existenz.71
Die Revolutionskritik der vor allem in den 1850er Jahren ausformulierten 22. bis 24. Vorlesung zur Philosophie der Mythologie gibt von Schellings Erfahrung mit der 1848er Revolution merkwürdig wenig wieder. Die Sätze gegen die Idee der Demokratie und das ‚Verbrechen der Staatsumwälzung‘, die Verteidigung der Rechte individueller Innerlichkeit gegen den realen Staat und das Plädoyer für das den Staat legitimierende Gesetz der Vernunft in der Seinsgeschichte wirken blass gegenüber den tagespolitischen Erfahrungen und systematischen Einsichten, die Schelling seinen Tagebüchern anvertraut. Schellings Rat an die Deutschen bringt zwar Maximen seines politischen zeitgeschichtlichen Selbstverständnisses zum Ausdruck: Laßt Euch [...] ein unpolitisches Volk schelten, weil die meisten unter euch mehr verlangen regiert zu werden [...] als zu regieren, weil ihr die Muße [...], die Geist und Gemüt für andere Dinge frei läßt, für ein größeres Glück achtet, als ein jährlich wiederkehrendes, nur zu Parteiungen führendes politisches Gezänke.72
Doch der Philosoph Schelling reflektiert das Politische anders. Für den Philosophen ist das Problem der Revolution politisch durch die siegreiche Restauration nicht gelöst und nicht lösbar. Der Zeitzeuge Schelling erwartet zwar für 1849 „eine neue, noch schrecklichere und tiefer eindringende Revolution“, und diese Aussicht macht „die Gegenwart so unerfreulich [...], daß man sich endlich ganz in die Innenwelt zurückzieht“.73 Doch die Revolution von 1848 führt Schelling philosophisch zurück zum Kern seiner Theorie, zur Philosophie der Geschichtlichkeit der Freiheit. Seine Prognose lautet: „[D]as Ende der gegenwärtigen Welt-Krisis [wird] sein, daß der Staat wieder an seine wahre Stelle – als Bedingung, als Voraussetzung, – nicht als Gegenstand und Zweck der individuellen Freiheit gesetzt werde“.74 70 71 72 73 74
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Ebd., S. 170-172. SW XI, S. 538. Ebd., S. 549. Schelling an Karl [Schelling], 24.7.1849. In: Plitt 1870, S. 220. Schelling an Maximilian II. von Bayern, 17.12.1853. In: Ehrhardt 1989, S. 113.
Schelling gibt hierzu folgende Begründung: In Bezug auf die höhere Entwicklung also ist der Staat nur Unterlage, Hypothesis, Durchgangspunkt [...]. Das Fortschreitende liegt in dem, was über den Staat hinausgeht. Das über ihn Hinausgehende aber ist das Individuum. Mit diesem, mit seinem innerlichen Verhältniß zum Gesetz haben wir es nun wieder zu thun. Denn so wohlthätig die von außen (vom Staat) verlangte Beobachtung des Gesetzes ist, wenn man bedenkt, wie die meisten Menschen eine so schwache Anhänglichkeit an die Pflicht haben, so wenig genügt sie; denn das Gesetz selbst geht aufs Innre, und weil der Staat gegen die Gesinnung gleichgültig ist, so ist die Prüfung wegen derselben um so mehr dem Individuum überlassen. Dem Staat ist niemand verfallen, aber dem Moralgesetz jeder unbedingt. Der Staat ist etwas, mit dem man sich abfindet, wogegen man sich ganz passiv verhalten kann, nicht ebenso das Sittengesetz. Der Staat, wie mächtig er sey, kann nur zur äußern d.h. ebenfalls thatsächlichen Gerechtigkeit führen; umgekehrt, wie unmächtig der Staat auch sey, ja wenn er sich ganz auflöste, jenes innre, ins Herz geschriebene Gesetz bleibt und ist nur um so dringender. Das äußere (Staats-) Gesetz ist ja selbst nur die Folge jenes innren Zwangs, und kommt daher nicht mehr in Betracht, wenn von diesem die Rede ist.75
In dem Maße, wie Schelling an der politischen Verfassung seiner Zeit verzweifelt, verstärkt sich bei ihm die Tendenz zu einer nun nicht mehr funktionalen, sondern substanziell-metaphysischen Positionierung des Staates: Es geht also […] der wirklichen oder äußern Gemeinschaft zwischen Menschen eine intelligible Ordnung vorher; deren bloßer Inhalt jedoch würde in einer Welt von thatsächlichem Seyn alle Bedeutung verlieren, wenn nicht mit dem Inhalt auch das Gesetz überginge, d. h. ebenfalls thatsächliche Existenz erhielte, und als eine Macht erschiene, nicht bloß im Menschen, d. h. in seinem Gewissen, sondern auch außer ihm, wenn nicht also in diese Welt eine mit thatsächlicher Gewalt bewaffnete Verfassung einträte, d. h. eine solche, in der Herrschaft und Unterwerfung stattfindet. Diese äußere mit zwingender Gewalt ausgerüstete Vernunftordnung ist der Staat, der materiell genommen eine bloße Thatsache ist und auch nur eine thatsächliche Existenz hat, aber geheiligt durch das in ihm lebende Gesetz, das nicht von dieser Welt, noch von Menschen ist, sondern sich unmittelbar von der intelligibeln Welt herschreibt. Das zur thatsächlichen Macht gewordene Gesetz ist die Antwort auf jene That, durch welche der Mensch sich außer der Vernunft gesetzt hat; dieß die Vernunft in der Geschichte.76
Diese Idee des Staates, der ‚nur Unterlage, Hypothesis, Durchgangspunkt‘ ist, und die aus ihr folgenden rechtlichen und ethischen Normen ermächtigen den Staat in der Perspektive notwendiger Ordnung und begrenzen ihn in der Perspektive individueller Freiheit. Von der Idee des Rechts als der Folge und des Regulativs der Freiheit hat Schelling nie Abstand genommen. Was den Staat betrifft, so spielen bei ihm skeptisch-anthropologische und pragmatische Gründe für eine zwingende 75 SW XI, S. 553f. 76 Ebd., S. 533.
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Ordnung, ein theoretisch motivierter Anti-Etatismus und eine auf die Zeitgeschichte bezogene Polemik gegen den Staat zusammen. Wie wir heute, so konnte auch Schelling nicht über den Staat sprechen, ohne über das Recht zu sprechen, und über das Recht nicht unabhängig vom Staat. Welche Probleme und Paradoxien hiermit verbunden sind, war auch ihm bewusst. Die Durchsetzung von Subjektivität und Individualrechten bewirkt Interessenkollisionen und deshalb die Verrechtlichung und Staatsförmigkeit der Lebensbeziehungen der Menschen. Die Aporie lässt sich auf die einfache Formel bringen: Je mehr es an Freiheiten gibt, desto notwendiger ist das Recht; je mehr der Bedarf an Recht steigt, desto mehr Staat wird notwendig; je mehr Staat, desto weniger Freiheit; je weniger Freiheit, desto größer der Bedarf an Rechtgarantien – und Staat, und Recht usf. Das Recht entsteht mit dem ersten geschichtlichen Akt der Freiheit; der Staat bildet eine Juxtastruktur zur ‚Natur des Menschen‘ und zum Leben der Individuen. Das Individuum ist nie fertig da. Es entsteht im Prozess der Individuation, und aus dem Zum-Menschen-Werden erwachsen sowohl das Bedürfnis nach dem Recht auf Rechte als auch die Reziprozität der Anerkennung der Freiheitsansprüche aller Menschen. Erwartet man Freiheit durch das Recht durch den Staat, so geht es um nichts anderes als darum, Bedingungen für jene gelingende Menschwerdung zu schaffen, in der individuelle Freiheit, Anerkennung der Alterität und kollektive Gleichheit und Gerechtigkeit keine Gegensätze mehr sind. Schelling ist als systematischer Philosoph ein durchaus moderner Theoretiker der Freiheit und des Rechts. Er ist modern, weil er sich aller Bestimmungen hinsichtlich materialer ethischer oder religiöser Prinzipien der Rechtsgeltung enthalten hat – und dies nicht aus Desinteresse. Er hat vielmehr gewusst: Rechtsnormen sind geschichtlich sich verändernde Deutungsmuster, bezogen auf ein zum Guten und zum Bösen freies Handeln von Individuen.
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Günter Zöller Vom Rechtsstaat zum Religionsstaat. Schelling über Staat und Kirche
„Staat heisst das kälteste aller kalten Ungeheuer.“1 Der Beitrag erörtert das politische Philosophieren Schellings im historisch-systematischen Kontext des Nachdenkens über Recht und Ethik in der neuzeitlichen Philosophie im Allgemeinen und in der kantischen und nachkantischen Philosophie im Besonderen. Der Fokus liegt auf dem Verhältnis von Staat und Religion in Schellings Stuttgarter Privatvorlesungen von 1810. Der erste Abschnitt lokalisiert das politische Denken Schellings im historischen Kontext des neuzeitlichen Natur- und Vernunftrechts sowie im systematischen Kontext von Kants kritischer Moralphilosophie. Der zweite Abschnitt behandelt die überwiegend affirmative Staatsauffassung des frühen und mittleren Schelling. Der dritte Abschnitt skizziert die religionsphilosophisch-theologisch begründete Staatskritik des späteren und späten Schelling. Der vierte Abschnitt exponiert das Freiheitsdefizit von Schellings präterpolitischer Auffassung des Staates im doppelten historisch-systematischen Kontext von Fichtes später Staatslehre und von Kants kritischer Rechtsphilosophie.2
1. Politik und Geschichte Die politische Philosophie als kritische und systematische Reflexion auf die Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen staatsförmiger Gemeinschaft hat die gesamte Geschichte der westlichen Philosophie teils begleitet, teils geleitet. Das weithin und weiterhin maßgebliche politische Denken reicht von der Analogisierung ethischer und politischer Gerechtigkeit in Platons Dialog von der idealen Staatsverfassung (Politeia) sowie den detaillierten Diskussionen staatlicher Einrichtungen in seinem späten Musterentwurf für die zweitbeste politische Gründung (Nomoi) und der Abhandlung des Aristoteles über die politischen Dinge (Politika) sowie Ciceros Erörterungen zu Aufbau und Erhalt des Gemeinwesens (De re publica) über die 1 Nietzsche 1999, S. 4, S. 61. 2 Der Beitrag geht zurück auf separate Darlegungen zur politischen Geschichtsphilosophie im Spätwerk Fichtes und Schellings und zur politischen Theologie des späteren Schelling in Zöller 2013a und Zöller 2014.
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mittelalterlichen Traktate zu Fürstengewalt (Thomas von Aquin, De regimine principum), weltlicher Herrschaft (Dante, De Monarchia) und Friedensstiftung (Marsilius von Padua, Defensor Pacis) bis zu den realistischen Staatsphilosophien von Machiavelli (Il Principe, Discorsi) und Hobbes (De Cive, Leviathan), der neuzeitlichen Tradition des Natur- oder Vernunftrechts und den Vertragstheorien über Entstehung, Rechtfertigung und Erhaltung gesellschaftlicher Ordnung und staatlicher Macht bei Locke (Second Treatise on Government) und Rousseau (Du contrat social). Ein relativ konstanter Grundzug des europäischen Gesellschafts- und Staatsdenken in Antike, Mittelalter und früher Neuzeit ist die normative Einstellung, die theoretische Einsichten in die individuelle und soziale Natur des Menschen verknüpft mit praktischen Überlegungen zur gelingenden, verbesserten oder optimalen Lebensgestaltung des Menschen unter Bedingungen seiner wünschenswerten, empfehlenswerten oder zu fordernden institutionellen Vergesellschaftung. Die politische Philosophie etabliert sich so neben und oft sogar über der Ethik als Kernbestandteil der praktischen Philosophie. In der Ausführung des Programms der politischen Philosophie als einer praktischen Philosophie in Gestalt der Theorie politischer Praxis sind die klassischen Entwürfe aber immer auch wesentlich geprägt von den politischen Erfahrungen und den staatlichen Strukturen der Zeit, der sie entstammen und auf die sie kritisch-reflektierend reagieren. Das gilt für die griechische Polis und die Erfahrung mit Demokratie und Oligarchie im klassischen Griechenland zwischen Perserkriegen und Peloponnesischem Krieg (Thukydides) ebenso wie für das Konstrukt einer monarchisch-aristokratisch-demokratischen Mischverfassung in der klassischen römischen Republik (Polybios), für die konfliktreiche Doppelherrschaft von Staat und Kirche im Imperium sacrum des christlichen Mittelalters wie für die Etablierung einer effektiven Zentralgewalt im souveränen Territorialstaat der frühen Moderne. Typischerweise wird die historisch-politische Bedingtheit der politischen Philosophie von deren klassischen Vertretern aber nicht als solche reflektiert. Wo die Autoren die Pluralität und Diversität politischer Einrichtungen erkennen und anerkennen, geschieht dies in der Regel im Rahmen einer zyklischen Theorie, die Staatsverfassungen einem Kreislauf von wenigen Grundtypen unterstellt, die zudem noch nach der normativen Differenz von paradigmatischer Ausprägung und charakteristischer Verfallsform klassifiziert werden. Erst im achtzehnten Jahrhundert tritt mit den Ansätzen zu einer philosophischen Betrachtung der Geschichte, die hauptsächlich auf Vico zurückgeht und die ihre Voraussetzung in der literarischen Debatte in Frankreich über die respektiven Vorzüge von Antike und Moderne (querelle des anciens et des modernes) hat, ein verstärktes Bewusstsein für die Geschichtlichkeit politischer Einrichtungen zutage. Doch ist die emergierende Philosophie der Geschichte auch dort, wo sie sich mit dem Wandel und Wechsel der politischen Grundverhältnisse beschäftigt, primär
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kulturell orientiert. Staatlich-politische Strukturen erscheinen in ihr als Teil einer umfassenden gesellschaftlichen, religiösen, künstlerischen und wissenschaftlichen Kultur und zudem in einer durch geographische und anthropologische Bedingungen geprägten Perspektive, wie dies insbesondere bei Montesquieu (Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence, De l’esprit des lois) und Herder (Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit) deutlich wird. An die Stelle der traditionellen zyklischen Auffassung politischer Entwicklung tritt die organologische Vorstellung von Wachstum und Verfall sowie von Geburt und Tod, dem das Kulturleben des Menschen als ebenso unterliegend angesehen wird wie die naturale Lebensform des Menschen als eines Lebewesens unter anderen Lebewesen. In der Perspektive der sich ausbildenden Kulturphilosophie des Menschenlebens erscheint die Geschichtsphilosophie, die für das achtzehnte Jahrhundert so repräsentativ ist wie sonst wohl nur noch das publizitär-philosophische Projekt der Aufklärung,3 weniger als Säkularisierungsgestalt der christlichen Geschichtstheologie und Eschatologie. Vielmehr erweist sich die Kulturgeschichtsphilosophie als inspiriert und orientiert von der neuen Leitdisziplin des achtzehnten Jahrhunderts, der Erforschung des Lebendigen in seiner systematischen Einheit (Buffon, Linné), seinen Produktions- und Reproduktionsmodi (Haller, C. Fr. Wolff) und seinen komparativen Grundstrukturen (Goethe, Cuvier). Die mit der Übertragung von Formen des organischen Lebens auf die kulturelle Entwicklung gegebene Naturalisierung der Geschichte denkt die Geschichte der Menschheit, statt nach dem religiösen Modell der Heilsgeschichte, nach dem wissenschaftsgeschichtlichen Modell der Naturgeschichte (historia naturalis), wobei der Terminus „historia“ in diesem Zusammenhang nicht den Gegenstand der Natur- oder Kulturgeschichte bezeichnet, sondern deren Erforschung und Darstellung. Eine explizite Politisierung der Geschichtsphilosophie und damit die eigentliche historische Wende in der politischen Philosophie, in Absetzung vom vorangegangenen cultural turn im Nachdenken über Geschichte, vollzieht sich gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts, im Ausgang von der Rechtsphilosophie und speziell vom Staatsrecht in der Tradition des Vernunftrechts, bei Kant. Während sein ehemaliger Schüler und späterer Konkurrent und Kritiker Herder die Geschichte der Menschheit in ihrer vollen geographischen und chronologischen Erstreckung ausbreiten möchte,4 fokussiert Kant Geschichte auf die Gründung und Verbreitung von Recht als äußerer Freiheitsordnung und weist der Geschichte als ihren Sinn und Zweck den Rechtsfortschritt und als ihr Ziel die weltumspannende rechtliche Verfasstheit der Staatengemeinschaft und deren damit gewährleistete friedliche Koexistenz („ewiger
3 Zum philosophischen Konzept der Aufklärung siehe Zöller 2009a. 4 Zu Herders geschichtsphilosophischem Projekt siehe Zöller 2013c und Zöller 2013d.
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Friede“) zu.5 Mit dem von Kant gegen Herder initiierten political turn in der Geschichtsphilosophie wiederholt sich, unter veränderten Bedingungen und in veränderter Gestalt, der Urgegensatz klassischen westlichen Geschichtsdenkens zwischen der kulturellen Kontextualisierung des Politischen bei Herodot und der isolierten Präparation der politischen Geschichte bei Thukydides.6 Im Anschluss an Kants politische Geschichtsphilosophie, wie sie insbesondere enthalten ist in dem Aufsatz Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) und in der späten Schrift Zum ewigen Frieden. Ein Entwurf (1795), entwickelt sich das Staatsdenken des deutschen Idealismus zwischen Französischer Revolution, Napoleonischem Kaiserreich, Befreiungskriegen und Restauration zunächst im Rahmen der neuzeitlichen Natur- und Vernunftrechtslehre, die Fichte, Schelling und Hegel in ihren Frühwerken kritisch und produktiv rezipieren und systematisch integrieren in ihre eigenen in der Entwicklung begriffenen nachkantischen Theoriebildungen (Wissenschaftslehre, Identitätsphilosophie). Dabei gehört es zu den Besonderheiten der philosophiegeschichtlichen Dynamik in Deutschland im letzten Jahrzehnt des achtzehnten Jahrhunderts, dass Schelling und Fichte maßgebliche und auch die eigene spätere Entwicklung wesentlich prägende Beiträge zum Rechts- und Staatsdenken zu einem Zeitpunkt formulieren und publizieren – Schellings Neue Deduction des Naturrechts erscheint 1795, Fichtes Grundlage des Naturrechts 1796/97 –, zu dem Kants eigener einschlägiger systematischer Beitrag, Die Metaphysik der Sitten, und insbesondere deren erster Teil, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, mit seiner geschichtsphilosophischen Systematik von Staatsrecht, Völkerrecht und Weltbürgerrecht, aus dem Jahr 1797 noch gar nicht vorliegt. So konnte es dazu kommen, dass der systematische Ort und der methodische Charakter der Rechts- und Staatsphilosophie bei Fichte und Schelling ganz anders bestimmt wurden als bei Kant und dass die abweichende Auffassung Kants von Methodik und Systematik der Rechtslehre auch später weder von Fichte noch von Schelling rezipiert oder gar berücksichtigt wurde. Während nämlich Kant in der Metaphysik der Sitten die Rechtslehre als integralen Bestandteil der praktischen Philosophie entwickelt, dabei sowohl das Recht als auch die Ethik der Moralphilosophie zurechnet und beide Disziplinen einem generischen kategorischen Imperativ unterstellt,7 trennen Fichte und Schelling die auf die Ethik eingeschränkte Moralphilosophie radikal ab von der Philosophie des Rechts (und des Staates), die sie – abweichend von Kant – der theoretischen Philosophie zuweisen.
5 Zum republikanischen und föderativen Staatsverständnis Kants siehe Zöller 2017a. 6 Zum Gesamtcharakter der politischen Philosophie bei Kant und im deutschen Idealismus siehe Zöller 2015a und Zöller 2017b. 7 AA 6, S. 218-228, die Sigle AA, Band, Seite verweist auf Kant 1900ff.
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Für Fichte und Schelling ist das philosophische Problem des Rechts (und des Staates), die Kompatibilisierung der äußeren Freiheit eines jeden mit der aller anderen, ein theoretisches Problem technisch-praktischen Charakters, dessen Auflösung nicht die Ressourcen der Moral zu mobilisieren hat, sondern pragmatische und prudentielle Lösungskapazitäten verlangt.8 Fichte und Schelling konnten sich bei dieser Einschätzung des Status der Rechts- und Staatsphilosophie an Kants eigenen Ausführungen über die Einteilung der Philosophie in der Einleitung zur Critik der Urtheilskraft (1790) orientieren, die das Technisch-Praktische im Unterschied zum Moralisch-Praktischen der theoretischen Philosophie zugewiesen hatte mit der Begründung, dass es sich bei Kunst und Technik um die Anwendung von theoretischer Erkenntnis nach Naturgesetzen handelt, die ohne Rekurs auf das Praktische im engeren Sinne, das auf Freiheitsgesetzen und nur auf diesen beruht, erfolgt.9 Doch hatte Kant an keiner Stelle die Zugehörigkeit der Rechts- und Staatsphilosophie zu der um das Technisch-Praktische als um einen „Anhang“ erweiterten theoretischen Philosophie vertreten. Ganz im Gegenteil wird in der Metaphysik der Sitten auch die reine Rechtslehre der Gesetzgebung der Freiheit untergeordnet, und zwar deren äußerer Gesetzgebung im Unterschied zur inneren Freiheitsgesetzgebung, die für die Ethik spezifisch ist. Durch die systematische Integration der Rechtslehre in die praktische Philosophie hatte Kant die Gültigkeit des kategorischen Imperativs über die Moral im engeren Sinne (Ethik) ausgedehnt und auch die Prinzipien von Rechtlichkeit und Staatlichkeit dem unbedingten Sollen unterstellt.10 Speziell den Austritt aus dem Naturzustand und den Eintritt in den bürgerlichen Zustand fasst Kant nicht mehr als Gegenstand und Resultat prudentieller Überlegungen mit bedingter Verbindlichkeit auf, sondern als kategorischen Rechtsimperativ, dem zufolge der Mensch zum Eintritt in die rechtlich ausgestaltete staatliche Gemeinschaft unbedingt verpflichtet ist. Indem Fichte und Schelling das Recht zu einem Anwendungsfall von theoretisch begründeter und pragmatisch verwerteter Erkenntnis erklären, brechen sie mit einem essentiellen Element der Tradition des neuzeitlichen Natur- oder Vernunftrechts, das mit seinem überpositiven Geltungsanspruch eine Moralisierung des Rechts beinhaltet hatte, der Kant mit der Unterscheidung der Moralphilosophie in Rechtslehre und Ethik („Tugendlehre“) systematischen Ausdruck verliehen hatte. Zwar stellen Fichte wie Schelling ihre eigenen Bemühungen um die philosophische Begründung des Rechts zunächst weiterhin unter den Titel des Naturrechts, doch legitimieren sie den Geltungscharakter rechtlicher Prinzipien nicht durch eine spezifisch moralische Letztbegründung von Rechtlichkeit und Staatlichkeit, sondern im Rahmen von subjektstheoretischen und geistphilosophischen Begründungsgängen („Deduktion“), 8 Zu Kants eigener früherer außermoralischer Konzeption der Staatsidee siehe Zöller 2015b. 9 AA 5, S. 172f. 10 AA 6, S. 318.
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die Recht und Staat in das Bedingungsgefüge funktional vollständiger Strukturen von Bewusstsein oder Selbstbewusstsein integrieren und – kantisch gesprochen – als Bedingungen der Möglichkeit von Subjektivität oder Geistigkeit ausweisen. Die Entlastung der Rechtslehre von der Anforderung einer spezifisch moralischen Begründungsleistung beim frühen Fichte und beim frühen Schelling führt bei beiden zur Entwicklung von kompensatorischen Begründungsprogrammen für Rechtlichkeit und Staatlichkeit in anderen Systemteilen der Philosophie, insbesondere in der Ethik und in der Ersten Philosophie (Wissenschaftslehre, Identitätsphilosophie), und damit zur Belastung dieser Systemteile und Teilsysteme mit importierten Frage- und Problemstellungen der Rechtsphilosophie.11 Durch die Umverteilung des systemarchitektonischen Gleichgewichts zwischen der Rechtsphilosophie, der Ethik und der Ersten Philosophie kommt es in den Systementwicklungen von Fichte und Schelling zu einer charakteristisch gedoppelten Einschätzung von Recht und Staat, die in spezifisch rechtsphilosophischer Hinsicht der Instrumentalisierung und Mediatisierung unterliegen, aber in der kompensatorischen Hinsicht der prima philosophia im Laufe der Systementwicklung bei Fichte wie bei Schelling eine vielförmige Transformation in absolute Gestalten oder Gestaltungen des Absoluten erfahren. Im systematischen Prozess der architektonischen Redistribution der Rechts- und Staatslehre beim Übergang von Kant zu Fichte und Schelling figuriert an entscheidender Stelle die zeitgenössische historische Erfahrung, die von Fichte wie Schelling an wichtigen Punkten ihrer Denkwege12 aus zeitgeschichtlichem Anlass und mit geschichtsphilosophischer Begründung in den Ambitus philosophischer Reflexion einbezogen wird. War es zunächst das Ereignis der Französischen Revolution, das dem frühen Fichte wie dem jungen Schelling die Hinfälligkeit überlieferter rechtlich-staatlicher Ordnungen vor Augen geführt und die Aufgabenstellung der theoretischen und praktischen Neubegründung von Recht und Staat eröffnet hatte, so kommt es in späteren Jahren – nach der Errichtung des Napoleonischen Kaiserreichs, dem Zusammenbruch des Alten Europa und der politischen Neuordnung des europäischen Kontinents im Zeichen von effizienter Machtadministration – speziell bei Fichte zur kritischen Stellungnahme gegenüber der eigenen Zeit, dem eigenen Land und der eigenen Kultur, insbesondere aber zur systematischen Integration der gegenwärtigen Entwicklung in einen universalhistorischen Zusammenhang, der die eigene Gegenwart auf der Schwelle zu einer befreiten Zukunft platziert. Bei Schelling vollzieht sich der Einbezug der politischen Geschichte in die primärphilosophische Reflexion vor dem doppelten Hintergrund von Revolution und Restauration und reflektiert das Scheitern der Revolution im Terror ebenso wie das 11 Zu Fichtes Grundverständnis von Staat und Politik siehe Zöller 2011b und Zöller 2013b, 75-101. 12 Der Terminus „Denkweg“ geht zurück auf Otto Pöggelers maßgebliche Interpretation von Heideggers philosophischer Entwicklung in Pöggeler 1963.
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Scheitern von Napoleons Reich in kriegerischer Gewalt. Gemeinsam ist Fichtes und Schellings später politischer Geschichtsphilosophie die theologisch-politische Distinktion zwischen Staat und Reich – zwischen der äußeren, rechtlich gestützten und geschützten Macht und der inneren, geistig oder gar geistlich gegründeten und garantierten Freiheitsordnung. Gemeinsam ist ihnen auch die Ausrichtung der politischen Geschichte auf eine offene, freie Zukunft, die Fichtes und Schellings geschichtlich-politisches Philosophieren unterscheidet von der pseudo-politischen Nostalgie des reaktionären Wunschdenkens katholisch-korporativer Restauration im Umkreis der sog. politischen Romantik.13
2. Politik und Metapolitik Im Werk Schellings erfolgt die philosophische Reflexion auf die Geschichte im systematischen Kontext der Rechtslehre und im systematischen Konnex mit der Ethik. Auch findet sich bei Schelling ein sachlicher Fokus auf der politischen Geschichte und speziell auf den Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Gemeinschaft. Schließlich lässt sich bei Schelling eine früh einsetzende und kontinuierlich bis ins Spätwerk fortlaufende Beschäftigung mit der Philosophie der Geschichte verfolgen, auch wenn Schellings frühe Präokkupation mit Transzendentalphilosophie und Naturphilosophie diesen Werkkomplex in der Wirkung und Rezeption zumeist überlagert hat.14 Das anachronistische Verhältnis zwischen Kant und Fichte in der Präsentation ihrer Rechtslehren, bei dem der ansonsten Kant nachfolgende Fichte dessen ausgeführter Rechtsphilosophie in der Metaphysik der Sitten mit der Publikation seiner Grundlage des Naturrechts zuvorkommt, wiederholt sich in gesteigerter Form bei Schelling, der auf der Grundlage von Fichtes allerersten Veröffentlichungen zur Wissenschaftslehre (1794) Fichte wie Kant mit der Neuen Deduction des Naturrechts (1795), in der das Ich als Deduktionsprinzips des Rechts fungiert, vorangeht. Doch eine deutliche und nachhaltige Position zur politischen Philosophie der Geschichte bezieht erst das in Hegels physischer Handschrift überlieferte, aber Hölderlins und Schellings geistige Handschrift verratende sog. Erste Systemprogramm des deutschen Idealismus („... eine Ethik.“), das den Staat als „etwas Mechanisches“ abqualifiziert, ihn mit einer „Maschine“ vergleicht und ihn deshalb der Anforderung unterstellt, dass er „aufhören“ solle. An seine Stelle soll in der zukünftigen
13 Zur politischen Romantik siehe Peter 1985. Zum historischen Verhältnis von Freiheitlichkeit und Staatlichkeit im klassischen deutschen Denken siehe auch Cassirer 2001, S. 319-387. 14 Für eine systematische Sammlung der einschlägigen Texte Schellings siehe Schröter 1926. Zu Schellings politischer Philosophie siehe Sandkühler 2001.
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Geschichte die „[a]bsolute Freiheit aller Geister“ treten, die ihrerseits der Leitidee der Schönheit untersteht.15 Die im sog. Systemprogramm nur angedachte und allenfalls skizzierte Staatslehre findet ihre modifizierte Fortsetzung in der späteren Unterscheidung Schellings zwischen der äußeren, mechanischen Seite des Staates („Staatsmaschine“) und dessen Innenseite, die Schelling alternativ ästhetisch („Kunstwerk“; „rhythmische Bewegung und [...] Schönheit des öffentlichen Lebens“) und teleologisch („Organisation“; „Organismus der Verfassung“) präsentiert.16 Im Hintergrund dieser konzeptuellen Differenzierung des Staates steht Schellings produktive Rezeption von Kants Critik der Urtheilskraft,17 der sowohl die Gegenüberstellung von mechanischer und organischer Wirkungsweise als auch die Differenz von ästhetischer und teleologischer Zweckmäßigkeit zu entnehmen war – und die überdies mit der Lehre von der symbolischen Darstellung eine Methodologie des organologischen Staatsdiskurses ausgebildet hatte.18 Der mechanisch-organische Doppelbegriff des Staates erlaubt es Schelling, die frühe Skepsis gegenüber der Dignität und Validität des Staatswesens mit einem konstruktiven Ansatz zur Begründung und Rechtfertigung des Staates („wissenschaftliche Construktion des Staats“) zu verbinden.19 Doch stellt Schelling im Hinblick auf die politische Geschichte in Vergangenheit und Gegenwart fest, dass „bis jetzt die Republik des Plato die einzige Auflösung“ und „wahre Synthesis des Staats“ repräsentiere.20 Speziell die jüngere Gegenwart („neue Welt“) gilt Schelling als „trübste Vermengung der Sklaverey mit der Freyheit“.21 Das subjektivitätstheoretische Deduktionsprogramm des Rechts beim frühen Schelling findet seine weitere architektonische Ausgestaltung im System des transzendentalen Idealismus (1800), das die Rechtssphäre und damit auch den Staat außerhalb der Moralphilosophie ansiedelt und wie eine „zweyte, und höhere Natur“ behandelt.22 Der Übertritt aus der quasi-natürlich geregelten Sphäre von Rechtlichkeit und Staatlichkeit in die eigentliche Entwicklung der Freiheit vollzieht sich im Bereich der Geschichte, die Schelling als Offenbarungsgeschehen begreift. Die Historizität speziell der christlichen Religion erörtert Schelling dann in den Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803).23 Im Hinblick auf den Staat und im Horizont der identitätsphilosophischen Harmonisierung von Realem und 15 Vgl. Hegel 1971, 1, S. 234–236; im Original Hervorhebungen. 16 AA I,14, S. 140, S. 143; mit der Sigle AA, Reihe, Band, Seite wird auf Schelling 1976ff. verwiesen. 17 Zur systematischen Bedeutung der Critik der Urtheilskraft für Schelling siehe Zöller 2006. 18 AA 5, S 188-194 bzw. AA 5, S. 351-354. 19 AA I,14, S. 140. 20 Ebd., S. 142. 21 Ebd. 22 AA I,9,1, S. 281. 23 AA I,14, S. 119-126.
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Idealem konstruiert Schelling den „vollkommene[n] Staat“ als absolute Einheit von Notwendigkeit und Freiheit sowie von Besonderem und Allgemeinem auf der Seite des ganz durch das Ideale bestimmten Realen. Komplementär dazu wird die Kirche als ideale Einheit auf der Seite der Innerlichkeit hergeleitet.24 In geschichtsphilosophischer Perspektive diagnostiziert Schelling in der Schrift von 1803 den Gegensatz zwischen der politisch-sozialen Geschlossenheit der antiken Welt, die Freiheit nur als ideal-geistige Existenzform der wenigen Freien kannte, und der gesellschaftlichen Heterogeneität und Pluralität der modernen Welt („Welt der Mischung“), deren bürgerliche Freiheit Vielheit auf Kosten von Einheit verwirklicht und so die unfreien Zustände der alten Welt heimlich fortführt („trübste Vermengung der Sklaverey mit der Freyheit“).25 Bei der Skizzierung eines modernen Gegenstücks zu Platons Staat („Republik“), der ihm als die einzige bisher geleistete „Construction des Staats“ gilt, rekurriert Schelling auf jüngere Entwicklungen im Naturrecht bei Kant und Fichte, um an Kant das Verharren in äußerlich-mechanischem Staatsdenken zu kritisieren und bei Fichte erste Ansätze einer organischen Auffassung des Staates festzustellen.26 Insgesamt kritisiert Schelling an den bisherigen modernen politischen Bestrebungen in Theorie wie Praxis die bloß instrumentelle Auffassung des Staates als Mittel zu etwas von ihm Verschiedenen und ihm Äußerlichen wie dem materiellen Zweck des Gemeinwohls („allgemeine Glückseligkeit“) oder dem formalen Ziel der Freiheitsermöglichung. Dem gegenüber läßt Schelling als einzigen Zweck des Staates die Darstellung der absoluten Identität in ihrer organischen Entfaltung gelten. Der in Theorie und Praxis zu konstruierende Staat ist deshalb nicht der Staat als solcher, sondern der Staat als „absolute[r] Organismus in der Form des Staates“.27 Die positive, organische Auffassung rechtlich-politischer Gemeinschaft macht den identitätsphilosophisch rehabilitierten Staat zum primären Kandidaten für die Darstellung des Absoluten. Der idealistisch aufgewertete Staat löst so die Kunst als die zuvor von Schelling geltend gemachte adäquate Objektivität des Absoluten ab und wird zum gegenständlichen Gegenstück der subjektiven Darstellung des Absoluten in der Philosophie. Nach Schellings Einschätzung sind sogar Kirche, Religion, Kunst und Wissenschaft „in den Staat übergegangen“.28 Erst der mit der Freiheitsschrift aus dem Jahre 1809 vollzogene Übergang zum späteren und späten Werk Schellings revidiert die zuvor vertretene absolute Dignität des Staates. Den Staat versteht Schelling nunmehr in biblisch-religiöser Perspektive als „Folge des auf der Menschheit ruhenden Fluchs“.29 Schelling nimmt so wieder 24 25 26 27 28 29
Ebd., S. 141. Ebd., S. 142. Ebd., S. 143. Ebd. AA II,7,1, S. 442. AA II,8, S. 146.
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die von ihm schon früher herausgestellte negative Seite des Staates in den Blick, an dem er nun aber nicht mehr nur das Defizit der Freiheit diagnostiziert, sondern den er verantwortlich macht für die physische und moralische Verelendung und Verwahrlosung der Menschen.30 Wenn Schelling gegenüber den faktischen Fehlern des Staates weiterhin an der „Idee des Vernunftstaats“ festhält, dann verbindet er die von früher fortgeführte Konzeption des „absoluten Staats“ sogleich mit der Einschränkung seiner prinzipiellen Irrealität: „Der wahre Staat setzt einen Himmel auf Erden voraus, die wahre πολιτεία ist nur im Himmel; Freiheit und Unschuld ist die einzige Bedingung des absoluten Staats.“31 Damit ist der Staat, wie er sein soll, aus dieser Welt an eine andere Welt verwiesen und einem Jenseits zugewiesen, das sich von der geschichtlichen Wirklichkeit durch eine Freiheit unterscheidet, die nicht Menschenwerk ist und sein kann: die Freiheit von Schuld und Sünde. Unter der heilsgeschichtlichen – oder vielmehr unheilsgeschichtlichen – Perspektive auf die Geschichte wird der Staat beim späteren Schelling zur Schwundstufe einer historisch primären religiösen Welt- und Wertordnung.32 Der Staat resultiert in Schellings Sicht historisch wie systematisch aus der innerlichen Kompromittierung der Kirche, die ihrerseits als „zweite Offenbarung“ anzusehen ist.33 Ziel der Geschichte ist deshalb die Wiederherstellung der innerlichen Primärordnung durch die Wiederannäherung des Staates an seine religiös-kirchliche Vorvergangenheit.
3. Staat und Religion Das primäre Dokument für Schellings Abkehr von der eigenen identitätsphilosophischen Hochschätzung des Staates als weltlichem Absoluten und für seine Rückkehr zur Staatsskepsis und Staatskritik des sog. Ältesten Systemprogramms, der zufolge der Staat abgeschafft und überwunden gehört, sind die Stuttgarter Privatvorlesungen von 1810. Doch erfolgt die Begründung für die Hinfälligkeit und ultimative Nichtigkeit des Staates nun nicht mehr nur mit logisch-epistemologischen Mitteln – als Aufweis des Widerspruchs von Freiheit und Natur im Staat und der Unvereinbarkeit von Staatsapparat und Gemeinschaftsidee. Vielmehr erwächst die politisch-philosophische Problematik des Staates nunmehr dem prozessualen Wesen der menschlichen Freiheit, das Schelling erstmals in der Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit verbundenen Gegenstände aus dem Vorjahr im Rahmen
30 31 32 33
70
Ebd., S. 146, S. 148. Ebd., S. 148. Vgl. ebd., S. 152-154. Ebd., S. 148; im Original Hervorhebung.
theologisch-anthropologischer Spekulationen über die doppelte, natürlich-geistige Verfasstheit des göttlichen wie des menschlichen Wesens entwickelt hatte. Für den Stuttgarter Schelling ist der Staat Ausdruck verfehlter Freiheit und in religiös-theologischer Perspektive anzusehen als „eine Folge des auf der Menschheit ruhenden Fluchs“.34 Schellings Stuttgarter politische Theologie verortet den Staat in dem problematischen, ebenso labilen wie fragilen Stadium zwischen dem bloß Natürlichen und dem rein Geistigen. Statt die eigene Freiheit einzubringen in den allgemeinen theogonischen Prozess der Verklärung von Natur in Geist hat der Mensch die ihm eigene Freiheit pervertiert zum freigewählten Beharren auf dem natürlichen Standpunkt und damit die kontrarische Verselbständigung des Natürlichen herausgefordert, das ihm nun als äußere feindliche Macht gegenübertritt. Aus dem organischen Einheitszusammenhang der unschuldigen Natur ist so ein „Reich des Anorgischen“ geworden, das nicht eine stabile Ordnung darstellt, sondern eine „Nicht-Einheit“.35 So wie die „unorganische Natur“ nur ein „zeitliches, vergängliches Band“ kennt, ist auch der Staat als „zweite Natur“ immer nur „precär und temporär“.36 Das Grunddefizit des Staates ist, nach Schellings Stuttgarter Analyse, die widersprüchliche Zusammenfügung von physisch bewirkter und wirkender Einheit („Natureinheit“) als Mittel zu einen außer- und übernatürlichen Zweck – der Vereinigung freier Wesen als solcher („sittliche[r] Zustand“).37 Für den Stuttgarter Schelling sind die jüngeren Versuche in der politischen Theorie und Praxis – namentlich die Französische Revolution und die einschlägigen Schriften Kants – von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Dem Dilemma eines starken, doch despotischen Staates und eines individuelle Freiheit respektierenden, aber eben deshalb auch ineffizienten Staates sind nach Schellings Einschätzung in der älteren und jüngeren Vergangenheit nur die geopolitisch begründeten Ausnahmeerscheinungen Griechenlands und Englands entgangen, die wegen ihrer raren insularen oder peninsularen Lage aber nicht als Vorbild dienen können. Die anachronistische und, sit venia verbo, anatopistische Übertragung splendider Isolation auf kontinentale Verhältnisse, etwa in Fichtes Entwurf eines „geschlossenen Handelsstaats“,38 brandmarkt Schelling dagegen als „ärgsten Despotismus“.39 Für Schelling ist der politische Despotismus theoretisch wie praktisch die unvermeidliche Folge der konsequenten Bemühung um einen „vollkommenen Staat“ unter Bedingungen eines inadäquaten, naturalistisch-individualistisch verfälschten Freiheitsbegriffs.
34 35 36 37 38 39
Ebd., S. 146. Ebd., S. 144. Ebd., S. 146. Ebd. Zu Fichtes politischer Konzeption eines geschlossenen Handelsstaates siehe Zöller 2018. AA II,8, S. 148.
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Die prinzipielle Unverträglichkeit des Staates mit „wahre[r] und absolute[r] Einheit“40 lässt für Schelling die real existierenden Staaten zu bloßen Approximationen an das gesellschaftliche Einheitsideal werden, die auch bei optimaler Annäherung an quasi-organische Verhältnisse dem endlich-zyklischen Wachstums- und Verfallsprozess allen Lebens unterliegen. Schelling reklamiert Platon für die Einsicht, dass der vernünftig eingerichtete, ideale Staat („Vernunftstaat“, „Ideal eines Staates“) in dieser Welt nicht zu verwirklichen ist: „... die wahre πολιτεία ist nur im Himmel“.41 Doch anders als Platon macht Schelling spezifisch moraltheologische Umstände für das Defizitäre aller menschenmöglichen Politik geltend. Die Bedingungen vollkommener Politik und des ihr korrespondierenden „absoluten Staats“ sind für Schelling „Freiheit und Unschuld“42 – eine Freiheit, die sich nicht zu Eigenwille und Egozentrik verselbständigt hat, sondern die frei von Schuld geblieben oder es wieder geworden ist. Platons Entwurf einer idealen Staatsverfassung versteht Schelling in dieser Perspektive nicht als technisch-praktische Anweisung zu deren wirklicher Ausführung, sondern als moralisch-praktische Aufforderung, die notwendigen Bedingungen ihrer Verwirklichung allererst zu schaffen durch die (Wieder-)Herstellung von schuldloser Freiheit. Doch betrifft die konstitutive Imperfektion der Politik unter den Bedingungen gefallener Freiheit nicht nur die unzureichende innere Beschaffenheit (Verfassung) der einzelnen Staaten. Auch im Verhältnis der Staaten zueinander fehlt, Schelling zufolge, die Einheit aus Freiheit und herrscht statt dessen aktueller oder potentieller Krieg. Für Schelling ist der zwischenstaatliche Kriegszustand das menschengeschichtliche Äquivalent zum „Kampf der Elemente in der Natur“.43 Zusammen mit den ebenfalls unvermeidlichen Übeln der physischen Existenz, die den Menschen plagen, manifestiert das immerfort gefährdete politische Dasein des Menschen dessen Degradation, genauer: dessen Selbsterniedrigung in die rein physische Existenz. Während Schelling die Depravation dem Menschen als dessen eigene Schuld im falschen Gebrauch oder vielmehr Missbrauch seiner Freiheit zuschreibt, erwartet er eine etwaige „Wiedererhebung“44 des Menschen nicht von diesem selbst, sondern von einem göttlichen Heilsgeschehen. Die einstweilen ausstehende, aber auch schon anstehende restitutio ad integrum sieht Schelling in Analogie zur „anfänglichen Schöpfung“ als eine „zweite Offenbarung“.45 Schellings Begriff der Offenbarung reflektiert in beiden Fällen die philosophisch begründete Notwendigkeit einer Vermittlungsleistung – ursprünglich, prälapsarisch, zwischen Natur und Gott in Gestalt 40 Ebd. 41 Ebd. Zum historischen und systematischen Kontext von Schellings theologisch-politischer Platon-Rezeption siehe Zöller 2013a. 42 AA II,8, S. 148. 43 Ebd. 44 Ebd.; im Original Hervorhebung. 45 Ebd.; im Original Hervorhebung.
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der Schöpfung des Menschen und in der postlapsarischen Wiederholung durch die Vermittlung des gefallenen Mensch mit dem erlösenden Gott. Der ursprünglichen Vermittlerrolle des Menschen für die Selbstoffenbarung Gottes in der geschaffenen Welt korrespondiert für Schelling die Mittlerfunktion des Gottmenschen („Christus“) zwischen Gott und Mensch in der gefallenen Welt.46 Mit dem Heilsprojekt der Offenbarung tritt beim Stuttgarter Schelling neben den Staat als „bloß äußerliche Einheit“ die Kirche, die „auf Hervorbringung einer inneren oder Gemüthseinheit“ abzielt.47 Für Schelling ist die Kirche keine zusätzliche und gelegentliche Entwicklung, sondern die „nothwendige Folge“ der Offenbarung und im Grunde nichts weiter als die „Anerkennung“ der Offenbarung.48 Kirche und Staat werden von Schelling den separaten Sphären von „innerer und äußerer Welt“ zugeordnet. Unter den historischen und gegenwärtigen Bedingungen der Trennung von bloß natürlicher und rein geistiger Welt kann, so Schelling, die Kirche keine „äußere Gewalt“ werden.49 Schelling kritisiert die politischen Verwicklungen der institutionalisierten Religion („Kirche“) in ihrer älteren, „hierarchischen Epoche“, an der er nicht die Einflussnahme auf den Staat für fehlerhaft hält, sondern die Öffnung der Kirche für den Staat, sein Wesen und seine Belange, durch die sie ihre „Reinheit“ aufgab und „Formen des Staats“ in sich aufnahm.50 Speziell im Hinblick auf die Entwicklungen des Verhältnisses von Kirche und Staat im Christentum konfrontiert Schelling zwei gegenläufige Bewegungen: den historisch gescheiterten Versuch, durch die Kirche eine innere Einheit herzustellen, die sich zugleich äußerlich manifestiert, und die jüngeren Bemühungen, die äußere Einheit mittels des Staates und ohne Rekurs auf die innere Einheitsbildung der Kirche herzustellen. Schelling sieht dabei einen engen Zusammenhang zwischen der grundsätzlichen Distanznahme des Staates von innerer Einheitsbildung und dem zu beobachtenden Zuwachs an äußerlichem Zwang („politische[] Tyrannei“).51 So stellen für Schelling die alte Hierarchie und die moderne Politarchie verwandte Extreme einer einseitig-reduktiven Behandlung des Verhältnisses von Kirche und Staat dar. Im Hinblick auf die Zukunft wagt Schelling die von Hoffnung getragene Prognose, dass dereinst nach der äußersten Übersteigerung des verselbständigten Staatswesens an die Stelle der bisher vorwaltenden beiden politisch-religiösen Extremlösungen die Menschheit endlich „das Rechte“ finden könnte.52 Ohne das Fernziel einer ausgeglichenen, dauerhaft befriedeten Menschheitsgeschichte genauer zu bestimmen, stellt Schelling zum Abschluss seines politisch46 47 48 49 50 51 52
Ebd., S. 150. Ebd., S. 152. Ebd. Ebd.; im Original Hervorhebung. Ebd. Ebd. Ebd., S. 154.
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theologischen Miniaturtraktats in den Stuttgarter Privatvorlesungen Überlegungen an, wie, wenn überhaupt, dieses Ziel zu erreichen wäre, nämlich einzig „auf dem religiösen Wege“.53 Schelling zufolge kann die fällige Aufhebung des Staates nur erfolgen durch „die höchste und allseitigste Entwicklung der religiösen Erkenntniß in der Menschheit“.54 Der von Schelling anvisierte universelle Vergeistigungsprozess soll dazu führen, dass der Staat sich von der für ihn bislang konstitutiven „blinden Gewalt“, die er ebenso ausübt wie sie ihn selbst bestimmt, loslöst und durch praktisch wirksame Einsicht ersetzt – ein Vorgang, den Schelling in religiöser Sprachlichkeit als Verklärung der Gewalt zur Intelligenz beschreibt.55 Schelling stellt aber auch klar, dass die von ihm ebenso prognostizierte wie propagierte Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Kirche keine Herrschaft der einen Institution über die andere sein kann. Weder soll die Kirche den Staat noch soll der Staat die Kirche beherrschen. Vielmehr sieht Schellings theologisch-politisches Zukunftsszenario vor, dass der Staat selbst sich in Richtung auf die Religion fortentwickelt, dass er „in sich das religiöse Princip“ zur Entfaltung bringt.56 Die solcherart entwickelten und allgemein verbreiteten „religiöse[n] Ueberzeugungen“ sollen schließlich zu einer universellen zwischenstaatlichen Friedensordnung führen („Bund aller Völker“).57 Doch bleibt die religionspolitische Geschichtsphilosophie („Schicksal der Gattung auf der Erde“)58 beim Stuttgarter Schelling ein knapp skizzierter Entwurf, der überdies auf eine ferne Zukunft und einen veränderten Menschen verweist. Unabhängig vom religiös-politischen Fortschritt der Gattung ist es dem einzelnen aber, so Schelling, jederzeit möglich, in der eigenen Lebensführung das religiöse Prinzip in den Mittelpunkt zu stellen und so „der Gattung vorauszueilen und das Höchste für sich zum voraus zu nehmen“.59 An das Programm einer individuell-religiösen Antizipation von einstweilen ausbleibender politisch-religiöser Geschichtsentwicklung sollte Schelling Jahre später, in den Münchener und Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Mythologie, wieder anknüpfen mit der Diagnose-cumPrognose einer religiösen Lebensführung, mittels derer das Individuum, hier und jetzt, innerlich und geistig über die politisch verdorbene Wirklichkeit und speziell den schlimmen Staat hinauszugelangen vermag.60 Nachdem er zuvor die perfekte Politie ins Jenseits befördert hat, unternimmt Schelling in seinen späten Vorlesungen zur Philosophie der Mythologie eine ge-
53 54 55 56 57 58 59 60
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Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. SW XI, S. 544-562; die Sigle SW, Band, Seite verweist auf Schelling 1856-1861.
schichtsphilosophische Relativierung des Staates durch dessen Kontrastierung mit dem Reich. Doch lokalisiert der späte Schelling das wahre Reich nicht am geschichtlichen Ende eines politischen Emanzipationsprozesses, sondern in der Emanzipation von der Politik. Für den späten Schelling besteht die politische Leistung des modernen Individuums darin, innerlich über den Staat und seine rechtlichen Zwangsmechanismen hinaus zu sein.61 Es ist dies keine politische, gemeinschaftlich vorzunehmende Aufgabe, sondern die je individuell zu leistende Verabschiedung vom Politischen, für die Schelling – in bizarrer Verkehrung oder Verkennung der antiken Verhältnisse – auf die Ausführungen zur Muße in der Schrift des Aristoteles über die politischen Angelegenheiten verweist.62 Vorbild für die individuelle Transgression des Politischen ist die historische Abfolge des Römischen Reichs und des Christentums, innerhalb derer letzteres auf der Grundlage von ersterem den Fortschritt von einer „weltlichen Monarchie“ zum „wahren Weltreich“ vollzogen habe.63 In der Beziehung auf die Gegenwart führt der Gegensatz von antik-politischer und modern-religiöser Reichsidee beim späten Schelling zur Anweisung an das Individuum, „[i]nnerlich über den Staat hinaus [zu] seyn“.64 In Aufnahme neutestamentarischer Ermahnungen rät der späte Schelling gegenüber der unveräußerlichen Macht und Übermacht des Staates und seiner rechtlichen Zwänge zur inneren Emigration ins Religiöse: „Trachtet [...] nach diesem innern Reich, so wird der unvermeidliche Druck auch der rechtmäßigen äußeren Ordnung für euch nicht mehr vorhanden seyn“.65 Der späte Schelling relativiert so den Staat zum negativen Mittel für etwas, das „jenseits des Staats“ liegt,66 die ethisch-religiöse Dimension geschichtlich geprägter menschlicher Existenz. Damit wird der Staat aber auch zur Bedingung eines Fortschritts, den er selbst nicht zu gewährleisten vermag: „In Bezug auf die höhere Entwicklung also ist der Staat nur Unterlage, Hypothesis, Durchgangspunkt“.67 Doch der Staat wird in der metapolitischen Auffassung des späten Schelling nicht nur vom Zweck zum Medium der Geschichte degradiert. Schelling ergänzt die Einschränkung des Politischen in der Geschichte auch um die Warnung vor den Konsequenzen einer primär politischen Deutung und Gestaltung von Geschichte: „Wenn man einen vollkommenen Staat in dieser Welt will, so ist das Ende (apokalyptische) Schwärmerei.“68 Was allenfalls im Himmel gelingt – die perfekte Politeia –, ist auf Erden nur unter Schrecken und Schaudern zu haben und deshalb zu vermeiden.
61 62 63 64 65 66 67 68
Ebd., S. 551. Vgl. ebd., S. 549f. Ebd., S. 545. Ebd., S. 548. Ebd. Ebd., S. 551. Ebd., S. 553. Ebd., S. 552.
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Geschichte und Politik sind beim späten Schelling nur mehr Durchgangsstadien zur sittlich-religiösen Emanzipation des prätermodernen Individuums.
4. Rechtsstaat und Religionsstaat Mit der Situierung des Fortschritts der Menschengeschichte auf der Gattungsebene statt im Leben der Individuen und der Vorstellung eines übereinzelstaatlichen Weltfriedensbundes nimmt der Stuttgarter Schelling Kants Ideen zu einer weltbürgerlichen Geschichtsschreibung und internationalen Friedensgesetzgebung auf. Auch die von Schelling in den Stuttgarter Privatvorlesungen vorgenommene Exemption des individuellen religiösen Lebens von der moralisch retardierten Politik und Geschichte hat ihren Vorläufer in Kants moderner Adaptation der christlichen Gnadenlehre und Eschatologie in seiner späten Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft.69 Doch trennen sich die politisch-theologischen Wege Kants und Schellings bei der grundsätzlichen Einschätzung der Leistungsfähigkeit und Wirkungsweise des Staates und bei der Bestimmung des geschichtlichen Ziels menschlicher Entwicklung. Wo der Stuttgarter Schelling beim Staat nur Unzulänglichkeit und Unfreiheit sieht, begründet und begrenzt Kant den Staat als Rechtsstaat, der bürgerliche Freiheit ebenso ermöglicht wie gewährleistet. Und wo Kant mit rationalen Mitteln die christliche Lehre frei rekonstruiert als Verfalls- und Verwirklichungsgeschichte von moralischer Freiheit, lässt Schelling die Geschichte in einem finalen Offenbarungsgeschehen aufgehen. Der tiefere Grund für die radikal unterschiedene Einschätzung der rechtlich-politischen Sphäre und ihres Verhältnisses zum religiös-theologischen Bereich bei Kant und Schelling liegt in ihrer abweichenden Auffassung der moralischen Qualität des Staates. Während Kant im Staat den einzigmöglichen Geltungsgrund von Bürger-Recht und rechtlicher Freiheit sieht und primär die Kontrastperspektive zum bellikosen Naturzustand im Blick hat, sieht Schelling den Staat als grundsätzlich dem Naturzustand verhaftet und wendet den Blick voraus auf einen Freiheitszustand jenseits der äußeren Freiheitsordnung des Staates. Kant hat im Rückbezug auf die neuzeitlichen Vertrags- und Naturrechttheoretiker vor allem die Rechtskulturleistung des Staates im Sinn. Schelling denkt beim Staat in erster Linie an die Zwangsanstalt und den libertär verkürzten Freiheitsbegriff. Umgekehrt sieht Kant bei Religion und Theologie zunächst die Bedrohung von Verstandesaufklärung und Charakterbildung durch Vorurteil und Intoleranz, die es durch rationale Purifikation zu verhindern gilt, während Schelling gerade der Offenbarungsreligion und ihrer philosophischen
69 Zu Kants Konzeption eines ethisch-bürgerlichen Gemeinwesens siehe Zöller 2013e.
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Theologie die Kompensation der pseudofreiheitlichen Fehlleistung des Staates zutraut. In architektonischer Hinsicht gründet die politisch-theologische Divergenz zwischen Kant und Schelling in dem unterschiedlichen systematischen Ort des Staates, der für Kant als Ausfluss des kategorischen Rechtsimperativ der praktischen Philosophie und damit der Freiheitsgesetzgebung zugehört, während er für Schelling als Resultat prudentieller Kalkulation der theoretischen Philosophie (in deren technischpraktischem Teil) und damit der Naturgesetzgebung unterliegt. Bei Kant ist der Staat als Staat des Rechts zwar keine ethische Institution, aber doch eine moralische Anstalt auf der Grundlage unbedingt geltender praktischer Prinzipien. Für Schelling dagegen liegen auf dem Staat die Sünde des Eigenwillens und der Fluch des anthropozentrischen Aufbegehrens. Zwar kennt auch Kant über den Staat als solchen hinausreichende Instanzen und Gesetze, die statt auf äußere Gesetzeskonformität (Legalität) auf Gesinnung (Moralität) gehen.70 Doch sind die ethischen und moralisch-religiösen Gesetze bei Kant kein Substitut für rechtlich-staatliche Legislation, sondern deren ganz anders geartete Ergänzung um eine Geltungssphäre außerhalb des Rechts, deren Anerkennung den rechtlichen Prinzipien und Gesetzen keinen Abbruch tut, sondern sie mit einer zusätzlichen, ethischen Sanktion und Motivation versieht. Dagegen stellt die Staatskritik Schellings, insbesondere die Prognose eines sich selbst vom Äußerlich-Rechtlichen ins Innerlich-Religiöse überführenden Staates, der so zum Religionsstaat werden soll, die Geltung des Staates als Rechtsinstitut in Frage und eröffnet die Perspektive auf eine nach- und überstaatliche Zukunft der Menschheit im Zeichen von Glaube und Andacht. Die von Schelling ebenfalls vorgesehene individuelle Antizipation dieser endgeschichtlichen Entwicklung im persönlichen religiösen Leben mag noch kompatibel sein mit der faktischen Fortexistenz des Rechtsstaates. Die von ihm in Aussicht gestellte gesamtgesellschaftliche und gar weltweite Umwälzung von der politischen Herrschaft des Staates zur ethisch-religiösen Herrschaft der im Wortsinne katholischen (totalen) Kirche beinhaltet dagegen den Abschied von rechtlich geordneter Freiheit und staatlicher Freiheitsordnung zugunsten eines ethisch-religiösen Freiheits- und Ordnungsverständnisses, das sich wie das religiöse Pendant des von Schelling im Hinblick auf den weltlichen Staat kritisierten „politischen Despotismus“ ausnimmt. Praktisch parallel zum Stuttgarter Schelling und in frappanter Übereinstimmung mit den einschlägigen Überlegungen des Münchner und Berliner Schelling entwickelt sein frühes Vorbild, zeitweiliger Konkurrent und späterer Opponent, J. G. Fichte, in seinen späten Berliner „Vorträge[n] verschiedenen Inhalts aus der angewendeten Philosophie“, der nachmals sogenannten Staatslehre (1813, publiziert pos-
70 AA 6, S. 219.
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tum 1820),71 eine politisch-metapolitisch orientierte Philosophie von Rechtlichkeit und Staatlichkeit. In Fichtes später politischer Geschichtsphilosophie wird der Staat des Rechts durch eine ethisch-religiöse Gemeinschaftlichkeit, das „Reich“, ebenso abgelöst wie aufgelöst zugunsten einer egalitären Korporation der Freien, die das freiwillig und aus Einsicht tun, was früher der Rechtszwang gewaltsam durchzusetzen hatte. An die Stelle freier Selbstbestimmung tritt dabei die Ergebung in den göttlichen Willen („Hingabe“). Die Staatsform des zukünftigen ethisch-religiösen Gemeinwesens beschreibt Fichte selbst als „Theokratie“, freilich als eine Gottesherrschaft nicht durch „blinden Glauben“, sondern durch „klare Einsicht“.72 Über ihre gravierenden doktrinalen und methodologischen Differenzen hinweg treffen sich so der Berliner Fichte und der Stuttgarter Schelling in einer anti-modernen Allianz von Staatskritik und Religionspolitik. Trotz der Differenz zwischen der primär rechtlichen Auffassung von Verlauf und Ziel der Geschichte bei Fichte und der ethisch-religiösen Selbsttranszendenz politischer Geschichte bei Schelling stimmen Fichte und Schelling in ihren Spätwerken überein in der Überbietung des Staates durch das Reich und der Ablösung des äußerlichen Zwangs durch die innere Selbstbezwingung. Bei Fichte wie Schelling geht die Verinnerlichung des Politischen – seine tendenzielle Dejuridisierung und Reethisierung – überdies einher mit der Abwertung der Willkür- oder Wahlfreiheit zugunsten der Freiheit rein-vernünftiger Selbstbestimmung (Autonomie). Politisch betrachtet bedeutet dies die tendenzielle Eliminierung des negativen, liberalen Freiheitsbegriffs zugunsten des positiven, autokratischen Freiheitsverständnisses. Dieser Tendenz entspricht in den Ausgestaltungen des politischen oder vielmehr post-politischen Lebens bei Fichte und Schelling der Fokus auf Gleichheit und die Orientierung auf die Gleichförmigkeit des gemeinschaftlichen Handelns. Statt das Reich als den besseren Staat zu denken, konzipieren Fichte und Schelling das Reich als besser denn der Staat. Doch damit verspielen die beiden Philosophen die historische Gelegenheit, vor dem zeitgenössischen Hintergrund der positiven Erfahrungen mit dem Kampf um bürgerliche Freiheit in der Amerikanischen und der Französischen Revolution der von Kant sekurierten sittlichen Autonomie die politische Autonomie an die Seite zu stellen. Wie die meisten Vertreter der klassischen deutschen Philosophie – bis hinunter zu Nietzsche und Heidegger – sind Schelling und Fichte zwar nach Athen und Sparta, nicht aber nach Philadelphia und Paris gelangt.
71 GA II,16, S. 13-177; die Sigle GA, Reihe, Band, Seite verweist auf Fichte 1962-2021. 72 GA II,16, S. 165. Zur politischen Philosophie und Pädagogik des späten Fichte siehe Zöller 2009b, Zöller 2010 und Zöller 2011a, S. 189-205.
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Wolfgang M. Schröder Schellings Neue Deduction des Naturrechts (1796/97) als aphoristische Rechtsphilosophie. Ein historisch-rechtstheoretischer Einordnungsversuch
In memoriam Xavier Tilliette (1928-2018) Ob Schellings Werk bloß einen kursorisch entfalteten „Rechtsgedanken“1 enthalte oder auch eine veritable Rechtsphilosophie2 von Belang, scheint im Diskurs der intellectual history des Rechts noch immer offen. Weithin herrscht jedenfalls Zurückhaltung, wenn es um Schellings klare Zuordnung zu den Rechtstheoretikern des Deutschen Idealismus geht. Neuere und neueste Handbücher zur Rechtstheorie- und Rechtsphilosophiegeschichte verlieren über Schellings Beitrag meist kein Wort3; Ausnahmen bestätigen die Regel4. Diese Lage überrascht angesichts des Forschungsstands. Schellings einschlägige Texte sind gut ediert und kommentiert5. Ferner sind Schellings Bezüge zunächst zu aufklärerischen Rechtsdiskursen6, dann auch zur Historischen Schule der Rechtswissenschaft7 herausgestellt. An sich besteht kein Anlass mehr für ausweichende Kompromissformeln, wenn „Staat“ und „Recht“ in Schellings Werk in Rede stehen8. Gleichwohl muss man offenbar zurückgehen bis zu Ernst Blochs Naturrecht und menschliche Würde (1961), um vorbildlichen Klartext darüber zu finden, dass der junge Schelling ein Rechtsdenker „gänzlich in
1 Vgl. Hollerbach 1958. 2 Vgl. Hofmann 1999; Smid 1991; Smid 1989. 3 So etwa in Hilgendorf/Joerden 2017, ferner in Padoa Schioppa 2016. Unerwähnt bleibt Schelling auch in J.B. Schneewinds magisterialer Studie Schneewind 1998. Selbst in neueren Schelling-Interpretationen bleiben rechtsphilosophische Studien eher außen vor; so etwa in Ostaric 2014. 4 So etwa Bondeli 2014, bes. S. 1385ff. 5 Vgl. Jacobs 1982. 6 Schröder 2010. 7 Haferkamp 2014. 8 Sandkühler 1998, S. 190: „Obwohl Schellings Gesamtwerk keine in allen Einzelheiten ausgearbeitete Philosophie des Rechts, der Politik und des Staates – etwa der Rechtsphilosophie Hegels vergleichbar – kennt, so wäre es doch falsch, Schellings Philosophie als unpolitisch zu bezeichnen. Seine ganze Philosophie zielt auf eine Veränderung der Gesamtheit der Lebensverhältnisse der Menschen und der Menschheit ab. In diese Lebensverhältnisse sind, werden sie in einem umfassenden Sinne verstanden, die rechtlichen, politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse mit einbegriffen.“
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juristischer Spontaneität a priori“ gewesen ist – und ein „in der Leidenschaft der subjektiven Rechte“ philosophischer Genosse Paul Johann Anselm Feuerbachs9. Im Folgenden liegt der Versuch, nochmals10 für die Wahrnehmung und Würdigung der Eigenart der schellingschen Rechtsphilosophie zu werben. Im Mittelpunkt steht dabei Schellings Rechtsphilosophie par excellence: die Neue Deduction des Naturrechts (abgekürzt: ND) (1796/97).11 Darin entwirft Schelling nicht nur ein singuläres Rechtskonzept von einem eigenen Ich-theoretischen Standpunkt her.12 Er bündelt und pointiert auch die innovativsten Denklinien der deutschsprachigen Naturrechtsdebatte der 1790er Jahre bis zum Erscheinen von Kants Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre (1797). Inwiefern, soll nachstehend in Grundlinen rekonstruiert und historisch-rechtstheoretisch eingeordnet werden. Wir beginnen mit einer ideengeschichtlichen Verständigung über den Rechts- und Naturrechtsbegriff.
1. Recht (wie auf ihre Weise die Moral) betrifft die Normativität im Sozialen. Für Menschen in Interaktion stellt es Grundsätze und Regeln eigener wie fremder Freiheit und Pflicht auf. Die westliche Rechtstradition ist dabei nicht nur, aber doch maßgeblich geprägt von griechischen (thémis/díkē/nómos) und römischen (ius/ iustum/rectum/fas) Konzepten13. Historisch wie systematisch scheint sogar ein ursprünglichster Blickwinkel solcher Freiheits- und Verpflichtungsordnung gegeben: der des subjektiven Rechts. Das gilt jedenfalls für die vom altrömischen ius herkommende Tradition. Die Ursprungsbedeutung dieses Rechtsbegriffs war wohl die eines Unterscheidungskriteriums legitimer und illegitimer individueller Handlungsfreiheit. Das ius stand inbegrifflich für erlaubte Freiheitsbetätigung, besonders auch Herrschaftsausübung (über Personen und Sachen) – im Unterschied zu friedensstörender Gewaltausübung (vis)14. Im Vergleich hierzu verweist die altgriechische Vorstellung vom Rechtlichen, die Idee des díkaion, auf eine völlig andere ursprüngliche Rechtsfunktion. Zunächst war das díkaion noch nicht durch seine normative Bedeutung definiert. Als díkaios 9 Bloch 1961, S. 109. 10 Vorliegender Beitrag greift in stark überabeiteter und erweiterter Fassung meine früheren Analysen in Schröder 2012b auf. 11 Die Werke Schellings werden, sofern nicht anders angegeben, nach der Sigle AA, Reihe, Band, Seite zitiert (= Schelling 1976ff.). 12 So schreibt Schelling an Hegel: „Ich bin indeßen Spinozist geworden! – Staune nicht, Du wirst bald hören, wie? – Spinoza‘n war die Welt (das Objekt schlechthin, im Gegensaz gegen das Subjekt) – alles, mir ist es das Ich.“ (AA III,1, S. 22f.). 13 Daneben fließen auch germanische und slawische Rechtsvorstellungen ein. Vgl. als magisteriale Übersicht Hattenhauer 1992. 14 Schiemann 1999.
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konnte alles gelten, was irgendwie in Ordnung war. Mit der Zeit aber wurde das díkaion zum rechtstheoretischen Inbegriff ontologisch oder ethisch zu bestimmender objektiver Ordnungs- und Richtigkeitsmaßstäbe, nach denen die Angemessenheit und Geradheit (itheía) von Verhältnissen beurteilt werden konnte. Recht (díkaion) und Gerechtigkeit (dikaiosýne) sind hier dezidiert relationale Kriterien. Sie machen die Verhältnismäßigkeit zweier Größen bestimmbar, auch und besonders in Zuund Verteilungsfragen15. Damit steht das díkaion zwar nicht in kontradiktorischem Gegensatz zum altrömischen ius. Jedoch scheint es, dass díkaion, dikaiosýne und itheía inhaltlich eher den lateinischen rechtstheoretischen Begriffen iustum, iustitia und rectum entsprechen als dem eigentlichen ius-Konzept. Neben verschiedensten Vorstellungen davon, was ‚Natur‘ und ‚natürlich‘ zu heißen verdient16, waren es der díkaion- und der ius-Gedanke, welchen die Entwicklung des ‚Naturrechts‘ (als philosophischer Rechtslehre par excellence) die entscheidenden Impulse verdankt.17 Aus der Tradition des altrömischen ius heraus sind vorpositive, ursprüngliche, subjektive Freiheitsrechte zu Grundthemen der Naturrechtstheorie geworden. Parallel dazu haben altgriechische Konzeptionen des díkaion und der dikaiosýne Grundweichen für Lehren vom objektiven natürlichen Sittengesetz gestellt. Lange, allzu lange hat das Naturrecht beide Traditionsstränge in systematischer Engführung entwickelt – und damit ohne klare Abgrenzung von Rechts- und Moralvorstellungen. Der Preis dieses Verfahrens war hoch: ‚Recht‘ im strengen Sinn wurde von ‚Rechtsethik‘ oder, allgemeiner, ‚Sittlichkeit‘ sachlich fast ununterscheidbar. Der Durchbruch hin zur modernen, Recht und Ethik unterscheidenden Auffassung vom Naturrecht vollzog sich als Übergang von der alten materialethischen Naturrechtslehre zu einer kritischen Philosophie des Rechts. Was spezifisch die Ausbildung eines prägnanten kritisch-philosophischen Rechtsbegriffs angeht, so hat diese maßgebliche Impulse durch eine Grundunterscheidung von Thomas Hobbes erfahren, die sich im Leviathan (1651) findet. Dort wird ‚Naturrecht‘ (ius naturale) so vom ‚Naturgesetz‘ (lex naturalis) abgegrenzt, dass ius naturale als existentiellfreiheitstheoretischer, lex naturalis indes als rationalistisch-bindungstheoretischer Grundbegriff der Rechtsphilosophie zu stehen kommt.18 Ideengeschichtlich gese15 16 17 18
Vgl. Ilting 2004; und Neschke 1998. Vgl. dazu Ilting 2004 und Sauter 1932. Vgl. als Überblick Schröder 2012a. Das 14. Kapitel von Buch I des Leviathan bahnt den Übergang von vorstaatlichen begrifflichen und gesellschaftlichen Prämissen zu den unmittelbar staatstheoretischen Materien mit einem definitorischen Dreischritt an. Bestimmt wird, was unter ‚natural right‘, ‚liberty‘ und ‚natural law‘ zu verstehen sei. Hobbes befindet: „The RIGHT OF NATURE, which writers commonly call jus naturale, is the liberty each man hath to use his own power, as he will himself, for the preservation of his own nature, that is to say, of his own life, and consequently of doing anything which, in his own judgement an reason, he shall conceive to be the aptest means thereunto.“ (Hobbes 1994, S. 79). Im Blick hierauf wird der ‚liberty‘-Begriff wie folgt bestimmt: „By LIBERTY is understood, according to the proper signification of the word, the absence of
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hen hat Hobbes diese Differenzierung zwar nicht erfunden, sondern nur wiederentdeckt19. Jedoch hat er sie erstmals zu einer rechts-, politik- und staatstheoretischen Leitdifferenz neuzeitlicher Naturrechtstheorie erhoben20.
2. Folgt man der hobbesschen Sicht, dass ‚Recht‘ naturgemäß mit Freiheit‘ und ‚Gesetz‘ naturgemäß mit ‚Bindung‘ zusammenzudenken ist („because RIGHT consisteth in liberty to do or to forbear, whereas LAW determineth and bindeth to one of them“21), dann verbietet es sich, Naturrechtstheorie im Kern anders denn als Freiheitstheorie zu entwerfen. Jedenfalls scheint es verquer, ihr Grundziel in etwas anderes zu legen als eben darein, die argumentative Logik und die rechtsbegrifflichen Grenzen naturgegebener Freiheitsansprüche auszuloten. Radikal wie kaum ein anderer vor und nach ihm hat der junge Schelling die Konsequenzen dieser Einsicht entfaltet: unter dem Titel einer Neuen Deduction des Naturrechts (ND).22 Wohl zu Beginn des Jahres 1796 entstanden23, erscheint Schellings ND 1796/97 im Philosophischen Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten,24 ab 1795 herausgegeben von F.I. Niethammer (später gemeinsam von Niethammer und Fichte). Inhaltlich ordnet die ND von einem obersten Grundsatz her jene „Aphorismen“, die Schelling in einem Brief an Niethammer vom 23.03.1796 angekündigt hatte und die insgesamt „eine neue, [...] mehr als die bisherigen [befr]iedigende De-
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23 24
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external impediments, which impediments may oft take away part of a man’s power to do what he would, but cannot hinder him from using the power left him, according as his judgement and reason shall dictate to him.“ (Ebd.) Abgrenzend hierzu definiert Hobbes: „A LAW OF NATURE (lex naturalis) is a precept or general rule, found out by reason, by which a man is forbidden to do that which is destructive of his life or taketh away the means of preserving the same, and to omit that by which he thinketh it may be best preserved. For though they that speak of this subject use to confound jus and lex (right and law), yet they ought to be distinguished, because RIGHT consisteth in liberty to do or to forbear, whereas LAW determineth and bindeth to one of them; so that law and right differ as much as obligation and liberty, which in one and the same matter are inconsistent.“ (Ebd., S. 79f.). Ideengeschichtlich geht sie zurück auf die antike Meinung, aus der kosmischen Natur- und Weltordnung (lex) sei teils als Richtschnur, teils als Berechtigungsrahmen ein naturhaft-ursprünglichstes Dürfen (ius) menschlichen Handelns herzuleiten. Vgl. dazu Ilting 2004. Man vergleiche etwa Hobbes 1994, S. 79 (I, 14) mit Grotius 1950, S. 50 (I,1,10). Hobbes 1994, S. 79 (I, 14). Wir zitieren Schellings ND unter Angabe der betreffenden Paragraphen durchweg nach der Textfassung der Historisch-Kritischen Ausgabe von Schellings Werken. Umsichtige Zusammenfassungen und Analysen des Gedankengangs der ND finden sich bei Osten 1969; Smid 1991; Smid 1989; Sandkühler 1968; Dierksmeier 2003. So Osten 1969, S. 16. Vgl. auch die diesbezüglichen Einschätzungen in Tilliette 2004. Verlagsort ist Neustrelitz.
duktion d. Naturrechts“25 enthalten sollen.26 Schelling gibt an, sie seien bei seinem „Unterricht im Naturrecht niedergeschrieben“ worden,27 wobei unklar bleibt, ob Schelling Hörer oder Dozent der entsprechenden Lehrveranstaltung gewesen war.28 Bei Schellings Gebrauch des Aphorismusbegriffs ist zu beachten, dass die damit bezeichnete Textgattung um 1800 noch nicht auf jene Bedeutung verengt war, die uns heute an ein isoliertes „Kürzestfragment“ denken lässt.29 Schelling arbeitet sukzessive einzelne Gedanken aus und stellt sie momenthaft, aber zu einer Deduktion sich summierend, nebeneinander, wobei er einzelne Motive freier variieren und von verschiedenen Seiten her beleuchten kann.30 Auch in der Druckfassung der ND bleibt er bei der Bezeichung „Aphorismen“31 und nutzt diese Textgattung später noch öfter: in den Aphorismen über die Naturphilosophie (1806/07) sowie in den zugehörigen Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie (1805). Zumindest im Blick auf Schellings Schriften von 1795 und 1796 (Ausführlicheres dazu gleich in Kapitel 3) liegt es nahe, in deren aphoristischem Stil eine Art formale Entsprechung zum philosophischen Schlüsselbegriff dieser Werke zu sehen: zum „absoluten Ich“: Lärmend bricht es hervor. [...] Denn das absolute Ich ist alles; an ihm wird das hen kai pan [...] sichtbar, es transzendiert die endlichen Ichs, die durch das Dazwischentreten der Gegenstände begrenzt und belastet wird, welche selbst wiederum den Zugang zum reinen unendlichen Leben versperren. [...] Mit den Objekten sind nicht der Tisch, das Tintenfaß und der Federhalter, sondern sind vielmehr alle Vorrichtungen und Zwänge gemeint, die dem unzähmbaren Schwung einer anarchischen Freiheit im Weg stehen. Gemeint sind die Gesellschaften, Staaten, Verfassungen, diese Sphären der Endlichkeit, die es zu überschreiten gilt, und vor allem die Religion, die lähmende Normen verhängt – sie alle sind die ‚wahren Schrecken der objektiven Welt‘32.
25 AA III,1, S. 50. 26 Deduktionscharakter hat Schellings Darlegung also auf ihre Weise: in der „strengen Folge präziser Aphorismen“; so Bloch 1961, S. 109. 27 Ebd. 28 Dass im Naturrechtsdiskurs Gefahren für die akademische Reputation und revolutionäres Potenzial liegen, war Schelling bewusst. In einem Brief an die Eltern vom 05.04.1796 spricht Schelling im Zuge eines Heidelberg-Aufenthaltes sein Interesse an einer Begegnung mit einem Kirchenrath Mieg an: „Ich war begierig, diesen Mann kennen zu lernen, weil er sich im Fach Naturrecht ausgezeichnet, u. deßhalb verfolgt worden war.“ (AA III,1, S. 56). Faktisch kann man auch Schellings Frühschrift „Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen“ (1795) dem aphoristischen Stil im oben genannten Sinn zurechnen. Tilliette nennt sie „ein[en] genial[en] rhapsodisch[en] Text, bei dem es trotz des hinzugefügten Inhaltsverzeichnisses Schwierigkeiten bereitet, eine Ordnung auszumachen. Die Absätze einander keuchend oder energisch, lösen einander ab, ohne die Denkbewegung zu unterbrechen.” (Tilliette 2004, S. 31). 29 Vgl. dazu Fricke 1992, Sp. 786f. 30 Vgl. dazu Mauch 2018, S. XLV. 31 Vgl. AA I,3, S. 175: „Gegenwärtige Aphorismen sollen nichts mehr, als Aphorismen seyn.“ 32 Tilliette 2004, S. 32.
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Rhetorisch gesehen ähnlich radikal freiheitsorientiert ist der Aphorismus. Er ist per definitionem (das griechische aphorízein meint im Kern ‚absondern‘) nämlich frei nicht nur von Bindungen an den situativen Kontext, sondern sogar frei von Bindungen an den unmittelbar benachbarten Conext [sic! W.S.]; der Aphorismus argumentiert also nicht, begründet nicht, überredet auch nicht zu bestimmten Überzeugungen und schon gar nicht appellativ zu praktischen Folgehandlungen. [...] Der Aphorismus ist also [...] extrem leseraktivierend.33
All dies passt sehr genau zum Philosophie- und Stilkonzept des jungen Schelling. Nun zurück zur ND! Nimmt man Schellings Abschnittsüberschriften als strukturierende Rubriken, so sieht die formale Binnengliederung der ND wohl wie folgt aus34: 1. Deduction der Rechtswissenschaft überhaupt, und ihres obersten Grundsatzes (§§ 1-75). 2. Analyse des obersten Grundsatzes, und Deduction der ursprünglichen Rechte (§§ 76-163); Übergang und Vorbemerkung (§§ 76 f.). A: Klärung der Materie und der Form des rechtlichen Dürfens (§§ 78-95); B) aa) Recht, im Gegensatz gegen allgemeinen Willen (§§ 96-109); bb) Recht, im Gegensatz gegen individuellen Willen (§§ 110-128); cc) Recht im Gegensatz gegen Willen überhaupt (§§ 129-140). C) §§ 141-163. Schon diese Übersicht lässt die Hauptanliegen der ND erkennen: Erwiesen bzw. geklärt werden sollen (1) die Eigenständigkeit der Rechtswissenschaft (vor allem gegenüber der Moral- und Sittenlehre), (2) die Existenz naturhaft-ursprünglicher Rechte, (3) das Wesen des Rechts als Dürfen; ferner sollen (4) mögliche Kollisionsszenarien des Rechts mit den Willenssphären durchgespielt werden. Vor diesem Hintergrund erscheint Schellings ND als Diskussionsbeitrag zu mindestens vier Diskursen: (1) zur Debatte über die Unterscheidbarkeit von ‚Recht‘ im strengen Sinn von ‚Rechtsethik‘ oder, allgemeiner, ‚Sittlichkeit‘; (2) zur Begründung naturhaft-ursprünglicher Rechte (natürliche ‚Menschenrechte‘ – unabhängig von Bürgerrechten und anderen staatlich definierten Rechtspositionen); (3) zur Konturierung des Rechtsbegriffs und seines Wesenskerns; und schließlich (4) zur durch Rousseaus Contrat Social verschärften Frage nach der Vermittelbarkeit von Einzel-
33 Fricke 1992, Sp. 774. 34 Vgl. Jacobs 1982, S. 118.
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willen und volonté générale, die Schelling indes um das Szenario einer Kollision von ‚Recht‘ und ‚Wille überhaupt‘ originell erweitert.
3. Der hierfür einschlägige Denkansatz ist vorbereitet in Schellings früher Schrift Vom Ich als Princip (1795).35 Offenbar auf der Folie von Fichtes Wissenschaftslehre von 179436 mit ihrer moraltheologischen Ausdeutung des Ich-Begriffs37 einerseits und Spinozas Substanztheorie und Theologie in der Ethica38 andererseits schreibt Schelling: Die höchste Idee, welche die Kausalität der absoluten Substanz (des Ichs) ausdrückt, ist die Idee von absoluter Macht. Denn das Ich bringt sich selbst hervor, sezt alle Realität in sich selbst, und zernichtet alles Entgegenstrebende durch absolute Selbstmacht.39
Schelling parallelisiert hier das absolute Ich mit Spinozas Substanzkonzept und zielt hier – tendenziell gegen Fichte – auf einen „umfassenden Ich-Monismus, der nicht nur das Wissen von der Welt, sondern die Welt als solche einbegreift“40. Für Schelling gilt: „Alles ist nur im Ich und für das Ich. Im Ich hat die Philosophie ihr Ἓν καὶ πᾶν gefunden, nach dem sie bisher als dem höchsten Preise gerungen hat.“41 Die Ansetzung der „Idee von absoluter Macht“ als „Höchstes“ steht für Schelling nur vordergründig im Widerspruch zu Kants Vorstellung von „Moralität und Glükseligkeit als dem höchsten Gut und dem lezten Endzweke“42 Schelling zufolge wusste Kant „selbst am besten, daß Moralität ohne höhern Endzwek selbst keine Realität habe, daß sie Einschränkung, Endlichkeit vorausseze“43. Jener „Endzwek“ gehe indes „auf Identifikation des Nicht-Ichs mit dem Ich, d.h. auf gänzliche Zernichtung
35 36 37 38
39 40 41 42 43
Vgl. AA I,2, S. 1-175. Hühn 1994. Bondeli 2014, S. 1385ff. Schelling zitiert in AA I,2, S. 122, Anm. K, Spinozas Ethica ordine geometrico demonstrata, L.I. Prop. XXXI-Prop. XXXIII, wie folgt: „Deus non agit ex ratione boni, sed ex natura suae perfectione. Quid illud statuunt, videntur aliquid extra Deum ponere, quod a Deo non dependet, ad quod Deus tanquam ad exemplar in operando attendat, vel ad quod tanquam ad certum scopum collimat, quod profecto nihil aliud est, quam Deum fato subjicere. – Prop. XXXIII. Dei potentia est ipsius essentia“. AA I,2, S. 122 (Vom Ich als Princip, §. XIV). Bondeli 2014, S. 1387. AA I,2, S. 119. Ebd., S. 123, Anmerkung. Ebd. Diese Unterordnung des „moralischen Gesezes“ unter das höhere Gesetz des Unbedingten ist auch ein Leitthema von Schellings ebenfalls 1795 erschienener Schrift Briefe über Dogmatismus und Kriticismus; vgl. dazu Bondeli 2014, S. 1388f.
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desselben, als Nicht-Ichs, durch absolute Selbstmacht“44. Das „absolute Ich nemlich fordert schlechthin, daß das endliche Ich ihm gleich werde“45. Das bedeutet, dass wir also in’s Unendliche fort streben müssen, nicht glükselig zu werden, sondern der Glükseligkeit gar nimmer zu bedürfen, ja ihrer ganz unfähig zu werden, und unser Wesen selbst zu einer Form zu erheben, die der Form der Glückseligkeit sowohl, als der ihr entgegengesetzten Form geradezu widerspricht.46
Anders formuliert, hat das „moralische Gesez“ im Sinne Kants letztlich nur eine Schematismusfunktion: es stellt als „Endzwek alles Strebens Unendlichkeit des Ichs und seine eigene Umwandlung in ein bloßes Naturgesez des Ichs“ auf.47 Genauer: Das moralische Gesez im endlichen Wesen ist [...] vorerst Schema des Naturgesezes, wodurch das Seyn des Unendlichen bestimmt ist; was durch dieses als Seyend vorgestellt wird, muß jenes als Gefordert vorstellen. Da nun das höchste Gesez, wodurch das Seyn des Unendlichen bestimmt ist, das Gesez seiner Identität ist [...], so muß das Moralgesez im endlichen Wesen diese Identität nicht als Seyend, sondern als Gefordert vorstellen, und das höchste Gesez für das endliche Wesen ist demnach dieses: Seye absolut-identisch mit dir selbst.48
Schelling spitzt diese Argumentationslinie zu einem spezifischen Gegensatz zwischen „moralischem Gesez“ und „Naturgesez“ (im metaphysischem, nicht physikalischem Sinn) zu: Was für das endliche, durch ein Nicht-Ich beschränkte, Ich, moralisches Gesez ist, ist für das unendliche Naturgesez, d.h. es ist zugleich mit und in seinem bloßen Seyn gegeben. [...] Das unendliche Ich also kennt gar kein Moralgesez, und ist seiner Kausalität nach bloß als absolute, sich selbst gleiche, Macht bestimmt.49
Hieraus ergibt sich ein Grundsatzproblem. Auf ein „moralisches Subject, d.h. auf ein durch Vielheit und Wandel bedingtes Ich“, ist das „Gesez seiner Identität“ mangels Kommensurabilität nicht ohne weiteres anwendbar; hier braucht es einen „neuen Schematismus“50: Dem moralischen Urgesez des endlichen Ichs: Seye identisch, widerstrebt nemlich das Naturgesez desselben Ichs, kraft dessen es nicht-identisch, d.h. Vielheit – nicht seyn soll, sondern – ist. Dieser Widerstreit zwischen dem Moral- und zwischen dem Naturgesez der Endlichkeit kann nur durch ein neues Schema, nemlich das des Hervorbringens in der Zeit vermittelt werden, so daß nun jenes Gesez, das auf eine Forderung des Seyns geht, zu einer Forderung des Werdens wird. Das moralische Urgesez in seiner ganzen 44 45 46 47 48
AA I,2, S. 124. Ebd., S. 125. Ebd. Ebd., S. 126. Ebd. Es scheint, Schelling habe diese Relativierung der Glückseligkeit schon 1798 wieder revidiert; vgl. den Brief an J. Ch. Pfister vom 07.06.1798 in: Schelling, AA III,1, S. 167. 49 AA I,2, S. 125f. 50 Ebd.
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Versinnlichung ausgedrükt, lautet daher so: werde identisch, erhebe (in der Zeit) die subjectiven Formen deines Wesens zu der Form des Absoluten.51
Schelling resümiert: Das lezte Ziel des endlichen Ichs ist also Erweiterung biß zur Identität mit dem Unendlichen. Im endlichen Ich ist Einheit des Bewußtseyns, d.h. Persönlichkeit. Das unendliche Ich kennt aber gar kein Object, also auch kein Bewußtseyn und keine Einheit des Bewußtseyns, Persönlichkeit. Mithin kann das lezte Ziel alles Strebens auch als Erweiterung der Persönlichkeit zur Unendlichkeit, d.h. als Zernichtung derselben vorgestellt werden. – Der lezte Endzwek des endlichen Ichs sowohl als des Nicht-Ichs, d.h. der Endzwek der Welt ist ihre Zernichtung, als einer Welt, d.h. als eines Inbegriffs von Endlichkeit (des endlichen Ichs und des Nicht-Ichs). Zu diesem Endzwek findet nur unendliche Annäherung statt – daher unendliche Fortdauer des Ichs, Unsterblichkeit.52
Der metaphysische Garant des schlüssigen „Aufgehens“ dieser steilen Argumentation ist ein spinozistisch inspiriertes Konzept „Gott“, das praktisch mit dem nicht-endlichen, „absoluten Ich“ ineins fällt: Gott in theoretischer Bedeutung ist Ich = Nicht-Ich, in praktischer absolutes Ich, das alles Nicht-Ich zernichtet. Insofern das unendliche Ich schematisch leztes Ziel des endlichen, also ausser demselben vorgestellt wird, kann Gott in der praktischen Philosophie zwar als ausser dem endlichen (schematisch), aber nur als identisch mit dem unendlichen vorgestellt werden.53
Der wesentliche Dissenspunkt von Schellings zu Kants Moralphilosophie liegt demnach im abweichenden Verständnis der Kausalität des „unendlichen Ich“. Anders als Kant denkt Schelling diese „schlechterdings nicht als Moralität, Weisheit u.s.w. sondern nur als absolute Macht, die die ganze Unendlichkeit erfüllt, und nichts Widerstrebendes, selbst nicht das als unendlich vorgestellte Nicht-Ich, in ihrer Sphäre duldet“54. Für Schelling gib es noch Höheres als das „Moralgesez“. Daher erhalte auch dieses seinen Sinn und seine Bedeutung „selbst in seiner ganzen Versinnlichung, nur in Bezug auf ein höheres Gesez des Seyns“; und dieses Höhere könne „im Gegensaz gegen das Gesez der Freiheit, Naturgesez heißen“55. Implikationen dieses Ich-Konzepts sind, analog zu Spinozas Substanzbegriff: die Einheit von Denken und Sein, von Denken und Ausdehnung, von Geist und Natur.
51 Ebd., S. 126f. Das absolute Ich erweist sich hier als Schlüsselbegriff; vgl. Tilliette 2004, S. 32f. 52 AA I,2, S. 128. 53 Ebd., S. 128f. Da wir nicht durch die theoretische Philosophie, sondern nur im Rahmen der praktischen Philosophie, d.h. hier: durch „Wiederherstellung des absoluten Ich“, in die „übersinnliche Welt kommen, was wollen wir dann in ihr anders, als nur das Ich, wieder finden? – also keinen Gott, als Object, überhaupt kein Nicht-Ich, keine empirische Glükseligkeit u.s.w blosses reines absolutes Ich!“ (Ebd., S. 130). 54 Ebd., S. 129. 55 Ebd.
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Diese Einheitsvorstellung bildet den Hintergrund für Schellings Neuverortung der moralisch-praktischen Seite des Ich: Das moralische, postulierende Ich wird nicht mehr, wie bei Fichte, als gleichursprünglich mit dem technisch-praktischen, setzenden Ich angenommen, sondern zu einer endlichen Bestimmung des absoluten Ich herabgesetzt und damit dessen unendlicher Selbstmacht untergeordnet. Das dem Bereich des Endlichen angehörende „Moralgesetz“ – Kants kategorischer Imperativ – hängt von einem „unendlichen Naturgesetz“ ab56.
Dieses formuliert Schelling als den oben bereits zitierten Imperativ: „ Seye absolutidentisch mit dir selbst.“57 Ein Echo dieser Ich-Konzeption findet sich in dem als Ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus bekannten Fragment, das wohl zwischen Weihnachten 1796 und Februar entstanden und in Hegels Handschrift erhalten ist.58 Die genaue geistige Urheberschaft ist strittig, vieles Inhaltliche (gerade im Blick auf die Anfangsabschnitte) spricht für Schelling.59 Das Fragment beginnt mit der kantisch inspirierten These, die ganze Metaphysik falle zukünftig in die Moral, verstanden als „vollständiges System aller Ideen, oder [...] praktischen Postulate“.60 Die grundlegend erste Idee dieses Systems sei „die Vorstellung von mir selbst,“ als einem absolut „freyen, selbstbewußten Wesen“. Gedacht ist offenbar an ein fichtianisch sich selbst setzendes Ich, mit dem zugleich „eine ganze Welt – aus dem Nichts“ hervortritt. Diesem freien Ich wird zunächst „die Physik“ gegenübergestellt, dann wird sein Bezug zum „Menschenwerk“ bestimmt. Dieses wird, orientiert an der „Idee der Menschheit“, auf Gegenstände der Freiheit eingeschränkt – aus denen der „Staat“ herausfällt: Es gibt keine Idee vom Staat [...], weil der Staat etwas mechanisches ist, so wenig als es eine Idee von einer Maschine gibt. Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heist Idee. Wir
56 57 58 59
Bondeli 2014, S. 1387. AA I,2, S. 126. Ottmann 2008. Vgl. ebd. In dem bereits zitierten Brief an Hegel nennt Schelling denn auch die entscheidenden Stichworte: „Vom Unbedingten muß die Philosophie ausgehen. [...] Mir ist das höchste Princip aller Philosophie das reine, absolute Ich, d.h. das Ich, in wiefern es bloßes Ich, noch gar nicht durch Objekte bedingt, sondern durch Freiheit gesezt ist. Das A und O aller Philosophie ist Freiheit. - [...] Wir sollen [...] aus der endlichen Shäre heraus in die unendliche kommen – praktische Philosophie. Diese fordert also Zerstörung der Endlichkeit, und führt uns dadurch in die übersinnliche Welt. Allein in dieser finden wir nichts als unser absolutes Ich, denn nur dieses hat die unendliche Sphäre beschrieben. Es giebt keine übersinn[lich]e Welt für uns, als die des absoluten Ichs. – Gott ist nichts als das absolute Ich, das Ich, in sofern es alles theoretische zernichtet hat, in der theoretischen Philo[sophie] also = 0 ist. [...] und unser höchstes Bestreben ist die Zerstörung unserer Persönlichkeit, Übergang in die absolute Sphäre des Seyns, der aber in Ewigkeit nicht möglich ist – daher nur praktische Annäherung zum Absoluten, und daher – Unsterblichkeit.“ (AA III,1, S. 22f.). 60 AA II,6,2, S. 483.
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müßen also auch über den Staat hinaus! – Denn jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören.61
Schelling räumt ein, dass die Ich-theoretischen Darlegungen – er spricht von „Deductionen“62 – in Vom Ich als Princip weder Anhänger des „Kantischen Buchstaben[s]“ noch gar diejenigen zufriedenstellen wird, „die das Ziel unseres moralischen Strebens so nah und so tief als nur immer möglich zu steken bemüht sind“63. Die ND lässt sich als Versuch lesen, das so identifizierte übermoralische Naturgesetz im Sinne einer „neuen“ Naturrechtstheorie im Grundriss darzustellen. Wenn gilt, „das Recht soll sich in Besiz der Wirklichkeit sezen“,64 ist für Schellings Rechtsverständnis offenbar ein bestimmtes normatives Weltaneignungsprogramm des Ich die Leitidee. Entsprechend unterscheidet sich der Ausgangspunkt von Schellings Naturrechtsdeduktion auch vom Gegenstand der Moral und Ethik im kantischen Sinn. Nicht ein „vom allgemeinen Willen ausgehendes, den individuellen Willen einschränkendes Gebot“ gibt dem Recht den Rahmen vor; vielmehr betrifft das Recht die „erlaubte, unter der Form des ‚Dürfens‘ stehende Selbstverwirklichung des individuellen Willens“65, die einem eigenen Imperativ folgt: „Sei! Im höchsten Sinne des Worts [...] strebe, ein Wesen an sich zu werden!“66 Kommen wir nun also zur näheren Betrachtung von Schellings ND.
4. Offenkundig hat die ND ein doppeltes Grundthema und ein dreifaches Grundziel. Passend zu Schellings Sicht, das „ganze Geschäft der theoretischen und praktischen Philosophie“ sei „nichts als Lösung des Widerstreits zwischen dem reinen und empirisch-bedingten Ich“67, ist das doppelte Grundthema der ND die Selbstbestimmung und Herrschaft des absoluten menschlichen Ich in der „Welt der Erscheinungen“. Dabei meint ‚Selbstbestimmung‘ hier nicht nur ‚ursprüngliche Autonomie‘ sic et simpliciter schlechthin. Eher noch meint sie eine das freie Selbst in ‚freyer That‘ verwirklichende ‚Causalität der Freiheit‘ im Blick auf Objekte. Es geht entscheidend um eine „physische Causalität“, die „doch ihrem Princip nach autonomisch, d.h. durch kein Naturgesetz erreichbar“ ist.68 Schelling nennt diese „Causalität“, welche Autonomie und Heteronomie in sich vereinigt, „Leben“ – als „Autonomie in der 61 62 63 64 65 66 67 68
Ebd. AA I,3, S. 126. Ebd. Vgl. Schellings Brief an J.Ch. Pfister vom 07.06.1798 in: AA III,1, S. 167. Bondeli 2014, S. 1388. AA I,3, S. 139. Vgl. dazu AA I,1, S. 176 und Osten 1969, S. 6. AA I,3, S. 141 (ND § 8).
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Erscheinung“ und „Schema der Freiheit, insofern sie in der Natur sich offenbart“.69 Vor diesem Hintergrund denkt Schelling die Herrschaft des Ich in der Welt der Erscheinungen weniger als experimentell-kopernikanisch gewendete Erkenntnissubjektivität (wie in Kants Kritik der reinen Vernunft), sondern präzis als ein „die Natur nach moralischen Gesetzen regieren“,70 das stark die Kausalität des Ich betont. Das dreifache Grundziel der ND ist ebenfalls schnell skizziert: Die geschilderte Selbstbestimmung und Herrschaft des absoluten menschlichen Ich in der „Welt der Erscheinungen“ soll (1) als Naturordnung begrifflich hergeleitet, (2) in ihrer Geltung begründet und (3) auf ihre Grundaporie hin durchsichtig gemacht werden. Letztlich geht es darum, ‚NaturRecht‘ (so die prägnante Schreibweise in einem Teil des Erstdrucks der ND71) sowohl als wirkliche als auch als bloße Natur(rechts)ordnung zu erweisen. Und dies durchaus im Sinne einer kritischen Rechtsphilosophie, nicht mehr im Horizont der alten materialethischen Naturrechtslehre. Ihr Herleitungsziel verfolgt die ND am Leitfaden einer Theorie unveränderlichen Selbstseins. Diese geht von einem existentiellen Imperativ der Freiheit aus, der Selbstsein als Selbstwerdung und insofern Freisein für das menschliche Ich verbindlich macht. Verwirklicht wird diese Forderung dadurch, dass „das absolute Seyn, das in jedem Dasein sich offenbart, als identisch mit mir selbst, mit dem Letzten, Unveränderlichen in mir“ gedacht wird,72 dergestalt, dass meine selbstbestimmte Subjektivität gegen jedes Umschlagen in fremdbestimmtes Objektsein grundsätzlich gesichert werden kann. Entscheidend hierfür ist, dass das Ich aufhört, selbst Erscheinung (und also fremdbestimmbar) zu sein und konsequent danach strebt, ein Wesen an sich zu werden, das nur von sich selbst abhängig und durch kein fremdes Gesetz bestimmbar ist. Konkret muss das Ich eine scharfe kategoriale Unterscheidung treffen und wahren zwischen sich als dem absoluten, unveränderlichen Subjekt und dem, was Objekt werden kann. Ist dies erreicht, so „kündige ich mich an, als ein Wesen, das alles widerstrebende bestimmt, selbst aber durch nichts bestimmbar ist“.73 Meine Freiheit weist jedes Object in die Schranken der Erscheinung zurück, und schreibt ihm eben damit Gesetze vor, über die es nicht treten darf. [...] [A]lles, was nicht dieses Selbst ist – alles was Object werden kann – ist heteronomisch, ist Erscheinung für mich. Die ganze Welt ist mein moralisches Eigenthum.74
69 Ebd. (ND § 9). 70 Ebd., S. 140. Vgl. auch ND § 7: „Ich herrsche über die Welt der Objecte; auch in ihr offenbart sich keine andre, als meine Causalität. Ich kündige mich an, als Herrn der Natur, und fodere, daß sie durch das Gesetz meines Willens schlechthin bestimmt sei“ (Ebd.). 71 Vgl. erläuternd zum redaktionell-verlagstechnischen Hintergrund dieser Schreibweise Jacobs 1982, S. 117. 72 AA I,3, S. 139 (ND § 2). 73 AA I,3, S. 140 (ND § 6). 74 Ebd. (ND § 7).
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Und dies gilt für Schelling als natürliches ‚Grundrecht‘ jedes menschlichen Individuums, gleichsam als Grundrecht auf Natur. Die Geltungsbegründung dieser Position versucht die ND anhand der These einer für alle moralischen Wesen unbedingt geltenden Forderung individueller Freiheitswahrung: Ich kann nicht aufhören meine Freiheit zu behaupten, so lange die Forderung: Strebe nach Unbedingt- heit! noch nicht erfüllt ist. [...] Also ist die Individualität meines Willens selbst durch jene höchste Foderung der praktischen Vernunft sanctionirt. [...] Jedes moralische Wesen – soll nicht, aber muß – Individuum bleiben, so lange es noch jene Foderung erfüllen soll.75
Dieses für alle moralischen Wesen unbedingt geltende „nicht sollen, aber müssen“ deutet Schelling als Forderung, die in ethischen Kategorien nicht darstellbar ist. Denn Ethik macht das „allgemeine Wollen aller moralischen Wesen“ als Regulativ und Korrektiv des „empirische[n] Wollen[s] jedes einzelnen Individuums“ geltend.76 Für Schelling sind also Ethik und Moral zwar aufeinander bezogen. Sie treten aber auch spezifisch auseinander: Die Moral überhaupt stellt ein Gebot auf, das sich nur ans Individuum wendet, und nichts als die absolute Sicherheit des Individuums fodert: die Ethik, ein Gebot, das ein Reich moralischer Wesen voraussetzt, und die Selbstheit aller Individuen durch die Forderung, die sie ans Individuum macht, sichert.77
Folglich enthält das Gebot der Ethik nicht den Ausdruck des individuellen, sondern den Ausdruck des allgemeinen Willens. Dies jedoch gerade so, dass die Bedingtheit und Abhängigkeit des ethischen Gebots von dem „höhern Gebot der Moral“,78 vom Imperativ „Sei!“79 deutlich wird. Genauerhin stellt die Ethik nur deßwegen den allgemeinen Willen als Gesetz auf, um durch den allgemeinen Willen den individuellen zu sichern. Nicht weil ich mich dem allgemeinen Willen unterwerfe, mache ich Anspruch auf Individualität, sondern, weil und insofern ich Anspruch auf Individualität mache, unterwerfe ich mich dem allgemeinen Willen. Der allgemeine Wille ist bedingt durch den individuellen, nicht der individuelle durch den allgemeinen.80
Wenn dabei gilt, dass der allgemeine Willen durch die „Form des individuellen Willens (Freiheit) überhaupt“ bestimmt wird, so dass „von aller Materie des Wollens“ abgesehen wird, dann gilt auch: „die Materie des allgemeinen Willens [ist] bestimmt durch die Form des individuellen Willens, nicht umgekehrt“.81 Für Schelling heißt 75 76 77 78 79 80 81
Ebd., S. 143f. (ND § 23f.). Ebd., S. 145 (ND § 30). Ebd. (ND § 31). Ebd., S. 145 (ND § 33). Ebd., S. 139 (ND § 2). Ebd., S. 145 (ND § 33). Ebd., S. 145f. (ND § 34).
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dies: Form des allgemeinen Willens ist „Freiheit überhaupt“, deren Materie hingegen ist die „Moralität“.82 Demnach wäre laut ND § 35 „die Freiheit nicht abhängig von der Moralität, sondern die Moralität von der Freiheit. Nicht weil und insofern ich moralisch bin, bin ich frei, sondern weil und insofern ich frei sein will, soll ich moralisch sein.“83
5. Auf dieser Grundlage entwickelt Schellings ND zunächst ihren Rechtsbegriff: Das, was theoretisch-möglich ist, kann ich; was praktisch-möglich ist, darf ich. Was ich darf, heißt nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch recht überhaupt, und die praktische Möglichkeit selbst, wodurch etwas recht wird, heißt das Recht überhaupt. Recht nämlich ist das, was zwar nicht nothwendig praktisch-wirklich ist, aber eben deßwegen auch nicht unter der bestimmten Bedingung eines Gebotes steht.84
In Fortführung dieser Grundlinien wird dann die Eigenart der Rechtswissenschaft bestimmt: Die oben problematisch-angenommene Wissenschaft also, welche mich lehrt, die Individualität des Willens zu behaupten, könnte allein die Wissenschaft des Rechts überhaupt sein, und der oberste Grundsatz aller Rechtsphilosophie wäre dieser: Ich habe ein Recht zu allem, wodurch ich die Individualität meines Willens der Form nach behaupte, oder: Ich habe ein Recht zu allem, was der Form des Willens überhaupt gemäß ist, (ohne welches der Wille aufhören müßte, Wille zu sein).85
Und weiter: Die Wissenschaft des Rechts, (welche lange von der Moral gar nicht getrennt, und bis jetzt noch in Rücksicht auf das Verhältniß zu dieser Wissenschaft völlig unbestimmt war) behauptet sich demnach einzig und allein im Gegensatz gegen die Wissenschaft der Pflicht.86
Bemerkenswerter noch als diese Zuordnung von Moral und Freiheit, die im Namen der Abgrenzung von Rechtswissenschaft und Pflichtwissenschaft erfolgt, ist das Schlusstheorem von Schellings ND. Deren Schlussbefund lautet: „NaturRecht“ (als das von der Vernunft sanktionierte moralisch-praktische Vermögen individuellen Seins) führt „in seiner Consequenz, (insofern es zum ZwangsRecht wird)“, notwendig zu seiner Selbstzerstörung, „d.h. es hebt alles Recht auf“.87 Denn „das Letzte, 82 83 84 85 86 87
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Ebd. Ebd., S. 146. Ebd., S. 152 (ND § 65). Ebd., S. 153 (ND § 68). Ebd. (ND § 69). Ebd., S. 174 (ND § 162).
dem es die Erhaltung des Rechts anvertraut, ist physische Uebermacht“88. Insofern führt „das NaturRecht nothwendig auf ein neues Problem: die physische Macht des Individuums mit der moralischen des Rechts identisch zu machen, oder auf das Problem eines Zustandes, in dem auf der Seite des Rechts immer auch die physische Gewalt ist.“89
Dieses Problem lösen zu wollen, führt aber „in das Gebiet einer neuen Wissenschaft“ – und bringt Naturrechtstheorie als Ursprungstheorie des subjektiven Rechts an ihre Grenzen. Von ihrem Ende her gelesen, führt die ND eine seinerzeit unerhörte, in ihrer beispiellosen Radikalität wirklich „neue“90 philosophische Sicht auf Naturrecht vor. Sie erweist dieses als innerlich autodestruktive ‚Naturordnung‘ diesseits des hobbesschen belllum omnium contra omnes. Ohne Abstriche nimmt Schelling den Gedanken ernst, dass ‚Naturrecht‘ per definitionem als subjektives ‚Recht‘ zu fassen sei, das vor und jenseits aller von Menschen gesetzten Normen mit naturhaft-ursprünglich gegebenen Ordnungen steht – und, als natürliches Zwangsrecht, auch fällt!91 Der Nachsatz „und fällt“ ist (ohne dass er ein Schelling-Zitat wäre) ein schellingscher Kontrapunkt zu den optimistischeren Grund- und Leittönen klassisch-neuzeitlicher Naturrechtslehre. Deren Hauptthema sind nämlich gerade die mehr als bloß willkürlichen, schlechthin ursprünglichen, mit „konventionellen“ theoretischen Waffen unzerstörbaren Quellen und Prinzipien gerechter Rechts- und Gesellschaftsverhältnisse. Klassisch-neuzeitliches Naturrecht erörtert Profil und Logik, nicht aber mögliche Fermente vorpositiver Rechtsgrundsätze92. Entsprechend bleiben inhaltliche Veränderungs- und begriffliche Selbstauflösungsszenarien des Naturrechts in der Regel außen vor. Selbst die Missdeutbarkeit naturrechtlicher Positionen als naturalistische Fehlschlüsse wird, einmal als Gefahr erkannt, nachhaltig gebannt: durch Konturierung des Naturrechts als ‚Vernunftrecht‘ im emphatischen Sinn93. 88 Ebd. 89 Ebd. 90 Einerseits ist Schelling nicht der einzige, der rechtsaufhebendes Naturrecht lehrt. Bei Fichte findet sich 1796 in der Naturrechtslehre Ähnliches. Jedoch hat Schelling wohl als erster diesen Gedanken in voller Radikalität philosophisch entfaltet und ist insofern der philosophische Pionier dieser Naturrechtsauffassung. 91 Zu Schellings doppeltem Begriff des Naturrechts als (1) ‚NaturRecht im engern Sinn‘ (ND, Teil II) und (2) ‚Zwangsrecht‘ (ND, Teil III) vgl. Osten 1969, S. 16ff. 92 Vgl. exemplarisch dazu Grotius 1950, S. 51: „Das Naturrecht ist so unveränderlich, daß selbst Gott es nicht verändern kann“ (De iure belli et pacis, I,1,10,5: Est autem jus naturale adeo immutabile, ut ne a Deo quidem mutari queat). 93 Vgl. dazu ebd., S. 50 (I,1,10,1): „Das natürliche Recht ist ein Gebot der Vernunft, welches anzeigt, daß einer Handlung wegen ihrer Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit der vernünftigen Natur selbst eine moralische Häßlichkeit oder eine moralische Notwendigkeit innewohnt, weshalb Gott als der Schöpfer der Natur eine solche Handlung entweder geboten oder verboten hat“ (Jus naturale est dictatum rectae rationis, indicans actui alici, ex ejus convenientia aut disconvenientia cum ipsa natura rationali, intesse moralem turpitudinem, aut necessitatem moralem, ac consequenter ab autore naturae Deo talem actum aut vetari, aut praecipi).
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Solche Ausgrenzung von Selbstauflösungsszenarien des Naturrechts im Rahmen klassischer Naturrechtstheorie ist weder Zufall noch Versäumnis. Vielmehr folgt sie stringent aus der vielleicht nächstliegenden Interpretation der Idee eines naturhaftursprünglich gegebenen Rechts selbst. Diese steht doch offenbar inbegrifflich für die These, dass apriorisch-ursprüngliche Rechtsgrundsätze (re-)konstruierbar sind, die vielleicht zuzeiten unentdeckt, unvollkommen erkannt oder auch in praxi missachtet, aber nicht wirklich durch sich selbst oder äußere Umstände „vernichtet“ werden können. Allgemein jedenfalls verbindet man mit Apriorisch-Ursprünglichen vor allem Dauerhaftigkeit, ja „Unzerstörbarkeit“ par excellence, nicht aber äußere Manipulierbarkeit oder gar innere Selbstwidersprüchlichkeit (mit dem Endeffekt der Selbstaufhebung des ganzen Gegenstands). Entsprechend affirmativ-konstruktiv stellt sich die typische Perspektive klassischer Naturrechtstheorie dar. Fünf Themenkreise stehen immer wieder im Blickpunkt: erstens die Option grundsätzlicher Hinterfragbarkeit von „Menschensatzungen“ im Blick auf vorpositive Gerechtigkeitsmaßstäbe, denen der Anschein naturhaft-ursprünglicher Gegebenheit auch naturhaftursprüngliche Autorität verleiht; zweitens die These eines natürlich-ursprünglichen Gerechtigkeitsbewusstseins des Menschen, das als moralische Instanz zur Unterscheidung richtigen (gerechten) und unrichtigen (ungerechten) positiven Rechts in Frage kommt; drittens die Idee eines aus naturgegebenen Ordnungen oder grundlegenden Vernunftbegriffen abzuleitenden rectum et iustum menschlichen Verhaltens sowie menschlicher Institutionen; viertens die rechtsvergleichende Frage nach einem gemeinsamen (Grund-)Bestand im Recht der Völker (ius gentium), der dann ‚Naturrecht‘ (ius naturale) zu heißen verdiente; sowie schließlich fünftens die legitime Inanspruchnahme einer Verhaltensmöglichkeit, die einem das rechtliche Dürfen als Option (subjektives Recht) einräumt.
6. Einzig die Diskussion um zwei Theoreme: das ‚Notrecht‘ und den ‚Naturzustand‘ der menschlichen Gesellschaft, scheint ins Vorfeld der Frage vorgedrungen zu sein, ob und wann Naturrecht als Naturordnung sich auch selbst aufheben könne. Das Notrecht (ius necessitatis) steht gemeinhin als Paradebeispiel für potenziert ‘problematisches‘, mit sich selbst in Widerspruch geratendes94 Naturrecht. Gemeint ist, 94 Vgl. dazu Kants Diskussion des Notrechts als ‚zweideutiges Rechts‘ (ius aequivocum) in den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre: „Dieses vermeinte Recht soll Befugnis sein, im Fall der Gefahr des Verlustes meines eigenen Lebens, einem Anderen, der mir nichts zuleide tat, das Leben zu nehmen. Es fällt in die Augen, dass hierin ein Widerspruch der Rechtslehre mit sich selber enthalten sein müsse – denn es ist hier nicht von einem ungerechten Angreifer auf mein Leben, dem ich durch Beraubung des seinen zuvorkomme (ius inculpatae tutelae), die Rede, wo die Anempfehlung der Mäßigung (moderamen) nicht einmal zum Recht, sondern
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dass in existenzbedrohenden Notsituationen moralisches Recht seine Eindeutigkeit einbüßen kann. Klassischer Topos seit Pufendorfs ‚Ius naturae‘ (Buch II, Kap. 6) ist der Kampf zweier im Meer treibender Schiffbrüchiger um die eine rettende Schiffsplanke (das „Brett des Karneades“). Hier stehen zwei gleiche moralische Ansprüche auf Überlebenschancen einander so gegenüber, dass ihre Kollision moralisch nicht bruchlos zu überwinden ist. Für beide Schiffbrüchige gilt in gleicher Weise: Eine Selbstrettung, die ohne Preisgabe des Lebens des Konkurrenten nicht zu betreiben ist und daher moralisch fragwürdig erscheint, kann ausnahmsweise als moralisch akzeptabel vertreten werden. Denn wenn – wovon man in der Regel ausgehen darf – sich niemand gerne selbst opfern möchte und für beide Überlebenswilligen eine Selbstrettung ohne rücksichtslose Eroberung der Schiffsplanke unmöglich ist: dann übt der Rücksichtlose nur deshalb eine unmoralische Handlung aus, „weil die ihr entgegengesetzte Handlung gleichfalls unmoralisch sein würde, eine derselben aber doch ausgeübt werden muß.“95 Eine dritte, moralisch problemfreie Lösungsoption ist in dem skizzierten Fall offenbar nicht gegeben. Dass im Zweifel beide Schiffbrüchige auf die Planke verzichten und ertrinken müssen, wäre eine ebenso absurde wie ihrerseits unmoralische, zwei Leben kostende Forderung. Indes: Der dargestellte Notrechtscasus ist und bleibt ein – wenn auch hochproblematischer – Naturrechtscasus. Er illustriert einen Grenzfall innerhalb, nicht außerhalb des naturrechtlichen Ambitus. Selbst der gestrenge Kant schließt ihn nur aus der „eigentlichen“, auf festen meta- physisch-systematischen Grundsätzen beruhenden Rechtslehre aus, nicht aber aus der vernunftrechtstheoretischen Betrachtung überhaupt96. Die Notrechtssituation zeigt an, dass und wann zwei gleichwertige moralische Rechtspositionen einander so gegenüber stehen können, dass zwei exakt gleich starke moralische Nötigungen aufeinander treffen und so sich gegenseitig neutralisieren. Per se aber sagt das Beispiel des Notrechts (noch) nichts darüber, ob oder wann ‚Naturrecht‘ überhaupt ‚als Recht‘ sich selbst aufhebt. Verdeutlicht wird nur, dass, wann und worin ‚hochproblematisches Naturrecht‘ bestehen kann. Was nunmehr das Naturzustandstheorem angeht, so (re-)konstruiert dieses in der neuzeitlichen Staats- und Politiktheorie das Hauptlegitimationsargument für souveräne Staatsmacht als Garantin gesellschaftlicher Friedensordnung. In seiner hobbesschen Fassung97 beschreibt es einen vorstaatlich-naturbelassenen Gesellschaftszustand, in dem das Recht aller auf alles den Rechtsgedanken absurd werden lässt, insgesamt zum Bedrohungszustand eines Krieges aller gegen alle führt und zur Herstellung der gesellschaftlichen Friedensordnung letztlich die gleiche Unterwerfung aller unter eine einheitliche, autoritär geführte Rechtsstaatlichkeit verlangt. nur zur Ethik gehört, sondern von einer erlaubten Gewalttätigkeit gegen den, der keine gegen mich ausübte.“ (KAA 8, S. 235; zitiert nach Kant 1900ff. (= KAA Band, Seite). 95 Maimon 1795, S. 151f. 96 Vgl. KAA 8, S. 233. 97 Vgl. Hobbes 1994, I, 13.
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Im Vergleich hierzu verschiebt sich bei Kant der Fokus des Naturzustandstheorems: und zwar vom etatistisch abgezweckten zum allein rechtsstaatstheoretischen Legitimationsprinzip.98 Kants Konzeption des Naturzustands entfaltet die These eines in statu naturali nur provisorisch, nicht peremptorisch geltenden, nicht sicher durchsetzbaren Rechts. Um Rechtssicherheit herzustellen und zu garantieren, bedarf es eines zwangsbefugten öffentlichen Rechts und der dazugehörigen öffentlichen Institutionen, also öffentlicher Gewalten in Rechtsstaatsform. Zumindest in seiner kantischen Form ist das Naturzustandstheorem ebensowenig ein Beispiel für die Selbstaufhebung des (Natur-)Rechts wie das eben diskutierte Notrecht. In seiner hobbesschen Gestalt jedoch enthält es Elemente einer Selbstwidersprüchlichkeit und potentiellen Selbstaufhebung von naturzuständlichen Rechtspositionen. Was aber für Hobbes und Kant vergleichbar gilt, ist das Nicht-Stehenbleiben beim Befund unbefriedigender Rechtsverhältnisse im Naturzustand. Bei beiden dient das Naturzustandstheorem „nur“ als Szenario, von dem her denkend der Imperativ „exeundum est e statu naturali!“ motiviert und die Rechtfertigung des souveränen (Rechts-)Staats hergeleitet wird.
7. Vor diesem Hintergrund erscheint es buchenswert, wenn, wie bei Schellings ND der Fall, ein Naturrechtstheorieentwurf ohne unmittelbar deutliche Notrechts- oder Naturzustandsbezüge nicht nur den Problemcharakter, sondern gar die ‚Selbstzerstörung‘ des ‚Naturrechts als Recht‘ vorführt. Ist dieses Ende schon in Schellings Deduktionsansatz angelegt? Es scheint so, wenn man ernst nimmt, wovon Schelling ausgeht: vom unbedingten Imperativ zur Realisierung des subjektiven Rechts des absoluten Ich. Wo eingangs soviel Unbedingtes rechtstheoretisch verbindlich gemacht wird, ist zu erwarten, dass gravierende Probleme auftreten, wenn das Rechtliche als begrifflich schlüssig austarierte Ordnung eigener wie fremder Freiheit und Pflicht dargelegt werden soll. Gleichwohl hat Schelling selbst offenbar nicht so sehr den Ansatz seiner ND als Anlass für die Schlussthese der ND empfunden. Entscheidend waren wohl eher die Entwicklung des Argumentationsgangs im Teil B (namentlich bei der Betrachtung des Rechts im Gegensatz gegen Willen überhaupt [§§ 129-163]) sowie eine Konsequenz des wörtlich verstandenen Begriffs ‚NaturRecht‘ (diese schellingsche Schreibweise betont geradezu den Kompositcharakter und die mögliche innere Bruchstelle des Naturrechtskonzepts). Denn Schellings ND zeigt nicht von Anfang an, sondern erst in ihrem letzten Teil: ein wörtlich verstandenes „NaturRecht“ auf
98 Vgl. KAA 8, S. 306ff.
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freie Kausalität des Individuums in der Natur hat bei konsequenter begrifflicher Fortbestimmung (‚Deduktion‘) zum „ZwangsRecht“ die Verdrängung, ja die Aufhebung allen Rechts durch ‚Natur‘ (in Form von Zwang und „physische[r] Uebermacht“)99 zur Folge. Schelling erweist die „Forderung der Vernunft, daß das Physische durch moralische Gesetze bestimmt, und jede NaturMacht mit der Moralität im Bunde sey“,100 im Verlauf seiner Naturrechtsdeduktion als ambivalent. Einerseits ist sie für Schelling Seins- und Erkenntnisgrund des Naturrechts, andererseits aber auch dessen Ferment. Fermentwirkung hat zumindest die zugespitzte Form obiger Forderung: das Postulat der Identität der physischen Macht des Individuums mit der moralischen des Rechts. Hier ist ein Problem beschrieben, das das ‚NaturRecht‘ als solches nicht bewältigen kann, sondern an dem es innerlich zerbricht: Natur und Recht treten auseinander. Lösbar ist das fragliche Problem, wie schon gesagt, nur jenseits des ‚NaturRechts‘ – in einer ‚neuen Wissenschaft‘ (ebd.), über deren näheres Profil Schelling sich ausschweigt. Der junge Schelling hat ausdrücklich den Neuheitscharakter und den wissenschaftlichen Befriedigungsanspruch seiner ND gegenüber seinem Verleger betont101. Das mag zum Teil der Autorenstolz eines genialischen Zweiundzwanzigjährigen sein. Indes reklamiert der Nicht-Rechtswissenschaftler Schelling damit auch einen gewissen Überblick und Bezug zum neuesten Stand der Naturrechtsdebatte um 1795/96. Zu Recht? Grundkenntnisse in Rechtsphilosophie, auch erste eigene Inhaltsskizzen einer Rechtslehre (vielleicht aber noch nicht so strukturiert wie die am Ende der Schrift Vom Ich102), kaum aber mehr mag aus der Tübinger Stiftszeit herrühren103. Die entscheidenden Anregungen für eine radikal innovative Sicht von Recht und Naturrecht dürfte Schelling aber in der kurzen Zeitspanne zwischen seinem Weggang vom Tübinger Stift und vor der Publikation der ND erfahren haben. Näheres ist bislang mangels einschlägiger Quellen ungewiss, so dass wir vorerst auf schlüssige Vermutungen angewiesen sind. Wichtig für Schellings Rezeption der zeitgenössischen Naturrechtsdebatte dürfte der erste Jahrgang (1795)104 von Niethammers Philosophischem Journal gewesen sein. Einen Gutteil der damals innovativsten und kritischsten Kurzbeiträge zur deutschen Naturrechtsdiskussion konnte man im ersten Jahrgang des Philosophischen Journals nachlesen. Schelling wird diese Zeitschrift aus mindestens drei Gründen 99 100 101 102 103
AA I,3, S. 174 (ND § 162). Ebd. (ND § 163). Vgl. dazu Jacobs 1982, S. 125. Vgl. dazu AA I,1, S. 233f. Vgl. zu Schellings rechtstheoretischer Belehrung in seiner Tübinger Zeit Jacobs 1982, S. 119ff. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch das Auftauchen des Naturrechtsmotivs in einer von Schellings „Controversen“ im Tübinger Stift, von der wir in einem Bericht vom 28.08.1794 erfahren. Vgl. dazu AA III,1, S. 7ff. 104 Das letzte Heft des Jahrgangs 1795 erscheint allerdings erst Anfang 1796.
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aufmerksam zur Kenntnis genommen haben. Einerseits war er mit Niethammer und Fichte bekannt; andererseits war die Zeitschrift insgesamt auf die Fortentwicklung der von Kant begründeten kritischen Philosophie ausgerichtet. Vor allem aber trat Schelling in diesem Journal 1795 selbst als Autor auf: vor seiner ND erschienen hier seine Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kritizismus105. Über mögliche Bezüge der in den ersten Monaten des Jahres 1796 entstandenen ND zu Ideen oder Lehrstücken aus der damals aktuellen Rechtstheoriedebatte ist in der Schelling-Forschung manches angedeutet worden106. Bislang fehlen aber ausführlichere Erörertungen hierzu. Im Folgenden soll – fokussiert auf die rechtstheoretische Diskussion im Philosophischen Journal vor Erscheinen der ND 1796/97 – ein erster Vorstoß zu einer gründlicheren Prüfung versucht werden. Dabei setzen wir auf Autopsie ausgewählter Aufsätze, verschaffen uns aber zuvor einen knappen Überblick anhand einer 1797 anonym erschienenen Besprechung der ersten vier Bände des Philosophischen Journals (dessen vierter Band 1796 auch den ersten Teil von Schellings ND enthält). Publikationsort der Rezension ist die Jenaer Allgemeine Literatur-Zeitung107, der Autor ist Friedrich Schlegel. Dieser befindet im Blick auf Trends der 1795 und Anfang 1796 in Niethammers Philosophischem Journal veröffentlichten Beiträge zur Naturrechtstheorie108: Sehr auffallend zeigt es sich auch in dieser Zeitschrift an einer Menge der ver schiedenartigsten Abhandlungen über Gegenstände der Rechtslehre [...] wie sehr gerade dieses Gebiet jetzt ein vorzüglicher Tummelplatz der philosophirenden Vernunft ist. Aus dem akademischen Bedürfniß oder dem herrschenden Ton eines revolutionären Zeitalters läßt sich das Phänomen schon darum nicht allein erklären, weil die Thätigkeit und die Uneinigkeit sich gerade in dem Wissenschaftlichsten und Allgemeinsten, der Deduction des Grundbegriffs und besonders der Gränzbestimmung der Wissenschaft am stärksten äußert. Es scheint also eine Indication zu seyn, daß hier mehrere Knoten des verschlungnen und verwickelten Gewebes der Philosophie zusammentreffen mögen. Aus der Vergleichung der verschiedenen Gränzbestimmungen des Naturrechts in dieser einzigen Sammlung erhellt wenigstens, daß die Selbstständigkeit und specifische Verschiedenheit dieser Wissenschaft noch keineswegs ausgemacht sey.109
105 Deren erster Teil, die Briefe 1-4 umfassend, erscheint im Philosophischen Journal, Jg. 1795, Zweiten Bandes drittes Heft, 177–203. Der zweite Teil mit den Briefen 5-9 erscheint im gleichen Jahr ebd., Dritten Bandes drittes Heft, 173–239. 106 So etwa bei Hollerbach 1958; Sandkühler 1968; Osten 1969, Jacobs 1982, und Hofmann 1999. 107 Vgl. Nr. 90-92 der Allgemeinen Literatur-Zeitung, Jena, 21.–22. März 1797, Sp. 713–720; Sp. 721-728; Sp. 729–733. 108 Vgl. dazu Jacobs 1982, S. 125. 109 Allgemeine Literatur-Zeitung, Nr. 90-92, Jena 21.-22. März 1797, Sp. 721f.; = Schlegel 1975; S. 8, S. 20f.
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Schlussendlich fasst der Rezensent zusammen: Die Resultate dieser Indicationen, worinn entweder alle, oder mehrere und vorzüglich scharfsinnige und sonst sehr verschiedene Schriftsteller über die Rechtslehre in diesem Journal übereinstimmen, sind in kurzem folgende: 1) der Rechtsgrundsatz ist unabhängig von der Moral; 2) er ist nicht bloß technisch nützlich, sondern praktisch und absolut nothwendig; 3) er ist nur die Bedingung und Beschränkung eines positiven Gesetzes; 4) die Möglichkeit des Rechtsgesetzes beruht auf dem Begriff einer Gemeinschaft freyer Wesen. Am bestimmtesten ist dieses gesagt in der Recension von Kant zum ewigen Frieden im I. Heft des II. Jahrg. S. 85.110
Schemenhaft deuten diese Einschätzungen an, in welchem rechtstheoretischen Kontext Schellings ND entsteht. Sie ersetzen nicht den eigenen gründlichen Blick auf die 1795 im Philosophischen Journal vertretenen rechtsphilosophischen Positionen. Wir beginnen eine eigene Durchsicht mit einem historischen „Review Article”, der oft für die zentrale rechtstheoretische Inspirationsquelle für Schellings ND gehalten wird. Gemeint ist der Versuch über den Begriff des Rechts, ein Frühwerk des bedeutenden Rechtswissenschaftlers Paul Johann Anselm Feuerbach.
8. Publiziert ist dieser Aufsatz in Niethammers Philosophischem Journal, Jg. 1795, Zweiten Bandes zweites Heft, 138-162111. Ein Jahr später erscheint er umgearbeitet und zu einem Buch erweitert unter dem Titel Kritik des natürlichen Rechts (1796). Feuerbachs Schreib- und Denkstil erweist ihn als Kantianer, zumal als intensiven Leser der Kritik der reinen Vernunft. Gleichwohl sucht der junge Jurist – von Kants kritischer Philosophie her denkend – in der Rechtsphilosophie einen eigenen Standort. Sein Versuch über den Begriff des Rechts zielt auf eine originelle elementare Klärung des Rechtsbegriffs. Feuerbachs Ausgangsfrage fokussiert „die inneren, wesentlichen und nothwendigen Merkmale, die den Begriff des Rechts ausmachen“112. Im kursorischen Durchgang durch die Grundlegungsteile der damals bedeutendsten Naturrechtslehrbücher (vor allem Hoffbauer113 und Hufeland114, aber auch Heydenreich115 und Schaumann116) diagnostiziert Feuerbach zwei alternative Grundansätze der damals zeitgenössischen Naturrechtstheorie sowie ein darauf bezogenes 110 111 112 113 114
Ebd., Sp. 723 = Schlegel 1975, S. 22. In: Niethammer 1795, S. 138-162. Ebd., S. 138. Hoffbauer 1793. Hufeland 1790. Darin heißt es: „Die Beschaffenheit einer Handlung, vermöge deren sie erlaubt und der Handelnde dazu befugt ist, heisst ein Recht (jus), und eine solche Handlung heisst recht oder rechtmäßig.“ (Ebd., S. 3, § 4). 115 Heydenreich 1794. 116 Schaumann 1792.
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Dilemma. Die beiden Grundansätze nennt er die „absolute“ und die „relative Deduction“. Diese deskriptive Unterscheidung ist als Ansetzung von Idealtypen zu verstehen (dass es auch Mischformen aus beiden gibt, räumt Feuerbach erst in seiner Kritik des natürlichen Rechts ein117). Die „absolute Deduction“ setzt „den Grund des Rechts“ allein „in das berechtigte Subject selbst“ und will nur von letzterem ausgehend herleiten, was „Recht“ ist118. Dagegen sieht die „relative Deduction“ zunächst vom „berechtigten Subject“ ab und will das „Recht“ von der Verpflichtetheit der anderen her begründen. Das „Recht bestünde, nach dieser Decuction, bloß darinn, daß der Andere nicht darf.“119 Oder präziser: Vermöge der relativen Deduction habe ich in so ferne ein Recht, als die Andern die Verbindlichkeit haben, mich an gewissen Handlungen nicht zu hindern, und ich, vermittelst eben derselben Verbindlichkeit, ein Recht erhalte die Vollziehung derselben selbst mit Zwang durchzusetzen.120
Beide Grundansätze sind nachhaltig problembehaftet. Die „absolute Deduction“, zumindest „nach der Art, wie diese bisher geführt worden ist“, scheitert, wenn sie begründen will, dass nur Pflichten der Gerechtigkeit, nicht aber Pflichten der Güte mit Zwang durchgesetzt werden dürfen.121 Denn sobald man den Grund des Rechts in das berechtigte Subject selbst setzt, und gleichwohl dem Naturrecht, indem man ihm äußere Rechte zum Gegenstand setzt, ein eigenthümliches von dem Gebiete der Moral abgesondertes Gebiet (wie es sein soll) anweisen will, so wird das Sittengesetz in Widersprüche mit sich selbst verwickelt, und, wenn man diesen Widersprüchen ausweichen will, die Moral mit dem Naturrecht verwirrt.122
Indessen krankt die „relative Deduction daran, dass in das berechtigte Subject [...] also nichts gesetzt“ wird; denn es versteht sich nicht von selbst, wie aus einem bloßen Nicht-Recht auf der einen Seite, ein wirkliches Recht auf der andern entspringen, und dadurch, daß etwas für den Andern unerlaubt ist, für mich das Gegentheil erlaubt werden könne. So lange dieser Beweis noch nicht geführt ist, so lange ist den Ausdrücken: Recht, Erlaubtsein, Dürfen u.s w. in diesem System noch keine Bedeutung bestimmt.123
Bleiben beide Problemgruppen ungelöst nebeneinander bestehen, dann gibt es nur einen dilemmatischen, also keinen wirklichen Ausweg aus dieser Lage. Das Dilemma baut sich auf wie folgt. Einerseits erscheint
117 118 119 120 121 122 123
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Vgl. dazu Feuerbach 1796, S. 207ff. Feuerbach 1795, S. 140. Ebd., S. 143. Ebd., S. 140f. Vgl. ebd. Ebd., S. 140. Ebd., S. 143.
bei dem jetzigen Zustande der natürlichen Rechtslehre, die Ableitung des Rechts aus der gegenüberstehenden Zwangsverbindlichkeit der einzige Ausweg, auf dem man einerseits die Würde des Naturrechts, als einer für sich bestehenden von der Moral abgesonderten Wissenschaft, andererseits aber die Vernunft vor Widersprüchen retten kann.124
Andererseits aber ist für Feuerbach klar, dass „sobald wir den Grund des Rechts in das dem berechtigten Subject gegenüberstehende bepflichtete Subject setzen, das Recht völlig aufgehoben wird“; ergo müssen wir „mithin doch auf einen in dem berechtigten Subject an sich gelegenen Grund des Rechts zurückkommen“125. Ab hier aber träte man dann in den oben skizzierten circulus vitiosus ein. Feuerbach meint nun, daß es noch ein Drittes geben müsse, durch dessen Auffindung jene Probleme beider Parteien beantwortet, die Vernunft in ihren Forderungen befriedigt, und Einigkeit auf dem Gebiete der Rechtslehre herbeigeführt werden könne. Dieses Dritte aber kann nichts anders sein, als ein von dem Pflichten gebenden Vermögen der Vernunft abgesondertes Rechte gebendes Vermögen, zu dessen Annahme jene in Rücksicht auf den Grund des Rechts vorkommenden Antinomien uns unwidersprechlich nöthigen, welches aber durch eine Ableitung aus höhern speculativen Principien erst begründet werden muß.126
Zur präzisen Bezeichnung dieses Vermögens fehlen Feuerbach offenbar noch die Begriffe. Er wählt eine Verlegenheitslösung und bezeichnet „jenes besondere Rechtegebende Vermögen, worein ich den Entstehungsgrund des Rechts setze, einstweilen mit dem Ausdruck: Vernunft“127. Dass es noch 1795 wesentlich konkretere Ansätze zu dem gesuchten „Dritten“ gab, etwa bei Karl Heinrich Heydenreich im Gedanken einer rechtsbegründenden bewussten Wechselseitigkeit von Erlaubnissen und Verpflichtungen128, hat Feuerbach in seinem Beitrag wohl noch nicht berücksichtigen können. Entsprechend umrisshaft bleibt sein Vorschlag. Er geht vom kantischen Gedanken aus, dass die Form der theoretischen (auf Natur bezogenen) wie der praktischen (auf Freiheit bezogenen) Vernunft „systematische Einheit“ ist. Die „Realisirung dieser Vernunftform“, die nur durch Freiheit möglich ist, muss sichergestellt werden. Dies gelingt der Form nach, wenn die Vernunft selbst in Verbund mit ihren Gesetzen eine Verbindlichkeits- und Unverletztlichkeitserklärung für die Bedingungen gibt, unter
124 125 126 127 128
Ebd., S. 140. Ebd., S. 142. Ebd., S. 158. Ebd., S. 159. Vgl. Heydenreich 1795, S. 29f.: „Jeder Mensch, können wir sagen, weiß, daß er verpflichtet ist, jedes ihm gleiche Wesen seinem eignen Willen zu überlassen, weiß, daß jedes andre dieselbe Verpflichtung trägt, weiß, daß jedes andre dies auch weiß, daß jedes sie weiß. Aus dieser Identität des Bewußtseyns, dieser Reciprocität des Wissens der Pflicht für äußere Freyheit seiner Mitwesen, entspringt das, was wir Recht nennen.“ Diese Sicht läuft auf die Aufhebung des Gegensatzes von „absoluter“ und „relativer Deduction“ hinaus.“
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denen diese Realisierung faktisch steht129. Diese „Sanction durch Vernunft um des Sittengesetzes willen“ ist für Feuerbach „der Grund des Rechts, das wodurch Rechte durch Vernunft existiren, das Medium, wodurch gewisse Handlungen positiv mit der Vernunft verknüpft und dadurch zu Rechten erhoben werden“130. Entsprechend kann er „Recht“ nun definieren als „ein durch Vernunft positiv bestimmtes Vermögen zu handeln“131. Präziser gefasst, liegt der Grund dieser positiven Bestimmung darin, daß die Rechte Bedingungen sind zu Erreichung des höchsten Zweckes. Und das Wesen der positiven Bestimmung besteht in der Sanction, d. h. daß die Vernunft etwas für unverletzlich erklärt und die Ausübung desselben, selbst wenn sie mit Zwang gegen vernünftige Wesen verbunden wäre, möglich macht. Das Recht wäre demnach, eine durch Vernunft sanctionirte Freiheit, als Bedingung zur Erreichung des höchsten Zwecks.132
Zusammengefasst lautet Feuerbachs Rechtskonzept demnach: Die Vernunft handelt durch das Recht, dergestalt, dass sie formale Voraussetzungen für vernunftgemäßes freies Handeln positiv als Handlungsmöglichkeiten fasst und durch deren grundlegende Bedeutung für die „Erreichung des höchsten Zwecks“ rechtfertigt. Geht man diese Feuerbachschen Thesen auf mögliche Anknüpfungspunkte für Schellings ND durch, so erscheint als erster Kandidat hierfür Feuerbachs Favorisierung der „absoluten Deduction“ des Rechts aus dem „berechtigten Subject“. Der Gedanke, dass „Recht“ im Grundsatz auf solche absolute Weise hergeleitet und begründet werden muss – ungeachtet der bisher fehlgeschlagenen Versuche, dies überzeugend zu leisten: dieser Gedanke klingt wie ein Präludium zu Schellings ND-Modell der Verankerung des absoluten Grunds des Rechts im absoluten Ich. Ferner ist deutlich, dass die These in ND § 23: die „Individualität meines Willens selbst“ sei „durch jene höchste Foderung der praktischen Vernunft sanctionirt“,133 klare Anleihen bei Feuerbachs rechtstheoretischem Sprachgebrauch macht. Mehr noch: Feuerbachs Sicht des Rechts als „eine durch Vernunft sanctionirte Freiheit, als Bedingung zur Erreichung des höchsten Zwecks“134, scheint die Essenz des schellingschen Ver129 130 131 132
Feuerbach 1795, S. 159. Ebd. Ebd., S. 161. Ebd. Inwiefern diese Position einen Fortschritt gegenüber dem von Feuerbach festgestellten Dilemma der bisherigen Naturrechtslehre darstellt, wird wie folgt erklärt: „Statt daß in den andern das Sittengesetz als Grund des Daseins der Rechte erklärt wird, wird hier das Recht von einem besondern Vermögen als deren Quelle abgeleitet. Statt daß nach den andern das Recht in eine bloße Negation gesetzt wurde, wird es hier in etwas reales, in ein durch Vernunft positiv bestimmtes Vermögen gesetzt. Während aus den andern Bestimmungen, die das Recht in ein bloßes Erlaubtsein setzen, die Vernunftmäßigkeit des Zwanges gegen vernünftige Wesen gar nicht gefolgert werden konnte, wird hier, in wieferne das Recht als eine durch Vernunft sanctionirte Freiheit gedacht wird, die Möglichkeit des Zwangs in dem Begriffe des Rechts selbst mit befaßt, und dadurch, daß Rechte als Bedingungen des Sittengesetzes erklärt werden, der Grund seines Daseins zugleich mit dem Grund der Rechte erkannt.“ (Ebd., S. 161f.). 133 AA I,3, S. 143. 134 Feuerbach 1795, S. 161.
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suchs zu nennen, mit rechtsphilosophischen Denkmitteln die praktische Realisierung des Unbedingten (als höchsten Zwecks) durch physische Kausalität theoretisch zu fassen.
9. Eine weitere Inspirationsquelle für Schellings ND könnte der von der Schelling-Forschung bislang kaum beachtete Beitrag Salomon Maimons Ueber die ersten Gründe des Naturrechts sein. Auch dieser Aufsatz erscheint 1795 in Niethammers Philosophischem Journal135. Maimon wendet sich kritisch gegen die „neuern Rechtslehrer“, die „das Natur recht als die Wissenschaft von den äußern Zwangsrechten“ erklären; diese Erklärung sei bloß „eine Nominal- und keine Realerklärung“, da sie den Widerspruch zwischen äußerem Zwang und Moralgesetz nicht aufheben kann und daher weder die Entstehungsart noch die Möglichkeit eines solchen Rechtes einsehbar macht136. Demgegenüber will Maimons Erklärung des Naturrechts „eine Realerklärung“ sein; sie möchte „die Entstehungsart des Naturrechts aus dem Moralgesetze entweder als Bedingung seines möglichen Gebrauchs, oder als indirecte Folge aus demselben“ darlegen.137 Konkret fasst Maimon das Naturrecht als „die Wissenschaft von dem, durch das Moralgesetz a priori bestimmten, nothwendigen und allgemeingültigen scheinbaren Ausnahmen von demselben“138. Als gemeinsames Grundelement von Moral und Naturrecht wird der „Willen eines vernünftig-sinnlichen Wesens“ bestimmt; beider Unterschied liegt jedoch darin, daß die Moral bloß das Vernünftige, allen vernünftigen Wesen gemeinschaftliche; das Naturrecht aber das sinnlich Individuelle dieses Willens betrachtet, das als Bedingung der möglichen Darstellung von jenem, demselben vorausgesetzt, und unter seine Gesetze subsumiert werden muß [...].139
Genauerhin bestimmt die Moral [...] die Pflichten der Menschen gegen einander, und ihre Rechte auf einander. Das Naturrecht fügt noch hinzu die Befugniß desjenigen, der dadurch, daß ein anderer
135 Maimon 1795. Einen Aufsatz gleichen Titels publiziert Maimon auch in der von Biester herausgegebenen Berlinischen Monatsschrift, April-Ausgabe, S. 310-341. 136 Maimon 1795, S. 143. Erläuternd heißt es ebd.: „Aeußerer Zwang, an sich betrachtet, ist dem Moralgesetz zuwider. Dieses gebietet Allgemeingültigkeit des Willens. Jenes hingegen giebt dem Zwingenden die Befugniß, seinen eigenen Willen, ungeachtet der Wille des zu Zwingenden demselben entgegen ist, in Ausübung zu bringen.“ 137 Ebd. 138 Ebd., S. 142. 139 Ebd., S. 147.
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ihm verpflichtet ist, ein Recht auf denselben hat, diesen zur Erfüllung seiner Pflicht zu zwingen.140
Auf dieser Grundlage teilt Maimon das Naturrecht der „Form der Modalität nach“ in drei Kategorien ein: Das Recht für das eine Subject, welches indirecte aus dem Moralgesetz, durch eine Pflicht für das andere Subject bestimmt wird, ist ein apodiktisches. Das Recht, das ohne eine solche Pflicht, bloß durch den wirklichen Willen des Subjectes, bestimmt wird, ist ein assertorisches. Dasjenige aber, das durch physische Stärke bestimmt werden muß, ist ein problematisches [...].141
Separat wird das Zwangsrecht untergliedert, „nach den verschiedenen Arten des Zwangs“; hiervon ist für unseren Zusammenhang nur Maimons Fassung des Notrechts interessant, da hieran beispielhaft das Wesen des „problematischen Rechts“ deutlich wird142. Für Maimon ist „Nothrecht ein Recht“, bei dem „die moralische Nöthigung sich selbst aufhebt“, weil es zwei aufeinander entgegengesetzte Handlungen moralisch möglich d. h. legal macht, zwischen beiden entgegengesetzten Handlungen zu wählen. Man übt also bloß aus dem Grunde eine unmoralische Handlung aus, weil die ihr entgegengesetzte Handlung gleichfalls unmoralisch sein würde, eine derselben aber doch ausgeübt werden muß.143
So definiert, verliert bei der Ausübung des Notrechts nicht nur die Moral ihr Recht. Mehr noch: Seine erfolgreiche Ausübung hängt allein von physischer Durchsetzungskraft ab144. Vor diesem Hintergrund lautet für Maimon die erste zusammenfassende Formel des Naturrechts wie folgt: Ein vernünftiges Wesen darf in gewissen Fällen, auch wider den Willen eines andern vernünftigen Wesens, seinen Willen in Ausübung bringen. Diese gewissen Fälle sind 1) 140 Ebd., S. 168f. Vgl. ferner zu Maimons Bestimmung des Verhältnisses von Naturrecht und Moral ebd., S. 160: „Die Formeln der Moral sind 1. (Verbot) Du darfst nicht wollen, wenn dein Wille nicht als allgemeingültig gedacht werden kann. 2. (Befugniß) Du darfst wollen, wenn dein Wille als allgemeingültig gedacht werden kann. 3. (Nothwendigkeit dieser Befugniß) Du mußt wollen dürfen, wenn dein Wille als allgemeingültig gedacht werden kann. Die Formeln des Naturrechts sind 1) (Befugniß): du darfst, in gewissen Fällen, wollen, wenn schon dein Wille, dem Anschein nach, nicht als allgemeingültig gedacht werden kann. 2) (Nothwendigkeit dieser Befugniß): du mußt in gewissen Fällen wollen dürfen, wenn schon dein Wille, dem Anschein nach, nicht als allgemeingültig gedacht werden kann.“ 141 Ebd., S. 147. 142 Vgl. ebd., S. 150ff. 143 Ebd., S. 151f. 144 Vgl. ebd., S. 152: „Z. B. Cajus und Titius bemächtigen sich im Schiffbruch eines Brets, das nur Einen tragen kann: so hat ein jeder derselben das Recht, das Bret durch Hülfe seiner physischen Kräfte zu seiner eigenen Rettung zu gebrauchen, und den andern davon zurück zu halten, sollte dies auch nicht anders als dadurch geschehen können, daß er den andern mit Gewalt ins Wasser stieße; weil hier das Moralgesetz sich selbst aufhebt. [...] Was soll nun zufolge des Moralgesetzes geschehen? Etwan, daß beide zugleich ertrinken?“.
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Wenn dieses andere vernünftige Wesen nicht das Gegentheil wollen darf, sondern zur Uebereinstimmung mit dem erstern verpflichtet ist. Der Gläubiger z. B. darf wollen, daß der Schuldner seine Schuld abtragen soll. 2) Wenn auch dieses vernünftige Wesen das Gegentheil von Jenem wollen darf, so daß keines von beiden zur Uebereinstimmung mit dem andern verpflichtet ist.145
Bei einer Gesamtbetrachtung der Maimonschen Darlegung fallen mindestens drei Lehrstücke auf, die als Anküpfungspunkte der schellingschen ND in Frage kommen: (1) der Gedanke, dass ‚Naturrecht‘ im Gegensatz zur Moral das ‚sinnlich Individuelle‘ des Willens betrachtet; (2) die Beschränkung des ‚problematischen Naturrechts‘ auf solches Zwangsrecht, das durch physische Stärke bestimmt werden muss; und (3) die Logik der Selbstaufhebung moralischer Nötigung in der Notrechtssituation. Besonders die beiden letztgenannten Punkte könnten wichtige Inspirationsquellen für das Schlusstheorem von Schellings ND sein: für die Idee, dass in der Konsequenz des (letztlich auf physischer Stärke beruhenden) Zwangsrechts die Selbstzerstörung des Naturrechts als ‚Recht‘ liegt.
10. Ungewohnt in der ND-Forschung dürfte auch die gründlichere146 Betrachtung zweier weiterer vorangehender rechtstheoretischer Beiträge aus dem Philosophischen Journal sein. Wir meinen zunächst Reinhards Deduction des Rechtsbegriffes, die ebenfalls 1795 im Philosophischen Journal, Zweiten Bandes drittes Heft, erschienen ist147 – zeit- und ortsgleich mit dem ersten Teil der schellingschen Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kritizismus. Reinhard meint, dass die „Nothwendigkeit der freien Willensthätigkeit die Form einer nothwendigen praktischen Aufgabe oder eines Gesetzes annehmen“ muss148 – und zwar so, dass der „Charakter des unbedingten Seins“ den „Charakter der Persönlichkeit, Selbstheit“ ausmacht149. Letzteres „absolute Sein“ wird auf moralische Wesen bezogen und beschränkt:
145 Ebd., S. 161 f. 146 Vgl. dazu Jacobs 1982, S. 123f. 147 Reinhard 1795. Um welchen Juristen Reinhard „aus Marburg“ es sich hier handelt, ist bislang nicht eindeutig ausgemacht. In Frage kommen Philipp Christian Reinhard, Johann Jacob Reinhard und Johann Theodor Reinhard. 148 Ebd., S. 209, § 3. Vgl. dazu ebd. ferner S. 210, § 4: „Dieses Gesetz also, (welches man das Moralgesetz nennt) gebe ich mir – oder giebt mein Wille sich selbst: denn es ist nichts anders als der Ausdruck der Nothwendigkeit der dem Willen eigenthümlichen Handlungsweise, soferne diese Nothwendigkeit mit einer andern außer dem Willen gegründeten Nothwendigkeit in Beziehung steht.“ 149 Ebd., S. 212, § 5.
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Als freie, moralische Wesen sind wir, im absoluten Sinne, und streben ungeachtet unsrer Abhängigkeit in Hinsicht auf unsre sinnliche Natur, nach dem unbedingten Sein. Als sinnlichbedingte Wesen haben wir, und wollen wir haben.150
Die Mittel zur Erreichung des Zwecks unseres sinnlichen Daseins: Glückseligkeit, finden wir in der Natur. Insofern stellt sich die Frage nach der Art des Bezugs, in dem das Freisein des moralischen Wesens Mensch zur Natur steht. Für Reinhard definiert sich dieser so: „Der Mensch [...] als wollendes Wesen, das mit Freiheit eigne Zwecke bildet, ist Herr der Natur, ohne daß diese Herrschaft durch die Natur beschränkt werden könnte.“151 Demnach könnte zwar nicht das Wollen, wohl aber das Können von der Natur beschränkt werden. Es fällt schwer, hierin nicht eine Vorlage für ND § 7 zu sehen. Doch zurück zu Reinhard. Bei diesem gewinnt die Natur als „gemeinschaftliches Gebiet“ der freien Wesen152 und zugleich als Sphäre möglicher Widerstände gegen ein moralisch erlaubtes Können eine neue naturrechtstheoretische Wertigkeit: Natur erscheint hier nicht mehr so sehr als Quelle, sondern vielmehr als Objekt und Bewährungsfeld des Naturrechts. Letztlich wird Naturrecht hier als Recht nicht von Natur aus, sondern als Recht über die Natur aufgefasst153, wenn auch nicht in exklusivem Sinn154. Die skizzierte Sicht des Naturrechts als „Recht über die Natur“ wird ein Heft später im Philosophischen Journal von Johann Christian Gottlieb Schaumann noch schärfer gefasst (auf dessen Bedeutung für die ND bereits M. Osten aufmerksam gemacht hat)155. Sein „Versuch, die Gegenstände des allgemeinen Naturrechts aus
150 Ebd., S. 226, § 12. Unmittelbar vorangehend führt Reinhard ebd. erläuternd aus: „Damit etwas recht sei, dazu bedarf es einer Handlung, und einer Regel. Alsdann sagen wir: wir thun recht, oder die Handlung ist recht. Etwas anderes aber ist es, wenn wir sagen: Wir haben das oder ein Recht, oder welches einerlei ist: wir haben eine Sache mit Recht oder auf rechtmäßige Weise. Der Sprachgebrauch ist hier ganz richtig; denn meistenteils, wenn von einem Rechte die Rede ist, wird nicht sowohl auf eine Handlung sondern auf eine Sache, die wir haben oder haben wollen, Rücksicht genommen: man beurtheilt nicht sowohl die Gesetzmäßigkeit des Thuns als die Gesetzmäßigkeit des Habens.“ 151 Ebd., S. 228, § 12. 152 Ebd., S. 230 f., § 14: „Sie, die Natur, ist ihr [d.h.: der Menschen; W.M.S.] gemeinschaftliches Gebiet, und, soll dieses Gebiet abgetheilt werden, welches bei endlichen Wesen und zur Möglichkeit der Ausübung einer bestimmten Herrschaft nothwendig ist, so gebührt allen, bloß als Menschheit betrachtet, gleicher Antheil, worüber jeder mit Freiheit gebieten kann, aber jeder nur so, daß er die Herrschaft des andern nicht hindere und beeinträchtige. Folglich bestimmt hier das Gesetz eine Gränze, welche die Freiheit (als relative) nicht überschreiten darf.“ 153 Ebd., S. 232, § 14: „Ein Recht, jus, ist demnach eine bestimmte Ausübung meiner Herrschaft über die Natur, betrachtet von Seiten ihrer Gesetzmäßigkeit, oder bestimmter: betrachtet von Seiten ihres Verhältnisses zum verbietenden Gesetze. [...] Daher spricht man in der Moral nur von recht oder unrecht thun; in der Rechtslehre dagegen, welche bestimmt, aus welchen Gründen diesem oder jenem Subjecte ein bestimmter Antheil von der gemeinschaftlichen Herrschaft über die Natur zukomme oder nicht zukomme, wird nur von Rechten gehandelt.“ 154 Vgl. dazu ebd., S. 233, § 14. 155 So in Osten 1969.
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Principien zu bestimmen“156 geht von der Frage nach dem „praktische[n] Dasein des Selbstgesetzes (oder der praktischen Vernunft, des moralischen Gesetzes)“ aus157. Entsprechend steht „Selbstgesetz“ hier wohl als Verdeutschung für „Autonomie“ im kantischen Sinn. Die Antwort auf die genannte Frage wird auch hier im Blick darauf gesucht, in welchem Grundverhältnis der mit praktischer Vernunft begabte Mensch zur Natur steht. Auch Schaumann nimmt beinahe schellingsche Formulierungen in ND § 7158 vorweg, wenn er befindet: „Nicht genug, daß die Natur keine praktische Macht über den Menschen hat; der Mensch hat Macht über die Natur: er ist der Schöpfung Herr.“159 Die Bestimmung der Quelle und des Geltungsgrundes solcher Macht führt deduktiv auf den Begriff des Rechts: Da diese Macht des Menschen über die Natur eine vom Selbstgesetze verliehene Macht ist; so ist sie diesem gleich oder gemäß: und da das, welches dem Selbstgesetze gleich ist, recht heißt, so ist die Macht des Menschen über die Natur eine Rechtsmacht oder ein Recht, ein Naturrecht.160
Offenbar korrigiert Schaumann hier seine frühere, auf die Menschennatur bezogene Naturrechtsdefinition in seinem Wissenschaftlichen Naturrecht von 1792161. Als näheres Ergebnis von Schaumanns Deduktion ergeben sich vier Punkte: 1) die Realität eines Naturrechts des Menschen; der Mensch hat ein Naturrecht, denn er soll es haben. 2) die Formel für den Begriff der Wissenschaft des Naturrechts: das Naturrecht ist die Wissenschaft von dem Rechte des Menschen über die Natur: 3) die Formel für den Grundsatz des Naturrechts d. i. für denjenigen Satz, welcher das Naturrecht scientifisch setzt (begründet): dem Menschen ist durch das Selbstgesetz, welches ihn in Pflicht genommen hat, Macht über die Natur verliehen; oder kürzer: der Mensch hat ein Recht über die Natur. 4) Endlich wird auch durch obige Deduction die Streitfrage: ob das Naturrecht bloß Rechte oder auch Pflichten lehre, und wie es sich von der Moral unterscheide, beantwortet. Das Naturrecht hat es bloß mit dem Naturrecht zu thun; aber 156 Vgl. Schaumann 1795. 157 Ebd., S. 53. 158 Vgl. ND § 7 (AA I,3, S. 140): „Ich herrsche über die Welt der Objecte; auch in ihr offenbart sich keine andre, als meine Causalität. Ich kündige mich an, als Herrn der Natur, und fodere, daß sie durch das Gesetz meines Willens schlechthin bestimmt sei. Meine Freiheit weist jedes Object in die Schranken der Erscheinung zurück, und schreibt ihm eben damit Gesetze vor, über die es nicht treten darf. Nur dem unveränderlichen Selbst kömmt Autonomie zu, alles, was nicht dieses Selbst ist – alles was Object werden kann – ist heteronomisch, ist Erscheinung für mich. Die ganze Welt ist mein moralisches Eigenthum.“ 159 Schaumann 1795, S. 54. 160 Ebd. 161 Dort hatte es noch geheißen: „Die Wissenschaft der durchs Sittengesetz bestimmten Möglichkeit nach Naturgesetzen [gemeint sind hier: Triebe; W.M.S.] zu handeln, [...] heißt Vernunftrecht (jurisprudentia rationalis), in wie fern ihre Principien aus dem moralischen Gesetze der Vernunft abgeleitet und durch dasselbe bestimmt werden; Naturrecht aber (ius naturae), in wie fern diese durchs Sittengesetz bestimmten Principien auf den Menschen, als Menschen, (die Menschennatur) angewendet werden.“ (Vgl. Schaumann 1792, S. 7, § 10).
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die Entwickelung dises Naturrechts des Menschen ist zugleich eine Entwickelung der äußern Verbindlichkeiten, welche in Beziehung auf jenes Recht allen Menschen obliegen.“162 Als Gesamtfazit hält Schaumann fest: „Die Moral ist die Wissenschaft von der Verpflichtung des Menschen an das Selbstgesetz: das Naturrecht aber die Wissenschaft von der Berechtigung der Menschen über die Natur.163
In Reinhards und Schaumanns Ausführungen fallen viele Formulierungen auf, die sich so oder doch sehr ähnlich in Schellings ND finden: allen voran die Rede vom Menschen als Herren über die Schöpfung/Natur, die Fassung des Naturrechts als Rechtsmacht des Menschen über die Natur sowie die Engführung von Moralbegriff und „Verpflichtung des Menschen an das Selbstgesetz“. Zudem aber formuliert Reinhard auch eine Erwartung an das Naturrecht, an der dieses – wie Schelling meint – als bloße Natur(rechts)ordnung letztlich scheitern muss. Reinhard meint, dass, wenn die Naturrechtslehre ihren Namen mit Recht tragen soll, die „Natur, so wie sie es ist, welche die Collisionen erregt“, auch „etwas an die Hand geben“ müsse, „woraus Bestimmungsgründe zur Entscheidung solcher Collisionen können hergenommen werden.“164 Genau dies aber gelingt für Schelling nicht mehr im Fall des konsequenten Zwangsrechts; hier ist ein Auseinandertreten von Natur und Recht nicht verhinderbar.165
11. Wir brechen an dieser Stelle ab und ziehen ein Fazit unserer Betrachtungen. Grundsätzlich scheint es, dass Schellings ND vor allem formal-architektonisch beanspruchen darf, eine „neue“ Deduktion des Naturrechts als emphatisch subjektiven Rechts zu sein. Tatsächlich entwirft sie einen „neuen“ Deduktionsansatz insoweit, als sie (anders als bei einem ‚Deduktion‘ genannten Herleitungsverfahren klassischerweise erwartbar) nicht einen allgemeinen Begriff oder Satz als Ausgangspunkt und Ableitungsgrundlage aller folgenden Sätze nimmt. Vielmehr setzt die ND eine Einsicht Schellings um, über die dieser spätestens seit dem Frühjahr 1795 verfügt: Die Philosophie ist nicht auf Sätze, sondern auf Forderungen gegründet166 – die theoretische Philosophie ebenso wie die praktische. Entsprechend hebt die ND mit einer (quasi grundsatzhaften) Forderung an: „Was ich theoretisch nicht realisiren kann, soll ich praktisch realisiren.“167 Gemeint ist die Realisierung des „Unbedingten“, „dem die 162 163 164 165 166
Schaumann 1795, S. 54f. Ebd., S. 55f. Reinhard 1795, S. 233, § 14. Vgl. AA I,3, S. 174 (ND § 163). Vgl. Frank 1997, S. 426ff. In dieser Haltung Schellings spiegelt sich wohl die Ablehnung der „Grundsatzphilosophie“ Reinholds durch den Jenenser philosophischen Kreis um Niethammer und Diez, zu dem Schelling und – enger noch – Hölderlin Kontakt unterhalten. 167 AA I,3, S. 139 (ND § 1).
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Vernunft entgegenstrebt“, das aber nicht durch theoretische Vernunft, sondern nur durch ein zur „freyen That“168 aufgefordertes und fähiges Ich erreichbar ist. Dieses Verfahren unterscheidet sich offenkundig auch von den Deduktionsmodellen Kants und – zumindest graduell – vom Deduktionsbegriff des frühen Fichte. Bei Kant und Fichte nämlich geht es um Gültigkeits- bzw. Realitätsnachweise allein von Begriffen. Kant unterscheidet dabei zwischen einer „transzendentalen“ und einer „empirischen“ Deduktion: Ich nenne daher die Erklärung, wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen, die transcendentale Deduction derselben und unterscheide sie von der empirischen Deduction, welche die Art anzeigt, wie ein Begriff durch Erfahrung und Reflexion über dieselbe erworben worden, und daher nicht die Rechtmäßigkeit, sondern das Factum betrifft, wodurch der Besitz entsprungen [...].169
Der frühe Fichte will philosophische Begriffe als „reelle“ erweisen (in Abgrenzung zu den „leeren“ Begriffen bloßer „Formular-Philosophie“170) und diese so in ihrem Gebrauch zu rechtfertigen. Anknüpfungspunkt beider Deduktionsverständnisse ist der Sprachgebrauch der damals zeitgenössischen Rechtspraxis. Diese war vor Wiederbelebung des Römischen Rechts und vor Begründung der modernen Gesetzestheorie um allgemein anerkannte Rechtsfindungsprinzipien verlegen. Entsprechend kam in juristischen Streitfällen alles auf die findige Herleitungskunst der Advokaten an. Ein kontroverser Rechtsanspruch war letztlich nur durch seine (‚Deduktion‘ genannte) argumentative Rückführung auf ein unbestreitbares Datum oder Faktum als legitim oder eben illegitim auszuweisen171. Im Vergleich hierzu verfolgt Schellings ND zwar kein völlig konträres, aber doch ein deutlich komplexeres Ziel. Nicht Geltungsreflexion und Anspruchsrechtfertigung ist ihr gedanklicher Leitfaden, sondern Praxistheorie der Umsetzung eines absoluten Postulats. Absolut ist dieses in mindestens zweifachem Sinn. Einerseits „äußerlich“, insofern die Forderung: „Was ich theoretisch nicht realisiren kann, soll ich praktisch realisieren“ rein axiomatisch eingeführt wird – ohne jede Begründung, wenn auch mit einigen Erläuterungen.172 Andererseits ist dieses Postulat auch „innerlich absolut“ zu nennen. Denn es läuft auf eine Selbstaufforderung des absoluten Ich hinaus, die von dessen Wesen gefordert und insofern auch begründet wird. Das gilt zumindest dann, wenn man das zitierte Postulat inhaltlich als kreatives Fazit
168 Vgl. dazu Schellings Rückblick auf eine (von Johann Benjamin Erhard stammende) Rezension seiner Ich-Schrift: „Weil aber das philosophische Publikum einmal nur für erste Grundsätze Ohren zu haben schien, so konnte [m]ein erster Grundsatz – in Bezug auf den Leser – nur ein Postulat seyn, die Forderung derselben freyen That, mit der [m]eines Erachtens erst alles Philosophiren beginnen kann.“ (AA I,3, S. 193). 169 Kant KrV, A 84/B 117 (= KAA 3, S. 100). 170 Vgl. dazu §§ 1-4 von Fichtes Grundlage des Naturrechts (1796); Fichte 1971, S. 17-56. 171 Vgl. Frank 1997, S. 158f. 172 Vgl. AA I,3, S. 139 (ND § 1 ff.).
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(d.h. als etwas, das mehr ist als eine bloße streng-logische conclusio) einer kritischen Subjektphilosophie liest, die zweierlei würdigt: Kants kritische Ausgrenzung des „Dings an sich“ aus dem Phänomen- und Erkenntnisbereich des Subjekts, ferner aber auch die mit Fichte startenden Versuche zur Rückgewinnung einer Erkenntnismöglichkeit des Absoluten für das Subjekt. Von Kant übernimmt Schelling den Grundgedanken, dass das „Ding an sich“ (als Chiffre für das Absolute) kein Phänomen und daher kein Objekt unserer Erkenntnis sein könne. Anders als Kant meint Schelling aber nicht, das Absolute sei völlig aus der Sphäre der Erkenntnissubjektivität auszugrenzen. Wenn das Absolute das „Unbedingte“ ist, „dem die Vernunft entgegenstrebt“, das aber durch theoretische Vernunft nicht erreicht werden kann, sollte praktisch ‚realisiert‘ werden können; indes nicht in der Objektsphäre, wohl aber auf der Ebene der Selbsttätigkeit meiner Erkenntnissubjektivität.173 Entlang dieses Leitgedankens ist Schelling für Fichte offen, der ebendiese Selbsttätigkeit über Kant hinaus präziser zu fassen bestrebt ist. Indes trennen sich auch hier die Wege, wo Fichte das Absolute als Gegenstand des Bewußtseins und somit doch objekthaft fassen will. Wenn damit der Neuigkeitscharakter der Form der schellingschen ND im Grundriss beschrieben ist, bleibt noch die Frage nach dem Neuigkeitscharakter ihrer Inhalte übrig. Hier wird man vorsichtig formulieren müssen. Schon aufgrund unseres kurzen Durchgangs durch die rechtstheoretische Debatte in Niethammers Philosophischem Journal scheint es, dass Schelling wesentliche rechtstheoretische Überlegungen der ND nicht allein, vielleicht sogar am allerwenigsten aus seinen eigenen bisherigen philosophischen Arbeiten entwickelt hat. Ausnahmen mit begrenzter Tragweite für die Ausgestaltung der ND mögen manche Stellen in Vom Ich sowie in den Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kritizismus sein. Vieles spricht dafür, dass Schellings ND in großen Teilen von einer kreativen Aneignung rechtsphilosophischer Ideen u.a. mancher der Mitautoren Schellings im Philosophischen Journal lebt. Diesen Autoren ist gemeinsam, dass ihr Denken irgendwie „auf der Linie“ der frühen Ich- und Naturphilosophie Schellings liegt. Insgesamt scheint es, dass nicht nur das der ND zugrunde liegende rechtstheoretische Problembewußtsein, sondern auch und gerade das originellste Lehrstück der ND: das Theorem von der begrifflich zwingenden Selbstzerstörung des Naturrechts als ‚Recht‘ in Form des konsequenten Zwangsrechts, ohne Denkmittel aus dem zitierten rechtstheoretischen Diskurs kaum möglich geworden wären. Was die von Schelling nur problematisch angedeutete „neue Wissenschaft“ angeht, die die physische Macht des Individuums mit der moralischen des Rechts identisch machen und einen Zustand definieren könnte, in dem auf der Seite des Rechts immer auch die physische Gewalt ist: Hat diese „neue Wissenschaft“ schon
173 Vgl. ebd. (ND § 1).
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1797 in Kants Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre modellhaft Gestalt angenommen? Immerhin gelingt Kant dort der Schritt über die Aporien des subjektiven Rechts hinaus auf eine Ebene, auf der Rechtsbegriff und Rechtsprinzip zu einem nicht selbstwidersprüchlichen Begriff von Zwangsrecht auszubuchstabieren sind. Schelling hat die diesbezügliche Bedeutung der kantischen Rechtslehre wohl erkannt; zumindest kann man seine „Nachschrift“ zum verspätet veröffentlichten zweiten Teil der ND dahingehend deuten174. Indes: Schelling hat Kants „Naturrecht“ nicht goutiert. In einem Brief an Niethammer vom 28.02.1797 schreibt er: „[F]reilich läßt man sich am Ende des 18ten Jahrhunderts nicht mehr solche Dinge anheften, als da drinn stehen, so wenig als man sich auch einen Δeinigen Gott aufbinden läßt“175. So steht der Verweis der ND auf eine an sie anschließende „neue Wissenschaft“ erratisch im Raum der Theoriegeschichte des Rechts. Indes, klingt Schellings Idee eines Rechts, auf dessen Seite immer auch die physische Gewalt ist, nicht wie ein Vorspiel zu Marx’ Theorie der Revolution?
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174 Vgl. dazu AA I,3, S. 174f. 175 AA III,1, S. 115f. Hinsichtlich einer weiteren Beschäftigung mit philosophischen Naturrechtsfragen und mit Philosophie überhaupt war Schelling offenbar bereits 1797 skeptisch. In einem Brief an Niethammer vom 28.02.1797 schreibt er: „wohl aber kann ich nicht wißen, daß ich in einige Jahren vielleicht schon alle Beschäftigung mit der Philosophie aufgeben werde, um mich dann ganz histor. Und praktischen Wissenschaften zu widmen. [...] Es kam mir längst so vor, als ob sich Naturrecht und Staatsrecht so verhielten, wie Religion und Theologie, und als ob ein philos. Staatsrecht nicht mehr tauge, als eine philosophische Theologie.“ (Ebd.).
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Alexander Bilda Das höchste Gut und der Staat. Zur Notwendigkeit und zum Verfall des Staates in Schellings System des transzendentalen Idealismus als Abgrenzung von Kant und Fichte
Es kann als Gemeinplatz gelten, dass Schelling von den großen Denkern der klassischen deutschen Philosophie die am wenigsten umfangreichen rechtsphilosophischen Überlegungen angestellt, geschweige denn politisches Denken philosophisch kultiviert habe. Obwohl einige diese These zwischenzeitlich revidiert oder relativiert haben, bleibt doch die Diskrepanz zwischen den großen philosophischen Systemen, die Schelling entworfen hat und ihrer geringen staatstheoretischen Auseinandersetzung unbezweifelbar. Allerdings dürfte es gleichermaßen Konsens sein, für die Qualität von Schellings politischem Denken nicht auf die Quantität seiner staatsphilosophischen Äußerungen abzustellen. Politische Schlagkraft gewinnt die schellingsche Philosophie nicht aus einer Philosophie des Rechts oder des Staates, sondern aus ihrem Begriff von Freiheit, der immer auch eine politische Dimension impliziert. Das Phänomen der Freiheit in Form der Willkür bildet das wesentliche Bedingungsmoment für die Ausformung einer Rechtsordnung wie sie in Schellings System des transzendentalen Idealismus konstruiert wird. Die Bestimmungen dieser rechtsphilosophischen Überlegungen arbeitet Schelling weniger an Fichte als im Dialog mit der kantischen Philosophie heraus. Ein solches Wechselverhältnis wurde von der Forschung in Bezug auf die Rechtskonzeption Schellings immer wieder zu Recht festgestellt, freilich allzu oft ohne zu klären, in welcher Hinsicht Schelling die Grenzen seines Königsberger Kollegen überschreitet.1 Insofern Schelling den Will1 Vgl. Knatz 1999, S. 146f., der den Kant-Bezug eigens hervorhebt, weil dieser im Vergleich zu früheren Arbeiten im System zugenommen habe. Die Unterschiede Schellings gegenüber Kant werden indes nicht behandelt. Zwangsläufig beschäftigt sich Knatz gerade nicht näher mit der ‚Willkür‘ und diskutiert weder ‚Sittengesetz‘ noch ‚Glückseligkeit‘. Alle Begriffe entstammen der kantischen Diskussion und werden von Schelling mal mehr, mal weniger umgeformt. Gleichwohl diese Vernachlässigung Knatz nicht zum Vorwurf gemacht werden kann, da er Schellings Rechtskonzeption im System auf nur drei Seiten (ebd., S. 146-148) behandelt, kann diese Vernachlässigung symptomatisch auch für Projekte gelten, die sich weitaus umfänglicher mit diesem Thema befassen, so etwa Hollerbachs Darstellung des Rechtsgedankens im System (vgl. Hollerbach 1957, S. 122-144), der Kant nur in Bezug auf Schellings Anlehnung an den kategorischen Imperativ (ebd., S. 125) und Kants Schrift Zum ewigen Frieden (ebd., S. 137) erwähnt. Auf eine systematische Aufarbeitung aller Begriffe muss hier allerdings ebenfalls zu Gunsten des Begriffs des höchsten Guts verzichtet werden.
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kür-Begriff Kants modifiziert, bleiben allerdings auch die folgenden Überlegungen hinter diesem Anspruch zurück. Festzuhalten bleibt allerdings, dass insbesondere durch die Neubestimmung des Naturtriebs, der sich durch den Menschen zum Bösen potenziert, Schelling den Begriff menschlicher Willkür, wie er sich noch bei Kant findet, gleichermaßen irritiert und erweitert.2 Die sich über Naturtrieb und Sittengesetz erhebende Willkür wird bei Schelling auch als der dem nicht-philosophischen Bewusstsein einzig zugängliche Weg zur Freiheitserfahrung ausgewiesen. Willkür als die ‚eigentliche Freiheit‘ kennzeichnet Schellings praktische Philosophie als Ganze. Der praktische Freiheitsvollzug belastet sich allerdings selbst, weil mit ihm sowohl böse als auch gute Handlungen möglich sind. Wenn der Mensch tatsächlich böse handelt, zerstört er potentiell die Freiheit anderer. Er kann mit einer bösen Handlung Freiheit verhindern, weil Menschen erst auf Basis von Intersubjektivität in ‚indirekter Wechselwirkung‘ als Intelligenz freiheitsfähig werden. Kern der folgenden Überlegungen sind zwei Thesen, die einerseits die Notwendigkeit, andererseits den Verfall des Staates behaupten. Während die erste These schon allein Plausibilität für sich beanspruchen kann, weil Schelling im System verspricht, eine allgemeine Deduktion aller Bestimmungen des Ichs vorzunehmen, zu der man auch den Staat zählen kann, mag die ihr geradezu entgegengesetzte These überraschen, insbesondere mit Blick auf einige Forschungen, die gerne vor und nach dem System staatskritische Überlegungen Schellings geltend machen, aber in der ‚Staatsmaschinerie‘ von 1800 geradezu eine Staatsapotheose vermuten. Tatsächlich ist die Kritik Schellings am Staat im System wesentlich subtiler als etwa im Ältesten Systemfragment des Deutschen Idealismus oder den Stuttgarter Privatvorlesungen. Der Verfallscharakter des Staates lässt sich im System nicht nur mit Blick auf Geschichte, Religion und Kunst feststellen, die ihn allesamt überformen, sondern erwächst aus dem Staat selbst, mithin aus der Freiheit der ihn konstituierenden Individuen. Dennoch übernimmt die Gewährleistung eines freien Miteinanders der Individuen wiederum der Staat als eine Instanz, die mächtiger ist als die Willkür des Menschen. In diesem Wechselverhältnis kann der Staat, wie man es auch mit Böckenförde beschreiben könnte, die Voraussetzungen allerdings gerade nicht garantieren, von denen er lebt.3 Die schellingsche Konsequenz aber besteht letztlich darin, dass der Staat gleichsam stirbt und sich diesem Prozess selbst dann nicht entziehen kann, wenn sich seine Verfassung als eine geradezu leblose diesem Prozess entgegenstemmt. Schelling konzipiert die Rechtsverfassung eines Staates also in Analogie zu einer Maschine. Nur eine solche Maschine, die keine moralischen Kategorien kennt, könne unabhängig von einer Willkür, die moralisch oder unmoralisch handelt, das Zusammenleben von Menschen in Gemeinschaft regulieren. Diese Ordnung übt einen 2 Vgl. Anm. 64. 3 Vgl. Böckenförde 1976, S. 60.
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Zwang gegen böse Handlungen aus, der durch ein mächtiges und ‚unverbrüchliches Gesetz‘ wirkt und auf diese Weise Freiheit garantiert. Die These von der Notwendigkeit des Staates für die Freiheit bestätigt sich hier. Allerdings vermag der Staat nur vermeintlich als letztgültige Instanz der Freiheitssicherung auftreten. Zugleich nämlich – so lässt sich schon äußerlich feststellen – ist dessen Ordnung historischen Wandlungen unterworfen, die immer wieder von der Willkür selbst herrühren, welche die Rechtsverfassung entweder despotisch oder freiheitsgarantierend verändert. Die Instabilität der Staaten und ihrer Rechtsordnungen erwächst allerdings systematisch aus dem Innern einer alles umgreifenden Freiheit, deren Vehikel die Willkür des Menschen ist. Diese Unverbrüchlichkeit und Wandelbarkeit der Rechtsordnung stellt also offenbar einen Widerspruch dar, der sich auch als Widerspruch von Freiheit und Notwendigkeit fassen ließe. Genau diesen Widerspruch denkt Schelling mit der Rechtsverfassung: „Die Freyheit muß garantirt seyn durch eine Ordnung, welche so offen, und so unveränderlich ist, wie die der Natur.“4 Obwohl der Staat einem fixen Mechanismus gleicht, wird er als solcher dem Freiheitsvollzug nicht gerecht, der sich letztlich nicht von einem Mechanismus zwingen lässt.5 Allein deshalb, weil dieser Zwang irgendwann notwendig ins Leere läuft, ist der Staat potentiell auch ‚offen‘ und soll in stets neuer Form Freiheit sichern. Die These vom Scheitern des Staates bestätigt sich hier ebenfalls, sein Verfall aber ergibt sich aus seiner Notwendigkeit selbst. Insofern mögen die geradezu widersprüchlichen Staatskonzeptionen Schellings nicht überraschen. Schelling kann 1800 eine an Kant orientierte ‚Föderation aller Staaten‘ propagieren und nur vier Jahre später ein geradezu totalitaristisches Staatsmodell entwerfen.6 Beide Modelle und alle weiteren möglichen Modelle sind inkommensurabel für eine Freiheit, die – und dies ist der eigentliche Widerspruch – Staat untergräbt und jedem Staats-Modell doch zugleich Maßstab sein soll. In Schellings „Odyßee des Geistes“7 obliegt dem Staat die Aufgabe, zwischen der Skylla eines unlenkbaren Freiheitsvollzuges und der Charybdis einer monolithischen Notwendigkeit zu navigieren. Seine Orientierung erhält der Staat dabei durch das höchste Gut als ein Ziel, das sowohl Grund als auch Ende seiner Irrfahrt verkörpert. Schelling denkt in diesem höchsten Gut die absolute Identität inneren 4 AA I,9,1, S. 292; hier und im Folgenden wird Schelling nach Schelling 1856-61 (= SW Band, Seite) sowie Schelling 1976ff. (= AA Reihe, Band, Seite) angegeben. 5 In Schellings Staatskonzeption gehen insofern schon hier Organismus und Mechanismus Hand in Hand; der Werkzeugcharakter der Rechtsordnung versteht sich als Mechanik innerhalb einer freien Natureinheit. Oft wird dieser interne Gegensatz als Gegensatz unterschiedlicher Staatskonzeptionen Schellings begriffen, wobei der mechanistischen Konzeption des Systems die organische Konzeption der Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums von 1803 entgegengesetzt wird. Vgl. etwa Fischbach 2001, S. 44f. 6 Vgl. zu Kant, Anm. 190 und zu Schellings Staatsmodell von 1804, Anm. 141. Vgl. den Beitrag von Johannes-Georg Schülein in diesem Band. 7 AA I,9,1, S. 328.
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Selbstbestimmens mit dessen äußerem Vollzug, welcher durch ein Streben nach Glückseligkeit gekennzeichnet sei. Diese beiden Seiten der absoluten Identität sind allerdings gerade nicht die Identität selbst, sondern lösen sich in ihr auf, so dass weder Selbstbestimmen noch Glückseligkeit als solche das höchste Gut konstituieren. Das Ziel des Staates ist eigentlich das Ziel menschlichen Strebens. Da der Mensch sich aber in der Erreichung dieses Ziels durch seine Willkür blockiert, übernimmt der Staat dieses Ziel für die Gemeinschaft. Der Staat versucht die Erlangung dieses Ziels zu ermöglichen, indem er böse Handlungen bezwingt und freies Zusammenleben gestaltet. Für den Staat selbst bedeutet dies, ‚innere‘ und ‚äußere Freiheit‘ des Menschen zu harmonisieren. Gelingen wird diese Harmonisierung nie und das höchste Gut wird daher nie erreicht, weil der Staat nur die äußere Freiheit sichern kann. Gleichwohl bewegt sich der Staat in ‚allmählicher Annäherung‘ auf dieses Ziel zu und das höchste Gut bleibt in jeder neuen Form, die er annimmt, Maßstab, der anzeigt, inwiefern Freiheit in ihm gelingt. Zunächst wird in den folgenden Ausführungen, die sich vornehmlich auf die von Schelling als ‚Zusätze‘8 gekennzeichneten Überlegungen stützen, das Gesamtprogramm des schellingschen Systems zu skizzieren gesucht (1.). Erst auf dieser Grundlage lässt sich der Begriff des höchsten Guts konturieren und daran wiederum die Staatsstruktur und ihre Entwicklung ermessen. Der Gedanke des höchsten Guts wird von Schelling auf kantischem Grund neu bestimmt. Um diese Veränderung kenntlich zu machen, wird zunächst Kants Begriff des höchsten Guts ausgehend von der Kritik der praktischen Vernunft und der Religionsschrift untersucht (2.). Schelling konstruiert das höchste Gut nicht wie Kant synthetisch, sondern denkt es als ‚absolute Identität‘, in der noch stärker als bei Kant Glückseligkeit depotenziert wird (3.). Bevor dann die eigentliche Staatskonzeption untersucht wird, richtet sich der Blick kurz über den Staat hinaus auf die Geschichte, welche sein Scheitern ausführt und auf die Kunst, die sein Scheitern auffängt (4.). Erst jetzt ist der Staat als Zielpunkt der vorliegenden Arbeit eingegrenzt und sind die beiden Pole aufgestellt, zwischen denen der Staat vermitteln kann: Willkür auf der einen und höchstes Gut auf der anderen Seite können sich ausschließen, wenn Willkür eine Intelligenz daran hindert, frei zu sein. Es gilt darzustellen, wie der Staat versucht gegen die Willkür, diesen ‚absoluten Zufall‘, Freiheit überhaupt und damit das höchste Gut zu garantieren. Dies aber gelingt nur mit einem Gesetz, das unparteiisch und ‚unverbrüchlich‘ gegen böses Handeln vorgeht (5.). Dieses Gesetz, so wird näherhin erörtert, geht in einer ‚zweiten Natur‘ auf, die Notwendigkeit und Freiheit vereinigen soll, als Verfassung aber wie eine Maschine aufgebaut ist. Denn nur eine solche Verfassung könne gegen die Willkür angehen, die sich ihrer Sphäre zu entziehen sucht. Zu 8 Zur Diskussion dieses Zwischentitels, der zumindest andeutet, dass Schellings Behandlung des Staates in systematischer Hinsicht nur peripher zu betrachten wäre, vgl. Hollerbach 1957, S. 257. Im 5. Abs. dieses Aufsatzes wird diese These einzuschränken sein.
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problematisieren ist die von Schelling geforderte Trennung von Moral und Recht (6.). Gegen die zuvor erörterte Notwendigkeit des Staates wird im abschließenden Teil des Aufsatzes ihr Verfall zu erörtern sein. Denn die Staatsmaschine wird von ‚Menschenhänden‘ erbaut und bleibt deshalb doch abhängig von Entscheidungen der Willkür. Der Wechsel der Verfassungen, der ewige Verfall des Staates in der Geschichte bildet die Macht der Willkür ab und beweist, dass eine Vereinigung von Freiheit und Notwendigkeit im objektiven Lebensvollzug nie möglich sein wird (7.). Eine kurze Zusammenfassung schließt die Untersuchung ab (8.).
1. Schellings genetische Methode und die zwei Thesen zum Staat Schelling hat sich im System sechs philosophische ‚Aufgaben‘ (von A bis F) gestellt, die einen heuristischen Schlüssel liefern sollen, die Potenzierungen des Selbstbewusstseins in seiner Genese nachzuvollziehen. Schelling kann auf diese Weise auch die schematische Einteilung und systematische Trennung in Hauptabschnitte unterwandern und deren genetischen Zusammenhang, gleichsam die Einheit des Selbstbewusstseins insinuieren. Das Verständnis vom höchsten Gut und das Konzept des Staates erwachsen aus den zuvor von Schelling angestellten Erörterungen. Die drei ersten Aufgaben werden noch in der ersten Epoche der theoretischen Philosophie in schneller Abfolge gelöst. Die vierte Aufgabe stellt Schelling zu Beginn der zweiten Epoche der theoretischen Philosophie, ihre Auflösung erstreckt sich über ein Drittel des Werkes bis zum ‚dritten Satz‘ der praktischen Philosophie, von dem die folgenden Überlegungen ihren Ausgang nehmen. Die Aufgabe D besteht darin, „zu erklären, wie das Ich dazu komme, sich selbst als productiv anzuschauen“9. Diese Aufgabe löst sich – verkürzt formuliert – dadurch, dass das Ich befähigt ist, sich durch absolute Abstraktion zu einem Wollen zu erheben, welches das zugleich reell und ideell produzierende Ich zu fassen vermag. Die Staatsphilosophie Schellings steht nun unter der Ägide der Aufgabe E, „zu erklären, wodurch dem Ich das Wollen wieder objectiv werde“10. Der Lösungsansatz dieser Aufgabe wird sogleich mit dem dritten Satz der praktischen Philosophie aufgezeigt: „Das Wollen richtet sich ursprünglich nothwendig auf ein äußeres Object.“11 Die Darstellung dieses Problems, die sich also um dieses ‚äußere Objective‘ bekümmern muss, ermöglicht erst einzusehen, wieso die Staatsphilosophie notwendig wird. Denn diese reagiert gewissermaßen auf die Spannung, die der Herstellung des äußeren Objektiven innewohnt. Generiert wird diese Spannung durch das ‚Sittengesetz‘ und den diesem radikal entgegenstehenden ‚Naturtrieb‘, welche beide die noch in 9 AA I,9,1, S. 154. 10 Ebd., S. 255. 11 Ebd.
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Aufgabe C angekündigten reflektierten Bewusstseinsformen der subjektiv-ideellen und objektiv-reellen Tätigkeit bilden. Das prinzipielle Vorgehen der Aufgabe E stellt sich folgendermaßen dar: Der absolute Willensakt wird als ein Wollen vorgestellt, das prinzipiell über jeder bestimmten Handlung anzusiedeln ist, weil es selbst ein reines Selbstbestimmen sein soll. Die Aufgabe also, dass sich das Ich seines absoluten Wollens bewusst wird, scheint prima vista paradox, wenn dieser Akt selbst nicht hintergehbar ist und damit jeder Definitionsgrundlage entbehrt. Wenn die philosophische Methode der Transzendentalphilosophie aber fordert, hier ein weiteres Mal das zu versuchen, was aus der immanenten Bewegung des Ich zunächst nicht möglich scheint, nämlich dass das Ich sich seines Konstituens bewusst wird, dann muss in diesem Akt, der aus einer ‚idealisierenden‘ und ,realisierenden Tätigkeit‘ besteht, ein Element auffindbar sein, das über diese Immanenz hinausweist. Tatsächlich identifiziert Schelling ein solches Element, welches das absolute Wollen ins Bewusstsein heben kann: „Dieß ist aber möglich nur dadurch, daß ein Object der Anschauung sichtbarer Ausdruck seines [des Ich, A.B.] Wollens wird.“12 Das ‚Objekt der Anschauung‘, das also den formalen Fluchtpunkt der ‚Aufgabe‘ bildet, setzt sich aus zwei Bestandteilen zusammen. Zunächst wird mit dem Element eines ,Objekts der Anschauung‘ auf die Deduktion der ,Anschauung‘ in der zweiten Epoche der theoretischen Philosophie rekurriert, in welcher neben der inneren Anschauung auch eine äußere Anschauung abgeleitet wird, die ein Überschreiten der Grenze des Ich ermöglicht und mit welchen Raum und Zeit entstehen.13 Sodann verweist dieses Element auf ein ‚Objekt‘, das mit der Begriffstheorie verbunden ist, die Schelling in der dritten Epoche erläutert.14 Die Theorie dort setzte sich von der rein produktiven Anschauung ab, in der Begriff und Objekt identisch sind. Diese Abgrenzung hat weiterhin Bestand, muss allerdings gleichzeitig auf die Begriffstheorie selbst erweitert werden; denn was in theoretischer Beziehung Anschauen war, ist mit dem praktischen Ansatz freies Handeln geworden. Aber so sehr dieser Unterschied zwischen freiem Handeln und Anschauen einzufordern ist, so sehr muss auch die begriffslogische, äußere Anschauung geltend gemacht werden, damit überhaupt ein Objekt und damit der Freiheitsakt selbst angeschaut werden kann. Denn die ‚Sichtbarkeit‘, die Schelling einfordert, kann für das Ich nicht im freien Handeln selbst liegen. Die Reaktivierung des theoretischen Potentials gelingt, indem Schelling nachweist, dass die Tätigkeit des Handelns ebenfalls ein Anschauen ist. Denn während das Anschauen durch ein Anschauendes und ein Angeschautes charakterisiert ist, eine ideelle und eine reelle Tätigkeit, ist das Handeln im gleichen Verhältnis ein An12 Ebd. 13 Ebd., S. 156-158 u. S. 164f. 14 Ebd., S. 205f.
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schauendes auf ein Angeschautes. Nur ist dieses Angeschaute im Handeln das Anschauende und Angeschaute der ersten Ordnung in Einem. Nach Schelling bestehen daher zwei Voraussetzungen, die diese Handlung der Objektivierung des Wollens erfüllen muss: erstens soll „das Ich Selbstursache der Materie seines Vorstellens“15 sein und zweitens muss „das Object unabhängig von dieser Handlung existir[en], d.h. daß das Object ein äußeres ist.“16 Diese beiden Voraussetzungen bilden einen Widerspruch, denn die eine verlangt Selbstmacht der Intelligenz, die andere ein Unabhängiges von ihr. Wenn Schelling beide Voraussetzungen zu vermitteln vermag, besteht die Möglichkeit, einen ‚Ausdruck des Wollens‘ aufzustellen. Erst in einem zweiten Schritt muss dieser Ausdruck noch objektiviert werden, so dass er dem Ich selbst bewusst wird. Das primäre Ziel der philosophischen Ableitung, die Schelling durchführt, ist nur dieser Ausdruck, der als Objekt angeschaut werden kann. Die ‚menschliche Freyheit‘ als ‚Willkühr‘,17 die eine „immer wiederkehrende Offenbarung des absoluten Willens“18 ist, stellt diesen Ausdruck dar. Als solche aber ist die Willkür zwar Erscheinung des absoluten Willens, aber nicht Objekt, sondern ganz im Gegenteil das „Absolut-Subjective“19. Über die Rechtsordnung und die Geschichte wird das Ich daher versuchen, den absoluten Willen zu objektivieren. Die Idee eines ‚höchsten Guts‘ orientiert diese Suche, die für den endlichen Menschen unendlich ist und innerweltlich scheitert. In diesem Rahmen zwischen Willkür und höchstem Gut bewegen sich die beiden Thesen dieses Aufsatzes. Die eine These besteht darin, aufzuzeigen, dass der Staat als solcher ein notwendiger Bestandteil des ganzen Systems und menschlichen Handelns ist. Seine Funktion besteht darin, Freiheit überhaupt zu sichern. Freiheit nämlich vermag sich selbst zu zerstören, da sie als Willkür immer auch böse Handlungen verüben kann, die das freiheitliche Zusammenbestehen der Menschen aushebeln. Der Staat reguliert diese Willkür, indem er nach einer mechanistischen, willkürunabhängigen Verfassung handelt, die versucht, das Böse der Willkür zu unterbinden. Sein Wirkkreis ist nicht die menschliche Freiheit selbst, sondern der Naturtrieb, der erst durch die Willkür des Menschen korrumpiert wird. Mit dieser Willkür hängt die zweite These dieser Arbeit eng zusammen. Alle Verfassungen, die entworfen werden, um Freiheit zu sichern, scheitern an dieser Willkür, die immer auch böse sein kann, weil sie sich grundsätzlich nie vor bösen Intentionen und Handlungen schützen können. Der Staat soll wie eine Maschine
15 Ebd., S. 254. 16 Ebd., S. 255-256. 17 Schelling verwendet die Begriffe „Willkühr“ (Ebd., S. 275), „eigentliche Freyheit“ (ebd., S. 276) und „menschliche Freyheit“ (ebd., S. 293) synonym. 18 Ebd., S. 276. 19 Ebd. Dieser Begriff korrespondiert mit dem „Absolut-Objectiven“, welches Schelling in seiner Zusammenfassung des Systems zur Kennzeichnung bloß naturverhafteten Produzierens des Ich in der theoretischen Philosophie herausstellt, vgl. ebd., S. 330 u. S. 333.
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unabhängig von der Willkür agieren, aber da er von Menschen errichtet wird, mithin Willkür seine Konstruktion bestimmt, vermag sich der Staat einer Wirklichkeit des Bösen nicht entziehen, die ihn selbst von Grund auf konstituiert. Die Staatsverfassungen sind so immer nur transitorische Sicherungsmittel für Freiheit, aber ihnen gelingt es nie, Freiheit dauerhaft herzustellen. Vielmehr wird der Staat zu einem Ort, an dem das von der Willkür in Gang gesetzte Scheitern des freien Selbstbewusstseins wirklich wird. Während das Scheitern der theoretischen Philosophie darin besteht, nicht zu erkennen, dass ihrem Produzieren ein Subjekt zugrunde liegt, das erst alles Produzieren stiftet, scheitert die praktische Philosophie daran, ihr Objekt als Objekt zu erfassen, das sie auch unbewusst produziert. Die einmal gewonnene Willkür lässt sich selbst mit einem Staat als ‚zweiter Natur‘ nicht abstellen. Die Staatsmaschine versucht letztlich vergeblich wie das ‚blinde mechanische Produzieren‘ der theoretischen Philosophie zu agieren. Der Staat ist der höchstmögliche äußere und damit wirkliche Ausdruck des absoluten Wollens, selbst wenn er wiederum als solcher nur temporäres Objekt dieses Freiheitsausdruckes ist, der selbst einer ‚absoluten Identität‘ untergeordnet werden muss. Den ganzen Willensakt zum Bewusstsein kommen zu lassen ist also der Anspruch, den Schelling der transzendentalphilosophischen Methode nach erheben muss. Dieser Anspruch ist bei weitem nicht nur ein systemimmanenter, der die Konsistenz der philosophischen Theorie untermauern soll, sondern er ist nichts weniger als der Versuch, die ganze Freiheit für den Menschen selbst bewusst werden zu lassen. Darunter versteht Schelling wesentlich, dass das Ich nicht nur frei handeln kann, sondern, dass es sich aus sich selbst wirkend als ein solches freies Ich bewusst wird.20 Scheitern wird dieser Versuch aber in der praktischen Philosophie, weil diese nicht vermag, ihr unbewusstes Produzieren wieder einzuholen. Erst die ästhetische Anschauung wird sowohl den bewussten als auch den unbewussten Freiheitsakt in einem vollbringen können.
20 Diese feine, aber doch wichtige Differenz des Freiheitsverständnisses verdeutlicht Fichte in der Sittenlehre am Begriff der ‚materialen Freiheit‘: „Ich will diese Art der Freiheit zum Unterschiede von der vorherbeschriebenen nennen die materiale Freiheit. Die erstere besteht lediglich darin, daß ein neues formales Princip, eine neue Kraft eintritt, ohne daß das Materiale in der Reihe der Wirkungen sich im mindesten ändere. Die Natur handelt nun nicht mehr, sondern das freie Wesen; aber das letztere bewirkt gerade dasselbe, was die erstere bewirkt haben würde, wenn sie noch handeln könnte. Die Freiheit in der zweiten Rücksicht besteht darin, daß nicht nur eine neue Kraft, sondern auch eine ganz neue Reihe der Handlungen ihrem Inhalte nach eintrete. Nicht nur die Intelligenz wirkt von nun an, sondern sie wirkt auch etwas ganz anderes, als die Natur je bewirkt haben würde.“ (GA I,5, S. 132; Angaben hier und im Folgenden nach Fichte 1962-2012 (= GA Reihe, Band, Seite)).
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2. Schellings idealistische Kritik an Kants ‚höchstem Gut‘ Das ‚höchste Gut‘ kann seit jeher der praktischen Philosophie zugeordnet werden. Der Gedanke steht in einer langen Tradition, die bis in die Antike zurückreicht. Das summum bonum wird dabei, so ließe sich zuspitzen, hauptsächlich mit Glückseligkeit identifiziert. Mit Kant setzt eine Kritik an dieser überkommenen Tradition ein. Glückseligkeit wird in Sittlichkeit aufgehoben, die lediglich in Verbindung mit einer ihr proportional zugeordneten Glückseligkeit das höchste Gut repräsentieren soll. Anders als bisweilen behauptet, schließt Schelling an die kantische Begriffsbildung an, damit implizit die Abgrenzung von den antiken Vorbildern mittragend.21 Allerdings kritisiert Schelling wiederum an Kants Begriff von Glückseligkeit eine Ambivalenz, die sich Schelling als unlautere Verquickung innerhalb des synthetischen Verhältnisses von Glückseligkeit und Sittlichkeit darstellt. Diese Ambivalenz unterminiert das höchste Gut vielmehr als dass sie es konstituieren würde. Gerold Prauss wiederholt diese Kritik als eine Kant immanente „Zweideutigkeit“22, die letztlich auf dessen gesamtes Werk ausstrahle. In der Kritik der praktischen Vernunft unterscheidet Kant zwischen zwei Bestimmungen von ‚Höchstem‘. Das eine ist das ‚oberste Gut‘, das andere das ‚vollendete Gute‘. Das oberste Gut wird als die Tugend gedacht, welche als unbedingter Maßstab allen Handelns aufzeigt, was überhaupt gut ist. Damit gibt Tugend eine Idee vor, wie die Verwirklichung alles Guten aussähe; Tugend verkörpert die „Würdigkeit, glücklich zu sein“23, ohne selbst die Glückseligkeit schon erreicht zu haben. Die Vorstellung eines vollendeten Guten beinhaltet daher immer auch dieses oberste Gut der Tugend als interne Voraussetzung. Ergänzt werden muss dieses oberste Gut durch die Glückseligkeit, die ihren Maßstab zwar im obersten Gut finden soll, aber als solche erst das Begehrungsvermögen zu einem vollendeten Guten perfektioniert. Diese Glückseligkeit begreift Kant in zwei Hinsichten: Entweder wird sie mit „parteiischen Augen“ vollzogen oder sie entfaltet sich auf der Grundlage einer „unparteiischen Vernunft“24. Die empirische Glückseligkeit der ersten Hinsicht wird dabei immer von der idealen Glückseligkeit zweiter Hinsicht einbehalten, um das vollendete Gut als solches zu denken. Beide Seiten dessen, was Kant ausdrücklich 21 Jähnig 1966, S. 205 beispielsweise verweist zu Recht auf Platon und Aristoteles sowie Leibniz, der den Gedanken des höchsten Guts neu geprägt habe. Jähnig, der ansonsten sehr stark textimmanent arbeitet, nennt weder den Bezug zu Kant als auch zu Fichte, vgl. zu Fichte Abs. 4 dieses Aufsatzes. 22 Prauss 1983, S. 29. Nach Prauss besteht die Zweideutigkeit darin, Glückseligkeit einerseits als vernunftbestimmt aufzufassen, andererseits als durch Naturnotwendigkeit bedingt zu charakterisieren. Diese Unterscheidung spiegele letztlich eine theoretisch-praktische Zweideutigkeit der Freiheit selbst wider, die für sich selbst praktisch oder durch Natur ein ‚Pseudo-Praktisches‘ sein könne. Kant schaffe es dabei nicht, sich vollständig von der antiken Tradition zu lösen, vgl. ebd., S. 28-40. 23 KAA 5, S. 110; hier und im Folgenden angegeben nach Kant 1968ff. (= KAA Band, Seite). 24 Ebd.
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als das eigentliche ‚höchste Gute‘ betrachtet, werden aneinandergekoppelt, so dass die Glückseligkeit einer Person „ganz genau in Proportion der Sittlichkeit“25 zukommt, welche diese als Tugend besitzt. Dieses Verhältnis allerdings denkt Kant nicht als identisch in dem Sinne, dass Glückseligkeit mit dem Zustand von Tugendhaftigkeit oder Sittlichkeit übereinstimmen würde oder umgekehrt diese mit Glückseligkeit gleichzusetzen wäre.26 Beide sind vielmehr wirklich voneinander Unterschiedene, die sich a priori verbinden lassen. Die Erschließung dieses Begriffs eines höchsten Gutes vollzieht sich daher notwendig transzendental. Um die Vereinbarkeit von Glückseligkeit und Tugend zu gewährleisten, begreift Kant diese mit der in der Kritik der reinen Vernunft entwickelten epistemologischen Methode als durch ein ‚synthetisches Urteil a priori‘ miteinander vermittelt. Tugend und Glückseligkeit werden so nicht als Bestandteile der Sinnenwelt gedacht, sondern noumenal aufgewertet. In einem solchen übersinnlichen Kausalzusammenhang ist die Tugend als das oberste Gut, welches unbedingt war, das Bedingende, dem die Glückseligkeit folgt.27 Diese Bestimmung des höchsten und vollendeten Guten übernimmt Kant noch in der für Schelling so wichtigen Religionsschrift, indem er sie dort als Vereinigung von ‚Pflicht‘ und ‚angemessener Glückseligkeit‘ begreift.28 Kant entwirft hier klarer als je zuvor seine Vorstellung von einem Gott, der es einzig vermag, die beiden Elemente von Glückseligkeit und Pflicht zu vereinigen. Damit ist das Ziel am Horizont fixiert, auf welches die Religionsschrift hinarbeitet. Schon der Titel dieser Spätschrift legt nahe, was Heiner Klemme gegen die allzu starke, aber dennoch berechtigte Interpretationstendenz angeführt hat, die sich mit dem Bösen in Kants Theorie in moralphilosophischer Hinsicht beschäftigt: das eigentliche Ziel dieser Schrift ist nicht eine Erklärung des Bösen, sondern die Religion.29 Während das höchste Gut als „Endzweck“30 zwar nicht gegenüber der Kritik der praktischen Vernunft an Geltung einbüßt, kann es doch nur durch ein „höheres, moralisches, 25 Ebd. 26 Diesen Vorwurf erhebt Kant gegen die Stoa und den Epikureismus, vgl. KAA 5, S. 111-113. 27 Vgl. KAA 5, S. 113-115. Stünde die Glückseligkeit für die Erlangung des vollendeten Guten in Geltung, verkäme die daraus abgeleitete Lehre zu einer bloßen ‚Glückseligkeitslehre‘, vgl. ebd., S. 130 und etwa KAA 6, S. 331f. 28 Vgl. ebd., S. 5. 29 Vgl. Klemme 1999, S. 127, S. 143f. und S. 148f. Allerdings beschränkt Klemme diese Überleitungsfunktion von der Moral zur Religion zu stark auf die Religionsschrift. Dieser Aspekt wird nämlich bereits in der Kritik der praktischen Vernunft angeführt, wenn auch die nähere Ausführung tatsächlich erst später unternommen wird: „Auf solche Weise führt das moralische Gesetz durch den Begriff des höchsten Guts, als das Object und den Endzweck der reinen praktischen Vernunft, zur Religion“ (KAA 5, S. 129). Entscheidend an dem Aspekt eines Übergangs von der Moral zur Religion ist aber, wie Jacobs betont, dass Kant nicht die Moral aus der Religion ableitet. Die Moral selbst erhält durch die Religion keine neuen ‚Statuten‘, sondern diese erfährt ihre Tugenden nur als ‚göttliche Gebote‘, vgl. Jacobs 1993, S. 144f. 30 KAA 6, S. 5. Auch in der Kritik der praktischen Vernunft dient das ‚höchste Gut‘ als ‚Endzweck‘, vgl. die vorherige Fußnote.
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heiligstes und allvermögendes Wesen“31 gestiftet werden. Der Glaube an einen Gott, der in Religion hergestellt wird, verbürgt die Verwirklichung des höchsten Gutes unabhängig vom Scheitern Einzelner. Das höchste Gut wird erst auf der Grundlage einer sich aus Gemeinschaft von Menschen speisenden Religion zu einem „gemeinschaftlichen Gut[]“32 bestimmt. Derart gefasst tritt die Forderung nach einem „System wohlgesinnter Menschen“ auf, welche die Idee „einer [...] Republik nach Tugendgesetzen“33 verfolgen. Die Verwirklichung des höchsten Gutes wird so schon in der diesseitigen Welt in Aussicht gestellt und nicht in ein Jenseits verrückt. Das dritte Stück der Religionsschrift wird in diesem Sinne auch mit der „Gründung eines Reichs Gottes auf Erden“34 betitelt. Zunächst kann für Schelling festgestellt werden, dass er sich strukturell ähnlicher Denkmuster wie Kant bedient, in denen sich das höchste Gut aus ideeller Tätigkeit und Glückseligkeit zusammensetzt. Schelling beschreitet dabei denselben Weg der Apriorität wie Kant. Vor allem entfaltet Schelling, Kant ähnlich, das höchste Gut in einem staatlichen Kontext. Beiden gemeinsam ist nicht zuletzt die ursprüngliche Richtung ihrer Kritik, die sich gegen die antike und auch theologische Vorstellung wendet, bloße Glückseligkeit als Endzweck oder Letztziel des Menschen zu begreifen. Allein diese Abkehr von der Tradition verschärft Schelling, weil er noch stärker als Kant die Rolle der Glückseligkeit im Gedanken des höchsten Guts zurückdrängt. Schelling beschäftigte sich schon sehr früh mit der Begriffsklärung des höchsten Guts. Seine Schrift Vom Ich35 und die Briefe36 geben beredtes Zeugnis davon ab. Von Beginn an wendet sich Schelling dabei gegen Kants Begriff des höchsten Guts, der in sich Inkonsequenzen berge. Die wohlwollende Rhetorik Schellings lässt zunächst nur vermuten, er möchte Kant bloß klarer fassen.37 Einige explizite Sätze verdeutlichen aber, dass Schellings Kritik grundlegend ist. So heißt es an einer dieser Stellen in einer Fußnote in Vom Ich: 31 32 33 34
KAA 6, S. 5. Ebd., S. 97. Ebd., S. 98. Ebd., S. 93. Klemme sieht den Gedanken einer Verwirklichung des höchsten Gutes in dieser Welt in der Kritik der praktischen Vernunft noch nicht gegeben. Dort würden die Postulate von ‚Unsterblichkeit der Seele‘ und dem ‚Dasein Gottes‘ als Voraussetzungen fungieren, die erst in einem jenseitigen Leben moralischen Fortschritt ermöglichen, vgl. Klemme 1999, S. 128 und dazu auch KAA 5, S. 122-132. Allerdings schreibt Kant genau in diesen Kapiteln, dass „[d]as moralische Gesetz gebietet, das höchste mögliche Gut in einer Welt mir zum letzten Gegenstande alles Verhaltens zu machen“ (Ebd., S. 129) und „das Reich Gottes zu uns zu bringen“ (Ebd., S. 130). Der Bezug zur diesseitigen Welt wird also schon in der Kritik der praktischen Vernunft hergestellt. 35 AA I,2, S. 123. 36 AA I,3, S. 97-99. Vgl. auch Hühn 1994, S. 155-167 zum Kontext der Briefe allgemein, insbesondere aber S. 164-166, wo die Gegenüberstellung von ‚unendlicher Aufgabe‘ im Kritizismus und ‚Vollendung‘ im Dogmatismus aufgezeigt wird, die auch mit dem Gedanken des höchsten Guts zu verbinden ist. 37 So leitet Schelling seine Sätze oft mit einer Captatio benevolentiae ein: „Aber er [Kant, A.B.] wußte es selbst am besten, daß [...]“ (AA I,2, S. 123).
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Aber es ist sehr begreiflich, warum man bei Kant, so oft von Glükseligkeit die Rede war, immer empirische Glückseligkeit verstand; aber zu verwundern ist, daß, so viel ich weiß, noch niemand die moralische Verderblichkeit eines solchen Systems gerügt hat, das empirische Glükseligkeit als mit Moralität, nicht durch inneren Zusammenhang, sondern blos durch äussere Kaussalität verbunden vorstellt.38
Der Vorwurf Schellings ist hart und doch zutreffend zugleich. Zwar unterscheidet Kant grundsätzlich zwischen empirischer und idealer Glückseligkeit. Aber zum einen gilt ihm die ,parteiische‘ Glückseligkeit als eine adäquate, die er in die Begriffsbestimmung des höchsten Guts implementiert, zum anderen wird bei ihm, gerade weil er eine Unterscheidung vornimmt, nicht immer deutlich, wann er von der einen oder der anderen Glückseligkeit spricht, da er diese Differenzierung nicht konsequent begrifflich umsetzt.39 Allzu leicht mag es daher fallen, empirische Glückseligkeit an Stellen des kantischen Textes einzusetzen, die ein solches Verständnis gerade nicht hergeben sollen. Wider die Absicht Kants mag sich seine Philosophie so als bloße ‚Glückseligkeitslehre‘ lesen lassen. Eine empirische Glückseligkeit ist allerdings nach Schelling nur ein dauerhaftes Streben „glükselig zu werden“40, während die ideale Glückseligkeit gerade in der Aufhebung ihrer selbst besteht und also für das Ich bedeutet, „ihrer ganz unfähig zu werden“41. Mit diesem Schritt leugnet Schelling nicht etwa das empirische Bestreben nach Glückseligkeit, er weist ein solches aber für die Bestimmung des höchsten Guts zurück. Dieser Kritik lässt sich eine andere, die mit dieser verbunden ist, zur Seite stellen. Schelling lehnt empirische Glückseligkeit als solche nicht ab, hält sie aber für ‚verderblich‘, wenn diese in ein äußeres Kausalitätsverhältnis mit ‚Moralität‘ gesetzt wird. Kant nehme allerdings eine solche Verknüpfung vor. Es ist zunächst fraglich, ob diese Kritik Schellings an Kant zutreffend ist. Denn obwohl Kant Moralität, also Sittlichkeit,42 und Glückseligkeit in ein Kausalitätsverhältnis setzt, soll dieses dezidiert nicht als „Causalität in der Sinnenwelt“43 verstanden werden, sondern wird als ein synthetisch-apriorisches Verhältnis aufgefasst, das doch stark an die von Schelling selbst angeführte Alternative eines ‚inneren Zusammenhangs‘ denken lässt. Vielleicht mag Schelling also Kant nicht gerecht werden, doch das, was er selbst unter dem höchstem Gut verstehen möchte, wird so klarer gefasst, wenn auch nur negativ als eines, in dem Sittlichkeit und Glückseligkeit gerade nicht in ,Proportion‘ zueinander zu entwickeln sind. Den Gedanken einer ‚idealen Glückseligkeit‘
38 AA I,2, S. 125 Anm. 39 Diese Aufspaltung in empirische und ideale Glückseligkeit widerfährt Kant nicht, sondern ist ausdrücklich beabsichtigt, vgl. KAA 6, S. 6 Anm. 40 AA I,2, S. 125. 41 Ebd. 42 Kant verwendet den Begriff ‚Sittlichkeit‘; sie – bei aller Differenzierungsmöglichkeit – mit ‚Moralität‘ gleichzusetzen, darf jedoch als legitim erachtet werden. 43 KAA 5, S. 114.
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und die Ablehnung einer bloß synthetischen Verknüpfung entfaltet Schelling auch im System.
3. Schellings Vorstellung vom höchsten Gut Ausgehend von dieser frühen Kritik an Kant entwickelt Schelling diese weiter und präzisiert sie im Rahmen der Weiterentwicklung seiner Philosophie. Zentral für Schellings Begriff vom ‚höchsten Gut‘ ist dessen radikale Engführung mit der „absolute[n] Identität“44, die Schelling nicht etwa als theoretische Abstraktion, sondern für ein „endliches Wesen“45 und also menschliches Streben entwirft. Am systematischen Ansatz Kants vermisst Schelling mithin die letzte Konsequenz, derer es bedarf, um Philosophie als eine Einheit konstruieren zu können. Schelling verwendet zwar die konstitutiven Elemente der kantischen Philosophie, erweitert diese aber auf ein Ziel hin, das Kant selbst nach Schelling wohl nur zu einseitig begriffen hat: Freiheit. Schelling verkehrt den Ansatz Kants entscheidend, indem die Pointe gerade darin liegt, die Glückseligkeit stärker noch als der Königsberger zu depotenzieren und darüber die Freiheit zu höherer Potenz zu erheben. Das höchste Gut bei Schelling ist dabei eine entscheidende Figuration nicht nur seines Staats-, sondern auch seines Systemdenkens insgesamt, die bisher von der Forschung zu wenig beachtet wurde.46 Denn mit diesem wird einerseits die 44 AA I,9,1, S. 299. 45 Ebd., S. 280. Schelling begreift die Ausführungen selbst seines Transzendentalsystems als „System der Endlichkeit“, das von der absoluten Identität erst hervorgebracht wird. 46 Habermas, Jähnig und Dierksmeier haben die Bedeutung des höchsten Guts erkannt, jedoch jeweils sehr unterschiedlich aufgefasst. Jähnig interpretiert das ‚höchste Gut‘ als „Idee der Gerechtigkeit“ (Jähnig 1966, S. 209) und hebt damit die orientierende Funktion des höchsten Guts für Schellings praktische und Rechts-Philosophie nicht eigens hervor. Der Aspekt der Gerechtigkeit muss nach der hier geführten Argumentation nur als ein aus dem höchsten Gut abgeleitetes Moment angesehen werden, das für den eigentlichen Gedankengang Schellings keine große Relevanz besitzt. Das höchste Gut selbst aber ist nicht Gerechtigkeit, die sich nur zwischen mehreren herstellen kann, sondern eine absolute Kategorie, die selbst keine Vielheit mehr kennt. Gegen Jähnigs These der Idee der Gerechtigkeit als höchstem Gut spricht zudem, dass sich gerade Schellings Rechtskonzeption moralischen Kategorien wie der Gerechtigkeit entzieht, vgl. Anm. 156. Habermas gibt hingegen am deutlichsten zu erkennen, dass gerade vom Gedanken des höchsten Guts, der auf die Rechtsordnung verweise, die gesamte Geschichtsphilosophie Schellings ausgehe, vgl. Habermas 1954, S. 165. Dierksmeier liefert die wohl konziseste und gleichwohl facettenreichste rechtsphilosophische Interpretation des höchsten Guts, welches er sowohl als das „gemeinsame Ziel von Moral und Recht“ als auch die „Harmonisierung von Freiheit und Notwendigkeit“ (Dierksmeier 2003, S. 154) begreift; vgl. für weitere Bestimmungen ebd., S. 154f. Dierksmeiers Interpretation des höchsten Guts ist auch hier richtungsweisend, aber sie geht gleichwohl fehl in der Annahme, dieses höchste Gut nicht als Maßstab für Schellings Rechtsordnung anzuerkennen (vgl. folgende Fußnote). Scribner liefert vielleicht die detaillierteste Interpretation des höchsten Guts. Allerdings betont er hauptsächlich den ethischen Charakter dieses Begriffs und Schellings Kritik an Kant, ohne allerdings die staatsphilosophischen Implikationen zu erörtern, vgl. Scribner 2000, S. 167-171.
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fortschreitende Konstitution des Bewusstseins gesichert, was an dieser Stelle des Systems bedeutet, dass sich das Ich seines Wollens bewusst wird und andererseits erhält der Staat durch das höchste Gut seinen Maßstab, an dem sich seine Rechtsverfassung orientieren soll. Gerade die Missachtung dieses letzten Aspekts innerhalb der Begriffskonstitution des höchsten Guts hat manchen Interpreten des Staatsentwurfes Schellings zu der Annahme verleitet, dass die Rechtsordnung im System „keine normative, sondern allenfalls technische Unverhältnismäßigkeit“47 kenne. Der Weg, den Schelling also einschlägt, ist ein ganz anderer als Kant. Ohne sich von der Konzeption des höchsten Guts verabschieden zu wollen, welches er als die dem menschlichen Streben vorzusetzende Orientierung begreift, entwickelt Schelling dieses höchste Gut nicht aus Sittlichkeit und Glückseligkeit, wie Kant sie verstanden hat. Schellings Begriff vom höchsten Gut versteht sich als der „in der Außenwelt herrschende reine Wille“48 und damit eine innere Freiheit nach dem Sittengesetz, die auch eine „äußere Freyheit“49 sein soll. Diese ‚Herrschaft‘ des reinen Willens, die sich auf die ganze Welt beziehen soll, ist eine Herrschaft der Freiheit, für die es von Grund auf irrelevant ist, auf welche Weise sie sich ausgestaltet, solange nur Freiheit die Speerspitze dieses gesamten (Welt-)Entwurfs bildet. Eine solche Herrschaft positioniert Freiheit von Grund auf in einem gesellschaftlichen und staatlichen Kontext, der die individuelle Bestrebung zu einem höchsten Gut lenkt und strukturiert. Wenn daher das höchste Gut und damit auch äußere
47 Dierksmeier 2003, S. 157, vgl. S. 156f. Dierksmeier setzt bei seiner Erörterung der Staatskonzeption Schellings im System unmittelbar mit dem Gedanken des höchsten Guts ein, vgl. ebd., S. 154. Dierksmeier sieht allerdings im höchsten Gut keinen Maßstab für Schellings Rechtsordnung, weil es nur ein ‚außerhalb des Rechtsmechanismus liegender Zweck‘ sei. Obwohl Dierksmeier insofern richtig liegt, als dieser Zweck für das „Recht als Recht“ (ebd., S. 157) nicht veranschlagt werden kann, so wird dieser Zweck doch „nur von Vernunftwesen in sie [die ‚zweite Natur‘ / Rechtsverfassung, A.B.] gelegt“ (AA I,9,1, S. 282; vgl. auch Abs. 6 dieses Aufsatzes). Extrapoliert man diesen entscheidenden Aspekt der Rechtskonzeption Schellings, lässt sich sein Staatsentwurf als solcher zwar fassen, der Maßstab aber, unter dem dieser Entwurf entwickelt wird, gerät so außer Blickweite. Die schwerwiegende Folge besteht dann darin, die ganze Staatskonzeption in ihrer Zwecksetzung zu verfehlen. Nur ein Beispiel für die daraus entstehenden Fehleinschätzungen sei hier angebracht. Dierksmeier schreibt: „Die normative Unbestimmtheit des bloß funktionalen Rechtsbegriffs schlägt um in inhaltliche Unbeschränktheit, wenn Schelling etwa dafür plädiert, daß in der Rechtsverfassung ,Insurrektion […] [so] unmöglich sein muß als in einer Maschine‘“ (Dierksmeier 2003, S. 156). Hier unterschlägt Dierksmeier, dass diese Unmöglichkeit des politischen Aufstands nur in einem utopischen Zustand gegeben ist, in welchem nicht einzelne Menschen, sondern ‚das Volk‘ selbst mit der höchsten Gewalt in Einklang steht. Bis dahin nämlich ist gerade ganz im Gegenteil die „Insurrection unvermeidlich“ (AA I,9,1, S. 285), – wie es vollständiger bei Schelling heißt und gerade nicht ‚unmöglich‘. Die Norm liegt immer im höchsten Gut, das die Harmonie von innerer und äußerer Freiheit und damit freiheitliches Zusammenleben aller zum Ziel hat. Jede Verfassung, die dieses Ziel nicht erreicht, mündet in einem Aufstand gegen die Verfassung, der „unvermeidlich und um so gewisser ist, je vollkommener sie in formeller Rücksicht seyn mag“ (Ebd., S. 284). Vgl. auch die Ausführungen in Abs. 7. 48 Ebd., S. 280. 49 Ebd., S. 292.
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Freiheit stattfinden soll, die in einer freien Gemeinschaft besteht, bedarf es eines Rechtsgesetzes „zum Behuf der Freyheit“50, das sich in einem Staat verwirklichen muss. Ein solches Gesetz ist notwendig, da sich die einzelnen Menschen in ihren Verwirklichungsbestrebungen nicht auf ein höchstes Gut richten müssen, sondern vielmehr in den Akten ihrer Willkür gerade eine allumfassende Freiheit verhindern. Obwohl das höchste Gut den Endzweck für den einzelnen Menschen darstellen soll, wird dieser also entweder vereitelt, indem sich Menschen ihrer Freiheit berauben, oder dadurch verfehlt, dass „bey weitem die meisten sich jenen Zweck nicht einmal denken“51. Die Gefahr, das höchste Gut entweder aus Ignoranz oder willentlich nicht anzustreben, ist nicht nur groß, sondern geradezu der Boden, auf dem eine staatliche Rechtsordnung entsteht. Gerade in der Willkür besteht ein strukturell notwendiger Zufall, den Schelling, diesen Widerspruch von Notwendigkeit und Freiheit gleichsam auf die Spitze treibend – als „absoluten Zufall“52 bezeichnet. Der Staat reagiert auf diese Bedrohung, indem er mittelbar gegen die das höchste Gut gefährdende Willkür angeht, orientiert wird er aber gerade deshalb an dem höchsten Gut selbst, welches als Idee von einzelnen Menschen ausgeführt werden soll.53 Schelling geht also vom ‚reinen Willen‘ aus, der als das reine freie Selbstbestimmen das Wollen selbst des Menschen ist.54 Wenn Schelling aber die Identifizierung von Außenwelt und reinem Willen fordert, dann geht er über die Struktur der Willkür hinaus, die prinzipiell diese Identifizierung schon durchgeführt hat. Denn gerade mit der Willkür hat Schelling bereits die „Erscheinung des absoluten Willens“55 gefunden, welche diese absolute Freiheit als „Phänomen“56 darstellen konnte. Dabei konzediert Schelling Kant diesen Gegensatz von Willkür und absolutem Willen in die philosophische Debatte eingeführt zu haben, jedoch wären sie nicht in ihr „wahres Verhältniß“57 gesetzt worden, wie Schelling in Bezug auf die erst 1797 publizierte Rechtslehre in der Metaphysik der Sitten konstatiert.58 Schelling sucht 50 51 52 53
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Ebd., S. 281. Ebd., S. 295. Ebd., S. 281. In gleicher Weise wie hier von Orientierung gesprochen wird, hat bereits Jacobs die ‚Idee des Rechts‘ als Orientierung für den Staat bezeichnet. Orientierung müsse so verstanden werden, dass sie, wie bei einem Seefahrer der Polarstern, nicht Zielpunkt, sondern Orientierungspunkt sei, vgl. Jacobs 1993, S. 225, insbes. Anm. 62. Dieser Terminologie schließe ich mich an. Der reine Wille ist „(d)er Wille absolut betrachtet“, der „ursprünglich nichts anderes zum Objekt [hat] als das reine Selbstbestimmen“ (AA I,9,1, S. 275). Schelling verwendet das Adjektiv ‚rein‘ für diese ideelle Struktur des Wollens, vor allem mit Blick auf die andere ideelle Tätigkeit, welche in die objektive Tätigkeit eingegangen ist, die also ideelle und reelle Tätigkeit zugleich einschließt, vgl. ebd., S. 270. Es wäre legitim, den ‚reinen Willen‘ terminologisch als ‚Sittlichkeit‘ aufzufassen. Ebd., S. 275. Ebd., S. 276f. Vgl. AA I,4, S. 137. Im System ist die Willkür das ‚Phänomen des absoluten Willens‘ und in der Allgemeinen Übersicht das ‚Phänomen des Willens‘. Zur systematischen Parallelität beider Texte vgl. Anm. 64. AA I,9,1, S. 276. Ebd., S. 276.
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dieses gewissermaßen wahre Verhältnis in einem affirmativeren Begriff von Willkür. Der Gegensatz von absolutem Willen und Willkür gilt bei Schelling und Kant gleichermaßen, ebenso wie beide in einer bloßen Willkürfreiheit die Auflösung jedweder Freiheit erblicken. Schelling jedoch sieht in der Willkür des „gemeinen Bewußtseyn[s]“59 noch viel schärfer als Kant den objektiven Freiheitsvollzug gegründet, denn „die Erscheinung des absoluten Willens erst ist die eigentliche Freyheit“60. Als solche aber ist Willkür zwar die „Anschauung des absoluten Willens selbst“, aber zugleich das „Absolut-Subjective“61, welches somit immer nur unmittelbar den absoluten Willen verwirklicht, ohne dass diese Freiheit selbst erfasst wäre. Die Willkür unternimmt diese Identifizierung allerdings in einer Weise, in der nie sichergestellt ist, dass sie auf den reinen Willen geht, sie sei schließlich, so die entscheidende Pointe, ein „Wollen“, in welchem „wir […] uns einer Wahl zwischen Entgegengesetzten bewußt werden.“62 Mit Dieter Jähnig kann diese Entgegensetzung nicht anders als der „Gegensatz von Gut und Böse“63 aufgefasst werden. Allerdings lässt sich dieser Gegensatz von Gut und Böse nicht direkt aus dem System ablesen. Auch Jähnig kann letztlich diesen Bezug zum Guten und Bösen nur aus Schellings Verweis auf Kants Religionsschrift deuten.64 Wenn der Staat Willkür begrenzt, dann geht er nicht gegen die Willkür selbst an, sondern gegen das 59 60 61 62 63 64
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Ebd., S. 275. Ebd., S. 276. Ebd. Ebd., S. 275. Jähnig 1966, S. 202. Vgl. Jähnig 1966, S. 204. Schelling spielt auf die intelligible Tat an, indem er auf „einen ursprünglichen Akt der Freiheit“ in Kants Religionsschrift verweist, der „nicht zum Bewußtseyn kommt“ (AA I,9,1, S. 279). Vgl. zu dem ‚Hang zum Bösen’, dem ‚radikal Bösen‘ und der ‚intelligiblen Tat‘ insbes. KAA 6, S. 30-32. Mit der Allgemeinen Übersicht lässt sich allerdings die These bestätigen, dass das Bewusstsein der Willkür in der Wahl zwischen Gutem und Bösen besteht und diese „positiv und real entgegengesetzt“ (AA I,4, S. 157), weil Schelling dort die tatsächliche Auseinandersetzung mit Kants Religionsschrift durchführt. Da Schelling sich im System nicht ausdrücklich zum Phänomen des Bösen äußert und auch das problematische Verhältnis von Willkür und absolutem Willen weitgehend ausklammert, sondern durch seine Verweise auf Kants Religionsschrift und dessen späte Rechtsschrift vielmehr einen Subtext in das System einschreibt, der gewissermaßen zum Verständnis der Thematik vorausgesetzt wird, müssten diese Voraussetzungen anhand der Allgemeinen Übersicht zunächst erschlossen werden, die sich direkt mit diesen Schriften auseinandersetzt. Der Autor hat solche Erörterungen zur Allgemeinen Übersicht als Subtext zum System bereits seit längerem entworfen und wird sie an geeigneter Stelle publizieren. Stolzenberg 2004, S. 285 Anm. 12 deutet bereits an, dass Schelling mit der Allgemeinen Übersicht erstmals das Programm entwirft, das zwei Jahre später zur systematischen Entfaltung gelangt. Stolzenbergs Artikel ist der erste, der sich dem Reinhold-Kant-Streit in der Rezeption bei Schelling widmet. Während Stolzenberg sehr zutreffend die Bedeutung der Metaphysik der Sitten herausstreicht, geht er nicht auf die Religionsschrift Kants ein, obwohl Schelling diese ausdrücklich und an entscheidender Stelle (AA I,4, S. 167f.) erwähnt. Zöller 2005 hinwiederum hebt gerade hervor, dass Kants Rechts- und Religionsschrift in diesem Streit in einem unauflöslichen Zusammenhang stehen. Vgl. zuletzt zur Reinhold-Kant-Debatte bei Schelling auch Noller 2016, S. 300-309.
Böse, zu dem sich die Willkür immer entscheiden kann. Aus dieser Haltlosigkeit von Gut und Böse tritt die Willkür als die Instanz auf, welche die Spannung zwischen diesen beiden Polen hervorkehrt und bricht, sie also bewahrt und übersteigt, indem sie das Schweben zwischen Gutem und Bösen in einen Möglichkeitshorizont spontaner, selbstbestimmter und konkreter Handlung überführt. Die „Willkühr“65, welche der eigentliche Ausdruck dieses Selbstbestimmens ist, schwebt zwischen der subjektiven Tätigkeit, die in der Reflexion das Sittengesetz ist und der objektiven Tätigkeit, die in der Reflexion der Naturtrieb ist.66 Willkür kann die Identifizierung so durchführen, dass der reine Wille dem Naturtrieb untergeordnet wird und die Identifizierung gewissermaßen zu Gunsten des Bösen geschieht. Die sittlich-gute Identifizierung ist dadurch nie notwendig gewährleistet, sondern hängt von der Willkür ab, die sich für das Gute oder Böse entscheidet. Somit besteht das Problem, dass der Mensch einerseits diese absolute Selbstbestimmung – wenn auch in einem sekundären Modus – erfassen kann, andererseits auch wirklich etwas durch sein Wollen bewirkt, sein Wirken aber und die Außenwelt, auf die er wirkt, nicht notwendig solcherart verbunden sind, dass das von ihm Gewollte sich immer umsetzen ließe.67 Um aber überhaupt diesen Begriff von Willkür und damit auch das Bewusstsein des absoluten Freiheitsaktes erster Potenz zu erhalten, muss sich das reine Selbstbestimmen, das noch nicht „das sich selbst Bestimmende in der zweyten Potenz“68 ist, von einem äußeren Objekt abhängig machen, gegen welches allein sich der reine Wille als sittliche Freiheit dem Menschen widerspiegelt. Dieses äußere Objekt aber, das ja eigentlich nur die eigene Tätigkeit des Ich ist, besitzt „an sich keine Realität“ und ist nur die „äußere Grundlage“69 des menschlichen Handelns. Als diese Grundlage ist sie vom reinen Willen unabhängig und steht damit nie unter der direkten Verfügungsgewalt dieses Willens selbst. Sofern der „reine Wille […] nicht sich 65 AA I,9,1, S. 275. 66 Nach Schelling bestehen die verschiedenen philosophischen Systeme bisher darin, entweder nur auf die objektive Tätigkeit zu reflektieren, dadurch nur den Naturtrieb zu erfassen und in einem Determinismus zu münden, oder in der eingeschränkten Reflexion nur die subjektive Tätigkeit gelten zu lassen und Freiheit nur in einer reinen Vernunft zu ermöglichen. Eine eingeschränkte Reflexion, die entweder die objektive oder die subjektive Tätigkeit ohne diese Willkür, also ohne dieses ‚Bestimmende‘ erfasst, begreift entweder nur den Naturtrieb, der in einem Determinismus der Naturnotwendigkeit mündet oder vollzieht Freiheit nur mit dem Sittengesetz als absolutes Wollen, kann dann aber keine Fremdbestimmung denken, vgl. ebd., S. 277f. 67 Fichte hat diesen Gedanken in seiner Sittenlehre nochmals ausgeführt: „Wir sind uns unmittelbar bewußt unsers Begriffs vom Zwecke, des eigentlichen Wollens; einer absoluten Selbstbestimmung, wodurch gleichsam das ganze Gemüth auf einen einzigen Punkt zusammengefaßt wird. Wir werden uns ferner unmittelbar bewußt der Realität, und wirklichen Empfindung des vorher nur im Zweckbegriffe gedachten Objects, als eines in der Sinnenwelt wirklich gegebnen. […] Keineswegs bewußt sind wir uns des Zusammenhanges zwischen unserm Wollen und der Empfindung der Realität des gewollten.“ (GA I,5, S. 78f.). 68 AA I,9,1, S. 277. 69 Ebd., S. 278.
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selbst Object werden [kann], ohne die Außenwelt mit sich selbst zu identificiren“70, bleibt diese ‚Identifizierung‘ immer prekär und verlangt nach Stabilisierung. Wenn diese Identifizierung nicht gesichert ist, dann ist auch die ‚eigentliche Freiheit‘ des Menschen immer gefährdet. Jede Bestrebung muss also dahin gehen, den reinen Willen und die Außenwelt auf Dauer miteinander zu identifizieren. Ausdruck dieser Identifizierung ist das höchste Gut, welches das Individuum erstreben soll, das in intellektuell-sittlicher und endlich-glückseliger Hinsicht vollkommen sittlich mit sich und der Welt übereinstimmen soll. Der Zustand dieses höchsten Gutes, der einer Utopie gleicht, würde die Freiheit nicht nur als absolut-subjektives Moment fassen. Einerseits würde sich Freiheit im Bestreben, das höchste Gut zu erreichen, in die Welt als äußere Freiheit unendlich verbreiten, andererseits würde, wenn das höchste Gut wirklich sein würde, „es eben damit um die Erscheinung der Freyheit geschehen“71 sein, denn dann wäre tatsächlich überall Freiheit, und wo überall Freiheit ist, ist keine Freiheit.72 Die Identität des reinen Willens mit der Außenwelt kann prinzipiell von zwei Seiten gedacht werden, d.h. dass der reine Wille sich mit der Außenwelt oder dass sich die Außenwelt mit dem reinen Willen identifiziert. Erst beide Formen zugleich ergeben die Identifizierung, die Schelling denken möchte, da erst mit ihr nicht nur der reine und gewissermaßen intelligible Mensch, sondern der wirklich handelnde Mensch mit sich selbst übereinstimmt. Wenn der reine Wille sich mit sich selbst identifiziert, wird er sich selbst als das reine praktische Selbstbestimmen zum Objekt, was zwar die Dimension des Sittlichen als solche erst eröffnet, ohne ein außerweltliches Korrelat aber nur einer bloß „formalen Sittlichkeit“73 entspräche. Eine Identifizierung des reinen Willens mit der Außenwelt hingegen bringt diese Sittlichkeit zum Vorschein und macht sie bewusst. Wird von der anderen Seite die Außenwelt mit dem reinen Willen identifiziert, dann wird „nichts anderes gedacht, als eben die Identität des vom Wollen unabhängigen mit dem Wollen selbst.“74 Diese Identifizierung entspricht dem Begriff der Glückseligkeit, der „genau analysiert“ für ein ‚Sollen‘ einsteht, denn obwohl Glückseligkeit das Objekt des Naturtriebes ist, „soll […] das Object […] ein und dasselbe Object seyn mit dem reinen Willen selbst“75. Damit hat Schelling aufgezeigt, dass Naturtrieb und reiner Wille die beiden Seiten des höchsten Guts sind. Die eigentliche und entscheidende Bestrebung Schellings aber ist, diese sich in endlicher Hinsicht immer ausdifferenzierenden
70 Ebd., S. 280. 71 Ebd., S. 300. Vgl. auch ebd., S. 313. 72 Schelling beschreibt diesen Zustand bereits in seiner Naturrechtsdeduktion: „Hätten alle moralischen Wesen das höchste Ziel erreicht, so wäre ihre Kausalität Eine und dieselbe, kein Widerstreit, sondern absolute Übereinstimmung.“ (AA I,3, S. 143) Vgl. auch Folkers 1989, S. 110. 73 AA I,9,1, S. 280. 74 Ebd. 75 Ebd.
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Seiten zusammenzubringen zu einem nicht-endlichen höchsten Gut, das beide Seiten zuletzt als ein „schlechthin Identische[s]“76 begreift. Beide Seiten haben „Ein und dasselbe Object, nur von verschiedenen Seiten angesehen“77. Selbstbestimmen bleibt so nicht nur formal, sondern bezieht sich auf das unendliche und endliche Ich im Ganzen und damit auf innere und äußere Freiheit. Die Voraussetzung eines in sich harmonischen Wollens, das sein Wollen als Idee will, ohne der Beeinflussung durch die Außenwelt zu unterliegen, ist die eine Gedankenfigur, die für ein höchstes Gut vorgestellt werden muss. Eine noch größere Schwierigkeit besteht, wenn durch das höchste Gut nicht nur die interne Harmonie des intellektuellen Wollens gewährleistet sein soll, sondern dieses Wollen selbst noch gleichsam zusätzlich mit der Außenwelt harmonisiert vorgestellt wird. Genau diesen Gedankengang vollzieht Schelling allerdings mit der Figur des höchsten Guts. Die innere Freiheit eines freien Selbstbestimmens muss ergänzt werden durch die äußere Freiheit. Diese Ergänzung lässt sich durch einen ‚genau‘ gefassten Begriff von Glückseligkeit denken, der eine solche Identität darstellt. Dieser genaue Begriff ist eben die ‚ideale Glückseligkeit‘, die Schelling von Kant her gegen Kant wendet, indem er das rein Empirische der Glückseligkeit depotenziert. Schelling geht also über Kant hinaus, weil er das höchste Gut selbst als praktische Möglichkeit nicht in diese zwei Seiten auftrennt, sondern eine quasi absolute Harmonie denkt, die als letztes Ziel jeder menschlichen Bestrebung aufgestellt werden müsse, selbst wenn sie im Handeln des Einzelnen immer auseinanderdriftet. Diese Harmonie klafft also in der Idee gerade nicht in die vollkommen reine Struktur des Selbstbestimmens als ,formale Sittlichkeit‘ und die vollständige glückselige Befriedigung auseinander – das „unmittelbare Object alles Strebens ist nicht der reine Wille, ebensowenig Glückseligkeit“78 heißt es in aller Deutlichkeit –, sondern beide Seiten werden als absolute Selbstbestimmung des Menschen im Ganzen vorgestellt, welche mit sich in jeder Hinsicht identisch ist. Diese allumfassende Totalität ist eine vermeintlich gottgleiche Vorstellung, die Schelling allerdings in dieser Schärfe nicht denkt und nicht denken darf, steht doch auch das System potentiell unter dem Verdacht des Atheismus, ein Vorwurf, der ja bekanntermaßen gegen Fichte im berühmten ‚Atheismusstreit‘ erst kurz zuvor erhoben worden war.79 Schelling parallelisiert demnach dieses Ziel des höchsten Guts gerade explizit nicht mit Gott; das höchste Gut bleibt Orientierungspunkt. Gerade Fichte jedoch räumt in einem ähnlichen – im nächsten Abschnitt näher zu erörternden – Kontext mit der ihm eigenen Klarheit offen ein, dass dieser Zustand 76 77 78 79
Ebd. Ebd. Ebd. Zumindest zeitweilig zerstörte diese Kontroverse bekanntlich nicht nur Fichtes akademische Existenz. Aus der umfänglichen Literatur zum Atheismusstreit, sei nur Dierksmeier 2003, S. 88 und S. 125 erwähnt, über den sich weitere Literatur erschließen lässt.
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des höchsten Guts zwar unerreichbar ist und sein muss, aber nur „wenn der Mensch nicht aufhören soll, Mensch zu seyn, und wenn er nicht Gott werden soll.“80 Gleichwohl dieser Schritt ganz gewiss schon einen Schritt über Schelling hinaus darstellt, wird deutlich, dass Schelling gerade gegen Kant beide Seiten als „schlechthin eins“ bezeichnet und „kein synthetisches Verhältniß zwischen beyden“81 annimmt, da sie sonst „gar nicht existiren können.“82 Diese Hervorhebung, dass reiner Wille und Glückseligkeit nicht synthetisch aufeinander bezogen werden dürfen, richtet sich in der im letzten Abschnitt angeführten Hinsicht gegen Kant, der ja gegenteiliger nicht hätte formulieren können, dass Glückseligkeit und Sittlichkeit nur synthetisch zusammengebracht werden können, indem Sittlichkeit Glückseligkeit zur Folge habe.83 Diese schlechthinnige, absolute Einheit schließt Synthesis aus. Schelling denkt zwar Glückseligkeit und reinen Willen als einzelne Formen, entwirft diese Unterscheidung auch als eine stets zu beachtende, da beide Seiten sonst nur auf verwerfliche Art miteinander verknüpft werden könnten; ihre ‚Existenz‘ allerdings beziehen sie aus dem je anderen, mit dem sie absolut identisch sein sollen. Es verbietet sich daher jede Entzweiung im Binnenhaushalt des höchsten Guts, welches als Idee eigentlich keinen Binnenhaushalt hat. Die Entschärfung – wenn es denn eine Entschärfung ist –, die Schelling gegenüber Fichte allerdings vornimmt, begreift diese absolute Harmonie des Ich mit sich selbst nur als einen „sichtbare[n] Ausdruck seines [des Ich, A.B.] Wollens“84. Ein Ausdruck aber ist eben nie die ‚Sache‘ selbst, sondern von vornherein eine nur sekundäre Form der Er80 81 82 83
GA I,3, S. 32. AA I,9,1, S. 280. Ebd., S. 280. Vgl. insbes. KAA 5, S. 114f. und die Ausführungen des vorherigen Abschnitts. In den Briefen hat Schelling diese Kritik noch moderater ausgeführt, ohne jedoch auch dort zu verhehlen, was sein eigentliches ‚Ziel‘ ist: „Denn alle Philosophie fordert als Ziel aller Synthesis absolute Thesis. Absolute Thesis aber ist nur durch absolute Identität denkbar.“ (AA I,3, S. 97) Die radikale Abkehr von einem synthetischen Verhältnis von Sittlichkeit und Glückseligkeit hat Schelling hier noch nicht vollzogen, als solche gilt sie ihm als durchaus legitimer philosophischer Weg, beide zu verknüpfen. Diese Synthesis führe der Dogmatismus von einer bedingenden Glückseligkeit hin auf Moralität durch, der Kritizismus, also Kant, führe sie umgekehrt von der Moralität als Grund zu seiner Folge als Glückseligkeit durch. Schelling unterstellt beiden Richtungen, dass sie je für sich auf dieses eine Ziel hinsteuern würden, wohlwissend, dass diese in ihrem Selbstverständnis eine solche Identifizierung nie erreichen würden. Schellings Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie von 1803 vertritt den, im Durchgang durch das System ausgebildeten, Standpunkt einer Abkehr von der ‚synthetischen Methode‘ viel stärker: „Von dieser absoluten Methode ist, was man in der letzten Zeit die synthetische genannt hat, zwar das wahre, aber in der Reflexion auseinander gezogene Bild. Denn was diese als einen Fortgang und in der Thesis, Antithesis und Synthesis außer einander vorstellt, ist in der wahren Methode und in jeder ächten Construction der Philosophie Eins, und in einander. Die Thesis oder das Categorische ist die Einheit, die Antithesis oder das Hypothetische ist die Vielheit, was aber als Synthesis vorgestellt wird, ist nicht an sich das Dritte, sondern das Erste, die absolute Einheit, von der Einheit und Vielheit in Entgegensetzung selbst nur die verschiedenen Formen sind“ (AA I,12,1, S. 136, vgl. auch AA I,14, S. 303f.). 84 AA I,9,1, S. 255.
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kenntnis dieses Wollens, welche als ‚Sache‘ selbst nicht erschlossen werden kann.85 Die menschliche Freiheit der Willkür, die ja den Ausdruck des absoluten Wollens darstellt, ist daher nie das Höchste an sich. Sie ist allerdings das Höchstmögliche für den Menschen, während das Höchste selbst, das Prinzip der Freiheit, unerreicht bleibt. Der Mensch allerdings erstrebt die absolute Freiheit, die erst sein Selbstbestimmen verbürgt. Die ‚Sache‘ aber wird er ausweislich seiner Begrenztheit selbst nicht als Sache zu begreifen vermögen. In gleichem Maße wie diese Einschränkung für die Willkür zu gelten hat, muss sie auf den Staat übertragen werden, der sich auf einer Ebene manifestiert, die nur mit Willkür operiert. Der Staat ist der höchstmögliche äußere und damit wirkliche Ausdruck des absoluten Wollens, selbst wenn er wiederum als solcher nur temporäres Objekt dieses Freiheitsausdruckes ist, der selbst von einer ‚absoluten Identität‘ abhängt. Die orientierende Funktion und nicht die Faktizität des höchsten Guts wird hier einmal mehr deutlich.
4. Sollen, Scheitern, Geschichte und Kunst In der praktischen Philosophie, in deren Rahmen Staat und Geschichte verhandelt werden, wird das Ziel des ganzen Systems, die Zurückführung in seinen Anfang,86 nicht erreicht. Über die Teleologie findet das System erst in der Kunst sein Ziel. Schellings Staatskonzeption, die prinzipiell, wie alle Stufen oder Epochen im System, als Abschlussfigur auftritt, wird letztlich durch Kunst relativiert. Der absolute Charakter der Rechtsverfassung mündet doch in ihrem Scheitern, das ständiger geradezu im doppelten Sinne prometheischer Begleiter des Staates wird: Der Staat ist ein Prometheus an Kraft, aber auch an Scheitern. Sein Leben wird ihm gewissermaßen täglich genommen, um es ihm am nächsten Tag zurückzugeben und nur um wiederum seinen Tod sogleich aufs Neue herbeizuführen. Die mit dem höchsten Gut verknüpfte Idee eines ‚schlechthin Identischen‘ impliziert ein Sollen, eine Forderung, die der Verwirklichung bedarf. An dieser Stelle zeigt sich, wie stark Schelling doch an das ‚Sollen‘ Fichtescher Prägung anknüpft und sich dessen Kant-Kritik zu eigen macht, die Fichte sehr früh und nie wieder so explizit wie in seiner Vorlesung Über die Bestimmung des Menschen an sich ausgeführt hat.87
85 Zur Differenz von ‚Sache‘ und ‚Ausdruck‘, insbesondere in Bezug auf Fichte, vgl. Hühn 1994, S. 132-135. 86 Vgl. für diesen wichtigen Systemanspruch Schellings etwa: „Nun ist aber das System des Wissens nur alsdann als vollendet zu betrachten, wenn es in sein Princip zurückkehrt. – Die Transscendental-Philosophie wäre also nur alsdann vollendet, wenn sie jene Identität – die höchste Auflösung ihres ganzen Problems – in ihrem Princip, (im Ich) nachweisen könnte.“ (AA I,9,1, S. 39). 87 Diese Vorlesung publizierte Fichte 1794 neben anderen unter dem Titel Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten. 1797 erhielt die Publikation eine zweite Auflage. Der
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Fichte hat das im letzten Absatz beschriebene ‚schlechthin Identische‘ in dieser Vorlesung als ‚vollkommene Übereinstimmung‘ begriffen, gleichwohl ohne diese sofort wie Schelling als ‚Ausdruck‘ zu fassen: Die vollkommene Uebereinstimmung des Menschen mit sich selbst, und – damit er mit sich selbst übereinstimmen könne – die Uebereinstimmung aller Dinge ausser ihm mit seinen nothwendigen praktischen Begriffen von ihnen, – den Begriffen, welche bestimmen, wie sie seyn sollen, – ist das lezte höchste Ziel des Menschen. Diese Uebereinstimmung überhaupt ist, daß ich in die Terminologie der kritischen Philosophie eingreife, dasjenige, was Kant das höchste Gut nennt: welches höchste Gut an sich, wie aus dem obigen hervorgeht, gar nicht zwei Theile hat, sondern völlig einfach ist: es ist – die vollkommene Uebereinstimmung eines vernünftigen Wesens mit sich selbst. In Beziehung auf ein vernünftiges Wesen, das von den Dingen ausser sich abhängig ist, lässt dasselbe sich als zweifach betrachten – als Uebereinstimmung des Willens mit der Idee eines ewig geltenden Willens, oder – sittliche Güte – und als Uebereinstimmung der Dinge ausser uns mit unserm Willen (es versteht sich mit unserm vernünftigen Willen) oder Glückseeligkeit.88
In dieser Passage manifestiert sich die grundsätzliche Konformität der Gedanken von Fichte und Schelling. Fichte stellt hier sehr klar heraus, was Schelling sechs Jahre später umso stärker betonen wird: Das oberste Ziel als solches ist die vollkommene Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst, aber damit er mit sich selbst übereinstimmen kann, muss auch die Außenwelt in diese Übereinstimmung gleichsam einstimmen. Dieses quasi zweite Einstimmen aber wird nur durch Glückseligkeit gewährleistet. Was Fichte hier allerdings noch stärker als Schelling herausstreicht, ist die Qualifizierung dieser totalen Übereinstimmung als ein ‚Sollen‘.89 Dieses Sollen impliziert die Unendlichkeit, die sich schließlich auch bei Schelling darin widerspiegelt, dass die wahre Rechtsverfassung nur in „allmählige[r] Annäherung“90 realisiert werden kann. Scheitern ist in dieser Form schon immer mitgedacht, zwar zunächst als ein produktives Scheitern, das für Verbesserungen und
Gedanke des höchsten Guts, den Schelling verwendet, findet sich in der Form weder in der Sittenlehre noch im Naturrecht Fichtes. 88 GA I,3, S. 32. Fichte formuliert dies mehrmals in ähnlicher Weise, z.B. in der Sittenlehre: „Man versetze das Ich in Handlung. Es bestimmt sich, wie sich versteht, durch sich selbst, unabhängig vom Naturtriebe, oder der Foderung, denn es ist formaliter frei.“ Bestünde die Konstruktion des höchsten Guts nur aus dieser Ebene, bliebe es bei der von Schelling kritisierten formalen Freiheit, aber „erfolgt eine Bestimmung, wie sie zufolge der Foderung erfolgen sollte; so sind beide, das Subject des Triebes, und das wirklich Handelnde, harmonisch.“ (GA I,5, S. 137). 89 Allein schon formal lässt Schelling in dem Satz „Beide [Glückseligkeit und reiner Wille, A.B] sollen schlechthin eins werden“ erkennen, dass der Akzent mehr auf dem Aspekt der Identität liegt, das Sollen kehrt er an dieser Stelle nicht eigens hervor. 90 AA I,9,1, S. 291.
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Fortschritt einsteht, später und vor allem bei Hegel, der diese Kritik eben gerade an Fichte führt, als ein Scheitern mit sehr pejorativen Konnotationen.91 Schelling formuliert im System, dass „[d]ieses schlechthin Identische, der in der Außenwelt herrschende reine Wille, […] das einzige und höchste Gut“92 sei. Als dieses höchste Gut, das an sich unendliche Harmonie verkörpert, ist es aber immer schon in die Klammer der Endlichkeit gesetzt, weil es auf menschliches Streben bezogen ist. Das höchste Gut ist dabei in seiner Ausformung immer schon einem Scheitern anheimgestellt, nämlich mit der Endlichkeit des Menschen immer wieder verloren zu gehen. Dieses Scheitern aber wird in zweierlei Hinsicht relativiert. Zum einen soll das Bewusstsein dieses Scheiterns der Verwirklichung des höchsten Guts dem einzelnen, menschlichen Bestreben nicht zukommen, zum anderen geht das einzelne Bestreben in der Menschengattung auf und die Verwirklichung des höchsten Guts wird nicht im Einzelnen, sondern für das Ganze der Menschen betrachtet, weshalb jede Gesellschaft an die Positionen der ihr vorhergehenden anknüpfen kann.93 Damit allerdings wird schon die Rolle der Geschichte als Thema von Schellings praktischer Philosophie tangiert. In der Geschichte ist das höchste Gut wie für die Rechtsverfassung nur Orientierung an einem Reich Gottes, das selbst nie verwirklicht wird: „Gott ist nie“94. Schellings Philosophie, die sich in seiner praktischen 91 Die Figur des ‚perennierenden Sollens‘ ist wohl die berüchtigtste Figur, mit der Hegel in der Phänomenologie des Geistes das Sollen bei Fichte, aber auch bei Kant kritisiert, vgl. Hegel 1980, S. 326-328. 92 AA I,9,1, S. 280. 93 Zwei Sätze seien hier zitiert, die beide Aspekte gut veranschaulichen und zeigen, dass Schellings Rechtsordnung letztlich in einem grundsätzlichen Optimismus einbehalten bleibt: „Daß aus dem völlig gesetzlosen Spiel der Freyheit, das jedes freye Wesen, als ob kein anderes ausser ihm wäre, für sich treibt (welches immer als Regel angenommen werden muß), doch am Ende etwas Vernünftiges und Zusammenstimmendes herauskomme, was ich bey jedem Handeln vorauszusetzen genöthigt bin, ist nicht zu begreifen, wenn nicht das Objective in allem Handeln etwas Gemeinschaftliches ist, durch welches alle Handlungen der Menschen zu Einem harmonischen Ziel gelenkt werden, so, daß sie, wie sie sich auch anstellen mögen, und wie ausgelassen sie ihre Willkühr üben, doch ohne, und selbst wider ihren Willen, durch eine ihnen verborgene Nothwendigkeit, durch welche es zum voraus bestimmt ist, daß sie eben durch das Gesetzlose des Handelns, und je gesetzloser es ist, desto gewisser eine Entwicklung des Schauspiels herbeyführen, die sie selbst nicht beabsichtigen konnten, dahin müssen, wo sie nicht hin wollten. Diese Nothwendigkeit selbst aber kann nur gedacht werden durch eine absolute Synthesis aller Handlungen, aus welcher alles, was geschieht, also auch die ganze Geschichte sich entwickelt, und in welcher, weil sie absolut ist, alles zum voraus so abgewogen und berechnet ist, daß alles, was auch geschehen mag, so widersprechend und disharmonisch es scheinen mag, doch in ihr seinen Vereinigungsgrund habe und finde.“ (Ebd., S. 297). 94 Ebd., S. 301. In der Entscheidung, ob der Mensch oder Gott sein soll, entscheide sich Schelling, so Horst Folkers, im System für den Menschen. Folkers hat herausgestellt, dass diese Pointe in Gegensatz zu sowohl Schellings frühestem als auch seinem identitätsphilosophischen Denken trete, die beide ein ‚Reich Gottes‘ tatsächlich für wirklich erachten würden, vgl. Folkers 1989, S. 110f. Gleichwohl muss wenigstens für den jungen Schelling der Briefe entgegengehalten werden, dass auch er das ‚Reich Gottes‘ und damit die Konzeption eines letzten Zieles als realisierter Größe ablehnt: „Stellt er [der Kritizismus, A.B.] das Absolute, als realisirt (als existirend) vor, so wird es eben dadurch objectiv; es wird Object des Wissens, und hört eben damit auf Object der Freiheit zu sein. Für das endliche Subject bleibt nichts übrig, als
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Ausformung an einem höchsten Guten orientiert, welches das ‚schlechthin Identische‘ ist, geht von Grund auf gegen die Vorstellung eines persönlichen oder supramundanen, substantiellen Gottes. Diese Positionierung kündigt Schelling daher auch gleich zu Beginn seines Systems als entscheidenden Zielpunkt seiner Geschichtsphilosophie an:95 Diese Deduction der Geschichte führt zugleich auf den Beweis, daß das, was wir als den lezten Grund der Harmonie zwischen dem Subjectivem und Objectiven des Handelns anzusehen haben, zwar als ein absolut Identisches gedacht werden muß, welches aber als substantielles oder als persönliches Wesen vorzustellen, um nichts besser wäre, als es in ein bloßes Abstractum zu setzen, welche Meinung man dem Idealismus nur durch das gröbste Misverständniß aufbürden konnte.96
Schellings Konzeption vom Absoluten oder ‚absolut Identischen‘, dessen praktischer Ausdruck das ‚höchste Gut‘ darstellt, ist weder ein persönlicher Gott noch ein ‚bloßes Abstraktum‘, sondern ein, so könnte man sagen, Harmonie stiftender Grund, der freiheitlich agierende Menschen untereinander in der Welt ermöglicht. Diese Harmonie ist nichts anderes als die zuvor als „indirecte Wechselwirkung“ mit und zugleich gegen Leibniz angenommene „prästabilirte Harmonie“97, die als Rechtsordnung konkrete Wirklichkeit erlangt, indem sie die Übereinstimmung des Menschen mit seinen Mitmenschen, die ja seine Außenwelt sind, garantieren soll. Staat übernimmt also die objektive Ausführung einer prästabilierten Harmonie, ist „die beste Theodicee“98, wenn er die Duplizität, das Böse und Gute, das Unbewusste und Bewusste zusammenstimmen lässt. Nicht Gott ist für diese prästabilierte Har-
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sich selbst als Subject zu vernichten, um durch Selbstvernichtung mit jenem Object identisch zu werden. Die Philosophie ist allen Schrecken der Schwärmerei preisgegeben.“ (AA I,3, S. 102) Demgegenüber gebe es noch die Alternative eines ‚realisierbaren‘ Zieles, das sich in einem einzelnen Zeitpunkt verwirklichen könne. Diese Alternative führe ebenfalls auf eine ‚Schwärmerei‘. Zur Figur der Selbstvernichtung vgl. Hühn 1994, insbes. S. 166-168. Die einzige Andeutung in eine ähnliche Richtung lässt Schelling in diesem Zusammenhang nur in einer Anmerkung der Allgemeinen Übersicht verlautbaren: „Sie [die Geschichte, A.B.] beginnt mit dem SündenFall, d.h. mit der ersten willkürlichen That, und endet mit dem VernunftReich, d.h. wenn alle Willkür von der Erde verschwindet.“ (AA I,4, S. 166 Anm.) Dieses Zitat zeigt zugleich gut, dass Willkür die Freiheitsform menschlichen Lebens ist. AA I,9,1, S. 27. Ebd., S. 237. ‚Indirekte Wechselwirkung‘ bezieht sich auf das Bestimmungsverhältnis von Intelligenz und das „Etwas“ (Ebd., S. 236) außer der Intelligenz, die ‚prästabilierte Harmonie‘ auf ihre gegenseitige Abstimmung. Den Begriff der ‚prästabilierten Harmonie‘ übernimmt Schelling dabei von Leibniz, deutet ihn aber, ausgehend von der mit Fichte an Leibniz geführten Kritik, um. Der Kommentar der Akademie-Ausgabe von Schellings Werken verweist darauf, dass Schelling diesen Begriff mehrfach und in Bezug auf Leibniz verwende, vgl. AA I,9,2, S. 80 [38,16] und die weiteren Hinweise dort. Fichtes Kritik an Leibniz artikuliert sich beispielsweise in dessen früher Sittenlehre, vgl. GA I,5, S. 116f. und AA I,9,2, S. 168 [242,9]. AA I,9,1, S. 282. Schelling prinzipiiert diese Übereinstimmung nicht wieder in einem „Schöpfer und gleichförmige(r) Einrichter“ (Ebd., S. 242), sondern führt sie auf die Intelligenzen selbst zurück, die „in der Anerkennung anderer als solcher“ (Ebd., S. 248) sich indirekt und wechselseitig über die geistige Verfasstheit der ihnen gemeinsamen Welt und Freiheit vergewissern.
monie zuständig, sondern der Mensch oder vielmehr der vom Menschen gebildete Staat. Daher kann auch nur ihm und nicht Gott die Verantwortung für das Böse in der Welt zugerechnet werden. Der Staat ist dabei zwar nur sekundäre und scheiternde Form einer Harmonie, die von einer tieferliegenden abhängig ist, aber dafür der innerweltliche Abglanz eines Absoluten, aus dem sich alle Empirie speist und zu der alles endliche Bestreben zurückfinden soll und das System selbst, nämlich in der Kunst, zurückfindet. Die vollständige Übereinstimmung des Menschen mit sich und seiner Außenwelt aber ist ein Gedanke, der den Menschen als einen beschreibt, der sich vollständig sowohl in seinem inneren als auch äußeren Freiheitsvollzug selbst bestimmen kann, dessen Handeln für ihn selbst und in allem Äußeren sittlich ist. Dieses absolute, in sich harmonische Selbstbestimmen denkt den Menschen als einen freien, der keine Herrschaft außer der Freiheit selbst kennt. Schelling bezeichnet daher das höchste Gut auch als das „Heiligste“99. Damit schlägt er schon die Brücke zur Kunst, die sein System vollenden soll. Denn was der Mensch in seinem Handeln zu erreichen sucht und – mit den folgenden Abschnitten wird es noch deutlicher werden – nie finden wird, lässt sich nur im ‚Allerheiligsten‘ durch Kunst einholen: Die Kunst ist ebendeßwegen dem Philosophen das Höchste, weil sie ihm das Allerheiligste gleichsam öffnet, wo in ewiger und ursprünglicher Vereinigung gleichsam in Einer Flamme brennt, was in der Natur und Geschichte gesondert ist, und was im Leben und Handeln ebenso wie im Denken, ewig sich fliehen muß.100
Mit der „ästhetischen Anschauung“, die gleichsam im „Kunstwerk“101 aufgeht, wird der Intelligenz temporär der Zugang zu jener Identität gewährt, die auch ihr Handeln bestimmt, ohne dass sie es in diesem je einsehen könnte. Allerdings arbeitet sich der Mensch in seinem äußeren Vollzug an dieser absoluten Identität ab, indem er dem höchsten Gut nachstrebt. Nur soll eben dieses äußere Objekt, das in das höchste Gut integriert ist, Ausdruck des reinen Willens sein. Damit ist die innere Freiheit des Menschen, die sich im Äußeren abbilden soll, in empirischer Hinsicht äußerst instabil. Die Welt, die dieses äußere Objekt umfasst, ist dabei nicht nur die Natur, sondern auch – und das ist hier entscheidend – der Mensch als Individuum in Gemeinschaft, das anderen Individuen entgegensteht. Der eine willkürlich handelnde Mensch aber, der dem anderen willkürlich handelnden Menschen gegenübersteht, stellt, da er potentiell böse handeln kann, ein gravierendes Problem dar, das nur mit einer Macht beantwortet werden kann, die noch über die Willkür des Menschen hinausreicht.
99 Ebd., S. 281. 100 Ebd., S. 328. 101 Ebd., S. 325.
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5. Zufall und ‚unverbrüchliches Gesetz‘ Das menschliche Handeln, eingespannt zwischen eine Willkür, die den Menschen befähigt, Entscheidungen zu treffen, und dem höchsten Gut, welches er in seinem Handeln verwirklichen soll, konstituiert das, was das transzendentale System unter Staat versteht. Der Staat verkörpert die ganze Breite von Schellings praktischer Philosophie und exemplifiziert in seiner Widersprüchlichkeit von Freiheit und Notwendigkeit Schellings gesamtes System. Was garantiert, so die Leitfrage, dass alle Menschen das höchste Gut tatsächlich wollen? Angesichts der Willkür eines jeden Menschen, der selbst und immer wieder entscheiden kann, ob er handelt, wie er nach dem Sittengesetz handeln soll, oder seinem Naturtrieb gemäß handelt und seine Freiheit unter die Botmäßigkeit seines Egoismus stellt, kann die böse Handlung letztlich nicht ausgeschlossen werden. Tatsächlich setzt sich dem höchsten Gut mit der Freiheit des je anderen Menschen ein „absolute[r] Widerstand“102 entgegen, den es für Schelling zu überwinden gilt, um das höchste Gut zur Geltung zu bringen. Die dabei mit sich selbst im Widerspruch stehende Freiheit impliziert schließlich die geradezu tragische Auflösung ihrer selbst. Im Rekurs auf Schellings Ausführungen zur Intersubjektivität, die auf der im letzten Abschnitt angedeuteten Wechselwirkung und prästabilierter Harmonie aufbauen, entfaltet Schelling ein Panorama destruktiven Freiheitsvermögens, das sich selbst seiner Grundlage entzieht. Die potentielle Zerstörung der Freiheit verlangt nach einer Reaktion, die in einem ‚unverbrüchlichen Gesetz‘ besteht, das erst ein freiheitliches Zusammenleben garantiert. Mit der Erörterung dieses Gesetzes wird die These eingeholt, dass Schelling den Staat als notwendig erachtet, um die Kontinuität des Systemganzen zu wahren. Der Widerstand, der sich den Akten eines Handelns entgegenstellt, welches das höchste Gut zu erstrebt sucht, könnte zunächst überhaupt als die Natur verstanden werden, auf die der Mensch wirkt und die beispielsweise als objektiver Gegenstand im Raum das freie Handeln eingrenzt. Schelling sieht diesen Widerstand allerdings nicht als entscheidend an: Obgleich nun die Natur gegen das Handeln nicht absolut passiv sich verhält, so kann sie doch der Ausführung des höchsten Zwecks keinen absoluten Widerstand entgegensetzen. Die Natur kann nicht handeln im eigentlichen Sinn des Worts.103
Tatsächlich ist der Widerstand, den die Natur leistet, sekundär, weil sie als solche zwar tätig sein kann, diese Tätigkeit aber nicht so weit geht, dass sie intentional darauf wirken würde, die Harmonie des höchsten Guts zu zerstören. Natur ist, wie sich in der gesamten theoretischen Philosophie zeigte, eine „blinde (mechanische) 102 Ebd., S. 281. 103 Ebd., S. 281.
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Thätigkeit“104. Die produktive Natur kann Freiheit zerstören, Natur kann den Menschen zerstören, aber sie zerstört ihn nicht willentlich oder wäre grundsätzlich auf eine solche Zerstörung angelegt. Natur ist kein Wollen und daher als Widerstand nur peripher zu betrachten. Schelling bekundet schon hier seine Philosophie, die wesentlich auch in der Anerkennung von Natur besteht, wenn er die theoretisch mögliche Konfrontation mit der Natur, nicht zu einem „Todtschlag der Natur“ weiterentwickelt, wie Schelling ihn später Fichte vorwerfen sollte.105 Vielmehr lokalisiert Schelling daher den Widerstand in etwas, das wirklich will und in diesem Wollen gerade nicht das höchste Gut anstrebt. Dieser Widerstand ist grundgelegt im menschlichen Handeln, denn nur „Vernunftwesen können handeln“106. Dieses Handeln definiert sich in seinem Kern gerade durch die Struktur, die bisher als Willkür beschrieben wurde. Diese ‚eigentliche Freiheit‘ zeichnet sich dadurch aus, absolut eigenmächtig wirken zu können; selbst wenn sie noch abhängig von einem absoluten Willen ist, so ist sie doch im Vollzug nichts anderes als dieser absolute Wille selbst. Die Basis, auf der die Willkür entscheidet, ist das nur ihr zukommende Bewusstsein von Gutem und Bösem. Als einer solchen Willkür steht es ihr gewissermaßen frei, entweder gut oder böse zu handeln. Das höchste Gut kann daher entweder gewollt oder nicht gewollt werden, sofern es denn – so wurde oben schon geschrieben – überhaupt gedacht wird. Der Widerstand also, der sich der Verwirklichung des höchsten Gutes entgegenstellt, ist nicht die Willkür an sich, aber die böse Handlung, die aus dieser Willkür entspringt. Dieses Handeln besteht gerade in der Zügellosigkeit eines Wollens, das kraft seines Handelns, das dem Naturtrieb unterstellt ist, gegen sich und gegen andere vorgeht. In einem solchen Zustand aber verwirklicht sich keine Freiheit, es herrscht ein Chaos, in welchem jedes Individuum untergehen kann, wenn es zu schwach wäre, sich dieser Wirkmacht entgegenzustellen. Die Herrschaft der Freiheit, die Schelling im Gedanken des höchsten Guts impliziert, ist die diesem Zustand entgegen gesetzte Gedankenfigur. Das Problem ist auf höchste Weise tragisch: Gerade im Gebrauch der Freiheit lösen sich ihre Bedingungen selbst auf, – Freiheit kehrt sich gegen sich selbst. Denn das freie Handeln bedarf einer anderen freien Handlung. Schellings praktische Philosophie basiert auf Individualität und Intersubjektivität, die überhaupt erst die Möglichkeit zu einem freien Handeln der Intelligenz verbürgen.107 Das entscheidende Element, die Intersubjektivität, welche der Intelligenz ihr freies Handeln ermöglicht, ruft Schelling im staatsphilosophischen Kontext wieder auf: „[E]ine Wechselwirkung zwischen solchen [Vernunftwesen, A.B.] durch das Medium der objectiven Welt ist sogar Bedingung der Freyheit“108. Wenn aber keine freiheitliche 104 105 106 107 108
Ebd., S. 70. AA II,8, S. 116. AA I,9,1, S. 281. Ebd., S. 236-250. Ebd., S. 281.
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Wechselwirkung zustande kommt, weil sich die Individuen in einem bellum omnium contra omnes selbst zerstören, wird die bloße Existenz der Freiheit unterminiert.109 Gleichwohl ist dieser Kampf nicht bloß kontingent. Die Auseinandersetzung zwischen Individuen in nicht freiheitlicher Absicht scheint Schelling gerade von Anfang an mitzudenken, da Vernunftwesen in Wechselwirkung stehen, unabhängig davon, ob diese sich freiheitlich gestaltet.110 Dokumentiert wird ein solches Konfliktpotential nicht zuletzt durch eine Intersubjektivität, die sich durchaus auch in „Disharmonie“111 befindet und auf der Unterschiedlichkeit der einzelnen Individuen, mithin ihrer „Individualität“112 basiert. Die „prästabilirte Harmonie negativer Art“113, die Schelling gleich zu Beginn der praktischen Philosophie als Operation einführt, die die Unterschiedlichkeit der Individuen gegeneinander abstimmt, denkt, so zeigt sich erst hier genauer, die potentielle Dysfunktion von Individuum und Gemeinschaft immer schon mit. Der Grund dieser Dysfunktion aber ist das Individuum selbst. Individualität, die nur der Möglichkeit nach allen Intelligenzen zukommt, in ihrer Bestimmtheit aber gerade den Einzelnen auszeichnet, liegt in dem je individuellen Gebrauch der Willkür, der auf einen Charakter aufgetragen ist, der durchaus als natürlich und intelligibel zu verstehen ist. Denn Schelling greift mit seiner Deduktion der Individualität auf die Natur zurück, insofern Individualität auch alle „Beschränkungen durch die organische Existenz“114, aber auch die „Verschiedenheit der Talente und Charactere“115 umfasst, begreift diese aber zugleich, wie er es später nennen wird, als eine „transscendentale Vergangenheit“116, die – wie die intelligible Tat – vorgängig und doch immer wieder vorhanden ist. Auf der grundlegendsten Ebene, so möchte es scheinen, lassen sich nur böse oder gute Charaktere ausmachen. Diese Ebene gilt 109 Schelling verweist im System nicht auf Hobbes. Gleichwohl war ihm diese Figur durchaus bewusst und sie kann hier der Veranschaulichung wegen legitimerweise gebraucht werden. Kant beispielsweise rekurriert auf Hobbes in seiner Religionsschrift, vgl. KAA 6, 97 Anm. Schelling wird später in seiner Einleitung in die Philosophie der Mythologie das hier gewählte Zitat von Hobbes anführen: „Krieg aller gegen alle ist nach Hobbes der natürliche, dem Staat vorausgehende Zustand; daß er nicht in Wirklichkeit vorausgegangen, dafür war gesorgt.“ (SW XI, S. 536) Für weitere Stellen in seinem Magisterspecimen über das ursprüngliche Böse, vgl. AA I,1, S. 98 oder den Erlanger Vorlesungen (WS 1820/21), vgl. AA II,10,1-3, S. 184, S. 613-14, S. 681, S. 838. Hollerbach 1957, S. 127 hat den hier vorgebrachten Vergleich ebenfalls bemüht. 110 Hollerbach 1957, S. 124 betont, der Widerstand durch andere Intelligenzen sei „ab initio gegeben“. 111 AA I,9,1, S. 242. 112 Ebd., S. 244. 113 Ebd., S. 242. 114 Ebd., S. 246. 115 Ebd., S. 248. 116 SW X, S. 93. So zumindest charakterisiert Schelling den theoretischen Teil seiner Philosophie im System in der Rückschau der 27 Jahre später verfassten Vorlesung Zur Geschichte der neueren Philosophie. Vgl. zur Einordnung dieser retrospektiven und durchaus problematischen Betrachtung Schellings Hühn 1994, S. 31-34.
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allerdings für den gesellschaftlichen Rahmen, in den das Individuum eingebettet ist, nur bedingt, denn hier zählt gewissermaßen nur die Handlung selbst und damit die nur sekundäre Ausformung einer vergessenen oder uneinsichtigen Vorgängigkeit. In der Gemeinschaft von Vernunftwesen verbürgen Handlungen den moralischen Status eines Individuums, da nur an ihnen eine entweder harmonische oder eine kakophone Interaktion abgelesen werden kann, die in ihrer extremsten Form dazu führt, dass „die Freyheit des Individuums aufgehoben“117 und also zerstört wird. Zu dieser Aufhebung ist jeder Mensch qua Willkür befähigt. Willkür ist notwendiger Bestandteil des Selbstbewusstseinsvollzuges, weil sie, wenn auch nur als subjektives Moment, das ganze Wollen ins Bewusstsein bringt. Dieser Vollzug ist unabhängig von der intellektuellen Kapazität des Menschen, denn Willkür ist eine gewissermaßen angeborene Fähigkeit, die jedes objektive Handeln des Menschen begleitet, – sei es nun das eines Philosophen, der um die Abhängigkeit seiner Willkür weiß, oder die Handlung eines „gemeinen Bewußtseyns“118, welches nur in dieser Willkür seine Freiheit erblickt. Da diese Willkür, die zwischen Gut und Böse gleichsam entscheidet, als Struktur für sich vollkommen unabhängig ist, kann sie objektiv betrachtet nur rein zufällig handeln. Jederzeit also kann sie böse handeln, indem sie ihre materiellen Interessen über ihr Sollen stellt. In der Verfolgung dieser ihrer materiellen Interessen kennt sie keine anderen Intelligenzen, sondern gebiert sich als genuin „eigennützige“119 Triebstruktur. Zwar geschieht die ‚Aufhebung‘ des Anderen dadurch nicht notwendig, aber gerade die Gewalt, zu der das Individuum fähig ist, wenn es sich in seiner Willkür vom Naturtrieb indirekt bestimmen lässt, verdeutlicht einmal mehr, dass jedes Individuum, welches in den Bannkreis eines eigennützigen Individuums gerät, untergehen kann. Dieser Untergang ist primär kein existentieller, in dem Sinne, dass sogleich Leib und Leben in Gefahr wären, sondern der noch fundamentalere Untergang des Menschseins. Dieses versteht sich ja gerade nicht aus seinem objektiven Vorhandensein in einer bestimmten natürlichen Form, sondern aus seiner Freiheit, die ein Selbstbestimmen ist. Dieses Selbstbestimmen ist keines mehr, wenn es tatsächlich in seiner Freiheit so eingeschränkt wird, dass es objektiv bestimmt würde. Es ist aber auf noch viel grundlegendere Weise kein Selbstbestimmen mehr, nämlich, wenn es nie Selbstbestimmen werden kann. Ein Individuum muss, transzendental verstanden, immer eine bestimmte „Richtung“120 erhalten, abgestimmt durch prästabilierte Harmonie auf seine Freiheit ‚gerichtet‘ werden. Diese Richtung gibt es sich durch sich selbst als individuelle Prädisposition, denn das Individuum ist „durch die Synthesis 117 AA I,9,1, S. 281. 118 „Daß es eine Freyheit des Willens giebt, davon läßt sich das gemeine Bewußtsein nur durch die Willkühr überzeugen“ (Ebd., S. 275). 119 Ebd., S. 274. Der Begriff des ‚eigennützigen Triebs‘ stammt ursprünglich von Reinhold, vgl. GA I,5, S. 182. 120 AA I,9,1, S. 243.
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[s]einer Individualität schon gesetzt, und prädeterminirt“121, sowie durch die sie umgebende Natur. Daneben aber wird es entschieden durch die Intelligenzen außer ihr mit „gleicher Realität“122 bestimmt. Denn das Selbstbestimmen bedarf eines diskreten Anstoßes, der gerade nicht Bestimmung, aber Möglichkeit von Freiheit im Sinne einer „Forderung“123 ist, eine freie Handlung zu vollziehen. Das zuvor beschriebene Verhältnis indirekter Wechselwirkung ist hier einmal mehr einzuzeichnen. Diese Aufforderung ist die restringierte Handlung einer anderen Intelligenz, die bewusst nicht auf ein bloßes Objekt, welches zu verändern wäre, sondern auf eine andere Intelligenz wirkt, die potentiell das Vermögen besitzt, frei zu handeln. Den permanenten indirekten Einfluss der Intelligenzen auf die Intelligenz fasst Schelling als „Erziehung […] im weitesten Sinn des Worts, in welchem die Erziehung nie geendigt, sondern als Bedingung des fortdaurenden Bewußtseyns fortwährend ist“124. Eine solche Handlung im Sinne einer Erziehung entberge – wie es in der Allgemeinen Übersicht heißt – ein „praktisches Interesse (sacri quid)“125, das diese Freiheit zu verwirklichen sucht.126 Freiheit lässt sich dabei gerade nicht andemonstrieren und als ein Wirkzusammenhang der Bestimmung verstehen, der gerade Selbstbestimmen destruieren würde. Vielmehr muss diese nach Schelling richtig verstandene Erziehung fordern, dass eine andere Intelligenz sich in ihrem geistigen Selbstvollzug, der ein Selbstbestimmen ist, bewusst wird. Diese Forderung besteht gerade in der Selbstbeschränkung einer Handlung als solcher und stellt daher keine bloß pädagogische Maßnahme dar, sondern wird, wie Schelling schreibt, ‚nie geendigt‘. Alle sind Lehrer und Schüler zugleich, interagie121 122 123 124
Ebd. Ebd., S. 237. Ebd., S. 240. Ebd., S. 248. Jacobs betont völlig zu Recht, dass Schelling mit dem Element der Erziehung, das Schelling bereits früh in die praktische Philosophie einführt, schon auf die Aufstellung des Rechts hindeutet, weil gerade die Erziehung erst durch diese Aufstellung Regeln erhält, die sie zur Ausführung zu bringen versucht, vgl. Jacobs 1993, S. 219. Die Konzeption von Erziehung weist einige Parallelen zu Fichtes Naturrecht auf, vgl. Stolzenberg 1995, S. 83. 125 AA I,4, S. 144. 126 Schelling rekurriert hier auf die alte Unterscheidung zwischen ‚sacrum‘ und ‚sanctum‘. Letzteres ist nur ein geweihtes Heiliges, dem die Heiligkeit zugeschrieben wird. Das sacrum dagegen kann als dasjenige ausgewiesen werden, das durch sich selbst schon Heiligkeit beanspruchen darf. Die Rede vom sacrum muss als emanzipatorische Geste gedeutet werden, die Schelling als exzellenter Lateiner und Kenner der antiken Welt bewusst einsetzt, um den Stellenwert des Praktischen und der Freiheit für seine Philosophie hervorzuheben. Das sacrum ist nach antiker Unterscheidung zuallererst dem sanctum gegenüberzustellen. Die hier dargestellte Differenz lässt sich allerdings schwer ins Deutsche übertragen, da eine deutsche Übersetzung beide als ‚heilig‘ oder ‚Heiliges‘ übersetzen müßte, vgl. Dihle 1988, insbes. Sp. 20-22. Die Analogie, die Schelling implizit aufstellt, ist schlagend: während die Religion ihr Heiligstes in allen natürlichen Kultobjekten findet, begreift Schelling als das nur durch sich selbst Heilige die Freiheit. Nicht umsonst klammert Schelling diesen Hinweis im wortwörtlichen Sinne ein, kolportiert er doch eine quasi häretische Anmaßung, welche die Freiheit über die Religion stellt.
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ren in einer ‚Wechselwirkung‘, die den anderen immer als frei denken soll und ihn darin zugleich auffordert frei zu sein. Dieser Idealzustand aber, der sowohl mit der Idee des höchsten Guts als auch mit der Notwendigkeit des fortbestehenden Selbstbewusstseins verbunden ist, bricht sich an einer Realität, die durch Willkür gekennzeichnet ist und in dieser Willkür keine Grenze kennt, welche sie auf bloß gute Handlungen beschränken würde, die zugleich in der freiheitlichen Anerkennung und Aufforderung des anderen münden würden. Die Pointe von Schellings Wechselbestimmung besteht gerade in dem Vorwurf, der ihr gemacht werden könnte, dass nämlich die Individuen, die hier und jetzt in ‚indirekter‘ Wechselwirkung miteinander stehen, nicht in einer tatsächlichen Beziehung stehen, dass jede Intelligenz letztlich nur für sich und alleine, monadisch abgeschlossen in einem Ganzen gleichsam abgeschlossener Individuen steht und sich selbstbestimmen kann. Die Aufforderung, die darin an den anderen geht, prallt damit vermeintlich an dem fensterlosen Individualgebäude einer Intelligenz ab. Doch Schelling denkt diesen Zustand als einen eben transzendentalen, der gerade nicht wirklich ist. Tatsächlich werden – so könnte man ganz brachial sagen – die Fenster immer eingeworfen. Wechselwirkung ist an sich harmonisch, aber objektiv – und im Staat wird dies ersichtlich – ein äußerer Freiheitsvollzug, der nur ‚zufällig‘ gelingt. Die Freiheit eines Selbstbestimmens, das nicht nur sich, sondern auch andere bestimmen möchte, nur weil es die Kraft ihrer Willkür kann, bildet den tatsächlichen Freiheitsvollzug ab. Die Transzendentalität des Systems muss für die indirekte Wechselwirkung ganz besonders ernst genommen werden, denn sie ist ja gerade nicht das wirkliche freie Handeln der ‚eigentlichen Freiheit‘, das sich Schelling erst in der ‚Aufgabe E‘ stellt. Die indirekte Wechselwirkung bildet die Bedingung der Möglichkeit menschlicher Freiheit ab, die zwar nicht zu erreichen, gleichwohl aber transzendental vorauszusetzen und praktisch anzustreben ist.127 Freiheit ist also wesentlich auf die Beschränkung der anderen Intelligenzen angewiesen und damit indirekt immer auch auf die eigene Beschränkung, die zugleich für andere Intelligenzen deren Beschränkung ist. Beschränkung soll für alle Vernunftwesen gelten. Schelling verbalisiert den soeben ausgeführten Problemzusammenhang im Rahmen seiner staatstheoretischen Überlegungen folgendermaßen: 127 Fichte hat das Konfliktpotential ‚vernünftiger Wesen‘ in seiner Sittenlehre ausgeführt, vgl. GA I,5, S. 266-276. Die Differenz zwischen möglichem Zusammenstimmen und tatsächlichem Widerstreit schildert er folgendermaßen: „Es ist kein Widerstreit zwischen der Freiheit vernünftiger Wesen überhaupt: d. h. es widerspricht sich nicht, daß mehrere in derselben Sinnenwelt frei seyen. Es giebt nur einen Fall, wo die Möglichkeit der Freiheit für mehrere, die Möglichkeit des Beisammenstehens zweier vernünftiger Individuen durch die Natur selbst aufgehoben wird [...]: aber wenn dieser nur wirklich eintritt, und nicht bloß für die Vollständigkeit des Systems mit abgehandelt werden muß, so läßt sich doch dies behaupten, daß er äußerst selten eintrete. – Ein Widerstreit nicht zwischen dem Freiseyn überhaupt, sondern zwischen bestimmten freien Handlungen vernünftiger Wesen entsteht nur dadurch, daß einer seine Freiheit rechts- und pflichtwidrig, zur Unterdrückung der Freiheit eines anderen, gebrauche.“ (GA I,5, S. 266).
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Ob nun alle Vernunftwesen ihr Handeln durch die Möglichkeit des freyen Handelns aller übrigen einschränken, oder nicht, dies hängt von einem absoluten Zufall, der Willkühr, ab.128
Diese These Schellings bezieht sich nicht nur auf die Möglichkeit von Freiheit und damit die Möglichkeit von Schellings Systementwurf im Ganzen, sie bezieht sich auch auf die ihr beigeordneten Fragen, wie ein Individuum mit anderen Menschen bestehen und wie wiederum Gesellschaft selbst funktionieren kann. Alle diese Ziele sind auf die ein oder andere Weise gefährdet, wenn die Willkür als ein ‚absoluter Zufall‘ regiert. Die Absolutheit dieses Zufalls besagt nicht nur, dass es ein vollständiger, unumschränkter Zufall ist, sondern dass es ein radikaler, bis an die Wurzel der menschlichen Existenz gehender Zufall ist, der ihm notwendig anhaftet. Wenn der Staat dagegen antritt, dann stellt er sich von vornherein eine Aufgabe, die er letztlich nicht lösen kann. Jedes freie Handeln erscheint als zufälliges Handeln, das aus der willkürlichen Tätigkeit entspringt. Nur wenn das Ich seine genuine Kontingenz beschränkt, was ihm überhaupt nur möglich ist durch die Annahme anderer freier Individuen, kann eine wirkliche Gemeinschaft mit freien Individuen existieren. Mit Fichte wird Schelling dieses Verhältnis der gegenseitigen Beschränkung als ‚Rechtsverhältnis‘ begreifen und ausbuchstabieren.129 Das mögliche Scheitern im Blick, geht Schelling auf die unmittelbarste Reaktion ein, die gegen einen ‚absoluten Zufall‘ Abhilfe verspricht: „eiserne Nothwendigkeit“130. Das Heiligste darf nicht dem Zufall anvertraut seyn. Es muß durch den Zwang eines unverbrüchlichen Gesetzes unmöglich gemacht seyn, daß in der Wechselwirkung aller die Freyheit des Individuums aufgehoben werde.131
Dieser ‚Zwang eines unverbrüchlichen Gesetzes‘ scheint das einzige zu sein, was die Entwicklung auf ein höchstes Gut zu garantieren verspricht. Die Alternative, in der die Beschränkung nicht möglich wäre, mithin die gegenseitige Zerstörung der eigenen und fremden Freiheit nicht nur ermöglicht, sondern de facto wirklich wäre, muss durch einen Zwang seiner Möglichkeit beraubt werden. Die Konstruktion als solche ist dabei denkbar einfach: Zur Erreichung eines Ziels (A), welches das ‚Heiligste‘ darstellt, wird ein Zwangsmittel (B) eingesetzt, welches das ‚unverbrüchliche 128 AA I,9,1, S. 281. 129 Vgl. die sehr ähnlichen Formulierungen Fichtes in seinem Naturrecht: „Ich muß das freie Wesen ausser mir in allen Fällen anerkennen als ein solches, d. h. meine Freiheit durch den Begriff der Möglichkeit seiner Freiheit beschränken. Das deducirte Verhältnis zwischen vernünftigen Wesen, daß jedes seine Freiheit durch den Begriff der Möglichkeit der Freiheit des andern beschränke, unter der Bedingung, daß das erstere die seinige gleichfals durch die des andern beschränke, heißt das Rechtsverhältniß; und die jetzt aufgestellte Formel ist der Rechtssaz.“ (GA I,3, S. 358) Weitere Ähnlichkeiten wären dem hinzuzufügen, bleiben hier aber ausgespart. 130 AA I,9,1, S. 282. 131 Ebd., S. 281.
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Gesetz‘ ist, das unmittelbar wirkt, sobald das Ziel zufällig einer Bedrohung (C) ausgesetzt ist, welche die böse Handlung der Willkür ist. Dieser Zwang, der sich an der bösen Handlung der Willkür orientieren muss, ließe sich nach Schelling in drei Weisen vorstellen. Erstens könnte er direkt gegen die Willkür agieren, zweitens könnte er gegen den reinen Wille selbst gerichtet sein oder drittens könnte er gegen die Triebstruktur des Individuums ausgeübt werden.132 Die beiden letzten Formen sind die, die dem Ich in der Willkür durch Naturtrieb und Sittengesetz bewusst werden, die Böse und Gut verkörpern. Damit sind, unabhängig von ihrem tatsächlichen Gefährdungspotential, alle drei möglichen Konstituenten der Bedrohungsfigur, nämlich der Willkür, aufgezählt. Die erste Möglichkeit schlägt Schelling aus: „Zwang kann sich [...] nicht unmittelbar gegen die Freyheit richten, da kein Vernunftwesen gezwungen, sondern nur bestimmt werden kann, sich selbst zu zwingen“133. Damit verdeutlicht Schelling wiederum die relative Absolutheit der Willkür, die nicht bestehe, wenn sie unter einen ‚unmittelbaren‘ Zwang gestellt würde, sondern nur unter einem absoluten Willen gedacht werden kann. Gleichzeitig setzt Schelling die Vorgabe, auf die sich der Zwang zu richten habe, nämlich auf das ‚Bestimmt-werden‘, welches nur innerhalb der Vernunft geschehen kann. Dieses ist eben einerseits der reine Wille des Selbstbestimmens, der sich als Sittengesetz darstellt, und andererseits die Triebbestimmung der Natur im Menschen, die sich als Naturtrieb kund tut. Beide Seiten gehen der Willkür als zu subordinierende Auswahlmöglichkeiten noch vorher und sind zugleich Ergebnis der Willkür, die wählt „ohne selbst wieder bestimmt zu seyn“134. Schelling versucht das Willkürbewusstsein so zu gestalten, dass die Willkür in der Auswahl, die sie trifft, immer eine Option wählt oder wählen soll, welche die Wechselwirkung mit dem anderen Individuum gelingen lässt; sie geht damit indirekt gegen die Willkür an, ohne sie in ihrer Entscheidung, ihrer Freiheit, einzuschränken. Die zweite Möglichkeit des reinen Willens als Zwangsobjekt ist daher ebenso wenig in Erwägung zu ziehen wie die erste Möglichkeit, da auch sie erst das freie Wechselwirken in seinem gelingenden Vollzug ermöglicht, nicht jedoch wie die Willkür in einer wirklichen Handlung, sondern als reine Möglichkeit. Der reine Wille hat „kein anderes Object […] als das allen Vernunftwesen gemeinschaftliche, das Selbstbestimmen an sich“135. Zwar ließe sich gegen dieses Objekt Zwang ausüben, aber ein solcher Zwang gegen die moralische, ideelle Konstitution des Menschen und damit der ‚Gemeinschaft‘ von Menschen würde gerade vereiteln, was er zu erlangen 132 Knatz 1999, S. 147 verweist in der hier von Schelling getroffenen Unterscheidung von reinem Willen und Triebstruktur auf die Nähe zu Kants Unterscheidung des Menschen in Vernunftund Naturwesen. 133 AA I,9,1, S. 281. 134 Ebd., S. 274. 135 Ebd., S. 281.
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bestrebt, nämlich das höchste Gut als ein Selbstbestimmen, das in freier, indirekter Wechselwirkung mit anderem Selbstbestimmen steht und aufgeht. Erst die dritte Möglichkeit, die einen Zwang gegen „den vom Individuum ausgehenden und auf dasselbe zurückkehrenden eigennützigen Trieb“136 ausrichtet, verspricht für Schelling Erfolg. Einerseits, da nur vom Individuum der Egoismus und das Böse ausgeht, andererseits, weil eine Reaktion gegen diese Bestimmung das Individuum und nicht eine Gemeinschaft von Menschen träfe. Allerdings kann auch dieser Zwang nicht darin bestehen, den Trieb einfach zu eliminieren, zerstörte man doch so wiederum eine Bedingung für Freiheit, sondern der Zwang muss den Trieb als Mittel oder „Waffe“137 gegen ihn selbst einsetzen, so wie der Mensch den Naturtrieb einsetzt und damit böse handelt. Ein Trieb, der gewissermaßen mit den eigenen Waffen geschlagen wird, lässt sich dann so verstehen, dass die egoistische Handlung, indem sie sich gegen eine andere Intelligenz wendet, in einen „Widerspruch gesetzt, und wenigstens aufmerksam gemacht wird, daß es [das Handelnde, A.B.] in sich selbst entzweyt ist.“138 Der Widerspruch besteht zunächst darin, dass eine Handlung, die egoistischen und bösen Maximen Folge leistet, ihrer eigenen Maxime widerspricht, da sie dem abzusehenden Ergebnis nach gerade nicht ihre egoistischen Ziele verwirklichen kann.139 Mehr noch als diese kalkulierte Selbsterhaltung, die in einem Selbstzwang mündet und die zeigt, dass ein Individuum nicht gut sein muss, um im Staat zu bestehen, betont Schelling noch ein zweites Element, das dieses Gesetz gewährleisten soll. Ein solches Rechtsgesetz entwirft zugleich den Zustand einer freien Wechselwirkung, wie er sein soll, die gleichsam die Selbstentzweiung des Menschen in Sittengesetz und Naturtrieb offenbart. Wie aber müsste die „Außenwelt […] organisirt werden“140, damit tatsächlich ein solcher Widerspruch entsteht? Denn wenn dieser Widerspruch nur der eines Gegenüber ist, das die gleiche Macht wie der von einem Individuum ausgehende Egoismus besitzt, dann mündet dieser Widerspruch nur in einem Streit zweier gleichmächtiger Gegner, die gleichfalls keine freie Wechselwirkung impliziert. Die Antwort auf diese Frage besteht in der konkreten Rechts- und Staatskonzeption, die Schelling gleichwohl nur andeutet. Diese Andeutung, über die Schelling auch in seinem sonstigen Werk nicht hinausgehen wird,141 ergibt sich aus dem System gerade deshalb, weil Staat nur – wie alle anderen Epochen und Potenzen des 136 137 138 139
Ebd., S. 281. Ebd. Ebd. Nach Schelling gehe es beim Staat zunächst darum, dass die Individuen mit ihm ihren ‚Vortheil finden‘, vgl. ebd., S. 283. 140 Ebd., S. 281. 141 Vgl. Hollerbach 1957, insbes. dessen Fazit: „Am allerwenigsten hat Schelling eine spezifische Rechtslehre entwickelt“. (ebd., S. 258) Eine Ausnahme bildet mit Einschränkungen der neuerlich von Scheerlinck edierte Text über den Staat und seine Rechtsverfassung, die Schelling in enger Anlehnung an Platons Politeia ausbildet. Vgl. Scheerlinck 2016.
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Selbstbewusstseins – als „Bedingung des fortdaurenden Bewußtseyns deducirt“142 wird. Der Staat ist die Instanz, welche die freie Wechselwirkung der Individuen untereinander gewährleistet. Er soll dafür die Außenwelt so gestalten, dass das Selbstbestimmen mit dieser Welt übereinstimmt. Als solcher sind der Staat und seine Rechtsordnung deshalb gerade nicht transitorisch, sondern sowohl notwendige Voraussetzung der Freiheit als auch unabweisbare Bedingung des gesamten Systems, das Schelling entwirft. Die These, dass der Staat notwendig ist, weil nur er Freiheit garantiert, bestätigt sich hier, denn hier ist „die rechtliche Verfassung nothwendige Bedingung der in der Aussenwelt bestehenden Freyheit“143, der Freiheit, die in der objektiven Wechselwirkung der Individuen besteht. Die philosophische Notwendigkeit des Staates steht dabei nicht im Konflikt mit dem vorübergehenden Charakter tatsächlicher Staatsentwürfe, der in den nächsten beiden Abschnitten beschrieben wird. Nur wenn immer wieder neue Ordnungsrahmen entwickelt werden, kann das Zusammenleben einzelner Menschen organisiert und damit garantiert werden. Die Ausgestaltung des Staates ist immer eine andere, weil sie ihr Ziel, freies Zusammenleben zu garantieren, nie verwirklicht. Nur wenn der Staat gegen die Freiheit selbst gehe, könnte prinzipiell ein Stillstand gedacht werden, denn dann gebe es keine Veränderung mehr. Diese Möglichkeit aber eines ‚Zwangs gegen die Freiheit‘ schließt Schelling dezidiert aus. Gerade deshalb darf die Rechtsverfassung ihren Orientierungspunkt, der in einem höchsten Gut besteht, welches die totale Harmonie des Selbstbestimmens mit der Außenwelt denkt, nie verlieren. Sie soll sich diesem höchsten Guten unendlich annähern. Für Schellings eigenen, konkreten Staatsentwurf gilt damit der transitorische Charakter gleichermaßen wie für ältere und noch kommende Entwürfe.
6. ‚Zweite Natur‘ und a-moralischer Mechanismus Die grundlegende Struktur des Staates, die sich in seiner Rechtsverfassung manifestiert, lässt sich als Struktur kenntlich machen, aus der heraus sich wieder die Willkür Bahn bricht, die eigentlich beschränkt werden sollte. In einer solchen Betrachtung lässt sich der philosophischen Ableitung des Staates keine neue Argumentation hinzufügen, die über den Erweis der These hinausgeht, dass der Staat als solcher notwendige Bedingung des Selbstbewusstseins und damit des ganzen Systems ist. Allerdings offenbart der Blick in den Binnenhaushalt des so deduzierten Staates aufs Neue, dass Schellings praktische Philosophie freiheitlichen Selbstvollzug und Natur engführt, und veranschaulicht in diesem Sinne, wie Schelling Staatsmacht konstruiert, aber auch, wie in diesem Zusammen von Freiheit und Notwendigkeit die Frei142 AA I,9,1, S. 282. 143 Ebd., S. 283.
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heit auf praktischem Terrain siegreich hervorgeht. Die bisher offene Frage, die gegen Ende des letzten Abschnittes gestellt wurde, wie die Außenwelt als Rechtsordnung ‚organisiert‘ sein muss, damit ihr ‚Widerspruch‘ größer als der ‚Widerstand‘ des Individuums ist, kann beantwortet werden. Diese Antwort offenbart erst die Insuffizienz und den transitorischen Charakter des Staates, der in dem abschließenden Abschnitt dieses Aufsatzes geschildert wird und die zweite These dieses Aufsatzes plausibilisiert. Die Reaktion gegen ein Handeln, das freiheitlichem Zusammenleben entgegenstrebt, hat Schelling als ein ‚unverbrüchliches Gesetz‘ aufgestellt. Ein solches Gesetz lässt keine Abweichung zu und soll ja gerade die Unmöglichkeit eines Entkommens demonstrieren. Die Willkür, die prinzipiell alles kann, muss durch dieses Gesetz eingeschränkt werden können. Deswegen darf dieses Gesetz gerade keines sein, welches die Willkür selbst unterminieren könnte, sondern muss mächtiger als diese selbst sein. Mächtiger ist aber nur die Natur als Ganzes und als dem Menschen nicht zur Verfügung stehende Gewalt. Das Gesetz, das der bösen Handlung der Willkür entgegentritt, muss daher ein Naturgesetz sein. So lässt sich selbst mit naturphilosophischem Hintergrund definieren: „Was Naturgesetz ist, ist eben deßwegen ein unverbrüchliches Gesetz“144 und was gegen böse Handlungen interveniert, ist also ein Naturgesetz. Der Unterschied zum bloßen Naturgesetz besteht nur darin, dass ein Rechtsgesetz nicht aus der Natur selbst hervorgeht, da Natur „sich gegen das Wirken freyer Wesen als solcher völlig indifferent verhält“145, sondern nur „von Vernunftwesen in sie [die Natur, A.B.] gelegt seyn“146 kann. Diese Natur, die erst noch aufgestellt werden muss, hat die Eigenschaften einer Natur, mit der der Mensch grundsätzlich konfrontiert ist, aber sie ist selbst doch eine andere Natur, da sie ausschließlich im Wirkkreis freier Individuen und nicht bloßer Objekte Anwendung findet. Schelling greift daher auf den Topos einer ‚zweiten Natur‘ zurück, die gewissermaßen zwischen Naturmacht und Freiheitsakt die Brücke schlägt und der Rechtskonzeption ihren eigentlichen Charakter verleiht.147 Als Naturmacht ‚über der ersten‘ besitzt sie deren Kraft und kann darüber hinaus auf Vernunftwesen wirken, weil sie selbst von diesen entworfen und unterhalten wird:
144 AA I,7, S. 126. Dieses Zitat entstammt Schellings Erstem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, das er kurz zuvor in Jena vorstellte. Es offenbart, dass Schelling hier Naturgesetz und praktischen Freiheitsvollzug vereinigt. 145 AA I,9,1, S. 281. 146 Ebd. 147 Diese Tradition der ‚zweiten Natur‘, die von der Antike bis in die Moderne reicht, hat Norbert Rath für die Sattelzeit um 1800 in den für sie wesentlichen Aspekten nachgezeichnet. In allen Konzepten, so die These Raths, würde ‚zweite Natur‘ einer ursprünglichen Natur entgegengestellt, deren Unmittelbarkeit sie übernehme. Die Ausgestaltung dieser Figur würde dabei entweder anthropologisch oder ästhetisch vorgenommen. Schelling lasse sich im System sowohl der ästhetischen als auch der anthropologischen Deutung zweiter Natur zurechnen, vgl. Rath 1996, zu Schelling insbesondere S. 91-98 und S. 105-110.
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Es muß eine zweyte und höhere Natur gleichsam über der ersten errichtet werden, in welcher ein Naturgesetz, aber ein ganz anderes, als in der sichtbaren Natur herrscht, nämlich ein Naturgesetz zum Behuf der Freyheit. Unerbittlich, und mit der eisernen Nothwendigkeit, mit welcher in der sinnlichen Natur auf die Ursache ihre Wirkung folgt, muß in dieser zweyten Natur auf den Eingriff in fremde Freyheit der augenblickliche Widerspruch gegen den eigennützigen Trieb erfolgen. Ein solches Naturgesetz, wie das eben geschilderte, ist das Rechtsgesetz, und die zweyte Natur, in welcher dieses Gesetz herrschend ist, die Rechts-Verfaßung.148
Die ‚zweite und höhere‘ Natur existiert komplementär zu der ersten Natur, sie ergänzt sie in der Vollbringung von Freiheit, welche dieser selbst nicht möglich ist. Schelling setzt die ‚zweite Natur‘ aber auch in einen Gegensatz mit der Natur erster Ordnung. Denn er qualifiziert diese reine Natur als eine ‚sinnliche‘ oder ‚sichtbare‘. Ohne dass damit positiv beschieden wäre, was die zweite Natur für einen Status besitzt, lässt sich doch vermuten, sie selbst sei nicht sichtbar. Tatsächlich, so könnte man lapidar feststellen, sind Gesetze und eine Rechtsordnung, in welche diese Gesetze implementiert werden, keine sichtbaren Institutionen. Doch diese zunächst mögliche Deutung denkt Schelling nicht, denn er möchte ja gerade die Gewalt und Macht der Natur konstruieren, um gegen die schwächere Macht eines Individuums intervenieren zu können. Die Rechtsverfassung versteht sich daher als eine nachgeholte Ergänzung, als ein „Supplement der sichtbaren Natur“149. Prinzipiell klärt Schelling nicht, mit welchen Mitteln die Rechtsverfassung in ‚eiserner Notwendigkeit‘ auf eine böse Handlung reagiert, er beschreibt nur, dass diese böse Handlung als eine Ursache notwendig mit der direkten Wirkung konfrontiert wird, der Staat selbst ist damit – wie Knatz schreibt – „der Notwendigkeit unterworfen“150. Schelling, der offensichtlich keine Philosophie betreiben wollte, die handbuchartig aufschlüsselt, was genau denn eine solche Wirkung wäre, weiß, dass an dieser Stelle eine ‚Rechtslehre‘ klären müsste, welche Mittel einer Rechtsordnung
148 AA I,9,1, S. 281f. Neben den vielen anderen, die ebenfalls auf eine ‚zweite Natur‘ zurückgreifen, sei hier nur erwähnt, dass sowohl Kant als auch Fichte sich dieses Topos bedienen. Kant bezeichnet die Sittlichkeit in der Kritik der Urteilkraft als eine „zweite (übersinnliche) Natur“ (KAA 5, S. 275), vgl. Rath 1996, S. 55-58. Fichtes Verwendung des Topos lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Häufiger als von einer ‚zweiten Natur‘ redet er von der ‚höheren Natur‘. So etwa in der Sittenlehre, wo er die ‚höhere Natur‘ eher synonym mit Gewohnheit verwendet, vgl. GA I,5, S. 136-138 oder in der fast zeitgleich mit Schellings System erschienenen Bestimmung des Menschen, die die ‚höhere Natur‘ als den Weltplan Gottes bezeichnet: „Dieser höhere Weltplan ist es, was wir Natur nennen, wenn wir sagen: die Natur führet den Menschen durch Mangel zum Fleiße, durch die Uebel der allgemeinen Unordnung zu einer rechtlichen Verfassung, durch die Drangsale ihrer unaufhörlichen Kriege zum endlichen ewigen Frieden. Dein Wille, Unendlicher, deine Vorsehung allein ist diese höhere Natur.“ (GA I,6, S. 298). Gerade eine solche Vorstellung von ‚höherer Natur‘ entwickelt Schelling im System nicht, sie bleibt auf den Rahmen einer Rechtsverfassung beschränkt. 149 AA I,9,1, S. 282. 150 Knatz 1999, S. 147.
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zur Verfügung stehen sollten. Diese Rechtslehre, die die immanenten Funktionszusammenhänge der Rechtsordnung aufstellt, ist aber nicht etwa ein Theil der Moral, oder überhaupt eine practische Wissenschaft, sondern eine rein theoretische Wissenschaft […], welche für die Freyheit eben das ist, was die Mechanik für die Bewegung, indem sie nur den Naturmechanismus deducirt, unter welchem freye Wesen als solche in Wechselwirkung gedacht werden können, ein Mechanismus, der nun ohne Zweifel selbst nur durch Freyheit errichtet werden kann, und zu welchem die Natur nichts thut. Denn unfühlend ist die Natur, sagt der Dichter und Gott läßt seine Sonne scheinen über Gerechte und Ungerechte, das Evangelium. Ebendaraus aber, daß die rechtliche Verfassung nur das Supplement der sichtbaren Natur seyn soll, folgt, daß die rechtliche Ordnung nicht eine moralische, sondern eine bloße Naturordnung, über welche die Freyheit so wenig vermögen darf als über die der sinnlichen Natur. Es ist daher kein Wunder, daß alle Versuche, sie in eine moralische umzuwandeln, sich durch ihre eigene Verkehrtheit und den Despotismus in der furchtbarsten Gestalt, die unmittelbare Folge davon, in ihrer Verwerflichkeit darstellen.151
Schelling stellt eine grundlegende und für ihn entscheidende Trennung auf: Recht und Moral sind zwei unterschiedliche Sphären, die sich nicht vermischen sollen.152 Diese Unterscheidung nämlich ist gerade auch die zwischen Willkür und Recht. Denn Willkür kann sich sowohl moralisch als auch unmoralisch und entsprechend gut und böse entscheiden.153 Das Rechtssystem Schellings distanziert sich von jeder Form von Moral, da es sonst selbst wieder in den Sog der Willkür gerissen würde. Trotzdem muss es insofern mit moralischem Handeln umgehen, als es auf böses Handeln reagiert.154 Der Staat, der sich gegen diesen ‚absoluten Zufall‘ von gut oder böse verwahrt, muss und darf – so die rigide Forderung der schellingschen Staatskonzeption – sich nur daran orientieren, dass ‚freie Wesen als solche in Wechselwirkung gedacht werden können‘. Ein Rechtsstaat in diesem Sinne reduziert Menschen nur auf ihre freie Konstitution ‚als solche‘, alle weiteren Eigenschaften, Qualifikationen oder sozialen Umstände sollen ignoriert werden.155 Nur aufgrund dieser Reduzierung kann Schelling eine Analogie bilden, die Staat wie eine Mechanik für die Bewegung als Maschine konstruiert. Bewegung kann ohne Mechanik nicht funktionieren und
151 AA I,9,1, S. 282. 152 Darin schließt sich Schelling etwa auch der Trennung von Moral und Recht an, die Fichte beispielsweise im zweiten Korollarium zum letzten Abschnitt des vierten Paragraphen des ersten Hauptabschnitts des Naturrechts aufstellt, vgl. GA I,3, S. 359. 153 Vgl. auch AA I,4, S. 157: „wir können uns keine positive moralische Handlung denken, ohne ihr eine positiv unmoralische entgegenzusetzen.“ 154 Zur Metapher der ‚Maschine‘, vgl. Sandkühler 1968, S. 76-79. Vgl. auch Sandkühler 2002, S. 97f., der den Naturcharakter des Staates gegen das Moralische abgrenzt. 155 Hier wird wiederum deutlich, dass Schelling den Staat nicht ohne Maßstab konstruiert, den er in einem freien Zusammenleben von Vernunftwesen findet, vgl. die Diskussion der Gegenthese Anm. 47.
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gemeinschaftliches Zusammenleben könnte umgekehrt – nur der Willkür überlassen – nicht ohne Gesetze geregelt werden. Ein mechanistischer Staat, der die Eigenschaften einer Natur besitzt, operiert daher in der Konsequenz nicht mit moralischen Kategorien, sondern verhält sich sowohl ‚unfühlend‘ als auch unabhängig von Vorstellungen der Gerechtigkeit.156 Hier zeigt sich wiederum, dass für den Staat nur die Ebene der Handlungen einer Willkür grundlegend ist, während die ihr noch vorausgehende Ebene intelligibler Entscheidung nicht einsehbar sein darf. Gerade wenn diese Grenze überschritten wird und scheinbar „in das Innere“157 gesehen wird, artet ein Staat in ‚Verkehrtheit‘, ‚Verwerflichkeit‘ und ‚Despotismus‘ aus. Dann nämlich entscheidet wiederum die Freiheit Einzelner, beispielsweise „der Wille des Richters“158. Doch die Staatsverfassung hat keinen Willen, sie will nicht etwas erreichen in dem Sinne, dass sie mit „Ueberlegung und Vorbedacht“159 handeln würde, sondern sie erreicht etwas nur, wenn sie für eine bestimmte Situation, in der ein Individuum ‚über seine Grenze schreitet‘, eine bestimmte Intervention bereithält, die Anwendung findet, um die Grenzüberschreitung zu verhindern. Alle weiteren Folgen, die über diese Intervention hinausgehen, sind für den Staatsapparat irrelevant. Die „Staatsmaschine“160 handelt weder barmherzig noch grausam, da sie nicht befähigt ist oder sein soll, in das ‚Innere‘ der Menschen zu schauen. Sie wirkt nur „gleich der sichtbaren Natur ihren eignen Gesetzen gemäß, und unabhängig, als ob sie durch sich selbst existirte“161. Allein schon die Formulierung, die darauf verweist, dass etwas ‚durch sich selbst existiert‘, lässt allerdings aufhorchen. Unüberhörbar theologische Konnotationen bestätigen sich in den bekannten Topoi von ‚Vorsehung‘ und ‚Theodizee‘, die 156 Schelling zitiert aus einem Gedicht Goethes und Mt. 5, 43-45, vgl. AA I,9,2, S. 180 [282,16]. In der Georgii-Mitschrift der Stuttgarter Privatvorlesungen wird Schelling sowohl auf diese Gedichtzeile Goethes als auch das Bibelzitat zurückkommen. Auch dort behandelt er beide Stellen im Kontext seiner Diskussion um einen Staat, der die ‚äußere Einheit‘ herstellen soll, vgl. AA II,8, S. 146. Allerdings führt er bei Georgii das Bibelzitat näher als im System aus: „Gott lässt seine Sonne scheinen über Gute und Böse, läßt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ (Ebd., S. 145). Die Hervorhebung von ‚Gutem‘ und ‚Bösem‘ in diesem Zitat darf, unserer bisherigen Argumentation zufolge, durchaus auf das System übertragen werden, auch wenn diese wenigen Worte dort nicht fallen. Es gibt viele weitere Stellen in den Stuttgarter Privatvorlesungen, die Schellings frühe Gedanken fortführen. Obwohl zugleich eine pejorative Beurteilung des Staates als „eine Folge des auf der Menschheit ruhenden Fluchs“ (Ebd., S. 146) hinzutritt, müsste genauer untersucht werden, ob die These Habermas’, dass damit schon ein gravierender Unterschied zum System gegeben sei, überprüft werden, vgl. Habermas 1963, insbes. S. 172-174. Angemessener doch scheint es, sowohl für die frühe als auch die späte Konzeption des Staates den transitorischen Charakter als entschieden Gemeinsames hervorzuheben. 157 AA I,9,1, S. 283. 158 Ebd. 159 Ebd., S. 282. 160 Ebd., S. 284. Vgl. auch denselben Begriff 1804 in AA II,7,1, S. 428. 161 AA I,9,1, S. 282.
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Schelling an dieser Stelle aufruft: Der Staat handelt – unter der Einschränkung des ‚als ob‘ – wie Gott und stiftet damit eine Gesellschaftsgeschehen, das nach seiner Maßgabe funktioniert. Dass durch diese Konstruktion den Menschen und nicht Gott die Verantwortung für das Böse gegeben werden kann, wurde bereits oben erwähnt. Das Böse, das tatsächlich zur Ausführung gelangt und zerstörerisch wirkt, muss demnach einer unvollkommenen Rechtsverfassung angelastet werden. Zugleich bestätigt sich an dieser Stelle indirekt, dass Schelling seine Rechtskonzeption nicht, wie es zunächst den Anschein hat, ohne moralische Implikationen auskommen lässt. Schellings gegenteilige Bekundungen „nicht etwa eine Moral-Philosophie“162 aufzustellen, wirken geradezu wie der verzweifelte Versuch, das zu verbannen, was sich doch nicht abhalten lässt. Das Problem des Bösen stellt sich unabweislich in Form eines Naturtriebes, der dezidiert eigennützig handelt. Diese ‚beste Theodizee‘ entlastet Gott und belastet die Rechtsverfassung. Da diese von „Menschenhänden gebaut und eingerichtet“163 wird, ist der Mensch für das Böse in der Welt verantwortlich. Ob der Mensch damit für das Böse überhaupt verantwortlich ist, sei – so Jacobs – damit nicht beantwortet.164 Allerdings kann von einer völligen Aussparung einer Antwort auf diese Frage nicht die Rede sein. Nimmt man Schellings Angebot einer Theodizee ernst, verschreibt er sich einer wenigstens pragmatischen Staatskonzeption, die die im Naturtrieb geäußerte böse Handlung, aber nicht deren Intention als Moment der Intervention gelten lässt. Da allerdings der Naturtrieb als Dispositiv des Wollens in transzendentaler Hinsicht konstitutiv für die Ausbildung des Selbstbewusstseins ist, wirkt die Reaktion des Staates mittelbar auch auf die Freiheit als Willkür zurück. Die Freiheit, die sich nicht am höchsten Gut orientiert, delegitimiert sich als Freiheit. Tatsächlich wäre die Frage nach dem Bösen dann im Rahmen des Verhältnisses von Absolutem und eigentlicher Freiheit neu zu stellen, womit aber der Rahmen des Transzendentalsystems überschritten ist.
7. Der Verfall des Staates Das soeben zitierte ‚als ob‘ ist also entscheidend und wird in diesem letzten Abschnitt zu erläutern sein. Die zweite These dieses Aufsatzes wird bestätigt: Der Staat ist notwendig dem Verfall preisgegeben, d.h. dass die Rechtsverfassungen „den 162 Ebd., S. 230. Vgl. auch das Zitat in diesem Abschnitt ebd., S. 282. 163 Ebd., S. 282. 164 Ebd., S. 282. Jacobs interpretiert die ‚beste Theodizee‘ als „säkularisierte Theodizee“ (Jacobs 1993, S. 233). Allerdings beziehe sich nach Jacobs diese Verteidigung Gottes in Bezug auf das Böse nicht auf das natürliche Böse, sondern nur auf das Böse der ‚zweiten Natur‘, welche ja der Mensch geschaffen habe, vgl. ebd., S. 233-236. Vgl. auch Hofmann 1999, S. 144. Der Position Jacobs ist zunächst zuzustimmen. Die Beantwortung dieser schwierigen Frage obliegt allerdings nicht dieser Arbeit, es sei gleichwohl angemerkt, dass Schelling sich bekanntermaßen der Theodizee-Problematik in der Freiheitsschrift wieder annehmen wird.
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Keim ihres Untergangs in sich tragen“.165 Der ‚Keim‘, den sie in sich tragen, ist die Freiheit des Menschen, die erst überhaupt die ‚zweite Natur‘ erschafft. In dieser Abhängigkeit besteht die größte, die tragische Herausforderung des Staates, in der gerade Schellings eigene Forderung einer Trennung von Recht und Moral unterhöhlt wird. Diese Freiheit, die sich als Willkür gebiert und den Staat konstituiert, kann ja frei entscheiden, ob sie gut oder böse handelt. Die Bestrebungen zur Sicherung der Freiheit, lassen gerade das egoistische Potential der Freiheit zur Entfaltung gelangen, das diese Freiheit letztlich zerstört. Schelling geht nicht davon aus, dass Menschen grundsätzlich böse handeln, aber er weist nach, dass sich die Unabhängigkeit von der Willkür grundsätzlich immer nur steigert und die Rechtsverfassung nach jeder vermeintlichen Absicherung gegen die Willkür entweder durch einzelne Individuen innerhalb oder durch Staaten von außerhalb erneut der Willkür ausgeliefert ist. Allein schon eine falsch ‚eingerichtete‘ Staatsmaschine lässt böse Handlungen zu und muss – um in der Sprache der Metapher zu bleiben – nachjustiert werden. Dies zeigt, dass Menschen nicht im Voraus einsehen, wie eine gute Verfassung tatsächlich aussehen müsste, „weil es in Sachen der Freyheit kein a priori giebt“166. Nur durch „unendlich viele Versuche“167 und „das allmählige Realisiren eines nie völlig verlorenen Ideals“168 soll eine „wirkliche rechtliche“169 Verfassung aufgestellt werden können. Obwohl der Staat mit jedem Versuch so eingeführt wird, als ob er ein ‚unverbrüchliches Gesetz‘ darstellt, hat seine vorgebliche Beharrlichkeit nur temporären Bestand, da seine Errichtung einer Freiheit überlassen ist, die durch Willkür gekennzeichnet ist und die bloß zufällig festlegt, welche Verfassung bestehen soll. Der Verlauf der Geschichte legt Zeugnis von diesem Wechsel der Staatsverfassungen ab. Doch gerade die Freiheit, die in diesem Wechselspiel herrscht, macht die Freiheit des Menschen aus. Schellings Geschichtsphilosophie, die diese Freiheit zum Gegenstand hat, verbürgt nur nochmals, was schon Initiierungsmoment des Staates war, nämlich die absolute Zufälligkeit der Willkür. In der Allgemeinen Übersicht hat Schelling den Menschen auf diese Weise gegenüber dem Tier abgegrenzt. Denn während die Geschichte der Tiere durch einen „unverbrüchlichen Mechanismus vorgezeichnet“ ist und damit für Tiere gewissermaßen nur ein Staat schon immer und für immer feststeht, ist dem Menschen […] seine Geschichte nicht vorgezeichnet, er kann und soll seine Geschichte sich selbst machen; denn das eben ist der Charakter des Menschen, daß seine Geschichte,
165 166 167 168 169
AA I,9,1, S. 283f. Ebd., S. 283. Ebd. Ebd., S. 291. Ebd., S. 284.
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obgleich sie in praktischer Hinsicht planmäßig seyn soll, doch (ebendesswegen) in theoretischer Rücksicht es nicht seyn kann.170
Der Staat also soll immer den Plan für eine Gesellschaft aufstellen, kann aber allein kraft der ihn erst schaffenden Freiheit nie diesen Plan ausführen, weil diese Freiheit nicht planmäßig verläuft. Das Primat der Praxis wird letztlich doch von der Theorie unterlaufen. Staat ist also immer der vielleicht klägliche, aber doch notwendige Versuch, Ordnung in eine Gemeinschaft freier Wesen zu bringen. Menschen können sich diesem ‚unverbrüchlichen Gesetz‘ oder ‚unverbrüchlichen Mechanismus‘ im Gegensatz zu Tieren immer entziehen, selbst wenn sie es nicht sollen. Schelling begreift auch den Staatsmechanismus als ein Konstrukt, das wie die Mechanik in der Bewegung weniger als die Bewegung selbst ist. Staat ist weniger als Freiheit, Freiheit mehr als der ihr nachträglich auferlegte Zwang. Bewegung und Freiheit sind zwar mechanisch manipulierbar, aber diese Mechanik erfasst sie als Ganze nie und kann sie daher nie letztgültig steuern. Die Freiheit des praktischen Selbstvollzuges wird von Schelling radikal in Geltung gestellt, denn sie lässt sich keinem Gesetz unterwerfen. Der Zwang des ‚unverbrüchlichen Gesetzes‘ hat daher nur temporäre Geltung, da sich „freye Wesen […] nur so lange zwingen lassen, als sie ihren Vortheil dabey finden“171. Jeder Staatsentwurf kalkuliert den Zwang und damit seinen Mechanismus, der notwendig scheint, um freies Zusammenleben zu ermöglichen. Schelling konstatiert nur, dass diese Form von Staat „zum Anfang nothwendig ist“172 und auch bisher nicht verlassen werden konnte, der ‚wirklich rechtliche‘ Staat mit einer „wahren Rechtsverfassung“173 aber, „auf welche Art es geschehe, endlich […] nicht blos auf Unterdrückung“174 baut, sondern auf ein tatsächlich „gemeinschaftliches Gesetz“175 aufgetragen ist, welches für „den einzelnen Staat d[ie] möglich vollkommenste ist“176. Doch auch hier ist der Superlativ nur ein besserer Komparativ, da das ‚höchste Gut‘ und damit die innere und äußere Übereinstimmung des Selbstbestimmens nie ‚vollkommen‘ in der endlichen Welt erreicht werden kann. Die Allgemeine Übersicht verdeutlicht, dass dieses ewige Wechselspiel in nie endender und nur „allmählige[r] Annäherung“177 erst „mit dem VernunftReich [enden würde], d.h. wenn alle Willkür von der Erde verschwindet.“178 Dann aber wäre es um ‚die
170 171 172 173 174 175 176 177 178
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AA I,4, S. 187f. AA I,9,1, S. 283. Ebd., S. 284. Ebd., S. 285. Ebd., S. 284. Ebd., S. 285. Ebd., S. 284. Ebd., S. 291. AA I,4, S. 166.
Erscheinung der Freiheit geschehen‘ und mit ihr um den Menschen. Doch diesem Vernunftreich so fern, erlischt die Willkür nicht. Schelling selbst beschreibt die bis in die innersten Festen des rechtlichen Staates selbst vordringende Willkür, indem er sich für die klassische Gewaltenteilung in Legislative, Judikative und Exekutive ausspricht. Doch selbst wenn diese Teilung prinzipiell durchgeführt würde, so hängt es letztlich davon ab, wer diese Gewalt vertritt. Allein dadurch hängt es wiederum vom „guten Willen“ derer ab, welche „die höchste Gewalt in Händen haben“179 und dieser Wille verdankt sich ja bekanntlich einer Willkür, die immer auch anders entscheiden kann. Allzu leicht gerät eine solche Ordnung in eine Schieflage, wenn unter dem Vorwand der Absicherung gegen äußere Feinde, die durchaus auch gegen eine tatsächliche Bedrohung geschehen kann, ein „Uebergewicht der executiven Gewalt über die andern“180 entsteht.181 Liegt hier die Gewalt bei einem bösen Willen, ist Despotismus nicht weit. Erst eine „vierte Gewalt“182 vermag von außen wiederum diese Gewalt zu bannen. Der Boden der Verfassung selbst ist damit allerdings verlassen. Es folgt also Bedingung auf Bedingung, die immer wieder versucht, der Macht der Willkür einen Widerspruch entgegenzustellen. Selbst wenn diese ‚vierte Gewalt‘ tatsächlich die ausscherende Gewalt beschränken kann, was nicht notwendig ist, dann ließe sich ein Aufstand gegen diese Gewalt nur vermeiden, wenn „das Volk sich auf ihre Seite schlägt“183. Zunächst also ist in jeder Verfassung und insbesondere in solchen, in der nur einige wenige im Besitz der höchsten Gewalt sind, die „Insurrection unvermeidlich“.184 Erst wenn das freie Zusammenleben aller gewährleistet ist, was nur in einem maschinenähnlichen Staat mit einer „guten Verfassung“185 der Fall ist, in dem es keine Unterdrückung durch Einzelne mehr gibt, ist „Insurrection […] unmöglich“186. Hier erst erhöbe sich Staat zur ‚zweiten Natur‘, die, wie die sinnliche Natur, für alle gelte. Doch auch für den einzelnen Staat ist diese Bedingungskette nicht durchbrochen, da er der Willkür eines beliebigen anderen Staates ausgesetzt sein kann. Jeder Staat ist hier „Staatsindividuum“187. Zwischen den Staaten herrscht derselbe Zustand, der auch zwischen den Individuen besteht, die sich in ihrer Freiheitsausübung selbst 179 AA I,9,1, S. 284. 180 Ebd. 181 Nach Dierksmeier 2003, S. 159 sei es Schelling zufolge in Zeiten der Bedrohung ‚opportun‘, wenn sich die Exekutive zur höchsten Gewalt mache. Schelling, der der hier geführten Argumentation entsprechend in diesem Kontext vornehmlich die Macht der Willkür ausbuchstabieren möchte, sieht in dieser Machtergreifung allerdings gerade keine zu begrüßende Variante der Herrschaft, sondern eine – eigentlich zu vermeidende – Begebenheit, die sich „schlechthin unvermeidlich macht“ (AA I,9,1, S. 284). 182 Ebd., S. 285. 183 Ebd. 184 Ebd. 185 Ebd. 186 Ebd. 187 Ebd.
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vernichten können. Erst eine an Kant orientierte „Föderation aller Staaten“188, die in einem „Staat der Staaten“189 mündet und in welchem ein „Völkerareopag“190 das Recht aller vertritt, verspricht vermeintlichen Frieden.191 Analog der Errichtung des Staates zwischen Individuen bildet sich auch dieser Überstaat zwischen den ‚Staatsindividuen‘ aus. Doch die Freiheit treibt auch im „wechselseitigen Verhältnis der Staaten ihr verwegenstes und uneingeschränktestes Spiel“192. Letztlich also scheint die Willkür in ihrer Kraft unaufhaltbar und keine Macht des Staates oder sogar eines ‚Staats der Staaten‘ vermag ihr, die sich immer wieder Geltung verschafft, Einhalt zu gebieten. Die Anerkennung der Willkür als ‚eigentliche Freiheit‘ führt dazu, dass auch der Staat, der diese Willkür beschränkt, sich schließlich dieser Willkür beugt und untergeht. Dass jedoch tatsächlich Staaten mit einer rechtlichen Verfassung bestehen, in welchen das freie Zusammenleben der Individuen zumindest vorerst garantiert ist, begründet sich durch eine ‚blinde Notwendigkeit‘, die „höher ist denn menschliche Freyheit“193, welche sie trägt und ohne ihr Wissen leitet und lenkt. Schelling wird zeigen, dass die Willkür in ihrem Freiheitsvollzug als solchem von dieser Notwendigkeit nicht beeinflusst ist; der Widerspruch zwischen Freiheit und Notwendigkeit aber besteht zunächst dennoch und die Suche nach einer Vereinigung beider verschärft sich: Und so sehen wir uns durch den Verlauf des Räsonnements auf die oben aufgeworfene Frage nach dem Grund der Identität zwischen der Freyheit, insofern sie in Willkühr sich äussert, auf der Einen, und dem Objectiven oder Gesetzmäßigen auf der andern Seite, zurückgetrieben, welche Frage von jetzt an eine weit höhere Bedeutung bekommt, und in der größten Allgemeinheit beantwortet werden muß.194
Schellings eigentliche Aufstellung des Staates ist hier abgeschlossen; der zitierte Satz ist der letzte der ‚Zusätze‘, innerhalb derer Schelling den Staat deduziert. Der Staat bleibt für Schelling nur ‚Räsonnement‘, das zeigt, wie durch ihn die Einheit und ‚Identität‘, die Schelling für das Ich herstellen möchte, nicht gewährleistet werden kann. Obgleich Staat nur Durchlaufprodukt ist, führt er die Spannung von Freiheit und Notwendigkeit, die Schellings praktische Philosophie durchherrscht, 188 189 190 191
Ebd. Ebd. Später spricht Schelling vom „universellen Staat“ (Ebd., S. 303). Ebd., S. 285. Vgl. Hollerbach 1957, S. 137 der zu Recht darauf verweist, dass Schelling hier wohl Kants Spätschrift Zum ewigen Frieden zur Vorlage hat. Insbesondere bezieht sich Schelling auf den ‚zweiten Definitivartikel zum ewigen Frieden‘, vgl. KAA 7, S. 354-357. Schelling versucht dabei die von Kant nur mögliche, aber zunächst nicht realisierbare „Weltrepublik“ (Ebd., S. 357) dadurch zu ergänzen, dass sie noch einem ‚Völkerareopag‘ untergeordnet ist, der über alle Staaten richtet. 192 AA I,9,1, S. 285. 193 Ebd., S. 294. 194 Ebd., S. 286.
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exemplarisch vor Augen. Im Staat spiegelt sich der praktische Freiheitsbegriff Schellings, der darin besteht, dass die Freiheit des Menschen sich nie mit ihrer Notwendigkeit harmonisieren kann und nie die Harmonie erkennt, mit der sie frei und notwendig handelt. Der freie Mensch im Staat handelt nicht nur frei und selbstbestimmt, sondern er ist auch zu seiner Freiheit verdammt, die sich immer von der Notwendigkeit abspaltet, die sich ihr als ‚unverbrüchliches Gesetz‘ und ‚zweite Natur‘ entgegenstellt. Der Widerspruch von Willkür und Gesetz im Staat führt das Problem von Freiheit und Notwendigkeit einer ‚höheren Bedeutung‘ zu. Der gegenseitige Ausschluss von Willkür und Gesetz, der letztlich zum Verfall des Staates führt, ist auch der Ausschluss von Freiheit und Notwendigkeit. Beide gewinnen ihre Einheit nur aus einer absoluten Identität, derer sie im praktischen Freiheitsvollzug nie habhaft werden. Schellings geschichtsphilosophische Überlegungen werden diese ‚ewige Flucht‘ von Freiheit und Notwendigkeit auch in den Bereich der Geschichte hinein verlängern. Der Staat ist weiterhin transzendentale Bedingung von Freiheit in der Geschichte des Selbstbewusstseins, nur wird diese Bedingung geschichtsphilosophisch auf die Unendlichkeit ausgedehnt und auf ihr permanentes Scheitern reduziert. „Willkühr ist“, – so heißt es an einer späteren Stelle – „die Göttin der Geschichte“195. In der Geschichte kann daher die Flucht von Freiheit und Notwendigkeit nicht beendet werden. Nur in Gott wäre diese aufgelöst. Gott allerdings ‚ist nie‘ und der Mensch findet seine Zuflucht daher weder im Staat noch in der Geschichte oder der Religion, sondern erst im Moment der Kunst, die ihm das ‚Allerheiligste öffnet‘.
8. Zusammenfassung Für den als ‚Zusätze‘ betitelten Einschub in Schellings System des transzendentalen Idealismus wurde zunächst das ‚höchste Gut‘ als maßgebliche Figur hervorgehoben. Schelling entwirft das höchste Gut nicht als synthetische Vereinigung von Glückseligkeit und Sittlichkeit wie Kant, sondern als handlungsorientierenden Ausdruck ‚absoluter Identität‘, der dem menschlichen Streben und dem Staatsentwurf vorgehalten wird. Allerdings wird die angestrebte Harmonie durchkreuzt von der willkürlichen, bösen Handlung der Intelligenz, die in ihrem intersubjektiven Verhältnis zu anderen Intelligenzen deren Freiheit und letztlich ihre eigene Freiheit zu vernichten vermag. Die These, dass Staat eine notwendige Bedingung für Freiheit ist und damit die Kontinuität des Selbstbewusstseins unterhält, bestätigte sich hier: Der Staat reguliert die äußeren Verhältnisse der Individuen als ‚zweite Natur‘ und Mechanismus, der
195 Ebd., S. 288.
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nicht moralisch, sondern nur rechtlich agiert. Der Staat soll gerade nicht willkürlich handeln, aber – und hier bestätigte sich die andere These – da er nur von ‚Menschenhänden gebaut‘ wurde, lässt sich zwangsläufig nicht vermeiden, dass er letztlich unter die Herrschaft der Willkür gerät. Staat ist also nicht nur Bedingung von Freiheit, sondern schließlich notwendige Verfallsform, die den ‚Keim ihres Untergangs‘ schon in sich trägt und Freiheit nur temporär sichern kann. Zudem ließ sich im Staat sehr gut die Rolle der Willkür erkennen, die letztlich keinem Gesetz untergeordnet werden kann, sondern als Freiheitsform immer auch die Möglichkeit erhält, sich über das Gesetz zu stellen. Der Gegensatz von Willkür und Gesetz im Staat bildet dabei den Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit ab, der das gesamte System Schellings bestimmt.
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Johannes-Georg Schülein Ontologie und Staat bei Schelling und Spinoza
Die weit verbreitete Ansicht, Schelling sei ein unpolitischer Denker, wird derzeit einer Revision unterzogen. Selbstverständlich war den einschlägigen Autoren, die über Schelling sagten, er wäre „kein politischer Denker“ (Habermas)1 oder sogar ein Befürworter von „Anti-Politik“ (Sandkühler)2, bekannt, dass er durchaus philosophische Überlegungen zum Wesen des Politischen und zur Rolle des Staates angestellt hat.3 Daher wäre eine Revision, die sich lediglich darauf beschränkte, in Erinnerung zu rufen, dass Schelling auch solchen Fragen seine philosophische Aufmerksamkeit geschenkt hat, wenig interessant. Wird Schelling nämlich eingedenk seiner politischen Reflexionen vielfach dennoch als un- oder gar anti-politischer Philosoph wahrgenommen, liegt das mit Sicherheit auch daran, dass das Politische bei ihm, verglichen mit ontologischen, naturphilosophischen und theologischen Themen, eine untergeordnete Rolle spielt.4 Stellt man Schellings politische Überlegungen den epochalen rechts- und staatsphilosophischen Werken Fichtes und Hegels gegenüber, verstärkt sich dieser Eindruck noch.5 Hinzukommt, dass, was er bisweilen zu Politik sagt, schwer nur mit den Vorstellungen von einer säkularen, liberalen Gesellschaft in Einklang zu bringen ist. Schellings politische Überlegungen drohen daher von der Forschung allenfalls beiläufig behandelt zu werden – und das ist freilich dann ein Problem, wenn sich die eingehendere Befassung durchaus lohnen würde. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass sich die nähere Auseinandersetzung mit dem Politischen bei Schelling tatsächlich lohnt, und zwar auch dort, wo es schwerfällt, wenn es für einen Demokraten nicht sogar unmöglich ist, seine Position zu verteidigen. Ich beziehe mich auf die identitätsphilosophische Staatsauffassung, die Schelling um 1804 in seiner Würzburger Zeit vertritt und dem Grundzug nach in dem aus dem Nachlass veröffentlichten System der gesammten Philosophie und der 1 Habermas 1963, S. 172. 2 Sandkühler 1989. Diese Einschätzung hat der Autor später revidiert, siehe Sandkühler 2001, S. 185. 3 So hat etwa auch Manfred Schröter 1926 bereits „Schellings Schriften zur Gesellschaftsphilosophie“ herausgegeben und in der Einleitung differenziert zur politischen Relevanz des Schelling’schen Denkens Stellung genommen (vgl. Schröter 1926). 4 Ryan Scheerlinck hat den Vorschlag in die Diskussion eingebracht, das Politische bei Schelling nicht in einer Besprechung politischer Sachverhalte zu suchen, sondern vielmehr den politischen Implikationen dessen nachzugehen, was Schelling insbesondere zu Philosophie und Religion zu sagen hat. Siehe Scheerlinck 2017, insb. S. 8f. und S. 337. 5 Vgl. zu dieser Gegenüberstellung Cesa 1986, S. 226f.
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Naturphilosophie insbesondere umrissen hat. Was in diesem Text nur skizzenhaft ausgeführt ist, wird inhaltlich auf aufschlussreiche Weise durch die erst 2016 veröffentlichte Nachschrift zu Schellings Würzburger Vorlesungen über Idealphilosophie von Johann Peter Pauls ergänzt.6 Schellingimmanent ist an der identitätsphilosophischen Staatsauffassung mindestens dreierlei interessant. Erstens behandelt Schelling den Staat in den letzten beiden Paragraphen des Systems der gesammten Philosophie und positioniert ihn damit am Kulminationspunkt dieses Systems. Insofern der Staat das System abschließt, gesteht Schelling ihm eine große, für sein Denken untypische Bedeutung zu.7 Zweitens: Obwohl er seine Staatsauffassung im System der gesammten Philosophie im Kern auf nur zwei Seiten vorträgt, muss Schelling hier als politischer Denker ernst genommen werden. Denn was er über den Staat sagt, ist zwar nicht sehr detailliert, es ist aber Teil des umfassenden Begründungszusammenhangs des Systems der gesammten Philosophie und wird in diesem sogar letztbegründet.8 Daher kann diese Staatsauffassung weder als eine isolierte Überlegung relativiert noch als eine private Meinungsbekundung abgetan werden. Sie muss als eine echte philosophische Position gelten. Drittens macht diese Staatsauffassung politische Implikationen explizit, die der identitätsphilosophische Ansatz birgt. Sie wirft daher ein interessantes Licht auf diesen Ansatz als solchen. Um den Staat angemessen verstehen zu können, muss man zu der identitätsphilosophischen Ontologie zurückgehen, die ihm zugrunde liegt. Der eine Teil der These, die ich im Folgenden ausweisen möchte, nimmt ihren Ausgang von der Ontologie und stellt das Grundproblem fest, dass Schelling dem einzelnen Seienden einen prekären ontologischen Status zuweist, indem er es als defizitäre Erscheinung einer absoluten göttlichen Substanz begreift. Es liegt auf der Hand, dass die ontologische Prekarität des Einzelnen nicht folgenlos bleiben kann für eine politische Theorie, die sich eben darauf gründet. Das Argument, das ich näher entfalten werde, verläuft über drei Schritte und kann schematisch wie folgt angegeben werden: Da für den Schelling der Identitätsphilosophie – erstens
6 Scheerlinck 2016. 7 Insbesondere unterscheidet sich diese Positionierung des Staates von den Konzeptionen, die Schelling in den Stuttgarter Privatvorlesungen (1810) und dann auch in der Darstellung der reinrationalen Philosophie (1848-52) vertritt. Beide Male erscheint der Staat nämlich als eine unvollkommene Institution, die zu überwinden bleibt. Vgl. hierzu Zöller 2014, insbesondere S. 288. 8 Sandkühler hat in seinem instruktiven Aufsatz „Die Geschichte, das Recht und der Staat als ‚zweite Natur‘“ die Lesart vertreten, dass Schelling „Recht und Staat“ im System der gesammten Philosophie „nicht als Entitäten mit der ‚Würde des Metaphysischen‘ begründet, sondern nahezu durchgängig pragmatische, funktionale Bestimmungen vorlegt“ (Sandkühler 2001, S. 176). Zu diesem Schluss kommt Sandkühler vor allem dadurch, dass er Schellings Position aus dem „weiteren Kontext“ (ebd., S. 182) heraus bewertet, insbesondere aus der Konzeption der Stuttgarter Privatvorlesungen, wo Schelling den Staat als eine defizitäre zweite Natur einführt. Ich versuche die Gegenprobe zu machen, indem ich ganz auf die Eigenlogik der identitätsphilosophischen Staatsauffassung fokussiere.
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– das Sein alles Einzelnen ontologisch prekär ist und in der Folge – zweitens – der einzelne Mensch als Einzelner über keine wirkliche Freiheit verfügt, kann sich schließlich – drittens – der Staat nicht auf den Einzelnen als eine belastbare politische Legitimationsquelle stützen. Der Staat hängt deshalb nicht vom Willen derjenigen ab, die ihm als Bürgerinnen und Bürger angehören, sondern er findet seine Grundlage dort, wo volle ontologische Dignität und Freiheit gegeben ist, und das ist für Schelling allein in der absoluten göttlichen Substanz der Fall. Theorieimmanent ist es daher kohärent, dass Schelling nicht etwa das Ideal einer Demokratie, sondern das Ideal einer im Absoluten gegründeten Ständegesellschaft propagiert, die man zu Recht als totalitär bezeichnen kann.9 Es kommt indessen darauf an zu sehen, dass Schellings Ausführungen zum Staat lediglich in politische Termini übersetzen, was in der Ontologie schon vorentschieden ist. Nun wird die Identitätsphilosophie oft als eine problematische Phase des Schelling’schen Philosophierens betrachtet. Indem er geradezu dogmatisch eine göttliche Substanz ins Zentrum stellt, scheint er sich zwischen dem System des transzendentalen Idealismus von 1800 und dem Neuansatz in der Freiheitsschrift von 1809 vorübergehend auf einen deterministischen Spinozismus zurückzuziehen, der weder dem Sein noch der Freiheit des Einzelnen gerecht zu werden vermag und den er deshalb alsbald selbst hinter sich lässt. Die Versuchung ist daher groß, die Aufmerksamkeit von der Identitätsphilosophie abzuziehen und auf möglicherweise vielversprechendere Ansätze zu richten. Ich konzentriere mich in diesem Beitrag dennoch ganz auf die identitätsphilosophische Phase, denn sie birgt, wie ich herausarbeiten möchte, ein wertvolles Lehrstück politischer Ontologie, das sich vor allem im Vergleich mit jener Philosophie zeigt, mit der die Identitätsphilosophie in vielerlei Hinsicht eine große Verwandtschaft aufweist: mit derjenigen Spinozas, und zwar wie dieser sie insb. in der Ethik sowie dem Politischen Traktat darlegt.10 Schon eine allgemeine Beobachtung deutet darauf hin, dass es zwischen den beiden Philosophien einen größeren Unterschied geben könnte als man angesichts der zahlreichen Parallelen geneigt sein kann anzunehmen: Während Schelling für eine Ständegesellschaft argumentiert, hegt Spinoza große Sympathien für die Demokratie. Wie weit reicht Schellings Spinozismus also, wenn er zu einer gänzlich anderen politischen Position als Spinoza kommt? Ist Spinoza inkonsequent, weil beide mehr oder weniger dieselbe Ontologie vertreten, aber nur Schelling sie in der Sphäre der Politik konsequent zu Ende denkt? Oder unterscheiden sich bereits ihre Ontologien, so dass Schelling wie Spinoza gleichermaßen konsequent zu ihren jeweiligen politischen Positionen durchdringen? 9
Ulrich Barth kommt zu dem Schluss, dass Schellings identitätsphilosophischer Staat „geradezu zwangsläufig den Charakter des Totalitären“ annimmt (Barth 2017, S. 144). 10 Vgl. zum Verhältnis von Schellings Identitätsphilosophie und Spinoza allgemein: Vater 2012; Kisser 2012; Whistler 2013, insbesondere S. 76-78; Rang 2000, insbesondere S. 35-58; Tilliette 1992, S. 357-380.
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Der zweite Teil meiner These lautet, dass Letzteres der Fall ist. Schelling ist kein reiner Spinozist. Und gerade weil er es nicht ist, lohnt sich der Vergleich mit Spinoza besonders. Er fördert zunächst subtil anmutende, in Wahrheit aber weitreichende systematische Unterschiede zutage. Orientiert am Schema des Arguments, das ich zu Schelling vorausgeschickt habe, möchte ich bei Spinoza zeigen, dass in seiner Konzeption – erstens – der ontologische Status des Einzelnen weniger prekär als bei Schelling ist und – zweitens – die Freiheit des Einzelnen als Einzelnem eine größere ethisch-politische Rolle spielt, so dass sich schließlich – drittens – auch der Staat bei Spinoza auf den Einzelnen stützen kann und nicht, wie bei Schelling, unmittelbar in Gott gründen muss. Wie Schellings Ontologie die Ständegesellschaft, so bereitet Spinozas Ontologie konsequent eine demokratische Perspektive vor. Das Lehrstück politischer Ontologie, das ich der Konfrontation Schellings mit Spinoza entnehme, lautet: Indem Schelling das Einzelne ontologisch als Schein bestimmt, schwächt er genau den philosophischen Aspekt, der bei Spinoza das Demokratische ermöglicht und trägt. Sollen die Einzelnen politisch eine Rolle spielen, dürfen sie nicht schon auf der Ebene der Ontologie disqualifiziert werden. Ich plädiere in diesem Zusammenhang für eine Rehabilitierung der Philosophie Spinozas, die in der klassischen deutschen Philosophie häufig – und zwar nicht nur bei Schelling, auf eine andere Weise etwa auch bei Hegel – verkürzend rezipiert wird. In der Orientierung an den Schemata, die ich zu Schelling und Spinoza vorausgeschickt habe, lege ich die ausgearbeitete Argumentation nun in drei Schritten vor: Kapitel 1 wendet sich der Ontologie, Kapitel 2 der Freiheit und Kapitel 3 schließlich dem Staat zu.
1. Ontologie. Gott und die Einzeldinge Das zentrale Charakteristikum von Schellings identitätsphilosophischem Ansatz und somit auch des Würzburger Identitätssystems ist, dass er nicht mehr – wie noch im System von 1800 – von der transzendentalphilosophischen Instanz des Ich ausgeht, sondern eine über dem Ich stehende absolute Identität als Ausgangspunkt annimmt. Es ist die Annahme dieser absoluten Identität, die den identitätsphilosophischen Ansatz in die Nähe der monistischen Substanzontologie Spinozas rückt.11 Was Schelling ‚absolute Identität‘, ‚Gott‘ oder auch einfach ‚das Absolute‘ nennt, gleicht dem, was Spinoza unter den Namen ‚Gott‘, ‚Natur‘ oder ‚Substanz‘ als das metaphysische Zentrum begreift, von dem die gesamte Wirklichkeit abhängt. Über diese inhaltliche Nähe hinaus adaptiert Schelling im System der gesammten Philosophie, wie bereits in der Darstellung meines Systems von 1801, auch die geometrische Darstellungs11 Vgl. zur Bedeutung Spinozas in den Schriften vor der Identitätsphilosophie: Hühn 1994, S. 176-181.
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methode Spinozas, indem er in Lehrsätzen, Folgesätzen, Anmerkungen und Zusätzen argumentiert. Hierzu erklärt er in der Darstellung meines Systems, er habe sich Spinozas mos geometricus nicht zuletzt deshalb angeeignet, weil er sich eben genau ihm „durch dieses System am meisten […] anzunähern glaube“ (AA I,10, S. 115).12 Dass somit eine inhaltliche wie methodische Nähe zu Spinoza nicht einfach nur besteht, sondern Schelling auch noch nachdrücklich auf sie hinweist, kann den Eindruck erwecken, die Identitätsphilosophie habe sich tatsächlich ganz auf die philosophische Bahn Spinozas begeben.13 Doch gerade im Hinblick auf die ontologische Auffassung des Einzelnen lohnt es sich, der Frage genauer nachzugehen, wie Schellings Identitätsphilosophie tatsächlich zu Spinoza steht. Verfolgen wir diese Frage, indem wir uns Schellings Ontologie aus dem System der gesammten Philosophie im Grundzug vor Augen führen und zu der Position ins Verhältnis setzen, die Spinoza in der Ethik vertritt. Schelling führt die absolute Identität, in der die Nähe zu Spinoza gründet, als Einheit des Erkennenden und des Erkannten, des Subjektiven und des Objektiven, aber allgemeiner noch als Einheit des Affirmierens und des Affirmiert-Seins ein.14 Das Begriffspaar Affirmieren/Affirmiert-Sein erlaubt es, sowohl in erkenntnismäßiger als auch in ontologischer Hinsicht konkretisiert zu werden. Indem die absolute Identität sich selbst affirmiert, erkennt sie sich nicht nur, sondern als Selbstaffirmation fungiert sie auch als causa sui, als Grund der eigenen Existenz. Damit ist ein Absolutes benannt, wobei absolut, wie Schelling schreibt, nur ein solches [ist], welches von sich selbst und durch sich selbst ist. Aber von sich und durch sich selbst seyn, heißt: seyn durch seine eigne Affirmation, heißt also: von sich selbst das Affirmirende und das Affirmirte seyn.15
Was kraft der eigenen Affirmation existiert, bezeichnet Schelling als ‚Gott‘, da das, was „sich selbst absolut affirmirt, und also von sich selbst das Affirmirte ist, […] nur das Absolute oder Gott“ sei.16 Seine Ausführungen führt er schließlich in einer bündigen Bestimmung des Ausgangspunkts seines Systems zusammen: „Das Erste in der Philosophie ist die Idee des Absoluten. […] Der Ausgangspunkt ist die absolute Identität des Affirmirenden und Affirmirten oder des Subjekts und des Objekts“.17
12 Schellings Werke werden zitiert nach Schelling 1976ff. (AA Reihe, Band, Seitenzahl) und Schelling 1856-61 (SW Band, Seitenzahl). 13 In diesem Sinne erklärt er 1804 in Philosophie und Religion außerdem unumwunden: „Die letzten Anklänge alter, ächter Philosophie wurden durch Spinoza vernommen“ (AA I,14, S. 279). 14 AA II,7,1, S. 111f. 15 Ebd., S. 113. 16 Ebd. 17 Ebd. S. 119.
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Dieser absoluten Identität spricht Schelling sämtliche Bestimmungen zu, die man auch bei Spinoza finden kann. Auf den ersten Blick scheint er Spinoza an vielen Stellen sogar wörtlich zu übernehmen. So ist die causa-sui-Struktur der Substanz bei Spinoza vorgebildet, und was Spinoza in Gestalt von Denken und Ausdehnung als zwei Attribute dieser Substanz versteht, deutet Schelling als Subjekt und Objekt, Affirmation und Affirmiert-Sein. Darüber hinaus existiert die Schelling’sche absolute Identität wie auch der Gott Spinozas notwendigerweise als einzige,18 ewige,19 unendliche Substanz der gesamten Wirklichkeit;20 diese Substanz tritt, wie Schelling im Einklang mit Spinoza betont, nicht aus sich heraus, um eine von ihr verschiedene Welt zu erschaffen.21 In diesem Sinn soll sie keine äußere „Ursache des All, sondern das All selbst“22 – oder wie Spinoza sagt: „die immanente, nicht aber die übergehende Ursache aller Dinge“23 – sein. Schelling formuliert insoweit einen immanenzphilosophischen Substanzmonismus, der in der Tat größte Verwandtschaft zu Spinoza aufweist. Betrachtet man die beiden Versionen dieses Monismus aber genauer, gewinnt allmählich ein wesentlicher Unterschied an Kontur. Dieser Unterschied kündigt sich darin an, wie Schelling und Spinoza sich ausdrücken, wenn sie das Prinzip der Immanenz formulieren. Schelling sagt wiederholt in einer gewissen Zuspitzung: „Alles, was ist, ist, insofern es ist, die absolute Identität“ bzw. „Gott“.24 Spinoza drückt sich dagegen konsequent folgendermaßen aus: „Was auch immer ist, ist in Gott“25 bzw. „Alles, was ist, ist in Gott“.26 Der Unterschied zwischen diesen Formulierungen besteht offensichtlich darin, dass Spinoza anders als Schelling die Präposition ‚in‘ verwendet. Wenden wir uns zunächst den Implikationen der Schelling’schen Formulierung zu.
1.1 Das Gott-Sein der Einzeldinge nach Schelling Wenn Schelling auf die Präposition ‚in‘ verzichtet, scheint er sagen zu wollen, dass alles, was wahrhaft ist, Gott sei – dass in Wahrheit also nur Gott existiere und die Dinge allein in dem Maße über eine wahrhafte Existenz verfügten, insoweit sie Gott sind. 18 Ebd., S. 120; vgl. E1p14. Spinozas Ethik wird gemäß Konvention zitiert mit der Sigle E sowie der Angabe des Teils (1-5), des Lehrsatzes (pX), ggf. des Beweises (d), Folgesatzes (c) und der Anmerkung (s). Das Kürzel ‚def‘ steht für ‚Definition‘, ‚ax‘ für ‚Axiom‘, ‚praef‘ für ‚Vorwort‘, ‚app‘ für ‚Anhang‘. Alle Zitate sind der Ausgabe entnommen: Spinoza 1999. 19 AA II,7,1, S. 121; E1p19. 20 AA II,7,1, S. 122; vgl. E1p13. 21 AA II,7,1, S. 130. 22 Ebd., S. 135. 23 E1p18. 24 AA II,7,1, S. 119f. 25 E1p15. 26 E1p18dem.
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Schelling will damit freilich nicht behaupten, dass die Dinge mit Gott vollkommen deckungsgleich wären. Er wählt jedoch häufig Formulierungen, die zumindest eine Identifikation alles wahren Seins mit Gott zum Ausdruck bringen: „Alles Seyn also, das nicht das Seyn Gottes ist, ist kein Seyn, sondern vielmehr Negation des Seyns“.27 Da Gott in seinem Sein unendlich ist und sein Sein zugleich das einzig wahre Sein ist, folgert Schelling, dass nichts „an sich betrachtet endlich“ sei und „vom Standpunkt der Vernunft aus überall keine Endlichkeit sey“.28 In der Vernunft, die mit Gott substantiell identisch ist, „geht alle Endlichkeit und alle Subjektivität unter“.29 Die ontologische Dignität, die Schelling Gott zugesteht, ist mithin derart grenzenlos, dass sie in sich nicht nur keine Endlichkeit, sondern auch keinerlei Differenz duldet.30 Aus der These, dass alles, was in Wahrheit ist, Gott sei, ergibt sich für Schelling vor allem, dass es in Gott keine „wesentliche oder qualitative Differenz“ geben kann.31 In dem Maße wie Gott das ganze Sein ausmacht, liegt in ihm auch alles Wesen und alle Qualität; nichts kann der Qualität nach etwas anderes als Gott sein. Was der Qualität nach nicht Gott wäre, würde Schelling zufolge gar nicht wahrhaft existieren. Die einzigen Unterschiede, die es in Schellings Augen geben kann, sind solche der Quantität32 – dieser Punkt ist für die identitätsphilosophische Systemkonzeption von maximaler Reichweite. Quantitative Differenzen bestehen in einem „Uebergewicht entweder des Affirmirens oder des Affirmirtseyns“,33 dann also, wenn einer der beiden Pole, die in Gott miteinander völlig identisch sind, überwiegt. Nun leuchtet sofort ein, dass es solche quantitativen Differenzen im Grunde genauso wenig in Gott geben kann wie die qualitativen, denn Gott ist nach Schelling als eine vollkommene differenzlose Identität der beiden Pole zu denken. Wenn es also quantitative Differenzen geben soll, dann können sie nicht in Gott selbst, sondern sie müssen außerhalb von ihm liegen. Die folgenreichste Bestimmung der Schelling’schen Ontologie ist vor diesem Hintergrund die folgende: „Was als quantitative Differenz gesetzt ist, ist in Bezug auf das All selbst nur als (relativ) negirt – als Nicht-Wesen – gesetzt.“34 Damit legt Schelling fest, dass Verhältnisse, in denen kein Ausgleich von Affirmiertem und Affirmation und insofern eine Differenz zwischen beiden der Quantität nach besteht, als Nicht-Wesen zu betrachten sind.35 Sie fallen teilweise aus Gott und damit aus dem, was Sein in Wahrheit ist, heraus. 27 28 29 30 31 32 33 34 35
AA II,7,1, S. 120. Ebd., S. 123. Ebd. S. 111. Zum Status des Endlichen vgl. auch die umsichtige Analyse von Ziche 2017. AA II,7,1, S. 137. Ebd., S. 137-139. Ebd., S. 137. Ebd., S. 138. Es klingt hier eine Formulierung Jacobis an, der in seinem die Spinoza-Renaissance in der klassischen deutschen Philosophie prägenden Buch schreibt: „Die einzelnen Dinge also, in so
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Zu Schellings grundlegender These, dass alles was ist, insofern es wahrhaft ist, Gott sei, tritt also eine zweite, nach der es gleichwohl Dinge gibt, die nicht Gott sind und denen daher auch kein wahrhaftes Sein zukommt. Diese beiden Thesen bilden den Kern der Schelling’schen Theorie der Einzeldinge, einschließlich des Menschen, die bis in seine politische Position hinein prägend bleibt: Einzeldinge sind für Schelling eben solche Strukturen, die sich durch eine quantitative Differenz zwischen Affirmation und Affirmiert-Sein auszeichnen und damit zum Teil aus Gott als dem einzig wahren Sein herausfallen. Schelling erklärt in dieser Perspektive, indem er nun auch die Präposition ‚in‘ einbezieht, dass jedes Einzelne einerseits im All [ist], und es ist [dort andererseits; jgs] auch nicht. Es ist, inwiefern es durchdrungen ist vom unendlichen Begriff Gottes und des Alls, es ist nicht, inwiefern es etwas für sich ist. […] Eben jenes Seyn und relative Nichtseyn des Besonderen im All ist der Keim der gesammten Endlichkeit.36
Dass Schelling diese negative Bestimmung des Endlichen auch in der Folge nicht positiv wendet, wird daran ersichtlich, wie er die Doppelnatur der endlichen Dinge näher charakterisiert. Dazu greift er auf die Struktur des platonischen Repräsentationsmodells zurück, das sich bei Spinoza so – wie er selbst betont37 – nicht findet.38 Schelling nimmt ein Teilhabeverhältnis zwischen Einzeldingen und Substanz an, wobei die Einzeldinge an der Substanz nur partizipieren, insoweit sie „Idee“ als „Urgestalt, das Wesen in den Dingen, gleichsam das Herz der Dinge“39 und über die Idee „ins Allgemeine, ins Unendliche aufgelöst[]“40 sind. Insoweit die Dinge nicht im Absoluten aufgelöst sind, bestimmt Schelling sie als bloße „Erscheinung der Idee“41 und damit auch als „Widerschein oder Reflex des All“.42 Wenn Schelling also vom Nicht-Sein der endlichen Dinge redet, dann spricht er ihnen nicht etwa schlechtweg alles Sein ab, sondern ihr Nicht-Sein entspricht dem, was Platon μὴ
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ferne sie nur auf eine bestimmte Weise da sind, sind die non-entia; und das unbestimmte unendliche Wesen, ist das einzige wahrhafte ens reale, hoc est, est omne esse, & praeter quod nullum datur esse.“ (Jacobi 2000, S. 95f.) Jacobi betont damit zwar den Unterschied zwischen Substanz und Einzelding, er behauptet jedoch nicht, wie Schelling es in der Folge tut, dass die Einzeldinge bloßer Schein wären und die göttliche Substanz allein über das wahre Sein verfügte. Jacobi betont vielmehr, dass „die unendliche Einzige Substanz des Spinoza […] für sich allein, und außer den einzelnen Dingen, kein bestimmtes oder vollständiges Dasein“ (ebd., S. 28) habe. Vgl. zu Jacobis Philosophie insgesamt Sandkaulen 2000. AA II,7,1, S. 138. Ebd., S. 140. Siehe hierzu auch die Rekonstruktion von Schellings Kritik der Repräsentation bei Whistler 2013, S. 81-85 und S. 107-111. Whistler arbeitet pointiert heraus, inwiefern der Repräsentationscharakter der Dinge nach Schelling, hält man sich nur an ihn, einen unangemessenen Zugang zur Wahrheit bietet. AA II,7,1, S. 140. Ebd., S. 141. Ebd., S. 146. Ebd., S. 150.
ὄν nennt, das im Vergleich zu den Ideen Nicht-wahrhaft-seiend-Sein der sinnlichen Dinge.43 Der für Schellings Ontologie charakteristische Zug besteht mithin darin, dass er in seinen zunächst an Spinoza erinnernden Ansatz Elemente aus der Tradition des Platonismus einblendet.44 Damit hält ein dualistisches Moment Einzug in seine zunächst monistisch ausgerichtete Theorie. Dieser Dualismus stellt sich zwischen dem wesentlichen Immanenzraum der absoluten göttlichen Substanz einerseits und den unwesentlichen endlichen Dingen andererseits ein. Schelling markiert diesen Dualismus, wenn er erklärt, dass die Dinge „ein gedoppeltes Leben: ein Leben in der Substanz und ein Leben in sich selbst oder ein besonderes Leben“ führen, wobei das Leben der Dinge in ihnen selbst ein „bloßes Scheinleben“, ein „kraftloses Zerfallen“ in Differenz und Mannigfaltigkeit sei.45 Insofern wird deutlich, dass Schelling ein In-Sein der Dinge in Gott annimmt, das die Dinge jedoch nur betrifft, insoweit sie Idee sind. Entscheidend ist, dass Schelling den Immanenzraum der göttlichen Substanz insgesamt als einen reinen Ideenraum konzipiert, der die Einzeldinge nicht als Ganze umgreift. Den Einzeldingen eignet nämlich eine Negativität, durch die sie in ihrer jeweiligen konkreten Bestimmtheit von ihren in Gott liegenden Ideen getrennt bleiben. Schelling erläutert anhand eines Beispiels, wie ein Einzelding in seinem negativen Verhältnis zur ideal aufgefassten göttlichen Substanz konkrete Bestimmtheit erreicht. Fragt man etwa, was die Besonderheit einer bestimmten Pflanze ausmacht, so lautet die Antwort: „Nichts anderes als dieß, daß sie ihren Allgemeinbegriff nicht vollkommen ausgedrückt in sich darstellt, weil sie nur zum Theil ist, was sie ihrem Begriff nach seyn könnte. Kurz also, weil sie Negation ihres Allgemeinbegriffs ist.“46 Dieses Beispiel veranschaulicht, dass das Spezifische eines Dings für Schelling in der Tat nicht in etwas Positivem, sondern ausschließlich in einer Privation jener idealen Allgemeinheit gesucht werden muss, die in der idealen göttlichen Substanz ihren Ort hat. Schelling zieht die damit zusammenhängende Konsequenz explizit auch für den Menschen: „Der einzelne Mensch z.B. ist einzelner Mensch nicht kraft der Idee, sondern vielmehr weil er nicht die Idee [meine Hervorhebung; jgs], Negation der Idee ist.“47 Die Konsequenz aus der rein negativen Bestimmung der endlichen Dinge ist erstens, dass sie ihr ideales Wesen nie vollkommen realisieren, sondern immer nur auf eine defizitäre Weise verkörpern, und deshalb zweitens auch die göttliche Substanz selbst in der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit bloß unvollkommen erscheint. Gradmesser dieser Unvollkommenheit ist für Schelling stets eine bestimmte quantitative 43 44 45 46 47
Ebd., S. 175. Vgl. hierzu auch Tilliette 1992, S. 367f. AA II,7,1, S. 167f. Ebd., S. 141. Ebd., S. 146.
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Differenz zwischen Affirmation und Affirmiert-Sein, Subjekt- und Objektpol, die sich in der Erscheinung manifestiert. Auf dieser Grundlage vertritt er eine Ontologie der Realitätsgrade:48 Je näher ein einzelnes Ding zu Gott steht, umso realer ist es; und es rückt umso näher an die göttliche Substanz heran, je ausgeglichener das Verhältnis des Subjekt- und Objektpols in ihm ist – und das wiederum heißt, dass einem Ding umso mehr Realität zukommt, je weniger quantitative Differenz sich in ihm bemerkbar macht. Da in Gott gar keine (quantitative) Differenz besteht, ist er das Allerrealste. Dieses Niveau ist in der Erscheinungswelt zwar nicht unmittelbar zu erreichen, aber immerhin eine Art gelungener Abbildung dieser Differenzlosigkeit. Wie wir noch sehen werden, ist es in Schellings Augen der Mensch und dann auch der Staat, die eine solche Abbildung zu realisieren vermögen. Im Hinblick auf das, was folgt, ist der ontologische Grundsachverhalt festzuhalten: Indem Schelling die Einzeldinge negativ in Bezug auf den Ideenraum der göttlichen Substanz bestimmt, wird ihr ontologischer Status prekär. Denn sie verfügen nur insofern über wahres Sein, als sie am Raum der Ideen partizipieren. Da sie ihre Ideen in der sinnlich-konkreten Wirklichkeit nie vollkommen realisieren können, sind sie ontologisch immer zum Teil als Schein qualifiziert. Darin, dass das Einzelne als Einzelnes immer mit Schein behaftet bleibt, gründet bei Schelling seine ontologische Prekarität. Nun scheint sich genau diese Prekarität einer überaus verbreiteten Meinung nach genauso aus der Ontologie Spinozas zu ergeben. So schreibt etwa Salomon Maimon: Spinoza behauptet nach dem Parmenides, nur das Reelle, vom Verstande begriffene existirt, was mit dem Reellen in einem endlichen Wesen verknüpft ist, ist bloß die Einschränkung des Reellen, eine Negation, der keine Existenz beigelegt werden kann.49
Auch Hegel vertritt mitunter eine verwandte Sicht, u.a. in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie: Spinoza ist wie gesagt an der Schwindsucht gestorben; es spricht sich darin gleichsam die ganze Natur seines Systems aus. Alle Vereinzelung, alle Modifikation erscheint darin als ein schlechthin Nichtiges, Verschwindendes.50
Wie ich nun zeigen möchte, geht die Meinung, das Einzelne sei auch bei Spinoza bloßer Schein, an dessen tatsächlicher Konzeption vorbei. Dieser Unterschied wirkt sich bis in die Sphäre des Politischen aus.
48 Ebd., S. 162f. 49 Maimon 1970, S. 62f. Den Hinweis auf Maimon verdanke ich Daniel Elon. Zu Maimons Bedeutung für die klassische deutsche Philosophie allgemein vgl. Melamed 2004. 50 Hegel 2016, 419. Zum zwiespältigen Verhältnis Hegels zu Spinoza sowie die Rolle Schellings dabei vgl. Sandkaulen 2007, insbesondere S. 263f.
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1.2 Das In-Gott-Sein der Einzeldinge nach Spinoza Wenn Spinoza anders als Schelling konsequent die Präposition ‚in‘ gebraucht und davon spricht, dass alles, was ist, in Gott sei, behauptet er offensichtlich, dass alles, was existiert, nicht selbstständig und außerhalb von Gott, sondern allein in Gott existieren kann. Diese These beinhaltet für Spinoza zunächst einmal, dass es neben der einen Substanz, die Gott ist, nicht noch eine zweite oder gar mehrere geben kann; und das wiederum bedeutet, dass nichts unabhängig von Gott existiert, das „in sich selbst ist und durch sich selbst begriffen wird“.51 Denn das In-sich-selbst-Sein und Durch-sich-selbst-begriffen-Werden sind die beiden Definitionsmerkmale, durch die sich eine Substanz für Spinoza auszeichnet.52 Im Unterschied dazu betrachtet er Seiendes, das keine Substanz und daher auch nicht in sich selbst ist und entsprechend auch nicht aus sich selbst heraus begriffen werden kann, als Modus. Für einen Modus gilt definitionsgemäß, dass er „in einem anderen ist, durch das [er] auch begriffen wird“.53 Dieses Andere, in dem der Modus ist und durch das er begriffen wird, ist nichts anderes als die göttliche Substanz. Spinozas These, dass alles, was ist, in Gott sei, wendet sich insofern sowohl gegen die ontologische als auch die epistemologische Selbständigkeit des endlichen Seienden, der konkreten Einzeldinge. Wie für Schelling gibt es auch für Spinoza nur eine Substanz, von der die Einzeldinge ontologisch abhängen und im Rückgang auf die sie allein angemessen begriffen werden können. Im Vergleich zu Schelling ist aber von ausschlaggebender Bedeutung, dass das Verhältnis der Einzeldinge zur Substanz für Spinoza nicht als ein negatives Repräsentationsverhältnis beschrieben werden kann. Zwar unterscheiden sich die Einzeldinge definitionsgemäß von der Substanz, sie sind dadurch aber nicht durch eine ontologische Kluft von ihr getrennt. Sehen wir uns in diesem Zusammenhang als Erstes eine Stelle an, an der auch Spinoza den endlichen Einzeldingen eine gewisse Negativität zuspricht, indem er nämlich sagt, dass „endlich sein der Sache nach eine partielle Verneinung ist“.54 Es kommt nun darauf an, worauf sich diese partielle Verneinung bezieht. Die Aussage, Endlich-Sein sei eine partielle Verneinung, steht bei Spinoza im Zusammenhang mit dem Beweisziel, dass eine Substanz als unendlich begriffen werden muss. Um den Nachweis dafür zu führen, argumentiert er mit einer reductio: Was eine Substanz ist, muss unendlich sein, „[d]enn nähme man eine endliche Substanz an, dann spräche man ihrer Natur partiell die Existenz ab, was […] widersinnig ist“.55 Spinozas These ist demnach, dass das Sein einer Substanz unendlich und niemals endlich sein kann, 51 52 53 54 55
E1p15dem. E1def3. E1def5. E1p8s1. Ebd.
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weil was endlich ist nur zum Teil existierte, aber eine Substanz als unendliche nicht nur zum Teil existieren kann. Die partielle Verneinung, die das Endlich-Sein bedeutet, bezieht sich hierbei augenscheinlich auf die Existenz. Anders als Substanzen existieren somit endliche Dinge, also Modi, nur zum Teil. Soweit könnte man noch meinen, Spinoza würde etwas Ähnliches wie Schelling sagen. Was ist nun aber mit dem Zum-Teil-Existieren der Einzeldinge bei Spinoza genau gemeint? Grundsätzlich ist klar, dass etwas, das zum Teil existiert, nicht aller Existenz entbehren und zwangsläufig nur noch als bloßer Schein eine prekäre Rolle spielen kann. Was zum Teil existiert, existiert sehr wohl, aber eben nur zum Teil. Des Weiteren kann man aus dem Kontext der Argumentation Spinozas die Negativität des Endlichen schwerlich anders verstehen als so, dass sie nicht die Substanz überhaupt, sondern vielmehr die Unendlichkeit der Substanz negiert. Indem er die Substanz als unendlich charakterisiert, behauptet Spinoza ein unbegrenztes Sein der Substanz. Eben deshalb, weil eine Substanz von nichts begrenzt wird, kann es keine zwei oder gar mehrere, sondern nur eine einzige geben. Als unendliche ist diese eine Substanz sozusagen überall zugegen.56 Es gibt keinen logischen Raum für eine zweite. Dasselbe gilt jedoch nicht für die endlichen Einzeldinge. Einzeldinge gibt es viele und sie begrenzen sich untereinander. Spinozas These, dass ein endliches Ding nur zum Teil existiert und insofern die Existenz (der unendlichen Substanz) partiell negiert, kann man daher so verstehen, dass ein endliches Ding im Unterschied zur Substanz nicht etwa gar nicht, sondern lediglich nicht überall zugegen ist.57 Und das ist für Spinoza kein Makel, sondern vielmehr die logische Voraussetzung dafür, dass etwas Endliches überhaupt etwas Bestimmtes sein kann. Wenn er also den Einzeldingen Negativität zuspricht, impliziert das nicht deren ontologische Trennung von Gott, sondern Spinoza versucht darüber vielmehr gerade das Zugegen-Sein dieser Dinge in der Form der Bestimmtheit zu sichern, über die die omnipräsente Substanz als solche betrachtet nicht verfügt. Spinoza würde insofern Schellings Formulierung widersprechen, dass es ‚überall keine Endlichkeit‘ gibt. In seinen Augen ist vielmehr das Gegenteil der Fall.58 Dass es für Spinoza in der Tat keine ontologische Kluft zwischen Einzeldingen und Substanz gibt, bestätigt sich weiter. Schelling selbst räumt ein, dass Spinoza zwischen den Dingen und der göttlichen Substanz kein Repräsentationsverhältnis 56 Dass die Unendlichkeit als Omnipräsenz zu verstehen ist, klingt auch in Jacobis berühmten Diktum an, nach dem der Gott Spinozas als das ‚Sein in allem Dasein‘ zu sehen sei: „Der Gott des Spinoza, ist das lautere Principium der Würklichkeit in allem Würklichen, des Seins in allem Dasein, durchaus ohne Individualität, und schlechterdings unendlich.“ (Jacobi 2000, S. 45). 57 Zudem gehört die Existenz bereits zu Gottes Wesen, sodass er notwendigerweise existiert (E1p20). Dagegen ist die Existenz keine Wesenseigenschaft der Einzeldinge (E1p24c). Es ist nämlich genauso trivial wie wahr, dass ein Einzelding sowohl existieren als auch nicht existieren kann, seine Existenz also, anders als diejenige Gottes, nicht notwendig ist. 58 Vater vertritt die gegenteilige These, vgl. Vater 2012, S. 158ff.
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annehmen würde. Und tatsächlich ist Spinoza nicht der Auffassung, dass die Einzeldinge von der göttlichen Substanz nur insofern abhängen würden, als sie Ideen repräsentierten. Dieser Unterschied zielt ins Zentrum der Konzeptionen Schellings und Spinozas. Anders als Schelling macht Spinoza nämlich klar, dass Gott auch „die Ursache des Seins der Dinge ist“59 – er betrachtet die göttliche Substanz als „die einzige Ursache aller Dinge […], sowohl ihrer Essenz als auch ihrer Existenz“ nach.60 Seine maßgebliche Bestimmung des Verhältnisses zwischen Substanz und Einzelding besagt, dass die Dinge endliche Modi sind, „von denen Gottes Attribute auf bestimmte und geregelte Weise ausgedrückt werden“.61 Der Unterschied mag subtil erscheinen, er ist aber von grundlegender Bedeutung: Was Schelling als Repräsentationsverhältnis konzipiert, beschreibt Spinoza als eine Ausdrucksbeziehung.62 Indem die Dinge Schelling zufolge Gott repräsentieren, sind sie lediglich dessen unvollkommene Abbilder und bewegen sich damit in der Sphäre negativ abgeschatteten Scheins. Bei Spinoza hingegen realisieren die Dinge diese Attribute und werden dabei als positive Seiende betrachtet. Wie grundlegend dieser Sachverhalt die Überlegungen Spinozas informiert, wird zunehmend deutlicher, wenn man den Ausführungen vom ersten Teil der Ethik, wo er die These von der Ausdrucksbeziehung erstmals formuliert, bis in den dritten Teil folgt, wo er sich dem Affektleben der Menschen zuzuwenden beginnt und sie im Kontext seiner Theorie des conatus wieder aufgreift: „Jedes Ding strebt“, lehrt er dort, „gemäß der ihm eigenen Natur, in seinem Sein zu verharren [in suo esse perseverare conatur]“,63 und dieses „Streben [conatus], mit dem jedes Ding in seinem Sein zu verharren strebt, ist nichts anderes als die wirkliche Essenz ebendieses Dings“.64 Das Selbsterhaltungsstreben wird hier augenscheinlich zum individuellen Wesen der Einzeldinge erklärt. Das Wesen der Einzeldinge ist somit keine Idee, sondern ein konkretes existentiales Streben, das in dem Ding selbst liegt. Zudem ist dieses Streben nicht etwa eines, das Spinoza als Schein einstufen und sodann negativ von Gott abheben würde. Es erklärt sich für ihn vielmehr aus eben dem, was er bereits im ersten Teil sagt und im dritten wörtlich wiederholt, dass „Einzeldinge […] nämlich Modi [sind], von denen Gottes Attribute auf bestimmte und geregelte Weise ausgedrückt werden“.65 Was das im Einzelnen heißt, macht er spätestens im vierten Teil der Ethik klar: Die Macht, kraft deren Einzeldinge und folglich der Mensch sein Sein erhält, ist genau Gottes Macht, d.h. die der Natur […], nicht insofern sie unendlich ist, sondern insofern 59 60 61 62 63 64 65
E1p24c1. E2p10s. E1p25. Zur grundlegenden Bedeutung des Ausdrucks in Spinozas Philosophie vgl. Deleuze 1993. E3p6. E3p7. E3p6dem.
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sie durch des Menschen wirkliche Essenz erklärt werden kann […]. Des Menschen Macht ist also, insofern sie sich durch seine wirkliche Essenz erklären läßt, Teil von Gottes oder der Natur unendlicher Macht […].66
Damit ist klar, wie sehr die göttliche Substanz und die Einzeldinge einschließlich der Menschen für Spinoza miteinander verbunden sind. Das Einzel-Sein ist für ihn Teil der göttlichen Substanz, deren Unendlichkeit es zwar negiert, deren Macht aber dennoch auch in der Endlichkeit genau die seine bleibt. Mitnichten ist das Einzelne hierbei etwas, was wie bei Schelling als Schein aus Gott herausfallen würde.67 Halten wir fest: Spinoza nimmt ein vollumfängliches, Schelling nur ein ideales In-Sein des Einzelnen in der göttlichen Substanz an. Um eine Aussage Schellings aufzugreifen und im Lichte Spinozas umzuformulieren: Das Einzelne führt nach Spinoza kein gedoppeltes Leben, sondern sein Leben in sich selbst ist zugleich sein Leben in der Substanz. Der ontologische Status des Einzelnen erweist sich daher bei Spinoza als weniger prekär als bei Schelling, denn das Einzelne ist bei ihm komplett Teil der ontologischen Sphäre positiven Seins, während es bei Schelling aufgrund seiner nicht-idealen Seite aus dieser Sphäre herausfällt. – Diese Gegenüberstellung mag an der gegenwärtigen Stelle der Argumentation noch abstrakt wirken. Dass sie tatsächlich von größter Relevanz ist, zeigt sich spätestens dort, wo Schelling und Spinoza ethisch-politische Konsequenzen mit ihren unterschiedlichen Positionen verbinden. Bevor wir uns dem Politischen zuwenden, verdient die Frage nach der Freiheit unsere Aufmerksamkeit.
2. Göttliche und menschliche Freiheit Neben dem prekären ontologischen Status des Einzelnen ist die Kritik individueller Freiheit eine weitere philosophische Überzeugung, die Schelling mit Spinoza zu teilen scheint. In der Tat kommen beide darin überein, dass sie dem Individuum 66 E4p4dem. 67 An einem der kontroversesten Aspekte der conatus-Lehre wird ersichtlich, wie sehr Spinoza den Einzeldingen tatsächlich ontologische Positivität zuerkennt. So impliziert der conatus, dass das Wesen der Einzeldinge in reiner Selbstaffirmation besteht, denn „die Definition eines jeden Dings bejaht […] die Essenz des Dinges, verneint sie aber nicht. […] Solange wir demnach nur auf das Ding selbst und nicht auf äußere Ursachen achten, werden wir in ihm nichts finden können, das es zerstören könnte“ (E3p4dem). Kann ein Einzelding nach Spinozas Auffassung nur durch äußere Ursachen zerstört werden, wird es freilich „immer fortfahren […] zu existieren, falls es nicht von einer äußeren Ursache zerstört wird“ (E3p8dem). Eine Selbsttötung im strikten Sinne ist damit ausgeschlossen. Diese affirmative Position impliziert ferner, dass es „kein Einzelding“ gibt, „in Bezug auf das es nicht ein anderes gäbe, das mächtiger und stärker ist […], von dem es zerstört werden kann“ (E4ax). Ontologisch relevant ist hierbei nicht zuletzt die Implikation, dass es zu Konfrontationen wie auch überhaupt zu Verhältnissen zwischen Einzeldingen allererst kommen kann, wenn es diese einzelnen Dinge grundsätzlich gibt, wenn sie also existieren und kein bloßer Schein sind.
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als Individuum keine echte Willensfreiheit zugestehen. Obwohl wir nicht in eine detaillierte Diskussion der beiden Freiheitsauffassungen eintreten können, ist ein wesentlicher Unterschied sichtbar zu machen, der die politischen Ansätze der beiden Denker auf grundlegende Weise informiert: Schellings Kritik individueller Freiheit fällt rigoros und damit radikaler aus als diejenige, die Spinoza vertritt. Halten wir im Hinblick darauf zunächst den systematischen Angelpunkt fest, an dem beide Konzeptionen sich berühren, und verfolgen dann skizzenhaft, wie sie ihre Auffassungen von der Freiheit auf unterschiedliche Weise konkretisieren. Schelling führt zunächst die basale These ein: „Eine freie Ursache kann nur diejenige heißen, welche, kraft der Nothwendigkeit ihres Wesens, ohne alle andere Bestimmung, nach dem Gesetz der Identität handelt.“68 Damit greift er auf, was Spinoza in Definition 7 des ersten Teils der Ethik sagt: „Dasjenige Ding heißt frei, das allein aus der Notwendigkeit seiner Natur heraus existiert und allein von sich her zum Handeln bestimmt wird.“69 Auf der Grundlage dieser Definition argumentiert Spinoza sodann in Lehrsatz 17 des ersten Teils: „Gott handelt nach den bloßen Gesetzen seiner Natur und von niemandem gezwungen“, woraus folgt, „daß allein Gott eine freie Ursache ist“.70 Ultimativ hat diese Freiheit Gottes offensichtlich mit der Struktur der causa sui zu tun: Da Gott Grund seiner eigenen Existenz ist, hängt er schon in der Tiefenschicht seines Seins von nichts anderem als sich selbst ab. Seine Notwendigkeit ist zugleich seine Freiheit. Schelling teilt diese Position und resümiert sie dergestalt, dass erstens „Gott allein wahrhaft frei heißen könne“ und zweitens – darauf wird es im Vergleich zu Spinoza ankommen – „alle andere Freiheit außer der, die im Göttlichen ist, nichtig sey“.71 Die Frage, die auf den maßgeblichen systematischen Unterschied zwischen Schellings und Spinozas Auffassungen führt, ist, ob daraus, dass der Mensch nicht über die Freiheit Gottes verfügt, unmittelbar folgt, dass der Mensch über gar keine Freiheit verfügt bzw. die menschliche Freiheit, worin immer sie besteht, nichtig ist.
2.1 Die Nichtigkeit menschlicher Freiheit bei Schelling Schelling vertritt diese Ansicht. Der Mensch sei nämlich „nicht für sich selbst frei, sondern für sich und dem eignen Leben nach betrachtet, fällt er der Nothwendigkeit und dem Verhängniß in dem Maße anheim, in welchem er seine Freiheit als seine von der göttlichen trennt“.72 Anders als für Gott fallen demnach für den Menschen Notwendigkeit und Freiheit nicht in eins. Es ist nun analytisch zu unterscheiden 68 69 70 71 72
AA II,7,1, S. 413. E1def7. E1p17c1. AA II,7,1, S. 414. Ebd., S. 416.
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zwischen dem Umstand, dass der Mensch der Notwendigkeit anheimfällt, und dem Grund, den Schelling dafür anführt. Betrachtet man nur den Umstand, dass der Mensch in Schellings Augen der Notwendigkeit anheimfällt, ohne dabei zugleich wie Gott über dasselbe Maß an Freiheit zu verfügen, dann ist das soweit eine These, die auch Spinoza vertritt. Der Mensch ist auch Spinoza zufolge nicht Gott, sondern er ist vielmehr, wie überhaupt alle Dinge, komplett der Notwendigkeit der göttlichen Naturkausalität unterworfen, die sich darin manifestiert, dass die Dinge in der Welt „auf keine andere Weise und in keiner anderen Ordnung von Gott hervorgebracht werden können, als sie hervorgebracht sind“,73 und sich deshalb alles, was in der Welt geschieht, „nach einer gewissen ewigen Notwendigkeit“ ereignet.74 Im Zuge dieses starken Determinismus spricht Spinoza dem Menschen konsequent die Willensfreiheit ab. Denn wenn es nur eine mögliche Welt gibt, in der alles mit absoluter Notwendigkeit geschieht, dann bleibt innerhalb dieser Welt für die Freiheit offensichtlich kein Spielraum. Es kommt nun darauf an, genau zu beachten, worauf Schelling die Unfreiheit des Menschen zurückführt. Einerseits weist er die Willensfreiheit zurück, indem er im Geiste Spinozas auf den Determinismus verweist, der im göttlichen Universum gilt: „Die meisten denken sich unter Freiheit nichts anderes als Willkür, d.h. ein Vermögen zu thun, was ihnen beliebt“ – tatsächlich sei aber die „Willkür keine Freiheit“.75 Wer nämlich vorgebe, willkürlich etwas zu tun, handle in Wahrheit zumeist gar nicht frei, sondern getrieben „durch Affektionen der Lust, des Hasses, der Leidenschaft“,76 in Abhängigkeit von Trieben also, durch die die Menschen eingeschrieben in den großen Kausalzusammenhang des Universums sind. Soweit würde Spinoza, wie gesagt, zustimmen. – Worauf es Schelling aber andererseits und vor allem ankommt, hebt er mehrfach in eindringlichen Schilderungen hervor. Danach kann die Willkür prinzipiell schon deshalb keine Freiheit sein, weil ein Individuum sie für sich beansprucht. Grundsätzlich gelte nämlich: „Die Freiheit, welche sich das Individuum als Individuum zuschreibt, ist keine Freiheit, sondern bloße Tendenz absolut in sich selbst zu seyn, die an sich selbst nichtig ist“.77 Schelling ruft in diesem Kontext in Erinnerung, dass die Unfreiheit des Individuums metaphysisch verbürgt ist, indem er an den ontologischen Status des Endlichen erinnert: Der Grund der Endlichkeit liegt nach unserer Ansicht einzig in einem nicht-in-Gott-Seyn der Dinge als besonderer, welches, da sie doch ihrem Wesen nach oder an sich in Gott sind, auch als ein Abfall – eine defectio – von Gott oder dem All ausgedrückt werden kann.78 73 74 75 76 77 78
180
E1p33. E1app. AA II,7,1, S. 423. Ebd. Ebd. Ebd., S. 424.
Damit rückt der prekäre ontologische Status des Einzelnen in den systematischen Brennpunkt des Freiheitsproblems. Die Trennung, die Schelling in der Ontologie einführt, wirkt sich dergestalt in der Sphäre des Praktischen konkret aus: Der einzelne Mensch erscheint in dem Maße als unfrei, wie er von Gott, der die Freiheit selbst ist, getrennt bleibt. Schellings rigorose These lautet: Gott allein ist frei, weil er causa sui ist und für ihn Notwendigkeit zugleich Freiheit bedeutet; der einzelne Mensch ist dagegen unfrei, weil er nicht causa sui und seine vermeintliche Freiheit, insbesondere in Gestalt der Willkür, nicht die Freiheit Gottes ist. Er ist vielmehr einer Notwendigkeit ausgeliefert, die ihm keine Freiheit lässt. Der Ausdruck ‚Abfall‘ ist ein starkes Wort, um die tiefgreifende Trennung zwischen Gott und den einzelnen Menschen in ihrer ganzen existentiellen Dramatik zu markieren.79 Die Schwierigkeit, diese Freiheitsauffassung im Verhältnis zu Spinoza angemessen einzuschätzen, besteht darin, dass Schelling zu seiner These im Ausgang von Spinoza kommt, so dass die Differenz zunächst minimal zu sein scheint. Indem er den freiheitsrelevanten Unterschied zwischen Gott und Mensch rigoros zuspitzt, kann seine Auffassung zudem durch begriffliche Strenge bestechen. Wie wir jedoch sehen werden, verbaut Schelling sich durch sein rigoroses Insistieren auf der in der Trennung von Gott begründeten Unfreiheit des Menschen den Blick auf konkrete Freiheitsgrade, die der Mensch nach Spinoza gleichwohl zu erreichen vermag. Betrachten wir zunächst, welche ethischen Konsequenzen sich für Schelling aus der Unfreiheit des Menschen ergeben. Die Zurückweisung menschlicher Freiheit hängt grundsätzlich mit dem Problem der Zurechenbarkeit von Handlungen und darüber, wie Schelling sagt, mit den Begriffen „des Bösen, der Sünde, der Schuld, der Strafe u.s.w.“ zusammen.80 Ist der einzelne Mensch unfrei, kann er für seine Handlungen nicht mehr moralisch zur Rechenschaft gezogen werden.81 Da ein individuelles Handlungssubjekt allenfalls dem Anschein nach frei handelt, sind seine vermeintlichen Handlungen für Schelling nicht in Bezug auf dieses vermeintliche Subjekt zu bewerten; stattdessen seien sie „in Bezug auf die Ordnung der Natur“ zu betrachten,82 und zwar hinsichtlich ihrer Vollkommenheit. Wie wir im Kontext der Ontologie bereits gesehen haben, bemisst sich Vollkommenheit für Schelling am Grad der Angleichung an die göttliche Substanz, den eine Sache erreicht. Je weniger quantitative Differenz es birgt, umso näher steht es zu Gott. Nach dieser Regel bemisst sich nun auch der Wert einer Handlung: Schelling argumentiert, dass „die Lust und die Absicht andern zu schaden“, ontologisch nicht vorschnell „als etwas Böses“ betrachtet werden dürfe, sondern 79 Scheerlinck hat dem Begriff ‚Abfall‘ ausgehend von Philosophie und Religion eine instruktive Rekonstruktion gewidmet, vgl. Scheerlinck 2017, S. 139-210. 80 AA II,7,1, S. 416. 81 Vgl. hierzu die überzeugende Rekonstruktion von Schwenzfeuer 2017, insbesondere S. 116f., sowie Scheerlinck 2017, S. 262-272. 82 AA II,7,1, S. 418.
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darin vielmehr wie in allem Seienden „eine Art der Vollkommenheit, keineswegs aber eine Unvollkommenheit“ zu erkennen sei.83 Hinsichtlich der Vollkommenheit bestehen sodann graduelle Unterschiede: Wer unrecht handelt, steht für Schelling weiter weg von Gott – wer recht handelt, „andern zum Heil“,84 steht ihm näher. Schelling präsentiert diese Position als „Frucht einer universellen, den Menschen zur Natur zurückführenden Philosophie“, bei der es nicht zuletzt darum gehe, „die heitere Betrachtung der Welt und der Menschen“ zu lehren, wie wir manchmal auch „die Kraft und die Wildheit der Thiere bewundern und für eine Art der Perfektion halten, gesetzt auch, daß sie sich noch so schädlich für andere Thiere oder für den Menschen zeige.“85 In diesem fatalistischen Kontext überrascht die Polemik nicht, dass in Schellings Augen das „Sittengesetz […] der größt mögliche Wahn ist“, da es, vorgetragen von „eingebildeten Welterziehern und -Verbesserern“,86 die Schöpfung in allen ihren Realitäts- und Perfektionsgraden schlicht ignoriere. Systematisch bedeutend ist hierbei, wie Schelling unter der ontologisch begründeten Voraussetzung der Unfreiheit des Einzelnen moralische Begriffe wie das Böse und die Sünde konsequent als ontologische Verhältnisse deutet, die er zudem mehr und mehr mit christlichen Motiven normativ anreichert. Wohl bei keinem Konzept ist das so offensichtlich wie bei dem der Sünde. Sünde besteht Schelling zufolge grundsätzlich darin, auf der eigenen Individualität und vermeintlichen Freiheit in der Trennung von Gott zu beharren. Bereits die Annahme, dass es ein „unabhängiges Handeln gibt, oder, daß ein solches geglaubt wird, dieß eben ist die erste Sünde.“87 Analog heißt es: „Das ursprünglich Böse liegt also gerade darin, daß der Mensch etwas für sich selbst und aus sich selbst seyn will“.88 Schelling setzt somit derart fundamental an, dass bereits das Bestreben, die eigene Individualität unabhängig von Gott aufrecht zu erhalten, als verfehlt erscheint.89 Den Grund für diese Auffassung legt die Ontologie, indem sie zeigt, dass Einzelnes losgelöst von der göttlichen Substanz letztlich nichtig ist. In diesem Rückbezug auf die Ontologie wird allererst verständlich, was Schelling meint, wenn er sagt, seine Philosophie des Absoluten vermöge aus der sündhaften Illusion gottunabhängigen Einzel-Seins zu erlösen, indem sie nämlich „unsere Wiedergeburt in das All“90 initiiere – ausschlaggebend für diese Initiation sei, „sich der Freiheit als Selbstheit zu begeben“.91 Schelling 83 84 85 86 87 88 89
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 421. Ebd., S. 427. Ebd., S. 431. Diese Auffassung von Sünde ist noch unspezifischer als in der Freiheitsschrift und den Stuttgarter Privatvorlesungen, wo es heißt, Individualität werde dort erst sündhaft bzw. böse, wo sie „herrschend wird“ (AA II,8, S. 158). Vgl. zur differenzierten Betrachtung der Sünde im Verhältnis zum ontologischen Faktum des Abfalls: Scheerlinck 2017, insbesondere S. 164-171. 90 AA II,7,1, S. 424; siehe auch ebd., S. 427. 91 Ebd., S. 424.
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macht unmissverständlich klar, worauf er hinauswill: „Das höchste Ziel für alle Vernunftwesen ist die Identität mit Gott.“92 Strukturell wird dieser Anspruch durch die Ontologie insofern gestützt, als eine Vereinigung mit der göttlichen Substanz, die ja die Freiheit selbst ist, tatsächlich mit einem Erreichen absoluter Freiheit zusammenfallen würde. Dieser strukturelle ontologische Sachverhalt erfährt zugleich eine starke normative Zuspitzung, indem Schelling die Trennung des Einzelnen von der göttlichen Substanz mit dem biblischen Sündenfall und einer Rückkehr ins Paradies bzw. in einen immer stärker mit christlichen Bezügen ausgestatteten Gott parallelisiert.93 Diese Überlagerung macht sich vor allem dort bemerkbar, wo Schelling die Form der Identifikation mit Gott und das aus ihr resultierende tugendhafte Leben näher schildert. Zunächst ist festzuhalten, dass die Identität des Einzelnen mit Gott nicht in einer buchstäblichen Auflösung des Einzelnen in Gott, sondern nach Schelling in einer Art Bekehrung erreicht wird, in der sich die Seele des Menschen mit Gott identifiziert und dabei als ewig und überindividuell erfährt.94 Schelling schildert diese Identifikation folgendermaßen: „Die Seele soll ganz eins werden mit Gott und eben dadurch mit sich selbst“,95 wobei diese Identifikation nur „dem Ewigen der Seele möglich“ sei,96 also jenem idealen Teil, der nicht im sündhaften Selbstsein des Endlichen befangen bleibt. Schelling beschreibt diese Identifikation des Weiteren als Übergang in einen zeitlosen Zustand innerhalb der Zeit, der „einer plötzlichen Aufhellung und Erleuchtung des Bewußtseyns“ gleiche und „auf dem Standpunkt des Handelns wiederum nur als die Wirkung der Gnade, eines besonderen Glücks erscheinen“ könne.97 Augustinisch-lutherische Motive fließen hier augenscheinlich in Schellings Auffassung des Mensch-Gott-Verhältnisses ein. Die ethische Bedeutung der Identifikation mit Gott liegt in Schellings Augen darin, dass es für eine Seele, die in der Einheit mit Gott lebt, „kein Gebot mehr“ gebe.98 Die entscheidende Einsicht für ein tugendhaftes Leben bestehe überhaupt darin, „daß nicht wir handeln, sondern daß eine göttliche Nothwendigkeit in uns handelt“.99 Deshalb sei das „einzig wahre System für das Handeln […] der unbedingte Glaube, […] das feste Zutrauen zur absoluten Nothwendigkeit, die in allem 92 Ebd., S. 432. 93 Eine Hypothese, der ich an anderer Stelle nachgehen werde, ist, dass sich zwischen realem und idealen All im System der gesammten Philosophie implizit ein Übergang von einer monistischpantheistischen zu einer theistischen Gottesauffassung bereits vollzieht, wie man sie dann v.a. in der Freiheitsschrift sowie den Weltalter-Entwürfen finden kann. 94 Kisser schildert die Identifikation noch drastischer, indem er die Ethik des Identitätssystems direkt „als Auflösung der Endlichkeit und bedingungslosen Übergang zur Unendlichkeit“ (Kisser 2012, S. 310) interpretiert. 95 AA II,7,1, S. 427. 96 Ebd., S. 432. 97 Ebd. 98 Ebd., S. 428. 99 Ebd., S. 425.
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handelt“.100 Schelling betont, dass gottbezogene Tugendhaftigkeit nichts mit einer Religiosität der Andacht oder des Gefühls zu tun habe, sondern vielmehr mit gottergebener „Gewissenhaftigkeit“101 und „wahre[r] Frömmigkeit“102 erfolge, in der dem Menschen gar nichts anderes als das rechte Handeln Gottes bekannt werde. In einer gewissen Zuspitzung kann man sagen, dass moralische Handlungen unter den Bedingungen individueller Unfreiheit kaum zu unterscheiden sein dürften von Werken Gottes, die sich durch solche Menschen hindurch vollbringen, die sich seelisch mit Gott vollkommen identifizieren. Damit das gelingen kann, muss der einzelne Mensch freilich ausblenden, was er in seinem sündhaften Einzel-Sein begehrt. In diesem Sinn wird ein tugendhaftes Leben wohl auf Basis der (christlichen) Religion gelebt und zeigt sich nach Schelling als „Heroismus“, als „der freie schöne Muth des Menschen, zu handeln, wie der Gott ihn unterrichtet“,103 und zwar „ohne Bekümmerniß um das Einzelne“.104 Schellings Ethik im System der gesammten Philosophie erweist sich somit im Kern als eine Anweisung zum seligen Leben, die auf eine vollständige seelische Identifikation des Individuums mit Gott zielt.105
2.2 Menschliche Freiheit durch Erkenntnis bei Spinoza Vergegenwärtigen wir uns noch einmal den Ausgangspunkt, in dem Schelling mit Spinoza übereinstimmt: Nur Gott ist im vollen Sinne frei. Schelling schließt daraus, dass der Mensch unfrei ist, weil er sich in der Trennung von Gott befindet und seine Unfreiheit erst durch eine Rückkehr in bzw. eine seelische Identifikation mit Gott abzulegen vermag. Zwar ist auch Spinoza der Auffassung, dass es einen signifikanten Unterschied zwischen Mensch und Gott gibt und der Mensch jener Freiheit entbehrt, über die allein die göttliche causa sui verfügt. Da Spinozas Ontologie aber, anders als diejenige Schellings, ein vollumfängliches In-Sein alles Seienden in Gott annimmt, liegt es auf der Hand, dass die Ursache für die Unfreiheit des Menschen bei ihm nicht auf eine solche Trennung zurückgeführt werden kann, wie Schelling sie in Anschlag bringt. Vielmehr muss bei Spinoza der Umstand, dass der Mensch nicht die Definition erfüllt, nach der frei nur dasjenige ist, was „allein aus der Notwendigkeit seiner Natur heraus existiert und allein von sich her zum Handeln bestimmt wird“,106 prinzipiell in Gott eine Relevanz entfalten.
100 101 102 103 104 105 106
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Ebd., S. 426. Ebd., S. 429. Ebd., S. 437. Ebd., S. 429. Ebd. Vgl. hierzu die instruktive Untersuchung von Schwenzfeuer 2017, S. 114-125. E1def7.
Um Spinozas Position verstehen zu können, müssen wir auch bei ihm näher betrachten, inwiefern er dem Menschen die Freiheit genau abspricht. Auch ihm geht es um eine Zurückweisung der Willensfreiheit. Er setzt mit seinem ausschlaggebenden Argument jedoch entschiedener als Schelling am Determinismus an, indem er insbesondere die Vorstellung eines freien, auf Finalursachen gerichteten Handelns zurückweist. In dem Maße wie in der Welt strikte Notwendigkeit herrscht, sind Vorstellungen von Zwecken, die wir uns angeblich frei setzen, um unser Handeln nach ihnen auszurichten, „nichts als menschliche Einbildungen“.107 Wenn die Menschen sich einen freien Willen zuschreiben, sei das auf den Umstand zurückzuführen, dass sie einerseits sich ihres zweckgerichteten Wollens bewusst sind, andererseits aber „an die Ursachen, von denen sie veranlaßt werden, etwas zu begehren und zu wollen, nicht einmal im Traum denken, weil sie sie nicht kennen“.108 Tatsächlich handelten sie nicht nach frei gewählten Zwecken, sondern aufgrund eines Prinzips, nämlich „um ihres Vorteils willen“.109 Indem Spinoza also die Willensfreiheit ablehnt, verweist er in Gestalt der individuellen Vorteilssuche zugleich auf den conatus als ein naturgesetzliches Eigennutz- und Selbsterhaltungsstreben, das für das Sein des Menschen in Gott charakteristisch ist. Damit wird deutlich, wie sich der Determinismus für den Menschen konkret auswirkt: Menschen handeln grundsätzlich nicht autonom, sondern in einem deterministischen Universum triebgesteuert im Dienste der eigenen Selbsterhaltung. Bis zu diesem Punkt könnte man Spinozas Position noch als einen rein deskriptiven Naturalismus verstehen, den auch Schelling, wie wir gesehen haben, bis zu einem gewissen Grad aufgreift. Mit der Ablehnung der Willensfreiheit und der Affirmation des conatus verbindet Spinoza indessen auch eine Ethik des guten Lebens. Nimmt man diese Ethik in den Blick, gewinnt ein tiefgreifender Unterschied zu Schelling an Kontur: Während Selbsterhaltung bei Schelling insofern als Sünde erscheint, als sie ein gottunabhängiges Einzel-Sein in Anspruch nimmt, avanciert sie bei Spinoza zum Dreh- und Angelpunkt eben dieser Ethik des guten Lebens. Und während Tugend bei Schelling letztlich auf ein Handeln im Einklang mit Gott ohne Rücksicht auf das Einzelne hinausläuft, betont Spinoza das Gegenteil: Die Vernunft fordert nichts gegen die Natur; sie fordert deshalb, daß jedermann sich selbst liebt, seinen eigenen Vorteil sucht, also dasjenige, was wirklich nützlich für ihn ist, und nach all dem verlangt, was einen Menschen wirklich zu größerer Vollkommenheit führt; generell gesprochen, daß jedermann streben sollte, sein Sein gemäß der ihm eigenen Natur zu erhalten.110
107 108 109 110
E1app. Ebd. Ebd. E4p18s.
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Spinoza lässt Selbsterhaltung nicht etwa nur in einem begrenzten Rahmen zu, sondern für ihn ist das Selbsterhaltungsstreben des Einzelnen als solches ausdrücklich „die erste und einzige Grundlage von Tugend“.111 Ferner erklärt er, dass auch „das Glück darin besteht, daß ein Mensch imstande ist, sein Sein zu erhalten“.112 Größer könnte der Kontrast zu Schelling kaum ausfallen. Worin sich Spinozas und Schellings Ontologien in Bezug auf den Status des Einzelnen unterscheiden, wirkt sich hier nun ethisch aus: Die Einzelnen versuchen ihr Sein zu erhalten – und anders als bei Schelling dürfen, ja sollen sie es nach Spinoza auch erhalten. Selbsterhaltung wird von Spinoza deshalb nicht nur beschrieben, sondern auch positiv bewertet, während sie bei Schelling grundsätzlich als Sünde firmiert und negativ besetzt ist.113 Dass Spinozas Affirmation des Selbsterhaltungstriebs indessen nicht in einen einfachen Triebfatalismus mündet, belegen die Teile drei, vier und fünf der Ethik. Sie setzen sich detailliert damit auseinander, wie ein gutes Leben auf der Basis der conatus-Lehre gelingen kann. Das Problem der Unfreiheit stellt sich für den Menschen, insofern er grundsätzlich ein affektgeleitetes, fremdbestimmtes Leben führt. Seine Unfreiheit besteht konkret in der „menschliche[n] Ohnmacht, die Affekte zu mäßigen und zu hemmen“.114 Wer affektgesteuert handelt, sei „nämlich nicht Herr seiner selbst, sondern unterliegt dem blinden Geschick, in dessen Gewalt er so sehr steht, daß er oft gezwungen ist, dem Schlechteren zu folgen, selbst wenn er das Bessere sieht“.115 Spinoza betrachtet letztlich einen Menschen als unfrei, „der bloß von Affektivität, d.h. von bloßer Meinung, geleitet ist“, als frei aber einen, „der sich von der Vernunft leiten läßt“, weil der Vernünftige „niemandem folgt als sich selbst und nur das tut, von dem er weiß, daß es das Wichtigste im Leben ist“,116 nämlich dieses tatsächlich zu erhalten. Die wesentliche ethische Herausforderung besteht mithin darin, wie wir herausfinden können, was unserer Selbsterhaltung tatsächlich und nicht nur scheinbar zuträglich ist. Wie das Beispiel sämtlicher Süchte
111 E4p22c. 112 E4p18s. 113 Es lohnt sich in diesem Zusammenhang, einen Blick auf Spinozas Konzeption der Sünde zu werfen. Anders als für Schelling, der bereits das schiere Selbst-Sein des Einzelnen in der Trennung von Gott als Sünde begreift, ist sie für Spinoza nicht charakteristisch für das Sein des Einzelnen überhaupt. Vielmehr beschreibt er die Sünde ausdrücklich als ein säkulares Rechtsverhältnis, das es allein im Staat gibt: „Sünde ist […] nichts anderes als Ungehorsam und deshalb etwas, das nur nach staatlichem Gesetz geahndet werden kann“, heißt es bereits in der Ethik (E4p37s2). Und im Politischen Traktat führt Spinoza aus, dass im Staat „entschieden wird, was gut und böse ist, und wo niemand etwas zu Recht tut, was er nicht gemäß gemeinsamem Beschluß, d.h. gemäß einer Übereinstimmung, tut. Das nämlich ist Sünde, was […] durch das Recht verboten ist.“ (TP II 19). Wichtig ist, dass das Recht, gegen das sich die Staatsbürger versündigen können, ihren vernünftig betrachteten conatus verpflichtet bleibt. Siehe dazu den dritten Teil dieses Aufsatzes. 114 E4praef. 115 Ebd. 116 E4p66s.
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zeigt, muss, was uns tatsächlich zuträglich ist, nicht mit dem in eins fallen, was uns möglicherweise affektiv als begehrenswert erscheinen mag. Weit entfernt, einem reinen Fatalismus das Wort zu reden, gibt es für Spinoza also durchaus eine Freiheit des einzelnen Menschen, die keine Willensfreiheit ist, aber konkret in der Überwindung eines pathologisch-affektbestimmten zu einem vernunftgeleiteten Leben besteht. In dem Maße wie er auf ein vernunftgeleitetes Leben der Menschen setzt, ist seine Ethik des guten Lebens eine Ethik der Erkenntnis. Da es grundsätzlich einen Unterschied macht, ob wir tun, was unserem conatus tatsächlich oder aber nur scheinbar zugutekommt, ist es stets vernünftiger, nach wahrer Einsicht zu streben statt sich einem affektgesteuerten Begehren hinzugeben. Spinoza vertritt in diesem Zusammenhang die Auffassung, dass es wegen der ethischen Bedeutung der Erkenntnis letztlich diese selbst sein muss, nach der wir vernünftigerweise streben. Was auch immer wir im Einzelnen als tatsächlich nützlich identifizieren, immer ist es schließlich das Erkennen, von dem jede einzelne Einsicht abhängt. Deshalb gilt für Spinoza: „Nur von dem wissen wir also, daß es unbestreitbar gut ist, was wirklich dem Einsehen dient“.117 Wie er im fünften Teil der Ethik unterstreicht, „hat ein jeder Gewalt, sich und seine Affekte – wenn nicht völlig, so doch wenigstens teilweise – klar und deutlich einzusehen, und folglich die Gewalt, es dahin zu bringen, daß er von ihnen weniger erleidet“.118 Die Pointe der erkenntnisbezogenen Überlegungen Spinozas liegt darin, dass die Fremdbestimmtheit mit zunehmender Einsicht deshalb abnimmt, weil Einsicht eine Aktivität des menschlichen Geistes ist. Einen Affekt haben, bedeutet etwas zu erleiden; etwas verstehen und erkennen, bedeutet indessen aktiv mit ihm umzugehen. Wenn wir etwas erkennen, leiden wir also deshalb weniger unter ihm, weil wir es erkennen. Wir bilden aktiv eine Vorstellung davon, was es in Wahrheit ist, was uns da betrifft.119 Deshalb sind wir dem, was uns betrifft, nicht mehr einfach passiv ausgeliefert. Die Erfahrung, dass unsere Fremdbestimmtheit ab- und unsere eigene Aktivität im Erkennen zunimmt, lässt uns nach Spinoza freier werden und ist entsprechend mit dem Gefühl der Freude verbunden.120 Spinoza betont stets, dass die Fremdbestimmtheit eines endlichen Wesens nicht vollständig aufgehoben werden kann und der Mensch sich daher auch niemals in eine göttliche causa sui zu transformieren vermag, die ganz aus sich selbst heraus, unabhängig von aller Äußerlichkeit zu handeln, geschweige denn zu existieren, vermöchte. Kraft der Erkenntnis sei es aber sehr wohl möglich, „daß sie [die Fremdbestimmtheit; jgs] den kleinsten Teil des Geistes“ ausmache.121 Menschliche Freiheit besteht nach Spinoza somit in einer Geisteshaltung, die sich zwar von Fremdbestimmtheit niemals völlig 117 118 119 120 121
E4p27d. E5p4s. E5p3. E3p11s. E5p20s.
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lösen kann, die aber durch adäquate Einsicht in die Verfassung der Welt ein mehr oder weniger großes Maß an geistiger Befreiung zu erlangen vermag.122 Dieser ethischen Lehre bleibt Spinoza durch alle fünf Teile der Ethik hindurch verpflichtet, auch dort, wo er auf enigmatische Weise erklärt, die Glückseligkeit und Freiheit des Menschen bestünde letztlich in einer „Liebe zu Gott, die zugleich Gottes Liebe zu den Menschen ist“.123 Diese Liebe zu Gott ergibt sich immer noch aus dem ethisch motivierten Streben, Einsicht in die Wahrheit der Dinge zu erlangen, mit denen wir in unserem Leben zu tun haben. Aufgrund der Ontologie, die Spinoza vertritt, ist klar, dass eine vollumfängliche Einsicht in das, was die Dinge in Wahrheit auszeichnet, nur aus Gott als dem Gesamtzusammenhang der Wirklichkeit heraus geschöpft werden kann. Eine solche Einsicht traut Spinoza nicht allein einer rational auf das Allgemeine ausgerichteten, sondern insbesondere einer intuitiven Erkenntnisart zu, die „von der adäquaten Idee gewisser Attribute Gottes weiter zu der adäquaten Erkenntnis der Essenz von Dingen“ schreitet.124 In diesem Zusammenhang gelte grundsätzlich: „Je mehr wir Einzeldinge einsehen, desto mehr sehen wir Gott ein“;125 Dinge intuitiv aus Gott heraus zu begreifen, entspringe sodann „die höchste Zufriedenheit des Geistes, die es geben kann“;126 was immer wir auf diese Weise begreifen, „verschafft uns Freude und zwar unter der Begleitung der Idee Gottes als Ursache“,127 denn je mehr Dinge unser Geist intuitiv „einsieht, umso weniger erleidet er von Affekten, die schlecht sind“.128 Damit gilt auch hier weiterhin: Je weniger wir Affekten passiv ausgeliefert bleiben, umso größer wird unsere Wirkungsmacht und unsere geistige Freiheit. Da Freude sich nach Spinoza generell aufgrund einer Steigerung unserer Wirkungsmacht einstellt, verwundert es 122 Konkret gehe, so Spinoza, eine Befreiung mit der Einsicht in die Notwendigkeit einher, dass alle Dinge im göttlichen Universum nicht anders hätten geschehen können als sie eben geschehen sind. Erkennt man den Determinismus an, leidet man nach Spinoza weniger unter ihm, so dass z.B. „die Trauer, irgendein Gut verloren zu haben, gemildert wird, sobald der Mensch, der es verloren hat, sich klar macht, daß dieses Gut auf keine Weise erhalten werden konnte“ (E5p6s). 123 E5p36s. Das Theorem der geistigen Gottesliebe gehört zu den umstrittensten Theoriestücken der Ethik. Schelling meint, dass die seelische Identifikation mit Gott, auf die seine ethischen Darlegungen hinauslaufen, zumindest „[b]ildlich“ beschrieben werden kann „als die unendliche intellektuelle Liebe der Seele zu Gott, welche, absolut betrachtet, nur die Liebe ist, mit der Gott sich selbst liebt“ (AA II,7,1, S. 427) und insofern in seinen Augen der Position Spinozas entspricht. Um diese Lesart begründet zurückweisen zu können, wäre eine eingehende Rekonstruktion der Liebe im Zusammenhang dessen, was Spinoza zur Ewigkeit des Geistes sagt, anzustellen, die hier nicht geleistet werden kann, die ich aber an anderer Stelle vorlegen möchte. An dieser Stelle verweise ich auf einschlägige Forschungsbeiträge zu Spinoza, die, ohne auf Schelling einzugehen, überzeugend darlegen, dass es ihm nicht um eine Identifikation mit oder gar Auflösung des Einzelnen in Gott geht: Vgl. Nadler 2018; Jaquet 2018; Hampe 2006, insbesondere S. 258; Bartuschat 2006, S. 131f. und S. 146-150. 124 E5p25d. 125 E5p24. 126 E5p27. 127 E5p32. 128 E5p38.
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nicht, dass sie auch aufkommt, wenn Gott die Ursache einer solchen Steigerung ist. Nun besteht Liebe ihrer Definition nach bei Spinoza in „Freude unter Begleitung der Idee einer äußeren Ursache“.129 Wir lieben demnach das, was wir als Ursache unserer Freude über einen Zuwachs an Wirkungsmacht erkennen. Da das intuitive Erkennen ausgehend von Gott unsere Wirkungsmacht maximal zu steigern in der Lage ist, vermag auch unsere Liebe zu Gott entsprechend groß zu werden. Zwar ist diese Liebe zu Gott nach Spinoza zugleich die Liebe, mit der Gott die Menschen (und übrigens auch sich selbst) liebt, sie bleibt aber dennoch – und das ist entscheidend – eine Liebe, die mit einer Aktivität des menschlichen Geistes verbunden ist. So muss die Gottesliebe ausdrücklich „zu seinen Aktivitäten gerechnet werden […]; sie ist somit eine Aktivität, in der der [menschliche; jgs] Geist sich selbst betrachtet unter Begleitung der Idee Gottes als seiner Ursache“.130 Wäre die Liebe keine Aktivität eines menschlichen Geistes, könnte dieser Geist keine Freude über die Abnahme von Fremdbestimmtheit und den damit einhergehenden Freiheitszuwachs erfahren. Im Kontext der erkenntnisgestützten Ethik Spinozas wäre eine solche Liebe geradezu bedeutungslos. Dass es tatsächlich nach wie vor um diese Ethik geht, unterstreicht Spinoza im vorletzten Lehrsatz der Ethik. Er betont, dass die „erste und einzige Grundlage von Tugend, d.h. einer richtigen Lebensführung“ weiterhin darin bestehe, „den eigenen Vorteil zu suchen“.131 Das Prinzip des conatus hält er ausdrücklich immer noch „für das Wichtigste“.132 Bei allen Überlegungen, die Spinoza in Bezug auf die Freiheit anstellt, ist offensichtlich, wie sehr der Mensch in seinem diesseitigen Begehren im Mittelpunkt steht. Obwohl der Mensch nicht über die Freiheit der göttlichen Substanz verfügt, beschreibt Spinoza die Freiheit, die dem Menschen gleichwohl bleibt, nicht als nichtig.133 Der Umstand, dass Spinoza gezielt komparative Konjunktionen wie ‚je‘, ‚desto‘ und ‚umso‘ einsetzt, zeigt, dass es ihm weniger um ein Erreichen absoluter Freiheit als um Freiheitsgrade geht. Auch die Liebe führt nicht zu einer seelischgeistigen Identifikation mit Gott, wie Schelling sie zumindest für die annimmt, denen die Gnade zuteilwird. Die Liebe zu Gott bleibt für Spinoza eine Aktivität 129 130 131 132 133
E3p13s. E5p36d. E5p41d. Ebd. Es verdient Beachtung, dass Jacobi, der sich bekanntlich kritisch mit dem Ausschluss individueller Freiheit bei Spinoza befasst hat, zugleich sieht und anerkennt, dass Spinoza diese mit dem conatus verbundene Freiheit des Einzelnen kennt. Er lässt Spinoza in einem philosophischen Dialog auftreten und sagen: „Ich [Spinoza; jgs] bin fern, alle Freiheit zu leugnen, und weiß, daß der Mensch seinen Teil davon bekommen hat. Aber diese Freiheit besteht nicht in einem erträumten Vermögen wollen zu können […]. Die Freiheit des Menschen ist das Wesen des Menschen selbst; das ist, der Grad seines würklichen Vermögens oder der Kraft, mit welcher er das ist, was er ist. Gott, welcher nur aus dem Grunde handelt und handeln kann, aus dem er ist, und der nur durch sich selbst ist, besitzt demnach die absolute Freiheit“ (Jacobi 2000, S. 76f.).
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des menschlichen Geistes, der im intuitiven Erkennen der Dinge Freude empfindet. Überhaupt verlangt der Mensch bei Spinoza nicht nach einer Rückkehr in Gott. In Gott als dem Gesamtzusammenhang der Welt ringt der Mensch vielmehr um die vernünftige Gestaltung seines konkreten Lebens. Je mehr das gelingt, umso freier lebt er. Im Blick auf Schelling ist es nicht zuletzt aufschlussreich zu sehen, dass Spinoza die für den Menschen erreichbaren Freiheitsgrade nicht an der absoluten Freiheit Gottes bemisst. Während Schelling die Vollkommenheit von Handlungen zur Ordnung der Natur ins Verhältnis setzt und dabei die Nähe oder Ferne dieser Handlungen zu Gott in Betracht zieht, verweist Spinoza seine Leser in der Einleitung zum vierten Teil an ein „Musterbild der menschlichen Natur, auf das wir hinschauen sollten“.134 Als tatsächlich gut für unsere Selbsterhaltung sei zu bewerten, „wovon wir mit Sicherheit wissen, daß es ein Mittel ist, dem Musterbild der menschlichen Natur, das wir uns selbst vor Augen halten, näher und näher zu kommen“.135 Dieses Musterbild kann man als das Ideal eines Weisen verstehen, der kein vollkommenes, aber ein maximal vernunftgeleitetes und freies Leben führt. Einen solchen Menschen, nicht Gott sollen wir uns nach Spinoza zum Vorbild nehmen. In der abschließenden Anmerkung zum letzten Lehrsatz der Ethik kommt er denn auch noch einmal darauf zurück und betont nicht etwa die grenzenlose Freiheit Gottes, sondern „wie viel der Weise vermag und wieviel mächtiger [und freier; jgs] er ist als der nur von sinnlicher Lust getriebene Unwissende“.136 Fassen wir zusammen, was für das Folgende maßgeblich bleibt. Insofern Schelling auf der prinzipiellen Differenz zwischen menschlicher und göttlicher Freiheit insistiert, vertritt er eine rigorose Position. Wie das Einzelne sich durch ontologische Prekarität auszeichnet, so verfügt es bei ihm auch nur über einen Schein von Freiheit, den er als nichtig und sündhaft bezeichnet. Frei sind für Schelling allenfalls solche Menschen, denen die seelische Identifikation mit Gott gelingt. Das ethische Leben ist für ihn letztlich ein seeliges Leben. – Spinozas Position baut ebenfalls auf seiner Ontologie auf, in der die Prekarität des Einzelnen geringer ist. Leitprinzip seiner ethischen Überlegungen ist das Selbsterhaltungsstreben des Einzelnen, im Hinblick auf das sich das Freiheitsproblem konkret stellt: Unfrei ist, wer Selbsterhaltung rein affektgeleitet betreibt; Freiheit realisiert, wer über das größtmögliche Maß an Einsicht in das verfügt, was seiner Selbsterhaltung in Wahrheit zuträglich ist. Die Teile drei, vier und fünf der Ethik belegen, dass Spinoza sich anders als Schelling nachdrücklich für das gesamte Spektrum an Freiheitsgraden interessiert, die Menschen tatsächlich zu erreichen vermögen. Dass bei Spinoza die Selbsterhaltung der Einzelnen, bei Schelling aber die seelische Identifikation der Einzelnen mit 134 E4praef. 135 Ebd. 136 E5p42s.
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Gott im Zentrum steht, macht sich auch, wie sollte es anders sein, im Politischen bemerkbar.
3. Die Einzelnen, ihre Freiheit und der Staat In den Staatsauffassungen kommt der Unterschied zwischen Schelling und Spinoza am deutlichsten zum Ausdruck. Wir haben ihn in der Einleitung bereits benannt: Während Spinoza eine große Affinität zum Demokratischen hegt, affirmiert Schelling eine Ständegesellschaft. Die philosophische Pointe liegt nun darin, dass dieser Unterschied sich aus den unterschiedlichen Auffassungen – erstens – des Einzelnen in der Ontologie und – zweitens – der ethischen Implikationen der Freiheitsproblematik speist. Ohne eine Vergewisserung über diese Aspekte ließen sich die politischen Positionen, die Schelling und Spinoza jeweils beziehen, nicht angemessen rekonstruieren. Betrachten wir zuerst Schellings Staatsauffassung und stellen ihr dann Spinozas Konzeption gegenüber.
3.1 Der Ständestaat bei Schelling Am Ende des Systems der gesammten Philosophie definiert Schelling den Staat als „[d]asjenige, worin Wissenschaft, Religion und Kunst auf lebendige Weise sich durchdringend eins und in ihrer Einheit objektiv werden“.137 Wissenschaft, Religion und Kunst sind die drei Sphären – oder, wie Schelling sagt, die ‚Potenzen‘ – der ideellen Welt, zu denen sich jene göttliche Substanz ausdifferenziert, die der gesamten Wirklichkeit zugrunde liegt. Im Zusammenhang der Ontologie haben wir gesehen, dass Schelling alle Erscheinungen in der Wirklichkeit als quantitative Differenzverhältnisse zwischen den beiden Polen beschreibt, die in der göttlichen Substanz selbst vollkommen vereint sind. Als ‚Potenzen‘ bezeichnet er nun die drei grundsätzlich möglichen Erscheinungsweisen quantitativer Differenz: Entweder überwiegt der Subjekt- oder der Objektpol (1. und 2. Potenz) oder zwischen den beiden Polen herrscht quantitative Indifferenz (3. Potenz).138 Das gilt in beiden Bereichen, in die Schelling den Gesamtzusammenhang der Wirklichkeit einteilt: sowohl im ‚realen‘ als auch im ‚idealen All‘. Im realen All behandelt er die Philosophie der Natur im engeren Sinn, deren drei Potenzen die Schwere (Übergewicht des Objektpols), das Licht (Übergewicht des Subjektpols) und der Organismus (Indifferenz der Pole) sind. Im idealen All legt Schelling seine Philosophie des Geistes dar, deren drei Potenzen die Wissenschaft (Übergewicht des Subjektpols), die Religion 137 AA II,7,1, S. 441. 138 Vgl. hierzu Schellings Ausführungen in ebd., S. 160-164.
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(Übergewicht des Objektpols) und die Kunst (Indifferenz der Pole) sind. Wichtig ist, dass der Staat im Schema der Potenzen nicht etwa als eine weitere, vermeintlich vierte Potenz firmiert. Vielmehr trägt und umgreift er die drei Potenzen des idealen Alls, wobei er selbst, wie Schelling sagt, „potenzlos[]“ bleibt.139 Was damit gemeint ist, veranschaulicht Schelling in Analogie zum Weltbau der Natur: Genauso wie Schwere, Licht und Organismus als die drei Potenzen der Natur nur als Attribute eines seinerseits potenzlosen Weltkörpers objektiv existieren, so können ihm zufolge auch Wissenschaft, Religion und Kunst nur in einem staatlichen Gemeinwesen objektiv existieren, das selbst außerhalb der Potenzen steht. Hält man sich an diese Analogie, gleicht der Staat einem politischen Planeten, auf dem sich das gesamte ideelle Leben der Menschen abspielt. Wie der Erdball fungiert auch der Staat als realer Grund aller Ereignisse, die in seiner Sphäre stattfinden. Dem Staat als objektiver Einheit tritt nach Schelling als subjektives Korrelat die Philosophie zur Seite: „Was der Staat objektiv, ist subjektiv […] die Philosophie selbst als harmonischer Genuß und Theilnahme an allem Guten und Schönen in einem öffentlichen Leben.“140 Schelling unterscheidet hier Philosophie, insofern sie als Wissenschaft betrieben wird, von der Philosophie selbst in einem emphatischen Sinn, die zwar das Ziel aller Wissenschaft, aber als dieses Ziel selbst nicht mehr Wissenschaft sei, „sondern zum Leben wird“, genauer zum „Leben mit und in einer sittlichen Totalität“.141 Im Staat soll sich also eine Einheit von Philosophie und Leben realisieren. Schelling versieht diese Ausführung mit einem Verweis auf Platon, der die zum Leben gewordene Philosophie zugleich als ein öffentliches Leben ausgezeichnet habe.142 Der Sache nach lässt sich auch hier eine Parallele zum realen All ausweisen, die Schelling selbst aber nicht explizit macht: Im realen All entspricht der objektiven Einheit des potenzlosen Weltkörpers der Mensch als „das potenzlose Bild“ der göttlichen Substanz.143 Erst im Menschen erreicht die natürliche Welt für Schelling Vollständigkeit, da sich erst im Menschen die der Natur zugrundeliegende Substanz ihrer selbst bewusst wird.144 Obwohl Schellings 139 140 141 142
Ebd., S. 442. Ebd., S. 443. Ebd. Schelling bezieht sich hier implizit auf Hegels Naturrechtsaufsatz von 1802, der im Kritischen Journal der Philosophie erschienen ist. In der Vorlesungsnachschrift von Pauls verweist Schelling explizit auf diese, wie er sagt, „vortreffliche Abhandlung über wissenschaftliche Behandlungsarten des Naturrechts &c von Hegel“ (Pauls, 227; die Pauls-Nachschrift wird mit der Sigle ‚Pauls‘ und Seitenzahl zitiert, die sich auf die als Teil des Textes von Scheerlinck 2016, S. 214-227, veröffentlichte Edition bezieht). Hegel legt dort dar, dass Aristoteles dem Stand der freien Bürger „als sein Geschäft“ angewiesen habe, „wofür die Griechen den Nahmen politevein hatten, was in und mit und für sein Volk leben, ein dem öffentlichen ganz gehöriges Leben führen ausdrückt; – oder das philosophiren; welche beyde Geschäfte Plato nach seiner höhern Lebendigkeit, nicht getrennt, sondern schlechthin verknüpft sehen will.“ (Hegel 1986, S. 455). 143 AA II,7,1, S. 379. 144 Vgl. hierzu auch Kisser 2012, S. 308.
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Ausführungen zum philosophischen Leben im Staat rudimentär bleiben, darf man aufgrund der Analogie zwischen Staat und Weltkörper annehmen, dass das öffentliche philosophische Leben des Menschen der Systemstelle entspricht, die der Mensch als selbstbewusstes Wesen in der Natur einnimmt, und sich das Politische daher erst in diesem Leben vollendet. Der Sinn des Staates besteht mithin darin, die Grundlage für ein philosophisches Leben der Menschen zu stiften, damit sie allererst in den Genuss des Guten und Schönen kommen können, von dem Schelling spricht. Der geschilderte Staat hat, wie Schelling betont, „keinen wahren Gegensatz“,145 er inkorporiert also alles. Er tut das erklärtermaßen jedoch nicht in dem Sinne, dass Wissenschaft, Religion und Kunst als die Potenzen des idealen Alls nurmehr „besondere Angelegenheiten des Staats“, Institutionen etwa, wären. Vielmehr sollen diese Potenzen „in den Staat übergegangen“ sein, so dass die Wissenschaft sich als Gesetzgebung realisiert, die Religion „die öffentliche Sittlichkeit und den Heroismus einer Nation“ konstituiert und die Kunst schließlich einen „schöpferischen Geist, der über dem Ganzen schwebt und es kunstmäßig, nicht maschinenmäßig beseelt“, verkörpert. Die Kunst steht mithin im Dienste einer politischen Ästhetik, die „die Schönheit seiner Erscheinung“, der Erscheinung des Staates, garantiert.146 Schelling präsentiert den Staat somit als einen heroisch-sittlichen und schönen Staat mit wissenschaftlich verbürgten Gesetzen. Was das im Einzelnen heißt, führt Schelling nicht eigens aus, es lässt sich aber aus der identitätsphilosophischen Ontologie und Freiheitstheorie erschließen. Im letzten Kapitel haben wir gesehen, was Schelling unter heroischer Sittlichkeit im Kern versteht: eine Ethik nämlich, die ein Handeln im Einklang mit Gott ohne Rücksicht auf das Einzelne propagiert. Die Religion im Staat wird wohl diese Ethik vertreten. Komplementär dazu liegt auf der Hand, dass im Rahmen des identitätsphilosophischen Ansatzes das wissenschaftliche Erkennen letztlich nicht auf die scheinbehafteten Dinge, sondern auf Gott gerichtet sein muss. Wir werden noch sehen, inwiefern sich für Schelling aus der Erkenntnis Gottes insbesondere die Gesetzgebung ergibt. Klar ist aber schon hier, dass die Gesetze des Schelling’schen Staates, da sie erkannt werden, nicht etwa beschlossen werden müssen; insofern sie in Gott begründet sind, müssen sie gefunden, aber nicht im engeren Sinn von Menschen oder staatlichen Institutionen gestiftet werden. Wenn Schelling darüber hinaus vom schönen Staat spricht, geht es ihm darum, dass die Kunst das Erkennen und Handeln, also die auf Gott bezogenen theoretischen und praktischen Akte des Menschen, die in den ersten beiden Potenzen des idealen Alls behandelt werden, vereinen soll.147 Die Kunst vermag eine solche Vereinigung hervorzubringen, da sie in ihren Werken die Einheit von Theorie und Praxis, Notwendigkeit und Freiheit ex145 AA II,7,1, S. 442. 146 Ebd. 147 Ebd., S. 436-441.
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emplifiziere. Ferner erklärt er, dass „[a]bsolute Wahrheit und absolute Schönheit [...] eins und dasselbe“ seien, die „höchste Schönheit [...] in der Idee Gottes“ angeschaut werde und daher die „höchste Seligkeit aller Menschen [...] in der intellektuellen Anschauung der ursprünglichen Schönheit“ Gottes liege.148 Damit ist offensichtlich, dass die Schönheit des Staates nur daher rühren kann, dass er Gott auf eine angemessene Weise abbildet. Dass der Staat zwar als Abbild, aber strukturell wie Gott selbst als potenzlos beschrieben wird, deutet genau jene substantielle Nähe des Staates zu Gott an, die seine Schönheit metaphysisch verbürgt: Der Staat realisiert nicht einfach nur die quantitative Indifferenz der göttlichen Attribute, sondern außer aller Potenz stehend realisiert er ein noch intensiveres Maß an Einheit, das die Grundlage für alle Ausdifferenzierung des Absoluten in der geistigen Wirklichkeit des menschlichen Lebens bildet. Diese Ausführungen legen bereits nahe, was Schelling alsbald einräumt. Sein Staat ist wie die platonische Politeia ein Ideal, dem „kein Bild des Staats aus der wirklichen Erfahrung“ entspricht.149 Vor allem soll dieser Staat kein Gemeinwesen sein, das „zur wechselseitigen Sicherstellung der Rechte (wie die bisher construirten Staaten)“ eingerichtet werde.150 Stattdessen gehe es ihm um den „lebendigen, freien, organischen Staat, [den] einzigen, wie er in der Vernunftidee ist“.151 Wenn Schelling also vom Idealstaat spricht, dann bedeutet das nicht nur, dass dieser Staat das Ideal einer Gesellschaftsordnung formuliert, die nirgends verwirklicht ist und es womöglich auch nicht werden kann; Schelling vertritt darüber hinaus die weitaus stärkere These, dass es nach Maßgabe der Vernunft genau einen idealen Staat gibt; und dieser Staat ist allen tatsächlichen Staaten nicht zuletzt deshalb überlegen, weil er in der Vernunft absolut begründet ist. Die Idealität des Staates steht insofern auch für seine absolute Begründung in jener Vernunft, die mit Gott identisch ist.152
148 149 150 151 152
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Ebd., S. 441. Ebd., S. 442. Ebd. Ebd. Wie sehr Schelling tatsächlich skeptisch in Bezug auf konkrete Staatswesen ist, macht er deutlich, schon bevor er auf den Staat in den letzten Paragraphen des Systems der gesammten Philosophie zu sprechen kommt. Er wendet sich gegen die kantische Vision eines politisch zu erreichenden „künftigen goldenen Zeitalters, eines ewigen Friedens u.s.f.“ (Ebd., S. 433). Schelling zufolge würde ein solches goldenes Zeitalter nämlich „von selbst kommen, wenn es jeder in sich darstellte, und wer es in sich hat, bedarf es nicht außer sich.“ Es gehe grundsätzlich nicht darum, einen harmonischen Zustand in einem „Wirken nach außen, vielmehr durch eine Rückkehr zu dem Punkt, von dem jeder ausgegangen ist, zu der inneren Identität mit dem Absoluten“ (ebd.) zu realisieren. Schlechterdings kann es für Schelling nicht darum gehen, „Verstandes-Staaten“ zu perfektionieren, sondern den „wahren Vernunft- an die Stelle unserer Verstandes-Staaten zu setzen“ – erst das werde „die wahre Revolution“ sein (ebd.). – Der staatsskeptische Gedanke eines goldenen Zeitalters, das innerlich darzustellen wäre, bleibt ein Motiv bis in Schellings späte Befassung mit dem Staat in der Darstellung der reinrationalen Philosophie, wo er die Idee einer inneren Überwindung von Staatlichkeit entwirft, die den Übergang der negativen in die positive Philosophie vorbereitet (vgl. SW XI, S. 548f.).
Soweit die Konzeption des Staates, die im System der gesammten Philosophie umrissen wird. Was dabei offen bleibt, ist insbesondere, wie Schelling sich die innere Verfassung dieses Staates genau vorstellt. Im Einklang mit seinen freiheitstheoretischen Überlegungen schließt er lediglich die Demokratie konsequent aus, für die Spinoza sich begeistern kann. In dem Maße wie die Freiheit der Einzelnen für Schelling eine Illusion ist, ist es für ihn auch ausgeschlossen, dass der Mensch im Handeln sich mit der Willkür und Freiheit aller begnügen [könnte], von welcher […] eine vernünftige Entwicklung zu erwarten ebenso thöricht wäre, als sie von einem Schauspiel erwarten, das keinen Dichter hat, und in dem jeder für sich und nach Gefallen seine Rolle spielt.153
Um zu sehen, worin Schelling eine geeignete Gesellschaftsordnung erkennt, sind zwei weitere Quellen hinzuzuziehen. In der ebenfalls 1804 erschienenen Schrift Philosophie und Religion bemerkt er, dass der Staat „nach dem Vorbild des Universums […] in zwey Sphären oder Klassen von Wesen zerfällt, in die der Freiyn, welche die Ideen, und die der Nicht-freyen, welche die concreten und sinnlichen Dinge repräsentiren“.154 Diese Idee wird in der Nachschrift zu Schellings Würzburger Vorlesungen über Idealphilosophie von Johann Peter Pauls aufgegriffen, die dokumentiert, dass Schelling den Staat im Rahmen seiner Vorlesungen sehr viel ausführlicher behandelt hat als im System der gesammten Philosophie.155 Grundsätzlich heißt es auch dort, dass der Staat „Bild des Universums“ sei, wobei „3 Ordnungen der Ideenwelt“ zu unterscheiden seien: Erstens Gott selbst, zweitens die Ideen, drittens die Abbilder der Ideen, wobei „zwischen Gott und der Ideenwelt […] keine wesentliche Differenz“ bestehe – vor allem sei zu beachten, dass „die Ideen […] von den concreten Dingen wirklich verschieden“156 seien. Im Kern geht es hier also um eben jenen Dualismus zwischen Idee und Sinnlichkeit, der uns in der Schelling’schen Ontologie aus dem System der gesammten Philosophie begegnet ist. Diese Ontologie erweist sich nun in dem Maße als politisch, wie Schelling von dem ontologischen Verhältnis zwischen Gott und 153 AA II,7,1, S. 426. 154 AA I,14, S. 321. Vgl. zur Schrift Philosophie und Religion die einschlägige Studie Scheerlinck 2017. Zur Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien siehe dort insb. 362-375. Schelling spricht die Unterscheidung in Freie und Nicht-Freie auch in den Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (AA I,14, S. 97 u. S. 142) an. Noch in der Darstellung der reinrationalen Philosophie spricht er von einem „von der Ideenwelt sich herschreibenden Unterschied zwischen Herrschenden und Beherrschten“ (SW XI, S. 540). 155 Ein wesentlicher Unterschied zwischen der Konzeption des Systems der gesammten Philosophie und derjenigen, die Schelling in den Vorlesungen vertreten hat, scheint darin zu bestehen, dass die Kirche in den Vorlesungen eine größere Rolle spielt. Während der Staat im System Wissenschaft, Religion und Kunst umgreift, wird der Staat in den Vorlesungen als reale, die Kirche als ideale Erscheinungsweise der Ideenwelt beschrieben (Pauls, 214f.). Dies ist im Grunde nicht damit vereinbar, dass der Staat im System als Figuration des Potenzlosen gedacht wird. Vgl. Scheerlinck 2016, S. 210f. 156 Pauls, S. 216.
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prekären Einzeldingen eine politische Ständeordnung ableitet: Die Sphäre der Ideen übersetzt sich politisch in den Stand der Freien, die Sphäre der scheinbehafteten Abbilder in den „Stand der Unterwerfung“, das heißt der Nicht-Freien.157 Zum Stand der Nicht-Freien, der ontologisch auf der Seite der Einzeldinge steht, zählen all jene, die über Privateigentum verfügen, einen erwerbsorientierten Beruf ausüben und ein Familienleben führen.158 Sie kümmern sich nur um ihre jeweiligen Belange und haben mit den öffentlichen Angelegenheiten des Staates im Grunde nichts zu schaffen. Indem der Stand der Freien auf der Seite des göttlichen Ideenraums steht, ist er für Schelling „das Wesen, das An sich des Staates, der Siz absoluter Sittlichkeit“.159 Entsprechend bleibt die Leitung des Gemeinwesens allein diesen Freien vorbehalten, die sich näher aus Philosophen, Kriegern, Gesetzgebern und Künstlern zusammensetzen.160 Frei in einem gesellschaftlichen Sinn sind die Freien nach Schelling insofern, als sie von allen Belangen des täglichen Bedarfs freigestellt bleiben. Weder gehen sie einer Erwerbsarbeit nach, noch verfügen sie über das existenzsichernde Mindestmaß hinaus über Besitz, noch leben sie in einer Familie. Materiell werden sie von den Nicht-Freien versorgt, denen sie im Gegenzug die Landesverteidigung gewährleisten.161 Die Freien bilden ein Kollektiv der Tapferen, Ehrenhaften und Weisen, das ganz der Führung des Staates hingegeben ist. In diesem Zusammenhang wird deutlich, wie Schelling sich die wissenschaftliche Erkenntnis der Gesetze des Staates vorstellt, von der im System der gesammten Philosophie spricht: Die Gesetze „emaniren aus der Vernunft“, heißt es in der Vorlesung.162 Sie werden von den Freien erlassen und gelten für die Nicht-Freien allein. Schelling betont, dass diese Gesetze veränderlich sein müssen, denn „sie sollen eine Wohlthat, nicht eine Plage und Qual seyn“.163 Den wohltätigen Charakter der Gesetze hofft er sicherstellen zu können, indem sie nur von denen erlassen werden dürfen, die ihnen selbst nicht unterworfen sind und daher Schelling zufolge auch keinen Anreiz haben, die Gesetze zu ihrem Eigennutz zu modifizieren. Gerade weil sie den Gesetzen nicht unterstellt sind, dürfe man erwarten, dass die Freien „nur nach der Vernunft entscheiden“.164 Diese Vernunft freilich ist eins mit Gott. Woher rührt nun aber die Freiheit und Unfreiheit der beiden Stände? Vordergründig kann es so scheinen, als bestünde die Freiheit der Freien im Staat allein in ihrer Abkopplung vom materiell-konkreten Erwerbsleben – und die Unfreiheit der NichtFreien in ihrer Verhaftung an der Sorge um ihren Lebensunterhalt. Schellings maß-
157 158 159 160 161 162 163 164
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Ebd. Ebd., S. 224. Ebd., S. 217f. Ebd., S. 226. Ebd., S. 219f. Ebd., S. 223. Ebd. Ebd.
gebliche Definition der Freiheit lautet in der Vorlesung: „Freyheit ist Lossagung von allem Concreten, die Nicht-Freyheit Lossagen vom Allgemeinen und Idealen.“165 Über die politische Dimension hinaus bleibt in der Allgemeinheit dieser Definition Schellings grundsätzliche Position zu Freiheit offensichtlich virulent: Unfreiheit bzw. die allenfalls falsche Freiheit des Individuums ist, wie wir sahen, ein Abfall vom Absoluten; Freiheit als Lossagung von allem Konkreten ist dagegen als eine Rückkehr in Gott aus diesem sündhaften Abfall zu sehen. Dass die Freien sich zudem dadurch auszeichnen, dass sie für den göttlichen Ideenraum stehen, während die Nicht-Freien der Seite der Einzeldinge zugeordnet werden, unterstreicht die Bindung dieser Konzeption an die ontologischen sowie freiheitstheoretischen Grundlagen des Identitätssystems. Die Unfreiheit der Nicht-Freien rührt allem voran daher, dass sie für die Einzeldinge stehen, denen Schelling nicht nur einen prekären ontologischen Status einräumt, sondern auch alle wirkliche Freiheit abspricht. Man kann Schellings Position zur Einteilung der Gesellschaft in Freie und Nicht-Freie insofern nicht unabhängig von seiner Grundposition zu Freiheit angemessen rekonstruieren. Legt man diese Position zugrunde, dann können die Freien auch in Schellings Staat letztlich nur solche sein, die ein besonders nahes Verhältnis zur göttlichen Substanz unterhalten. In genau dem Maße leuchtet theorieimmanent auch ein, weshalb sie keiner Regeln und Gesetze zur Anleitung ihres Handelns bedürfen, denn sie realisieren Freiheit in der seelischen Annäherung an Gott gewissermaßen unmittelbar und regellos. Komplementär dazu haben überhaupt bloß die, denen eine solche Annäherung nicht gelingen mag, eine Anleitung durch Gesetze nötig. Es liegt auf der Hand, wer den Nicht-Freien, die ja eines direkten Kontakts zu Gott entbehren, eine geeignete gesetzliche Leitung zuteilwerden lassen sollte, wenn eben nicht die Freien. Insofern gesetzgebende Freie und gesetzempfangende Unfreie sich wie Subjektives und Objektives zueinander verhalten, beschreibt er sie auch als Seele und Leib des Staates.166 165 Ebd. 166 Ebd., S. 217f. Schelling nimmt innerhalb des Stands der Freien eine Binnendifferenzierung vor, indem er zwischen einer ideellen und reellen Seite des Standes unterscheidet. Philosophen und Künstler stehen auf der ideellen, Krieger und Gesetzgeber auf der reellen Seite (Ebd., S. 218f. u. S. 226). In diesem Sinn scheinen insb. die Philosophen und Künstler, nicht aber der gesamte Stand der Freien im selben Maß, ein direktes Verhältnis zu Gott unterhalten. Scheerlinck interpretiert diese Binnenunterscheidung in diesem Sinn ausgehend von der Schrift Philosophie und Religion, wo Schelling schreibt, die „höchste und oberste Ordnung“ bleibe durch die beiden Stände „noch unerfüllt“ (AA I,14, S. 321), es müsse mithin ein dritter Stand angenommen werden, durch den die ersten beiden Stände allererst sich direkt auf Gott zu beziehen vermögen (vgl. Scheerlinck 2017, S. 364). Dieser dritte Stand findet sich nach Scheerlinck in den Vorlesungen auf der ideellen Seite der Freien wieder (Scheerlinck 2016, S. 208), so dass also nur durch die Philosophen und Künstler die Verbindung zum Absoluten gewährleistet sei. Ich hege Zweifel an dieser für Philosophie und Religion, aber nicht für das System und die Vorlesungen zutreffenden Interpretation, insofern nach den Vorlesungen auch die Gesetzgeber, die dem reellen Teil angehören, die aus Gott emanierenden Gesetze nur empfangen können, wenn sie in einem mehr oder weniger direkten Kontakt zu ihm stehen.
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Aufgrund dieser klaren, metaphysisch verbürgten Rollenverteilung betrachtet Schelling die Ständeordnung grundsätzlich als feststehend.167 Angesichts der Untergliederung des Standes der Freien in Philosophen, Krieger, Gesetzgeber und Künstler betont er, dass gleichwohl „die Totalität der Freien […] als Eine moralische Person construirt“ werden müsse,168 während nur die Nicht-Freien individuelle Personen seien. Das Verhältnis der Freien zu den Nicht-Freien sei denn auch allem voran als das zweier Stände und nicht als ein Beziehungsgeflecht zwischen jeweils konkreten Individuen zu sehen. Unmissverständlich plädiert Schelling dafür, „daß jeder Stand in seiner Absolutheit bleibe“, da in individuellen Beziehungen insbesondere „der Freye nicht in seiner Reinheit“ erhalten bliebe, es jedoch darum gehe, dass „der Herschende und Beherrschte in seiner Absolutheit erhalten werden soll“.169 Der Staat als Bild des Universums; eine Ständeordnung, die sich direkt aus dem ontologischen Dualismus zwischen Gott und scheinbehafteten Einzeldingen herleitet; eine Freiheit, die im Individuum genauso nichtig wie dessen prätentiöses Selbst-Sein ist und allenfalls in der maximalen Annäherung an Gott erreicht werden kann – es ist eindeutig, dass Schellings Idealstaat komplett auf der Grundlage und nach Maßgabe der identitätsphilosophischen Ontologie sowie der mit ihr einhergehenden Freiheitsauffassung entworfen ist. Der politische Gestaltungsspielraum in diesem Staat ist genauso gering wie dieser Staat von Grund auf ontologisch durchdeterminiert ist. Die identitätsphilosophische Ontologie erweist sich in dem Maße als politisch, wie sie sich bruchlos in die Theorie der Gesellschaft verlängert.
3.2 Das Demokratische bei Spinoza Es wird kaum verwundern, dass Spinoza auf der Basis seiner Ontologie, die dem Einzelnen ein größeres Maß an Sein und Freiheit als bei Schelling zugesteht, zu einer ganz anderen politischen Position kommt. Von grundlegender Bedeutung ist, dass Spinoza seine politische Philosophie auf der Grundlage des positiven ontologischen Status des Einzelnen begründet – und nicht, wie Schelling, in der göttlichen Substanz als solcher. Für Spinoza bildet der conatus des Einzelnen nicht nur die Grundlage der Tugend, sondern auch der Politik.170 Dieser elementare Sachverhalt 167 Zwar ist Freiheit vererbbar, wie Schelling sagt, und dennoch müssen sich die Angehörigen dieses Standes bewähren. Zu den Regierenden aufsteigen können nur die, die sich zuerst unter den Wächtern bewährt haben (Pauls, 219). Will ein Angehöriger der Nicht-Freien seinen Stand verlassen und ein Freier werden, muss er allen Besitz aufgeben und riskiert damit, sollte der Aufstieg nicht gelingen, am Ende alles verloren zu haben. „Es wird also“, wie Schelling meint, „keiner diesen Übergang so leicht versuchen“ (Ebd., S. 226). 168 Ebd., S. 220. 169 Ebd., S. 224. 170 Vgl. zu diesem grundlegenden Aspekt die überzeugenden Rekonstruktionen von Matheron 1969; Hindrichs 2006, insbesondere S. 20-28.
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lässt sich dem Grundzug nach in der Ethik ausweisen und sodann weiter in den Politischen Traktat verfolgen. Was Spinoza im vierten Teil der Ethik ausführt, weist auf die tiefgreifende Differenz zu Schelling voraus. Dort heißt es in der Anmerkung zu Lehrsatz 18: „Dem Menschen ist […] nichts nützlicher als der Mensch; nichts Geeigneteres, sage ich, können sich Menschen zur Erhaltung ihres Seins wünschen“.171 Offensichtlich wird der conatus hier nun sozial gedeutet. Die These ist, dass andere Menschen mir nützen, sie potentiell sogar das am meisten Zuträgliche für meine Selbsterhaltung sind. Das Argument dafür lautet: „Wenn nämlich z.B. zwei Individuen von ganz derselben Natur sich miteinander verbinden, dann bilden sie ein Individuum, das doppelt so mächtig ist wie das einzelne für sich.“172 Die Nützlichkeit des Menschen für den Menschen liegt demnach darin begründet, dass der Zusammenschluss von Individuen eine Machtsteigerung impliziert, die den conatus aller zugutekommt, die sich zusammengeschlossen haben. Es verdient hervorgehoben zu werden, dass Spinoza für den Selbsterhalt der Individuen grundsätzlich das konstruktive Potential sozialer Kooperation und nicht etwa das destruktive Potential möglicher Konflikte betont. Nachdrücklich vertritt er die Auffassung, die er offenbar sehr konkret verstanden wissen will, dass „die gesellschaftliche Gemeinschaft der Menschen viel mehr Vorteile als Nachteile mit sich bringt“ und Menschen „doch die Erfahrung machen, daß sie sich in wechselseitiger Hilfe die Dinge, die sie brauchen, viel leichter verschaffen und die überall drohenden Gefahren nur mit vereinten Kräften vermeiden können“.173 Diese positive Verknüpfung zwischen individuellem Selbsterhaltungsstreben und sozialer Kooperation bringt Spinoza in einer Aussage zum Ausdruck, die nicht nur offensichtlich eine Differenz zu seinem etwas älteren Zeitgenossen Thomas Hobbes, sondern zugleich auch den Kontrast zu Schelling anzeigt: „Der Mensch ist dem Menschen ein Gott.“174 Bereits Spinozas Ontologie fordert nicht, dass der Mensch in Gott zurückkehren müsste; er ist immer schon in ihm. Es verwundert daher nicht, dass der Mensch insofern auch auf Gott im anderen Menschen als seinem Gegenüber treffen kann, der ja gleichfalls in Gott existiert. Spinoza nimmt offensichtlich ein horizontales Verhältnis der Einzelnen untereinander an, in das er hier nun, zumindest metaphorisch, das Wort ‚Gott‘ einschreibt. Dabei gilt es zu beachten, dass Gott im engeren Sinn keine ausschlaggebende Rolle in Spinozas Argument spielt, sondern der einzelne Mensch, der sich mit anderen Menschen verbindet. Zentral ist, dass sich politische Vergemeinschaftung für Spinoza, anders als für Schelling, nicht aus einem göttlichen Maßstab, sondern aus dem Selbsterhaltungsstreben der 171 172 173 174
E4p18s. Ebd. E4p35s. Ebd.
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Einzelnen ergibt. Grundlegend für diese Position ist schlicht die Überzeugung, dass Selbsterhaltung in der Gemeinschaft besser als in der individuellen Isolation zu realisieren ist. Nun birgt der Ansatz, das Politische auf der Basis individuellen Selbsterhaltungsstrebens zu begründen, freilich das Problem, wie sich der Konflikt zwischen den verschiedenen Interessen der Einzelnen vermeiden lässt. Spinoza setzt dafür zunächst grundsätzlich, aber nicht ausschließlich, auf die Vernünftigkeit der Akteure. So ist es in seinen Augen nicht das von Begierde geleitete Leben, das soziale Harmonie erwarten lässt, sondern nur die Einsicht in das, was „nach dem Gebot der Vernunft als gut oder schlecht [zu] beurteilen“ ist.175 Menschen, so Spinozas optimistische Sicht, die nach der Leitung der Vernunft leben und ihren conatus entsprechend gestalten, tun „zwangsläufig nur das, was für die menschliche Natur und folglich für einen jeden Menschen der Sache nach gut ist“.176 Würde Spinoza den Optimismus dieser Überzeugung direkt in eine politische Position ummünzen, wäre seine Philosophie auf geradezu bedenkliche Weise naiv. Sie würde nur für die Weisen gelten, die ständig in der Liebe zu Gott lebten und ihren Affekthaushalt perfekt im Griff hätten. Wie wir im Kontext der Freiheitsproblematik gesehen haben, erkennt Spinoza aber ausdrücklich an, dass Menschen keineswegs immer vernunftgeleitet agieren und deshalb untereinander in Konflikte geraten. Da die Menschen de facto immer Affekten unterworfen bleiben und deshalb oft genug unvernünftig im egoistischen Eigeninteresse handeln, argumentiert Spinoza in der Ethik für die Notwendigkeit eines Verzichts auf das natürliche Recht der Einzelnen, das eigene Sein jeweils nur nach dem eigenen Gutdünken zu erhalten: „Damit die Menschen einträchtig leben und einander hilfreich sein können, ist es […] nötig, daß sie ihr natürliches Recht aufgeben und einander sicherstellen, künftig nichts zu tun, was den anderen schädigen könnte.“177 Das ist das wesentliche Argument für die Notwendigkeit des Staates, den Spinoza als eine über Gesetze gefestigte Vereinigung von Menschen versteht, die das Gewaltmonopol erhält und so ihre Bürger zu schützen vermag.178 Lebten Menschen stets vernünftig, bräuchte es keinen Verzicht auf das natürliche Recht; da sie aber affektgeleitete Lebewesen bleiben, muss, was vernünftig ist, gegen ihr konfliktgeladenes Begehren bisweilen im Modus staatlicher Anordnung durchgesetzt werden. Bis zu diesem Punkt hat Spinoza noch nichts über die konkrete Ausgestaltung des Staates gesagt. Der letzte Lehrsatz des vierten Teils gibt einen Hinweis, was er sich vorstellt: „Ein Mensch, der sich von der Vernunft leiten läßt, ist freier in einem Staat, wo er nach einem gemeinsamen Beschluß lebt, als in einem Alleinsein, in dem er 175 176 177 178
200
E4p36dem. Ebd. E4p37s2. Ebd.
nur sich selbst gehorcht.“179 Zunächst bestätigt sich hier ein weiteres Mal, dass es Spinoza in der Tat um die Freiheit des einzelnen Menschen geht. Dass er darüber hinaus den ‚gemeinsamen Beschluss‘ betont, deutet auf die Bedeutung voraus, die das Demokratische für ihn spielt. Dass Spinoza im Gegensatz zu Schelling ein Freund der Demokratie ist, lässt sich anhand mehrerer Stellen belegen. Wohl am eindeutigsten bekennt er sich im Theologisch-Politischen Traktat zu ihr, indem er sagt, dass sie „die natürlichste ist und der Freiheit, welche die Natur jedem einzelnen gewährt, am nächsten kommt“180. Man kann diese Position unschwer mit der conatus-Lehre in Einklang bringen. Es verwundert nicht, dass jemand, der wie Spinoza derart stark auf die Selbsterhaltung der Einzelnen setzt, zu einem demokratischen Staat tendiert. Im unvollendet gebliebenen Politischen Traktat bleibt zwar offen, was Spinozas Position zur demokratischen Staatsform im Einzelnen gewesen wäre.181 Nach allgemeinen Ausführungen, in denen er die wesentlichen Punkte seiner Ontologie aus der Ethik rekapituliert, um sie für seine politischen Erwägungen fruchtbar zu machen, geht er daran, die drei Regierungsformen Monarchie, Aristokratie und Demokratie zu diskutieren. Nur die Teile zu Monarchie und Aristokratie schließt er ab, seine Theorie der Demokratie kann er nicht mehr vollenden. Während wir daher Spinozas Einschätzung der demokratischen Regierungsform nicht vollumfänglich kennen, verdient bereits ein quasi-demokratisches Moment Beachtung, das eine noch grundsätzlichere Rolle als die einzelnen Staatsformen spielt.182 Es leitet sich aus der Ontologie her und erlaubt die Frage nach der Rolle des gemeinsamen Beschlusses zu beantworten, von dem Spinoza in der Ethik spricht. Das Recht in einem Staat, das die Souveränität in den besonderen Regierungsformen Monarchie, Aristokratie und Demokratie bestimmt, wird, wie Spinoza im Politischen Traktat darlegt, „durch die Macht der Menge (potentia multitudinis) definiert“.183 Die Regierung halte der „vollkommen in Händen, dem aus gemeinsamer Übereinstimmung heraus die Verwaltung der Staatsgeschäfte obliegt; zu ihr gehört insbesondere, Rechtsgesetze zu erlassen, auszulegen und aufzuheben“.184 Monarchie, Aristokratie und Demokratie als besondere Formen der Regierung unterscheiden sich nach Spinoza also nicht hinsichtlich der Quellen ihrer Macht, sondern ganz aristotelisch nur darin, wie viele Personen an der Regierung beteiligt
179 E4p73. 180 Spinoza 1994b, S. 240. 181 Zur Bedeutung der demokratischen Regierungsform im Politischen Traktat vgl. Hindrichs 2006, S. 25-28, sowie Saar 2013, insbesondere S. 345-350. 182 Martin Saar spricht treffend von einem „quasi-demokratischen Grund jeder Form politischer Herrschaft“ bei Spinoza (Saar 2013, S. 347ff.). 183 TP II 17. Spinozas Politischer Traktat wird mit der Sigle TP gefolgt von der Angabe des Teils und des Paragraphen zitiert nach Spinoza 1994a. 184 Ebd.
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sind: einer, mehrere oder alle.185 Der maßgebliche Punkt ist, dass für Spinoza alle Regierungsformen von der Macht der Menge abhängen.186 Damit nimmt er einen nicht-institutionalisierten, quasi-demokratischen Grund aller staatlicher Souveränität an, der nicht auf die demokratische Regierungsform festgelegt und begrenzt bleibt. Vor dem Hintergrund der Ontologie Spinozas ist nachvollziehbar, wie sich diese Menge konstituiert. Sie bildet sich in jenem Zusammenschluss, der den Einzelnen eine Steigerung der Macht und Möglichkeiten eröffnet, von dem er bereits in der Ethik spricht. Spinoza wiederholt im Politischen Traktat die grundlegende These, wobei er stärker als in der Ethik auf den Aspekt des Rechts abstellt: Wenn zwei auf einmal zusammenkommen und ihre Kräfte verbinden, dann vermögen sie zusammen mehr und haben folglich zusammen mehr Recht auf [Dinge in der] Natur als jeder für sich allein. Und je mehr Verbündete so ihre Kräfte zusammengeschlossen haben werden, um so mehr Recht werden sie alle zusammen haben.187
Die Behauptung, dass nicht nur die Macht, auch das Recht einer Vereinigung größer sei als das Recht des Einzelnen, wird daraus verständlich, dass Macht das Potential meint, sich im Sein erhalten zu können. Als wesentlich für die conatus-Lehre hat sich erwiesen, dass legitim ist, was immer der Selbsterhaltung dient. Wenn nun eine Gruppe über ein größeres Potential der Selbsterhaltung verfügt als ein einzelner Mensch, reicht auch deren Berechtigung weiter, sich die dazu notwendigen Dinge anzueignen. Spinoza betont auch hier, dass es den Menschen als Einzelnen kaum möglich sein dürfte, „ohne wechselseitige Hilfe ihr Leben auszuhalten und ihren Geist auszubilden“, woraus zu schließen sei, daß von einem Recht der Natur, das dem Menschengeschlecht eigen ist, kaum anders als dort gesprochen werden kann, wo die Menschen gemeinsame Rechtsgesetze haben, dort, wo sie [auf dieser Grundlage] zusammen die Macht haben, Ländereien zu verteidigen […], die Macht, sich selbst zu schützen, alle Gewalttätigkeit zurückzuweisen und gemäß einem Gutdünken zu leben, das allen gemeinsam ist.188
185 ‚Alle‘ schließt für Spinoza nur Angehörige der infragestehenden Gesellschaft ein, keine Ausländer, keine Verbrecher, Knechte, Kinder und Unmündige, insbesondere auch keine Frauen, die ihm zufolge „von Natur aus nicht ein gleiches Recht haben wie Männer, sondern ihnen notwendigerweise unterworfen sind“ (TP XI 4). Vgl. hierzu die differenzierte Diskussion bei Saar 2013, S. 70-74. 186 Diese Abhängigkeit impliziert auch, dass die Macht der Menge ein staatliches Gemeinwesen bedrohen kann. Etienne Balibar schreibt hierzu treffend: „La démocratie apparaît ainsi comme l’exigence immanente de tout Etat.“ (Balibar 2016, S. 45). Saar legt überzeugend dar: „Die Macht der Menge ist der Grund demokratischer Verhältnisse und zugleich die Quelle von deren potentieller Zerstörung, die Demokratie hat alle Fähigkeiten zur maximalen Selbsterhaltung und Stabilisierung und erzeugt dadurch doch zugleich immer Gefährdungspotentiale, die sich gegen das Demokratische selbst richten können.“ (Saar 2013, S. 396f.) Spinoza nimmt hier ein Verhältnis an, das sich mit Derrida als Autoimmunität der Demokratie beschreiben ließe, vgl. Derrida 2006, S. 57f. 187 TP II 13. 188 TP II 15.
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Dieses gemeinsame Gutdünken, das die vergesellschafteten Menschen teilen, beschreibt Spinoza auch als einen geteilten Geist: „[D]as Recht des Staates oder der höchsten Gewalten [ist] nichts anderes als eben das Recht der Natur, das durch die Macht, nun nicht mehr jedes einzelnen, sondern der wie von einem Geist geleiteten Menge bestimmt wird“.189 Gegenüber dem staatlichen Recht fordert Spinoza unbedingten Gehorsam ein, so dass es sich „in keiner Weise denken [lässt], daß das Prinzip des Gemeinwesens es einem jeden erlaubte, nach seiner eigenen Sinnesart zu leben“.190 Dass er hier die Sinnenart betont, zeigt bereits an, worum es geht: Es geht um den affektgeleiteten Eigensinn der Menschen, der gegenüber dem staatlichen Recht keine Ansprüche geltend machen kann. Zugleich ist für Spinoza aber klar, dass sich ein Gemeinwesen nur dann als legitim verstehen lässt, wenn erstens „das jedem Menschen zukommende Recht der Natur […] im staatlichen Zustand nicht“191 verschwindet und das Gemeinwesen zweitens „im höchsten Maße auf das aus ist, was die gesunde Vernunft als nützlich für alle Menschen ausgibt“.192 In dem Maße, wie der affektive Eigensinn der Menschen im Staat in Schach gehalten wird, kann in Spinozas Augen allererst das, wovon die Vernunft lehrt, dass es den conatus aller in Wahrheit zugutekommt, substantiell befördert werden. Substantiell ist mithin das, was „das Gemeinwesen als gerecht und gut beschließt, so anzusehen, als sei es von jedem einzelnen beschlossen worden“ – beschlossen freilich nicht aufgrund der affektiven Willkür der Einzelnen, sondern aufgrund vernünftiger Einsicht.193 Der Staat gießt in Gesetze, was für alle Menschen gut ist, die Einzelnen aber als affektgeleitete Lebewesen nicht immer zu befolgen vermögen. Allem voran ist es die Sicherheit,194 die Spinoza für die Bürger garantiert sehen möchte: Der letzte und höchste Zweck des Staates sei nichts anderes als Frieden und Sicherheit des Lebens. Folglich ist jener Staat der beste, in dem die Menschen ihr Leben in Eintracht verbringen und in dem die erlassenen Rechtsgesetze unangetastet aufrechterhalten bleiben.195
Spinoza fordert damit etwas, das Schelling in dem Maße zurückweist, wie sein Staat nach Maßgabe der göttlichen Vernunft und gerade nicht „nur zur wechselseitigen Sicherstellung der Rechte“196 der Einzelnen errichtet sein soll. Es liegt auf der Hand, dass Spinozas politische Ausführungen an seine ontologische und freiheitstheoretische Auffassung des Einzelnen anknüpfen. Die Bedeutung, 189 190 191 192 193 194 195 196
TP III 2. TP III 3. TP III 3. TP III 7. TP IV 5. TP V 2. Ebd. AA II,7,1, S. 442.
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die er im Rahmen seiner conatus-Lehre der Selbsterhaltung des Einzelnen beimisst, setzt sich in der politischen Sphäre konsequent fort. In dem Maße wie er politische Souveränität prinzipiell von der Macht der Menge abhängig macht, wird der Staat nicht auf eine göttliche Ordnung verpflichtet, sondern auf die Selbsterhaltung der in Gesellschaft lebenden Einzelnen. Damit gründet der Staat Spinozas, selbst wenn er nicht von allen regiert wird, auf einem quasi-demokratischen Fundament, das aus dem Zusammenschluss Einzelner hervorgeht. Die Differenz zwischen Spinozas und Schellings politischen Positionen lässt sich, wie ich zu zeigen versucht habe, auf den unterschiedlichen Status zurückführen, den sie jeweils dem Einzelnen in ihrer Ontologie einräumen. Erstens steht die Weise, wie der ontologische Status des Einzelnen bei Schelling prekär bleibt, einer demokratischen Position von vornherein entgegen. Wenn man zudem zweitens wie Schelling der Auffassung ist, dass die Freiheit des Einzelnen nichtig sei, muss die demokratische Option zwangsläufig noch unwahrscheinlicher werden. Zwar bezieht Schelling offensichtlich ganz grundlegende Anregungen aus Spinozas Philosophie. Er blendet aber gerade diejenigen ontologischen und freiheitstheoretischen Implikationen der conatus-Lehre aus, die das Demokratische ermöglichen und tragen. Er tut das, indem er sich schon in der ontologischen Fassung des Einzelnen nicht allein auf Spinoza verlässt, sondern auch platonische Motive einbezieht. Dass er sich am Ende gegen die Demokratie ausspricht, einen Ständestaat skizziert und sich damit ganz unverkennbar in die Tradition der Politeia stellt, belegt, wie sehr ein platonisches Erbe in Schellings Konzeption tatsächlich wirksam ist. Schelling vertritt jedenfalls keinen reinen Spinozismus. In der Sache hält Spinozas Philosophie, so habe ich zu zeigen versucht, eine alternative politische Ontologie bereit, die bis heute eine Inspiration sein kann.
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Ryan Scheerlinck Schellings Politische Philosophie, oder die Grenzen der Politik1
Schellings Politische Philosophie: Die Formel dürfte anfangs vor allem Befremden erregen, steht Schelling doch seit längerem in dem Ruf, ein unpolitischer Denker zu sein. Dieser Ruf scheint zunächst auch nicht gänzlich unverdient zu sein. So kommt der Begriff der Gerechtigkeit im prägnanten Sinne nicht nur im gesamten Corpus schellingianum, von einer einzigen Stelle, die uns noch beschäftigen wird, abgesehen, kein einziges Mal vor, sondern Schellings Äußerungen zum Thema der Politik weisen auf den ersten Blick insgesamt einen bloß beiläufigen und episodischen Charakter auf. Schelling scheint sich überhaupt nur dann zur Politik zu äußern, wenn das Thema sich ihm durch den sachlichen Zusammenhang eines nicht unmittelbar politischen Problems aufnötigt. Schellings Philosophie scheint somit eher als Schwundstufe der Politischen Philosophie in Betracht zu kommen. Dies muss umso mehr verwundern, als Schelling sich in dem Augenblick, als er sich zum letzten Mal ausführlicher der Politik zuwendet, ausdrücklich auf Aristoteles beruft, der gemeinhin als Begründer der Politischen Philosophie als einer eigenständigen Wissenschaft gilt. Zudem steht Schelling durch den geringen Raum, den er der Politik widmet, in einem auffälligen Kontrast zur Mehrzahl der neuzeitlichen Philosophen, die, von Machiavelli bis Hegel, von Spinoza bis Rousseau und von Hobbes und Locke bis Kant und Fichte, der Politik nicht nur einige ihrer wichtigsten und wirkmächtigsten Werke gewidmet haben, sondern die in einigen Fällen ihre gesamte Philosophie im Gewand einer politischen Lehre vorgetragen haben.2 Einer flüchtigen Sichtung kann man immerhin bereits so viel entnehmen, dass Schelling sich in einer kritischen Distanz zu dieser (typisch modernen) Gestalt der Politischen Philosophie sieht, was er noch dadurch bekräftigt, dass er auf Kants und
1 Den dritten Abschnitt dieses Aufsatzes habe ich am 17. Oktober 2017 während einer Tagung zu Schellings Würzburger System in der Villa Vigoni vorgetragen. 2 Seltsamerweise gleicht Schelling gerade in diesem Punkt von allen neuzeitlichen Philosophen noch am meisten Descartes, mit welchem er sonst so wenig gemeinsam zu haben glaubt. Auch Descartes’ Interesse galt, so scheint es, fast ausschließlich der Metaphysik und der Naturphilosophie. Im Gegensatz zu Descartes scheint Schelling allerdings der Ansicht zu sein, dass zu den Alten zurückzukehren sei, wenn man die Politik verstehen möchte, da darüber von den Neueren kaum etwas zu lernen ist. Zu Descartes’ Politischer Philosophie, vgl. Kennington 2004, bes. Kap. 6 u. 11.
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Fichtes politische Lehre nie anders als äußerst kritisch Bezug nimmt.3 Jedenfalls erfordert die Beobachtung, dass Ausführungen zur Politik im schellingschen Oeuvre nur einen sehr geringen Umfang einnehmen, eine Erklärung. So könnte man versucht sein, Schellings Zurückhaltung bei der Thematisierung der Politik nach dem voltaireschen Diktum aus einer Ängstlichkeit, wenn nicht sogar Feigheit zu erklären, einen der beiden Pole des menschlichen Lebens unverzagt ins Auge zu fassen.4 Bislang hat man jedoch vor allem versucht, Schellings politisches Denken dadurch in den Griff zu bekommen, dass man es in den Kontext der zu seiner Zeit geführten politischen Debatten stellt. Zur Zeit der Niederschrift der Darstellung der reinrationalen Philosophie werden im Sog des Hegelianismus die besagten beiden Pole des menschlichen Lebens in der Tat leidenschaftlich öffentlich diskutiert. Auch wenn Schelling die zentralen Akteure dieser Debatte niemals namentlich erwähnt und dadurch seine Überlegungen zu dekontextualisieren sucht, unterlässt er es dennoch nicht, diesen Kontext anzudeuten.5 Er scheint nur deshalb auf eine eingehende Auseinandersetzung mit diesen Autoren zu verzichten, weil er, genuin philosophisch, die von denselben vertretenen Ansichten auf ihr Prinzip zurückführen und durch den Nachweis seiner Unhaltbarkeit jene Ansichten auf einmal als unzulänglich erweisen möchte. Jener Kontext scheint somit von Schelling nur in der Absicht aufgerufen zu werden, als sie auf die Erschütterung verweist, die sich zwangsläufig ereignen muss, sobald man sich dazu entscheidet, „die Religion, de[n] öffentliche[n] Glaube[n], das Leben im Staat“ öffentlich zur Diskussion zu stellen, um sich derselben als „Hebel“ zu bedienen, „der diese todte Menschenmasse erschüttern soll“.6 Auch heute noch sind die entfernteren Auswirkungen jener Erschütterung unschwer spürbar, die alles Gewohnte, allmählich Gewachsene und Angestammte längst ausgehebelt hat und deren eigentliche Ursache es zu ergründen gilt. Schelling konnte jedenfalls kaum entgehen, wie jene Erschütterung von philosophischen Doktrinen getragen, wenigstens begleitet wurde, die sie zu sanktionieren schienen. Daran konnte er die Gefahr beobachten, die daraus entsteht, dass die Politische Philosophie sich mit einem unmittelbar politischen Programm verbindet oder als eine Anleitung zum politischen Handeln verstanden wird. Wie dem auch sei, bisherige Kontextualisierungsversuche gehen meist so vor, dass sie Schelling einer der für das neuzeitliche politische Leben charakteristischen Kategorien zuzuordnen suchen. So hat man Schelling wechselweise als Demokraten oder Monarchisten, als Reaktionär oder Revolutionär, als Liberalen oder Anarchis3 Vgl. AA I,14, S. 137, S. 143f.; AA II,7,1, S. 442; AA II,8, S. 148; SW XI, S. 548. Schellings Werke werden nach folgenden Ausgaben und Siglen zitiert: Schelling 1856-61 (= SW, Bandund Seitenangabe); Schelling 1976ff. (= AA, Reihen-, Band- und Seitenangabe). 4 Vgl. Voltaire 1879, S. 362 und SW XIII, S. 179. 5 Vgl. SW XI, S. 535, S. 537, S. 539, S. 547f., S. 552. Zu diesem Kontext, vgl. Sandkühler 1968, Frank 1977. Als beispielhaft für die politische Wirkung Schellings, vgl. Bielfeldt 2014. 6 Plitt 1870, S. 78.
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ten bezeichnet. Dass man überhaupt darüber im Ungewissen sein kann, welchen dieser gegensätzlichen Positionen Schelling zuzuordnen wäre, dürfte indes bereits als ein Indiz dafür gelten, dass Schellings Politische Philosophie sich auf diese Weise nicht ohne eine beträchtliche hermeneutische Gewaltsamkeit einfangen lässt und dass jene Kategorien sich in der Konfrontation mit dem schellingschen Text als unwirksam erweisen. So hat man Schelling bspw. unterstellt, die preußische Monarchie ‚legitimieren‘ zu wollen, d.h. einen ideologischen Überbau für die bestehenden politischen (und ökonomischen) Verhältnisse liefern zu wollen. Eine Formel aufgreifend, die uns noch beschäftigen wird, müsste man jedoch vielmehr sagen, dass Schellings Politische Philosophie ‚über den Staat hinaus‘ ist, während die besagten Einordnungsversuche vielmehr durch das Bemühen getragen scheinen, sie dadurch wieder in den Staat hineinzuholen, dass man sie in das Feld der zu Schellings Lebzeiten herrschenden politischen Ansichten einschreibt.7 Dabei wäre zu fragen, ob solche Versuche nicht bereits mit einem Begriff des Politischen operieren, dessen Gültigkeit Schelling gerade in Frage stellen möchte: Sie scheinen dafür zu halten, dass das Denken über Politik ganz im Politischen befangen bleibt und auf keine Weise über den Staat hinaus zu gelangen vermag. Die Politik gälte danach als der Bereich, in welchem Meinungen aufeinandertreffen und eine Entscheidung zwischen gegensätzlichen, einander ausschließenden und keiner Vermittlung gestattenden Meinungen über das Gemeinsame Gute nur auf dem Weg des organisierten Konflikts herbeigeführt werden kann. Die Politik wäre danach das Gebiet der Meinungen und des menschlich Machbaren überhaupt, das dadurch eine Wissenschaft der Politik im strengen Sinne ausschlösse. Wenn auch die Meinungen in ihrem Auftauchen und ihrer Entwicklung, wie auch die Machtverhältnisse in einem bestimmten staatlichen Gebilde zu einer gewissen Zeit eine Erforschung nach wissenschaftlichen Methoden durchaus erlauben, so wären diese Meinungen selbst oder vielmehr die Sache, auf welche sie sich beziehen (das Gemeinsame Gute) einer wissenschaftlichen Durchdringung entzogen. Nur deshalb kann es als die dringlichste, wenn nicht sogar ausschließliche Aufgabe einer Beschäftigung mit Schellings Politischer Philosophie erscheinen, Schellings politische Ansichten zu ermitteln und ihn dadurch eine bestimmte Stelle im Feld der politischen Meinungen zuzuweisen. Nun gesteht Schelling selbst durchaus ein, dass die Politik der Bereich ist, in welchem Meinungen aufeinandertreffen. Mehr noch: Über die Politik schreibt „jeder ohne Bedenken sich ein Urtheil zu“, weil sie „dasjenige betrifft, was auch unabhängig von aller Wissenschaft jedem das Nächste und Angelegenste scheint“;8 sie 7 Zum problematischen Verhältnis von Schellings Lehre vom Staat und seiner „politischen Ansichten“, vgl. Hollerbach 1957, S. 14f., S. 263-274 u. Schraven 1989, S. 22-28. In diesem Zusammenhang ist unverrückbar an dem hermeneutischen Grundsatz festzuhalten, der es verbietet „unmittelbar Philosophie auf Politik (und umgekehrt) zu reduzieren“, wie er von Hofmann formuliert wurde (Hofmann 1999, S. 187). 8 SW XI, S. 534.
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wird zu den Themen gerechnet, „über die heutzutag jeder urtheilen, jeder mitreden zu können glaubt“.9 Die Politik ist somit gerade deshalb das „bedenklichste“ und ‚anstößigste‘ Thema, weil sie ein Gebiet bezeichnet, das derart von Vormeinungen durchsetzt ist, dass man kaum je hoffen könnte, über diese hinaus zu gelangen.10 Es ist jedoch gerade die Überzeugung, dass die Politik der Bereich des menschlich Machbaren sei, die daran hindert, die Auseinandersetzung mit Schellings Politischer Philosophie auf der grundsätzlichen Ebene zu führen, die von ihm verlangt wird. Die erwähnten Einordnungsversuche bleiben Schellings Denken über Politik indes nicht bloß äußerlich. Eine Reflexion über dieselben hat uns nämlich wie von selbst auf die eigentliche Kernfrage geführt, nämlich ob die Politik von der Art ist, dass sie überhaupt eine Wissenschaft gestattet oder ob sie hingegen nur der Bereich der Meinungen und des menschlich Machbaren ist. Damit haben wir die Leitfrage gewonnen, die uns in der Folge bei der Beschäftigung mit einigen zentralen Textstücken Schellings leiten wird. In dieser Absicht werden wir uns zunächst Schellings letzten Äußerungen zur Politik zuwenden, wie sie in der 22. bis 24. Vorlesung zur reinrationalen Philosophie zu finden sind. Dazu werde ich mich in einem ersten Abschnitt vor allem dem zentralen Begriff des Gesetzes zuwenden, der wegen seiner Mehrdeutigkeit besondere Beachtung verdient. Dabei werden auch einige Seitenblicke auf den Ort fallen, den Schelling seiner politischen Lehre im Gesamtzusammenhang der reinrationalen Philosophie zuweist, und auf die Funktion, die sie darin zu erfüllen hat. In einem zweiten Abschnitt gehe ich näher auf die Formel ‚über den Staat hinaus‘ ein, die als Losungswort von Schellings politischem Denken gilt, um zu zeigen, wie diese durch die Formel ‚über das Gesetz hinaus‘ zu ersetzen ist. Um die grundsätzliche Kontinuität von Schellings politischem Denken hervortreten zu lassen, gehe ich schließlich in einem dritten Abschnitt näher auf Schellings politische Lehre ein, wie er sie in der Würzburger Zeit entwickelt hat.
1. Gesetzeskraft Das Verständnis der politischen Lehre, wie Schelling sie im Rahmen der Darstellung der reinrationalen Philosophie mehr andeutet als wirklich entfaltet, wird wohl am meisten durch den schillernden und mehrdeutigen Charakter des zentralen Begriffs des Gesetzes erschwert. Vielleicht ist ein Zugang zu Schellings Lehre noch am ehesten dadurch zu finden, dass man die kritische Absicht beachtet, die er ihr zuschreibt. Wie gesagt richtet Schelling sich nämlich gegen jene politischen Lehren, die auf dem Boden des Hegelianismus aufgekommen waren. Diese Lehren sind als Meinungen einzustufen, weil sie sämtlich auf einer nicht näher befragten Annahme 9 Ebd., S. 539. 10 Vgl. ebd., S. 534f.
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aufbauen, nämlich „daß das Gesetz für sich den Menschen frei mache“.11 Jene Lehren treffen darin zusammen, dass sie die tatsächliche Macht des Staates verschleiern, indem sie einen Vergleich zwischen Gesetz und Willen, zwischen Staat und (menschlicher) Vernunft hervorzubringen versuchen. Danach wäre jene tatsächliche Macht eine immer nur vorläufige, die sich durch eine Umänderung des Staates wegschaffen ließe, eine Macht, die „immer mehr dem Vernunftrecht weichen [müßte], [...] bis ein reines Vernunftreich dastehe“.12 Die Absicht jener Lehren besteht somit darin, die staatliche Ordnung so umzuändern, dass das Gesetz die Zustimmung der Vernunft finden kann. Stattdessen macht Schelling darauf aufmerksam, dass der Staat allein schon durch seine tatsächliche Existenz eine gewisse vernünftige Ordnung in den menschlichen Verhältnissen zustande bringt. Der eigentliche Kern der 22. bis 24. Vorlesung zur reinrationalen Philosophie, in welchen die Notwendigkeit eines Übergangs von der negativen zur positiven Philosophie einsichtig gemacht werden soll, besteht denn auch in der kritischen Analyse des Gesetzes, von welcher die Lehre vom Staat nur einen Teil oder den augenfälligsten Anwendungsfall bildet. Schellings Absicht besteht somit darin, die Unvereinbarkeit von Gesetz und Willen aufzuzeigen. Um dies deutlich zu machen, greifen wir Schellings Gedankengang an der Stelle auf, an der er das eigentliche Ziel des Willens darin setzt, ganz er selbst zu sein.13 Man könnte dies auch als den Willen im Willen bezeichnen, da jeder einzelne Willensakt in einer solchen Suisuffizienz sein eigentliches telos findet. Dem stellt sich zunächst die Welt als ein Fremdes gegenüber. Nur durch die Erkenntnis vermag der Geist, sich der Welt zu bemächtigen, und dadurch der Wille, sich zu sich selbst zu ermächtigen.14 Erst an dieser Stelle kommt Schelling auf jene Schranken zu sprechen, die den Willen daran hindern, ganz er selbst zu sein. Der Begriff des Geistes wird eingeführt, um den Übergang vom reinen Denken, das lediglich mit virtuellen Gegenständen zu tun hat und deshalb keinem wirklichen Subjekt zuschreibbar ist, zur wirklichen Wissenschaft einsichtig zu machen. Dazu muss der Geist, als wirkliches Subjekt von Wissen, in seiner Entstehung einsichtig gemacht werden. In dieser Absicht werden nacheinander unterschiedliche Aspekte oder Elemente beleuchtet und für sich analysiert, die für die Konstitution von Geist erforderlich sind, jedes für sich genommen dazu jedoch nicht ausreicht. Als die fundamentalste Bestimmung wird herausgestellt, dass der Geist auf einem Willen aufbaut: „Ursprünglich ist [...] der Geist [...] vielmehr Wollen, und zwar das nur Wollen ist um des Wollens willen, das nicht etwas will, sondern nur sich selbst will“. Der Geist ist „der Wille [...], der sein Wollen frei haben, sich vorbehalten will, statt es gefangen zu nehmen, als bloße Potenz zu setzen“.15 Damit der Wille 11 12 13 14 15
Ebd., S. 535. Ebd., S. 539, vgl. S. 541, S. 550, S. 552. Vgl. ebd., S. 461-464, S. 473, S. 527. Vgl. ebd., S. 423, S. 456, S. 463, S. 473, S. 516-527. Ebd., S. 461.
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wirkliches Wollen ist, muss „ein nicht Gewolltes, ihm Fremdes“ dazwischentreten, „etwas also, durch das er hindurch, das er durchdringen muß, um zu seinem freien Wollen zu gelangen“.16 Nur indem der Wille sich dieses ‚Dazwischengetretenen‘ dadurch bemächtigt, dass er es erkennt, kommt er zu sich. Bei der Einschätzung von Schellings politischer Lehre ist somit durchgängig zu beachten, dass sie im Rahmen einer ‚erkenntnistheoretischen‘ Problematik ihren Ort hat, nämlich der Frage, wie Geist als Subjekt wirklicher Wissenschaft sich konstituiert. An dieser Stelle knüpft Schelling an, wenn er bemerkt, dass „das Ich alsbald gewissen Schranken [begegnet]“, nämlich beim Versuch, alles, was näheren oder entfernteren Bezug hat auf den letzten Zweck [sc. das „Wohlseyn“ oder den „Vollgenuß seines Seyns“, kurz die Glückseligkeit, R.S.], als solches zu erkennen und zu unterscheiden, dieser Einsicht gemäß zu benutzen und seinem Willen dienstbar zu machen, d.h. als Materie desselben zu behandeln.17
Die gemeinten Schranken sind somit solche, die den Willen daran hindern, den Verstand zu seinem natürlichen letzten Zweck zu gebrauchen. Indem wir eine Erkenntnis, die letztlich im Dienste des Zwecks des Vollgenusses des eigenen Seins steht, als Weisheit bestimmen können, so rührt Schelling hier an die Spannung zwischen Weisheit und Gerechtigkeit. Obwohl es also in der Natur des Ich angelegt ist, den in ihm implizierten Willen, sich selbst zu haben, durch den ‚natürlichen Verstand‘ zu realisieren, bleiben Verstand und Wille solange in einem Zustand der Latenz, als sie nicht durch etwas Fremdes dazu genötigt werden, sich zu aktualisieren. Bis hierhin war vom Willen so die Rede, als handelte es sich um einen vereinzelten Willen. Es ist nun gerade das Problem, wie der Wille aus dem Zustand der Latenz in Tätigkeit versetzt werden kann, das Schelling dazu nötigt, den Staat zu thematisieren. Deshalb kommt der Lehre vom Staat, wie Schelling ausdrücklich hervorhebt, im Zusammenhang dieser Vorlesungen ein bloß instrumenteller Charakter zu.18 Sie wird somit nicht um ihrer selbst willen vorgetragen, sondern lediglich, weil nur diese Lehre Einsicht in den negativen Charakter der reinrationalen Philosophie zu gewähren und das Bedürfnis nach einer positiven Philosophie empfindlich zu machen vermag. Der Wille kann nämlich nur insofern als tätig gedacht werden, als berücksichtigt wird, dass er nie vereinzelt vorkommt, sondern sich stets als einer unter Vielen findet. Dieser Aspekt des Willens war in der Darlegung der natürlichen Erkenntnistheorie ausgeklammert worden, wird jetzt jedoch hervorgehoben, da das natürliche Erkenntnisvermögen für sich genommen noch nicht dazu ausreicht, einen tätigen Willen zu denken. Ein wirklicher Wille kann nur einem bestimmten Subjekt mit einer jeweils partikularen Natur zugeschrieben werden. Ein Wille als ein einem Subjekt zuschreibbares Vermögen ist eine an dieses gebundene Möglichkeit. Ein sol16 Ebd., S. 463. 17 Ebd., S. 527. 18 Vgl. ebd., S. 534.
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ches Subjekt kann nicht die ganze (unendliche) in der Idee enthaltene Möglichkeit darstellen. Die in der Idee enthaltenen unendlichen Möglichkeiten können somit nur durch eine unendliche qualitative Vielheit von Dingen zur Darstellung gelangen.19 Diese die Idee darstellenden Einzeldinge sind qualitativ ungleich. Diese Ungleichheit bezeichnet Schelling als eine natürliche und bestimmt sie als „Gesetz alles Seyenden“:20 Sie ergibt sich zwangsläufig daraus, dass in der Idee eine Unendlichkeit von Möglichkeiten impliziert ist, diese Unendlichkeit nie von einem einzigen Einzelding realisiert oder dargestellt werden kann, es somit einer Unendlichkeit an Einzeldingen bedarf, um jene unendliche Möglichkeiten zur Darstellung gelangen zu lassen.21 Erst an dieser Stelle führt Schelling den Begriff des Gesetzes ein. Als ‚Gesetz‘ bezeichnet er in diesem Zusammenhang die in der Idee einer jeglichen Form von Gemeinschaft enthaltene Rangordnung oder Ungleichheit von Herrschenden und Beherrschten. Es handelt sich insofern um eine „intelligible Ordnung“, als eine Gemeinschaft ohne jene Ungleichheit überhaupt nicht denkbar ist.22 Diese intelligible Ordnung dauert insofern in der Sinnenwelt fort, als jede real existierende Gemeinschaft jener Ungleichheit auf irgendeine Weise Rechnung zu tragen hat. Gemeinschaft gibt es somit nur insofern, als es eine Ausdifferenzierung jener Stellen gibt. Die natürliche Ungleichheit von besonderen Naturen findet ihre Entsprechung in der für eine jegliche Form von Gemeinschaft konstitutive Ausdifferenzierung der beiden Stellen oder Funktionen der Herrschenden und Beherrschten. Ohne eine solche Ausdifferenzierung ist eine Gemeinschaft überhaupt nicht zu denken. Dies besagt indes noch keineswegs, dass diese Stellen in einer real existierenden Gemeinschaft auch tatsächlich durch solche besetzt werden, die sich aufgrund ihrer Natur am meisten für die jeweilige Stelle eignen.23 Schellings politische Lehre kreist in der Tat um das Problem, dass die natürliche Ungleichheit und die in der Idee des Staates implizierte Ungleichheit sich kaum je zur Deckung bringen lassen. In jeglichem real existierenden Staat wird nämlich eine Diskrepanz walten zwischen den in jenen Stellen implizierten Anforderungen und der Natur derjenigen, die sie tatsächlich besetzen. Dies bringt Schelling dazu, jene Ordnung als ein Gesetz zu bezeichnen: Dieses Gesetz ist somit nicht durch bloße Beobachtung feststellbar, desto mehr, da die real existierenden Staaten, so wie sie in der Erfahrung gegeben 19 20 21 22
Vgl. ebd., S. 530. Ebd. Vgl. ebd., S. 464. Ebd., S. 528. Diese intelligible Ordnung bezeichnet Schelling in einer Fußnote auch als „das ursprüngliche Organische der Gesellschaft“ (Ebd., S. 530). Dadurch stellt er einen Bezug zur Unterscheidung von mechanischem und organischem Staat her, die für seine frühe politische Lehre grundlegend ist, vgl. Hollerbach 1957, S. 152-178; Sandkühler 1968, S. 123-143; Hofmann 1999, S. 118-130. 23 Zum Unterschied zwischen solchen in der Vernunft vorgezeichneten Stellen und der eigentlichen Einsetzung oder Besetzung derselben, vgl. Buchheim 1992, S. 46f., S. 144, S. 181f.
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sind, sich vielmehr durch die Abweichung von jenem Gesetz auszeichnen. Dieses Gesetz schließt eine Übertretung somit nicht aus. Vielmehr ist diese die ‚Regel‘. Als konstitutive Bedingung einer jeglichen Form von Gemeinschaft, als intelligible Ordnung kann jenes Gesetz nicht als ein „von Menschen gemacht[es]“ Gesetz gedacht werden, aber ebenso wenig als ein göttliches oder von Gott gegebenes Gesetz.24 Dementsprechend kann es durch menschliche Bemühungen nicht irgendwann aufgehoben werden. Demnach kann Schelling es auch, im Anschluss an Aristoteles, als ein ‚Naturgesetz‘ bezeichnen. Obwohl ein Naturgesetz, so schließt es doch nicht aus, dass es übertreten werden kann. Zum einen können Versuche angestellt werden, eine Gemeinschaft zu organisieren, die diese Unterscheidung oder Ungleichheit auszuschalten suchte. Dazu rechnet Schelling alle demokratischen Bestrebungen.25 Zum anderen kann es auch in dem Sinne übertreten werden, dass solche, die von Natur zum Beherrscht-werden geeignet sind, dennoch danach streben, die Stelle der Herrschenden zu besetzen, dass diese Stelle von sklavenhafte Naturen besetzt gehalten wird.26 Schelling unterscheidet zwischen dem Inhalt und der Form des Gesetzes. Der Inhalt dieses Gesetzes ist die natürliche Ungleichheit, während die Form desselben darin besteht, dass diese Ungleichheit sich als „Act der ewigen, dieser thatsächlichen Welt gegenüber wirksamen, d.h. eben praktisch gewordenen Vernunft“ bekundet.27 Durch die bloß tatsächliche Existenz des Staates wird die praktische Vernunft effektiv.28 Der Staat bringt durch sein bloßes Vorhandensein eine gewisse vernünftige oder vernunftähnliche Ordnung oder Regelhaftigkeit im menschlichen Verhalten, eine Ordnung, die weitgehend davon unabhängig ist, ob die individuelle Vernunft das Gesetz als vernünftig einzusehen vermag.29 Zum einen nötigt der Staat dem 24 SW XI, S. 530. 25 Vgl. ebd., S. 542f., S. 548. 26 Vgl. ebd., S. 535. Die Übertretung des Gesetzes ist eine bloß „thatsächliche“ „Befreiung vom Gesetz“; diese Möglichkeit ist jedoch im Gesetz selbst impliziert. Die Übertretung reicht somit nicht aus, den Bann des Gesetzes zu brechen, sondern bleibt vielmehr ganz in ihm befangen (Ebd., S. 535). 27 Ebd., S. 538, vgl. S. 539f. 28 Damit greift Schelling die Bestimmung des Staates als zweite Natur auf, wonach seine Glieder zwar vernunftgemäß, wenn auch nicht aus Vernunft handeln (vgl. AA I,9,1, S. 235, S. 281f., S. 294f.; AA II,7,1, S. 353, S. 355f.; AA II,8, S. 146f.). Der Begriff einer zweiten Natur klingt auch in der Rede von einer „zweiten und allerdings höhern Welt“ an (SW XI, S. 529). 29 Man könnte den Grund von Schellings Kritik an den zeitgenössischen Staatstheorien als eine Fortführung seiner früheren Kritik der Reflexionsphilosophie verstehen: Diese Theorien versuchen sich den Staat einsichtig zu machen aus der Innenperspektive des Bürgers oder des Untertans, um so einen Vergleich zwischen den Anforderungen des Staates und dem Individuum herzustellen. Der Reflexionsstandpunkt verschleiert so die Tatsache oder die Aporie, dass beide sich eigentlich nicht zusammenbringen lassen. Die Meinungen, gegen welche Schelling sich richtet, haben gemeinsam, dass sie den Staat und das politische Leben immer schon von innen heraus sehen, d.h. dass diese Theoretiker nicht in der Lage sind, den Staat von einem Standpunkt aus zu betrachten, der selbst über den Staat hinaus liegt. Dies zeigt sich insbesondere daran, dass sie den Staat nur durch solche Mittel zu erklären vermögen, die ihrerseits bereits
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Bürger eine gewisse Vernünftigkeit seines Handelns auf, zum anderen versetzt er ihn auch erst in die Lage, sich seiner Vernunft auch wirklich zu bedienen. Nur auf der Grundlage des Staates kann der Mensch auch eines wirklich vernünftigen Denkens fähig werden, ohne dass dieser Austritt der Vernunft aus dem Zustand der Latenz dadurch notwendig gemacht wird. Dadurch führt Schelling zu der Einsicht, dass der Philosoph selbst nur auf der Grundlage des Staates dazu gelangt, sein Leben nach der Vernunft zu führen. Das Insistieren auf die Tatsächlichkeit des Staates zeichnet Schellings Lehre vom Staat aus: Dies ist die Gewalt oder die Härte des Staates, die durch keine nachträgliche ‚Rechtfertigung‘ oder ‚Begründung‘ abgemildert werden kann. Die Rede von einer „intelligiblen Ordnung“, die in der Wirklichkeit „fortdauert“ und „dem selbst- und eigenthätig gewordenen Willen sich als Gesetz auferlegt“, versucht Schelling dadurch dem Verständnis näher zu bringen, dass er auf bestimmte Gefühle verweist, die als eine Spur jener Ordnung zu interpretieren sind.30 Drei Klassen von Gefühlen führt er in dieser Absicht an: Als erstes erwähnt er ein Gefühl des Stolzes oder der Erhebung, das aus der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft erwächst bzw. daraus, dass man sich für deren Erhaltung oder deren künftiges Wachstum verdient gemacht hat.31 Der Mensch findet Erfüllung in dem Beitrag, den er am Fortbestehen oder Gedeihen der Gemeinschaft liefert. Dieses Gefühl der Erhebung ist nur die Kehrseite eines Gefühls der Abhängigkeit: Jedes Glied der Gemeinschaft ist für sein eigenes Wohlergehen auf das Wohlergehen des Ganzen angewiesen. Nun verweist Schelling, zweitens, auf ein „menschliches Gefühl“, das eher in die entgegengesetzte Richtung zu weisen scheint, nämlich auf den Wunsch nach Gleichheit, „den Wunsch, daß alle Menschen auf gleicher Höhe stünden“.32 Dieses Gefühl scheint somit eher auf eine Auflehnung gegen das Gesetz der Ungleichheit zu deuten. Dieser Wunsch nach Gleichheit scheint oft schwer vom Neid zu unterscheiden, die die Herrschenden wachrufen können.33 Jedenfalls steht diesem Wunsch die Empfindung des „Gesetzes alles Seyenden“ entgegen, als eine Macht, der man sich nicht entziehen kann.34 Jener Wunsch mag zum Versuch führen, die „Ungleichheit zu tilgen, die nicht von Menschen gemacht, die von einer Ordnung herkommt, welche über diese Welt hinaus reicht, und die Folge jenes großen Gesetzes alles Seyenden ist, nach welchem nicht nur kein Staat, wie Aristoteles sagt, sondern keine Art von Gemeinschaft aus lauter Gleichen (έξ óμοίων) bestehen kann“.35
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die Existenz des Staates voraussetzen, wie z.B. die Versuche, den Staat auf einen Vertrag zurückzuführen (vgl. SW XI, S. 537, S. 540). Ebd., S. 528. Vgl. ebd., S. 529. Ebd., S. 529. Vgl. ebd., S. 539; Schelling 1990, S. 166. SW XI, S. 530. Ebd.
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Schließlich verweist Schelling, drittens, unter Rückgriff auf einige Stellen aus der antiken Literatur auf ein Gefühl des Schreckens bei der Manifestation der Dikè und d.h. der Begrenztheit des menschlich Machbaren. Die Dikè zeigt sich vorzüglich als strafende oder rächende Göttin, nämlich als Rächerin jeglicher Abweichung von jener intelligiblen Ordnung. Das Gesetz, das Schelling hier ableitet, weist folgende Besonderheiten auf: Erstens handelt es sich um ein allgemeines Gesetz, dem jegliche Form der Gemeinschaft, nicht nur der Staat, sondern auch bereits die Familie als einfachste Form von Gemeinschaft, unterworfen ist. Zweitens kann dieses Gesetz deshalb als ein natürliches bezeichnet werden.36 Es handelt sich um ein nicht von Menschen gemachtes Gesetz, ohne dass es deshalb als ein von Gott gegebenes Gesetz anzusehen wäre. Drittens ist dieses Gesetz nicht in dem Sinne ein Naturgesetz, dass alle Gemeinschaften zwangsläufig in Übereinstimmung mit demselben eingerichtet wären. Nicht nur schließt dieses Gesetz dessen Übertretung nicht aus, sondern die Übertretung oder Abweichung von diesem Gesetz scheint vielmehr die Regel zu sein. Es macht seine Macht jedoch auch dann bemerkbar, wenn die Zustimmung ausbleibt. Dieses Gesetz ist für seine Geltung nicht auf allgemeine Zustimmung angewiesen. Was ferner das Individuum betrifft, so bezieht dieses Gesetz sich, viertens, auf die Stelle, die es in der natürlichen Ordnung einnimmt, und das Maß, in welchem die Stelle in der Gemeinschaft jener natürlichen Stelle entspricht. Das Individuum entnimmt sein Recht der Stelle, die es in der intelligiblen Ordnung einnimmt. Dies ist auch das einzige Mal, dass Schelling die Gerechtigkeit erwähnt: Gerechtigkeit bedeutet, dass der individuelle Wille der Stelle zu entsprechen vermag, die ihm aufgrund der natürlichen Ordnung zukommt. Das natürliche Unrecht besteht in einem Willen, der mehr will, als ihm aufgrund jener Stelle zukommt.37
2. Über das Gesetz hinaus Man hat gelegentlich gemeint, die leitende Absicht von Schellings Politischer Philosophie mittels der Formel ‚über den Staat hinaus‘ einfangen zu können.38 In der Tat zieht diese Formel sich wie ein Leitmotiv durch den gesamten politischen Teil der Darstellung der reinrationalen Philosophie.39 Sie besagt indes im Wesentlichen das Gleiche wie die von Schelling um 1810 aufgestellte These, wonach der Staat „einen
36 Vgl. ebd. 37 Vgl. ebd. 38 Markus Hofmann hat sie denn auch folgerichtig zum Titel seiner Arbeit gewählt, vgl. Hofmann 1999. Die Formel schwingt jedoch auch in den Versuchen mit, Schelling der Antipolitik zuzuordnen, vgl. Sandkühler 1989 u. Schmiljun 2014. 39 Vgl. SW XI, S. 534, S. 543, S. 545f., S. 548, S. 551, S. 553.
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Widerspruch in sich selbst“ hat.40 Nur weil der Staat an sich ein widersprüchliches Gebilde ist, treibt er über sich hinaus. Danach bestünde die Absicht der Politischen Philosophie darin, die Widersprüche und Aporien, welche das politische Leben durchziehen, als solche aufzudecken. Von ihr scheint somit kaum je eine Orientierung für das politische Handeln zu erwarten zu sein, sondern sie wird eher eine vorwiegend kritische oder destruktive Wirkung entfalten. Jedenfalls kann sie nicht dazu benutzt werden, irgendeine politische Ordnung zu ‚legitimieren‘. Es scheint ihr nichts übrig zu bleiben, als auf den tatsächlichen Charakter einer jeglichen politischen Ordnung zu verweisen.41 Sobald die Politische Philosophie versucht, diesen tatsächlichen Charakter in eine prinzipielle Begründung aufzulösen, würde sie eben dadurch in unmittelbar politischer Hinsicht gefährlich, da sie nur zu dem Ergebnis führen kann, dass die tatsächlich existierende Ordnung dem natürlichen Gesetz nicht entspricht. Die Politische Philosophie gibt dadurch leicht Anlass zu überschwänglichen politischen Hoffnungen, wonach die bestehende Ordnung durch den Vernunftstaat abzulösen wäre, darin durch den Widerwillen gegen das Gesetz unterstützt. In dieser Überlegung dürfte ein auch unmittelbar praktischer Grund dafür gefunden werden, weshalb Schelling sich nur äußerst spärlich und zurückhaltend zur Politik geäußert hat, nämlich nur dann, wenn es sich in Hinblick auf eine umfassendere Absicht nicht vermeiden ließ. Schelllings politische Lehre soll denn auch vor allem einen ernüchternden Effekt haben, so dass die politischen Hoffnungen, durch welche sich die zeitgenössischen Doktrinen bezaubern lassen, in der Wurzel angegriffen werden. Wie dem auch sei, über der Prägnanz der besagten Formel darf nicht ihre Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit übersehen werden. Diese zeigen sich bereits bei der ersten Erwähnung in der Darstellung der reinrationalen Philosophie. Diese findet sich im Rahmen einer historischen Betrachtung: Nachdem Schelling sowohl das despotische als auch das demokratische Regime kritisch analysiert hat, geht er ausführlich auf Rom ein. Dieser Übergang ist dadurch motiviert, dass weder die „despotische Einzelherrschaft“ noch die „unbeschränkte Volksherrschaft den Staat als solchen [...] zur Geltung kommen“ lassen.42 Rom scheint deshalb insofern als Muster zu gelten, als der Staat hier dadurch als solcher ‚zur Geltung‘ kommt, dass er die gesamte Menschheit umfasst. Es ist somit der Staat selbst, der, als partikularer Staat, ‚über den Staat hinaus‘ streben und sich zu einem die ganze Menschheit umfassenden Weltreich ausweiten muss, falls er in sein Wesen gelangen will.43 40 AA II,8, S. 146. Übrigens findet die Formel sich bereits im sog. Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus, vgl. AA II,6, S. 483. 41 Vgl. SW XI, S. 533, S. 535f., S. 538f., S. 550f. 42 Ebd., S. 543. 43 Vgl. ebd., S. 545f. Das römische Reich wird hier übrigens deshalb als „monarchisch“ bezeichnet, nicht, weil ein Einzelner herrscht, sondern weil der Staat selbst als der einzige Zweck, als das einzig Herrschende gilt oder auch, weil ein einziger Staat die ganze Welt beherrscht (vgl.
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Dieses Lob Roms bereitet jedoch nur eine grundsätzliche Kritik dieser Tendenz des Staates über sich hinaus vor. Die Errichtung eines Weltreichs lässt sich nämlich nur dadurch erreichen, dass „der Staat alles absorbirt, und anstatt dem Individuum Muße zu gewähren, es vielmehr zu allem herbeizieht“.44 Der Staat gelänge nur dadurch über sich selbst hinaus, als er das Individuum ganz zu erfassen wüsste, so dass dessen Leben ganz im Dienst des Ganzen zu stehen kommt. Gerade am Beispiel Roms wird besonders augenfällig, wie irregeleitet dieser Versuch tatsächlich ist. Die Realisierung dieses Versuchs vermag das Individuum nämlich nicht in dem Sinne ganz zu erfassen, als es dessen tiefste Bedürfnisse unbefriedigt lassen muss, wie sich daran zeigt, dass sogar die Herrscher die „Verzweiflung [...] befallen mußte darüber, daß kein Zweck, also in allem, auch in ihrem eigenen Thun keine Wahrheit mehr zu erkennen war“.45 Allerdings zeigt sich am Beispiel Roms nur deutlicher, was genauso vom despotischen und demokratischen Staat gilt, nämlich dass „sie mit der Muße nichts anzufangen“ wissen.46 Damit greift Schelling an dieser Stelle die aristotelische Kritik des Geistes Spartas auf. Dadurch wird zugleich die obige Beobachtung entschieden relativiert, wonach das Leben im Dienst der Gemeinschaft dem Individuum eine besondere Form der Erfüllung oder des Selbstgefühls zu verschaffen vermag, was sich insbesondere an der Erfahrung des Kriegers belegen ließ.47 Wenn das Streben über den Staat hinaus auch als „berechtigt und nothwendig“ anzuerkennen ist, so ist doch die Weise, in welcher es sich in diesem Fall zu realisieren sucht, als irregeleitet zurückzuweisen.48 Als einen weiteren Fall des „Bestreben[s,] sich vom Staat unabhängig zu machen“, erwähnt Schelling die Revolution als einen Versuch, „den Staat in seiner Grundlage aufzuheben“.49 Mehr als die Revolutionen selbst interessieren ihn jedoch solche „Doctrinen“, die das Volk gerade dadurch aufwiegeln, dass sie „den Staat so viel möglich dem Ich gerecht und genehm machen möchten“.50 Damit verweist er auf die verhängnisvolle Verwechslung der Vernunft überhaupt mit einer menschlichen Vernunft, deren Unterscheidung eines der zentralen Anliegen seiner Überle-
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ebd., S. 543f.). Dies dürfte dazu beitragen, Äußerungen, durch welche Schelling die (preußische) Monarchie legitimieren zu wollen scheint, mit gewisser Vorsicht zu interpretieren. Die Betonung, dass der Staat nicht Zweck sein kann, sondern nur Mittel, „nur Unterlage, Hypothesis, Durchgangspunkt“, beinhaltet somit eine Absage an die Monarchie in dem angegebenen Sinn (Ebd., S. 553, vgl. S. 544). Ebd., S. 551. Ebd., S. 545. Indem Schelling der Meinung entgegentreten möchte, wonach der Staat „der höchste [Gegenstand] ist und der den ganzen Umfang eines menschlichen Geistes allein ausfüllen zu können scheint“, gibt er zu erkennen, dass nach seiner Ansicht die Politik nicht der höchste Gegenstand ist und nicht derart, dass er den menschlichen Geist allein ausfüllen könnte (Ebd., S. 534). Ebd., S. 544. Vgl. ebd., S. 529. Vgl. ebd., S. 544 mit Hinweis auf Aristoteles, Politik 1271 b 1. SW XI, S. 548, vgl. S. 547. Ebd., S. 547. Ebd.
gungen bildet.51 Solche revolutionäre Doktrinen werden nicht nur wegen ihrer praktischen Auswirkungen moniert, sondern insbesondere deshalb, weil sie von einem mangelhaften Selbstverständnis des Philosophen zeugen: Die Allgemeinheit jedoch des Beifalls, den jene Doctrinen gefunden, und die Unwiderstehlichkeit, mit der sie sich verbreitet [...] nöthigt uns allein schon anzuerkennen, daß sie von etwas herkommen, das in jedem Menschen für sie spricht und in letzter Instanz nur jenes Princip seyn kann, das, nachdem es einmal sich gewollt, nun auch ganz sein selbst seyn will, und sich mächtiger als die Vernunft fühlend, sich auch eine Vernunft für sich erschafft [...].52
Auch in diesem Fall erwächst das Streben ‚über den Staat hinaus‘ aus „Unlust und Widerwillen gegen das Gesetz“.53 Wenn diese Unlust und dieser Widerwille als die Grundbefindlichkeit des Individuums in der Gemeinschaft auf ihre Wurzel hin zu verfolgen und als ‚berechtigt und nothwendig‘ anzuerkennen ist, so ist doch äußerste Vorsicht geboten, die Vernunft nicht durch dieselbe vereinnahmen und dadurch zu irregeleiteten überschwänglichen politischen Hoffnungen bzw. zu „(apokalyptische[r]) Schwärmerei“ mitreißen zu lassen.54 Sowohl das Streben nach einem Weltreich als auch der Versuch, den Staat mittels einer Revolution von Grund auf umzugestalten, sind somit als irregeleitete Versuche zu verstehen, sich vom Staat zu befreien. Insbesondere sieht Schelling ein solches Bestreben in den neuzeitlichen politischen Theorien am Werk. Auch deshalb braucht Schelling nicht en détail auf die Lehren junghegelianischer Autoren einzugehen, weil ihre Doktrinen nach seiner Einschätzung im Bann jener politischen Hoffnungen bleiben. Der Staat strebt nicht nur immer schon über sich hinaus, indem er in einem Weltreich aufzugehen sucht, sondern ebenso insofern er auf einer kollektiven Gesinnung baut, die er dennoch selbst nicht hervorzubringen vermag. Das durch den Staat verkörperte Gesetz der Ungleichheit oder die für ihn konstitutive hierarchische Ordnung bedarf einer Ergänzung durch ein „Gesetz für das Geschlecht“, ein Gesetz, das der Staat weder selbst hervorzubringen noch zu kodifizieren vermag.55 Durch diese Behauptung möchte Schelling auf eine Aporie des Begriffs des Gesetzes aufmerksam machen sowie eine geläufige Meinung zurückweisen, wonach das Gesetz den Menschen dadurch frei macht, dass es ihm erlaubt, für oder wider das Gesetz zu handeln, und ihm dadurch die Möglichkeit alternativer Handlungsweisen eröffnet.56 Die Freiheit für oder wider das Gesetz zu handeln setzt nämlich bereits voraus, dass alle das Gesetz beachten, wenigstens nicht gegen das Gesetz handeln: Der Einzelne hat 51 52 53 54 55 56
Vgl. ebd., S. 537f., S. 547f. Ebd., S. 547. Ebd., S. 534. Ebd., S. 552. Ebd., S. 539. Vgl. ebd., S. 535, S. 541.
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keine Freiheit weder für noch gegen das Gesetz zu handeln, wenn es nicht allen unmöglich gemacht ist dagegen zu thun; nicht für, denn da wäre er das Opfer seiner gesetzlichen Gesinnung, nicht gegen, denn wüßte er, daß alle andern ihm später wie er ihnen thut, so wäre seine Handlung sinnlos [...].57
Der Staat beruht demnach auf der Fiktion, dass das Gesetz für sich als Grundlage des staatlichen Lebens ausreiche, während doch nur das ‚Gesetz für das Geschlecht‘, das Schelling auch als „Gesellschaft“ bezeichnet, ein Handeln gegen das Gesetz verhindert.58 Jene Fiktion zeigt sich am offenkundigsten daran, dass der Staat „das Verbrechen a priori als unmöglich annimmt“ und so eingerichtet ist, als würden alle Untertanen dem Gesetz gemäß leben und handeln.59 Deshalb erinnert Schelling an dieser Stelle an die persönlichen Tugenden. So kann z.B. die Dankbarkeit, das Wiedervergelten eines Gutes, das einem erwiesen wird, nicht durch das Gesetz erzwungen werden. Vielmehr würde der Versuch, den Erweis der Dankbarkeit zu erzwingen, diese selbst unmittelbar zerstören. Es könnte ebenfalls auf die ‚Pflichten‘ verwiesen werden, wie sie sich aus der Freundschaft oder aus anderen Vertrauensbeziehungen ergeben, die nicht in geschriebene, positive Gesetze überführt werden können, ohne dass die besagten Tugenden dadurch zerstört würden. Dieser Bereich der persönlichen Tugenden ist vielleicht auch der Bereich des Bösen, da es sich um solche Vergehen handelt, die aus dritter Warte sozusagen unsichtbar und nur solchen, die in der Beziehung stehen, überhaupt wahrnehmbar sind, deshalb aber auch nicht durch das Gesetz sanktioniert werden können. Jene Fiktion kann nur solange aufrechterhalten werden und der Staat dementsprechend funktionieren, als jene Gesetze verinnerlicht und zur Gesinnung geworden sind. Die Gesinnung, durch welche man über den Staat hinaus ist, gehört zur Möglichkeitsbedingung des Staates, ohne welche dieser gar nicht erst möglich wäre. Dies gilt jedoch auch umgekehrt: Die Gesinnung, durch welche man über den Staat hinaus zu sein glaubt, zeigt nur an, wie die Anforderungen des Staates sich in den Willen einschreiben. Jene ungeschriebenen Gesetze könnten sich nicht ausbilden, wenn sie nicht die staatliche Gewalt im Rücken hätten. Dies zeigt nur den widersprüchlichen Charakter des Staates an, der eine Einheit erfordert, die er selbst jedoch nicht aus eigener Kraft hervorzubringen vermag, von welcher er jedoch durchgängig zehren muss. Man kann dies auf die Formel bringen: Kein Staat ohne Gesellschaft, aber ebenso wenig eine Gesellschaft ohne Staat. Dadurch ist im Staat ein Gegensatz angelegt, der sich in seinen Auswirkungen in den wirklich existierenden Staaten nachweisen lässt. Wenn nun das Streben ‚über den Staat hinaus‘, wenn es auch als notwendig anzuerkennen ist, sich in den genannten Fällen nicht nur als irregeleitet erweist, sondern es notwendigerweise in der Realisierung scheitern muss, so fragt sich, ob 57 Ebd., S. 535. 58 Ebd., S. 541f. 59 Ebd., S. 536.
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dieses Streben überhaupt auf irgendeine Weise an sein Ziel zu gelangen vermag oder ob nicht vielmehr das Individuum sich zwangsläufig durch solche Blendungen in die Irre führen lässt. Da das Streben über den Staat hinaus nun bei Schelling vor allem durch eine Rücksicht auf das Individuum geleitet scheint, dürfte die Erwartung entstehen, nicht das politische, sondern vielmehr das moralische Leben erlaube einen wirklichen Überstieg des Lebens im Staat. Der Nachweis der Grenzen der Politik schiene dann auf die weitere These vorzubereiten, dass nur die Moral den Menschen ganz zu erfassen vermag. Erst indem das Sittengesetz ins Auge gefasst wird, erreicht Schelling jene Schicht, wo die Kritik des Gesetzes einen eigentlich grundsätzlichen Charakter erhält. Nachdem Schelling die Grenzen des politischen Lebens aufgewiesen hat, bemerkt er, dass das Individuum durch das Sittengesetz erst recht in die Verzweiflung geführt wird, während es sich mit dem Staat wenigstens noch abzufinden vermochte.60 Das Gesetz, insofern es durch den Staat repräsentiert wird, mag noch als ein dem Willen äußeres Gesetz empfunden werden, weshalb die Meinung entstehen kann, man vermag sich mit dem Staat ‚abzufinden‘. Obwohl nun das Sittengesetz dem Willen im Gewissen „gleichsam eingewebt und eingestochen“ ist und dadurch das Innerste des Willens auszumachen scheint, so bleibt das Gesetz ihm nichtsdestoweniger insofern äußerlich, als es sich ihm nur „als ein nicht gewolltes“ und, so muss man hinzufügen, nicht-zu-wollendes, „auferlegt“.61 Die Unverträglichkeit von Willen und Gesetz wurzelt in der Form des letzteren, indem das Gesetz den Willen nicht anders denn als ein Allgemeines anzusprechen vermag und ihn in seiner Singularität negiert. Der Ort, an welchem Wille und Gesetz aufeinandertreffen, ist das Gewissen. Wenn das Gesetz sich in diesem auch innerlich bemerkbar und empfindlich macht, kann es als etwas Unpersönliches und Allgemeines jedoch nicht mit dem Willen, der nur sich selbst will, in Harmonie gebracht werden. Das Gewissen ist somit als ein Äußeres (das Gesetz) im Inneren (im Willen) zu denken, ein Verhältnis, das noch am besten durch den Ausdruck der Extimität zu bezeichnen ist. Der Stachel des Gesetzes findet sich somit seit jeher im Gewissen und ist mit ihm gleichursprünglich. Die allgemeine Forderung ist also im Willen selbst wirksam, ohne dass dieser ihr zu genügen auch nur wollen kann. Der Wille muss also über das Gesetz hinauswollen. Man kann denn auch sagen, dass nach Schelling das Gewissen eo ipso schlechtes Gewissen ist. Kant wird auch deshalb von Schelling in diesem Punkt kritisiert, weil er dadurch über das Gesetz hinaus zu gelangen sucht, dass er eine Harmonie zwischen Gesetz und 60 Vgl. ebd., S. 553, S. 560. „Der Staat ist etwas, mit dem man sich abfindet, wogegen man sich ganz passiv verhalten kann, nicht ebenso das Sittengesetz“ (Ebd., S. 553). Der Staat kann nur zur äußeren Gerechtigkeit führen, d.h. zur „Beobachtung des Gesetzes“, nicht aber zur inneren Gerechtigkeit, zur gerechten Gesinnung. In der Darstellung der reinrationalen Philosophie (kurz: DRP) wird deshalb nicht mehr nur der Staat, wie noch 1810 (vgl. AA II,8, S. 146), sondern das Gesetz überhaupt, inkl. dem Sittengesetz, als „Fluch“ bestimmt (SW XI, S. 556). 61 Ebd., S. 534, S. 554.
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Willen hervorbringen möchte:62 Die Einsicht in den vernünftigen Charakter des Gesetzes würde eine Zustimmung zu demselben vermitteln. Dadurch versucht Kant die dem Gesetz eigentümliche Härte zu verschleiern, worin ihm, so Schelling, die Mehrzahl der zeitgenössischen politischen Theoretiker gefolgt ist.63 Von hieraus fällt ein Licht zurück auf eine Besonderheit der schellingschen Deduktion des Staates, nämlich dass der Deduktion des Gesetzes der Ungleichheit als Grundlage des Staates eine Deduktion des Sittengesetzes als Grundlage der (moralischen) Gesinnung parallel läuft. Wenn im Falle des Staates noch die Aussicht bestehen könnte, das Gesetz als dem Willen äußerlich anzusehen und sich dadurch mit dem Staat noch ‚abzufinden‘, ist das Sittengesetz im Innersten des Willens selbst eingeschrieben, so, dass eine jegliche Abfindung mit demselben von vornherein ausgeschlossen ist.64 Die ursprüngliche mit dem Gesetz verbundene Empfindung ist deshalb eine solche der Unlust und des Widerwillens und d.h. eines Strebens „sich vom Gesetz zu befreien“.65 Es kann denn auch kaum verwundern, dass Schelling erst an dieser Stelle der Analyse den vorher mehrfach verwendeten Begriff der „Unlust“ und des „Widerwillens“ gegen das Gesetz als ein Luther-Zitat kenntlich macht.66 Wenn es zunächst auch scheinen mag, als ob Schelling auf Luther lediglich als einen Beleg für seine These verweist, dass die „erste und natürliche Empfindung“ des Ich „Unlust und Widerwillen gegen das Gesetz“ ist,67 dürfte er wohl eher Luther gerade hier erwähnen, weil dieser von genau derselben Beobachtung seinen Ausgangspunkt nimmt, nämlich von besagtem Widerwillen, aufgrund derselben jedoch zu geradezu entgegengesetzten Folgerungen gelangt. In der Tat wirft Schelling Kant gerade vor, diese ursprüngliche Empfindung nicht beachtet zu haben, sondern stattdessen eine Art Ausgleich zwischen Ich und Gesetz gesucht zu haben.68 Der Nachweis der Aporien, die sowohl im Staat als auch im Sittengesetz enthalten sind, oder die Destruktion des Begriffs des Gesetzes dient Schelling somit dazu, auf die radikale Alternative hinzuweisen. Die Mängel des Gesetzes scheinen nämlich nur durch den Gott der Offenbarung überwunden werden zu können. Erst durch die Einsicht in die Unzulänglichkeit oder den bloß negativen Charakter der reinrationalen Philosophie und damit in die Notwendigkeit einer positiven Philosophie vermag die Philosophie 62 63 64 65 66
Vgl. ebd., S. 555. Vgl. ebd., S. 550, S. 555. Vgl. ebd., S. 553, S. 560. Ebd., S. 534. Vgl. ebd., S. 534, S. 554f. Schelling verweist auf Luthers Vorrede zum Römerbrief. Dort ist wiederholt von der „Unlust“ und dem „Unwillen“ die Rede, die das Gesetz hervorruft (vgl. Luther 1974, S. 2254-2256). 67 SW XI, S. 554. 68 „Kant sieht die Unvollkommenheit des Gesetzes nicht ein und beraubt sich dadurch des wahren Wegs dahinzukommen, wohin er will. Es verläßt ihn hier sein kritischer Sinn“ (Ebd., S. 555).
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überhaupt auf die Herausforderung der Offenbarungsreligion zu antworten. Das Individuum strebt somit nicht nur über den Staat, es strebt vielmehr über das Gesetz hinaus. Das Streben über den Staat hinaus hat seine eigentliche Wurzel in dem Streben, sich von dem Gesetz selbst zu befreien, ein Streben, das irregeleitet bleiben muss, solange es sich nicht seiner besonderen Natur nach erkennt. Der Staat selbst kommt erst dadurch in sein Wesen, dass er sich zur bloßen Grundlage herabsetzt, damit das Individuum über das Gesetz selbst hinausgelangen könne. Erst an dieser Stelle werden mit der „mystischen Frömmigkeit“, der Kunst und der kontemplativen Wissenschaft drei Versuche angegeben, die es dem Individuum ermöglichten, auch tatsächlich über das Gesetz hinaus zu gelangen.69 Diese weisen eine deutliche Stufung auf: Während das Individuum in der Frömmigkeit sich selbst zu vergessen vermag, wird es in der künstlerischen Tätigkeit „dem Göttlichen ähnlich“, um schließlich in der kontemplativen Wissenschaft „das um seiner selbst willen Seyende“, „das Intelligible“ oder das Göttliche auch wirklich zu ‚berühren‘.70 Erst in der kontemplativen Wissenschaft, die man in ihrer höchsten Gestalt der reinrationalen Philosophie gleichsetzen darf, erlangt das Individuum die Freiheit vom Gesetz.71 Das Gesetz und dessen Härte werden jedoch nur deshalb nicht mehr gespürt, weil man ganz über das Interesse am eigenen Selbst hinaus ist. Da die unaufhebbare Spannung zwischen Individuum und Gesetz ihren Grund in der Unvereinbarkeit der Selbstbezüglichkeit des Willens mit dem allgemeinen Charakter des Gesetzes hatte, so lässt die Aporie sich nur durch eine Hingabe des Individuums an etwas, das größer ist als es selbst und in welchem es sein Eigeninteresse zu vergessen vermag, überwinden. Die Befreiung der Kontemplation erweist sich damit als eine Form der Selbstvergessenheit, wenn nicht sogar der Verblendung über die eigene Grundlage. Schellings Lehre vom Gesetz macht sichtbar, wie die Unlust und der Widerwille gegen das Gesetz auch noch der Frömmigkeit, der Kunst und insbesondere der kontemplativen Wissenschaft zugrunde liegen, wie jener Widerwille sich in ihnen auch dann noch fortsetzt, wenn er vergessen wird. Indem dieser Widerwille bzw. die Angewiesenheit auf das politische Leben in der Kontemplation vergessen wird, eine Selbstvergessenheit, die wohl zum Gefühl des Glücks beitragen mag, durch welches sie begleitet wird, muss sie als eine Art der Verblendung angesehen werden. Es wird somit für den Philosophen gerade in dem Augenblick unumgänglich, sich auf die Politik einzulassen, als er verstehen möchte, wie das Ich zur wirklichen Wissenschaft fähig wird. Dazu bedarf es nämlich, wie Schelling bemerkt, eines
69 Ebd., S. 557f. Übrigens finden wir an dieser Stelle die drei Potenzen der ideellen Reihe (Wissen, Religion, Kunst) wieder, als deren Träger Schelling in den Würzburger Vorlesungen den Staat bestimmt hatte (s.u.). 70 Ebd., S. 557f. 71 Ebd., S. 558.
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„praktischen Antriebs“.72 Die Frage, woher dieser Antrieb herstamme, führt zur Politik, wenn auch solcherart, dass die Einsicht in die Grenzen der Politik, die auch das moralische Leben nicht zu überschreiten vermag, indem die Verzweiflung in ihm nur ihre schärfste Zuspitzung erfährt, das Positiv-werden der Philosophie unausweichlich macht. Wenn Schelling denn auch bemerkt, dass der Staat erst in sein Wesen findet, indem er sich zur bloßen „Unterlage“ des geistigen Lebens herabsetzt und zur Pflege der Frömmigkeit, der Kunst und der kontemplativen Wissenschaft „einzelne autonome Kreise“ bildet, „innerhalb welcher sich der Einzelne frei wußte vom Staat“, so kann dies doch insofern nicht genügen, als diese Freiheit gerade im Vergessen der eigenen politischen Grundlage gefunden wird.73 Jene Kreise sind über das Gesetz nur insofern hinaus, als sie es vergessen dürfen, ohne sich als ihm wirklich gewachsen zu erweisen. Auch und insbesondere die kontemplative Wissenschaft ist durch eine gewisse Selbsttäuschung gekennzeichnet, indem sie sich an ihrem Gegenstand verliert und in der Betrachtung desselben sich selbst vergisst. Erst durch diesen praktischen Anstoß wird man sich eines Defizits der ganzen bisherigen Entwicklung (der reinrationalen Philosophie) bzw. der ihr zugrundeliegenden (kontemplativen) Einstellung bewusst. Es ist erst das praktische Bedürfnis, dem man in der Betrachtung entschlagen ist, ohne dass es dadurch auch wirklich befriedigt wäre, das die Kontemplation wieder aus dieser Selbsttäuschung zurückruft, sie aufweckt, und ihr die Aufgabe zuteilt, sich in der Konfrontation mit der Wirklichkeit zu bewähren.74 Erst durch die Unausweichlichkeit des Handelns kommt der negative Charakter der reinrationalen Philosophie überhaupt erst zum Bewusstsein.75 Erst hier weiß die Philosophie sich in die Pflicht genommen, sich zur Grundlage einer (deshalb als philosophisch bezeichneten) Religion zu machen. Erst hier taucht die Frage auf, ob die Philosophie die Religion als etwas ihr Äußerliches zu betrachten habe oder ob vielmehr nur eine solche Wissenschaft als Philosophie anzuerkennen ist, die „in ihrem Princip schon Religion“ ist.76 Hieraus wird ersichtlich, weshalb die Lehre vom Gesetz eine notwendige Station auf dem Weg von der negativen zur positiven Philosophie ist: Der eigentliche Gegenstand der letzteren ist indes nicht
72 Ebd., S. 565, vgl. S. 569. 73 Ebd., S. 547, S. 550, S. 553, S. 557f. 74 „Bei diesem bloß ideellen Gott vermöchte das Ich sich etwa dann zu beruhigen, wenn es beim beschaulichen Leben bleiben könnte. Aber eben dieß ist unmöglich. Das Aufgeben des Handelns läßt sich nicht durchsetzen; es muß gehandelt werden. Sobald aber das thätige Leben wieder eintritt, die Wirklichkeit ihr Recht wieder geltend macht, reicht auch der ideelle (passive) Gott nicht mehr zu, und die vorige Verzweiflung kehrt zurück. Denn der Zwiespalt ist nicht aufgehoben“ (Ebd., S. 559f.). Der nicht bloß ideelle Gott ist der, der „dem Gesetz gleich, d.h. von ihm frei machen kann“ (Ebd., S. 567). 75 Vgl. Ebd., S. 561-564. 76 AA I,12,2, S. 468. Man beachte, dass die erste Vorlesung der reinrationalen Philosophie mit der Forderung einer philosophischen Religion anfängt (vgl. SW XI, S. 255-269, vgl. zudem S. 568f.). Dazu Buchheim 2015.
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der Staat oder das Gesetz, sondern Gott, so dass die Frage ‚was ist ein Gesetz?‘ zur grundsätzlicheren Frage ‚was ist ein Gott?‘ überleitet. Um hier wenigstens anzudeuten, auf welche Weise die positive Philosophie ihren ‚praktischen Antrieb‘ der Politik entnimmt, sei hier an die drei Klassen von Gefühlen erinnert, die Schelling am Anfang seiner Überlegungen erwähnt hatte, weil sie auf Probleme verweisen, die die Philosophie dazu nötigen, positiv zu werden, wenn sie sich ihnen gewachsen erweisen will. Sie sind zudem für die Selbsterkenntnis des Philosophen in seiner Besonderheit unmittelbar relevant. Das erhebende Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft hatte Schelling nämlich nicht nur durch das Beispiel des Kriegers oder des Feldherrn belegt, die sich für die Verteidigung des Gemeinwesens verdient machen, sondern ebenso durch das Beispiel derer, die die Wahrheit „unter Kämpfen, Mühen und selbst Schmerzen aller Art errungen“ haben.77 Die Darstellung der reinrationalen Philosophie führt genügend Beispiele von Philosophen vor Augen, die sich um eine reinrationale Philosophie bemüht haben, ohne dass ihnen jedoch, nach Schellings Einschätzung, die Durchführung dieses Vorhabens auf eine völlig befriedigende Weise gelungen wäre. Dies nötigt dazu, die Frage zu stellen, ob nicht auch Schelling selbst seine eigene Durchführung der reinrationalen Philosophie als vorläufig verstehen müsste oder dass er wenigstens mit der Möglichkeit rechnen müsste, dass nicht einem Spätergekommenen auf der Basis seines Versuches ein weiterer Durchbruch gelänge. Die Philosophie ist an sich ein unabschließbares Unterfangen. Ferner bezieht der „Wunsch, daß alle Menschen auf gleicher Höhe stünden“, sich insbesondere darauf, dass nicht alle oder sogar nur die Wenigsten die höchste Möglichkeit der menschlichen Existenz, die Schelling im philosophischen Leben erblicken muss, überhaupt erreichen können.78 Auch wenn es dem Philosophen gelingt, die eigene Lebensweise als die an sich gute zu begründen, so geht dies doch mit der Einsicht einher, dass sie zwar an sich gut und dennoch nicht für alle gut ist. Schließlich macht das durch die rächende Gerechtigkeit erweckte Gefühl des Schreckens den Philosophen auf die Abhängigkeiten aufmerksam, in welcher auch er lebt, selbst wenn er auch „dem Göttlichen ähnlich“ sein mag.79 Der Mensch lebt notwendig in staatlichen Verhältnissen, die Abhängigkeiten beinhalten, die er, wenn er diese in der Wirklichkeit auch nicht zu beseitigen vermag, im Denken zu bewältigen streben muss. Die Auseinandersetzung mit der Politik liefert somit einen unersetzlichen Beitrag zur Selbsterkenntnis des Philosophen und zur Einsicht in die Besonderheit seiner Lebensweise.
77 SW XI, S. 529. 78 Ebd., S. 529. 79 Ebd., S. 557. Vgl. Schellings Hinweis auf Magna Moralia 1212 b 24-1213 a 26 (vgl. SW XI, S. 559).
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3. Die Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien Die grundsätzliche Kontinuität von Schellings politischer Lehre soll nun dadurch nachgewiesen werden, dass wir uns den um fast fünfzig Jahre älteren Würzburger Vorlesungen als einem exemplarischen Dokument seines frühen politischen Denkens zuwenden.80 Die in den Sämmtlichen Werken veröffentlichte Fassung, die den im Wintersemester 1804/05 gehaltenen Vorlesungen zugrunde gelegt wurde, gipfelt in einer äußerst knapp gehaltenen Lehre vom Staat, wonach dieser als das Potenzlose der ideellen Reihe, d.h. als die Objektivierung der Potenzen dieser Reihe in ihrer Einheit bestimmt wurde.81 Von dieser Bestimmung des Staates findet sich jedoch in einer von Johann Peter Pauls angefertigten Nachschrift, die die Vorlesungen vom Sommersemester 1804 wiedergibt, kaum eine Spur.82 Stattdessen kreist die dort entwickelte Lehre vom Staat fortwährend um die Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien, die in der SW-Fassung mit keiner Silbe Erwähnung fand. Beiden Fassungen gemeinsam ist indes die emphatische Anknüpfung an die platonische Politeia. Während Schelling in der Darstellung der reinrationalen Philosophie die Ungleichheit als Gesetz jeglicher Form von Gemeinschaft von Aristoteles aufgreift und seine eigene Überlegungen fast als eine bloße Wiedergabe aristotelischer Gedanken präsentiert, führt er denselben Gedanken in der Pauls-Nachschrift auf Platon zurück, so dass er abschließend bemerken kann, dass ein „großer Theil dieser Säze [...] in Plato’s göttlichem Werke [sc. in der Politeia] schon niedergelegt“ ist,83 während die SW-Fassung mit der emphatischen Gleichsetzung von „Philosophie – die nicht mehr Wissenschaft ist, sondern zum Leben wird“ mit dem, „was Plato das πολιτεύειν nennt, das Leben mit und in einer sittlichen Totalität“ schließt.84 Dem entspricht, dass sowohl in der SW-Fassung als auch in der Pauls-Nachschrift ausschließlich der vollkommene Staat konstruiert werden soll, in ihnen somit „kein Bild des Staats aus der wirklichen Erfahrung“ zu suchen ist, d.h. ein solcher, „der bloß formell ist, der, um eines äußeren Zwecks willen errichtet gedacht wird“.85 Wenden wir uns zunächst der Konstruktion des Staates in der Pauls-Nachschrift zu. Der Staat wird hier als ein Gebilde bestimmt, das die Harmonie von Freiheit und Notwendigkeit objektiv darstellt.86 Von einer bloßen Harmonie statt von einer wirklichen Identität ist deshalb die Rede, weil letztere nur mit einem Überwiegen von einem der beiden Faktoren, nämlich der Notwendigkeit, gesetzt wird. Danach 80 Zur Neuen Deduction des Naturrechts und weiteren Äußerungen zur Politik des frühen Schellings, vgl. Scheerlinck 2017, S. 340-362. 81 Vgl. AA II,7,1, S. 441f. 82 Die 9. und 10. Vorlesung, die die Lehre vom Staat entwickeln, wurden von mir in Scheerlinck 2016 ediert. Im Folgenden wird auf diese Edition unter der Sigle P darauf Bezug genommen. 83 P, S. 226. 84 AA II,7,1, S. 443; vgl. AA II,8, S. 148. 85 AA II,7,1, S. 442. 86 Vgl. P, S. 214.
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ist der Staat als eine solche Form von Gemeinschaft zu verstehen, in welcher alle insofern unter der Botmäßigkeit der Notwendigkeit stehen, als ihr Leben ganz im Dienste des Ganzen steht und sie nur dadurch auch frei sind. Das Gegenteil wäre eine solche Gemeinschaft, die nur im Hinblick auf private Zielsetzungen der sie ausmachenden Individuen organisiert ist.87 Aus dieser Bestimmung des Staates ist jedoch sogleich zu ersehen, dass derselbe von sich aus auf eine Ergänzung durch eine innere Gemeinschaft verweist. Eine solche innere Gemeinschaft, in welcher alle zwar nur nach ihrer Gesinnung handeln, diese jedoch derart ist, dass dadurch dem Ganzen gedient wird, bezeichnet Schelling als ‚Kirche‘. Die Identität von Staat und Kirche besagt, dass das eine nicht ohne das andere sein kann, sondern dass eins in dem anderen enthalten ist, ohne dass beide gleichwohl einfach einerlei wären.88 Ein objektiver Organismus wie der Staat kann nur existieren, sofern er durch eine innere, auf Gesinnung gründende Gemeinschaft ergänzt wird, wie auch umgekehrt eine solche innere Gemeinschaft nicht existieren kann, ohne eine äußere als ihre Grundlage zu haben. Dies hindert jedoch nicht daran, die Idee des vollkommenen Staates in der Abstraktion von dieser inneren Gemeinschaft zu konstruieren. Dieser Konstruktion sind die 9. und 10. Vorlesung der Pauls-Nachschrift gewidmet. Die konstitutive Bedingung eines staatlichen Gebildes ist die Unterscheidung der Stände der Freien und Nicht-Freien oder der Herrschenden und Beherrschten und die scharfe Absonderung beider.89 Der Staat in der Idee beinhaltet somit eine Polarität. Der vollkommene Staat nun ist so zu konstruieren, dass die Polarität beider Stände die Erhaltung und Stabilität des Ganzen dient. Damit ist zugleich gesagt, dass ein Staat, der so eingerichtet ist, dass diese Pole nicht in Harmonie, sondern in Gegensatz sind, dadurch das Prinzip seines Untergangs in sich enthält. Es darf denn auch nicht verwundern, dass Schelling die sich aus der Idee des Staates zwangsläufig ergebende Idee der Ungleichheit mehrfach kritisch gegen die Gestalten wendet, die der Staat in der Neuzeit angenommen hat, bzw. gegen politische Theorien, die dem neuzeitlichen politischen Leben ihren Maßstab entnehmen.90 Auch die Konstruktion des vollkommenen Staates in der Würzburger Zeit dient somit einer kritischen Absicht. Wenn Schelling erklärt, dass die Gültigkeit dieser Konstruktion auch „im Gange der Geschichte [...] als nothwendig nachzuweisen“ ist, so besagt dies, dass sämtliche Mängel real existierender Staaten auf Verstöße gegen die in der Idee des vollkommenen Staates implizierten Gesetze zurückzuführen sind.91 Die Kritik des 87 Vgl. die Kritik der Verwechslung von Vernunft überhaupt und menschlicher Vernunft in der DRP (SW XI, S. 537f., S. 547f.). 88 Vgl. P, S. 215. 89 Vgl. ebd., S. 224. Für Stellen in den von Schelling selbst veröffentlichten Werken, wo diese Unterscheidung erwähnt wird, vgl. Scheerlinck 2017, S. 362-375. 90 Vgl. P, S. 216-218, S. 221f., S. 224. 91 Ebd., S. 226. Wie ein solcher Nachweis auszusehen hätte, hat Schelling erst sehr viel später in der DRP angedeutet (vgl. SW XI, S. 542-546). Er konnte dafür auch auf Aristoteles verweisen, der in dieser Hinsicht ein reiches Material zusammengebracht hat.
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modernen Staates bleibt indes gewissermaßen vordergründig. Sie ist nämlich nicht als die Befürwortung einer Umsetzung jenes vollkommenen Staates zu verstehen. Vielmehr bereitet sie insofern nur auf eine grundsätzlicher gerichtete Kritik vor, als aus der Konstruktion des vollkommenen Staates die Grenzen der Politik oder die Beschränktheit des politischen Lebens schlechthin hervorgehen sollen, indem der vollkommene Staat sich bei näherer Betrachtung als ein unmögliches Gebilde erweist. Bereits der Hinweis, dass dieser ohne eine Ergänzung durch die ‚Kirche‘ nicht existieren kann, mag darauf hindeuten. Um nun zu der Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien zurückzukehren, so ist zunächst zu fragen, worin die Freiheit der Freien denn bestehe. Der Stand der Herrschenden oder der Freien wird nämlich als ein „Stand von Individuen“ bestimmt, „die öffentlich, nicht sich selbst, sondern nur für das Ganze leben“, deren ganze Existenz ausschließlich durch den Dienst am Ganzen oder am Gemeinsamen Guten bestimmt und getragen ist.92 Schelling möchte Freiheit hier als „Lossagung von allem Concreten“ verstanden haben, insbesondere als einen Verzicht auf allen (reellen) Besitz.93 Die Freien sind danach die Besitzlosen.94 Dieser Verzicht auf reellen Besitz ist die konstitutive Bedingung des Standes der Freien. Mit ihm steht oder fällt die Konstruktion des vollkommenen Staates, die denn auch nur die Folgerungen aus dieser fundamentalen Bedingung zieht. Mit der Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien ist zunächst ein Prinzip der Arbeitsteilung eingeführt: Verzichtet der Stand der Freien auf allen Besitz, so ist er auf den Stand der Nicht-Freien angewiesen, der „zu seiner Erhaltung contribuiren soll“.95 Die Nicht-Freien tragen die Verantwortung für die Erhaltung der Freien, sie arbeiten, um dadurch einen Überschuss zu erzielen, die auf die Erhaltung der Freien zu verwenden ist. Im Gegenzug sind die Nicht-Freien von jeglicher Sorge, direkt an der Regierung des Staates teilzunehmen, befreit, und können sich ganz privaten Zwecken widmen. In dem Sinne kann man sagen, dass die Nicht-Freien ‚über den Staat hinaus‘ sind. Auch hier zeigt sich die Ambiguität der Formel, da ein solches, ganz privaten Zielen gewidmetes Leben selbst nur auf der Grundlage des Staates bzw. der Überantwortung der Verwaltung der Staatsgeschäfte an den Stand der Freien möglich ist. Nur aufgrund einer bestimmten Einrichtung des Staates vermögen die Nicht-Freien ihre Abhängigkeit von dieser Grundlage zu vergessen. Die von Schelling hier erwähnten privaten Ziele sind indes nicht ideeller Art, wie Kunst und Wissenschaft. Das Alleinrecht auf Besitz wird allerdings dadurch erkauft, dass die Nicht-Freien die Verteidigung ihres Besitzes den Freien überantworten. Wenn sie auch das Alleinrecht auf Besitz haben, so doch nicht das Recht oder auch nur das Vermögen, dieses selbst zu 92 93 94 95
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P, S. 219. Ebd., S. 217. Vgl. ebd., S. 216. Ebd., S. 218.
verteidigen.96 Der Genuss ihres Besitzes hängt somit ausschließlich am Wohlwollen der Verteidiger. Der Verzicht auf Besitz ist für die Freien indes nicht ohne Ersatz: Als Entschädigung ist ihnen das Alleinrecht auf ideellen Besitz gesichert, der in der Ehre besteht.97 Ehre lässt sich auf zweierlei Weise erwerben: entweder durch die weise Ausübung der Obergewalt oder aber durch die Tapferkeit, in jedem Fall dadurch, dass die Freien ihren bedingungslosen Einsatz für das Gemeinwesen unter Beweis stellen. Nun lässt Schelling eine gewisse Unklarheit darüber bestehen, wie weit jener Verzicht auf Besitz sich denn eigentlich erstrecken soll. Soviel scheint wenigstens klar, dass er auch den Verzicht auf das Eigentum der eigenen Kinder beinhaltet. Jedenfalls heißt es, dass die Erziehung der Freien Aufgabe des Gemeinwesens ist, den Eltern somit das Recht, ihre Kinder nach eigenem „Gutdünken“ zu erziehen, genommen werden muss.98 Vielmehr ist diese Aufgabe dem Stand der Freien als Ganzer überantwortet. Die Kinder wären danach höchstens Besitz des Standes der Freien, nicht aber der Freien als Individuen. Ob diese auch auf den Besitz von Frauen zu verzichten haben, darüber spricht Schelling sich nicht eindeutig aus, sondern bemerkt lediglich, dass Platon „in dieser Idee der Gemeinschaftlichkeit soweit [geht], daß er [...] die Gemeinschaft der Weiber eingeführt wissen will“, wobei er offen lässt, ob dies einer gewissen „Einseitigkeit“ Platons zuzuschreiben wäre oder ob diese Anforderung sich vielmehr zwangsläufig aus der Idee des vollkommensten Staates ergibt.99 Einen Hinweis dürfte die überraschende Frage geben, in welcher die Konstruktion mündet: „Kann und wie kann Einer aus dem Stande der nicht-Freyen in den der Freyen übergehn?“.100 Die Frage scheint nahezulegen, dass die Freien nicht nur keinen reellen Besitz vererben können, sondern dass ihnen ebenso wenig erlaubt werden darf, sich fortzupflanzen, um dadurch als einen abgeschlossenen Stand relativ dauerhaft existieren zu können. Die Frage scheint nämlich nicht sosehr zu suggerieren, dass gelegentlich einzelne Mitglieder aus dem Stand der Nicht-Freien in den der Freien hinübertreten können oder müssen, sondern dass der Bestand der Freien grundsätzlich immer aus dem Stand der Nicht-Freien geschöpft wird. Dies wurde indes erfordern, dass sich zu jeder Zeit ein hinreichendes Kontingent von Nicht-Freien findet, um den Bestand der Freien zu ergänzen. Dennoch heißt es zugleich, dass „keiner [der Nicht-Freien, R.S.] diesen Übergang so leicht versuchen“ wird, wohl deshalb, weil der Verzicht auf Besitz nur durch die Aussicht auf eine ungewisse Ehre und auf sehr gewisse ungemein große Anstrengungen entschädigt wird.101 Darüber hinaus dürfte es zweifelhaft sein, ob stets eine genügende Anzahl 96 97 98 99 100 101
Vgl. ebd., S. 224. Vgl. ebd., S. 220, S. 222, S. 225. Ebd., S. 220. Ebd., S. 222, vgl. S. 226f. Ebd., S. 226. Ebd.
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von Nicht-Freien oder ob überhaupt einer der Nicht-Freien zu finden ist, die oder der diesen Übergang versuchen wird, damit die Regierung des Staates gewährleistet ist. Der Verzicht auf Besitz ist deshalb unabdingbar, weil die Freien sich ihrer eigentlichen Aufgabe, die in der Gesetzgebung besteht, nur unter dieser Bedingung gewissenhaft entledigen können. Die Freiheit der Freien besteht nämlich nicht nur in dem Verzicht auf Besitz, sondern zudem in der „Befreyung vom Geseze“.102 Nur unter dieser Bedingung vermögen die Freien die Aufgabe des Gesetzgebers zu erfüllen, ohne dass zu befürchten wäre, dass sie Gesetze zwecks eigener Bereicherung erlassen würden.103 Höher als die von den Freien erlassenen Gesetze ist indes das Gesetz, das in der Idee des vollkommenen Staates impliziert ist, z.B. dass die Freien nichts besitzen dürfen. Es ist den Freien somit verboten, solche Gesetze zu erlassen, die ihnen Besitz erlauben würden. Von diesem Gesetz sind die Freien somit nicht frei.104 Das Gesetz, das den Freien den reellen Besitz verbietet, ist somit kein von Menschen gemachtes oder von menschlicher Willkür abhängiges Gesetz, sondern ist intelligibler Natur, so dass die Übertretung desselben sich unmittelbar dadurch rächt, dass sie Gegensätze und Spannungen aktiviert, die die Dauerhaftigkeit des Staates untergraben. Die Fragen, die sich bezüglich des Verhältnisses der Freien zu Frauen und Kinder erhoben, deuten bereits darauf hin, dass es nicht genug sei, dass diese auf Besitz verzichten, sondern dass es ihnen zudem verwehrt sein muss, als Individuen zu handeln. Vielmehr dürfen sie nur als Glieder ihres Standes agieren: In dieser Absicht muss ein Gemeingeist herangezüchtet werden, so dass die Freien sich selbst nur als Glieder, nicht als Individuen verstehen, und zwar als Glieder eines Standes, der nur im Dienste des Ganzen agiert. Auch hier lässt sich feststellen, dass diese Anforderung sich zum einen notwendigerweise aus der Idee eines vollkommenen Staates ergibt, zum anderen jedoch eine Unmöglichkeit impliziert. Der Verzicht auf reellen Besitz soll dadurch erkauft werden, dass den Freien die Aussicht eröffnet wird, sich Ehre zu erwerben. Damit diese Aussicht überhaupt etwas Verlockendes hat, müssen wir bei den Freien ein – im Vergleich zu den Nicht-Freien – höheres Maß an Eigenliebe voraussetzen, das ihnen nicht erlaubt, sich mit einem bloß privaten Leben zufrieden zu geben. Diese gesteigerte Eigenliebe muss nun ihrerseits wieder dadurch gezügelt werden, dass sie nur aus dem Gemeingeist heraus handeln. Die Absicht der Konstruktion des vollkommenen Staates besteht in erster Linie darin, die Gefahren aufscheinen zu lassen, denen real existierende Staatsgebilde 102 Ebd., S. 222. 103 Vgl. ebd., S. 223. 104 „Da nur derjenige die Geseze in Händen hat, der ihnen selbst unterworfen ist, so wird also dieser diese Geseze wieder nach seinem Vortheil modificiren, da er dabey sein Interesse hat, nur der kann die Geseze modificiren, der ihnen nicht unterworfen ist. Die Gesezgebung führt auf solche Weise wieder selbst auf einen Stand zurück, der selbst von Gesezen frey ist, und von dem reellen Besiz der Güter deswegen entfernt“ (Ebd., 223).
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ausgesetzt sind. So birgt die Ungleichheit von Freien und Nicht-Freien die doppelte Gefahr in sich, dass die Nicht-Freien die Freien beneiden oder dass letztere dazu versucht werden, die Nicht-Freien zu unterdrücken.105 Diese Gefahr lässt sich nur dadurch bannen, dass die Freien auf allen Besitz verzichten. Dies heißt jedoch im Umkehrschluss, dass jeder Staat, in welchem diese Maßnahme nicht in ihrer ganzen Strenge umgesetzt wird, jener doppelten Gefahr unvermeidlich ausgesetzt ist, wobei zu beachten ist, dass der Neid der Nicht-Freien und die Unterdrückung durch die Freien sich nur gegenseitig verstärken können, so dass kaum zu verhindern ist, dass sie irgendwann zum Ausbruch kommen. Der nicht-vollkommene Staat ist somit in einem Teufelskreis befangen, der aus der Ungleichheit von Herrschenden und Beherrschten entsteht, der in ihm nicht versöhnt werden kann und an welchem er letztlich zugrunde gehen muss. Ferner deutet Schelling auf die doppelte Gefahr eines Aufstandes der Nicht-Freien und einer Verschwörung der Freien gegeneinander hin.106 Gerade um diese sich aus der Ungleichheit ergebenden Gefahren vorzubeugen, sind die Vorkehrungen unumgänglich, die Schelling angibt. Insbesondere ist zu diesem Zwecke eine abhärtende Erziehung der Freien erforderlich, die nur die Absicht zu verfolgen scheint, ihnen jegliches Eigeninteresse auszutreiben. Aus dem Gesagten dürfte hinlänglich klar geworden sein, dass die Konstruktion des vollkommenen Staates die Grenzen der Politik dadurch hervortreten lässt, als er sich bei näherer Betrachtung als ein unmögliches Gebilde erweist. Dies gilt auch dann, wenn Schelling gelegentlich den Eindruck erwecken mag, ein solcher Staat wäre irgendwann, nämlich in der Antike, Wirklichkeit gewesen.107 Insbesondere wird klar, wie der Realisierung des vollkommenen Staates durch die Eigenliebe als Kern der menschlichen Natur vorgebaut wird.108 Der vollkommene Staat ließe
105 106 107 108
Vgl. ebd., S. 219. Vgl. ebd., S. 224. Vgl. ebd., S. 218, S. 221, beachte allerdings S. 215, S. 224f. Vgl. AA I,14, S. 300f. Sein Verständnis der Absicht der platonischen Politeia bringt Schelling in den Stuttgarter Privatvorlesungen von 1810 unmissverständlich zum Ausdruck, wohl am schärfsten in der Georgii-Nachschrift, wo es heißt: „Man beruft sich auf Platos Republic, und bemerckt nicht, daß sie von gewissen Seiten mehr Scherz als Ernst ist, indem Plato einen solchen Staat aufstellte, wollte er nicht sagen, gehet hin und machet einen solchen; sondern versucht, ob ihr einen solchen zu wege bringt? ihr werdet bald finden, daß es unmöglich ist“ (AA II,8, S. 149). Mit diesem Urteil stimmt Schelling, trotz etwaiger Differenzen, wenigstens in der Einschätzung der platonischen Politeia mit Leo Strauss überein, der dazu bemerkt: „By letting us see that the city constructed in accordance with this requirement [sc. to satisfy the highest need of man, R.S.] is not possible, he lets us see the essential limits, the nature, of the city“ (Strauss 1964, S. 138). Man kann demnach nicht sagen, dass der vollkommene Staat eine regulative Idee wäre, da es kaum je möglich ist, den real existierenden Staat jener Idee anzunähern. Deshalb heißt es in der Pauls-Nachschrift: „Diese [sc. die beiden Stände der Freien und Nicht-Freien, R.S.] zu sondern ist Ziel aller Staatsvervollkommnung, die durch allmähliche Reform eben so wenig, als durch eine Revolution erreicht wird“ (P, S. 225; m.H.). Es ist nicht leicht zu sehen, wie eine ‚Staatsvervollkommnung‘ überhaupt herbeigeführt werden soll, wenn nicht durch Reform oder Revolution.
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sich nur unter der Bedingung einer gänzlichen Umänderung der menschlichen Natur durchführen. Das gravierendste Problem des vollkommenen Staates bekommt man indes erst zu Gesicht, sobald man beachtet, dass dessen Konstruktion zunächst den Eindruck erweckt, als erhielten die Philosophen in ihm einen festen und gesicherten Ort. Der vollkommene Staat scheint nur insofern überhaupt denkbar, als die Philosophen die doppelte Aufgabe der Regierenden und der Gesetzgeber übernehmen.109 So wird der ideelle Pol der ideellen Seite des Standes der Freien durch die Philosophen besetzt.110 Schaut man jedoch genauer hin, dann zeigt sich, dass von den drei „Ordnungen der Ideenwelt“, deren Abbild der Staat sein soll, die höchste, durch Gott besetzte Ordnung in der ganzen Konstruktion des Staates an keiner Stelle Berücksichtigung findet und demnach unausgefüllt bleibt.111 Stattdessen werden in der Konstruktion des Organismus des Staates ausschließlich die Ordnungen der Ideen und der konkreten Dinge berücksichtigt, denen die Freien resp. die Nicht-Freien entsprechen. Daraus geht hervor, dass, anders als nahegelegt, die Philosophen selbst im vollkommenen Staat keinen wirklichen Ort haben. Auch wenn es im letzten Satz der SW-Fassung der Vorlesungen heißt, dass Philosophie, die „zum Leben wird“ dem, „was Plato das πολιτεύειν nennt, das Leben mit und in einer sittlichen Totalität“ gleich ist, dann wird dadurch der wahre Sinn der Philosophie eher verschleiert, als dass er hervorträte.112 Hier wird nämlich die Frage unausweichlich, ob ein solches Leben im Dienste des Ganzen sich mit einem Leben im Dienste der Wahrheit so leicht vereinigen ließe, wie Schelling es seinen Hörern an dieser besonders hervorgehobenen Stelle glauben machen möchte.113 Hat man sich die kritische Absicht der Konstruktion des Staates in der PaulsNachschrift einmal klar gemacht, dann zeigt sich, dass die – wenn auch anders gewichtete – Lehre vom Staat in der SW-Fassung letztlich keine andere Absicht verfolgt. In dieser Fassung wird der vollkommene Staat oder der Staat „wie er in der Vernunftidee ist“ als das Potenzlose oder als Träger von Wissen, Religion und Kunst bestimmt.114 Der Staat ist insofern notwendig, als auch dieses Potenzlose als solches noch erscheinen muss, als dasjenige, was sich in den Potenzen ausdrückt, 109 Im vollkommenen Staat scheint fast keine Unterscheidung zwischen Judikative, Exekutive und Legislative zu bestehen. Alle drei Gewalten scheinen dem Stand der Freien übertragen werden zu müssen (vgl. ebd. S. 223). 110 Vgl. ebd., S. 226. 111 Ebd., S. 216, vgl. AA I,14, S. 321. Vgl. Scheerlinck 2017, S. 362-364. 112 AA II,7,1, S. 443. 113 Der problematische Status der Philosophen im vollkommenen Staat tritt noch deutlicher hervor, sobald man die Bemerkung der DRP beachtet, wonach „die erste vom Staat zu erfüllende Forderung“ darin besteht, „daß den Besten Muße gegönnt sey“ (SW XI, S. 549). Die „Besten“ sind danach nicht nur, wie auch die Freien, von jeglicher Tätigkeit, die im Erwerb von Besitz ihr telos hat, sondern, im Unterschied zu den Freien, ebenso von der Verwaltung der Staatsgeschäfte freizustellen. 114 AA II,7,1, S. 442.
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als solches von diesen dennoch unterschieden oder abgehoben bleibt. Dabei sind die Potenzen insofern ‚über den Staat hinaus‘, als der Staat nur Grundlage der Wissenschaft, der Religion und der Kunst ist.115 Der Staat für sich genommen, ohne jene Ergänzung, wäre somit „ein bloßes Zwangsinstitut“, das die Bürger oder vielmehr die Untertanen als bloße Naturwesen behandelt.116 Wie erwähnt bedarf der in der Pauls-Nachschrift konstruierte Staat der Kirche oder einer ideellen Einheit als seiner Ergänzung. Die Möglichkeit eines Gegensatzes von ‚Kirche‘ und Staat wird dort jedoch ebenfalls angedeutet.117 Das Gegenstück der Kirche in diesem Sinne bildet in der SW-Fassung das Ganze der drei Potenzen des Wissens, der Religion und der Kunst, da diese ebenfalls auf eine innere Gemeinschaft zu zielen scheinen. Insofern kann es dann nicht mehr verwundern, dass dort der Staat als die Objektivierung oder als Träger der Potenzen bezeichnet wird. Es gilt jedoch zu beachten, dass auch in der SW-Fassung die Philosophie ausdrücklich von den drei Potenzen der Wissenschaft, der Religion und der Kunst unterschieden wird. Vielmehr ist sie selbst die Einheit jener Potenzen, wenn auch nur im subjektiven Sinne.118 Wie gesagt, steht die Konstruktion des vollkommenen Staates nicht im Dienst der Praxis, es soll durch sie kein politisches Programm aufgestellt werden, um dessen praktische Umsetzung der Philosoph sich nach Verbündeten umzusehen hätte, die es sich zur Aufgabe machten, diesen Entwurf umzusetzen, sondern vielmehr lässt sie die Grenzen der Politik sichtbar werden. Ihren Grund haben diese Grenzen in der menschlichen Natur, die eine an die Wurzel gehende Umgestaltung verlangte, wenn jener vollkommene Staat umgesetzt werden sollte.119 Insofern dient sie der Disziplin der Leser bzw. Zuhörer, die durch sie von jeglicher Form überschwänglicher politischer Hoffnung endgültig kuriert werden sollen, wie sie, nach Schellings Einschätzung, besonders für die modernen Staatstheorien kennzeichnend ist. Schelling meint auf die – typisch moderne – Strategie der politischen Verteidigung der Philosophie verzichten zu können, wonach dem Staat aus der Allianz mit der Philosophie Vorteile erwachsen würden. Stattdessen rekurriert er auf das gewachsene Vorurteil, dass nur aus dem freien Gedeihen der Wissenschaft selbst dem Staat Vorteile werden. An dieses Vorurteil appelliert er gleich in der ersten Vorlesung der Historisch-kritischen Einleitung zur Philosophie der Mythologie, wo es heißt, dass der Staat keine Gegenstände, worüber die Wissenschaft zu lehren hätte, festlegt, sondern die Freiheit der Wissenschaft und den Fortschritt derselben ausdrücklich
115 Diese These kehrt in der DRP wieder, wo Schelling als Fazit formuliert, dass „der Staat nur Unterlage, Hypothesis, Durchgangspunkt“ ist und nur die Frömmigkeit, die Kunst und die kontemplative Wissenschaft über den Staat hinausgehen (vgl. SW XI, S. 553, S. 557f.). 116 AA II,7,1, S. 442, vgl. AA I,3, S. 167-174. 117 Vgl. P, S. 215. 118 Vgl. AA II,7,1, S. 442f. 119 Dieser Grundzug der menschlichen Natur, an welchem eine versuchte praktische Umsetzung scheitert, ist auf den ‚Abfall‘ zurückzuführen.
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anerkennt. Er appelliert somit an die zu seiner Zeit gesicherte, im Prinzip jedoch jederzeit aufhebbare „löbliche Freiheit unserer Hochschulen“ oder an die staatlich anerkannte akademische Freiheit, „welche die Lehrer nicht auf den Kreis gewisser einmal anerkannter und unter alten Titeln hergebrachter Hauptfächer beschränkt, die ihnen verstattet, ihre Wissenschaft auch über neue Gebiete auszudehnen, Gegenstände, die ihr bis jetzt fremd geblieben, an sie heranzuziehen und in besondern frei gewählten Vorträgen zu behandeln“, dies im Unterschied zu den „Schulen“, „wo nur das Vorgeschriebene gelehrt und nur das gesetzlich Nothwendige gehört wird“.120 Die Vorträge zur Philosophie der Mythologie und der Offenbarung sind also insofern bereits ein politischer Akt, als Schelling dadurch ausdrücklich sich auf die akademische Freiheit beruft und sich derselben bedient, sie in Anspruch nimmt, sich also auf das Recht und die Freiheit beruft, die Philosophie auch auf Gegenstände wie Mythologie und Offenbarung auszudehnen, ein Recht und eine Freiheit, die ihr in anderen Umständen entzogen werden könnte. Der Rest der Einleitung ist dann der Aufgabe gewidmet, dieses Vorhaben auch rational zu rechtfertigen. Ein anderes Licht dürfte schließlich auf das Würzburger System als Ganzes fallen, sobald man beachtet, dass die ideelle Reihe, die in der umrissenen Lehre vom Staat gipfelt, noch ganz zur Naturphilosophie121 und somit keineswegs zum Gebiet der praktischen Philosophie gehört, dessen Betretung und Begehung nämlich die Einführung des Begriffs des Abfalls erfordert. Dieser Begriff findet nun in der Darstellung der ideellen Reihe nicht die Beachtung, die zu erwarten wäre, solange man Idealphilosophie und praktische Philosophie als gleichbedeutende Begriffe nimmt.122 In Philosophie und Religion, wo Schelling in der Tat zum „Gebiet [...] der praktischen Philosophie“ fortgehen möchte, kommt der Begriff hingegen massiv vor, während die Potenzen der ideellen Reihe gar nicht erst erwähnt werden.123 Selbst wenn Schelling sich zu dieser Zeit über das Potential dieses Begriffs, der ihm nicht viele Freunde eingetragen hat, noch nicht ganz im Klaren gewesen sein mag, so markiert er doch deutlich genug die „schneidende Gränze“ zwischen Vernunftwissenschaft und praktischer Philosophie.124 Allerdings hat Schelling jener natürlichen Ungleichheit in ihrer grundsätzlichsten Gestalt, nämlich als die Unterscheidung von Philosophen und Nicht-Philosophen, spätestens seit 1804 bereits durch die Form, wie er seine ‚Lehre‘ darstellte, durchgängig Rechnung getragen. So scheint durch die Form der Darstellung hindurch der grundlegendste Sinn von Politischer Philosophie als einer Politik der Freundschaft.
120 121 122 123 124
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SW XI, S. 3. Vgl. AA II,7,1, S. 380. Vgl. ebd., S. 415f., S. 424, S. 434f. AA I,14, S. 289. Ebd., S. 301.
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Christoph Binkelmann Reden an die metaphysische Nation. Schellings politische Philosophie um 1807
Es ist nur schwer von der Hand zu weisen, dass Schellings politisches Interesse zeit seines Lebens eher gering war. Dies zeigt sich sowohl in seinem politischen Engagement, das meistens eher dem Bemühen um eine akademische Position diente, als auch in seinem Beitrag zur politischen Philosophie. Diesen Eindruck zumindest abzuschwächen, mag Aufgabe dieses Bandes und des nun folgenden Beitrags sein. Dazu wendet letzterer sich einer Epoche im Leben Schellings zu, die wie keine andere das politische Interesse des Philosophen weckte und steigerte, bis es schließlich wieder abnahm – so die zu belegende These. In jener Epoche bestanden zahlreiche biographische Verstrickungen, die Schelling mit der Politik konfrontierten: Die beruflich-institutionelle, wissenschaftliche und weltpolitische Situation, in welcher sich Schelling in den Jahren 1803 bis 1807 befand, trieb ihn förmlich zu einer Politisierung seiner Philosophie, die in zahlreichen philosophischen Ansätzen, v.a. in Form von Vorlesungen, zum Ausdruck kam. In einer Fragment gebliebenen und erst von seinem Sohn veröffentlichten Schrift mit dem Titel Über das Wesen deutscher Wissenschaft, deren Hauptteil wohl aus dem Jahre 1807 stammt, kulminierten schließlich die politischen Bestrebungen Schellings – unvollkommen und unabgeschlossen wie vieles in seiner Philosophie.
1. Biographische Verstrickungen Fünf Faktoren können die Politisierung von Schellings Philosophie in der genannten Epoche verdeutlichen: Die politische Situation Bayerns, die Kritik an Schellings Identitätsphilosophie, seine Auseinandersetzung mit dem Historiker Johannes von Müller, der Wandel Deutschlands unter Napoleon und den Franzosen sowie die Bestrebungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. (i) Dass Schelling im Jahre 1803 an die Universität in Würzburg berufen wurde, verdankte er vor allem den politischen Entwicklungen: Im selben Jahre war das ehemalige Hochstift Würzburg dem Kurfürstentum Bayern unterstellt worden, wodurch nicht zuletzt die dortige Universität eine Reform erfuhr. Anstelle der katholisch dominierten Ausrichtung öffnete die Universität fortan die Tore für Professoren aus dem protestantischen Norden, darunter Schelling. Ziel war es, die Dominanz
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von Universitäten wie Jena, Göttingen und Halle zu mindern und die süddeutsche Universität konkurrenzfähig zu machen – freilich geschah dies unter ständigem Protest katholischer Gelehrter und Funktionäre. Für Schelling bedeutete dies, dass seine „neue“ Philosophie, die Identitätsphilosophie, immer mehr politisch und religiös motivierten Anfeindungen ausgesetzt war. Auch wenn er bereits in Jena zahlreiche Kritiker hatte, so hatte die Gegnerschaft dort eher natur- und kunstphilosophische Gründe, nun wurde seine Philosophie und er selbst mehr zum Politikum. Nicht zuletzt dadurch dürfte er auf den Gedanken gekommen sein, dass Fragen über Staat und Religion in das Zentrum der Weltgeschichte und damit auch der Philosophie rücken, wie er in einem Brief an Karl Joseph Hieronymus Windischmann im Jahre 1806 schrieb: In meiner Abgeschiedenheit zu Jena wurde ich weniger an das Leben und nur stets lebhaft an die Natur erinnert, auf die sich fast mein ganzes Sinnen einschränkte. Seitdem habe ich einsehen lernen, daß die Religion, der öffentliche Glaube, das Leben im Staat der Punct sind, um welchen sich Alles bewegt und an den der Hebel angesetzt werden muß, der diese todte Menschenmasse erschüttern soll.1
Neben der welt- bzw. menschheitsgeschichtlichen Bedeutung einer philosophischen Auseinandersetzung mit Staat und Religion stand für Schelling zugleich die Profilierung seiner eigenen Philosophie im Mittelpunkt, die sich immer mehr dem Druck ausgesetzt fühlte, im politischen und religiösen Sinne Position beziehen zu müssen. Dabei verweigerte sich Schelling auch in der Folge einem einfachen und eindeutigen Bekenntnis zu einer Partei, sei es im religiösen oder politischen Kontext. (ii) Seine Identitätsphilosophie geriet immer mehr unter den Verdacht, die praktischen Aspekte menschlichen Lebens zu vernachlässigen und sich ausschließlich der theoretischen Spekulation über Natur und Kunst zu verschreiben. So behauptete Carl August Eschenmayer: Schelling hat den intelligiblen Pol oder die Gemeinschaft vernünftiger Wesen, welche einen nothwendigen Bestandteil unseres Vernunftsystems ausmacht, in keiner seiner Schriften deutlich und ausführlich berührt, und dadurch die Tugend als eine der Grundideen aus der Vernunft ausgeschlossen. […] Nicht blos Wahrheit und Schönheit sind die Ideen der Vernunft, wie sie Schelling allein zu würdigen scheint, sondern auch die Tugend.2
Weiter ging noch der militante Katholik und Schelling-Gegner Jakob Salat, indem er der Identitätsphilosophie vorwarf, den Menschen zu einem notwendigen Naturprodukt zu erklären und damit Freiheit, Sittlichkeit und Tugend zu vernichten.3
1 Fuhrmans 1975, S. 294. 2 Eschenmayer 1803, S. 89f. 3 Salat 1808, S. 112.
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Dem Vorwurf, sich zu sehr auf Natur- und Kunstphilosophie zu kaprizieren, versuchte Schelling in der Folge zu entkräften, indem er sich zunehmend dem ideellen Teil seiner Philosophie widmete: Während der reelle Teil eine theoretisch ausgerichtete Auseinandersetzung mit den Entwicklungsprozessen der Natur darstellt, versteht sich der ideelle Teil vor allem als praktische Philosophie, in deren Mittelpunkt die menschliche Freiheit steht. Hinter dem Vorwurf, dass die Identitätsphilosophie am Menschen vorbeiredet, stand aber oft nicht nur der Hinweis auf die Vernachlässigung des Themas „Mensch“, vielmehr auch eine Kritik an ihrer streng geometrischen, abstrakten Darstellungsweise. Daher unternahm Schelling immer häufiger den Versuch, „menschlich zu reden“, d.h. die Ergebnisse seiner Philosophie auf eine allgemeinverständliche, nicht nur die reinrationalen Kompetenzen des Lesers oder Hörers ansprechende Weise mitzuteilen. Er drang auf eine gewisse Popularisierung seiner Philosophie. So schrieb er in einem Brief an Windischmann am 8. Oktober 1805: Die Zeit ist gekommen, wo unsere Sache eine größere Oeffentlichkeit annehmen muß; wo wir reden müssen, nicht zum Pöbel, sondern zum Volk, nicht populär, wie der, welcher dem Gemeinsinn schmeichelt, sondern durchdringend, ergreifend, faßlich wie der Reformator.4
Auch wenn Schelling den Ausdruck „populär“ vermeidet, dürfte er mit einer Rede zum Volk vielen zeitgenössischen Tendenzen einer Popularisierung der Philosophie zustimmen;5 die Leitfigur Luther war zu dieser Zeit dafür durchaus beliebt.6 (iii) Eine kurze, aber entscheidende Debatte trieb diese Tendenzen, einerseits mehr Fragen der praktischen Philosophie in den Fokus zu rücken, andererseits eine populärere Darstellungsweise zu wählen, voran. Am 16. August 1806 nutzte der Schweizer Historiker Johannes von Müller eine Rezension Windischmanns aus der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung, worin eine Schrift über Geschichtsphilosophie von Franz Joseph Molitor, einem Anhänger Friedrich Schlegels, behandelt wurde, zum Rundumschlag gegen die neue Philosophie. In eindeutiger Anspielung auf den Namen Schellings schrieb er: „Jetzt, wo das Geschelle [!] jährlich neugemachter Formeln die altväterischen Ideen von Freyheit, Muth, Selbständigkeit, Ehre, übertönt“, werde jegliche „Thatkraft für das Vaterland“ gelähmt. Statt sich der wirklichen (politischen) Geschehnisse zuzuwenden, lehre die neue Philosophie einen spekulativen Eskapismus
4 Fuhrmans 1975, S. 275. 5 Vgl. zu dem nach Kant praktizierten Gebrauch der Popularphilosophie Binkelmann/Schneidereit 2015. 6 Johann Gottlieb Fichte wird um 1807/08 in seinen Reden an die deutsche Nation den Volksredner Luther zum Vorbild seiner philosophischen Rede machen (vgl. GA I/10, S. 173f.; angegeben nach Fichte 1962-2012).
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wohlversehen mit einem furchtbaren Apparat von Productivität und Eductivität, Identität und Duplicität, Activität und Passivität, Sub- und Objectivität, Dualität und Triplicität, und Gott weiß wie vielen Polaritäten, lauter hohen Dingen, wovon die Helden der Tage von Marathon, von Sempach und von Roßbach nichts gewußt, worüber Scipio und Brutus, Wilhelm von Oranien, der große Kurfürst und Friedrich, so unwissend waren wie Polyb, Livius, Tacitus und ähnliche Stümper; damit schleudern sie die Historie weit aus den Augen der Menschen über das Empyreum hinaus.7
Empört und zutiefst verletzt über diese Anschuldigungen verfasste Schelling eine Erwiderung, die letztlich deshalb nicht veröffentlicht wurde, weil sich Schelling mit Müller versöhnte und die Schlacht bei Jena und Auerstedt ein kleinliches Gezanke unter Gelehrten verbot. In der erhaltenen Erwiderung bezeugte er: Wer auf Erden nicht mehr hat, wohin er seinen Fuß setzen und wohin er sein Haupt legen kann, wendet er nicht sehr natürlich seinen Blick zum Himmel? Wie bald auch würde die letzte Quelle der Kraft, die einzige Eigenthümlichkeit des Deutschen noch versiegen, wenn ihm das Nachforschen verleidet, wenn er abgelenkt würde von der Unermüdlichkeit im Trachten nach Erkenntniß! Ebenda, wo weder philosophische Formen noch historische Aussprüche hervorzurufen vermögen, was im innersten Wesen eines Volkes ausgetilgt worden, Religion, Heroismus, Glauben, kann was Philosophie zerstörte, aber wahrlich nicht unsre eigene, nur durch unsre eigenste Philosophie wieder erschaffen werden.8
Die Antwort sucht die Verteidigung im Angriff: Philosophie ist mitnichten eine weltferne Beschäftigung, vielmehr dasjenige, was das Weltgeschehen zumindest unterschwellig bestimmt und im Besonderen der deutschen Nation wieder aufhelfen kann. Der Untergang Deutschlands begann durch ausländische Philosophie, die Schelling in der Folge als die französische Spielart entlarvte, die seit Descartes, vor allem aber mit dem Materialismus von Paul Henry Thiry d’Holbach, Julian Offray de La Mettrie und Denis Diderot auch die deutsche Mentalität beeinflusst und entschieden geschwächt hatte. Nach und aufgrund dieser mentalen Schwächung des deutschen Volksgeistes konnte erst Napoleon die physische Schwächung, sprich: militärische Unterwerfung Deutschlands unternehmen. Um Deutschland aus dieser Gefangenschaft zu retten, galt es zuvörderst den Volksgeist aufzupeppeln, nämlich durch eine antifranzösische, deutsche Philosophie: die Identitätsphilosophie. Mehr noch: Der philosophische Reformator Schelling erkannte gar im metaphysischen Geschäft die „einzige Eigenthümlichkeit des Deutschen“ – das Volk der Dichter und Denker kann nur durch eine neue Metaphysik zu dem Volk werden, das es momentan nicht ist.
7 Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung. 16.8.1806. Sp. 319f. (abgedruckt in: AA II,7,2, S. 549; die Sigle AA, Reihe, Band, Seite verweist auf Schelling 1976ff.; die Sigle SW, Band, Seite verweist auf Schelling 1856-61). 8 AA II,7,2, S. 460.
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(iv) Eine nicht geringe Schuld daran trug selbstredend der französische Kaiser Napoleon. Dessen Eroberungszüge hatten zur Auflösung des Römischen Reiches deutscher Nation sowie zu ständigem Wandel auf der politischen Landkarte geführt, der Schelling schließlich dazu zwang, seine Professur in Würzburg aufzugeben und in München an der dortigen Akademie der Wissenschaften eine Stelle anzunehmen. Deutschland war geteilt, nicht mehr nur in Katholizismus und Protestantismus – die Rückkehr des ersteren in Würzburg war ein Hauptgrund für Schellings Wechsel in das nicht minder katholische, aber tolerantere München –, sondern auch in pro und contra Napoleon. Bayern selbst war geprägt durch Risse und Spaltungen als nicht ganz freiwillig Verbündeter Napoleons, das dadurch jedoch 1806 zum Königreich avancierte. Schellings Bild von Napoleon zeigte sich ebenso ambivalent und suchte nach einer Lösung, die wie schon hinsichtlich der Alternative von Katholizismus und Protestantismus weder auf der einen noch der anderen Seite anzusiedeln ist. Dazu zielte er weder auf eine Rückkehr zur vornapoleonischen (Reichs-)Einheit noch forderte er ein Bündnis mit dem „Zermalmer“.9 Vielmehr drängte er auf eine neue, erst zu schaffende Einheit Deutschlands durch „Wissenschaft, die allein noch das heilige Feuer gehütet, nachdem es im Leben und in der öffentlichen Denkweise erloschen.“10 (v) Zu dieser Einsicht mag nicht zuletzt beigetragen haben, dass Schelling 1806 zum Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ernannt wurde. Auch dort hegte man den Wunsch, dass „der Süden Deutschlands, zum Theil wenigstens, für die Wissenschaft wird, was der Norden so lange für sie war.“11 Neben der Bedeutung der 1807 neukonstituierten Akademie mag es Schelling dabei allgemein um die gesellschaftliche und politische Bedeutung der Wissenschaft gegangen sein. Die Wissenschaftsgemeinde sollte als erster Wegbereiter für die Erneuerung Deutschlands dienen; sie war ein genuin politisches Institut. Zu diesem Zweck stand er im regelmäßigen Austausch mit dem Präsidenten der Akademie, Friedrich Heinrich Jacobi, der seine Eröffnungsrede Über gelehrte Gesellschaften, ihren Geist und Zweck vor dem öffentlichen Vortrag an Schelling zur kritischen Auseinandersetzung schickte, woraufhin ihm Schelling Auszüge aus seiner Schrift Über das Wesen deutscher Wissenschaft überließ. Durch die Vermittlung eines Kollegen der philosophischen Klasse, Franz Baader, meinte Schelling mit seiner Identitätsphilosophie einen systematischen Grundpfeiler dieser Wissenschaft liefern zu können, der freilich die Kritik seiner Kollegen miteinbezog und einen Konsens der Meinungen erzielte. Deutsche Wissenschaft war für Schelling die Ausgestaltung der identitätsphilosophischen Grundlage. Um jedoch 9 Fuhrmans 1975, S. 384. 10 AA II,7,2, S. 461. 11 Fuhrmans 1975, S. 376.
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deren Überzeugungen „an den Mann“ zu bringen, bedurfte es einer populäreren Darstellungsweise, die Schelling zunächst in Form von Akademiereden zu realisieren trachtete: Seine berühmte Rede Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur, die er im Oktober 1807 an der Akademie hielt, eröffnete ein Vorhaben der Popularisierung seiner Philosophie, das auch für das Fragment Über das Wesen deutscher Wissenschaft und mit Abstrichen für die 1809 erschienenen Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit Gültigkeit besaß.12
2. Deutsche Wissenschaft: Zwischen Religion und Philosophie Dank eines erhaltenen Briefes Schellings an Jacobi weiß man, dass zumindest große Teile des Fragmentes Über das Wesen deutscher Wissenschaft aus der ersten Jahreshälfte 1807 stammen. Ob und wie weit er diesen Text bis zum Erscheinen seiner Zeitschrift von Deutschen für Deutsche 1813 überarbeitete, und – wie der Sohn vermutete – dieser Text im Umkreis der Zeitschrift, vielleicht sogar zur Veröffentlichung darin vorgesehen war, bleibt im Dunklen. Doch zahlreiche Motive und Textpassagen lassen sich auf die Zeitspanne 1806 bis 1807 zurückführen. Schellings Fragen nach dem Wesen deutscher Wissenschaft verdankte sich dabei nicht allein seiner neuen Position an der Akademie der Wissenschaften sowie einer Auseinandersetzung mit ähnlichen Versuchen Jacobis. Viele andere deutsche Autoren setzten sich zu dieser Zeit mit dem Thema auseinander und hoben den Stellenwert dieser Wissenschaft gerade im Hinblick auf ein nationales Bewusstsein hervor. Für Schelling von hoher Bedeutung waren dabei Windischmanns Von der Selbstvernichtung der Zeit und der Hoffnung zur Wiedergeburt (1807) und vor allem Adam Müllers Vorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur (1806). Zu Beginn seiner Untersuchungen kritisiert Schelling, dass bei aller Rede von deutscher Wissenschaft bislang der Begriff derselben von anderen Autoren nicht gebührend geklärt wurde. Insbesondere die Verbindung in diesem Begriff von „deutsch“ und „Wissenschaft“ erhält in den folgenden Ausführungen daher eine besondere Aufmerksamkeit. So ist vor allem nach dem Deutschen im Wissen zu fragen: Was ist das spezifisch Deutsche am deutschen Wissen? Gibt es eine spezifische Ausprägung der Wissenschaften in Deutschland, die auf einen nationalen Charakter oder Geist zurückzuführen ist? Ebenso ist zu untersuchen, ob es in diesem „Volksgeist“ eine besondere Veranlagung für die Wissenschaft gibt oder nicht. Zu fragen ist folglich nach dem Verhältnis von Wissenschaft und deutscher Nation.13 12 Auch darin wollte Schelling seine Philosophie dem Leser „menschlich näher bringen“ (AA I,17, S. 130); freilich wirkt diese Schrift wenig populär. 13 Es ist häufig unklar und erschwert die Lektüre dieses Textes, dass Schelling nicht immer deutlich werden lässt, ob er generell die politische Bedeutung der Wissenschaft im Auge hat, oder nur vom deutschen Sonderfall spricht.
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Schelling wehrt sich zunächst gegen die Auffassung, dass Wissenschaft etwas der Nation Akzidentelles sei, vielmehr sei sie „das wahre Innere, das Wesen, das Herz der Nation“.14 Die deutsche Nation erklärt Schelling durch und als einen Organismus, dessen zentrales Organ („Herz“) die Wissenschaft darstellt, und wie die Nation nicht ohne Wissenschaft kann die Wissenschaft nicht ohne Nation existieren. Dabei möchte er nicht nur behaupten, dass Wissenschaft einer staatlich-institutionellen Organisation bedarf, wie auch die Nation Orte der wissenschaftlichen Reflexion, vielmehr spiegelt sich das gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis oder die Wechseldurchdringung in „Art und innere[m] Gehalt“ der Wissenschaft wider. Die Weise, wie Wissenschaft betrieben wird und welche inhaltlichen Ergebnisse, welches Wissen sie zeitigt, offenbart die Eigentümlichkeit der deutschen Nation nach Schelling. Wer eine Nation kennenlernen will, muss daher ihre Wissenschaften studieren. Worin besteht aber die speziell deutsche Wissenschaft? Ein zentrales Charakteristikum sieht Schelling im „Interesse des Gemüths und Geistes für den Grund aller Erkenntniß“.15 Ausdruck findet dieses Interesse insbesondere in den „religiösen und wissenschaftlichen Revolutionen“, in denen Deutschland ein Vorläufer für andere Kulturen war. Der Zusammenhang von Grund (aller Erkenntnis) und Revolution lässt sich offensichtlich leicht herstellen: Revolution bedeutet Umwälzung von bestehenden Gefügen, sei es Wissenschaften, Religionen oder Staatsformen, worin die überlieferten Grundfesten hinterfragt und erschüttert werden, um einen neuen, den „wahren“ Grund zu legen. Dies geschah gleichermaßen in Martin Luthers Bruch mit dem katholischen Glauben und dessen Hierarchie wie in Immanuel Kants Kritik und Vernichtung der dogmatischen Metaphysik, die Schelling indes eher gegen den herrschenden Empirismus gerichtet sah. Dabei mag verwundern, dass er neben Philosophie bzw. Wissenschaft auch der Religion ein Interesse für Erkenntnis attestiert – gleichsam als eine Erkenntnissuche des Gemüts im Gegensatz zu einer solchen des Geistes. Im Hinblick auf seine Identitätsphilosophie ist die dahinterstehende Überzeugung allerdings klar: Die Philosophie, zumindest wenn sie in ihrer deutschen Spielart nach dem Grund von allem fragt, gelangt zum Absoluten, worum es auch unter dem Namen „Gott“ oder anderen Namen in der Religion geht. Die Suche nach diesem Grund sowie die Verankerung alles desjenigen, was Philosophie oder Religion umfassen, in einem letzten Grund teilen somit beide Disziplinen. Allerdings ist diese Nähe von Religion und Wissenschaft für Schelling nur durch das Interesse für den Grund aller Erkenntnis garantiert, d.h. nur für die deutsche Ausprägung beider. Diese Nähe von Wissenschaft und Religion kennzeichnet den „eignen Weg“,16 d.h. den deutschen Sonderweg.
14 AA II,7,2, S. 481. 15 Ebd. 16 Ebd.
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Um diese Verbindung von Religion und Wissenschaft besser zu verstehen, wendet sich Schelling der deutschen Geistesgeschichte zu. Ausgangspunkt ist für ihn, wie bereits angeklungen, Martin Luther, der zu dieser Zeit, aber mehr noch in der Folge gerne zu einem geistigen Gründer der deutschen Nation stilisiert wird.17 Dessen Lossagung von „vorhandenem Glauben“ implizierte vor allem Entzweiung und Vertiefung – „seit dieser Zeit existirt deutsche Wissenschaft in der ganzen Eigenthümlichkeit ihrer Bedeutung“.18 „Entzweiung“ ist zunächst im konkreten Sinne zu verstehen, insofern durch die Reformation eine Spaltung der deutschen Nation in katholisch und protestantisch dominierte Regionen aufgetreten ist. Doch ist der „Widerspruch im Inneren der Nation“19 – wie auch der spezifische Umgang mit diesem Widerspruch – für Schelling keineswegs lediglich ein politisches Ereignis, vielmehr liegt er im deutschen Volksgeist begründet und konstituiert diesen wiederum, gerade in seiner Nähe zur Wissenschaft. Denn die Entzweiung bedeutet im übertragenen Sinne zunächst eine Absage an den „Mechanismus und die Physik des damaligen religiösen Glaubens“.20 Unter diesem Materialismus des Katholizismus versteht Schelling zum einen die institutionelle Bürokratisierung und Hierarchisierung des katholischen Glaubens im Papsttum, zum anderen die damit verbundene Dominanz des Leiblichen und Äußerlich-Objektiven darin. Dem entgegen setzte Luther eine „Metaphysik des Gefühls“,21 worin der Glaube mehr zählt als die Werke, mithin die subjektiven, innerlichen Aspekte der Religion aufgewertet werden. Daher kann man ebenso von einer Vertiefung sprechen, die sich aus einer oberflächlichen mechanischen Objektivität einer bestehenden Ordnung in das Innere der Seele zurückzieht, um daran das Objektive zu messen und kritisch zu beurteilen. Luther dringt gewissermaßen in den „Grund aller Erkenntniß“, bzw. in den Grund des Glaubens, wodurch das bestehende katholische System in dessen Dogmatismus – als oberflächlich, ohne Angabe von nachvollziehbaren Gründen Gültigkeit beanspruchend – entlarvt und damit verworfen wird. An dessen Stelle setzt er die subjektive Nachvollziehbarkeit jedes Einzelnen, der damit die Wahrheit nicht mehr von außen vorgelegt bekommen muss, sondern sie selbst in seinem Inneren erzeugt. Statt einer äußeren dringt er nunmehr auf eine innere Wahrheit. Dass die Wahrheit im Menschen ist, bedeutet, dass er keine Vermittler benötigt, sondern einen unmittelbaren Zugang dazu besitzt, weil er dem Absoluten nicht äußerlich gegenübersteht,
17 Bereits für Johann Gottfried Herder avancierte Luther dadurch zum Stifter der neuzeitlichen Wissenschaft. Vgl. die „Zweite Sammlung“ der Briefe zu Beförderung der Humanität (1793) in: Herder 1881, bes. S. 87. Vgl. ferner den Hinweis auf Fichtes Reden an die deutsche Nation in Anmerkung 6. 18 AA II,7,2, S. 481. 19 Ebd., S. 482. 20 Ebd. 21 Ebd.
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sondern in Gott ist.22 Diese Einsicht realisiert der gläubige Mensch im Gemüt oder Gefühl, der wissenschaftliche Mensch aber im Geist, dadurch dass er die „Erkenntnisse“ nicht bloß gleich Dogmen annimmt, sondern durch ihre Rückführung auf den Grund, ihre Be-gründung, erst zu Erkenntnissen macht. Mit Luther hat der Mensch den „Zustand erkenntnißlosen Friedens“23 im Katholizismus verlassen. Der dadurch eintretende Dualismus scheint jedoch für Schelling kein rein deutsches Phänomen zu sein; der Siegeszug der Wissenschaften ereignet sich selbstredend auch in anderen Nationen. Jedoch unterscheiden sich die Art des Auftretens und der Umgang mit dem Dualismus. In Frankreich erhält der Dualismus in Descartes‘ Philosophie den gängigen und geschichtsträchtigen Ausdruck: Während das Äußere, insbesondere die Natur, einem bloß mechanischen Prozess unterliegt, worin jedes Ding allein durch äußerliche, vorwiegend kausale Beziehung zu seiner Bestimmung gelangt, bleibt allein das menschliche Subjekt, das Ego, als selbstbestimmt und lebendig übrig; alles andere ist tot, d.h. ohne inneren Antrieb. Eine Folge aus Descartes‘ Philosophie ist nach Schelling der Empirismus, verstanden als (französischer) Materialismus, wie er vor allem von d’Holbach und La Mettrie, aber auch von Diderot vertreten wurde. Nach Aufgabe des ohnehin bloßen „Scheinlebens“ des Subjekts bleibt nur noch die mechanische Natur als Gegenstand der Wissenschaft zurück. Pikant an dieser Stelle ist Schellings Einschätzung, der objektive Mechanismus des katholischen Glaubens habe sich dadurch, dass sich das religiöse Element durch den Protestantismus in das Subjekt verlegt hat – wie die Wahrheit nach Descartes nunmehr durch das Ego des Cogito zu sichern ist –, gewissermaßen in einen bloßen Mechanismus der Natur für die Wissenschaft verwandelt; die Religion weicht darin einem durch Wissenschaft gestützten Atheismus. Das religiöse Moment verliert in Frankreich überhaupt an Bedeutung, was sicherlich auch an dem geringen Einfluss des Protestantismus liegt; Natur wie auch der laizistische Staat, die Republik, werden entheiligt, in ihrer bloßen Äußerlichkeit als Mechanismus betrachtet und erhalten. Selbst die Philosophie geht in dieser Entwicklung ihres Existenzrechts verlustig, da empirische Wissenschaften an ihre Stelle treten. Der Umgang der deutschen Wissenschaft mit dem Dualismus ist nach Schelling gänzlich anderer Natur. Als grundlegend erweist sich dabei die vor allem von Jacobi vertretene Richtung, die zahlreiche Nachfolger gefunden hat. In Umkehrung der französischen Einschätzung unternimmt dieser eine Abwertung der Wissenschaften zugunsten der Religion, indem er hervorhebt, „daß Wissenschaft nur vom Todten und im Todten möglich sey“. Um „Lebendiges, Freies und Göttliches“ zu erfassen, 22 Zu dieser Korrelation von Wahrheit im Menschen, also Vernunft, und Mensch in der Wahrheit, d.h. in Gott, vgl. Schellings System der gesammten Philosophie von 1805, in: AA II,7,1, S. 424: „das Vernunftwesen ist daher am meisten in sich selbst, indem es zugleich absolut im Absoluten ist“. 23 AA II,7,2, S. 482.
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bleibt „dem Menschen nur das tiefe Bewußtseyn seines Nichtwissens, erleuchtet allein durch Ahndung, Glaube und erkenntnißloses Gefühl, übrig“.24 Die „Nichtphilosophie“ (Eschenmayer) oder „Unphilosophie“ (Jacobi) treten an die Stelle einer (wissenschaftlichen) Philosophie und hoffen so, zum „erkenntnißlosen Frieden“25 des Katholizismus zurückzukehren und das Religiöse zu bewahren. Ebenso wie in Frankreich wird in Deutschland damit die Philosophie für überflüssig erklärt, jedoch kraft einer anderen, konträren Begründung. Sowohl im ehemals katholischen Frankreich, das den Katholizismus nur noch in Form einer wissenschaftlichen, mechanistischen Weltsicht anklingen lässt – freilich ohne Gott –, als auch im durch den protestantischen Geist des Nordens regierten Deutschland gilt die Philosophie als obsolet. Der Dualismus von Geist und Natur, Absolutem und Endlichem, wurde jeweils auf eine Seite reduziert und damit scheinbar vernichtet – scheinbar, denn eine Einheit der gegensätzlichen Pole ist damit selbstredend nicht erzielt worden. An dieser Stelle kommt nun – im Anklang an das im vorherigen Kapitel Erwähnte – der Süden Deutschlands ins Spiel, für welchen der Katholizismus noch sehr präsent ist, der die Spaltung im Inneren erfährt und ihr nur durch eine neu herzustellende, „bewußte Einheit“26 der Gegensätze zu entkommen vermag. In erster, theoretischer, Hinsicht erfordert die Einheit eine Aussöhnung von Religion und Wissenschaft, die allein durch die Philosophie geleistet werden kann, insofern sie das durch die Religion gefühlte Absolute gegen Jacobi und Anhänger auf begriffliche, d.h. wissenschaftliche Weise mit dem Endlichen, dem Menschen und der Welt, in Verbindung zu bringen vermag. In zweiter, politischer, Hinsicht zielt die Aussöhnung auf die nationale Einheit Deutschlands, die ja gerade durch die Spaltung in protestantische und katholische Länder ebenso wie durch den intellektuellen und militärischen Einfluss Frankreichs zerstört wurde. Der deutsche Sonderweg lässt sich folglich für Schelling auf die Formel bringen: „Die deutsche Nation strebt mit ihrem ganzen Wesen nach Religion, aber ihrer Eigenthümlichkeit gemäß nach Religion, die mit Erkenntniß verbunden und auf Wissenschaft gegründet ist.“27 „Wiedergeburt der Religion durch die höchste Wissenschaft, dieses eigentlich ist die Aufgabe des deutschen Geistes“.28 Wissenschaft ohne Religion ist für Schelling genauso falsch wie Religion ohne Wissenschaft. Dies demonstrieren die französischen Materialisten auf der einen, Jacobi und Gleichgesinnte auf der anderen Seite. Die Vermittlungsaufgaben übernimmt die deutsche Philosophie, die selbst Wissenschaft ist, aber auch das religiöse Element zu integrieren vermag. Als Beleg führt Schelling zahlreiche deutsche Denker an, die der Einheit bereits entgegengearbeitet haben. 24 25 26 27 28
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Ebd, S. 483. Ebd, S. 482. Ebd. Ebd., S. 485. Ebd.
Die „Regeneration der Erkenntniß“29 gegen ihre französischen und deutschen Gegner hat zuerst Kant mit seiner philosophischen Revolution in Gang gesetzt. Dabei deutet ihn Schelling im Einklang mit einer philosophiehistorischen Tendenz deutscher Philosophie, welcher der Königsberger sicherlich nicht zugestimmt hätte. Nach Schelling besteht Kants Leistung darin, das mechanistische Weltbild der französischen Materialisten als bloße, durch das Subjekt hervorgebrachte Erscheinung zu erklären. Die Konstitution der Erscheinung durch die Verstandeskategorien wie die Kausalität erzeugt eine tote Natur, die jedoch nicht mit der Natur an sich gleichzusetzen ist. Letztere deutet sich lediglich hinter der „bloßen Form des Verstandes“ als etwas dem Verstand „Unerreichbares“ an.30 Möglicherweise spielt Schelling hier auf eine bekannte Stelle in Kants Kritik der Urteilskraft an: Der Verstand giebt durch die Möglichkeit seiner Gesetze a priori für die Natur einen Beweis davon, daß diese von uns nur als Erscheinung erkannt werde, mithin zugleich Anzeige auf ein übersinnliches Substrat derselben; aber läßt dieses gänzlich unbestimmt.31
Den übersinnlichen, noumenalen Bereich der Dinge an sich hat laut Schelling Johann Gottlieb Fichte erstmalig auf positive Weise bestimmt, nämlich als „Ichheit“, die als „Quelle der Selbstbewegung“32 den Mechanismus, also das Von-außen-Bewegtsein der Dinge übersteigt und Selbstbestimmung, Freiheit, ermöglicht. Warum er diese Idee nicht auf alle Dinge, sondern nur den Menschen, übertragen hat, bleibt für Schelling jedoch ein Rätsel.33 Erst seine eigene Naturphilosophie hat dieses Versäumnis ausgeräumt, und dadurch ermöglicht, „die Lebendigkeit der Natur und ihre innere Einigkeit mit geistigem und göttlichem Wesen zu sehen“.34 Als Vorläufer der Verlebendigung der Natur nennt Schelling Johannes Kepler, Gottfried Wilhelm Leibniz, Baruch de Spinoza – der kurzerhand eingedeutscht wird –, Jacob Böhme und Johann Georg Hamann. Die Tendenz der deutschen Philosophie führt unweigerlich auf Schellings Identitätsphilosophie als ihren Höhepunkt. Diese vereinigt bekanntlich Transzendentalphilosophie und dynamische, also nicht-mechanistische, Naturphilosophie, mithin die Vorläufer deutscher Philosophie, in deren Einheit und umfasst damit zugleich die Totalität der Welt, verankert in einem Begriff des Absoluten. Durch ihr organisches Weltverständnis begreift sie gleichermaßen Lebendigkeit und Freiheit der Glieder in Gott, dem Absoluten. Die in ihr ausgedrückte geistige Richtung, die bereits bei den Vorgängern partiell, aber nie vollständig zum Ausdruck kam, nennt Schelling Metaphysik. Die Deutschen sind demnach eine, wenn nicht die metaphysische Na29 30 31 32 33
Ebd., S. 484. Ebd. Akad.-Ausg. 5, S. 196; angegeben nach Kant 1968ff. AA II,7,2, S. 484. Dies ist eine häufig wiederholte Kritik Schellings an Fichte, „daß nicht allein die Ichheit alles, sondern auch umgekehrt alles Ichheit sey“ (AA I,17, S. 124). 34 AA II,7,2, S. 484.
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tion, welche die Einheit von Religion und Wissenschaft von Luther bis Schelling expliziert und realisiert, d.h. zu einer bewussten Einheit gestaltet haben. Dafür war und ist eine Phase der Spaltung, die Bewusstsein und Reflexion erst ermöglicht, unumgänglich, wodurch das zunächst nur im Keim vorhandene Wesen, die implizite Metaphysik, zur vollen Entfaltung, der expliziten Metaphysik (= Identitätsphilosophie), gelangt. Im Grunde war die treibende Kraft stets die Metaphysik, die gerade nicht (nur) eine philosophische Spezialdisziplin, sondern vielmehr eine geistige Lebenshaltung meint.35 Erneut wendet Schelling die Vorwürfe Johannes von Müllers gegen eine welt- und politikferne Philosophie um: alles Hohe und Große in der Welt ist durch etwas geworden, das wir im allgemeinsten Sinne Metaphysik nennen können. Metaphysik ist, was Staaten organisch schafft und eine Menschenmenge Eines Herzens und Sinns, d. h. ein Volk, werden läßt.36
Es ist eine „innere Metaphysik, welche den Staatsmann, den Helden, die Heroen des Glaubens und der Wissenschaft gleichermaßen inspirirt“.37 Das organizistische Weltbild der Metaphysik, das den ganzen Menschen in seiner „Empfindungs-, Denk- oder Handlungsweise“38 prägt oder prägen soll, um so eine organische nationale Einheit zu befördern, drückt sich ebenso in einer politischen Theorie aus, die sich gegen mechanistische Staatsverständnisse wendet. Der Mechanismus hat sich – als Katholizismus ohne Gott – in Natur und Staat vor allem auf französischer Seite durchgesetzt, wie die wissenschaftlichen Theorien zeigen. Doch auch in Deutschland hat sich zu Schellings Zeit die Meinung verbreitet, dass der Staat nichts anderes als ein Aggregat von Individuen sei – das politische Pendant zum Atomismus in der mechanistischen Naturlehre. Recht und Gesetze dienen demnach dem reibungsfreien Ablauf und Verkehr der menschlichen Atome, indem sie die Freiheit des Einen durch Beschränkung der Freiheit des Anderen absichern. Die sogenannten Naturrechtstheorien, die ebenso von Kant und mehr noch von Fichte vertreten wurden, setzen Recht und Staat mit einer äußeren Zwangsanstalt gleich, die keine innerlich bindende Gemeinsamkeit unter den Individuen voraussetzt oder fördert. Diese Fokussierung auf die „absolute Personalität des Einzelnen“39 wirkt sich auch in der dazugehörigen Ethik aus, wonach es keinen öffentlichen Raum gemeinschaftlichen Handelns der Menschen gibt, sondern der Einzelne und dessen Privattugenden einzig von Belang sind. Diese Privationstheorie des Guten gründet darauf, dass sich der Staat aus moralischen Angelegenheiten rauszuhalten hat. Stattdessen 35 „Metaphysik ist der Gegensatz alles Mechanismus, ist organische Empfindungs-, Denk- oder Handlungsweise“ (Ebd., S. 486). 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 Ebd.
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setzt er auf äußeren Zwang, der sich nicht nur in den Gesetzen erschöpft, sondern sich ebenso in der „Mechanisirung aller Talente, aller Geschichte und Einrichtungen“,40 mithin in der vollständigen Bürokratisierung und Regelung der bürgerlichen Gesellschaft, auswirkt. Darin soll jedes Rad in das andere greifen, alles von anderem bewegt werden – einem „mechanische[n] Perpetuum mobile“41 gleich. Als einzige Zustimmung zu diesem Mechanismus benötigt der Staat nicht die moralische Gesinnung der Bürger, sondern deren rein formale „menschliche Uebereinkunft“,42 d.h. einen Gesellschaftsvertrag. Paradoxerweise resultiert aus einem Beginn mit der absoluten Einzelheit der Bürger ein Szenario, innerhalb dessen der Einzelne gänzlich verschwindet: Aller Mechanismus vernichtet die Individualität, gerade das Lebendige geht nicht in ihn ein und ist ihm nichts. […] Vertilgung der Individualität ist eben die Richtung eines unmetaphysischen, bloß mechanisch geformten Staates.43
In dieser Gesellschaft reüssiert nur derjenige, der sich in das äußere Gefüge ohne große Reibung fügt. Die „am meisten mechanisch aufgezogenen Seelen“44 nehmen die oberen Plätze in der politischen Hierarchie ein und fordern von allen anderen gleichermaßen Anpassung.
3. Die Eigentümlichkeit deutschen Wesens: Reden an die verspätete Nation In einer Situation, in welcher sich „französische“ Theorien in der politischen Lebenswelt Deutschlands eingenistet und ausgebreitet haben,45 in welcher der Eigennutz von den Bürgern bis hin zu den Regenten reicht, scheinen die Aussichten, einen erfolgreichen „heiligen Krieg“ gegen die Invasoren zu führen, gering. Die Privatisierung der Tugenden ist Kehrseite eines Verlusts der öffentlichen, gemeinschaftlichen Sphäre,46 die nach Schelling nur durch Philosophie wieder erzeugt werden kann – freilich nur durch eine in populärer Darstellungsweise verfassten Philosophie, einer Rede an die Nation. Schelling adressiert daher eine Rede an die Deutschen als an die metaphysische Nation.47 Die Idee, dass über Wissenschaft ein nationales
40 41 42 43 44 45
Ebd., S. 487. Ebd., S. 488. Ebd., S. 487. Ebd., S. 488. Ebd. Um 1803 schreibt Schelling in diesem Sinne: „In Deutschland könnte, da kein äußeres Band es vermag, nur ein inneres, eine herrschende Religion oder Philosophie, den alten Nationalkarakter hervorrufen, der in der Einzelnheit zerfallen ist und immer mehr zerfällt“ (AA I,14, S. 96). 46 AA II,7,2, S. 487. 47 Vieles ähnelt den nur kurz darauf verfassten Reden an die deutsche Nation von Fichte, ein genauer Vergleich der beiden Texte wäre lohnenswert.
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Einheitsbewusstsein hergestellt werden kann, das sich daraufhin in einer politischen Einheit konstituiert, entnimmt Schelling e contrario der Geschichte. Dass die „gänzliche Erneuerung“ in Deutschland durch die Wissenschaft vermittelt zu sein hat, dass also eine erneute wissenschaftliche Revolution, nun durch Identitätsphilosophie, einer politischen Revolution oder besser: einem heiligen Krieg entgegen zu arbeiten habe, fußt auf den geschichtlichen Erfahrungen des französischen Einflusses oder kann zumindest dadurch veranschaulicht werden: Danach hat sich zunächst im 18. Jahrhundert ein geistig-kultureller Einfluss der französischen Wissenschaft und Literatur breit gemacht, um gleichsam den Deutschen im Inneren, in ihrem Geiste, „Gift“48 zu injizieren. Nach der geistigen Schwächung konnte Frankreich dann unter Napoleon auch den körperlichen, militärischen Einfluss ausüben: Die Schwächung des Geistes befiel ebenso den Körper und öffnete dem kriegerischen Einfall alle Tore. Aufgrund dieser Erfahrung liegt es nicht fern, in der geistigen Erneuerung der Deutschen ein Mittel zu sehen, sich auch körperlich gegen die französische Invasion wehren zu können. Erst nach Verabreichung des geistigen Gegengifts kann sich eine nationale Einheit etablieren, die Napoleon bezwingt und auch Deutschlands Spaltung im Inneren überwindet. Die Idee geht der Wirklichkeit voraus – in diesem Sinne ist Schelling überzeugter Idealist. Die Verbindung von Religion und Wissenschaft in der Metaphysik und einer in Zukunft zu erwartenden neuen Religion gründen wie bereits geschildert im deutschen Wesen, sind dessen Eigentümlichkeit. Neben einer geistesgeschichtlichen Stütze dieser These, die von Luther zu Schelling selbst führt, finden sich ebenso geschichtliche, politische Gründe. Durch Explizierung der Metaphysik soll der deutschen Nation eine Identität verschafft werden, die sie als solche noch nicht besessen hat. Im Gegensatz zu zahlreichen anderen westlichen Nationen ist Deutschland als Nation erst zu konstituieren – Helmuth Plessner prägte für diese Verzögerung den Begriff der „verspäteten Nation“.49 Damit unterscheidet sich die deutsche radikal von anderen Nationen, deren nationale Einheit Grundlage, Substanz aller Betätigungen ist. Deutschland ist eine „verspätete Nation“, d. h. zu Schellings Zeit eine „Nation“, deren Einheit noch aussteht, zukünftiges Ziel und nicht überlieferter Ausgangspunkt ist. Trotzdem stellt die projizierte Einheit kein bloßes Konstrukt dar und ist damit auch nicht Postulat eines möglichen Gesellschaftsvertrags, vielmehr gründet sie in einer wesentlichen Gemeinsamkeit der Menschen, der Eigentümlichkeit des deutschen Wesens. Sie ist mithin eine Realisierung einer im Wesen liegenden Potentialität, die alle Deutschen gewissermaßen schon von Anfang ihres Unternehmens an verbindet und die Realisierung zu einem teleologischen, notwendigen Prozess
48 AA II,7,2, S. 489. 49 Plessner 1959 [Erstdruck unter anderem Titel: Zürich 1935].
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macht, der in der Deutung Schellings gerade die höchste Freiheit bedeutet – nämlich als Entfaltung der Wesensnotwendigkeit.50 Worin besteht aber dieses Wesen, die Eigentümlichkeit der Deutschen? Neben der Verbindung von Religion und Wissenschaft, die aus einer geistesgeschichtlichen Betrachtung von Luther bis Schelling im vorherigen Kapitel dargestellt wurde, folgt aus der politischen Situation der fehlenden Einheit ein weiteres Spezifikum. Schelling teilt die wohl verbreitete Meinung vom unbestimmten Charakter der Deutschen: Man hat es oft bemerkt, daß alle übrigen Nationen von Europa durch ihren Charakter viel bestimmter sind als die deutsche, welche daher wegen ihrer allgemeinen Empfänglichkeit als die Wurzel, wegen der in ihr liegenden Kraft der Vereinigung des Widerstreitenden wohl als die Potenz der anderen Nationen betrachtet werden könnte.51
Während andere Nationen durch ihre politische Einheit und durch ein gemeinsames Bewusstsein bestimmt sind, ist der Deutsche gänzlich unbestimmt – da ohne Einheit.52 Um den ganzen Gehalt dieser Aussage zu verstehen, muss man Schellings Analogie zwischen Nationen und Natur hinzuziehen. Danach gleicht der Deutsche in der Naturkette dem Menschen, wohingegen die anderen Nationen den natürlichen Vorstufen angehören. Während Pflanzen und Tiere über ein bestimmtes, festgelegtes Wesen (Charakter) verfügen, das sie von Generation zu Generation vererben, ist der Mensch ein Freigelassener der Schöpfung und muss kraft Selbstbestimmung sein Leben führen. Bezogen auf die nationalen Charaktere bedeutet dies, dass sämtliche Nationen über eine tradierte Bestimmung, als Heimat und Herkunft Garant ihrer nationalen Einheit, verfügen, welche dem Deutschen abgeht. Dessen Einheit ist Desiderat, Aufgabe der Selbstbestimmung. Dennoch wehrt sich Schelling gegen ein falsches Verständnis der Selbstbestimmung, die eben nicht einer willkürlichen Entscheidung entspringt. Die durch Selbstbestimmung zu konstituierende Einheit muss als eine Realisierung des Wesens aufgefasst werden, die Unbestimmtheit ist zugleich die Bestimmung. In Analogie zur Natur, worin der Mensch sämtliche Bestimmtheiten der vorhergehenden Existenzweisen – von Pflanze und Tier – durchläuft53 und gerade als Totalität aller Bestimmtheiten die Unbestimmtheit realisiert, liegt es nach Schelling auch im „Wesen
50 Zur spinozistischen Verbindung von Freiheit und Notwendigkeit vgl. z. B. AA II,7,1, S. 413: „Eine freie Ursache kann nur diejenige heißen, welche, kraft der Nothwendigkeit ihres Wesens, ohne alle andere Bestimmung, nach dem Gesetz der Identität handelt.“ 51 AA II,7,2, S. 489. 52 Auch hierzu gibt es eine Parallele bei Plessner in der Einführung der zweiten Auflage von Die verspätete Nation: „Aber diese Verspätung ist nicht nur eine Ungunst des Geschicks, sondern wie jedes Versagtsein im Äußeren auch eine schöpferische Möglichkeit und ein Appell an die inneren Kräfte“ (Plessner 1959, S. 11). 53 Dahinter steht die Theorie des Aristoteles, wonach der Mensch „gewissermaßen alles“ (nach Thomas: quodammodo omnia) ist, vgl. AA II,7,1, S. 320f.
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und der Bestimmung des deutschen Geistes, in allen Formen sich zu versuchen“.54 Das bedeutet in der Natur: „Jene einseitigen Charaktere sollen durch die Ausbildung verschwinden und der Mensch durch Verschmelzung alles Einseitigen in sich zur Darstellung der Totalität gelangen.“55 Nun scheint es nicht allzu fern zu liegen, in dem Totalitätsanspruch der deutschen Nation verschärft durch den Mensch-Tier-Vergleich einen fatalen Vorboten des 20. Jahrhunderts zu vermuten, wie den frühen Anklang von „Am deutschen Wesen mag die Welt genesen“. Dagegen sind zumindest zwei zentrale Aspekte der Lehre anzuführen. So steht hinter der Totalität des Menschen im Naturreich das Aufkommen der Vernunft. Ebenso besteht oder realisiert sich die Eigentümlichkeit der deutschen Nation, unbestimmt zu sein, in der Allgemeinheit, nämlich alle nationalen Bestimmtheiten zu umfassen. Statt eine Eigentümlichkeit zu besitzen, welche andere Eigentümlichkeiten ausschließt – omnis determinatio negatio56 – attestiert Schelling den Deutschen eine Eigentümlichkeit, welche alle anderen Eigentümlichkeiten in sich schließt und daher die höchste Allgemeinheit verkörpert. In Termini der Identitätsphilosophie ist das Wesen, d.h. die Eigentümlichkeit, der Deutschen die absolute Formlosigkeit, d.h. Bestimmungslosigkeit, die in ihrer Verwirklichung nur als absolute Form, die alle möglichen Bestimmtheiten (Formen) begreift, aufzufassen ist. Demnach kann es nicht Anliegen der deutschen Nationalbildung sein, andere Nationen in ihrer bestimmten Einheit zu negieren, vielmehr darum, deren Einheit in sich zu (re-)produzieren. Die Totalität bedeutet daher keine kriegerische Annexion anderer Nationen, sondern die Übernahme der fremden nationalen Bestimmtheiten in der eigenen politischen Verfasstheit. Der Eindruck eines gefährlichen Chauvinismus wird allerdings dadurch verstärkt, dass der Mensch im Rahmen von Schellings Identitätsphilosophie, welche von ihm ohne Bescheidenheit als Klimax deutscher Geistesgeschichte angesehen wird, zum Bild des Absoluten wird. In ihrer Lehre vom Absoluten, das man „nur als reine Absolutheit, ohne alle weitere Bestimmung, aussprechen könne“,57 kulminieren die Natur- und Geistesprozesse im Menschen, dem Bild des Absoluten, dessen Wesen Freiheit ist, der alle Bestimmungen des Tierreichs auf höherer Ebene, nämlich aus Freiheit (re-)produziert. Hieran lassen sich zwei gänzlich verschiedene Lesarten anschließen, eine absolutierende, die schlimme politische Entwicklungen vorausahnen lässt, und eine relativierende: Nach der ersten Lesart ist der Deutsche der wahre Mensch, Bild des Absoluten, während andere Nationen als niedere Existenzen anzusehen sind. Ob diese nun mit kriegerischen Mitteln oder durch geistige Überheblichkeit vernichtet werden, spielt dann (fast) keine Rolle mehr. Nach der zweiten 54 AA II,7,2, S. 490. 55 AA II,7,1, S. 361. 56 „Alle Bestimmtheit des Charakters ist nichts Positives, sondern etwas lediglich Negatives“ (AA II,7,1, S. 361). 57 AA I,14, S. 289.
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Lesart spiegelt sich in Schellings Identitätsphilosophie lediglich der deutsche Geist in seiner Eigentümlichkeit wider, die jedoch nur Gültigkeit für diesen selbst besitzt. Insofern kann die Identitätsphilosophie nicht beanspruchen, die absolute Wahrheit darzustellen, vielmehr ist sie lediglich Ausdruck des deutschen Geistes; andere Nationen haben andere Wahrheiten, Wissenschaften und Philosophien. Für diese zweite Lesart lassen sich weitere, philosophische Belege und Präzisierungen finden. Die Eigentümlichkeit deutschen Geistes besteht nach Schelling bekanntlich im Interesse für den „Grund aller Erkenntniß“. Obwohl Schelling den Begriff des Grundes erst zwei Jahre später in den Philosophischen Untersuchungen genauer behandeln wird, sind bereits in diesem Fragment Grundzüge davon vorhanden.58 So versteht er unter Grund ein „Wesentliches, Lebendiges“, „der bloßen Form des Verstandes Unerreichbares“.59 Damit äußert er sich kritisch gegenüber den Versuchen in der Philosophie gegen Ende des 18. Jahrhunderts, den Grund der Erkenntnis in Form von rationalen Grundsätzen auszudrücken, im Ausgang von welchen durch Deduktion ein System etabliert werden kann. Dagegen muss der Grund als etwas aufgefasst werden, das selbst nicht im Bereich des Verstandes, des Wissens liegt, sondern dieses gewissermaßen trägt: Dieses ist an den Dingen die unergreifliche Basis der Realität, der nie aufgehende Rest, das, was sich mit der größten Anstrengung nicht in Verstand auflösen läßt, sondern ewig im Grunde bleibt. Aus diesem Verstandlosen ist im eigentlichen Sinne der Verstand geboren. Ohne dieß vorausgehende Dunkel giebt es keine Realität der Kreatur [...].60
Die Rückführung aller Erkenntnisse auf diesen Grund bedeutet jedoch ihre Relativierung oder gar: die Vernichtung ihres Selbstverständnisses, absolute, allgemeine Wahrheiten zu sein, also Wahrheiten, die sich selbst tragen und begründen. Vielmehr entstammen sie und verdanken sich einer irrationalen Herkunft, die Schelling in den Philosophischen Untersuchungen auch durch den Begriff des Willens erklärt. Der Wille repräsentiert dabei die Eigentümlichkeit deutschen Wesens, die sich auch noch in der deutschen Wissenschaft ausdrückt, so vor allem in der Verbindung von Wissenschaft mit Religion, die nicht weiter rational zu rechtfertigen und von anderen Nationen zu fordern ist. Vielmehr lässt sie sich nur historisch, aus der Geschichte von Luther bis zu Schellings Identitätsphilosophie nachweisen. Führt man diesen Gedanken zu Ende, lässt sich die Wahrheit einer Philosophie nur relativ, d.h. im Verhältnis zu der jeweiligen nationalen Eigenheit, erweisen. Es verbietet sich daher, aus der Identitätsphilosophie Vorstellungen von Superiorität der deutschen Nation gegenüber anderen Nationen abzuleiten.
58 Mehr noch in den ca. zwei Jahren zuvor gehaltenen Vorlesungen System der gesammten Philosophie. 59 AA II,7,2, S. 484. 60 AA I,17, S. 131.
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Dabei darf freilich nicht übersehen werden, dass der Grund nicht für sich selbst steht, sondern als Grund – und anders wird er nicht benannt – Grund der Erkenntnis, des Verstandes, ist. Die Eigentümlichkeit des Grundes drückt sich in allgemeinen Formen aus, das deutsche Gemüt verwirklicht sich im deutschen Geist, der durch seine Eigentümlichkeit allgemeine Ideen der Menschheit verlebendigt, mithin in der Wissenschaft kulminiert. Es wäre falsch, die Schlussfolgerung zu ziehen, dass durch die Herkunft aller Erkenntnis aus dem Grund alles schlechthin relativ wäre; vielmehr ist das Allgemeine des gesamtmenschlichen Verstandes durchzogen von nationalen Eigentümlichkeiten und Tendenzen. Man kann das Allgemeine jedoch ohne die nationalen Besonderheiten nicht darstellen, ersteres ist stets damit vermischt. Somit kann es die (internationale) Wissenschaft nicht geben; ebensowenig gibt es ausschließlich nationale Wissenschaften, die untereinander keiner Kommunikation fähig sind. Vielmehr drücken sie alle auf verschiedene, nämlich ihre nationale Perspektive dieselben universellen Ideen aus. Diese Einsicht in die nichtrationale Wurzel des Erkennens wird im Fragment auf die nationale Eigentümlichkeit bezogen und konkretisiert. Dabei bestimmt sie nicht nur den Gegenstand, sondern auch die Methode der Untersuchung. Die häufig bemühte Unterscheidung von Gemüt und Geist lässt sich sowohl auf die Unterscheidung von Religion und Philosophie beziehen, sie betont zudem in unterschiedlichem Grade die Aspekte des (irrationalen) Grundes und der (rationalen) Erkenntnis. Und: Sie macht deutlich, dass Erkenntnis niemals rein rational zu vermitteln ist, sondern immer auch einen Willen oder eine voluntative und emotionale Grundlage voraussetzt, die angesprochen werden muss, um jemanden zu einer Erkenntnis zu bringen. Diese „rhetorische“61 Einsicht übernimmt Schelling im Versuch einer Popularisierung seiner Philosophie. Um das Volk zu erreichen und mittels der Philosophie ein gemeinschaftliches Bewusstsein zu erzeugen, bedarf man einer Sprache, die auch die nichtrationalen Seiten des Menschen erreicht. Durch die Erzeugung eines öffentlichen Bewusstseins zielt Schelling auf eine nationale Einheit, die ebensowenig bloßes Produkt rationaler Verfügung sein kann. Im Gegensatz zu einer Einheit, die über allgemeine, abstrakte Gesetze und Rechte, ohne die Gesinnungen und Tugenden ihrer Bürger zu beachten oder gar zu fordern, einem reinen Mechanismus frönt, vertritt Schelling den Begriff einer Einheit, die zu ihrem Grund einen nicht in Rationalität aufzulösenden (Einheits-)Willen – als Eigentümlichkeit deutschen Wesens – hat. Dabei handelt es sich freilich gerade nicht um den Willen aller Einzelnen (volonté de tous), sondern um einen Allgemeinwillen (volonté générale), der sich auch in allgemeine, lebendige Gesetze übertragen lassen können muss, welche die Individualität ihrer Bürger aufrechterhält. Wie sich die Eigentümlichkeit deutschen Geistes nur in der Allgemeinheit ausdrückt und 61 Diese rhetorische Intention weist Peter Oesterreich in Fichtes Reden an die deutsche Nation nach; sie gilt auch für Schellings Reden. Vgl. Oesterreich 2012.
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erhält, so auch diejenige des Bürgers, der nur als Organ im Organismus der Nation Selbstständigkeit und Lebendigkeit erlangt. Auf welche Weise diese Staatsform im Konkreten vorzustellen ist, hat Schelling im Gegensatz zu seinem Freund Hegel niemals ausführlich dargestellt. Am Ende steht – wie in seinen Würzburger Vorlesungen – die Hoffnung, durch die Politisierung der Philosophie eine neue nationale Einheit zu schaffen: „Philosophie – die nicht mehr Wissenschaft ist, sondern zum Leben wird – ist das, was Plato das πολιτεύειν nennt, das Leben mit und in einer sittlichen Totalität.“62
4. Biographische Entwicklungen In seiner philosophischen Auseinandersetzung mit den politischen Umständen in den Jahren um 1807 gelangte Schelling zur Einsicht in den historischen Charakter und die politische Bedeutung der Identitätsphilosophie. Die Hoffnung, durch populäre Darstellung der Metaphysik ein nationales Einheitsbewusstsein zu schaffen oder zumindest vorzubereiten, aus welchem die politische Einheit hervorgeht, verlor in den folgenden Jahren und Jahrzehnten nachweislich an Gewicht. Schuld daran tragen sicherlich zum großen Teil die politischen Entwicklungen, die nicht zugunsten einer nationalen Einheit Deutschlands verlaufen sind.63 Knapp 30 Jahre später, im Rahmen seiner Vorlesungen Zur Geschichte der neueren Philosophie äußerte sich Schelling noch einmal „Ueber den nationalen Gegensatz in der Philosophie“. Viele Überlegungen und Formulierungen aus dem behandelten Fragment finden sich dort wieder. Erneut verweist er auf die politische Bedeutung der deutschen Philosophie von Luther bis auf die frühere Vergangenheit. Den endgültigen Abschied vom früheren Projekt kündigt Schelling an, indem er die Kritik an der spekulativen deutschen Philosophie in Europa, vor allem aus England und Frankreich, nicht mehr gänzlich in ihrem Recht verwirft. Es mutet nahezu resignativ an – obgleich es so nicht gemeint ist –, wenn Schelling schreibt: Und so sehen wir uns doch am Ende genöthigt, wenigstens für möglich zu halten, daß jener Entfernung von der Philosophie im deutschen Sinn, die wir bei den andern Völkern wahrnehmen, etwas Wahres und Richtiges zu Grunde liegen könnte.64
62 AA II,7,1, S. 443. 63 Schelling verwirft in seinem Spätwerk nicht die Idee einer philosophischen Religion, allerdings verliert sich der Fokus auf die Schaffung einer nationalen Einheit. 64 SW X, S. 195.
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Literatur Binkelmann, Christoph/Schneidereit, Nele (Hrsg.), 2015: Denken fürs Volk? Popularphilosophie vor und nach Kant. Würzburg. Eschenmayer, Adolph C. A., 1803: Die Philosophie in ihrem Uebergang zur Nichtphilosophie. Erlangen. Fichte, Johann G., 1962-2012: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. von Fuchs, Erich/Gliwitzky, Hans/Lauth, Reinhard/Schneider, Peter K. StuttgartBad Cannstatt. Fuhrmans, Horst, 1975: Briefe und Dokumente. Bd. III. Bonn. Herder, Johann G., 1881: Herders sämmtliche Werke. Hrsg. von Suphan, Bernhard. Bd. 17. Berlin. Kant, Immanuel, 1968ff.: Werke (Akademie-Textausgabe). Unveränderter photomechanischer Abdruck des Textes der von der Preussischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften. Berlin/New York. Oesterreich, Peter L., 2012.: ‚Deutscher Ernst‘. Zu Fichtes rhetorischer Erfindung nationaler Identität. In: Fichte-Studien 40, S. 31-43. Plessner, Helmuth, 1959: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes. Stuttgart. Salat, Jakob, 1808: Vernunft und Verstand. T. 2. Tübingen. Schelling, Friedrich W. J., 1856-61: Sämmtliche Werke. Hrsg. von Schelling, Karl F. A. Stuttgart/Augsburg. Schelling, Friedrich W. J., 1976ff.: Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hrsg. von Buchheim, Thomas/Hennigfeld, Jochem/Jacobs, Wilhelm G./Jantzen, Jörg/Peetz, Siegbert. Stuttgart-Bad Cannstatt.
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Christian Danz Wissenschaft, Religion und Staat. Schellings Deutung der Reformation
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling gehört nicht zu den Vertretern der klassischen deutschen Philosophie, die im Fokus der Aufmerksamkeit stehen, wenn es um deren Verhältnis zur lutherischen Reformation geht. Das sind eher Johann Gottlieb Fichte und Georg Wilhelm Friedrich Hegel.1 Während sich Letzterer geradezu emphatisch zu Martin Luther geäußert und seine eigene philosophische Konzeption in eine Kontinuität zu dem Wittenberger Theologen gerückt hat,2 scheint der Leonberger Philosoph sich kaum zu dem Thema geäußert zu haben. Überblick man sein Werk, dann kommt er lediglich an vereinzelten Stellen auf die Reformation bzw. den Reformator zu sprechen. Stattdessen ging um 1815 das Gerücht durch die gelehrte Welt, er sei in München zum Katholizismus konvertiert.3 So verwundert es auch nicht, wenn Schellings Verhältnis zur Reformation in der einschlägigen Forschung bislang kaum Beachtung gefunden hat.4 Allerdings hat Schelling ebenso wie Hegel und Fichte an einer lutherischen Fakultät studiert. Während seines Studiums an der Universität Tübingen wurde dem in einem lutherischen Pfarrhaus aufgewachsenen Leonberger Philosophen eine Form lutherischer Theologie vermittelt. Nimmt man seine Schriften genauer in 1 Vgl. nur Hirsch 1998a. Im Fokus steht natürlich auch die Philosophie Kants, wenn es um das Verhältnis der klassischen Deutschen Philosophie zu Luther geht. Vgl. Hirsch 1998b; Dierken 2005b. Der Beitrag entstand im Rahmen eines Forschungsprojekts, das vom Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF-Projekt P 25900-G15) gefördert wird. Eine Vorversion des Textes erschien unter dem Titel „La Riforma fu quindi fin dall’inizio incompiuta, non ciò che doveva diventare, bensì solo il suo inizio“. L’interpretazione schellinghiana della Riforma luterana (vgl. Danz 2017a). 2 Vgl. nur Hegels bekannte Äußerungen, in der Reformation sei „das Prinzip der Subjektivität, der reinen Beziehung auf mich, die Freiheit, nicht nur anerkannt: sondern es ist schlechthin gefordert, daß es nur darauf ankomme im Kultus, in der Religion. Dies ist die höchste Bewährung des Prinzips, daß dasselbe nun vor Gott gelte, nur der Glaube des eigenen Herzens, die Überwindung des eigenen Herzens nötig sei; damit ist denn das Prinzip der christlichen Freiheit erst aufgestellt und zum Bewußtsein, zum wahrhaften Bewußtsein gebracht worden.“ (Hegel 1982, S. 130f.) Vgl. hierzu Dierken 2005a. 3 So vermeldet es die Allgemeine Zeitung, Nr. 60, 1. März 1815, 239 mit Verweis auf einen Hamburger Korrespondenten. Vgl. auch den Brief F.W.J. Schellings an J.F. Cotta vom 19. Februar 1815, in: Fuhrmans/ Lohrer 1965, S. 94f. sowie F.W.J. Schelling an seine Mutter, 22. Februar 1815, in: Plitt 1870, S. 350-354. Auch Goethe erwähnt das Gerücht im Jahre 1816 im Zusammenhang der Bemühungen um eine Berufung Schellings an die Universität Jena: „Weiß man denn, ob er katholisch ist“ (Tilliette 1974, S. 228)? 4 Vgl. Brouwer 2011; Danz 2008.
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Augenschein, dann stößt man auch bei ihm auf Bezugnahmen auf die Reformation. Nicht nur in den frühen Ausarbeitungen, die am Tübinger Stift entstanden sind, ist Luther ein Thema, ebenfalls in seinen späteren Arbeiten beruft er sich bisweilen auf die Reformation. Seit 1807 ist das sogar verstärkt der Fall. Das dürfte kein Zufall sein, da sich in dieser Zeit – bedingt durch den sich abzeichnenden gesellschaftlichen Wandel, die napoleonischen Kriege sowie den Wiener Kongress, die mit diesem einhergehenden territorialen Verschiebungen und Neuordnungen der politischen Kräfteverhältnisse – in den zeitgenössischen Debatten geradezu eine neue Aufmerksamkeit auf die Reformation beobachten lässt, die sich von der des vorangegangenen Jahrhunderts unterscheidet. Das schlägt sich nicht nur in den Reformationsjubiläen um 1817 nieder,5 überdies in der „Erfindung“ der deutschen Nation,6 dem Wiederbeleben von konfessionellen Gegensätzen7 sowie dem Auftauchen des Topos’, die Reformation sei unvollendet geblieben.8 Alle diese Motive finden sich ebenso in den Schriften Schellings aus dieser Zeit. Die Reformation, so heißt es in den Stuttgarter Vorlesungen von 1810, brachte einen „Sturz der Hierarchie“ mit sich.9 Erst dadurch wurde der Staat auf die Herstellung der äußeren Einheit beschränkt, während die Kirche auf die innere bezogen ist. Beide, Religion und Politik, wurden mithin durch die Reformation getrennt.10 Mit der Reformation verbindet Schelling die Freiheit der Wissenschaft, die allerdings – und auch das findet sich in den Diskursen dieser Zeit – unvollkommen durchgeführt wurde.11 Das Motiv der unvollendeten Reforma5
Vgl. nur den Überblick bei Wendebourg 2011, bes. S. 270: „Denn nie wurden so viele Reformationsjubiläen begangen wie im 19. Jahrhundert, nie feierte man den religiösen Umbruch des 16. Jahrhunderts und seine protestantischen Protagonisten so eifrig wie in dieser Zeit.“ 6 Vgl. hierzu Nipperdey 1986; Graf 2004. 7 Vgl. hierzu Nowak 1995, S. 64-72. 8 Zur Verbindung des Diktums der unvollendeten Reformation mit dem Gedanken der nationalen Einheit um 1800 vgl. hierzu Brandhorst 1981, S. 35-92. Zur Vorgeschichte des Topos im Pietismus und der Aufklärung vgl. ebd., S. 28-34. Vgl. auch Hirsch 1998a, S. 127. 9 AA II,8, S. 152. Schellings Werke werden, sofern nichts anderes vermerkt, nach folgenden Ausgaben und Siglen zitiert: Schelling 1856-61 (= SW, Band- und Seitenangabe); Schelling 1976ff. (= AA, Reihen-, Band- und Seitenangabe). 10 Dieser Gedanke findet sich bereits in den in Jena gehaltenen Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, die 1803 publiziert wurden. „Das ursprüngliche Symbol aller Anschauung Gottes in ihr [sc. dem Christentum als eine „auf Anschauung des Unendlichen im Endlichen gerichteten Religion“] ist die Geschichte, aber diese ist endlos, unermeßlich, sie muß also durch eine zugleich unendliche und doch begränzte Erscheinung repräsentirt werden, die selbst nicht wieder real ist, wie der Staat, sondern ideal, und die Einheit aller im Geist bey der Getrenntheit im Einzelnen als unmittelbare Gegenwart darstellt. Diese symbolische Anschauung ist die Kirche, als lebendiges Kunstwerk.“ (AA I,14, S. 125) Zu Schellings Staatsphilosophie vgl. Danz 2013a; Barth 2017. 11 So heißt es in den Vorlesungen über Philosophie der Kunst: „Der Protestantismus entstand und war historisch nothwendig. Preis den Heroen, welche zu jener Zeit, für einige Theile der Welt wenigstens, die Freiheit des Denkens und der Erfindung auf ewig befestigten! […] Aber die nur zu bald eintretende Folge der Reformation war, daß an die Stelle der alten Autorität eine neue, prosaische, buchstäbliche trat. Die ersten Reformatoren selbst wurden noch von den Wirkungen der Freiheit, die sie gepredigt hatten, überrascht.“ (AA II,6,2, S. 173f.). Denselben Gedanken formuliert Schelling auch in AA I,14, S. 130f.
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tion ist in späteren Texten aufgenommen, so in dem im Frühjahr 1846 verfassten Vorwort zu H. Steffens nachgelassenen Schriften: „Die Reformation war daher von Anfang unvollendet, nur der Beginn dessen was werden sollte, nicht es selbst.“12 Schelling verbindet mit der Reformation, wie viele andere seiner protestantischen Zeitgenossen auch,13 den Topos der Nation, der Trennung von Staat und Kirche. Vor allem aber misst er ihr eine entscheidende Bedeutung für die Herausbildung der Wissenschaft zu. In einem nachgelassenen Fragment mit dem Titel Ueber das Wesen deutscher Wissenschaft begegnen die genannten Momente in gebündelter Form und werden auf den Wissenschaftsbegriff zugespitzt. Nach der nothwendigen Zeit des Uebergangs und der Entzweiung nehmen wir dieses durch die religiöse Revolution eines früheren Jahrhunderts begonnene Werk an eben dem Punkte auf, wo es verlassen wurde. Jetzt fängt die Zeit der Vollführung und Vollendung an.14
Vollendung der unvollendet gebliebenen Reformation durch die Wissenschaft, das ist der Anspruch, den Schelling in diesem Text mit seiner Philosophie verknüpft.15 Von hier aus lassen sich Verbindungslinien zu dem Projekt einer philosophischen Religion ziehen, dem Leitbegriff, unter dem das Spätwerk des Leonbergers insgesamt steht.16 Aus dem genannten Stichwort lässt sich auch erheben, wie er die Reformation verstanden und welche Akzente er in dem zeitgenössischen Streit um die Deutungshoheit der religiösen Revolution des 16. Jahrhunderts gesetzt hat. Damit ist das Thema der nachfolgenden Überlegungen benannt: Schellings Deutung der Reformation im Horizont der zeitgenössischen Debatten über die Bedeutung der Religion für die Integration und Identitätsstiftung der sich zu fragmentieren beginnenden Gesellschaft. In einem ersten Abschnitt ist der Bezug auf Luther im Frühwerk des Philosophen in den Blick zu nehmen. Vor diesem Hintergrund wird es in dem zweiten Abschnitt um den bereits genannten Aufsatz Ueber das Wesen
12 SW X, S. 409. 13 Friedrich Schleiermacher erblickt die Bedeutung der Reformation in der Konzentration auf die religiöse Vertiefung, der Bildung der Laien und der Trennung der Religion von der Politik. Vgl. Schleiermacher 1999, S. 384. Vgl. Gerber 2015, S. 355f. Vgl. auch Hegels Rede zum Jubiläum der Confessio Augustana im Jahre 1830 an der Berliner Universität: Hegel 1958. Vgl. hierzu den Überblick bei Wendebourg 2011, S. 290-303. 14 AA II,7,2, S. 485. 15 Der Gedanke einer Vollendung der Reformation durch die Wissenschaft ist im 19. Jahrhundert bei protestantischen Intellektuellen verbreitet. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wird er, nun freilich vor einem gegenüber der Zeit um 1800 veränderten politischen und gesellschaftlichen Hintergrund von David Friedrich Strauß in seinem Leben Jesu für das deutsche Volk aufgegriffen. Die Scheidung des Zeitlichen und Überzeitlichen in dem neutestamentlichen Christusbild vorzunehmen, also die historisch-kritische Untersuchung der neutestamentlichen Evangelien, sei die nächste Aufgabe des Protestantismus, und genau darin, so der Anspruch, vollendet sich die Reformation. Dazu „soll das vorliegende Werk von wissenschaftlicher Seite her einen Beitrag leisten“ (Strauß 1864, S. XX). 16 Vgl. Buchheim 2015; Franz 1992.
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deutscher Wissenschaft gehen. In ihm hat sich der Philosoph am deutlichsten zur Reformation und deren Bedeutung für seine eigene Gegenwart geäußert. In dem abschließenden dritten Abschnitt wird ausgeführt, ob und wie sich seine Reformationsdeutung im Spätwerk ändert. In den Fokus ist hier sein Vorwort zu H. Steffens nachgelassenen Schriften zu rücken. Es ist einer der wenigen von Schelling selbst zum Druck gegebenen Texte, der ausführlich auf die Reformation und die preußische Kirchenpolitik der 1840er Jahre auf der Grundlage seiner Spätphilosophie Bezug nimmt.
1. „rauh und wild – aber groß, wie Luthers Geist“, oder: der Reformator im Frühwerk Schellings Bezüge auf Martin Luther finden sich bereits in den Texten, die der junge Theologiestudent in den 1790er Jahren an der Universität Tübingen verfasst hat. Sie stehen im Kontext der akademischen Ausbildung des Theologiestudiums an einer lutherischen Fakultät.17 Luther war im Unterrichtsbetrieb der Tübinger Fakultät in Vorlesungen über die lutherischen Bekenntnisschriften präsent, die vor allem der Theologe Ludwig J. Uhland hielt.18 Das ist in der Zeit üblich. Zwischen der Theologie Luthers und der des Altprotestantismus und den Bekenntnisschriften wird noch nicht unterschieden. Zwar hatte bereits der Hallenser Theologe Johann Salomo Semler auf Differenzen zwischen dem Reformator und der altlutherischen Theologie hingewiesen,19 aber das wurde von Schelling, der sich in seinen exegetischen Arbeiten auf Semler bezieht, nicht rezipiert. Der Bezug auf Luther erfolgte während der Zeit von Schellings Studium nicht in Form einer historischen Rekonstruktion der Theologie des Reformators. In den Texten des jungen Theologen kommt er in diesem Sinne auch nicht vor. Die Bezugnahme auf den Wittenberger Theologen ist eher exegetischer Natur. Schelling hatte seit dem Beginn seines Studiums an der Universität Tübingen im Wintersemester 1790/91 verschiedene Kommentare zu biblischen Büchern verfasst. Um 1790 arbeitete er im Rückgriff auf Vorlesungen Christian Friedrich Schnurrers eine eigene Kommentierung des alttestamentlichen Buches Hiob aus.20 Hier findet sich bei der Auslegung von Hiob 12, 5 ein Verweis auf den Reformator. 17 Zum Theologiestudium am Tübinger Stift vgl. Franz 2007. Dem Theologiestudium ging in Tübingen ein zweijähriges Studium der Philosophie voraus. Zum Studienplan vgl. Franz 2005. 18 Vgl. Ordo praelectionum Tübingen, Sommersemester 1792, S. 3. Uhland hat derartige Vorlesungen zu den lutherischen Bekenntnisschriften oder zur Liturgie der lutherischen Kirche auch in den folgenden Jahren während Schellings Theologiestudium angekündigt. 19 Vgl. hierzu Raatz 2008; Brandhorst 1981, S. 30f. 20 Diese Kommentierung ist in drei Studienheften Schellings in dessen Nachlass überliefert, der in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften aufbewahrt wird. Es handelt sich um die Hefte mit der Nachlasssignatur NL 18, 19 und 20, vgl. AA II,1,2.
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„Gewönlich: fax contemta est justus, cogitationibus tranquilli paratus est vacillantibus pede. Sehr vndeutl[ich]. Verachtete Fakel? Im deutschen wäre freilich nach Luther ein ‚verachtetes Lichtlein‘ sehr deutlich.“21 Der Reformator wird zur Klärung von exegetisch-philologischen Fragen herangezogen. Dasselbe Bild zeigt sich auch in den anderen exegetischen Arbeiten des jungen Schelling. Durchweg fungiert, sofern überhaupt auf ihn Bezug genommen wird, Luthers Bibelübersetzung als eine mögliche Referenzgröße bei der Klärung von Übersetzungsfragen. Das ist auch bei Schellings eigener Kommentierung des Römerbriefs nicht anders. In seinen Heiligabend 1792 begonnenen Animaduersiones ad quædam loca Epistolæ ad Romanos findet sich lediglich ein Verweis auf Luther in einer Anmerkung, die einer philologischen Frage gilt.22 Für die Erläuterung des paulinischen Glaubensbegriffs, der im Fokus des Interesses des jungen Schelling steht und der dem jüdischen Gesetz entgegengesetzt wird, spielt der Reformator – obwohl diese Frage im Zentrum von dessen Theologie steht – keine Rolle.23 Das Glaubensverständnis des Paulus deutet der junge Tübinger Theologe durchweg vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Debatten der Aufklärungstheologie als ein sittliches Selbstbewusstsein, als innere „moralische Gesinnung, besonders in Bezug auf Gott, sie mag nun gewirkt seÿn, durch was sie will“.24 Die Gesinnungsreligion des Glaubens ist dem sinnlichen und äußeren Gesetz der mosaischen Religion entgegengesetzt. Der lutherische Gedanke der Rechtfertigung ohne des Gesetzes Werke wird somit moralphilosophisch reformuliert, ohne dass auf den Reformator dabei Bezug genommen wird. In dem im Frühjahr 1794 entstandenen Kommentar zum Platonischen Dialog Timaeus findet sich eine merkwürdige Stelle, in der Luther erwähnt wird. Hier heißt es in einer Anmerkung ganz am Anfang der Ausarbeitung: „Wie sich doch die Sprache der Wahrheit in allen Zeiten so gleich ist!“25 Schelling kommt sodann auf das Verhältnis von Offenbarung und dem einen Gott zu sprechen und fährt fort: Übrigens ist jene ganze Verfahrungsart nichts anders als eine Erhebung der Offenbarung auf Kosten der Vernunft, was niemals für diese oder jene vorteilhaft ausschlagen kann, es ist eine Unbilligkeit, die sich mit der Aufrichtigkeit eines unbefangenen Geschichtsforscher’s nicht verträgt, eine Unbilligkeit die ganz das vergißt, was sie doch täglich vor Augen sieht [...].26
Am Ende heißt es: Wie würde es um die Geschichte aussehen, wenn jenes Verfahren allgemeingeltend würde, wie unbillig wäre es z.B. zu behaupten, daß vor Luther niemand so weit (oder
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AA II,1,2, S. 77. AA II,4, S. 37-136, hier S. 63 Anm. Zu Schellings Paulus-Deutung vgl. Arnold 2019. AA II,4, S. 50. AA II,5, 151. Ebd., S. 151f.
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wohl noch weiter) gesehen habe, als er, weil vor ihm keiner es wagte, das politische Joch der Hierarchie abzuwerfen? Und was müßte, unter jener Voraussetzung, die Nachwelt von unsrem Zeitalter urteilen??27
In den überlieferten Dokumenten, Briefen und sonstigen Materialien des jungen Schelling ist diese Bemerkung singulär und schwer einzuordnen. Sie steht sicherlich im Kontext von Deutungen der Reformators aus der Zeit der Aufklärung, wie sie sich auch bei Lessing finden,28 den der junge Theologe intensiv rezipiert hat. Das Motiv, mit der Reformation sei eine Befreiung von dem politischen Joch der Hierarchie verbunden, wird Schelling in seinen späteren Texten wieder aufnehmen. Es ist signifikant für die protestantische Reformationsdeutung um 1800. In einem Brief an seine Eltern vom 2. Mai 1796, in dem Schelling von seiner Reise durch Thüringen berichtet, taucht es wieder auf. Nach Gotha waren wir über Eisenach gekommen. Ein ¼tel Stunde vor der Stadt erhebt sich die Wartburg, umgeben von Wald und Felsen – ein heiliger Berg – einst das Asyl der verfolgten Freiheit. Wie gern hätte ich ihn erstiegen, u. die ganze umliegende Gegend – rauh und wild – aber groß, wie Luthers Geist, – überschaut.29
In Schellings Schriften aus der Zeit seines Studiums in Tübingen wird Luther als Exeget herangezogen, wenn es um die Klärung von philologischen Auslegungsproblemen der Bibel geht. Daneben stehen Äußerungen zu dem Reformator, in denen er als Befreier von der Hierarchie der römischen Kirche verstanden wird. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Texten des Wittenberger Theologen findet sich hingegen nicht, jedenfalls lässt sich eine solche nicht anhand von Dokumenten belegen. Explizit begegnet das Thema Reformation in Schellings identitätsphilosophischen Schriften um 1800 in den Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums sowie den Vorlesungen über Philosophie der Kunst. „Der Protestantismus entstand“, so die Methodenvorlesungen von 1802/03, und war auch zur Zeit seines Ursprungs eine neue Zurückführung des Geistes zum Unsinnlichen, obgleich dieses bloß negative Bestreben, außerdem es die Stetigkeit in der Entwickelung des Christenthums aufhob, nie eine positive Vereinigung und eine äußere symbolische Erscheinung derselben, als Kirche, schaffen konnte.30
Der Protestantismus wird hier in die identitätsphilosophische Konstruktion der Religionsgeschichte eingeordnet und als Negation der äußeren Hierarchie der Kirche gefasst, als Zurückführung der Religion auf die Dimension des Inneren, dem jedoch 27 Ebd., S. 152. 28 Vgl. nur Lessing 1982, hier S. 442: Luther habe die Menschheit vom Joch der Tradition befreit, nun müsse es aber darum gehen, „uns von dem unertrüglichern Joche des Buchstabens“ zu erlösen. „Wer bringt uns endlich ein Christentum, wie du es itzt lehren würdest; wie es Christus selbst lehren würde!“. 29 AA III,1, S. 69. 30 AA I,14, S. 131.
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eine äußere Gestalt fehlt.31 An diese Stelle trat die Bibel, eine Autorität „todter[,] in ausgestorbnen Sprachen geschriebener Bücher“, die „ihrer Natur nach nicht bindend seyn konnte, eine viel unwürdigere Sclaverey, die Abhängigkeit von Symbolen, die ein bloß menschliches Ansehen für sich hatten“.32 Die Kritik an der Gestalt, die sich der Protestantismus in Form der Bindung an die Bibel gegeben hat, folgt Überlegungen, die von Lessing inspiriert sein könnten.33 Dem setzt Schelling seinen identitätsphilosophischen Religionsbegriff entgegen, demzufolge Religion die symbolische Darstellung der absoluten Identität im Besonderen ist und die er in den Würzburger Vorlesungen durch die Bestimmungen der Gewissenhaftigkeit, des Heroismus und des Glaubens strukturiert.34 Religion ist der „Ausdruck der höchsten Einheit des Wissens und des Handelns“.35 Die eben skizzierte Deutung der Reformation, auf der einen Seite durch die Negation der kirchlichen Hierarchie eine Freiheit des Denkens durch Rückführung der Religion und der Kirche auf die Innerlichkeit, und damit eine Trennung der Kirche von dem Staat, herbeigeführt zu haben, und auf der anderen, dass die Reformatoren es nicht vermochten, der innerlichen Religion eine angemessene äußere Gestalt zu geben, behält Schelling in seinen weiteren Schriften bei.36 Zu einem eigenen Studium der Schriften des Reformators scheint Schelling erst im Zusammenhang seiner Arbeit an der Freiheitsabhandlung gekommen zu sein. Im Januar 1809 hat er Luthers Schrift gegen Erasmus von Rotterdam, De servo arbitrio von 1525, gelesen und Passagen aus der Schrift exzerpiert.37 31 Zur identitätsphilosophischen Religions- und Christentumskonstruktion vgl. Danz 2011a. Auch den „Wiederbeginn der Wissenschaften in unserm Welttheil“ (AA I,14, S. 66) identifiziert Schelling in der Methodenvorlesung mit Reformation und Renaissance. 32 AA I,14, S. 131. Vgl. hierzu auch die gleichlautenden Ausführungen in der Philosophie der Kunst, AA II,6,1, S. 173. 33 Vgl. oben Anm. 26. 34 Vgl. F.W.J. Schellings System der gesammten Philosophie, AA II,7,1, S. 428: „Es ist Religion, es ist Heroismus, es ist Treue gegen sich selbst und Gott.“ Zur Deutung des Identitätssystems vgl. Danz 2017b; Whistler 2013. 35 AA II,7,1, S. 429. 36 Vgl. nur die oben angeführten Bestimmungen aus den Stuttgarter Privatvorlesungen, AA II,8, S. 152 und 154. 37 Im Kontext seiner Ausführungen zum Freiheitsbegriff verweist Schelling in der Schrift von 1809 auf Luther und kritisiert dessen Freiheitsbegriff. „Daß Judas ein Verräther Christi wurde, konnte weder er selbst noch eine Kreatur ändern, und dennoch verrieth er Christum nicht gezwungen, sondern willig und mit völliger Freyheit.“ (AA I,17, S. 153). An dieser Stelle setzt Schelling eine Anmerkung, in der es heißt: „So Luther im Tractat de servo arbitrio; mit Recht, wenn er auch die Vereinigung einer solchen unfehlbaren Nothwendigkeit mit der Freyheit der Handlungen nicht auf die rechte Art begriffen.“ (AA I,17, S. 153, Anm.) Schelling hatte Luthers Schrift, wie aus seinem Tagebuch hervorgeht, am 29. Januar 1809 aus der Königlichen Hof- und Staatsbibliothek zu München ausgeliehen. Vgl. Schelling 1994, S. 6 (Tagebucheintrag vom 20. Januar 1809); Schulte 1993, hier S. 271. Die Exzerpte, die er sich aus Luthers Schrift angelegt hatte, finde sich in dem Nachlassheft mit der Signatur NL 76 in dem Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Vgl. hierzu auch Danz 2008. Laut dem Verzeichnis von Schellings Bibliothek hatte er von Luther selbst eine Ausgabe der
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2. Stärkung der Nation durch „Wiedergeburt der Religion durch die höchste Wissenschaft“, oder: Schellings Reformationsdeutung um 1810 In gebündelter und zugespitzter Weise finden sich die bisher genannten Aspekte von Schellings Reformationsdeutung in einem aus dessen Nachlass überlieferten Fragment mit dem Titel Ueber das Wesen deutscher Wissenschaft. Karl Friedrich August Schelling, der dieses Fragment in dem Band acht der von ihm herausgegebenen Werkausgabe erstmals publizierte, datierte es auf die Jahre „1812 oder 1813“, merkt jedoch an, dass es „vielleicht aber auch schon früher, geschrieben zu seyn scheint“.38 Das in dem Text traktierte Verhältnis von Wissenschaft, deutscher Nation und Religion dürfte die Datierung motiviert haben, das Fragment in dem Kontext des von Schelling seit 1811 vorangetriebenen Zeitschriftenprojekts Allgemeine Zeitschrift von Deutschen für Deutsche zu verorten. In der von dem Philosophen verfassten Vorrede der Zeitschrift heißt es programmatisch zu deren Intention, die sich zugleich als Konkurrenzunternehmen zu dem von Friedrich Schlegel in Wien herausgegebenen Deutschen Museum versteht:39 Die wissenschaftliche, die religiöse, die sittlich, die künstlerische Bildung ihrer Zeit, dieses werden die Cardinalpunkte seyn, die sie [sc. die Allgemeine Zeitschrift] ins Auge faßt, wie eben diese am Ende die verborgenen Triebräder der Geschichte selbst sind.40
Das sind die Themen, die auch in dem Fragment diskutiert werden. Allerdings stammt der Text Ueber das Wesen deutscher Wissenschaft aus dem Jahre 1807.41 In dem Nachlass-Fragment knüpft Schelling das, was er deutschen Geist und deutsche Wissenschaft nennt, sowie sein eigenes Denken an die Reformation an. Seit zuerst deutscher Geist von vorhandenem Glauben sich losriß, sofern er entweder von aller Wissenschaft leer oder auf einengenden und todten Formen derselben gegründet war, von diesem Augenblick nur den Kräften der Wissenschaft und klarer Erkenntniß vertrauend – seit dieser Zeit existirt deutsche Wissenschaft in der ganzen Eigenthümlichkeit ihrer Bedeutung. Von da an sind ihre Fortschritte nicht mehr zufällig noch ins Unbestimmte (wie die anderer Nationen) gerichtet; sie haben ein bestimmtes Ziel, eine nothwendige Richtung.42
Die Deutung der Reformation als Geburtsstunde der deutschen Nation, die es als geschichtliche Größe oder politische Realität um 1800 gar nicht gibt, sowie
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Tischreden sowie zwei Briefausgaben des Reformators besessen: Nr. 853. D. Martin Luthers bisher ungedruckte Briefe Leipzig 1780, 3 Bde.; Nr. 855. Luther’s Tischreden, Salfeld 1745; Nr. 856. Luther’s Briefe, 2 Thle Salfeld 1756. (v. Eman. Gründler herausg.). Vgl. Müller-Bergen 2007, S. 217f. SW VIII, S. VI. Zu Schlegels Zeitschriftenprojekt vgl. Behler 1983, S. 100-146. SW VIII, S. 140. Vgl. den Brief F.W.J. Schellings an F.H. Jacobi vom 16. Juni 1807, in: Schelling 1975, S. 440f. AA II,7,2, S. 481.
die Rückführung eines Wissenschaftsverständnis, welches sich als unabhängig von kirchlichen Autoritäten versteht, sind signifikant für die zeitgenössischen Diskurse über Nation, und zwar nicht nur in Deutschland.43 In Schellings Geschichtsdeutung fungiert die Reformation als Ausgangspunkt der Entwicklung eines Verständnisses von Wissenschaft, das sich in seiner eigenen Philosophie vollendet. „Jetzt fängt die Zeit der Vollführung und Vollendung an.“44 Schelling versteht die Reformation selbst schon als eine wissenschaftliche Revolution.45 Luther stellte dem Katholizismus „die Metaphysik des Gefühls“ entgegen.46 Die Reformation führte diese Metaphysik und damit die wahre Wissenschaft in die Geschichte ein, jedoch durch einen Bruch bzw. eine Auflösung der bisherigen kirchlichen Einheitskultur. Der aus der lutherischen Reformation resultierende Gegensatz und Widerspruch der Konfessionen bestimmt die Eigenart des deutschen Geistes und seiner wissenschaftlichen Entwicklung. Der konfessionelle Gegensatz wird von Schelling als Beleg für die besondere Aufgabe der deutschen Nation gewertet. Das Hervortreten des Konfessionsgegensatzes durch die Reformation führte zur Ausdifferenzierung auch der Wissenschaften. Die vormalige Einheit, unter deren Harmonie die Gegensätze verborgen lagen, entwickelt sich in seine Extreme, um sich in diesen zu vernichten.47 Daraus entsteht eine höhere Einheit, die das notwendige Ziel der durch die Reformation ausgelösten Entwicklung darstellt.48 „Die Wissenschaft mußte über alle ihre möglichen Formen zum freien und klaren Bewußtseyn kommen, um in einer göttlichen Indifferenz zu endigen, welches ihr wahrer Charakter ist.“49
43 Vgl. hierzu Nipperdey 1996, S. 123, der darauf hinweist, dass der romantische Nationalismus ein gesamteuropäisches Phänomen und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchaus kein konservatives Projekt darstellt. „Die romantischen Nationalisten waren politisch allesamt Liberale, sie waren gerade in Deutschland, Opposition, links von der Mitte.“ Zur Verbindung des romantischen Nationalismus mit der Reformation vgl. Brandhorst 1981, S. 36f. 44 AA II,7,2, S. 485. 45 Vgl. ebd., S. 482: „Die geistige Umänderung des 16ten Jahrhunderts war eine Revolution durch Wissenschaft, durch wahre Metaphysik bewirkt gegen den Mechanismus und die Physik des damaligen religiösen Glaubens.“ 46 Ebd. 47 Vgl. ebd., S. 482f. 48 Vgl. ebd., S. 482: „Damals, zu jener Zeit entschiedener Lossagung von überliefertem Glauben gelobte deutscher Geist und that sich selbst den Schwur, den Gegensatz bis zur vollkommenen Auflösung durchzuführen, die Einheit, die er als einen Zustand erkenntnißlosen Friedens verließ, auf einer höheren Stufe als bewußte Einheit, in größerem Sinn und weiterem Umfang einst wiederherzustellen.“ Vgl. auch ebd. S. 482f. 49 AA II,7,2, S. 483. Ähnliche Konstruktionen hat Schelling mit Blick auf die Entwicklung der Philosophie in seinen Würzburger Propädeutik-Vorlesungen ausgeführt. Vgl. F.W.J. Schelling, Propädeutik der Philosophie, AA II,7,1, S. 51-98. Vgl. schon Troxler 1988. Auch in den Stuttgarter Vorlesungen von 1810 findet sich solch ein Abriss der Entwicklung der Philosophie der Neuzeit, vgl. AA II,8, S. 112-118, bes. S. 118: „Also da die Zersetzung bis aufs Aeußerste herab fortgesetzt war, so blieb nichts mehr übrig, als wieder auf den ersten Gegensatz zurückzugehen, von dem alle neuere Philosophie anfing, und der allein nicht aufgelöst war – nämlich zwischen Identität und Dualität. Und dieß habe ich versucht. Ich habe immer erklärt, daß die abso-
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Die Reformation läuft damit auf die Identitätsphilosophie hinaus, in der sich jene vollendet, die selbst noch unvollendet geblieben war. Die Reformation erscheint deshalb in Schellings Deutung selbst schon als eine Kritik am „Mechanismus und [der] Physik des damaligen religiösen Glaubens“.50 Luther und seine „Magie des Glaubens“,51 die ihn vom Katholizismus abheben, sind ein Bild für die Identitätsphilosophie.52 Der deutsche Geist, also die Identitätsphilosophie, brachte, wenn auch noch nicht als solche bewusst, Luther und ebenso Kant hervor.53 Auch Fichte wird in diese „Wolke von Zeugen“ eingeordnet.54 Nach Kant, der in der mit seinem Werk vorgenommenen „Regeneration der Erkenntniß“,55 die auf negative Weise zu dem An-sich hinführte, welches den Erscheinungen zugrunde liegt, konnte „der Mann [sc. Fichte] hervortreten, der das wahre Wesen alles An-sich wieder erkannte, der fand, daß das allgemeine An-sich die Quelle der Selbstbewegung, der Selbstoffenbarung und Bejahung – der Ichheit – sey“.56 Fichte bleibt jedoch lediglich eine Etappe auf dem Weg der deutschen Wissenschaft zu ihrer Vollendung, deren notwendige Richtung mit der Reformation hervorgetreten ist. Auch Johannes Kepler, Friedrich Heinrich Jacobi und Gotthold Ephraim Lessing sowie Spinoza – der durch „Sinn und Verständnis“ den „Deutschen“ gehört, und nicht den „französischen und englischen Atheisten“57 –, Jacob Böhme und Johann Georg Hamann sind Darstellungen des deutschen Geistes, der erst in der Identitätsphilosophie zu einem klaren Wissen von sich selbst kommt.58 Als Zielpunkt der Entwicklung des deutschen Geistes identifiziert Schelling die Identitätsphilosophie, die, wie in anderen Texten um 1810 auch, als Wissenschaft bzw. als Programm einer objektiven Wissenschaft im Anschluss an Kant verstanden wird.59 In dem Fragment Ueber das Wesen deutscher Wissenschaft wird das identitätsphi-
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lute Identität bei mir nicht bloße Identität, sondern Identität der Einheit und des Gegensatzes sey.“ AA II,7,2, S. 482. Ebd. Vgl. ebd.: „Das Princip, die Seele alles Glaubens, siegte über die Materie und den Leib, der sich selbst zu genügen anfing.“ Vgl. ebd. S. 484: „Es wäre eine große Beschränktheit der Ansicht, in den späteren wissenschaftlichen Veränderungen Deutschlands kein höheres Princip zu erblicken als den Geist der einzelnen Männer, durch die sie begonnen wurden. Wie in den früheren religiösen [sc. Luther] war es auch in diesen das Wesen, der Geist der Nation selbst, aus dem sie ihren Ursprung wie die Kraft und den Antrieb ihrer Fortbildung erhielten.“ Ebd., S. 485. Ebd., S. 484. Ebd. Ebd., S. 484f. Vgl. ebd., S. 484: „Dahin, nach diesem Ziel hat alle deutsche Wissenschaft getrachtet von Anbeginn, nämlich die Lebendigkeit der Natur und ihre innere Einheit mit geistigem und göttlichem Wesen zu sehen.“ Vgl. nur als ein Beispiel unter anderen für den Gebrauch des Wissenschaftsbegriffs zur Beschreibung seines eigenen Anliegens die Einleitung in das Weltalter-Fragment aus den Sämmtlichen Werken, SW VIII, 199-206. Vgl. hierzu Ziche 2014; Danz 2018a.
losophische Wissenschaftsprogramm als organische Metaphysik beschrieben. „Alle Metaphysik, sie äußere sich nun speculativ oder praktisch, beruht auf dem Talent, ein Vieles unmittelbar in Einem und hinwiederum Eines in Vielem begreifen zu können, mit einem Wort auf dem Sinn für Totalität.“60 Die Grundlage einer solchen objektiven Wissenschaft ist auch hier das methodische Verfahren der Konstruktion, durch das das Besondere nicht als Isoliertes und Einzelnes, sondern als Darstellung des Allgemeinen konstruiert wird.61 Damit ist ein Systemanspruch verbunden, der einerseits auf strikte Objektivität abzielt und andererseits mechanische und deduktive Konzeptionen der Kritik unterzieht. Ganz in diesem Sinne wird in dem Fragment die Identitätsphilosophie dem mechanischen Denken gegenübergestellt. „Metaphysik ist der Gegensatz alles Mechanismus, ist organische Empfindungs-, Denk- oder Handlungsweise.“62 Wie in anderen identitätsphilosophischen Texten der Zeit findet das mechanische Denken seinen Ausdruck in den Theorien „der absolute[n] Personalität des Einzelnen“63 und dem „Scheinleben des Subjekts“.64 Aus der Absonderung der Persönlichkeit, deren Fassung als absoluter Einzelheit resultieren ein Atomismus des Staatsdenken, die Theorien vom Staatsvertrag und dem Staat als Maschine.65 Der mechanische Staat löst das Individuum, welches Schelling in dem Fragment der Persönlichkeit entgegensetzt, auf.66 Die Überwindung der Auflösung des Individuellen durch die Maschine des Staats verbindet Schelling mit seiner Identitätsphilosophie und der durch sie wiedergeborenen Religion. Das sei die eigentliche „Aufgabe des deutschen Geistes, das bestimmte Ziel aller seiner Bestrebungen“.67 Die Religion repräsentiert den deutschen Geist und fungiert zugleich als Integrationsmedium der durch den mechanischen
60 AA II,7,2, S. 486. 61 Vgl. F.W.J. Schelling Ueber die Construktion in der Philosophie, AA I,12,2, S. 491-513. Vgl. hierzu Ziche 2011; Danz 2018b. 62 AA II,7,2, S. 486. 63 Ebd. 64 Ebd., S. 483. Die Ablehnung eines Subjekts als Grundlage eines Systems des Wissens sowie der Einzelpersönlichkeit sind nicht nur für die Darstellung des Würzburger Systems von 1804 signifikant, sondern auch für die Texte Schellings um 1810. In den Stuttgarter Vorlesungen wird die Seele, die hier als das Höchste im Menschen aufgefasst wird, ausdrücklich als etwas Unpersönliches aufgefasst und der Persönlichkeit entgegengesetzt. „Die Seele ist das eigentlich Göttliche im Menschen, also das Unpersönliche, das eigentlich Seyende, dem das Persönliche als ein Nichtseyendes unterworfen seyn soll.“ (AA II,8, S. 160) Vgl. hierzu Ziche 2004. Ähnliche Überlegungen finden sich auch in dem Fragment Ueber das Wesen deutscher Wissenschaft. 65 Vgl. AA II,7,2, S. 487: „Aus dieser trüben Quelle schnödester Selbstsucht und Feindseligkeit aller gegen alle entstand sodann der Staat durch menschliche Uebereinkunft und gegenseitigen Vertrag.“ Zum Staat als Maschine vgl. AA II,7,2, S. 487f. 66 Vgl. ebd., S. 488: „Aller Mechanismus vernichtet die Individualität, gerade das Lebendige geht nicht in ihn ein und ist ihm nichts. Alles Große und Göttliche aber geschieht immer durch Wunder, d. h. es erfolgt nicht nach allgemeinen Gesetzen der Natur, sondern durch das Gesetz und die Natur des Individuums. Vertilgung der Individualität ist eben die Richtung eines unmetaphysischen, bloß mechanisch geformten Staates.“ 67 Ebd., S. 485.
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Staat zersplitterten Gesellschaft.68 Was unter der durch die Wissenschaft wiedergeborenen Religion zu verstehen sei, bleibt in dem Fragment Ueber das Wesen der deutschen Wissenschaft offen. Da sie aus dem Konfessionsgegensatz als dessen Überwindung hervorgehen soll, kann sie weder mit der lutherischen noch mit der katholischen Religion identisch sein. Andernfalls würde die durch die Wissenschaft wiedergeborene Religion lediglich den Gegensatz fortschreiben und könnte damit aber auch nicht als Ausdruck des deutschen Geistes und als inneres Einheitsband der Nation fungieren.69 Deutlich ist lediglich, die Religion wird mit der organischen Metaphysik und dem Seelenbegriff verknüpft und ebenso wie Wissenschaft und Kunst als „erhabenste Aeußerungen der Seele“ beschrieben, die „ohne eine kräftige Sinnlichkeit todt und unwirksam für die Welt sind“.70 Ähnliche Bestimmungen der Religion finden sich auch in anderen identitätsphilosophischen Texten, in denen jene mit dem Seelenbegriff verbunden wird. So erklären die Stuttgarter Vorlesungen, in denen Schelling ebenfalls den Religionsbegriff nur wenig erläutert, Religion als unbedingtes Walten der Seele. Endlich kann die Seele auch ganz rein, ohne alle besondere Beziehung und völlig unbedingt wirken. Dieses unbedingte Walten der Seele ist Religion, nicht als Wissenschaft, sondern als innere und höchste Seligkeit des Gemüths und Geistes. Tugend, Wissenschaft
68 Vgl. ebd.: „Die deutsche Nation strebt mit ihrem ganzen Wesen nach Religion, aber ihrer Eigenthümlichkeit gemäß nach Religion, die mit Erkenntniß verbunden und auf Wissenschaft gegründet ist“. Vgl. auch ebd. S. 488: „Die deutsche Nation ist ihrem innersten Wesen nach religiös; […] deutsches Gemüth bedarf eines innigeren Bandes.“ Der Gedanke begegnet so auch in den Stuttgarter Vorlesungen, AA I,8, S. 154: „Was auch das letzte Ziel seyn möge, so ist so viel gewiß, daß die wahre Einheit nur auf dem religiösen Wege erreichbar seyn kann, und daß nur die höchste und allseitigste Entwicklung der religiösen Erkenntniß in der Menschheit fähig seyn wird, den Staat, wo nicht entbehrlich zu machen und aufzuheben, doch zu bewirken, daß er selbst allmählich sich von der blinden Gewalt befreie, von der er auch regiert wird und sich zur Intelligenz verkläre.“ Genau darin besteht, wie Schelling fortfährt, die Funktion der durch die Reformation von dem Staat unterschiedenen Kirche für den Staat. „Nicht daß die Kirche den Staat oder der Staat die Kirche beherrsche, sondern daß der Staat selbst in sich das religiöse Princip [sc. nämlich die Seele als das Unpersönliche] entwickle, und der große Bund aller Völker auf der Grundlage allgemein gewordener religiöser Ueberzeugungen beruhe.“ (Ebd.). 69 Der Gedanke einer Überschreitung der positiven Religionen findet sich so auch in anderen Texten Schellings. Bereits in seiner Magisterdissertation über den Ursprung des Bösen konstruiert er am Ende der Arbeit im Anschluss an Lessings Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechts eine Entwicklungsgeschichte, die auf ein Zeitalter der Vernunft zuläuft. Vgl. AA I,1, S. 147. Aufgenommen ist der Gedanke auch in den identitätsphilosophischen Schriften. In seinem Aufsatz Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt aus dem Jahre 1802 wird Lessings Begriff des ewigen Evangeliums und die mit diesem Gedanken verbundene Überschreitung der geschichtlichen Religionen aufgenommen. „Ob dieser Moment der Zeit, welcher für alle Bildungen der Zeit und die Wissenschaften und Werke der Menschen ein so merkwürdiger Wendepunct geworden ist, es nicht auch für die Religion seyn werde und die Zeit des wahren Evangeliums der Versöhnung der Welt mit Gott sich in dem Verhältniß nähere, in welchem die zeitlichen und bloß äußeren Formen des Christenthums zerfallen und verschwinden, ist eine Frage, die der eignen Beantwortung eines jeden, der die Zeichen des Künftigen versteht, überlassen werden muß.“ (AA I,12,2, S. 471) Vgl. hierzu Danz 2011b. 70 AA II,7,2, S. 491.
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und Kunst sind hier noch verwandt mit der Religion, ja sie haben nur Eine Wurzel mit ihr (obgleich sie deßwegen nicht Eines sind).71
Das Fragment Ueber das Wesen der deutschen Wissenschaft versteht die Identitätsphilosophie als Vollendung der Reformation. Die durch die Wissenschaft wiedergeborene Religion setzt Schelling als inneres Einheitsband der deutschen Nation an. Die Religion wird damit als Ausdruck des deutschen Geistes konstruiert. Worin diese Religion jedoch besteht und wie sie sich von den geschichtlichen Religionen unterscheidet, lässt der Text offen.
3. Vollendung der Reformation durch die Wissenschaft, oder: die Reformationsdeutung in Schellings Spätwerk Die Überzeugung, die Reformation sei unvollendet geblieben und harre noch ihrer Weiterführung und Vollendung, hat Schelling auch in seinem späteren Werk nicht fallen gelassen oder aufgegeben. Jene bildet ein konstantes Element in seinem Denken. Unter den Texten des Spätwerks ist es sein Vorwort zu H. Steffens nachgelassenen Schriften, an dem er im Frühjahr 1846 arbeitete,72 in denen er sich am ausführlichsten zur Reformation äußerte. Allerdings hat sich in den zurückliegenden Jahren der politische, soziale und kulturelle Hintergrund verändert. Das deutet Schelling selbst an, wenn er schreibt, „unversehens“ sei die ganze Zeit theologisch geworden, alles ohne Unterschied nach diesen Fragen sich drängt, taub gegen die Stimme Gutmeinender, die an die frühere Zeit erinnern, wo alles der Art abgethan schien, selbst jede Polemik gegen das Christenthum von schlechtem Geschmack war [...].73
71 AA II,8, S. 168. Ebenso hatte Schelling bereits in seinen Würzburger Vorlesungen sowie am Ende der Freiheitsabhandlung Religion bestimmt. Vgl. F.W.J. Schelling, System der gesammten Philosophie, AA II,7,1, S. 428: Für „die Seele, welche in der Identität mit Gott ist, gibt es kein Gebot mehr […], sie handelt der bloßen Notwendigkeit ihrer Natur gemäß“. Sittlichkeit wird hier als Religion, als eine Anweisung zum seligen Leben verstanden, die gleichsam jenseits des Sittengesetzes steht. „Religiosität bedeutet schon dem Ursprunge nach ein Gebundenseyn des Handelns, keineswegs aber eine Wahl zwischen Entgegengesetztem, wie man bei der Freiheit des Willens annimmt, nicht ein aequilibrium arbitrii, wie man es nennt, sondern die höchste Entschiedenheit für das Rechte, ohne Wahl.“ (Ebd., S. 429) In der Freiheitsabhandlung hat Schelling diese Überlegungen aufgenommen. Vgl. AA I,17, S. 158: „Wir verstehen Religiosität in der ursprünglichen, praktischen Bedeutung des Worts. Sie ist Gewissenhaftigkeit, oder daß man handle, wie man weiß, und nicht dem Licht der Erkenntniß in seinem Thun widerspreche.“ Vgl. hierzu Schwenzfeuer 2017. 72 In dem Tagebuch von 1846 finden sich sowohl Hinweise als auch Vorarbeiten zu dem Vorwort. Vgl. Schelling 1998, S. 6f., S. 29f., S. 34f., S. 38f., S. 44., S. 57. Am 29. Mai 1846 notierte sich Schelling in seinem Tagebuch, dass er seine Exemplare des Vorworts zu den nachgelassenen Schriften von Steffens erhalten habe. Vgl. ebd., S. 59. 73 SW X, S. 398.
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Mit seinem Vorwort von 1846 bezieht der Philosoph auch Stellung zu den Kontroversen über die Verfassung der preußischen Kirche in den 1840er Jahren. Friedrich Wilhelm IV. wollte nach seinem Regierungsantritt im August 1840 durch eine neue Kirchenordnung die schwellenden Konfessionsgegensätze zwischen Unierten und Lutheranern in Preußen überwinden. Auf der im Juni 1846 in Berlin zusammengekommenen Generalsynode wurde die Kirchenverfassung – Grundzüge einer Kirchenverfassung für die evangelische Kirche in den sechs östlichen Provinzen der Monarchie – debattiert.74 In dem späten Vorwort deutet Schelling die Reformation als Befreiung der Wissenschaft aus den Fesseln der Autorität,75 und wie um 1810 ist er der Auffassung, die Reformation sei unvollendet geblieben.76 Auch hier ist es die Wissenschaft, der die Aufgabe zugeschrieben wird, die unvollendete Reformation zu vollenden. Das reformatorische Christentum wird in dem Text von 1846 als eine Art Innerlichkeitsreligion gedeutet, der, wie sich in dem gegenwärtigen Streit über die Verfassung der protestantischen Kirche zeigt, eine angemessene äußere Gestalt fehlt.77 Der Protestantismus setzte in der Reformation das „Bekenntniß“ gegen die „Kirche, von der er sich trennte“. Aber mit Aufstellung der Lehren, durch die er sich von ihr schied, war seine Mission nicht vollendet. […] Er suchte mit ihnen selbst noch etwas Höheres und Allgemeineres. Er suchte die unsichtbare Kirche, an deren Stelle, sie verdrängend, die äußere und sichtbare sich gesetzt hatte.78
Unvollendet ist die Reformation also deshalb, weil die Fassung der Religion, die der Protestantismus dem Christentum gegeben hat, keine Allgemeine ist. Die wahre Allgemeinheit kann nur die innere und wesentliche seyn, die beruht auf der absoluten Allgemeinheit der christlichen Principien selbst, und erreicht ist, wenn eben diese Allgemeinheit erkannt ist, daß das Christentum zu seiner Voraussetzung keine andern Verhältnisse hat, als durch welche auch die Welt besteht [...].79
Die Reformation vollendet sich somit in der Erkenntnis der Prinzipien der christlichen Religion, da diese dadurch allgemein wird. 74 Aus seinem Tagebuch von 1846 geht hervor, wie intensiv Schelling diese Kontroversen zur Kenntnis genommen hat. Vgl. Schelling 1998, S. 37-39, S. 71, S. 82f., S. 100. Vgl. hierzu von Thadden 1997, hier S. 370f.; Rathgeber 2010, bes. S. 314-318. 75 Vgl. SW X, S. 399, wo Schelling die Unabhängigkeit der Philosophie von jeder Autorität auf die Reformation zurückführt. Die Philosophie, so heißt es hier, wird „die Folgen der Reformation, in ihrer ganzen Ausdehnung, und bis zu dem Extrem voraussetzen, zu welchem es nur stufenweise gekommen ist, wenn auch scharfsinnige Geister den notwendigen Gang längst vorausgesehen hatten“. 76 Zum Diktum der unvollendeten Reformation vgl. ebd., S. 409. 77 Vgl. ebd., S. 407f. Das stellte Schelling schon in der Methodenvorlesung heraus. Vgl. AA I,14, S. 131. Vgl. auch oben Anm. 11. 78 SW X, S. 408. 79 Ebd., S. 409.
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Die Aufgabe der Wissenschaft ist es, das Christentum so zu erkennen, dass es zur allgemeinen Religion werden kann.80 Die Wissenschaft ist auch hier von dem Persönlichen und damit vom Glauben unterschieden.81 Jene ist mit dem Allgemeinen und dessen Strukturen beschäftigt, während der Glaube eine persönliche Erfahrung darstellt. Eine objektive Erkenntnis des Christentums erlangt somit lediglich die Wissenschaft, nicht aber der Glaube.82 Durch die Erkenntnis der Wissenschaft kommt es erst zu einer allgemeinen Religion. Diese wird wie bereits in dem Fragment Ueber das Wesen der deutschen Wissenschaft erst durch eine Wissenschaft möglich, die objektiv und allgemein ist. Worin diese allgemeine Religion besteht, die Erkenntnis sein soll und in der sich die Reformation vollendet, lässt auch das Vorwort zu H. Steffens nachgelassenen Schriften offen. Zieht man andere Texte aus dem Spätwerk des Philosophen heran, dann legt es sich nahe, jenes begriffene und dadurch allgemein gewordene Christentum mit der philosophischen Religion zu identifizieren, die geradezu als Leitbegriff bzw. Programmformel des Spätwerks fungiert.83 Diese ist, wie es in der Philosophischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie heißt, zwar gefordert, aber sie existiert nicht.84 Auch die philosophische Religion soll „das letzte Erzeugniß und der höchste Ausdruck der vollendeten Philosophie selbst seyn“,85 also durch die Wissenschaft wiedergeboren werden. Als Resultat der religionsgeschichtlichen und philosophischen Entwicklung begreift sie die ihr vorausgegangenen geschichtlichen Religionen, und darin soll sie, wie Schelling betont, selbst Religion sein.86 Nur als solche, also als reflexiv gewordene Religion, 80 Vgl. SW X, S. 409: „Solange er [sc. der Protestantismus] jene wahre Allgemeinheit nicht erreicht hatte, war der Protestantismus zwar – auch Kirche, aber nur eine Art von Kirche.“ 81 Vgl. ebd., S. 406: „Der Glaube bleibt so etwas ganz für sich, unabhängig von aller Wissenschaft, frei sogar von jeder Berührung mit derselben, weil rein von allem Allgemeinen, das Persönlichste, in das als innerstes Heiligthum menschlicher Freiheit nichts von außen, auch nicht die Wissenschaft, eingreift.“ Vgl. hierzu die oben zitierte Stelle in Anm. 61 aus den Stuttgarter Vorlesungen (AA II,8, S. 160). 82 Vgl. SW X, S. 405: „Auf der Erfahrung aber kann der Einzelne stehen, nicht so die Kirche.“ 83 In dem Tagebuch von 1846 finden sich im Kontext von Schellings Arbeit an dem Vorwort jedenfalls Einträge, die auf das Konzept einer philosophischen Religion sowie ihr Verhältnis zu den geschichtlichen Religionen Bezug nehmen, auch wenn offen bleiben muss, wann diese in das Tagebuch eingetragen wurden. Vgl. Schelling 1998, S. 90-99. Die Überlegungen aus dem Tagebuch über natürliche, geoffenbarte und philosophische Religion sind aufgenommen in der Vorlesung Einleitung in die Philosophie der Mythologie. Historisch-kritische Einleitung in die Philosophie der Mythologie, SW XI, S. 243-252, sowie in den Eingangspartien der Philosophischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie, ebd., S. 255f. 84 Vgl. ebd., S. 256: „Die philosophische Religion, wie sie von uns gefordert ist, existiert nicht.“ Vgl. auch ebd., S. 250. 85 Ebd., S. 250. 86 Vgl. ebd., 249. Thomas Buchheim hat zu Recht gegen Franz 1992, S. 92, geltend gemacht, dass die von Schelling so genannte philosophische Religion nicht mit der positiven Philosophie identisch ist. Vgl. Buchheim 2015, S. 426: „Wir können somit als erste These über das Wesen der philosophischen Religion festhalten, dass sie, wenn sie einmal existieren würde, dann jedenfalls nicht identisch wäre mit Schellings positiver Philosophie.“ Als Religion geht sie erst aus dem philosophischen Erkennen hervor – freilich ohne von der Philosophie gleichsam ‚ge-
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kann sie die Funktion erfüllen, die ihr der Philosoph zugedacht hat, nämlich die Verwirklichung der verborgenen Kirche „im Geist und in der Erkenntniß“ zu sein.87 Die philosophische Religion ist dann aber auch mehr als das geschichtliche Christentum. Schelling grenzt die aus der Erkenntnis der vollendeten Wissenschaft hervorgegangene philosophische Religion ausdrücklich von den Konzeptionen einer Vernunftreligion ab, wie sie von der Aufklärung, aber auch von Kant und Hegel ausgearbeitet worden sind.88 Diese transformieren die Religion lediglich in Vernunft, statt die geschichtlichen Religionen als etwas Eigenes zu erfassen.89 Schellings Insistieren, die Religion habe ein von der Philosophie und der Vernunft unabhängiges Prinzip, da sie auf einem realen Verhältnis des Bewusstseins zu Gott beruhe, lässt sich als Versuch verstehen, Kriterien zur Beurteilung der Religionsgeschichte aus dieser selbst zu gewinnen und eben nicht aus einem bereits vorausgesetzten und an die Religion herangetragenen Vernunftbegriff.90 Nimmt man seinen Hinweis in dem Vorwort von 1846 auf Lessings Forderung aus dem Paragraphen 76 der Erziehungsschrift ernst, es gehe darum, dass „der Vernunft die Möglichkeit der Verhältnisse einleuchtend gemacht ist, auf denen die christlichen Hauptlehren beruhen“,91 dann wird man die Forderung der philosophischen Religion vor dem Hintergrund der Konstruktion der religionsgeschichtlichen Entwicklung des Wolfenbütteler Bibliothekars sehen können. Auch Lessing zufolge läuft die Religionsgeschichte auf eine allgemeine und reflexiv gewordene Vernunftreligion hinaus, die sich durch die Auseinandersetzung mit den geschichtlichen Religionen erst herausbildet, darin jedoch sowohl die alttestamentliche Religion als auch das Christentum hinter sich lässt.92 Die Vollendung der unvollendeten Reformation besteht für Schelling in einer
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schaffen‘ zu werden –, ist aber als solche nicht mit ihr identisch. Ähnliche Überlegungen finden sich, wie dargelegt, bereits in den Stuttgarter Vorlesungen und in dem Fragment Ueber das Wesen der deutschen Wissenschaft. Vgl. nur die oben zitierte Stelle aus AA II,8, S. 168. SW X, S. 410. Diese der sogenannten positiven Philosophie zugeschriebene Aufgabe nimmt, wie oben anhand des Fragments Ueber das Wesen der deutschen Wissenschaft dargestellt, grundlegende Aspekte der frühen identitätsphilosophischen Konzeption auf. Das umstrittene Verhältnis von negativer und positiver Philosophie im Spätwerk Schellings kann im Rahmen dieses Beitrags nicht eigens diskutiert werden. Vgl. hierzu Buchheim 1992. Deutlich ist, was jedoch einer genauen Rekonstruktion der werkgeschichtlichen Entwicklung der Spätphilosophie vorbehalten bleiben muss, dass sich das späteste Denken Schellings mit seiner Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie nicht als Kritik an der frühen Identitätsphilosophie verstehen lässt. Vgl. SW X, S. 401: „Mit der Offenbarung sich beschäftigen, um sie nur wieder in Philosophie, d.h. in das, was unabhängig von ihr schon gewußt ist, aufzulösen, wäre ein der Philosophie unwürdiges Treiben, da sie vielmehr immer auf Erweiterung des menschlichen Wissens bedacht seyn soll.“ Vgl. SW XI, S. 244-246. Vgl. hierzu Danz 2013b. SW X, S. 404f. Darin, dass sich die Vernunftreligion durch die Auseinandersetzung mit den inhaltlichen Bestimmungen der geschichtlichen Religionen herausbildet, unterscheidet sich Lessings Vernunftreligion, die als Zielgedanke der Religionsgeschichte fungiert, von den Konzeptionen Kants und Hegels. Vgl. hierzu Danz 2011b. Zu Lessings Religionsphilosophie vgl. auch Danz 2016.
Religion, die ganz Erkenntnis und dadurch allgemein geworden ist. Bis zu diesem Zeitpunkt bleibe die äußere Gestalt der Kirche notwendig eine „vorläufige“93 und damit veränderbare. Erst die sich in der Erkenntnis vollendende innere Religion gibt sich eine äußere Gestalt, die dann auch von dem Staat unabhängig ist.94 Blickt man von diesem Resultat noch einmal auf den Gang der Ausführungen zurück, dann zeigt sich ein hohes Maß an Kontinuität in Schellings Äußerungen zur Reformation Martin Luthers. Mehr noch, ihre Deutung betrifft keinesfalls einen nebensächlichen Aspekt seiner Philosophie. Ähnlich wie Hegel wird auch von Schelling sein eigenes Denken in einen engen Zusammenhang mit der Reformation gerückt und als Vollendung derjenigen Freiheit des Denkens verstanden, die mit dem Werk des Wittenberger Theologen in die Geschichte eingetreten ist.
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93 SW X, S. 410. 94 Vgl. ebd., S. 413: „Und nicht der Staat kann die Kirche frei machen, sie selbst muß sich befreien, nicht durch Auflehnung, sondern durch Erringen der inneren Selbständigkeit, welcher von selbst die äußere folgt. Und auch nicht frei lassen wird sie der Staat, sondern sie wird frei seyn von dem Augenblick, wo sie den Inhalt ihres Glaubens nicht mehr als einen besondern, sondern als den wahrhaften und durch sich selbst allgemeinen hat.“ Karl Friedrich August Schelling hat in seinem 1848 veröffentlichten Buch Protestantismus und Philosophie diese Deutung der Reformation Schellings aufgenommen und auf den Protestantismus übertragen. Die Spätphilosophie Schellings fungiert hier als Grundlage für „die Vollendung des Protestantismus“ (Schelling 1848, S. 151), durch die das Christentum „zu einer Macht des Gedankens“ (ebd., S. 153) wird und sich dadurch als allgemeine Kirche vom Staat unterscheidet. „So lange der Proceß dauert, muß die Kirche (nicht was ihr Daseyn, wohl aber was ihre Ausbildung in der Verfassung betrifft) in einem bloß provisorischen Zustand bleiben.“ (ebd., S. 156) Schelling hat, wie aus seinem Tagebuch von 1848 hervorgeht, an dem Buch seines Sohnes mitgearbeitet. Vgl. Schelling 1990, S. 46, S. 77, S. 81.
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Moritz May Die politische Theologie des Verfassungsstaates. Schelling und Marx über Restauration und Revolution
Dass Karl Marx seit Anfang der 1840er Jahre bis zum Ende seines Lebens eine Vielzahl von Kritiken an Hegels Philosophie geschrieben hat, aber keine einzige an Schellings, ist keine Selbstverständlichkeit. Schließlich ist es Schellings Philosophie, die Marx noch nach Fertigstellung seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie im Oktober 1843 die „preussische Politik sub specie philosophiae“1 nennt. Damit spricht er eine damals verbreitete Ansicht in der hegelianischen Linken aus. Dennoch hat das Thema ‚Von Schelling bis Marx‘ bislang kaum Interesse in der Forschung erregt.2 Marx’ Ansicht, nicht Hegel, sondern Schelling repräsentiere die politische Philosophie des restaurativen Preußen unter Friedrich Wilhelm IV., ist zunächst durch den biographischen Umstand bedingt, dass Hegel bereits 1831 gestorben war. Schelling stellte seine Vorlesungstätigkeiten dagegen erst 1846 ein und arbeitete bis zu seinem Tode an der Darstellung der reinrationalen Philosophie, die auch seine Ausführungen über das Politische letzter Hand enthält. Schelling steht in Marx’ Augen für eine Restaurationspolitik, die auch am Katheder ausgefochten wird. Trotz dieser offenkundigen Opposition von Schelling und Marx hinsichtlich ihrer jeweiligen politischen Parteinahme, lassen sich dennoch auch Parallelen und gar Gemeinsamkeiten der beiden nachweisen. So ist es in den Grundzügen dieselbe Kritik am revolutionären Konstitutionalismus des Bürgertums, welche Schelling und Marx üben: ein säkularer Verfassungsstaat arbeite mit unausgesprochenen Hypotheken, unter deren Schuldenlast sein Anspruch von Freiheit und Humanität letztlich 1 Marx an Feuerbach, 3. Oktober 1843, MEGA2 III,1, S. 59. Die Sigle MEGA2, Abteilung, Band, Seite verweist auf Engels/Marx 1975ff. 2 Zu den Ausnahmen gehören die Arbeiten Jürgen Habermas’ (Habermas 1954 u. 1971), diejenigen Manfred Franks (die Einleitung zur Edition der Philosophie der Offenbarung in Schelling [1841/42] 1993 u. Frank 1992), und ferner – in erster Linie mit Blick auf die Naturphilosophie – eine Vielzahl an Arbeiten von Hans Jörg Sandkühler (exemplarisch: Sandkühler 1984, S. 13-80). Deutlich wird allerdings, dass sich diese wie andere Forschungsliteratur fast ausschließlich entweder auf die Frage nach den einem Materialismus kommensurablen Zügen der schellingschen Philosophie oder aber auf die Wirkungsgeschichte von Schellings Hegel-Kritik konzentriert. So gibt Habermas selbst zu, dass in seinem Aufsatz neben seinen systematischen Thesen die „Frage einer geistesgeschichtlichen Kontinuität“ offenbleibe (Habermas 1971, S. 215). Ansätze zur Beantwortung dieser Frage sind in der Forschung zu Ludwig Feuerbachs Funktion als Bindeglied zwischen Schelling und Marx gemacht worden, dies am deutlichsten in den oben genannten Schriften Manfred Franks.
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zusammenbreche. In die Kritik nehmen sie damit die Aporien politischer Emanzipation, der eine im Namen von König und Restauration, der andere von Revolution und Proletariat. Dabei fokussieren beide auf die sich herausbildende Sphärendifferenz zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat. Sie benennen dabei denjenigen Zustand als den entfremdeten oder sündhaften, in welchem der Staat das Primat eingeräumt bekommt und das wirkliche menschliche Zusammenleben unterdrücke. Bezüglich der politischen Konsequenzen dieser Kritik am liberalen Konstitutionalismus könnte der Unterschied zwischen Schelling und Marx freilich nicht größer sein. Während Marx die menschliche Emanzipation nur durch eine radikale Umwälzung der ‚materiellen‘ Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft verwirklichen zu können meint, entwickelt Schelling eine Philosophie des monarchischen Staates, der im Sinne einer tragenden Basis die Bedingung des gesellschaftlichen Lebens stellen soll, gegen den sich mittels einer Revolution zu wenden illegitim sei. Bevor im zweiten und dritten Abschnitt des Aufsatzes auf diese Thesen zu sprechen zu kommen ist, wird im ersten Abschnitt ein Umweg genommen. Nachgezeichnet werden in diesem die Linien, welche sich von Schellings Wirken zu Marx nachweisen lassen.
1. Von Schelling zu Marx Drei Fluchtlinien lassen sich von Schelling zu Marx’ Schriften der 1840er Jahre ziehen. Erstens handelt es sich dabei um die linkshegelianische Wahrnehmung von Schelling als dem Repräsentanten der historischen, positiven und romantischen Schulen in Deutschland. Zweitens wird Schelling aber auch affirmativ innerhalb der hegelianischen Linken rezipiert: Einerseits betrifft das seine Kritik an Hegel, andererseits die frühe Auseinandersetzung mit theistischen Gottesvorstellungen. Drittens ist Schellings Einfluss auf die französischen Sozialisten zu nennen, der als einer unter anderen Gründen zum Scheitern des Projektes der Deutsch-Französischen Jahrbücher führte, und damit den endgültigen Zerfall der hegelianischen Linken besiegelte. Bereits zu Lebzeiten galt Schelling als Repräsentant verschiedener, durchaus nicht immer mit seiner eigenen Philosophie zu vereinbarenden Schulen und Fraktionen. Exemplarisch ordnet ihn bereits Heinrich Heine in seinem Buch Die Romantische Schule ebendieser zu.3 Dass auch Marx zwischen Romantik, positiver Philosophie und christlicher Restauration im Allgemeinen kaum unterscheidet, obwohl dies zweifelsfrei angebracht gewesen wäre, bezeugen seine Pläne zu einer Reihe von Aufsätzen 1842: „über religiöse Kunst“, „die Romantiker“, „Das philosophische
3 Heine [1835] 1996, S. 432-434.
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Manifest der historischen Rechtsschule“ und „die positiven Philosophen“, welche „dem Inhalt nach zusammen[hängen]“.4 Überliefert ist von diesen Aufsätzen einzig der Artikel zur historischen Rechtsschule. Gemeinsam mit einer Endnote zur Doktordissertation über Schelling, Hegel und den ontologischen Gottesbeweis dürfen diese beiden Dokumente wohl als deutlichste Stellungnahmen vonseiten Marx in dieser Hinsicht gelten. Er überschätzt freilich die Geschlossenheit der in seinen Artikeln behandelten Schulen. Schelling setzt sich bereits früh von einer ‚politischen Romantik’, wie sie sich exemplarisch bei Novalis findet,5 ab. Die zwei Brennpunkte, um welche die linken Hegelianer in ihrer Auseinandersetzung mit Schelling elliptisch kreisen, sind dessen Kritik am hegelschen Primat der Logik vor der Natur einerseits, sowie die politischen Ereignisse um seine Antrittsvorlesung in Berlin 1841 andererseits. Letztere sind umfassend in Manfred Franks Edition der Philosophie der Offenbarung aufgearbeitet.6 Hier bleibt nur noch einmal hervorzuheben, dass Schellings Berufung zunächst auch von den linken Hegelianern in gespannter Erwartung aufgenommen wurde, diese Haltung aber bereits während der ersten Wochen in Enttäuschung umschlug. Die politischen Hintergründe von Schellings Berufung gaben hierbei der philosophischen Rezeption die Richtung vor. Exemplarisch dafür können Friedrich Engels Kritiken der Philosophie der Offenbarung stehen, in denen er Schelling in erster Linie als Repräsentanten einer politisch forcierten Kritik an Hegel, weniger aber als eigenständigen Denker wahrnimmt.7 Eine affirmative Rezeption dieser Kritik an Hegel findet sich bei Ludwig Feuerbach. Schelling erhebt als erster den wirkmächtigen Vorwurf der Sphärenvermengung: Hegel überfordere die Möglichkeitssphäre des Denkbaren – wie er sie in der Wissenschaft der Logik darzustellen beanspruche – damit, sie aus eigener Kraft der Wirklichkeitssphäre des Seienden sich bemächtigen zu lassen.8 Einen ähnlichen Vorwurf lässt sich von Feuerbach zum ersten Mal in einer Notiz nachweisen, welche er selbst offenbar nachträglich auf 1827/28 datiert:
4 Vgl. Marx and Ruge, 27. April 1842, MEGA2 III,1, S. 26. 5 Siehe zum Beispiel die Fragmentensammlung Glauben und Liebe oder der König und die Königin über König Friedrich Wilhelm III. und seine Gattin Luise (Novalis [1798] 1965, S. 485-503). Zu der Beziehung von Friedrich Wilhelm IV. zur Romantik, s. Kroll 1990, bezüglich des frühromantischen Organismuskonzeptes und seinem Verhältnis zur Verfassungsfrage, bes. S. 65-78. 6 Siehe die Einleitung des Herausgebers in Schelling [1841/42] 1993, S. 7-84, sowie die Dokumente zu Schellings erstem Vorlesungszyklus, ebd., S. 495-581. 7 Siehe die drei Aufsätze Schelling über Hegel, Schelling und die Offenbarung und Schelling, der Philosoph in Christo, oder die Verklärung der Weltweisheit zur Gottesweisheit (MEGA² I,3, S. 256-338). Dasselbe gilt für Arnold Ruges immerhin zehnseitige Besprechung und Zusammenfassung von Engels’ Auseinandersetzung mit Schelling in den Deutschen Jahrbüchern (Ruge 1842, S. 502-512). 8 Vgl. Hühn 2009, S. 138f. Zur Wirkungsgeschichte von Schellings Kritik an Hegel, siehe auch Burkhardt 1993.
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Wie verhält sich das Denken zum Sein, wie die ‚Logik’ zu Natur? Ist der Übergang von jener zu dieser begründet? Wo ist die Notwendigkeit, wo das Prinzip dieses Übergangs? […] Gäbe es keine Natur, nimmermehr brächte die unbefleckte Jungfer ‚Logik’ eine aus sich hervor.9
Es ist bereits für das Jahr 1825 nachgewiesen, dass Feuerbach die Schriften Schellings bekannt gewesen sind.10 Nahezu im Wortlaut von Schellings Philosophie der Offenbarung formuliert Feuerbach auch 1843 in seinen Vorläufigen Thesen zur Reformation der Philosophie einen Kerngedanken des Einwandes gegen Hegel: „Das Denken ist aus dem Sein, aber das Sein nicht aus dem Denken.“11 Marx selbst hat Feuerbach zu Beginn der 1840er Jahre mit Schelling in Verbindung gebracht; prägnant im Brief vom 3. Oktober 1843, in welchem er Feuerbachs Bedeutung nicht zuletzt darin sieht, dass dieser der „umgekehrte Schelling“12 sei. Die zweite dokumentierte Rezeptionslinie setzt bei dem an, was Marx den „aufrichtigen Jugendgedanken“13 Schellings nennt, und welchem er abtrünnig geworden sei. Zu vermerken ist hier allerdings, dass an dieser vielzitierten Stelle allein nicht ablesbar ist, worauf sich Marx bei diesem aufrichtigen Jugendgedanken bezieht. Die marxistische Tradition hat ihn meist mit Schellings Naturphilosophie in Verbindung gebracht.14 Deren idealistische Grundhaltung ist allerdings schwer mit Marx’ eigener materialistischer, mitunter an Positivismus grenzender Naturauffassung vereinbar. Dass Marx die naturphilosophischen Schriften der 1790er Jahre überhaupt kannte, ist nicht nachgewiesen. Wahrscheinlicher ist daher, dass in diesem Brief Schellings frühe Kritik an einem objektiven, theistischen Gottesbegriff gemeint ist. Eine Auseinandersetzung mit dieser ist im Gegensatz zur frühen Naturphilosophie in Marx’ Schriften auch dokumentiert. In einer Endnote zur Dissertation zitiert er 9 Feuerbach [1827/28] 1971, S. 155f. 10 Feuerbach an Daub, 29. Januar 1825 (Feuerbach [1825] 1964, S. 238f.). In seiner Dissertation von 1828 zitiert Feuerbach aus Schellings System des transscendentalen Idealismus (1800) und aus dem Vortrag Ueber das Verhältniß der bildenden Künste zur Natur (Feuerbach [1828] 1962, S. 62 u. 66). Es ist unwahrscheinlich, dass Feuerbach zu diesem Zeitpunkt keine Kenntnis vom Zerwürfnis zwischen Hegel und Schelling gehabt haben sollte. Zu Feuerbachs Rezeption Schellings, vgl. Frank 1992, S. 280f., Anm. 52 u. Cornehl 1969. 11 Feuerbach [1843] 1970, S. 258. Vgl. bei Schelling: „Denn nicht, weil es ein Denken gibt, gibt es ein Seyn, sondern weil es ein Seyn gibt, gibt es ein Denken“ (SW XIII, S. 161, Anm. 1). Die Sigle SW, Band, Seite verweist auf Schelling 1856-61. 12 Marx an Feuerbach, 3. Oktober 1843, MEGA2 III,1, S. 59. Zugleich schreibt Marx Schelling einen bemerkenswerten, in dieser Tragweite jedoch wohl nicht zutreffenden politischen Einfluss zu: „Schelling hat nicht nur die Philosophie und Theologie, er hat die Philosophie und Diplomatie zu vereinigen gewußt. […] Ein Angriff auf Schelling ist also indirekt ein Angriff auf unsre gesammte und namentlich auf die die preussische Politik. Schellings Philosophie ist die preussische Politik sub specie philosophiae“ (Ebd.). Der Brief ist nur wenige Tage nach der Fertigstellung der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie geschrieben (vgl. MEGA2 I,2, S. 571). Damit ist die verbreitete Ansicht, Marx habe es mit Hegel aufgenommen, weil dieser in politischer Hinsicht der naheliegende Gegner gewesen sei, zumindest zu relativieren. 13 Marx an Feuerbach, 3. Oktober 1843, MEGA2 III,1, S. 59. 14 Vgl. Sandkühler 1984, S. 55.
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Schellings frühe Arbeiten von 1795 nach der Ausgabe von Schelling’s Philosophischen Schriften von 1809: Wir erinnern Herrn Schelling schließlich an die Schlußworte seines oben citirten Briefes: ‚Es ist Zeit, der bessern Menschheit die Freiheit der Geister zu verkünden, und nicht länger zu dulden, daß sie den Verlust ihrer Fesseln beweine.’ […] Wenn es schon anno 1795 Zeit war, wie im Jahr 1841? […] [D]ie Beweise für das Dasein Gottes sind nichts als Beweise für das Dasein des wesentlichen menschlichen Selbstbewußtseins, logische Explikationen desselben. […] In diesem Sinne alle Beweise für das Dasein Gottes Beweise für sein Nichtdasein, Widerlegungen aller Vorstellungen von einem Gott. Die wirklichen Beweise müßten umgekehrt lauten: […] ‚Weil der Gedanke nicht ist, ist Gott.’ Was besagt dieß aber, als, wem die Welt unvernünftig, wer daher selbst unvernünftig ist, dem ist Gott? Oder die Unvernunft ist das Dasein Gottes.15
Hebt Marx in seiner Dissertation gerade die gegen einen persönlichen Gottesbegriff gerichteten Figuren in Schellings Frühphilosophie hervor, so liegt nahe, dass sich auch die Charakterisierung Feuerbachs als dem ‚umgekehrten Schelling‘ nicht auf seinen naturphilosophischen, sondern auf den ‚atheistischen‘ Ansatz bezieht. Zuletzt ist anzumerken, dass es Schellings Philosophie des Christentums war, welche auf die französischen Sozialisten Einfluss übte und damit früh eine Verbindung zwischen der deutschen Philosophie und dem französischen Sozialismus herstellte. Der Sozialist Pierre Leroux hatte Schellings Berliner Philosophie der Offenbarung zum Teil ins Französische übersetzt und in einer Reihe von Artikeln in seine Vorstellungen integriert.16 Diese Wirkung Schellings auf die französischen Sozialisten und besonders auf Leroux war Marx schon vor der Emigration nach Paris bekannt.17 Es ist aber in erster Linie die Frage nach Religion oder Atheismus gewesen, welche letztlich zum Scheitern einer Kooperation zwischen den Franzosen und den Deutschen führte, und weshalb die Deutsch-Französischen Jahrbücher diesen Namen zu Unrecht trugen. Vermutlich hatte Marx’ Kritik am französischen Kommunismus als einer „dogmatische[n] Abstraction“, einem „eingebildeten und möglichen“, statt „wirklich existirende[n] Communismus“18 – Formulierungen die er üblicherweise für die christliche Religion reserviert – auch mit dieser in ihrer Rezeption Schellings klar hervortretenden Religiosität zu tun.19 Letztlich fanden sich
15 MEGA2 I,1, 90f. Zur Stelle bei Schelling, vgl. AA I,3, S. 58. Die Sigle AA, Reihe, Band, Seite verweist auf Schelling 1976ff. 16 In Auszügen in: Schelling [1841/42] 1993, S. 554-564. 17 Vgl. Marx an Feuerbach, 3. Oktober 1843, MEGA² III,1, S. 59. 18 MEGA² I,2, S. 487. 19 Zur Rekonstruktion des Scheiterns der Deutsch-Französischen Jahrbücher, s. MEGA² I,2, S. 537-547. Dass Schelling selbst weder vom Sozialismus noch vom Kommunismus viel hielt, bedarf keiner ausführlichen Begründung. Bemerkenswert ist dennoch der Umfang seiner Auseinandersetzung mit beiden Strömungen, die bereits im Jahr 1827 ansetzt (vgl. Sandkühler 1989, S. 208-213).
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die linken Hegelianer auch in Frankreich also in denselben Streit um die Religion verwickelt, wie schon in Deutschland.
2. Schellings politische Parteinahme Schelling ist zeitlebens eine politische Persönlichkeit gewesen. Als Staatsdiener an der Universität oder als Freund von Monarchen – einen großen Teil seines Lebens verbrachte er im Zentrum der Herrschaft. Freilich, bis auf wenige Ausnahmen hat er kaum öffentlich zu tagespolitischen Fragen Position bezogen; wie ein Staat aber nicht zu machen sei, daran hat Schelling auch öffentlich keine Zweifel gelassen.20 Zu widersprechen ist auch deshalb der gängigen Erzählung von Schellings Entwicklung vom revolutionären Republikaner zum reaktionären Monarchisten, welche ihm bereits im 19. Jahrhundert anhaftete und bis heute nachhallt. Im Folgenden wird stattdessen Schellings politisches Denken als das einer konservativen Bürgerlichkeit profiliert.21 Ein solches konservative Denken steht in keinem Widerspruch zu Schellings bereits früh formulierten Anspruch, dass Freiheit „Anfang und das Ende aller Philosophie“22 sein solle. Auch wenn Schelling wenig Interesse an den realpolitischen Interessenskonflikten seiner Zeit gezeigt hat, so wäre es dennoch nicht richtig, von seinen Schriften die Überlegungen zum Politischen abtrennen zu wollen. Es wäre kaum zu rechtfertigen, weshalb die innerhalb der Schelling-Forschung inzwischen weitgehend akzeptierte Leitlinie, dass es sich bei Schellings Philosophie um einen Diskurs über die Freiheit handelt, ausgerechnet nicht für den Themenbereich gelten sollte, in welchem traditionell die Frage nach der Freiheit am prononciertesten gestellt wurde. Wenn Schelling auch kein realpolitischer Kommentator oder Theoretiker seiner Zeit war, und sich auch mit konkreten Vorschlägen bezüglich der institutionellen
20 Auf Schellings persönliche politische Gesinnung ist hier nicht ausführlich einzugehen, dieser Aspekt ist auch mehr dem biographischen als dem philosophiegeschichtlichen Interesse zugeeignet (vgl. hierzu auch Hollerbach 1957, S: 14f. u. 263-274). Aus privaten Dokumenten – darunter in erster Linie die Jahreskalender (bes. Schelling [1848] 1990 u. Schelling [1849] 2007) – geht aber hervor, dass zumindest nicht alles Fassade und Rhetorik war, was er bezüglich der Politik öffentlich vertrat. 21 Unter ‚konservativer Bürgerlichkeit‘ ist zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht einfach die Haltung eines gemäßigten Reaktionärs zu verstehen; im Gegenteil sollten nach dem Schlusssatz von Joseph de Maistres Considérations sur la France von 1796 mit der Wiederherstellung der Monarchie nicht die entgegengesetzte Revolution, sondern das Gegenteil der Revolution erreicht werden („[L]e rétablissement de la monarchie, qu’on appelle contre-révolution, ne sera point une révolution contraire, mais le contraire de la révolution.“ (de Maistre [1796] 1814, S. 168)); an die Stelle gewaltsamer Unruhe, schmerzvoller Spaltung und andauernder und verzweifelter Oszillationen, sollten Stabilität, Frieden und universaler Wohlstand treten. 22 AA I,2, S. 101.
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Ordnung zurückgehalten hat, so ist er also dennoch nicht ‚antipolitisch‘ zu nennen, auch die Charakterisierung als einem ‚unpolitischem Denker‘ trifft nicht zu.23 Diesen verbreiteten entpolitisierenden Interpretationen von Schelling liegt eine Tradition der Periodisierung von Schellings Äußerungen zum Staat zugrunde, die ihren Ausgangspunkt in Jürgen Habermas’ Aufsatz Dialektischer Idealismus im Übergang zum Materialismus hat, nach der sich in Schellings Denken drei Deduktionen des Staates vorfänden.24 Diesen ‚drei Deduktionen‘ zufolge geht Schelling von einem zunächst revolutionären Staatsverständnis im sogenannten Ältesten Systemprogramm aus, welchem eine Zwischenperiode der schrittweisen Aufwertung des Staates zum „Organismus der Freyheit“25 bis in die Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums 1803 folge, um schließlich zu einer ablehnenden, ja „anarchistischen“26 Haltung zum Staat ab den Stuttgarter Privatvorlesungen zurückzukehren. Es braucht nicht näher darauf eingegangen werden, dass dieses Schema eines mechanistischen, dann organischen, schließlich theologisch überformten Staatsbegriffes eine Vielzahl seiner regelmäßig getätigten Äußerungen zur Politik unberücksichtigt lässt und 1810 – also mehr als vierzig Jahre vor Schellings letzten Stellungnahmen über diesen Themenbereich – abbricht. Unter Berücksichtigung der Vielzahl an Quellen, die in dieser Periodisierung außer Acht gelassen sind, lässt sich jedoch festhalten, dass Schellings politisches Denken von weitaus weniger Brüchen gezeichnet ist als in dieser Periodisierung angenommen. Der Kerngedanke, welcher seine Überlegungen zu diesem Thema von Anfang bis Ende durchzieht, ist die Zurückweisung der Monopolisierung des Politischen beim Staat, über deren Prozess auch in den deutschen Gebieten nach
23 Sandkühler 1989, S. 201; Habermas 1971, S. 172. Eine ähnliche, immerhin relativierende Formulierung ist die Claudio Cesas, Schelling sei „[u]nter den Denkern des klassischen deutschen Idealismus“ der „‚unpolitischste‘“ (Cesa 1986, S. 226). Am ehesten könnte man sich wohl noch der Bezeichnung Schellings als einem ‚metapolitischen‘ Denker (vgl. Zöller 2013, S. 68) anschließen. Damit wäre aber eher etwas über Schellings offenkundig skizzenhaftes, teils auch schematisches Verfahren gesagt, weniger über die Inhalte, mit denen er konkret befasst ist. 24 Habermas 1971, S. 172-177. 25 AA I,14, S. 140. 26 Habermas 1971, S. 175. Bei Bielfeldt 2016 finden sich eine Reihe Ansätze und möglicher Rezeptionslinien, die von Schelling nach Russland und bis zum späteren Anarchisten Michail Bakunin führen. – Interpretationen, welche Schelling selbst in die Nähe anarchistischer Positionen rücken, gehen dabei allerdings häufig selektiv vor. Sätze Schellings, wie der aus dem sogenannten Ältesten Systemprogramm, dass noch über den Staat hinauszugehen sei, er aufhören müsse (vgl. AA II,6,2, 483) sind nicht ohne weiteres mit Staatskonzeptionen auf einen Nenner zu bringen, wie sie mehr als ein halbes Jahrhundert später verbreitet waren. Zu keinem Zeitpunkt sind Schelling ernsthaft anarchistische oder gar libertäre Positionen nachzuweisen. Vorsichtiger in Beziehung auf solche Interpretationen ist Alexander Hollerbach mit seinem Urteil, Schelling lasse das Problem, ob Staat und soziale Ordnung grundsätzlich abzulehnen seien, offen (Hollerbach 1957, S. 115). Dagegen verweist Ryan Scheerlinck darauf, dass sich Schelling zunächst nur gegen alle Vertragstheorien menschlichen Zusammenlebens richtet, also gegen eine Überformung der öffentlichen Angelegenheiten durch die privatrechtlichen Formen der Legalität (vgl. Scheerlinck 2017, S. 353 Anm. 29, s. auch Hollerbach 1957, S. 127).
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der Französischen Revolution diskutiert wurde. Zu beachten ist dabei, dass der Staatsbegriff in den deutschen Ländern der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts allerdings noch sehr viel mehrdeutiger ist als einige Jahrzehnte später. Auch haftete dem Staatsbegriff ein akademischer, ja französischer Ton an. So schreibt der Historiker Heinrich Leo 1880 rückblickend auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts: Außer den großen Fürstenthümern hörte man das Wort Staat nur aus dem Munde der Professoren, und im Leben selbst herrschte statt dieses Abstractums fast überall noch der weit lebensvollere Begriff der heimischen Herrschaft; erst die volle Souverainität der Rheinbundsglieder und die französischen Schriftsteller machten das Abstractum Staat allgemeiner populär in Deutschland […].27
Aus diesem Grund ist die Opposition zur Verstaatlichung des Politischen weder mit der Option für die Ständeordnung, noch mit einer anarchistischen Position gleichzusetzen. Stattdessen votiert Schelling für einen Gesellschaftsbegriff, wie er sich besonders im 17. und 18. Jahrhundert innerhalb der aufgeklärten Eliten sich herausbildete, dem der societas civilis.28 [D]ie Weisheit unserer Vorfahren hat gewußt, innerhalb des Staats einzelne autonome Kreise zu bilden, innerhalb welcher sich der Einzelne frei wußte vom Staat, und die Ehre, die sein Stand jedem (auch dem Bauer und Handwerker) gewährte, ihn über die Demüthigung der völligen Unterwerfung unter den Staat erhob.29
Schelling versperrt sich der Tendenz des 19. Jahrhunderts, von ‚der‘ bürgerlichen Gesellschaft im Singular zu sprechen. Wenn Schelling davon schreibt, dass ‚innerhalb des Staates einzelne autonome Kreise zu bilden‘ seien, dann denkt er dabei an Gesellschaftsmodelle im Sinne von Zirkeln oder Logen. Gegen die Singularisierungstendenzen, die mit der politischen Emanzipation des Bürgertums und der aufkommenden kapitalistischen Produktionsweise einhergehen, tritt Schelling für eine Pluralisierung der Gesellschaft ein. Dabei macht er in erster Linie den Staat als den treibenden Motor dieser Tendenzen aus. Dadurch unterscheidet er sich auch von Karl Marx, welcher dafür in erster Linie die Vereinheitlichung der Märkte durch die kapitalistische Produktionsweise verantwortlich macht. Schellings politisches Denken zeichnet sich also dadurch aus, dass er den Staat nicht als das Prinzip oder als das Oberste des menschlichen Zusammenlebens akzeptiert, ebenso wenig aber bereit ist, den Staat deshalb revolutionär aufzuheben. Seine Lösung letzter Hand für diesen Anspruch an das Verhältnis von Staat und Gesellschaft ist in seiner Darstellung der reinrationalen Philosophie zu finden. Dort weist Schelling dem Staat zwar die Priorität vor der Gesellschaft zu; er übe aber nicht
27 Leo 1880, S. 135. Siehe auch Koselleck 1990. 28 Vgl. Schraven 1989, S. 171-173. Zur semantischen Verschiebung der societas civilis zur ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ im 18. und 19. Jahrhundert, vgl. Riedel 1975 u. Schrader 1996. 29 SW XI, S. 547.
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auch die Herrschaft über diese aus – „der Staat [ist] der Träger der Gesellschaft“.30 Eine analoge Formulierung hat Schelling schon zwanzig Jahre zuvor in der Grundlegung der positiven Philosophie: „Der Staat ist der Organismus, der das höhere, geistige, sittliche und religiöse Leben zu tragen bestimmt ist.“31 Eine ähnliche Konzeption klingt aber auch bereits im sogenannten Ältesten Systemprogramm an, wo Schelling fordert, es müsse noch „über den Staat hinaus“ hinausgegangen werden.32 Die darauffolgende Feststellung, dass „der Staat […] aufhören“ müsse, kann zwar als revolutionärer Aufruf gelesen werden, ebenso gut aber als die Einschränkung der staatlichen Wirkungsmacht auf eine ihm zugewiesene Sphäre, deren Grenzen er nicht überschreiten dürfe. Die Freiheit im Staate ist also nicht die individuelle Willkürfreiheit, sondern Freiheit verstanden als Autonomie und Ausbildung der Persönlichkeit. Schelling nimmt Partei für einen Staat, der sich insofern zurücknimmt, als dass er bloß die Rahmenbedingungen einer gesellschaftlichen Ordnung zu gewährleisten habe, in welcher alle Individuen sich gemäß ihrer intelligiblen Anlage entfalten könnten.33 Damit stellt er sich sowohl gegen die Fliehkräfte des Europas nach der Französischen Revolution, wie auch gegen die Singularisierungen innerhalb der politischen Semantik zu Anfang des 19. Jahrhunderts. Auch deshalb gehört er nicht in die Reihe romantischer Staatstheoretiker, welche die organische Staatsauffassung unhinterfragt zugleich als biologistisches Ideal ansetzen.34 Statt der Willkürfreiheit geht es Schelling also um einen Freiheitsbegriff von Autonomie, sich selbst gemäß intelligibler Gesetze zu bestimmen.35 In gewisser Hinsicht tritt er damit auch die Tradition des kantischen Begriffes des intelligiblen Charakters an. In diesem Sinne ist die Konsequenz von Schellings Staatskonzeption zwar der „Weg nach innen“, jedoch keine „innere[…] Emigration ins Religiöse“36. 30 31 32 33
SW XI, S. 541. Schelling [1832/33] 1972, S. 235. AA II,6,2, S. 483. SW XI, S. 527f. Siehe auch ein Exzerpt im Jahreskalender 1849: „Die Staatseinrichtung hat auf die Muße hinzuarbeiten, damit in ihr die Philosophie sich ausbilden könne. (Aristoteles Politeia VII. 14, 15)“ (Schelling [1849] 2007, S. 48). 34 Nicht ganz zu Unrecht hat sich der romantische Nationalismus hierdurch den Vorwurf der Vorläuferschaft zum völkischen Staatsbegriff eingehandelt. Schelling zeigt sich dem Nationalismus gegenüber skeptisch, nicht zuletzt auch aufgrund seiner monarchistischen Gesinnung. So zitiert er in seinem Jahreskalender von 1849 einen Zeitungsausschnitt: „Die berüchtigte dynastische Begriffsverwirrung: L’état c’est moi hat heutzutage einer nationalen Begriffsverwirrung Platz gemacht = l’état c’est la Nationalité, weil gegen die Landesinteressen nichts sein soll […]“ (Schelling [1849] 2007, S. 12). 35 Es sollte nicht vergessen werden, dass es auch bei Kant keine Selbstverständlichkeit ist, dass es sich bei Freiheit und Autonomie um Wechselbegriffe handle. Selbst dort, wo er diese These noch vollumfänglich vertritt – in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten – leistet er schließlich eine Begründung, weshalb das Handeln nach selbstgegebenen Gesetzen zugleich auch Freiheit im Sinne von Unabhängigkeit bedeute. Spätestens in der Schrift über das radikal Böse wird diese Ineinssetzung von Freiheit und Autonomie brüchig (vgl. Prauss 1983, S. 94). 36 Sandkühler 1989; Zöller 2013, S. 68f.
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Nicht in jeder Hinsicht ist diese Parteinahme für die societas civilis aber rückwärtsgewandt auf die vorrevolutionären Jahrzehnte. So sind die privaten Salons zu Schellings Zeit schließlich auch der Ort, an welchem sich die Frauen emanzipieren. Man denke an Rahel Varnhagen oder die Romantikerinnen Caroline Schelling und Dorothea Schlegel, derer beider Teilhabe an den unter den Namen ihrer Ehemänner veröffentlichten Werken wohl bis heute nicht endgültig geklärt ist. Die konservative Parteinahme Schellings ist also nicht gegen individuelle Freiheiten gerichtet, sondern versperrt sich in erster Linie semantischer Vereindeutigungen solcher Emanzipationsgeschehen auf den Staat. Das Staats- und Gesellschaftsverständnis Schellings ist daher in erster Linie das einer vom staatlichen Zwang befreiten Gesellschaft, ohne dass er dabei auch Partei für den rousseauistischen Republikanismus ergreifen würde, sah dieser doch im Zweifel den Staat in der Verantwortung, die Individuen zu ihrer Freiheit zu zwingen.37
3. Marx’ und Schellings Kritik des revolutionären Konstitutionalismus Zeitgenössisch stützte sich der Vorwurf des Reaktionären gegenüber Schelling in erster Linie auf seine Hinwendung zu religionsphilosophischen Themen und auf seine Kritik an Hegel, hierauf ist bereits im ersten Abschnitt dieses Aufsatzes eingegangen worden.38 Aber auch für seine Haltung zur Revolution von 1848/49 stand Schelling immer wieder in der Kritik. Dabei lässt sich gerade in seiner Kritik am revolutionären Konstitutionalismus nicht nur eine historische, sondern auch eine systematische Parallele zu Marx’ früher politische Selbstverständigung ziehen. Sowohl Schelling als auch Marx deuten beide die Herausbildung der Staatlichkeit seit dem 18. Jahrhundert als Säkularisierungsprozess, in dessen Zuge sich aber nicht allein der Staat von Religion und Gesellschaft verselbstständige, sondern zugleich ein Prozess in Gang gesetzt werde, welchen Schelling als Sünde, Marx als Entfremdung interpretiert. Ohne Zweifel schlägt Schelling nicht nur in seinen Jahreskalendern, sondern auch in der Darstellung der reinrationalen Philosophie einen scharfen Ton gegenüber den revolutionären Bestrebungen des deutschen Bürgertums an. So nennt er die Revolution ein Verbrechen, das dem Elternmord gleichkomme, weil sie den Versuch darstelle, „sich vom Staat unabhängig zu machen“: 37 So schreibt Rousseau an zentraler Stelle im Contrat Social: „Afin donc que le pacte sociale ne soit pas un vain formulaire, il renferme tacitement cet engagement qui seul peut donner de la force aux autres, que quiconque refusera d’obéir à la volonté générale y sera contraint par tout le corps : ce qui ne signifie autre chose sinon qu’on le forcera d’être libre […]“ (Rousseau [1762] 1964, S. 364). 38 Vgl. Heine [1835] 1996, S. 433.
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[D]enn fürwahr der Staat ist nicht eingesetzt, dem Ich zu schmeicheln oder ihm zum Lohn, sondern eher zur Strafe: was er fordert, sind wir ihm schuldig, d.h. es ist eine Schuld, die wir dadurch büßen oder abtragen. Man kann sagen: die intelligible Ordnung der Dinge, von der der Mensch sich losgesagt, ist dieser dem Staat schuldig geworden.39
Die Revolution komme also einer Selbstermächtigung des Menschen gegenüber den Bedingungen seiner Existenz gleich. Dennoch handelt es sich hierbei nicht um Staatshörigkeit, gar um eine Apologie der Herrschaft. Ausdrücklich führt Schelling auch seine Kritik des Verfassungsstaates im Namen der Freiheit: Die Aufgabe ist also: dem Individuum die größte mögliche Freiheit (Autarkie) zu verschaffen, – Freiheit, nämlich über den Staat hinaus und gleichsam jenseits des Staats, nicht aber rückwärts auf den Staat wirkende oder im Staat. Denn damit geschieht gerade das Gegentheil von dem, was geschehen solle, wie unsere konstitutionellen Einrichtungen zeigen, indem der Staat alles absorbiert […].40
Der Anspruch des konstitutionellen Staates, gegenüber der Partikularität der Individuen eine Allgemeinheit darzustellen, falle dagegen – so Schelling bereits 1810 – immer auf eine schlechte Gleichheit, eine bloße ‚Natureinheit‘ zurück: Gerade so nun wie die Natur ihren wahren Einheitspunkt verloren hat, hat ihn auch die Menschheit verloren. […] Gott kann nicht mehr ihre Einheit seyn, also müssen sie eine Natureinheit suchen, die aber, weil sie wahre Einheit für freie Wesen nicht seyn kann, nur ein ebenfalls zeitliches, vergängliches Band ist, wie das Band aller Dinge, und wie jenes Band, das die unorganische Natur zusammenhält. Die Natureinheit, diese zweite Natur über der ersten, zu welcher der Mensch nothgedrungen seine Einheit nehmen muß, ist der Staat […].41
In dieser Auffassung des wirklichen Staates als einer falschen, zwanghaften Einheit spiegelt sich ferner auch die These aus dem sogenannten Ältesten Systemprogramm, „daß es keine Idee vom Staate gibt, weil der Staat etwas mechanisches ist“.42 In Stuttgart formuliert Schelling eine ähnliche These indirekt, indem er alle wirklichen Staaten als missglückte Versuche auffasst, „organische Ganze zu werden“.43 ‚Missglückte Versuche’: das heißt der Staat hat entweder das „Schicksal jedes organischen 39 SW XI, S. 547. Auch öffentlich bezieht Schelling vergleichbare Positionen, so beispielsweise 1830 unter unmittelbarem Eindruck der Julirevolution Frankreich (SW IX, S. 424 u. 437f.). Dies ist nicht nur eine Positionierung in öffentlichen Auftritten. Es ließe sich eine Vielzahl weiterer Stellen aus den Tagebüchern von 1848/49 anführen, die eine ähnliche Haltung einnehmen, sie sind eingehend untersucht bei Schraven 1989. Nur eine Stelle aus dem Mai 1849 sei hier exemplarisch angeführt: „Das demokratische Konstitutionswesen gibt den Mittelmäßigkeiten Carte blanche, selbst die schlechtesten Mittel zu benutzen, um das wahrlich Große und Edle zu stürzen und sich in maßloser Selbstüberhebung an dessen Stelle zu setzen. […] Die Reichsverfassung ist also der bloße Vorwand – die Absicht ist Revolution an sich, wie weit dies führen werde, kann niemand bestimmen“ (Schelling [1849] 2007, S. 46). 40 SW XI, S. 551. 41 AA II,8, S. 146. 42 AA II,6,2, S. 483. 43 AA II,8, S. 148.
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Wesens, zu blühen, zu reifen, endlich zu altern, zuletzt zu sterben“44 – oder aber er erlangt nicht einmal diese, dem malum physicum unterworfene Organizität, sondern bleibt eben nur das: Mechanismus. In der Kritik an der Besitznahme des Staates im Zuge von Revolutionen kommt jene Kritik am Staat als oberstem und letztem Einheitsgaranten menschlichen Zusammenlebens zum Tragen. So verweist Schelling bereits 1810 darauf, dass alle Versuche, eine Einheit mittels einer Verfassung zu stiften, zum Scheitern verurteilt seien: Eben die Unmöglichkeit, die wahre Einheit in den Staat zu bringen, zeigt sich bei Verfertigung der Constitutionen. Will man dem Staat die Kraft-Einheit geben, so verfällt er in den abscheulichsten Despotismus: beschränkt man die Oberste Staats-Gewalt durch Verfassung und Stände, so hat er nicht die gehörige Kraft.45
Schellings Ablehnung des revolutionären Konstitutionalismus liegt keine Hochachtung des Staates zugrunde, im Gegenteil. Vielmehr kommt hierin ein tragischer Pessimismus zum Ausdruck, was die Möglichkeit eines Verzichtes auf einen staatlichen ‚Träger‘ der Gesellschaft anbelangt. Aus diesem Grunde parallelisiert Schelling die Revolution auch mit der Sünde.46 Indem die Revolution dem Staat die Schuld aufkündige, erhebe sich der Mensch zwar scheinbar über dessen Zwänge. In Wahrheit aber verselbstständige sich diese Revolution jedoch: die Revolutionäre würden Opfer der Eigenlogik der Prozesse, deren Zügel ihnen entglitten seien. Statt sich also der Despotie durch die Revolution zu entledigen, werde der Griff des Staates nur noch fester. Die religiöse Charakterisierung der Revolution als Sünde kommt dabei nicht von ungefähr. Ebenfalls in Stuttgart weist er auf den Zusammenhang zwischen dem Konstituierungsprozess des neuzeitlichen Staates mit seiner gleichzeitigen Ablösung von der Kirche hin: Dem Staat als Versuch die bloß äußerliche Einheit hervorzubringen steht, durch die Offenbarung gegründet, eine andere Anstalt entgegen, die auf Hervorbringung einer inneren oder Gemüthseinheit geht, die Kirche. […] Die Kirche kann aber nach der einmal eingetretenen Trennung zwischen innerer und äußerer Welt keine äußere Gewalt werden, 44 AA II,8, S. 148. – Man könnte versucht sein, hierin eine Umschreibung der Regierung durch die Person eines Monarchen zu sehen. 45 Ebd., S. 149. 46 Diese Interpretation des Sünde als einer verkehrten Verselbstständigung des Menschen Ermöglichungsgrund der Freiheit weist hierbei Ähnlichkeiten mit dem Begriff der Sünde auf, wie ihn Schelling 1809 in der Freiheitsschrift gefasst hatte: „So ist denn der Anfang der Sünde, daß der Mensch aus dem eigentlichen Seyn in das Nichtseyn, aus der Wahrheit in die Lüge, aus dem Licht in die Finsterniß übertritt, um selbst schaffender Grund zu werden, und mit der Macht des Centri, das er in sich hat, über alle Dinge zu herrschen. […] Es ist im Bösen der sich selbst aufzehrende und immer vernichtende Widerspruch, daß es kreatürlich zu werden strebt eben indem es das Band der Kreatürlichkeit vernichtet und aus Uebermuth, Alles zu seyn, in’s Nichtseyn fällt“ (AA I,17, S. 157).
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vielmehr wird sie, solange jene Trennung besteht, von der Macht des Aeußeren immer mehr nach innen gedrängt werden.47
Damit deutet Schelling die ‚Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation‘:48 Dem Übergang der einheits- und damit ordnungsstiftenden Funktion von der geistlichen auf die weltliche Macht.49 Diese Deutung ist besonders in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts viel diskutiert worden, inzwischen allerdings auch besonders mit Blick auf die unterstellte Gradlinigkeit und Eindeutigkeit des Verschwindens der geistlichen Macht angesichts der Herausbildung des säkularen Staates in Frage gestellt worden.50 Trotz dessen ist die Relevanz der Säkularisationsthese für die Entwicklung der staatspolitischen Diskurse besonders in Deutschland ab dem 19. Jahrhundert nicht zu unterschätzen. Eine zentrale Rolle in der kritischen Würdigung dieser Diskussion nimmt Karl Marx ein. Bereits Carl Schmitt und Ernst-Wolfgang Böckenförde haben am Rande ihrer Studien zur Säkularisierung darauf hingewiesen, dass Marx in seiner Schrift Zur Judenfrage die Dialektik des Säkularisierungsprozesses als einer der ersten in Klarheit ausgesprochen habe:51 der christliche Staat sei „die christliche Verneinung des Staats, aber keineswegs die staatliche Verwirklichung des Christentums“52, verwirklichtes Christentum dagegen sei erst der „atheistische Staat, der demokratische Staat, der Staat der die Religion unter die übrigen Elemente der bürgerlichen Gesellschaft verweist.“53 In Wahrheit sei also auch die Säkularisierung des Staates bloß ein Moment seiner Ablösung aus dem materiellen Leben der Individuen: Der Konflikt, in welchem sich der Mensch als Bekenner einer besondern Religion mit seinem Staatsbürgerthum, mit den andern Menschen, als Gliedern des Gemeinwesens befindet, reducirt sich auf die weltliche Spaltung zwischen dem politischen Staat und der bürgerlichen Gesellschaft.54 47 AA II,8, S. 152. 48 So der Titel eines für diese Deutung im deutschsprachigen Raum paradigmatischen Aufsatzes von Ernst-Wolfgang Böckenförde: Böckenförde [1967] 2013, S. 92-114. 49 Zu Begriff und Metaphorik der ‚Säkularisierung‘ und ‚Säkularisation‘, vgl. Blumenberg 1966, S. 41-43 und Lübbe 1965, S. 23f. 50 Zur Historisierung und kritischen Würdigung der Debatte, siehe Gorski 2000. 51 Vgl. Schmitt [1934] 2010, S. 66 u. Böckenförde [1967] 2013, S. 110f. – Bemerkenswert ist diesbezüglich auch ein Entwurf zu einem Artikel über die ‚Wirren’ um die Frage nach der Rechtmäßigkeit von Ehen zwischen Personen unterschiedlicher Konfessionen im Kölner Kirchenstreit von 1837, der von Karl Marx’ Vater Heinrich geschrieben, in einer vom Sohn korrigierten Fassung überliefert ist. Darin heißt es: „Die wahrhafte politische Frage ist die: Darf der Regent eines Landes in dringenden gebieterischen Fällen zum Heil und zur Sicherheit dieses Landes solche Maaßregeln ergreifen, welche dem gemeinen Recht nicht ganz gemäß sind, oder vielmehr das gemeine Recht verletzen?“ (MEGA2 IV,1, S. 379) Die Frage nach der Legalität des Kirchenrechts wird hier zugleich als Frage nach der Hierarchie von monarchischem Staat und ‚gemeinem Recht’ der bürgerlichen Gesellschaft behandelt. Bereits früh war Marx also mit der Säkularisationsthese über die Entstehung des neuzeitlichen Staates bekannt. 52 MEGA² I,2, S. 150. 53 Ebd., S. 151. 54 Ebd., S. 149.
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Diese Dialektik der politischen Emanzipation formuliert Marx prägnant in logischer Terminologie: „Nur so über den besondern Elementen konstituirt sich der Staat als Allgemeinheit.“55 Nicht nur ist also die Tilgung der Privilegien in der Sphäre des Staates bloß ihre Verdrängung in die private Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft; die in sie verdrängten Privilegien bilden sogar noch die Voraussetzung dafür, dass der Staat überhaupt als das Allgemeine gegenüber den individuellen Unterschieden gelten kann: „Der vollendete politische Staat ist seinem Wesen nach das Gattungsleben des Menschen im Gegensatz zu seinem materiellen Leben. Alle Voraussetzungen dieses egoistischen Lebens bleiben außerhalb der Staatssphäre in der bürgerlichen Gesellschaft bestehen […].“56
Also sei auch „[d]ie Zersetzung des Menschen in den Juden und den Staatsbürger“, anders als Bauer meint, „keine Umgehung der politischen Emancipation, sie ist die politischen Emancipation selbst“.57 In diesem Sinne fällt er in dieser Schrift ein vernichtendes Urteil über Bruno Bauers Vorstellung von einer liberalen Emanzipationspolitik, nach welcher sich zuerst alle Gruppen von ihrer Religion lossagen müssten, bevor sie Staatsbürgerinnen und Staatsbürger werden könnten: Die Gränze der politischen Emancipation erscheint sogleich darin, daß der Staat sich von einer Schranke befreien kann, ohne daß der Mensch wirklich von ihr frei wäre, daß der Staat ein Freistaat sein kann, ohne daß der Mensch wirklich frei wäre.58
Die Pointe dieser These ist bis in die Grammatik des Satzes eingearbeitet: Nicht die Individuen, welche die uneingeschränkte Staatsbürgerschaft erhalten, sind das Subjekt der politischen Emanzipation, sondern der Staat befreit sich selber von den Schranken der Religion, der Stände oder der Geburt. Die politische Emanzipation sei also nicht die demokratische Eroberung des Staates durch das Bürgertum, für die der Sturm auf die Bastille symbolisch steht. Die politische Emanzipation ist vielmehr der Prozess der Verselbstständigung des Staates gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft. Der Trennung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft auf der institutionellen Ebene entspreche die Entzweiung des wirklichen Lebensprozesses: jedes Individuum führe sein Leben unter zweierlei Charaktermasken, einmal als citoyen des Staates, dann als bourgeois der bürgerlichen Gesellschaft. Solange aber dieser Gegensatz im wirklichen Leben nicht aufgehoben sei, könne auch die Religion nicht endgültig überwunden werden. Deshalb stellt sich Marx deutlich einer politischen Revolution im Sinne der Französischen entgegen: 55 56 57 58
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Ebd., S. 148. Ebd., S. 148. Ebd., S. 150. Ebd., S. 147.
In Zeiten, wo der politische Staat als politischer Staat gewaltsam aus der bürgerlichen Gesellschaft heraus geboren wird […] kann und muß der Staat bis zur Aufhebung der Religion […] fortgehen, aber nur so, […] wie er zur Aufhebung des Lebens, zur Guillotine fortgeht. In den Momenten seines besondern Selbstgefühls sucht das politische Leben seine Voraussetzung, die bürgerliche Gesellschaft und ihre Elemente zu erdrücken und sich als das wirkliche, widerspruchslose Gattungsleben des Menschen zu konstituiren. Es vermag dies indeß nur durch gewaltsamen Widerspruch gegen seine eigenen Lebensbedingungen, nur indem es die Revolution für permanent erklärt, und das politische Drama endet daher […] nothwendig mit der Widerherstellung der Religion […].59
Hiermit spricht Marx eben jene Aporie des säkularen Verfassungsstaates aus: Sobald er aufhört sich von seiner Legitimationsgrundlage des von ihm Überwundenen loszusagen, sobald der säkulare Staat sich in diesem Sinne nicht mehr als revolutionärer Staat legitimiert, ist er mit eben jener Frage konfrontiert, ob sich nicht auch von ihm noch zu emanzipieren sei. Diese scharfe Kritik an der bloß politischen Emanzipation nach dem Modell der Französischen Revolution stellt in Frage, ob der „Bann“, den sie auf Marx ausübte, sich wirklich aus ihrer „enormen Strahlkraft“ erklärt, in deren Folge „die bisherigen Vorstellungen einer von Gott gegebenen Ordnung nur noch mit Mühe, Fleiß und Kreativität zu halten“ gewesen seien.60 Ebenso ist fraglich, ob Marx und Engels der „Revolution des Dritten Standes einen Modellcharakter für die Revolution des Vierten Standes beigemessen“ haben.61 Auch wenn sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht kommunistisch gedeutet ist, so ist diese Kritik an der politischen Emanzipation zugunsten einer menschlichen, die materiellen Lebensverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft umwälzenden Emanzipation doch der Punkt, an welchem Marx den staatsphilosophischen Bruch mit jeder Reformpolitik vollzieht. Weil gerade der säkulare Verfassungsstaat das vollendete Christentum sei, könne die menschliche Emanzipation keine Frage der Verfassung oder der Säkularisierung sein. Wie auch Schelling vertritt Marx also in Zur Judenfrage die These, dass der konstitutionelle Staat bloß eine Verselbstständigung gegenüber dem wirklichen Leben der Individuen darstelle. Diese Verselbstständigung wird dabei in erster Linie als Säkularisierung begriffen, als Ausschluss der Religion aus dem Staat. Zugleich verstricke sich der säkulare, konstitutionelle Staat dabei in unauflösbare und desaströse Aporien: Einerseits bestimme er sich gerade im Gegensatz zur Religion, andererseits müsse er sie aber auch als Voraussetzung außerhalb seiner selbst stehen lassen, wolle er nicht den Anspruch seiner Allgemeinheit preisgeben. Beide, Schelling und Marx, entwerfen im Anschluss an diese Diagnose Modelle einer ‚menschlichen Emanzipation’ oder ‚Wiedererhebung des Menschen’62, nach welchen dem Staat 59 60 61 62
Ebd., S. 150f. Gerber 2018, S. 93. Winkler 1978, S. 8. Vgl. AA II,8, S. 148.
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zwar die Priorität vor der Gesellschaft einzuräumen sei, aber dies nur insofern er dabei als Grundlage des wirklichen Lebens diene. Jürgen Habermas hat auf die Parallele hingewiesen, die zwischen Schellings Kritik an Fichte und einem pejorativen Sinn von Marx’ Begriff des ‚historischen Materialismus‘ besteht: „Schelling wie Marx begreifen die Korruption der Welt ‚materialistisch’ insofern, als das, was der Existenz bloß zugrunde liegen sollte, nämlich Materie, sich die Existenz selbst unterworfen hat.“63 Während Schelling jedoch an den Menschen als dem ‚Centro‘ der Schöpfung auch die Verantwortung für das Ganze der Natur knüpft, geht es Marx auch ein Jahr nach seiner Schrift Zur Judenfrage, innerhalb der Pariser Manuskripte um die Herrschaft der Bedingungen des Lebens über den menschlichen Lebensvollzug selbst: die Herrschaft der Produktionsweise über die Produzierenden. In diesem Sinne ist auch die häufig zitierte Passage über den Begriff der entfremdeten Arbeit aus den Pariser Manuskripten zu deuten: Die Arbeit producirt nicht nur Waaren; sie producirt sich selbst und d[en] Arbeiter als eine Waare und zwar in dem Verhältniß, in welchem sie überhaupt Waaren producirt. Dieß Factum drückt weiter nichts aus als: Der Gegenstand, den die Arbeit producirt, ihr Product, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine, von d[em] Producenten unabhängige Macht gegenüber.64
Dass Marx von Entfremdung, anstatt von Sünde redet, wirft aufgrund seines erklärten Atheismus keine Fragen auf. Dennoch halten sowohl Marx als auch Schelling daran fest, dass die Überwindung dieses ‚historischen Materialismus‘ das Verhältnis nicht bloß in Naturbeherrschung umkehren darf. Dementgegen charakterisiert Marx den Kommunismus als die „vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus d[es] Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur.“65 Auch Schellings zweischneidige These vom Staat als Träger der Gesellschaft, die sowohl gegen die Monopolisierung des Politischen beim Staat, als auch gegen die befürchtete Selbstermächtigung der Gesellschaft durch den revolutionären Konstitutionalismus gerichtet ist, hat eine naturphilosophische Grundlage. So ist Schelling Rede von dem Staat als einer „zweiten Natur über der ersten“66 nicht belanglos. Seit seinen frühesten Schriften hat Schelling schließlich die Natur als Ermöglichungsgrund menschlicher Freiheit profiliert.67 Der Staat scheitert aber am normativen 63 Habermas 1971, S. 216. Siehe auch: „Materialismus ist kein ontologisches Prinzip, sondern die historische Indikation einer gesellschaftlichen Verfassung unter der es der Menschheit bisher nicht gelungen ist, die praktisch erfahrene Gewalt des Äußeren über das Innere aufzuheben.“ (ebd., S. 223). 64 MEGA2 I,2, S. 364f. 65 MEGA² I,2, S. 391. 66 AA II,8, S. 123 u. 146. 67 Hühn 1994, S. 170f. u. Wieland 1975, S. 244f.
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Wertmaßstab der ersten Natur als dem Ermöglichungsgrund der Freiheit. In aller Deutlichkeit verlegt Schelling jeden Staat, der als letzter und einziger Einheitsgarant für die Gesellschaft gelten sollte, in ein Jenseits; zugleich bindet er dessen normatives Ideal aber an die christliche Theologie zurück: „Der wahre Staat setzt einen Himmel auf Erden voraus“, so Schelling 1810 in Stuttgart – „die wahre πολιτεία ist nur im Himmel.“68
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Autoreninformationen
Alexander Bilda Jahrgang 1983. 2003-2010 Studium der Philosophie, Alten Geschichte und Historischen Anthropologie in Freiburg und Paris. 2011-2013 Stipendium der Fritz Thyssen Stiftung. Seit 2013 Akademischer Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Universität Freiburg. Ausgewählte Veröffentlichungen: Das Denken des Unvordenklichen. Schellings Konzeption von System und Freiheit in der Erlanger Vorlesung von 1821. In: Waibel, Violetta L. et al. (Hrsg.): Ausgehend von Kant. Wegmarken der Klassischen Deutschen Philosophie, S. 245-262 (2016); Schelling's Shadow. Merleau-Ponty's Late Concept of Nature. In: Angelaki. Journal of theoretical humanities 21,4, S. 111-120 (2016); Philosophische Haltung. Wissensvermittlung und -inszenierung in Schellings Erlanger Vorlesung von 1821. In: Meliadò, Mario/Negri, Silvia (Hrsg.): Praxis des Philosophierens, Praktiken der Historiographie. Perspektiven von der Spätantike bis zur Moderne, S. 161-194 (2018). PD Dr. Christoph Binkelmann Jahrgang 1974. Studium der Philosophie, Mathematik, klassischen Philologie in Bonn und Heidelberg. 2006 Promotion. 2021 Habilitation. Seit 2003 Mitglied des Internationalen Forschungsnetzwerkes Transzendentalphilosophie/Deutscher Idealismus. Seit 2006 Gastdozent am IUC Dubrovnik. 2006-2010 Lehrbeauftragter und wiss. Mitarbeiter an der TU und HU Berlin. 2011 Wiss. Mitarbeiter am SFB 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ der TU Dresden. 2011-2014 Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für theoretische Philosophie der Universität Siegen. 2014-2020 Wiss. Sekretär des Projekts „Schelling – Edition und Archiv“, seit 2022 Wiss. Projektkoordinator des Projekts „Schelling in München (1811-1841). Hybride Nachlass-Edition“ an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München. Ausgewählte Veröffentlichungen: Theorie der praktischen Freiheit. Fichte – Hegel. (2007); Nichts – Negation – Nihilismus. Die europäische Moderne als Erfahrung und Erkenntnis des Nichts. Hrsg. zusammen mit Alessandro Giovanni Bertinetto (2010); Entgrenzungen des Machbaren? Doping zwischen Recht und Moral. Hrsg. zusammen mit Christoph Asmuth (2012); Denken fürs Volk. Popularphilosophie vor und nach Kant. Hrsg. zusammen mit Nele Schneidereit (2015). Wissen des Nicht-Wissens. Tendenzen des kritischen Skeptizismus (2021).
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Prof. Dr. Christian Danz Jahrgang 1962. Studium der evangelischen Theologie an der Universität Jena. 1993-1994 Vikariat bei der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen. 1994 Promotion. 1996-1998 Habilitationsstipendium der DFG. 1998-1999 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie der Universität Jena. 1999 Habilitation. 2000-2002 Vertretungsprofessur für Systematische Theologie an der Universität Essen. Seit 2002 Professor für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. 2002 Ordination durch die Evangelisch-Lutherische Kirche in Thüringen. Von 2004 bis 2006 Stellvertretender Vorsitzender und seit 2006 Vorsitzender der Deutschen Paul-Tillich-Gesellschaft e.V. Seit 2009 Mitglied der Kommission zur Herausgabe der Schriften F.W.J. Schellings der Philosophisch-historischen Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Ausgewählte Veröffentlichungen: Die philosophische Christologie F.W.J. Schellings (1996); Einführung in die Theologie Martin Luthers (2013); Systematische Theologie (2016); Gottes Geist. Eine Pneumatologie (2019); Jesus von Nazareth zwischen Judentum und Christentum. Eine christologische und religionstheologische Skizze (2020). Prof. Dr. Franck Fischbach Jahrgang 1967. Studium der Philosophie an der École Normale Supérieure de Fontenay/Saint Cloud. 1996 Promotion, 2002 Habilitation in Philosophie. Professor für Philosophie an den Universitäten Toulouse-Le Mirail (2003-2009), Nice Sophia-Antipolis (2009-2013), Strasbourg (2013-2021) und Paris 1 Panthéon-Sorbonne (seit 2021). Mitglied des Centre de Recherches en Philosophie allemande et contemporaine (Universität Straßburg). Mitglied des Redaktionsausschusses der Zeitschriften Cités und Actuel Marx. Ausgewählte Veröffentlichungen: Du commencement en philosophie. Étude sur Hegel et Schelling (1999); L'Être et l'Acte. Enquête sur les fondements de l'ontologie moderne de l'agir (2002); La production des hommes. Marx avec Spinoza (2005); Sans objet. Capitalisme, subjectivité, aliénation (2009); Manifest für eine Sozialphilosophie (2016), Après la production. Travail, nature et capital (2019). Moritz May Jahrgang 1997. Studium der Philosophie und Volkswirtschaftslehre in Freiburg. Seit 2022 Doktorand in Bonn. Veröffentlichung: Das Recht auf den vollen Arbeitsertrag. Über die Kritik des Entäußerungsmodells der Arbeit bei Hegel und Marx, in: HegelStudien 53/54, S. 225-250 (2020).
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Prof. Dr. Hans Jörg Sandkühler Jahrgang 1940. Studium der Philosophie und Rechtswissenschaft in Innsbruck, Münster und Paris. 1967 Promotion. 1965-1970 Assistent an der Universität Giessen. 1970 Habilitation. 1971-1974 Professor am Zentrum für Philosophie und Grundlagen der Wissenschaft der Universität Giessen. 1974-2005 Professor für Philosophie an der Universität Bremen. 1994-2003 Leiter der Schelling-Forschungsstelle an der Universität Bremen. Seit 1997 Mitglied des Internationalen Beirats des Instituts für Demokratie und Menschenrechte an der Chonnam National University/Kwangju (Südkorea). Ausgewählte Veröffentlichungen: Freiheit und Wirklichkeit. Zur Dialektik von Politik und Philosophie bei Schelling. Mit einem Anhang unveröffentlichter Briefe von L. Feuerbach, A. Ruge und J.F. Molitor (1968); Praxis und Geschichtsbewußtsein. Studie zur materialistischen Dialektik, Erkenntnistheorie und Hermeneutik (1973); Idealismus in praktischer Absicht. Studien zu Kant, Schelling und Hegel (2013); Nach dem Unrecht. Plädoyer für einen neuen Rechtspositivismus (2015). Dr. Ryan Scheerlinck Jahrgang 1976. Studium der Philosophie und klassischen Philologie in Löwen, Gent und München. Promotion 2014. Aktuell Lehrbeauftragter an der Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft an der Ludwig-MaximiliansUniversität München. Ausgewählte Veröffentlichungen: Zur Intention von Senecas De Clementia. In: Gymnasium. Zeitschrift für Kultur der Antike und Humanistische Bildung 123, S. 45-72 (2016); „Philosophie und Religion“. Schellings Politische Philosophie (2017); Über das Glück der Vornehmen. Nietzsche lesen – mit Friedrich Georg Jünger. In: Kaufmann, Sebastian/Sommer, Andreas U. (Hrsg.): Nietzsche und die Konservative Revolution, S. 473-504 (2017); Gedanken über die Religion. Der ‚stille Krieg‘ zwischen Schelling und Schleiermacher (1799-1807) (2020). Prof. Dr. Wolfgang M. Schröder Jahrgang 1968. 1987-1994 Studium der Philosophie, Kath. Theologie und Kunstgeschichte in Tübingen und Rom. 2002 Promotion, 2007 Habilitation. 2007/08 Vertretungsprofessur Theoretische Philosophie an der Universität Tübingen. 2009/10 Dozent für Praktische Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. 2011/12 Vertretungsprofessur Praktische Philosophie an der Universität Tübingen. 2010-2015 Dilthey-Fellow der Fritz-Thyssen-Stiftung an der Universität Tübingen. Seit 2015 Professor für Philosophie an der Universität Würzburg. Seit 2017 Mitglied im Trägerkreis der Graduate School of the Humanities an der Universität Würzburg. Seit 2019 Mitglied im VDI-Fachbeirat „Technik im Dialog“. Ausgewählte Veröffentlichungen: Grundrechtsdemokratie als Raison offener Staaten. Verfassungspolitik im europäischen und im globalen Mehrebenensystem (2003); Politik des Schonens. Heideggers
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Geviert-Konzept, politisch ausgelegt (2004); mit Georg Jochum, Niels P. Petersson und Katrin Ullrich: Legitimationsgrundlagen einer europäischen Verfassung. Von der Volkssouveränität zur Völkersouveränität (2007); Robots and Rights: Reviewing Recent Positions in Legal Philosophy and Ethics. In: von Braun, Joachim et al. (Hrsg.): Robotics, AI, and Humanity, S. 191-203 (2021). Dr. Johannes-Georg Schülein Jahrgang 1979. 2000-2007 Studium der Philosophie, Geschichte und Volkswirtschaftslehre in Freiburg, Nizza und Berlin. 2008 Visiting Graduate Student an der Johns Hopkins University, Baltimore, Maryland. 2009-2012 Stipendiat der Doktorandenschule ‚Laboratorium Aufklärung‘ an der Universität Jena. 2011-2014 Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie I der Ruhr-Universität Bochum. Seit 2014 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Philosophie unter besonderer Berücksichtigung der Klassischen Deutschen Philosophie am Institut für Philosophie I der Ruhr-Universität Bochum. 2014 Promotion. 2016 Gastdozent am Institut für Philosophie der Universität Padua. 2017-2022 Koordinator des vom DAAD geförderten deutsch-italienischen Forschungsprojekts „Eine Politik der Natur: Mensch und Natur in der Klassischen Deutschen Philosophie“ an der Ruhr-Universität Bochum und der Universität Padua. 2018 Gastwissenschaftler und -dozent am Philosophy Department der Pennsylvania State University. Im WS 2021/22 Vertretungsprofessur an der Universität Potsdam. Ausgewählte Veröffentlichungen: Metaphysik und ihre Kritik bei Hegel und Derrida (2016); Nature and Naturalism in Classical German Philosophy, hrsg. zusammen mit L. Corti (2023). Prof. Dr. Günter Zöller Jahrgang 1954. Studium der Philosophie, Romanistik, Komparatistik und Kunstgeschichte in Bonn, Paris und Providence, U.S.A. 1982 Promotion. 1983-84 Teaching Associate am Department of German der Brown University. 1984-85 Visiting Assistant Professor of Philosophy am Grinnell College, Grinnell, U.S.A. 1985-87 Assistant Professor of Philosophy am Grinnell College. 1987-1992 Assistant Professor of Philosophy an der University of Iowa. 1992-1996 Associate Professor of Philosophy an der University of Iowa. 1996-2000 Full Professor of Philosophy an der University of Iowa (2000 beurlaubt). Seit 1999 Professor für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 2020 Emeritierung. Ausgewählte Veröffentlichungen: Theoretische Gegenstandsbeziehung bei Kant. Zur systematischen Bedeutung der Termini ‚objektive Realität‘ und ‚objektive Gültigkeit‘ in der ‚Kritik der reinen Vernunft.‘ (1984); Fichte lesen (2013); Res Publica. Plato´s ‚Republic‘ in Classical German Philosophy (2015); Philosophie des 19. Jahrhunderts. Von Kant bis Nietzsche (2018); Hegels Philosophie. Eine Einführung (2020).
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