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German Pages 32 [39] Year 1969
SITZUNGSBERICHTE. DER DEUTSCHEN AKADEMIE D E R W I S S E N S C H A F T E N ZU B E R L I N Klasse für Sprachen, Literatur und
Kunst
Jahrgang 1968 • Nr. 1
Dr. MARTIN
FONTIUS
WINCKELMANN UND DIE FRANZÖSISCHE AUFKLÄRUNG
AKADEMIE-VERLAG•BERLIN 1968
S I T Z U N G S B E R I C H T E DER D E U T S C H E N A K A D E M I E DER W I S S E N S C H A F T E N ZU B E R L I N Klasse für Sprachen, Literatur
und Kunst
Jahrgang 1968 • Nr. 1
Dr. MARTIN
FONTIUS
WINCKELMANN UND DIE FRANZÖSISCHE AUFKLÄRUNG
AKADEMI E - V E R L A G 1968
•
B E R L I N
Vorgetragen und für die Sitzungsberichte angenommen in der Sitzung der Klasse iür Sprachen, Literatur und Kunst am 9.5.1968 Ausgegeben am 3.10.1968
Erschienen im Akademie-Verlag GmbH, 108 Berlin, Leipziger Straße 3 - 4 Copyright 1968 by Akademie-Verlag GmbH Lizenznummer: 202 • 100/147/68 Herstellung: IV/2/14 VEB Werkdruck, 445 Gräfenhainichen • 3049 Bestellnummer: 2010/68/V/l • ES 7 H + 12A 2,40
Winckelmann, dessen zweihundertsten Todestages wir in diesem Jahr gedenken, gilt durch seine Wendung zum Griechentum als Geburtsgebieter der deutschen Klassik. Die deutsche Geistesgeschichte begrüßte in ihm den Begründer der deutschen Bewegung, der von Lessing über die Klassik und Romantik bis zu Hegel reichenden glanzvollen deutschen Geistesblüte. Mit der Verabsolutierung der „deutschen Grundkräfte seines Griechentums" wurde Winckelmann jedoch aus der europäischen humanistischen Bewegung ausgeklammert und damit einer wissenschaftlichen Erklärung entzogen. Ungehindert konnte sich in dem verbleibenden geistesgeschichtlichen Vakuum mythologisches Denken entfalten und hat sich in der Tat seit dem Georgekreis kräftig an Winckelmanns Gestalt emporgerankt. 1 Diese Position der geisteswissenschaftlich orientierten Germanistik konnte von den in der klassischen Philologie seit langem herrschenden Überzeugungen nur unterstützt werden. „Deutsche Geistesbewegung", ich zitiere aus einem Vortrag von 1933, „die Entdeckung des Griechentums und des Neuhumanismus, deutsche Geistesbewegung der dritte Humanismus, deutsche Geistestat die historische Auffassung des Altertums, insbesondere auch das literarische Verständnis der Literatur". 2 Die immer wiederkehrende Formel Rom - Romanisch, Griechentum - Deutsch war durch Jahrzehnte selbstverständliche Voraussetzung nahezu aller einschlägigen Untersuchungen. Gegenüber dieser nur auf die von Winckelmann ausgehenden geistigen Bewegungen gerichteten Sicht, deren nationalistische Grenzen offensichtlich sind, soll im Folgenden nach den Zusammenhängen gefragt werden, die zwischen Winckelmann und der französischen Aufklärung bestehen. Die Darstellung dieser Beziehungen gehört in dem brillanten Aufsatz, den Mehring vor 60 Jahren Winckelmann widmete, fraglos nicht zu den stärksten Seiten. 3 Doch findet sich bei Mehring eine Feststellung, die zu denken hätte geben sollen. Die in großem Stil entworfene Lebensbeschreibung Winckelmanns durch Justi, nach Mehrings Urteil die vorzüglichste unserer Klassikerbiographien, hatte in ihrer zweiten und seither mehrfach wiederabgedruckten Auflage von 1898 einen entscheidenden Substanzverlust erfahren, da die
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„achtbare bürgerliche Ideologie" der Erstauflage 4 vom Verfasser nach Möglichkeit unterdrückt worden war. Mehring zitiert als Beispiel die gestrichenen Sätze: „Wir lieben die, welche den Despotismus unter jeder Gestalt hassen, auch den notwendigen, auch den heilsamen und aufgeklärten Despotismus. Wir ziehen sie sogar denen vor, welche auf den beschränkten und parteiischen Zorn des achtzehnten Jahrhunderts in ihrer überlegenen historischen Einsicht lächelnd herabsehen, welche geschichtlichen Sinn und sympathischen Respekt haben für alle glücklichen Verbrecher, für alle Scheiterhaufen und Staatsstreiche der Vergangenheit, und welche nur die ewigen Ideen des Rechtes, der Aufklärung und der Humanität für Phrase halten und nur für das Verlangen der Völker nach politischer Freiheit keinen Sinn haben." 5 Einer solchen Parteinahme für die Aufklärung und gegen die Historische Schule war nach dem Jahre 1866, in dem Justi den ersten Band niederschrieb und veröffentlichte, in der Tat die Grundlage entzogen und erklärt hinreichend die spärliche Verbreitung. Man muß sich klar machen, daß Justi der Erste gewesen ist, dem der handschriftliche Nachlaß und die Korrespondenz Winckelmanns im ganzen Umfang vorgelegen hat. Der Winckelmann, der ihm hier entgegentrat, der „in einigen unterdrückten Stellen seiner Briefe zuweilen die Sprache eines Mitglieds des Jakobinerclubs führt" 6 , wollte in das überlieferte Bild der deutschen Klassik nicht hineinpassen. Justis Erstaunen über die unerwartete Metamorphose seines Helden hat in einem seiner Monographie vorausgeschickten Artikel „Über die Studien Winckelmanns in seiner vorrömischen Zeit" einen unmittelbaren Niederschlag gefunden. 7 Die hier bekundete Einsicht in Winckelmanns Verhältnis zu Frankreich ist bis heute nicht wieder erreicht worden. Sie läßt sich in zwei Hauptpunkten zusammenfassen: Winckelmanns entscheidende Bildungsjahre liegen in Sachsen, wo er durch das Studium vor allem der französischen Aufklärungsliteratur geistig mit seinem Zeitalter Fühlung bekommt. Durch die Schulung an der Sprachkultur der französischen klassischen Literatur wird gleichzeitig sein Stilempfinden geprägt. Justi ist überzeugt, daß Winckelmann „ohne dies moderne Element wohl nie ein moderner Schriftsteller, ja ein Günstling seines Jahrhunderts geworden wäre." 8 Wie tief nun tatsächlich Winckelmanns Anschauungen in den Dresdner Frühschriften von der vorausgehenden französischen Literaturdiskussion bestimmt sind, kann erst eine kritische Ausgabe erweisen, in der vor allem für die „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst" die von ihm weggelassenen „Allegata" eruiert würden, von ihm „mit Fleiß weggelassen, damit sich die Dresdner Klüglinge ein wenig würgen" sollten. 9 Hier können nur einige Gesichtspunkte auf-
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Winckelmann und die französische Aufklärung
gezeigt werden, wobei es zunächst den von Winckelmann bezogenen Standort aus seiner Stellungnahme zur Fortschrittsfrage und zur sensualistischen Ästhetik zu ermitteln gilt. I. Die berühmte und gerade von der modernen F o r s c h u n g 1 0 lebhaft diskutierte „Querelle des anciens et des modernes" der auf dem
Scheitelpunkt
der französischen Klassik entbrannte Streit, ob der Kunst der A n t i k e für alle Zeiten eine exemplarische Vorbildgeltung zuzuschreiben sei oder nicht, hatte eine das geschichtliche D e n k e n umwälzende Erkenntnis hervorgetrieben. M i t der Fortschrittsidee hatte Fontenelle ein Grundgesetz der Menschheitsgeschichte gefunden. Die aus der Antike dem Humanismus überkommene Zyklentheorie von Wachstum, Blüte und V e r f a l l aller Kulturen w a r damit gesprengt und gleichzeitig einer v o m christlichen D o g m a befreiten geschichtlichen Erklärung der Menschheit die Bahn gebrochen. Perrault unternommene Versuch, den Fortschrittsgedanken
Der
von
auf allen
Ge-
bieten der Kunst und Wissenschaft systematisch zu entfalten, erwies sich jedoch als nicht durchführbar. D a s geschichtliche Hochgefühl des Zeitalters L u d w i g XIV., in dem die
Grundvoraussetzung
des ganzen
Antikestreits
beschlossen liegt, k a m auch in seiner selbstbewußtesten Form nicht um die Feststellung herum, daß die Kunst nur durch Gewalttat in die universale Fortschrittsperspektive
eingegliedert werden kann. Perrault hat sich
nur
zögernd zu dieser Einsicht durchgerungen. In der Frühaufklärung ist es für einen Dubos, M a r i v a u x oder Voltaire eine ausgemachte Sache, daß nur für die Wissenschaften, nicht für die Künste, der Fortschritt Gesetz ist. Waren zunächst noch alle Gebiete in die Auseinandersetzung mit einbezogen, von der Philosophie über die Malerei
und Bildhauerkunst
bis hin zur M o d e ,
so entbehrt es nicht der inneren Konsequenz, wenn in der v o r allem an die Namen La Mottes und der M a d a m e Dacier gehefteten zweiten Phase die Ilias allein den K a m p f p l a t z abgab. M i t Homers Epos war der Kernpunkt getroffen, auf den das Prinzip der Nachahmung der Alten immer wieder hinlenken mußte. Winckelmanns Stellungnahme zur „Querelle" ist in dem berühmten Satz seines Erstlingswerkes enthalten: „Der einzige W e g f ü r uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten, und w a s jemand von Homer gesagt, daß derjenige ihn bewundern lernt, der ihn wohl verstehen gelernt, gilt auch von den Kunstwerken der Alten, sonderlich der G r i e c h e n . " 1 1 Wenn Winckelmann mit diesem programmatischen Satz auf eine Formulierung La Bruyères zurückgreift, der wie die anderen
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Winckelmann und die französische Aufklärung
gezeigt werden, wobei es zunächst den von Winckelmann bezogenen Standort aus seiner Stellungnahme zur Fortschrittsfrage und zur sensualistischen Ästhetik zu ermitteln gilt. I. Die berühmte und gerade von der modernen F o r s c h u n g 1 0 lebhaft diskutierte „Querelle des anciens et des modernes" der auf dem
Scheitelpunkt
der französischen Klassik entbrannte Streit, ob der Kunst der A n t i k e für alle Zeiten eine exemplarische Vorbildgeltung zuzuschreiben sei oder nicht, hatte eine das geschichtliche D e n k e n umwälzende Erkenntnis hervorgetrieben. M i t der Fortschrittsidee hatte Fontenelle ein Grundgesetz der Menschheitsgeschichte gefunden. Die aus der Antike dem Humanismus überkommene Zyklentheorie von Wachstum, Blüte und V e r f a l l aller Kulturen w a r damit gesprengt und gleichzeitig einer v o m christlichen D o g m a befreiten geschichtlichen Erklärung der Menschheit die Bahn gebrochen. Perrault unternommene Versuch, den Fortschrittsgedanken
Der
von
auf allen
Ge-
bieten der Kunst und Wissenschaft systematisch zu entfalten, erwies sich jedoch als nicht durchführbar. D a s geschichtliche Hochgefühl des Zeitalters L u d w i g XIV., in dem die
Grundvoraussetzung
des ganzen
Antikestreits
beschlossen liegt, k a m auch in seiner selbstbewußtesten Form nicht um die Feststellung herum, daß die Kunst nur durch Gewalttat in die universale Fortschrittsperspektive
eingegliedert werden kann. Perrault hat sich
nur
zögernd zu dieser Einsicht durchgerungen. In der Frühaufklärung ist es für einen Dubos, M a r i v a u x oder Voltaire eine ausgemachte Sache, daß nur für die Wissenschaften, nicht für die Künste, der Fortschritt Gesetz ist. Waren zunächst noch alle Gebiete in die Auseinandersetzung mit einbezogen, von der Philosophie über die Malerei
und Bildhauerkunst
bis hin zur M o d e ,
so entbehrt es nicht der inneren Konsequenz, wenn in der v o r allem an die Namen La Mottes und der M a d a m e Dacier gehefteten zweiten Phase die Ilias allein den K a m p f p l a t z abgab. M i t Homers Epos war der Kernpunkt getroffen, auf den das Prinzip der Nachahmung der Alten immer wieder hinlenken mußte. Winckelmanns Stellungnahme zur „Querelle" ist in dem berühmten Satz seines Erstlingswerkes enthalten: „Der einzige W e g f ü r uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten, und w a s jemand von Homer gesagt, daß derjenige ihn bewundern lernt, der ihn wohl verstehen gelernt, gilt auch von den Kunstwerken der Alten, sonderlich der G r i e c h e n . " 1 1 Wenn Winckelmann mit diesem programmatischen Satz auf eine Formulierung La Bruyères zurückgreift, der wie die anderen
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M A R T I N FONTIUS
Großen der französischen Klassik entschieden für das Altertum Partei genommen hatte, bedeutet das nicht, daß ihm die im Fortgang der französischen Geistesentwicklung vorgebrachten Argumente unbekannt geblieben sind. Die Wirkung der sensualistischen Ästhetik des Abbé Dubos 12 ', den Winckelmann in den Dresdner Schriften mehrfach als „ein großer Skribent in der Kunst" apostrophiert, ist auf Schritt und Tritt spürbar. Winckelmann hat sich von dem freilich selbst klassisch gesonnenen Dubos bedienen lassen, soweit das der Standpunkt eines enragierten Ancien zuließ, aber in allen wesentlichen Punkten eine antisensualistische Position entwickelt. 13 Das revolutionäre Prinzip Dubos' war die Begründung der Ästhetik auf die vom Kunstwerk beim Betrachter ausgelöste Empfindung. Auf dieser durch Lockes Philosophie gesicherten Basis begründet Dubos die klassische Gliederung der Gattungen nach dem Stärkegrad der vom Inhalt hervorgerufenen Leidenschaften, betont jedoch gleichzeitig die Bedeutung der Form für die Wirkung auf die Sinne. Ebenso konsequent fordert er in der Kunstkritik die Entmachtung des regelkundigen Kunstrichters durch den Kollektivgeschmack des Publikums, obgleich durch die Begrenzung des Publikums auf die „bonne société" und den einschneidenden Zusatz, das Urteil des Publikums könne sich nur vervollkommnen, was auf eine Verewigung der Vormacht der Antike hinauslief, sein revolutionäres Grundprinzip wesentlich eingeschränkt war. Winckelmann hat die sensualistische These von dem „Gefälligen" als „Hauptcharakter" der Kunst kompromißlos verworfen: „Alle Ergötzlichkeiten bis auf diejenigen, die dem größten Haufen der Menschen den unerkannten Schatz, die Zeit, rauben, erhalten ihre Dauer, und verwahren uns vor Ekel und Überdruß nach dem Maße, wie sie unseren Verstand beschäftigen. Bloß sinnliche Empfindungen aber gehen nur bis an die Haut, und wirken wenig in den Verstand." 14 Indem er auf die vor Dubos herrschende idealistische Kunstauffassung zurückgreift, ist er gezwungen, auch die traditionelle Trennung zwischen den „Kennern" und den „Liebhabern" oder „Unwissenden" beizubehalten. Um den herrschenden literarischen Dogmatismus zu erschüttern, hatte Dubos zur Ergänzung seiner sensualistischen Ästhetik die „Klimatheorie" aufgegriffen und entwickelt, deren im Grunde reaktionärer Charakter erst durch ihre entschiedenste Systematisierung im „Esprit des lois" hervortreten sollte. 15 Nur durch Dubos ist die Klimalehre zu einem Zentralthema der Aufklärung geworden, wenngleich Winckelmann als konsequenter Ancien den Namen des Hippokrates anführt. Für Dubos bestimmt das Klima, vermittelt durch Luft und Blut, über das Genie des Einzelnen und der Nationen. Die kulturellen Blüte- und Verfallszeiten werden von ihm aus entsprechenden
Winckelmann und die französische Aufklärung
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Klimaschwankungen abgeleitet. Zunächst dekretiert auch Winckelmann, daß die vollkommene Natur der Griechen „der Einfluß eines sanften und reinen Himmels" sei. Aber während für Dubos Regierung, Erziehung und andere historische Faktoren eine sekundäre Rolle spielen, legt Winckelmann, darin Voltaire folgend, auf diese die nachdrücklichste Betonung. Dubos' Klimalehre war freilich auch in Frankreich nicht ohne Widerspruch geblieben. Der als Erzieher von Berufs wegen klassizistisch gesinnte und auch in Deutschland viel gelesene Rollin hatte mit treffsicheren Beispielen gezeigt, daß nicht das Klima, sondern die Wissenschaften die Veränderung des Menschen, den historischen Prozeß der nationalen Aufstiegs- und Niedergangsperioden erklären. 16
II. Die Ablehnung des Dubosschen Sensualismus und das Anknüpfen an die französische Querelle lassen bereits vermuten, wo die Wurzeln für Winckelmanns „Schönheitsevangelium" zu suchen sind. In der Tat kann Winckelmanns Ästhetik eine Reproduktion der wesentlichsten Lehrsätze der französischen Klassik genannt werden. Wenn man deren Grundprinzipien dahingehend zusammengefaßt hat: moralische Belehrung als Ziel, Glauben an Kunst und Regel, Kult der Vernunft, Dogmen der Nachahmung der Natur und der Nachahmung der Alten 1 7 , so findet sich alles bei Winckelmann bis hin zu der bezeichnenden Annahme, daß die unerreichbare Schönheit der griechischen Skulpturen u. a. auch „bestimmtere und zuverlässigere Regeln, als bei uns gebräuchlich sind", zur Voraussetzung hatte. 18 Gewiß ist der Einfluß der klassischen Kunstlehre eines Bellori um so weniger zu leugnen, als sie aus den Winckelmannschen Exzerpten erwiesen ist. Zu Unrecht hat man in dem Satz aus der „Geschichte der Kunst": „Die Schönheit wird durch den Sinn empfunden, aber durch den Verstand erkannt und begriffen" 19 , eine Konzession Winckelmanns an den Piatonismus sehen wollen. 20 Hier kommt vielmehr eine nicht mit dem Piatonismus zu identifizierende Grundposition des Klassizismus zum Ausdruck, für den die Idee zum Urbild der Kunst wird, sobald sie die Hüllen ihrer natürlichen Herkunft abgestreift hat. 21 Die Ableitung der künstlerischen Ideen aus der sinnlichen Anschauung ist der entscheidende Schritt Belloris über die Neuplatoniker des Manierismus hinaus, wodurch die idealische Schönheit ihres metaphysischen Charakters entkleidet wird. Wenn Winckelmann neuplatonische Bilder wieder mehr hervorkehrt, reagiert er damit auf den Sensualismus, der inzwischen die Positionen des Naturalismus, der Sinnenlust und Farbe stärker
Winckelmann und die französische Aufklärung
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Klimaschwankungen abgeleitet. Zunächst dekretiert auch Winckelmann, daß die vollkommene Natur der Griechen „der Einfluß eines sanften und reinen Himmels" sei. Aber während für Dubos Regierung, Erziehung und andere historische Faktoren eine sekundäre Rolle spielen, legt Winckelmann, darin Voltaire folgend, auf diese die nachdrücklichste Betonung. Dubos' Klimalehre war freilich auch in Frankreich nicht ohne Widerspruch geblieben. Der als Erzieher von Berufs wegen klassizistisch gesinnte und auch in Deutschland viel gelesene Rollin hatte mit treffsicheren Beispielen gezeigt, daß nicht das Klima, sondern die Wissenschaften die Veränderung des Menschen, den historischen Prozeß der nationalen Aufstiegs- und Niedergangsperioden erklären. 16
II. Die Ablehnung des Dubosschen Sensualismus und das Anknüpfen an die französische Querelle lassen bereits vermuten, wo die Wurzeln für Winckelmanns „Schönheitsevangelium" zu suchen sind. In der Tat kann Winckelmanns Ästhetik eine Reproduktion der wesentlichsten Lehrsätze der französischen Klassik genannt werden. Wenn man deren Grundprinzipien dahingehend zusammengefaßt hat: moralische Belehrung als Ziel, Glauben an Kunst und Regel, Kult der Vernunft, Dogmen der Nachahmung der Natur und der Nachahmung der Alten 1 7 , so findet sich alles bei Winckelmann bis hin zu der bezeichnenden Annahme, daß die unerreichbare Schönheit der griechischen Skulpturen u. a. auch „bestimmtere und zuverlässigere Regeln, als bei uns gebräuchlich sind", zur Voraussetzung hatte. 18 Gewiß ist der Einfluß der klassischen Kunstlehre eines Bellori um so weniger zu leugnen, als sie aus den Winckelmannschen Exzerpten erwiesen ist. Zu Unrecht hat man in dem Satz aus der „Geschichte der Kunst": „Die Schönheit wird durch den Sinn empfunden, aber durch den Verstand erkannt und begriffen" 19 , eine Konzession Winckelmanns an den Piatonismus sehen wollen. 20 Hier kommt vielmehr eine nicht mit dem Piatonismus zu identifizierende Grundposition des Klassizismus zum Ausdruck, für den die Idee zum Urbild der Kunst wird, sobald sie die Hüllen ihrer natürlichen Herkunft abgestreift hat. 21 Die Ableitung der künstlerischen Ideen aus der sinnlichen Anschauung ist der entscheidende Schritt Belloris über die Neuplatoniker des Manierismus hinaus, wodurch die idealische Schönheit ihres metaphysischen Charakters entkleidet wird. Wenn Winckelmann neuplatonische Bilder wieder mehr hervorkehrt, reagiert er damit auf den Sensualismus, der inzwischen die Positionen des Naturalismus, der Sinnenlust und Farbe stärker
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MARTIN FONTIUS
befestigt hatte. Von seiner klassischen Grundüberzeugung ist er darum nicht abgewichen. 22 Cassirers folgenreiches Plädoyer für Winckelmanns Platonismus konnte nur zustande kommen, weil sein Versuch, das „Wesen des deutschen Geistes" zu bestimmen, die Existenz der klassischen Kunstlehre in Italien und Frankreich einfach ignoriert hat. 23 Dennoch ist damit die zentrale Bedeutung der französischen Klassik für Winckelmann keineswegs in Frage gestellt. Lessings Laokoon erschien erst nach den Winckelmannschen Hauptwerken und als Antwort auf sie. Gerade darin liegt eine entscheidende Schwäche der bisherigen Winckelmanninterpretation, daß sie diese Tatsache nicht berücksichtigt und nur nach der „vorhergehenden Kunsttheoretik" gefragt hat. In Winckelmanns ästhetischem Credo hat indessen das berühmte „ut pictura poesis" noch einen unerschütterlichen Platz. Der gute Geschmack ist für ihn nicht nur universal, neben dem es keinen anderen, sondern nur Verirrungen gibt, er ist vor allem integral, alle Äußerungen des menschlichen Kunsttriebes umfassend. Auch wenn die Exzerpte nicht eine zusätzliche Bestätigung liefern würden, wäre diese Überzeugung ausreichend, die Forderung nach einer Konfrontation mit der vorausgehenden literarischen Bewegung zu begründen. Da wäre zunächst festzustellen, womit freilich einer systematischen Untersuchung nicht vorgegriffen werden kann, daß die vor allem auf die Malerei ausgerichtete Kunstkritik in Frankreich schon in der sprachlichen Form den tiefsten Einfluß des früher ausgebildeten Begriffsapparats der Literatur verrät. 24 Alle in der zeitgenössischen Rhetorik und Poetik geschätzten Redewendungen machen ihren Weg auch im Bereich der Künste. Ebenfalls zeitlich vorangehend entwickelt die Literaturtheorie in La Mesnardiere's Poetik (1639) die Typenlehre, der die Malerei mit Le Bruns Traktat „Expression des passions" mit weitem Abstand folgt. 25 Entsprechendes gilt für die Selbstverständigung über den idealen Charakter von klassischer Literatur und Kunst. Hier läßt sich deutlich der eigentliche Sinn der unwiderstehlichen Anziehungskraft erkennen, den die Dichtung für die nach Höherem strebende Kunst besaß, mit anderen Worten, warum Winckelmann in der Dichtungslehre mehr gefunden hat, als ihm die Kunsttheorie bieten konnte: Dichtung besaß ex definitione ideellen Charakter. Das folgenreichste Ereignis der neueren Literaturgeschichte, die Begründung der neoaristotelischen Modellästhetik in Italien, wirft bis hierher seine Schatten. Nach Wiederentdeckung der „Poetik" hatte man der Geschichte die Darstellung des historischen Tatbestands, der einzelnen Wahrheit zuerkannt, so daß der Dichtung die philosophische Aufgabe zufiel, das Wesen der Dinge zu erleuchten. Geschichte und Wahrheit, Poesie und Wahrscheinlichkeit blei-
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ben für Jahrhunderte untrennbare Begriffspaare, wobei die Dichtung den Vorrang hat, da sie auf die Idealität, auf das Sollen abzielt. In diesem ästhetischen Weltbild, das der französische Klassizismus übernommen, verfeinert und zu universaler Bedeutung geführt hat, ist Winckelmann noch völlig befangen. Wenn wir in der „Geschichte der Kunst" lesen: „So wie im Apollo und im Torso ein hohes Ideal allein, und im Laokoon die Natur mit dem Ideal und mit dem Ausdrucke erhöht und verschönert worden, so ist in dieser Statue" - gemeint ist der borghesische Fechter „eine Sammlung der Schönheit der Natur in vollkommenen Jahren, ohne Zusatz der Einbildung. Jene Figuren sind wie ein erhabenes Heldengedicht von der Wahrscheinlichkeit über die Wahrheit hinaus, bis zum Wunderbaren geführt: diese aber ist wie die Geschichte, in welcher die Wahrheit, aber in den ausgesuchtesten Gedanken und Worten, vorgetragen wird." 2 6 so erhält die Beschreibung ihren poetischen Reiz gerade aus der Konzentration der Grundbegriffe poésie und histoire, vraisemblable, merveilleux und vérité. Und das ist keineswegs ein Zufall. Worum es Winckelmann geht, ist einem anderen Passus zu entnehmen, wo er die neuaristotelische Bestimmung der Dichtung für eine Grenzerweiterung der Malerei in Anspruch nimmt: „Nun ist die Geschichte der höchste Vorwurf, den ein Maler wählen kann; die bloße Nachahmung wird sie nicht zu dem Grade erheben, den eine Tragödie oder ein Heldengedicht, das Höchste in der Dichtkunst, hat. Homer hat aus Menschen Götter gemacht, sagt Cicero ; das heißt, er hat um erhaben zu dichten, lieber das Unmögliche, welches wahrscheinlich, als das bloß Mögliche gewählt; und Aristoteles setzt hierin das Wesen der Dichtkunst, und berichtet uns, daß die Gemälde des Zeuxis diese Eigenschaft gehabt haben. Die Möglichkeit und Wahrheit, welche Longin von einem Maler, im Gegensatze des Unglaublichen bei dem Dichter, fordert, kann hiermit sehr wohl bestehen. 27 " Aus dem hier vorliegenden Versuch, die sich ausschließenden Begriffe Wahrheit und Wahrscheinlichkeit einander anzunähern, spricht nicht eklektisches Unvermögen, sondern der klare Vorsatz, die Malerei in den Rang der universalen Dichtung zu erheben. Mit dieser Zielsetzung hat Winckelmann seine Allegorielehre unternommen, als eine Poetisierung der Malerei im Sinne einer Idealisierung. 28 Die Tatsache, daß Winckelmanns Gedanken um die idealische Schönheit in der Malerei und Skulptur kreisen, beweist seinen Neuplatonismus nicht besser 2 9 als der Stufengang der Schönheit, wie er ihn an den Figuren des borghesischen Fechters, des Laokoon und des Apollo erläutert. Denn entgegen Lomazzos im Anschluß an Ficinos Symposion-Kommentar gegebener
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Schönheitsdefinition als „Abglanz vom Antlitz Gottes", der in der Körperwelt durchscheinend, klarer im Spiegel der menschlichen Seele und am reinsten im Bewußtsein der Engel reflektiert wird, liegt für Winckelmann wie für die gesamte klassische Kunstlehre der Ursprung der idealen Schönheit im menschlichen Geist. Es ist dessen Schöpferkraft, von der die verschiedenen Stufen der Schönheit erschlossen werden. Klarer als bei Bellori und klarer als in der Kunstmetaphysik Lomazzos ist der Gedanke der drei Schönheitsstufen von Perrault formuliert worden 3 0 - die Rolle Frankreichs als Vermittler ist immer wieder erkennbar. Wieweit sich Winckelmann seiner Abhängigkeit von der klassischen Ästhetik bewußt war, ist eine andere Frage. Auch Batteux, in dessen den französischen Klassizismus gewig nicht ideal repräsentierenden ,Beaux arts réduits à un même principe' man seit langem die ästhetische Fibel der deutschen Aufklärung erkannt hat, bekundet in der Vorrede zu seinem Buch die Überzeugung, die Poetik des Aristoteles sei ihm zur Offenbarung geworden, nachdem er die Unzulänglichkeit des vorhandenen ästhetischen Schrifttums erkannt hatte . . . 3 1 Im Grunde wird dieser Befund auch von der kunsthistorischen Analyse bestätigt. Wenn Gottfried Baumecker festgestellt hat 3 2 , daß Winckelmann entscheidende Anregungen nur den Franzosen Chambray, Félibien, de Piles, Dubos und dem englischen Portraitmaler Richardson verdankt, dann ist die übergreifende Einheit auch hier der französische Klassizismus, dessen maßgeblicher Vertreter in England, Alexander Pope, mit Richardson aufs engste befreundet gewesen ist. In einem wesentlichen Punkt weicht Winckelmann allerdings von seinem Vorbild ab - und das genügt, um seinen Gedanken einen neuartigen Charakter zu geben. Für die klassizistischen Theoretiker war die dem künstlerischen Schaffen vorausgehende Vorstellung eines idealen Urbildes die Vorbedingung aller großen Kunst. Die Befolgung dieser Methode wurde daher den zeitgenössischen Künstlern nachdrücklich empfohlen. Winckelmann hält dagegen die Entstehung rein idealischer Kunstwerke in der Moderne nicht mehr für möglich. 33 Sein Kunstgriff besteht darin, die ursprünglich idealische Kunst zum Geheimnis der Griechen zu erklären, und das bedeutet allerdings eine bisher unbekannte Verschärfung des Imitatio-Prinzips. Aus alledem ist eins mit Sicherheit zu schließen: Die klassische Ästhetik, bei den Franzosen wie bei Winckelmann, zielt nicht auf die „Wahrheit der Natur", sondern auf ihr Wesen, die ideale Wahrheit. Bezeichnet man diese Kunstauffassung als „Piatonismus", „Materialismus" oder „Vorstufe zum künstlerischen Realismus" 34 , wird damit nur der eigene Standpunkt angezeigt, unsere Kenntnis über Winckelmann wird nicht bereichert.
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III. Während Winckelmanns ästhetische Anschauungen in der Hauptsache von den großen Leitgedanken der gesamten klassizistischen Epoche ausgehen, steht er mit der Lehre von der „edlen Einfalt und stillen Größe" in einer Tradition, in der das innerste Anliegen der französischen Klassik zum Ausdruck gekommen war. Der Ursprung der formelhaften Verkettung beider Begriffe reicht indessen weiter zurück. Er fällt zusammen mit der Begründung der Bibeleloquenz als Sonderart neben der Rhetorik der Advokatur und der Kanzel. Der Doppelcharakter der Einfachheit und Größe bezeugt auch im Stil das Wunder der Inkarnation.35 Das Göttliche mußte sich herablassen und die menschliche Knechtsgestalt der simplicité annehmen, sein Grundcharakter bricht jedoch in der grandeur und Erhabenheit wieder hervor. Dieses von der rhetorischen Tradition bereitgestellte Begriffspaar ist von der französischen Klassik mit neuem Inhalt gefüllt worden, indem der stilkritische zu einem kulturkritischen Sinn erweitert wurde. Die unbestrittene Herrschaft der klassischen Normen hatte wohl alle manieristischen Sprachgelüste erstickt, aber dafür die Gefahr eines Substanzverlustes beschworen, für den humanistisch gesinnte Kreise vor allem die von der Salonkultur getragene Literaturströmung des Präziösentums verantwortlich machten. Gegen den Kult der Sprachreinheit und des diskreten Geschmacks, gegen die einseitige Ausrichtung am Modisch-Galanten protestierten diese Kreise mit der Forderung nach Stärke und Größe, wie sie vorbildlich die Meisterwerke der Antike verkörperten. Nur in der Rückbesinnung auf diese unvergänglichen Schöpfungen könne die zeitgenössische Kunst zur ewigkeitsverheißenden grandeur emporsteigen, so der Grundtenor des Boileauschen Art poétique. Welche Antriebe diesem energischen Vorstoß zugrunde liegen, zeigt der um dieselbe Zeit im gleichen Kreis, der Académie de Lamoignon, festgehaltene Begriff der simplicité, der in der Folgezeit weitaus stärker betont wird als sein Pendant. Unter simplicité versteht der hier vor allen Dingen zu nennende Claude Fleury die dem Schöpfungsstand noch nahestehende natürliche Lebensform der griechischen und hebräischen Frühzeit, deren in der Ilias und im Alten Testament poetisch gespiegelter einfacher und strenger Lebensstil der genußsüchtigen und entnervten Gegenwart vorgehalten werden soll. Die Zuwendung zur griechischen Literatur, der auch die Klassiker Racine und Boileau unverkennbare Sympathien entgegentrugen, erfolgte also nicht aus rein ästhetischen Erwägungen, sondern mit deutlicher zeitkritischer Tendenz. Verglichen mit dem schamlosen Treiben der Neureichen
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MARTIN FONTIUS
erschien der antike Heroe, für den Besitz und Arbeit noch nicht unverträglich waren, als ein Sinnbild menschlicher Integrität. Der edlen Einfalt archaischer Sitten, bei Fleury noch unmittelbar mit moderner Zerstreuungskunst kontrastiert 36 , entspricht der gleiche Wesenszug griechischer Literatur und Kunst. Im übertragenen Wortsinn findet sich die noble simplicité bei Fénelon, Dubos, dem jungen Voltaire und späterhin bei Caylus.37 Sie wird 1726 von Rollin als allgemeines Kriterium des guten Geschmacks bezeichnet und damit in den klassischen Kanon aufgenommen.38 Damit ist zugleich der konkrete Bezug auf die Antike zum erstenmal aufgegeben: Edle Einfalt zeichnet alle Kunstperioden aus, in denen der sich unveränderlich gleichbleibende „gute Geschmack" geherrscht hat. Je stärker in der Aufklärung der ungeheure Abstand zur klassischen Literaturblüte unter Ludwig XIV. ins Bewußtsein tritt, um so enger wird der Begriff mit der entschwundenen Zeit verbunden.39 Grundsätzlich ist seit Rollin die edle Einfalt für alle Lebensräume freigegeben, wo immer sich klassischer Stilwille zu behaupten vermag.40 Winckelmann, der im übrigen selbst auf die vorausgehende Tradition verweist 41 , hat den Anwendungsbereich wieder auf die Meisterwerke der griechischen Kunst und Literatur eingeschränkt und eine neue Note hereingebracht, die freilich keine Wendung zum Besseren bedeutet. Durch ihn ist mit dem Moment der Stille ein christlich-stoischer Zug in die Formel gekommen, der in der französischen Tradition fehlt, obwohl sie vorwiegend durch eine konservativ-christliche Opposition zur herrschenden Gesellschaftsmoral getragen wurde. Seine Quelle, ein Dialog des klassizistischen Historikers Saint-Real, ist nur durch seinen eigenen Hinweis als solcher erkennbar.42 Von den Ausführungen Saint-Reals über die Grenzen der Malerei, in denen von der Darstellung eines bewegten Inhalts abgeraten wird zugunsten historischer Stoffe, deren Kulminationspunkt die Personen in einen Zustand der Ruhe versetze, von diesen auf den „Laokoon" weisenden Gedanken ist bei Winckelmann nichts mehr zu spüren. Die kulturkritische Funktion der noble simplicité in der französischen Literatur hat Winckelmann im Grunde aufgehoben. Das „Ganze" und „Vollkommene" der „schönen griechischen Natur" erweist sich, bei Licht besehen, schon deshalb „dem Geteilten in unserer Natur" 43 unendlich überlegen, weil der Polisbürger jeder banausischen Arbeit enthoben war. Winckelmann spricht zwar dem Kunstwerk, in dem er die Spuren eines Lebens entdeckt, „welches beständig beschäftigt gewesen und durch Arbeit abgehärtet worden" 44 nicht geradezu den Charakter der Schönheit ab. Aber es enthält nur die „Sammlung der Schönheiten der Natur", der in seiner Schönheitshierarchie die „verschönte und idealisierte Natur" und die reine Idealgestalt übergeordnet sind.
Winckelmann und die französische Aufklärung
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Die Winckelmannsche Konstrastierung der Integrität des griechischen Menschen mit moderner Entartung muß deshalb von dem Gedanken Herders und Schillers von der unzerstörten Einheit von Natur und Kultur bei den Griechen entschieden abgehoben werden, von dem sie durch das säkulare Ereignis des Rousseauismus getrennt ist. 45 Damit tritt die zentrale Frage in unser Blickfeld: In welchem Verhältnis steht Winckelmann zur Aufklärung? Wenn bisher geprüft wurde, in welchem Mafje Winckelmann der ästhetischen Diskussion in Frankreich verpflichtet war und worin er über sie hinausging, so ist nun zu fragen, welche Funktion diese beispiellose Idealisierung der griechischen Kunst für die deutsche Aufklärung besaß, warum dieser „Fanatiker der Alten" - so Diderot über Winckelmann - ein Deutscher war. IV. Nicht die an Klassik anknüpfende Griechenrezeption der französischen Frühaufklärung, sondern ein Gedanke ihrer Geschichtsphilosophie ist die entscheidende Voraussetzung, ohne die das eigentliche Anliegen Winckelmanns nicht verständlich wird. Der Sinn seiner Wendung zum Griechentum läßt sich als die republikanische Antwort auf die französische Siècle-Idee, in der Bedeutung des großen Kulturzeitalters, bestimmen. Mit der Ausgliederung der Kunst aus dem allgemeinen Fortschrittsgesetz, damit knüpfen wir an das über die „Querelle" Gesagte an, konnte sich das historische Sendungsbewußtsein der Aufklärung auf die Dauer nicht zufriedengeben. Die Offenheit des Problems reizte im Gegenteil zu immer neuen Entwürfen, der widerstrebenden Materie doch noch das Geheimnis zu entreißen. Mit dem Gedanken der großen Kulturepoche ließen sich die Widersprüche in einer höheren Einheit aufheben. Zum erstenmal war der Abbé Dubos dem Ursprung der vier kulturellen Blütezeiten nachgegangen und hatte dabei seine Klimatheorie entwickelt. Das 1751 in Berlin erscheinende „Jahrhundert Ludwigs XIV." Voltaires stellte das letzte von ihnen auch als das größte und reichste dar. Die aufklärerische Absicht Voltaires mag ursprünglich gewesen sein, die traditionelle Regenten- und Kriegsgeschichte noch stärker durch die Geschichte der Nation zurückzudrängen - im Ergebnis war es die Größe der französischen Monarchie, die allein die Blüte der Wissenschaft und Kunst erklärt. Kunst und Literatur durchdringen weite Räume der Gesellschaft und sind dem Ganzen der großen Kulturepoche untergeordnet, deren unermeßliche Überlegenheit über jede frühere Zeit in der universalen Wissenschaft der Philosophie zum Ausdruck kommt. Gewiß kann sich die französische Monarchie keineswegs mit der Machtfülle Roms
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Die Winckelmannsche Konstrastierung der Integrität des griechischen Menschen mit moderner Entartung muß deshalb von dem Gedanken Herders und Schillers von der unzerstörten Einheit von Natur und Kultur bei den Griechen entschieden abgehoben werden, von dem sie durch das säkulare Ereignis des Rousseauismus getrennt ist. 45 Damit tritt die zentrale Frage in unser Blickfeld: In welchem Verhältnis steht Winckelmann zur Aufklärung? Wenn bisher geprüft wurde, in welchem Mafje Winckelmann der ästhetischen Diskussion in Frankreich verpflichtet war und worin er über sie hinausging, so ist nun zu fragen, welche Funktion diese beispiellose Idealisierung der griechischen Kunst für die deutsche Aufklärung besaß, warum dieser „Fanatiker der Alten" - so Diderot über Winckelmann - ein Deutscher war. IV. Nicht die an Klassik anknüpfende Griechenrezeption der französischen Frühaufklärung, sondern ein Gedanke ihrer Geschichtsphilosophie ist die entscheidende Voraussetzung, ohne die das eigentliche Anliegen Winckelmanns nicht verständlich wird. Der Sinn seiner Wendung zum Griechentum läßt sich als die republikanische Antwort auf die französische Siècle-Idee, in der Bedeutung des großen Kulturzeitalters, bestimmen. Mit der Ausgliederung der Kunst aus dem allgemeinen Fortschrittsgesetz, damit knüpfen wir an das über die „Querelle" Gesagte an, konnte sich das historische Sendungsbewußtsein der Aufklärung auf die Dauer nicht zufriedengeben. Die Offenheit des Problems reizte im Gegenteil zu immer neuen Entwürfen, der widerstrebenden Materie doch noch das Geheimnis zu entreißen. Mit dem Gedanken der großen Kulturepoche ließen sich die Widersprüche in einer höheren Einheit aufheben. Zum erstenmal war der Abbé Dubos dem Ursprung der vier kulturellen Blütezeiten nachgegangen und hatte dabei seine Klimatheorie entwickelt. Das 1751 in Berlin erscheinende „Jahrhundert Ludwigs XIV." Voltaires stellte das letzte von ihnen auch als das größte und reichste dar. Die aufklärerische Absicht Voltaires mag ursprünglich gewesen sein, die traditionelle Regenten- und Kriegsgeschichte noch stärker durch die Geschichte der Nation zurückzudrängen - im Ergebnis war es die Größe der französischen Monarchie, die allein die Blüte der Wissenschaft und Kunst erklärt. Kunst und Literatur durchdringen weite Räume der Gesellschaft und sind dem Ganzen der großen Kulturepoche untergeordnet, deren unermeßliche Überlegenheit über jede frühere Zeit in der universalen Wissenschaft der Philosophie zum Ausdruck kommt. Gewiß kann sich die französische Monarchie keineswegs mit der Machtfülle Roms
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vergleichen. Aber zusammengenommen übertreffen die modernen europäischen Monarchien, in denen Voltaire die eigentlichen Träger der neueren Geschichte sieht, bei weitem das antike Vorbild. In dieser überlegenen Gesamtkultur nimmt Frankreich seit Ludwig XIV. eine Spitzenstellung ein, daraus nährt sich Voltaires Patriotismus. Vor dem Maßstab des grand siècle können nur die Epochen Alexanders, des Augustus und der Medici bestehen. Voltaire ist überzeugt, mit dem monarchischen Prinzip die Struktur der Kulturzeitalter bloßlegen zu können. Der Gedanke der Solidarität und des Fortschritts der Menschheit ist, mit den nötigen Begrenzungen, die tragfähige Grundlage dieses geschichtlichen Denkens. Für Deutschland war angesichts der nationalen Misere an eine Rezeption des geschichtlichen Fortschritts auch in der Form der Kulturzeitalter nicht ernstlich zu denken. Aus der Besinnung über den Abgrund, der dies lose Bündel absolutistischer Monarchien en miniature von der Höhe der Zeit trennte, mußte die Erkenntnis erwachsen, daß die Höfe das Haupthindernis einer einigen Nation darstellten. Der Gedanke des an die segnende Hand des Monarchen gebundenen Kulturzeitalters als Symbol des geschichtlichen Fortschritts stand in unversöhnlichem Gegensatz zur deutschen Wirklichkeit. Eine solche Situation konnte nur eine Geschichtsphilosophie freisetzen, von der die großen Kulturepochen der Menschheit aus einer antimonarchischen Grundstruktur erklärt wurden. Ohne den lebendigen Untergrund eines mächtigen Nationalstaates war von vornherein ausgeschlossen, daß die Aufgabe durch ein Werk der politischen Geschichtsschreibung gelöst werden konnte. Winckelmann, „durchdrungen und gesättigt von den Begriffen der Aufklärung über den Zusammenhang der Kultur"/l6, unterzog sich dieser Aufgabe mit seiner Orientierung auf die griechische Polis. Gewiß hat der Freiheitsgedanke auch in der französischen Literatur eine alte Tradition. Aber er hatte die Antike für seine Zwecke bemüht und als politische Kontrastidee benutzt, zudem war er seit der endgültigen Befestigung des Absolutismus unter Ludwig XIV. völlig zurückgetreten. Sein machtvoller, aus der zunehmenden Krise des Absolutismus resultierender Wiedereintritt in die französische Geschichte unter der Form des Rousseaunismus, dessen grundlegend veränderte Voraussetzung hier nicht zu erörtern sind, bedeutete die radikalste Kritik der aufklärerischen Kulturphilosophie und vollzog sich im Zeichen Spartas, nicht Athens. So sehr Rousseaus Ideen in der Folge die „retour à l'antique"-Bewegung befruchtet haben mögen, Winckelmann wird ihnen für sein Griechenbild kaum etwas verdanken. Bei ihm zum erstenmal werden Freiheit und Kunst als unzertrennbare Einheit gesehen, verbindet sich Republikanismus und ästhetisches Denken zu einer revolutionären Geschichtsphilosophie.
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V. Wenn wir im Anschluß an die Ausführungen von Georg Lukäcs im „Jungen Hegel" den Polisbegriff für Winckelmann verwenden, setzt das voraus, daß er auch bei ihm eine geschichtsphilosophische Konzeption beinhaltet, die in den Grundzügen mit der Hegeischen der Berner Periode übereinstimmt. Tatsächlich ist dies in einem bemerkenswerten Grad der Fall, obwohl bei Hegel nicht die griechische Kunst, sondern die griechische Demokratie als absolute Repräsentanz menschlicher Freiheit und Größe erscheint. Der Grundgedanke des damaligen Hegeischen Geschichtsdenkens war 4 7 , daß mit dem Zerfall der Polis der Niedergang der menschlichen Gesellschaft einsetzt und die Verwandlung des heroischen citoyen der Polis in den privaten bourgeois durch das Christentum besiegelt wird, das die Moralität der antiken Religionen auf die Legalität des christlichen Sittengesetzes reduziert. Der Despotismus des Christentums bildet den Gegenpol zur antiken Republik und verlängert den unheilvollen Zustand der Privatisierung, in dem die Religion nur das Individuum, nicht mehr das Volk anspricht, bis in die Gegenwart. Mit den Kategorien der Öffentlichkeit und der Privatisierung hat auch Winckelmann den Hauptunterschied zwischen antiker und moderner Kunst zu erfassen gesucht. Aus der nationalen Funktion der Kunst bei den Griechen erklärt er ihre „Großheit. Denn da sie nur den Göttern geweiht und für das Heiligste und Nützlichste im Vaterland bestimmt war, und in den Häusern der Bürger Mäßigkeit und Einfalt wohnte, so wurde der Künstler nicht auf Kleinigkeiten oder auf Spielwerke durch Einschränkung des Ortes oder durch die Lüsternheit des Eigentümers heruntergeholt, sondern was er machte, war den stolzen Begriffen des ganzen Volkes gemäß. Themistokles, Aristides und Kimon, die Häupter und Erretter von Griechenland, wohnten nicht besser als ihr Nachbar." 48 Winckelmann erkennt also wie Hegel in der relativen Vermögensgleichheit, nicht in der Sklaverei die gesellschaftliche Grundlage der griechischen Demokratie und ihrer Kunst und hebt den Unterschied zur zeitgenössischen Kunstpraxis energisch hervor, in der die Künstler dem „Eigensinn" des privaten Geschmacks unterworfen sind. Seine republikanische Gesinnung verurteilt folgerichtig in „dem elenden Geschmacke o d e r . . . dem übelgeschaffenen Auge eines durch die Schmeichelei und Knechtschaft aufgeworfenen Richters" 49 das Mäzenatentum als schlimmste Auswirkung der Privatisierung, das alle wahre Kunst in Ketten schlägt. Herder hat später diesen für die französischen Frühaufklärer unvorstellbaren Gedanken aufgegriffen und zu einer allgemeinen Theorie der Dekadenz entwickelt. 50
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V. Wenn wir im Anschluß an die Ausführungen von Georg Lukäcs im „Jungen Hegel" den Polisbegriff für Winckelmann verwenden, setzt das voraus, daß er auch bei ihm eine geschichtsphilosophische Konzeption beinhaltet, die in den Grundzügen mit der Hegeischen der Berner Periode übereinstimmt. Tatsächlich ist dies in einem bemerkenswerten Grad der Fall, obwohl bei Hegel nicht die griechische Kunst, sondern die griechische Demokratie als absolute Repräsentanz menschlicher Freiheit und Größe erscheint. Der Grundgedanke des damaligen Hegeischen Geschichtsdenkens war 4 7 , daß mit dem Zerfall der Polis der Niedergang der menschlichen Gesellschaft einsetzt und die Verwandlung des heroischen citoyen der Polis in den privaten bourgeois durch das Christentum besiegelt wird, das die Moralität der antiken Religionen auf die Legalität des christlichen Sittengesetzes reduziert. Der Despotismus des Christentums bildet den Gegenpol zur antiken Republik und verlängert den unheilvollen Zustand der Privatisierung, in dem die Religion nur das Individuum, nicht mehr das Volk anspricht, bis in die Gegenwart. Mit den Kategorien der Öffentlichkeit und der Privatisierung hat auch Winckelmann den Hauptunterschied zwischen antiker und moderner Kunst zu erfassen gesucht. Aus der nationalen Funktion der Kunst bei den Griechen erklärt er ihre „Großheit. Denn da sie nur den Göttern geweiht und für das Heiligste und Nützlichste im Vaterland bestimmt war, und in den Häusern der Bürger Mäßigkeit und Einfalt wohnte, so wurde der Künstler nicht auf Kleinigkeiten oder auf Spielwerke durch Einschränkung des Ortes oder durch die Lüsternheit des Eigentümers heruntergeholt, sondern was er machte, war den stolzen Begriffen des ganzen Volkes gemäß. Themistokles, Aristides und Kimon, die Häupter und Erretter von Griechenland, wohnten nicht besser als ihr Nachbar." 48 Winckelmann erkennt also wie Hegel in der relativen Vermögensgleichheit, nicht in der Sklaverei die gesellschaftliche Grundlage der griechischen Demokratie und ihrer Kunst und hebt den Unterschied zur zeitgenössischen Kunstpraxis energisch hervor, in der die Künstler dem „Eigensinn" des privaten Geschmacks unterworfen sind. Seine republikanische Gesinnung verurteilt folgerichtig in „dem elenden Geschmacke o d e r . . . dem übelgeschaffenen Auge eines durch die Schmeichelei und Knechtschaft aufgeworfenen Richters" 49 das Mäzenatentum als schlimmste Auswirkung der Privatisierung, das alle wahre Kunst in Ketten schlägt. Herder hat später diesen für die französischen Frühaufklärer unvorstellbaren Gedanken aufgegriffen und zu einer allgemeinen Theorie der Dekadenz entwickelt. 50
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Der Verlust der politischen Freiheit Athens bedingt im Geschichtsbild Winckelmanns den Niedergang der Kunst. Im „Hofleben" der griechischen Dichter, das aus der Verlagerung der Kulturzentren in die Diadochenreiche erwächst, diagnostiziert er den Ursprung einer Korrumpierung des Geschmacks.51 Die wohlmeinenden Bemühungen Kaiser Hadrians, die große Kunst wiederzubeleben, sind zum Scheitern verurteilt: „Der Geist der Freiheit war aus der Welt gewichen und die Quelle zum erhabenen Denken und zum wahren Ruhm war verschwunden." Das unter seiner Regierung aufkommende Christentum erstickt auch den letzten Gedanken an vergangene Größe.52 Auch die Kultur der Renaissance erreicht für Winckelmann nicht die einstige Höhe, da die gesellschaftlichen Voraussetzungen fehlen, doch kommt sie ihr von allen Perioden am nächsten. Vor allem bewirkt die Kenntnis der griechischen Sprache und ihrer Werke, daß der „Geist der Freiheit" sich wieder erhebt. Die unsterblichen Werke Raffaels und Michelangelos verdanken ihre Größe der durch griechisches Denken befruchteten italienischen Nationalliteratur.53 Seitdem aber haben sich Zwang und Ungleichheit verstärkt. Die ironisch als „güldene Zeit der Künste" bezeichnete französische Klassik ist für Winckelmann völlig vom Auftreten der Antikegegner überschattet. Die gerade in jener Zeit wachsende Macht der Höfe bewirkt wiederum eine verstärkte „Knechtschaft der Völker" und eine neuerliche Korrumpierung des Geschmacks.54 Hier hat die Polis-Idee mit innerer Konsequenz die äußerste Entfernung vom Siecle-Gedanken erreicht. Wir sehen darin kein Paradox, sondern die Dialektik der Geschichte, wenn die Rückständigkeit Deutschlands im Werk Winckelmanns eine progressivere, auf die Umwälzung des Bestehenden abzielende Geschichtsphilosophie hervortreibt, gegen die auch die Meinung Humes, daß die republikanische Staatsform für die Wissenschaften, die monarchische für die Künste am förderlichsten sei, nur eine Kompromißlösung ist. 55 Der tiefere Sinn der Winckelmannschen Idealisierung der griechischen Kunst erklärt sich aus seiner politischen Position. In der republikanischrevolutionären Tendenz unterscheidet sich Winckelmann von aller vorangegangenen Griechenrezeption.
VI. Aus der begeisterten Zustimmung, mit der seine Werke aufgenommen wurden56, ist zu erkennen, daß der revolutionäre Grundton von den Zeitgenossen vernommen worden ist. Indessen kann man nicht behaupten, daß alle seine Gedanken auf gleichmäßig fruchtbaren Boden gefallen sind. Das
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Der Verlust der politischen Freiheit Athens bedingt im Geschichtsbild Winckelmanns den Niedergang der Kunst. Im „Hofleben" der griechischen Dichter, das aus der Verlagerung der Kulturzentren in die Diadochenreiche erwächst, diagnostiziert er den Ursprung einer Korrumpierung des Geschmacks.51 Die wohlmeinenden Bemühungen Kaiser Hadrians, die große Kunst wiederzubeleben, sind zum Scheitern verurteilt: „Der Geist der Freiheit war aus der Welt gewichen und die Quelle zum erhabenen Denken und zum wahren Ruhm war verschwunden." Das unter seiner Regierung aufkommende Christentum erstickt auch den letzten Gedanken an vergangene Größe.52 Auch die Kultur der Renaissance erreicht für Winckelmann nicht die einstige Höhe, da die gesellschaftlichen Voraussetzungen fehlen, doch kommt sie ihr von allen Perioden am nächsten. Vor allem bewirkt die Kenntnis der griechischen Sprache und ihrer Werke, daß der „Geist der Freiheit" sich wieder erhebt. Die unsterblichen Werke Raffaels und Michelangelos verdanken ihre Größe der durch griechisches Denken befruchteten italienischen Nationalliteratur.53 Seitdem aber haben sich Zwang und Ungleichheit verstärkt. Die ironisch als „güldene Zeit der Künste" bezeichnete französische Klassik ist für Winckelmann völlig vom Auftreten der Antikegegner überschattet. Die gerade in jener Zeit wachsende Macht der Höfe bewirkt wiederum eine verstärkte „Knechtschaft der Völker" und eine neuerliche Korrumpierung des Geschmacks.54 Hier hat die Polis-Idee mit innerer Konsequenz die äußerste Entfernung vom Siecle-Gedanken erreicht. Wir sehen darin kein Paradox, sondern die Dialektik der Geschichte, wenn die Rückständigkeit Deutschlands im Werk Winckelmanns eine progressivere, auf die Umwälzung des Bestehenden abzielende Geschichtsphilosophie hervortreibt, gegen die auch die Meinung Humes, daß die republikanische Staatsform für die Wissenschaften, die monarchische für die Künste am förderlichsten sei, nur eine Kompromißlösung ist. 55 Der tiefere Sinn der Winckelmannschen Idealisierung der griechischen Kunst erklärt sich aus seiner politischen Position. In der republikanischrevolutionären Tendenz unterscheidet sich Winckelmann von aller vorangegangenen Griechenrezeption.
VI. Aus der begeisterten Zustimmung, mit der seine Werke aufgenommen wurden56, ist zu erkennen, daß der revolutionäre Grundton von den Zeitgenossen vernommen worden ist. Indessen kann man nicht behaupten, daß alle seine Gedanken auf gleichmäßig fruchtbaren Boden gefallen sind. Das
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geschichsphilosophische Denken ist bei Winckelmann tiefer begründet, als es zunächst den Anschein hat. Solange die Aufklärung klassisch gesonnen war, hat sie nur den Ästhetiker Winckelmann rezipiert und nicht den Historiker, bei dem nicht zufällig erst Herder anknüpft. Meinecke blieb es vorbehalten, Winckelmanns historische Leistung in der „vollkommenen seelischen Einfühlung in das vollkommene Kunstwerk" zu sehen und daraus „sein Bedürfnis nach Verabsolutierung des Geliebten" abzuleiten,57 womit die Dinge auf den Kopf gestellt waren. Für die seit Herder und Friedrich Schlegel bis heute vorherrschende Ansicht mag das von Wilamowitz 1921 über Winckelmann gefällte Urteil stehen: „Indem er eine Stilgeschichte gab, von der die Philologen weder für die Poesie noch für die Prosa überhaupt eine Ahnung hatten, gab er ein Vorbild, zu dem alle Zeit bewundernd aufschauen soll." 58 Ungeklärt ist freilich das Hauptproblem. Wodurch ist das neue Dimensionen erschließende Prinzip der Stilgeschichte so plötzlich in Umlauf geraten? In jüngster Zeit ist von kunsthistorischer Seite der Versuch unternommen worden, einer Lösung auf begriffsgeschichtlichem Wege näherzukommen. 59 Eine entscheidende Voraussetzung wäre danach die Identifizierung des in der Literaturtheorie verwendeten Stilbegriffs mit dem ursprünglich das Gleiche für die bildende Kunst bezeichnenden Begriff Manier, der eine Bedeutungsverschlechterung erfahren hätte. Dem französischen Archäologen Caylus käme das Verdienst zu, den Begriff in die Kunstgeschichte eingeführt und als Erster das Phänomen des Zeitstils erkannt zu haben, während Winckelmann nur die terminologischen Konsequenzen aus diesem Funde gezogen habe. In Wirklichkeit hat dieser Entlehnungsvorgang 100 Jahre früher stattgefunden. 60 Das zunächst nur die Arbeitsweise und den nationalen, temporalen oder individuellen Kunstcharakter bezeichnende „maniera" hatte im 17. Jahrhundert einen prägnanten Inhalt erhalten, mit dem die Befreiung zur absoluten Wortstellung einherging. Manierist im ursprünglichen Wortsinn ist der Maler, der „aus dem Kopf" malt, also die Imitation der Natur wie jedes andere Vorbild verwirft. Indem die im Kreis um Bellori entwickelte klassische Theorie die Natur wieder zum Ausgangspunkt des Kunstschaffens erhob, mußte das Bedürfnis entstehen, einen Ersatz für das durch die veränderte philosophische Konzeption unbrauchbar gewordene „maniera" zu finden, um weiterhin über einen wertindifferenten Ausdruck für die besondere Kunstweise zu verfügen. Tatsächlich ist der Terminus Stil schon bei Bellori belegt,-61 er findet sich im gleichen Zeitraum in der französischen Kunstliteratur, 62 wird dann von dem einflußreichen de Piles wiederaufgegriffen 63 und gewinnt zumindest in Frankreich in der Folgezeit einen gesteigerten Kurswert. 64 2 Fontius
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Wenn die begriffsgeschichtlichen Voraussetzungen einer Kunstgeschichte als Stilgeschichte ein volles Jahrhundert ungenutzt geblieben sind, dann kann der Winckelmann erleuchtende Funke nur aus dem für ihn zum unmittelbaren Zeiterlebnis werdenden Bereich der Geschichtsschreibung selber stammen. Damit stoßen wir auch hier wieder auf Voltaire, in den fünfziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts der unbestrittene Meister der Aufklärungshistoriographie. Wenn der Antrieb der Geschichtsschreibung bei Winckelmann in dem Bedürfnis zu suchen ist, seine ästhetischen Überzeugungen durch eine Geschichte der griechischen Kunst zu bestätigen, so folgt er damit im Grunde dem epochemachenden Vorbild Voltaires, der zum erstenmal von der Zielsetzung der Aufklärung aus eine neue Deutung der Menschheitsgeschichte unternommen und die abgeschiedene Welt wieder in die Auseinandersetzungen der Gegenwart hineingerissen hat. Die Meisterung des unabsehbaren Stoffes wird nur möglich, indem Voltaire seine Philosophie an die Geschichte heranträgt und die „nützlichen Wahrheiten" auswählt. Energisch wie niemand vor ihm muß Voltaire auf den „Geist der Zeiten" achten, um sein historisches Bauwerk gestalten zu können. Wie es scheint, war an die Periodisierung einer Stilgeschichte nicht zu denken, bevor nicht der Blick für das Wesentliche und die großen Linien an der Universalgeschichte geschärft war. Mit der Abkehr von der chronologisch gegliederten Darstellung von Künstlerviten vollzieht Winckelmann für die Kunstgeschichte das Gleiche, was Voltaire mit der Liquidation der traditionellen Regenten- und Kriegsgeschichte für die allgemeine Geschichte durchgeführt hatte. Der neue Inhalt ist bei Voltaire die „Geschichte des menschlichen Geistes", bei Winckelmann ein Teil davon, die Geschichte der Kunst als eines innerlich zusammenhängenden Schöpfungsbereichs.
VII. Im Rückblick auf die klassische Ästhetik, die zweite große Linie in Winckelmanns Denken, bleibt die Frage, inwieweit er ihren normativen Charakter mit seinem aufklärerischen Historismus zu vereinbaren gewußt hat. Alles deutet darauf hin, daß nur Winckelmanns vorzeitiges Ende die Entwicklung zu einer stärkeren Historisierung abgeschnitten hat. Doch geben die vorliegenden Arbeiten genugsam zu erkennen, daß sich im Spätwerk die beiden Sphären durchdringen, worauf Größe und Einheit seines Lebenswerkes beruht. Diese Einheit ist in einem viel tieferen Sinne vorhanden, als den Zeitgenossen bewußt werden konnte, da die am Anfang seiner Laufbahn stehen-
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Wenn die begriffsgeschichtlichen Voraussetzungen einer Kunstgeschichte als Stilgeschichte ein volles Jahrhundert ungenutzt geblieben sind, dann kann der Winckelmann erleuchtende Funke nur aus dem für ihn zum unmittelbaren Zeiterlebnis werdenden Bereich der Geschichtsschreibung selber stammen. Damit stoßen wir auch hier wieder auf Voltaire, in den fünfziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts der unbestrittene Meister der Aufklärungshistoriographie. Wenn der Antrieb der Geschichtsschreibung bei Winckelmann in dem Bedürfnis zu suchen ist, seine ästhetischen Überzeugungen durch eine Geschichte der griechischen Kunst zu bestätigen, so folgt er damit im Grunde dem epochemachenden Vorbild Voltaires, der zum erstenmal von der Zielsetzung der Aufklärung aus eine neue Deutung der Menschheitsgeschichte unternommen und die abgeschiedene Welt wieder in die Auseinandersetzungen der Gegenwart hineingerissen hat. Die Meisterung des unabsehbaren Stoffes wird nur möglich, indem Voltaire seine Philosophie an die Geschichte heranträgt und die „nützlichen Wahrheiten" auswählt. Energisch wie niemand vor ihm muß Voltaire auf den „Geist der Zeiten" achten, um sein historisches Bauwerk gestalten zu können. Wie es scheint, war an die Periodisierung einer Stilgeschichte nicht zu denken, bevor nicht der Blick für das Wesentliche und die großen Linien an der Universalgeschichte geschärft war. Mit der Abkehr von der chronologisch gegliederten Darstellung von Künstlerviten vollzieht Winckelmann für die Kunstgeschichte das Gleiche, was Voltaire mit der Liquidation der traditionellen Regenten- und Kriegsgeschichte für die allgemeine Geschichte durchgeführt hatte. Der neue Inhalt ist bei Voltaire die „Geschichte des menschlichen Geistes", bei Winckelmann ein Teil davon, die Geschichte der Kunst als eines innerlich zusammenhängenden Schöpfungsbereichs.
VII. Im Rückblick auf die klassische Ästhetik, die zweite große Linie in Winckelmanns Denken, bleibt die Frage, inwieweit er ihren normativen Charakter mit seinem aufklärerischen Historismus zu vereinbaren gewußt hat. Alles deutet darauf hin, daß nur Winckelmanns vorzeitiges Ende die Entwicklung zu einer stärkeren Historisierung abgeschnitten hat. Doch geben die vorliegenden Arbeiten genugsam zu erkennen, daß sich im Spätwerk die beiden Sphären durchdringen, worauf Größe und Einheit seines Lebenswerkes beruht. Diese Einheit ist in einem viel tieferen Sinne vorhanden, als den Zeitgenossen bewußt werden konnte, da die am Anfang seiner Laufbahn stehen-
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den „Gedanken vom mündlichen Vortrag über die neuere allgemeine Geschichte" erst im 19. Jahrhundert bekannt wurden. 65 Den Leitgedanken - statt Annalistik Konzentration auf das „Nützliche", statt Kriegsruhm der Fürsten Lob der Friedensfürsten, daher die National- und Wirtschaftsgeschichte mit ihren „großen Männern" der wahre Gegenstand für den, der „die Geschichte des menschlichen Verstandes" nachzuzeichnen gesonnen ist - diesen Ideen steht die Herkunft von Voltaire auf der Stirn geschrieben, wenngleich man Winckelmanns Neigung zum Systematisieren und die Vorliebe für die Antike zu spüren glaubt. Der Beginn der Arbeit an der „Geschichte der Kunst" bedeutet daher nur eine Rückkehr zur Geschichte, nachdem Winckelmann, getragen vom Geist der französischen Klassik, in der griechischen Kunst den unvergleichlichen Ausdruck höchster ästhetischer Vollendung entdeckt hatte. Nur schweren Herzens konnte er sich von den holden Träumen lösen - die umfassendste Darlegung seiner Schönheitslehre ist der Geschichte der vier Stile unter den Griechen unmittelbar vorangestellt. Die Gegensätze sind so mit Händen zu greifen 6 6 : Der Ruf zur Nachahmung der Alten war der Kernsatz seiner Ästhetik - jetzt kennzeichnet der „Stil der Nachahmer" die Periode des Verfalls; die „Staffel der Schönheit" stieg auf von der gemeinen Natur über die verschönte zum reinen Idealgebilde - dem historischen Blick offenbart sich der Stufengang der griechischen Kunst als eine fortgesetzte Annäherung der Kunst an die Wahrheit der Natur. Deren Höhepunkt ist nicht mehr der „hohe Stil", sondern der „das Liebliche" und „die Mannigfaltigkeit", wir würden sagen das Individuelle in sich vereinigende „schöne Stil". Während in der „Geschichte der Kunst" klassische Ästhetik und Geschichte noch unvermittelt nebeneinander stehen, entschließt sich Winckelmann 1767, weitere unhaltbare Positionen der vergangenen Periode offen zurückzunehmen. Das Ideal der Kalokagathia heißt ihm jetzt Verwechslung von Schönheit mit Vollkommenheit. Er bekennt, „auch in unseren T a g e n . . . in der Wirklichkeit Gestalten, wie die Niobe oder den vatikanischen Apoll" gesehen zu haben und bricht damit den Stützpfeiler für den absoluten Vorrang der griechischen Kunst, die „schöne griechische Natur". 67 Die dialektische Bewegung des Winckelmannschen Denkens - so können wir unsere Untersuchung zusammenfassen - läßt sich über drei Stationen verfolgen, wobei sowohl sein Geschichtsbild wie seine Ästhetik eine vorhergehende Aneignung und Auseinandersetzung mit der französischen Klassik und dem Geschichtsdenken der französischen Aufklärung zur Voraussetzung haben. In der französischen Literatur begegnet Winckelmann keinem beliebigen „Einfluß", sondern dem, was damals in ganz Europa als Literatur schlechthin anerkannt und rezipiert wurde. Mit der Antinomie zwischen 2*
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klassischer Ästhetik und Geschichte hat man sich auch in Frankreich auseinandersetzen müssen, seitdem die Aufklärung gegen die Modernisten entschieden hatte. Die anders beschaffene deutsche Umwelt ermöglicht Winckelmann, mit Nachdruck auch auf ästhetischem Gebiet die Position der deutschen Aufklärung festzuhalten. Sie ist die Konstante, aus der die innere Einheit des Denkens resultiert, das freilich erst aus seiner Herkunft seinen historischen Sinn enthüllt. Für die geistige Spannweite und Entwicklung eines solchen Lebens scheint das vielzitierte Dichterwort von der „antiken Natur" Winckelmanns eine nicht mehr angemessene Metapher. Man wird besonders in Rechnung stellen, welcher Mißbrauch damit in den Niederungen der deutschen Geistesgeschichte getrieben worden ist, wo die „wahrhaft kopernikanische Wendung" durch Winckelmann als „Befreiung" von der „Überfremdung und Entartung der deutschen Bildung" gefeiert wurde und die Fragestellung „Winckelmann und Frankreich" auf die dem bösen Geist der Zeit huldigende Antwort gebracht worden ist: „Dieser natürlichen Artung Winckelmanns entspricht einerseits eine ebenso natürliche Abneigung gegen alles F r a n z ö s i s c h e . . . andererseits eine idealische Liebe zum Griechentum." 6 8 Nicht nur die geschichtlichen Vorgänge, sondern, was unendlich gefährlicher ist, auch die in ihnen waltende Gesetzlichkeit, sind hier der Willkür der Manipulation preisgegeben. Dem Gesetz, unter dem auch Winckelmann und die deutsche Literatur angetreten sind, hat unlängst Werner Krauss die verbindliche Formel gegeben: „So wie das Individuum sich nicht nach einem mitgegebenen und festgelegten Bau oder Marschplan entwickelt, sondern seine Fähigkeiten in der Auseinandersetzung, mit einer Gemeinschaft von Individuen entwickelt, so wie das Leben einer jeden Nation sich in einer Welt von Nationen abspielt, so kann sich auch die einzelne nationale Literatur nur durch Begegnung und Berührung, durch Anziehung und Abstoßung, durch die fortwährend getätigte Beziehung zu den mit ihr lebenden und auf ihre Sphäre wirkenden Literaturen behaupten." 6 9
Anmerkungen
Vgl. Wolfgang Baumgart, Das Bild Winckelmanns in der neueren Forschung. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 62 (1937), S. 389ff. Friedrich Zucker, Klassisches Altertum und deutsche Bildung. Jena 1934, S. 15. Franz Mehring, Aufsätze zur deutschen Literatur von Klopstock bis Weerth, Berlin 1961, S. 20 f. - Mehring überschätzt die Bedeutung Montesquieus für Winckelmann, weil er die Klimalehre zu positiv wertet; er verkennt völlig den Charakter von Winckelmanns Freiheitsbegeisterung und beurteilt die „Geschichte der Kunst des Altertums" einseitig. Winckelmanns europäischer Ruf war durch sein Erstlingswerk befestigt; die ästhetischen Kapitel in der „Geschichte der Kunst" bedeuten demgegenüber nichts grundsätzlich Neues, wohl aber die Stilperioden, an die Herder anknüpft. Karl Justi, Winckelmann. Sein Leben, seine Werke und seine Zeitgenossen. Bd. 1-2, Leipzig 1866-72. Die veränderte zweite Auflage unter dem Titel: Winckelmann und seine Zeitgenossen. Bd. 1-3, Leipzig 1898. Zitiert bei Mehring, a. a. O., S. 8 f. Vgl. S. 151 der folgenden Anmerkung. Karl Justi, Über die Studien Winckelmanns in seiner vorrömischen Zeit. In: Historisches Taschenbuch, hrsg. von F. von Raumer, Folge 4, VII (1866), S. 129-202. Ebenda, S. 182. Winckelmann in einem Brief an Uhden, 1755, zitiert nach Winckelmann, Antike und deutsche Klassik. Studien zur bildenden Kunst. Hrsg. v. Wilhelm Senff. Leipzig (1963), S. 285. - Alle vorrömischen Arbeiten Winckelmanns werden nach dieser Ausgabe zitiert. Werner Krauss, Cartaud de la Villate und die Entstehung des geschichtlichen Weltbildes in der Frühaufklärung. In: W. Krauss, Studien und Aufsätze zur deutschen und französischen Aufklärung, Berlin 1963, S. 176 ff. - Hans Robert Jauss, Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der „Querelle des Anciens et des Modernes", Einleitung zum Faksimiledruck der „Parallele des anciens et des modernes" von Charles Perrault, München 1964. - Werner Krauss/Hans Kortum: Antike und Moderne in der Literaturdiskussion des 18. Jahrhunderts. Berlin 1966. Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, a. a. O., S. 20.
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Jean-Baptiste Dubos, Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture. Bd. 1-3, Paris 1755 (Erstausgabe 1719). Noch immer die beste Darstellung gibt A. Lombard, L'abbé Dubos. Un initiateur de la pensé moderne, Paris 1913. 13 Welleks Versuch, Winckelmann „starken Sensualismus" nachzuweisen, ist mehr ein Wortspiel und ebensowenig überzeugend, wie die Bagatellisierung der Allegorie (René Wellek, Geschichte der Literaturkritik 1750-1830, Luchterhand 1959, S. 159). v ' Winckelmann, Erläuterung der Gedanken über die Nachahmung, a. a. O., S. 105. 15 Vgl. Jean Ehrard, L'idée de nature en France dans le première moitié du 18 e siècle. Bd. 2, Paris 1963, S. 691 ff. 16 Charles Rollin, De la manière d'enseigner et d'étudier les belles lettres. Bd. 1, Paris 1798, S. III-VII (Erstausgabe 1726-28). 17 René Bray, La formation de la doctrine classique en France, Paris 1951, S. 191. - Bray vermittelt einen Oberblick, der freilich von allen konkreten historischen Bezügen abstrahiert. 18 Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung, a. a. O., S. 49. - Es mag genügen, die Übereinstimmung noch an einem weiteren Punkt, an der bei Winckelmann im Zentrum stehenden Mimesis-Lehre zu verdeutlichen - die Nachahmung der Natur und der Alten ist das eherne Grundgesetz der Theoretiker des französischen Klassizismus seit Deimier's Académie de l'art poétique von 1610. Winckelmann wendet sich gegen die einfache Wiedergabe der Natur, verurteilt daher die naturalistische Portraitkunst der holländischen Maler und zitiert das „Gesetz, die Natur bei Strafe aufs Beste nachzuahmen" - ganz wie der französische Klassizismus. Er fordert nicht die integrale Nachahmung der Natur, sondern eine Auswahl des Schönen - die gleiche Idee des „choix" beherrscht das gesamte klassizistische Denken in Frankreich. Winckelmann preist als höchste Erfüllung künstlerischen Strebens, wenn man im Kunstwerk fände „nicht allein die schönste Natur, sondern noch mehr als Natur, das ist, gewisse idealische Schönheiten derselben, die.. . von Bildern bloß im Verstände entworfen, gemacht sind" (Gedanken über die Nachahmung, a. a. O., S. 21 f.) und unterscheidet daher die „gemeine Natur" von der „geistigen" oder „idealischen" - und auch das ist seit langem in Frankreich eine Binsenwahrheit. Das gleiche Verhältnis zeigt die Lehre von der Nachahmung der Antike: Der französische Klassizismus hatte die im 16. Jahrhundert von der Plejade geübte sklavische Imitatio verworfen und durch die freiere, aneignende ersetzt, zugleich also eingeräumt, dafj nicht alle antike Kunst fehlerfrei sei - man hatte des weiteren, nach dem Vorgang Scaligers, die Nachahmung der Alten damit begründet, daß ihre Werke eben die ideale Natur oder Schönheit verkörperten und damit die Nachahmung der Natur mit der Nachahmung der Antike identifiziert, all dies und manches mehr findet sich wieder bei Winckelmann. 12
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Winckelmann, Geschichte der Kunst des Altertums, Weimar 1964, S. 128.
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Louis J. Bredvold, The tendency toward Platonism in neoclassical esthetics. In: ELH. A. Journal of English literary history, Bd. 1, 1934, S. 110. Bekanntlich lautet die berühmte Definition der Idea durch Bellori, in der die doppelte Frontstellung gegen Manierismus und Naturalismus zum Ausdruck kommt: „Aus der Natur erwachsen überwindet sie ihren Ursprung und macht sich zum Urbild der Kunst. (Giovanni Pietro Bellori, Die Idee des Künstlers, übersetzt von Kurt Gerstenberg, Halle [1939], S. 12.) Seine Stellung zum Neuplatonismus hat er in der „Geschichte der Kunst" klargestellt: „Diese Wahl der schönsten Theile und deren harmonische Verbindung in einer Figur brachte die idealische Schönheit hervor, welche also kein metaphysischer Begriff ist." (zit. bei Gottfried Baumecker, Winckelmann in seinen Dresdner Schriften. Die Entstehung von Winckelmanns Kunstanschauung und ihr Verhalten zur vorhergehenden Kunsttheoretik. Berlin 1933, S. 146) - Im gleichen Sinne lehnt er es in den „Anmerkungen zur Geschichte der Kunst" (1767) ab, daß das Ideal „nur allein im Verstände könne gebildet werden" (zitiert bei Curt Müller, Die geschichtlichen Voraussetzungen des Symbolbegriffs in Goethes Kunstanschauung, Leipzig 1937, S. 74).
Ernst Cassirer, Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Berlin 1916, S. 206 ff. 2/* Vgl. Ferdinand Brunot, Histoire de la langue française. Bd. 6, Paris 1966, S. 679 ff. : La langue de la peinture. 25 André Fontaine, Les doctrins d'art en France, Peintres - amateurs critiques de Poussin à Diderot, Paris 1909, S. 68 ff. 2 6 Winckelmann, Geschichte der Kunst, a. a. O., S. 310 f. 27 Winckelmann, Erläuterung der Gedanken über die Nachahmung, a. a. O., S. 106. 28 Ohne die Kenntnis der neoaristotelischen Begriffswelt kommt auch die sonst gut informierte neueste Darstellung von Winckelmanns Bemühungen um die Allegorie Ergebnis über Gemeinplätze nicht hinaus. Vgl. Elida Maria Szarota, Lessings „Laokoon". Eine Kampfschrift für eine realistische Kunstauffassung. Weimar 1959, S. 52; aus dem gleichen Grunde wird die Poetik von Bodmer und Breitinger (S. 131 f.) völlig mißverstanden und die Tradition verkannt, in der Lessing mit dem Nachweis der Überlegenheit der Poesie steht (S. 195 ff. und 233). - Wenn zur Unkenntnis der neuaristotelischen Ästhetik die der klassischen Kunstlehre hinzutritt, kann man sogar in der Unterscheidung zwischen Idee und Schönheit „den Einfluß der Aufklärung" bei Winckelmann erkennen. (Armand Nivelle, Kunst- und Dichtungstheorien zwischen Aufklärung und Klassik, Berlin 1960, S. 70/71.)
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2!)
Man braucht nur die Ansichten eines wirklichen Platonikers über die Dichtung anzusehen, um den Unterschied zu begreifen. August Buck hat Ficinos Gedanken dahingehend zusammengefaßt: „Die Idee der Schönheit ist dem Menschen angeboren als Erinnerung an die Betrachtung der ewigen Schönheit, der sich die Seele während ihrer Präexistenz hingegeben hatte. Der Mensch erfaßt daher das Wesen der Schönheit nicht aus der Erfahrung als harmo-
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nische Zusammenfügung einzelner Teile zu einem Ganzen, wie es die Mafjästhetik will, sondern er schaut die Idee der Schönheit mit dem Auge seiner Seele." (Buck, Italienische Dichtungslehren vom Mittelalter bis zum Ausgang der Renaissance, Tübingen 1952, S. 90.) „La plus grande difficulté ne consiste pas à bien représenter des objets, mais à représenter de beaux objets, et par les endroits où ils sont les plus beaux. J e vais encore plus loin, et je dis que ce n'est pas assez au peintre d'imiter la plus belle nature telle que ses yeux la voyent, il faut qu'il aille au de-là, et qu'il tâche à attraper l'idée du beau, à lacquelle non seulement la pure nature, mais la belle nature ne sont jamais arrivées." (Perrault, Parallèle des anciens et des modernes, Bd. 3, a. a. O., S. 214.) Charles Batteux, Les beaux arts réduits à un même principe, Paris 1747, S. VII. Gottfried Baumecker, Winckelmann in seinen Dresdner Schriften, a. a. O., S. 13. Winckelmanns „Gedanken über die Nachahmung" sind ein einziger Nachweis der These, dafj die höchste Stufe der Schönheit von der griechischen Kunst erreicht wurde und dafj ihre Voraussetzungen einmalig waren. Daraus ergibt sich, dafj der Moderne diese rein idealische Schönheit verschlossen ist (richtig gesehen schon von Baumecker, a. a. O-, S. 45). Der entscheidende Abschnitt in den „Gedanken über Nachahmung": a. a. O., S. 32: „Der Unterschied aber zwischen ihnen und uns ist dieser: Die Griechen erlangten diese Bilder, wären auch dieselben nicht von schönern Körpern genommen gewesen, durch eine tägliche Gelegenheit zur Beobachtung des Schönen der Natur, die sich uns hingegen nicht alle Tage zeigt, und selten so, wie sie der Künstler wünscht. Unsere Natur wird nicht leicht einen so vollkommenen Körper zeugen, dergleichen der Antinous Achmirandus hat, und die Idee wird sich, über die mehr als menschlichen Verhältnisse einer schönen Gottheit in dem Vatikanischen Apollo, nichts bilden können: was Natur, Geist und Kunst hervorzubringen vermögend gewesen, liegt hier vor Augen." Hans-Günther Thalheim, Zeitkritik und Wunschbild im Werk des frühen Winckelmann. Ein Beitrag zum Problem der Traditionswahl der deutschen Klassik. Diss. Jena 1954, S. 165: „Winckelmann ist als Ästhetiker Materialist, der sich für eine abstrakt-realistische, d. h. für ihn: griechische Methode der Kunst einsetzt". - Wilhelm Senff im Nachwort zu Winckelmann. Antike und deutsche Klassik, a. a. O., S. 328: „Es ist wohl keine Übertreibung, hier zu sagen: Winckelmann leistete eine bedeutsame Vorarbeit für die Formulierung der Methode des künstlerischen Realismus." Rollin, De la manière d'enseigner et d'étudier les belles lettres. Bd. 2, a. a. O., S. 541 ff. Claude Fleury, Moeurs des Israélites, Paris 1681, S. 329/330: „Ces moeurs sont si différentes des nôtres, que d'abord elles nous choquent. Nous ne voyons chez les Israélites ni ces titres de noblesse, ni cette multitude d'offices, ni cette diversité de conditions qui se trouvent parmi nous; ce ne sont que des laboureurs et des bergers, tous travaillent de leurs mains . . . Mais quand on com-
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pare les moeurs des Israélites avec celles des Romains, des Grecs, des Egyptiens et des autres peuples de l'antiquité que nous estimons le plus, ces préventions s'évanouissent. On apprend qu'il y a une noble simplicité, meilleure que tous les raffinements . . . " (zitiert bei R. C. Knight, Racine et la Grèce, Paris, 1950, S. 85). Fénelon, Education des filles, X: „Je voudrais même faire voir aux jeunes filles la noble simplicité qui parait dans les statues et dans les autres figures qui nous restent des femmes grecques et romaines; elles y verraient combien de cheveux noués négligement par derrière, et des draperies pleines et flottantes à longs plis, sont agréables et majestueuses." (zit. bei Alfred Lombard, Fénelon et le retour à l'antique au XVIIIe siècle, Neuchâtel 1954, S. 106). - Dubos, Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture, Bd. 2, a. a. O., S. 465 f., über den Stil der Autoren der goldenen Latinität: „On continue à louer leur noble simplicité, même quand on n'est plus capable de l'imiter." - Voltaire in der „Epître à M m e la duchesse Du Maine" über eine Aufführung der „Iphigenie in Tauris" des Eurípides : „Je fus témoin de ce spectacle: Je n'avais alors nulle habitude de notre théâtre français; il ne m'entre pas dans la tête qu'on put mêler de la galanterie dans ce sujet tragique: je me livrai aux moeurs et aux coutumes de la Grèce d'autant plus aisément qu'à peine j'en connaissais d'autres; j'admirais l'antique dans toute sa noble simplicité. Ce fut là ce que me donna la première idée de fair la tragédie d'Oedipe, sans même avoir lu celle de Corneille." (Oeuvres complètes, Ausgabe Moland, Bd. 2, Paris 1877, S. 81. Vgl. ferner die Lettres sur Oedipe (1719), die Vorrede zu Oedipe von 1730 und die Dissertation sur les principales tragédies anciennes et modernes (1750) ; Moland, a. a. O., S. 19, 50 f. und Bd. 5, S. 194) - Caylus, Recueil d'antiquités égyptiennes, étrusques, grecques et romaines. Bd. 1, Paris 1752, S. XI: „Cette noble simplicité..." zit. bei Ingrid Kreuzer, Studien zu Winckelmanns Ästhetik, Berlin 1959, S. 33, Anm. 1. Rollin, De la manière d'enseigner et d'étudier les belles lettres. Bd. 1, a. a. O-, S. LXXXVIII f. „Le bon goût dont nous parlons ici, qui est celui de la littérature, ne se borne pas à ce qu'on appelle sciences: il influe comme imperceptiblement sur les autres arts, tels que sont l'architecture, la peinture, la sculpture, la musique. C'est un même discernement qui introduit partout la même élégance, la même symétrie, le même ordre dans la disposition des parties qui rend attendit à une noble simplicité, aux beautés naturelles, au choix judicieux des ornements." Herder stellt über die klassische Literaturepoche der Frarizosen fest, dafj der Verfall in dem Augenblick eintrat, als „der glänzende Gesellschatts-, der edle Hotgeschmack . . ., allein regierte . . . Man verließ also, wie Fénelon, St-Mard, Racine und wer weif} nicht mehr? Klagen, die simple Größe, die unzerstückte, zwangslose Natur, die edle Einfalt, und zerlegte den Gedanken so fein, manierlich, neugesagt und artig, bis kein Gedanke mehr blieb." (Herder, Ursachen
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des gesunkenen Geschmacks bei den verschiedenen Völkern, da er geblüht. (1755). Sämtl. Werke, hrsg. v. Suphan, Bd. 5, Berlin 1891, S. 642.) ',0 „Les dames distinguées par la naissance et par la beauté doivent observer une noble simplicité dans l'art de se mettre. Un sujet capable de se soutenir par lui-même, n'a pas besoin de secours emprunté, tel qu'est celui des ornements extérieurs. Et comme une belle femme peut passer pour le plus beau sujet de la nature, son habillement doit être épique; mais épique dans le goût de Virgile: c'est-à-dire, modeste, noble, et sans aucun mélange de faux brillant." Zitat aus dem englischen Werk „Réflexions critiques sur les modes" in: L'abeille, ou Recueil de philosophie, de littérature et d'histoire. La Haye 1755, S. 300 Winckelmann, Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung, a. a. O., S. 99. Saint-Réal, Césarion; vgl. Oeuvres de Saint-Réal, Bd. 2, La Haye 1722, S. 198 f. ' ,3 Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung, a. a. O., S. 33. 44 Winckelmann, Geschichte der Kunst, a. a. O., S. 311. ''5 Gegen Hans Robert Jauss, Fr. Schlegels und Fr. Schillers Replik auf die „Querelle...", In: Europäische Aufklärung. Herbert Dieckmann zum 60. Geburtstag, hrsg. v. Hugo Friedrich und Fritz Schalk, München 1967, S. 123 und Anm. 14, wo „die Einführung des ,Geteilten' als Begriff der modernen Natur" als eine Leistung Winckelmanns erscheint, während diese Überzeugung der ganzen französischen Diskussion um die simplicité zu Grunde liegt. ',(i Wilhelm Dilthey, Das achtzehnte Jahrhundert und die geschichtliche Welt. In: Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Leipzig 1927, S. 257. /|7 Georg Lukâcz, Der junge Hegel und die Probleme der kapitalistischen Gesellschaft. Berlin 1954, S. 36 ff. ,l8 Winckelmann, Geschichte der Kunst, a. a. O., S. 121.