Die Winckelmann-Rezeption in Italien und Europa: Zirkulation, Adaption, Transformation 9783110710373, 9783110707779

The German archaeologists and art historian Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) was well received throughout Europe,

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German Pages 252 Year 2020

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Table of contents :
Inhalt
Dank
Winckelmann. Eine europäische Karriere
1. Ein Klassiker des Klassizismus Zirkulation und Adaption
250 Jahre Winckelmann-Jubiläen in europäischer Perspektive
Romantischer Klassizismus? August Wilhelm Schlegel im Lichte der europäischen Wirkungsgeschichte Winckelmanns
Die Abenteuer von Sappho und die Ästhetik der Grazie: Winckelmann als Quelle für Alessandro Verri
Antike im Zeitalter der Romantik. Zur italienischen Laokoon-Ikonographie nach 1800
Der Schauspieler als lebende Statue. Winckelmanns Einfluss auf das Theater des 19. Jahrhunderts in Frankreich und Italien
Goethe in Italien: Auf Reisen mit Winckelmann
2. Ein Klassiker der Geschichtsschreibung Transposition und Transformation
Die ersten beiden italienischen Übersetzungen von Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums
Die frühe Rezeption von Winckelmanns Geschichte der Kunst zwischen Mailand und Rom
Die Illustrationen zur Geschichte der Kunst des Alterthums in den deutschen und italienischen Ausgaben des 18. Jahrhunderts
„Wie könnt Ihr ihn guten Gewissens [...] als Geschichte der Kunst, und insbesondere der Baukunst ausgeben?“
Die historiografischen Grundlagen des Kommentars zur italienischen Ausgabe der Geschichte der Kunst des Alterthums von Carlo Fea (1783–1784)
„Winkelmanns Historismus“ Zu einer Formel Friedrich Schlegels und ihrer (Nicht-)Rezeption in Deutschland und Italien, zugleich ein Plädoyer für einen komplexeren Historismusbegriff
Fiktionalität in der Geschichte der Kunst des Alterthums: Zur Bedeutung der Hypothesenbildung für Winckelmanns Kunstgeschichtssystem und ihre wissenschaftshistorischen Voraussetzungen
Zitierte Ausgaben der Werke Winckelmanns
Abbildungsnachweis
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Die Winckelmann-Rezeption in Italien und Europa: Zirkulation, Adaption, Transformation
 9783110710373, 9783110707779

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Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung Schriftenreihe des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Die Winckelmann-Rezeption in Italien und Europa Zirkulation, Adaption, Transformation

Herausgegeben von Elisabeth Décultot, Martin Dönike, Serena Feloj und Fabrizio Slavazzi

De Gruyter

Herausgeber: Thomas Bremer, Daniel Cyranka, Elisabeth Décultot, Jörg Dierken, Robert Fajen, Ottfried Fraisse, Daniel Fulda, Frank Grunert, Wolfgang Hirschmann, Heiner F. Klemme, Till Kössler, Andreas Pečar, Jürgen Stolzenberg, Sabine Volk-Birke Wissenschaftlicher Beirat: Anke Berghaus-Sprengel, Albrecht Beutel, Ann M. Blair, Michel Delon, Avi Lifschitz, Robert Louden, Laurenz Lütteken, Brigitte Mang, Steffen Martus, Laura Stevens Redaktion: Martin Dönike, Andrea Thiele Druckvorlage: Nancy Thomas

ISBN 978-3-11-070777-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-071037-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-071043-4 ISSN 0948-6070

Library of Congress Control Number: 2020945686 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Dank ............................................................................................................................ VII ELISABETH DÉCULTOT  Winckelmann – eine europäische Karriere ..................................................................... 1

1. Ein Klassiker des Klassizismus. Zirkulation und Adaption MARTIN DÖNIKE / CHARLOTTE KURBJUHN  250 Jahre Winckelmann-Jubiläen in europäischer Perspektive .....................................17 HELMUT PFOTENHAUER  Romantischer Klassizismus? August Wilhelm Schlegel im Lichte der europäischen Wirkungsgeschichte Winckelmanns ........................................................47 SERENA FELOJ  Die Abenteuer von Sappho und die Ästhetik der Grazie: Winckelmann als Quelle für Alessandro Verri ..............................................................65 CHRISTOPH SCHMÄLZLE  Antike im Zeitalter der Romantik. Zur italienischen Laokoon-Ikonographie nach 1800 .....................................................79 MARIAGABRIELLA CAMBIAGHI   Der Schauspieler als lebende Statue. Winckelmanns Einfluss auf das Theater des 19. Jahrhunderts in Frankreich und Italien ..............................................................................................99 ELIO FRANZINI   Goethe in Italien: Auf Reisen mit Winckelmann ........................................................113

2. Ein Klassiker der Geschichtsschreibung. Transposition und Transformation STEFANO FERRARI  Die ersten beiden italienischen Übersetzungen von Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums .........................................................................127

VI

Inhalt

GIULIA CANTARUTTI   Die frühe Rezeption von Winckelmanns Geschichte der Kunst zwischen Mailand und Rom ........................................................................................141 FABRIZIO SLAVAZZI   Die Illustrationen zur Geschichte der Kunst des Alterthums in den deutschen und italienischen Ausgaben des 18. Jahrhunderts ...........................165 FAUSTO TESTA   „ Wie könnt Ihr ihn guten Gewissens […] als Geschichte der Kunst, und insbesondere der Baukunst ausgeben?“ Asymmetrien und Kohärenz in Winckelmanns System der Künste zwischen den Anmerkungen über die Baukunst der Alten und der Geschichte der Kunst des Alterthums in der querelle zwischen Onofrio Boni und Carlo Fea ................................................177 ELENA AGAZZI   Die historiografischen Grundlagen des Kommentars zur italienischen Ausgabe der Geschichte der Kunst des Alterthums von Carlo Fea (1783–1784). – Von der Istoria Universale Francesco Bianchinis bis zur „Völkergeschichte“ von Antoine-Ives Goguet ...............................193 DANIEL FULDA   „Winkelmanns Historismus“. Zu einer Formel Friedrich Schlegels und ihrer (Nicht-)Rezeption in Deutschland und Italien, zugleich ein Plädoyer für einen komplexeren Historismusbegriff ............................................207 THOMAS FRANKE   Fiktionalität in der Geschichte der Kunst des Alterthums: Zur Bedeutung der Hypothesenbildung für Winckelmanns Kunstgeschichtssystem und ihre wissenschaftshistorischen Voraussetzungen ............227 Zitierte Ausgaben der Werke Winckelmanns ..............................................................241

Abbildungsnachweis ...................................................................................................243

Dank Der vorliegende Band versammelt die Beiträge der Tagung „Zirkulation, Transposition, Adaption. Winckelmanns italienische und europäische Rezeption“, die vom 7. bis 9. November 2017 in der Villa Vigoni (Menaggio, Italien) stattfand. Unser besonderer Dank gilt der Villa Vigoni für die großzügige Förderung und ausgezeichnete organisatorische Umsetzung der Tagung. Für die Aufnahme der Beiträge in die Reihe der Halleschen Beiträge danken wir dem Direktorium des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA) der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Für ihre Unterstützung bei der redaktionellen Bearbeitung des Manuskripts sind wir Aleksandra Ambrozy sehr verbunden.

Januar 2020

Elisabeth Décultot Martin Dönike Serena Feloj Fabrizio Slavazzi

ELISABETH DÉCULTOT

Winckelmann. Eine europäische Karriere Schon im 18. Jahrhundert hat Winckelmann europaweit Resonanz gefunden. Seine Geschichte der Kunst des Altertums (1764) wurde vor 1800 dreimal ins Französische und zweimal ins Italienische übersetzt.1 Winckelmann war damit ein europäischer Klassiker, noch bevor er am Anfang des 19. Jahrhunderts von Weimar aus zu einem deutschen Klassiker gemacht wurde. Die europäische Dimension dieser Rezeptionsgeschichte entsprach ganz und gar den Plänen des Autors. Winckelmann hat seine Werke in drei verschiedenen Sprachen verfasst: Seine erste umfangreiche Arbeit auf italienischem Boden, die Description des pierres gravées du feu Baron de Stosch (1760), schrieb er auf Französisch2 und sein vorletztes Werk, die Monumenti antichi inediti (1767), auf Italienisch, während seine anderen Schriften auf Deutsch erschienen.3 Auch seine Briefe verfasste er in deutscher, französischer und italienischer Sprache. Seine Vertrautheit mit einer Vielfalt von antiken und modernen Sprachen dokumentiert das umfangreiche Corpus von Exzerpten, das er sein Leben lang sammelte.4

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Johann Joachim Winckelmann: Histoire de l’art de l’Antiquité. Übers. v. Gottfried Sellius u. Jean-Baptiste-René Robinet de Chateaugiron. 2 Bde. Paris 1766; Ders.: Histoire de l’art de l’Antiquité. Übers. v. Michael Huber. 3 Bde. Leipzig 1781 (2. Aufl.: 3 Bde. Paris 1789); Ders.: Histoire de l'art chez les Anciens. Übers. v. Hendrik Jansen. 2 Bde. Paris an II (= 1794) (ein dritter Band mit Schriften von u.a. Bernhard Rode, Andreas Riem und Christian Gottlob Heyne erscheint im „an XI“ [= 1803]). Italienische Übersetzungen: Giovanni Winckelmann: Storia delle arti del disegno presso gli antichi di Giovanni Winckelmann. Übers. u. hg. v. Carlo Amoretti u. Angelo Fumagalli. 2 Bde. Mailand 1779; Ders., Storia delle arti del disegno presso gli antichi, tradotta dal tedesco e in questa edizione corretta e aumentata dallAbate Carlo Fea. Übers. u. hg. v. Carlo Fea. 3 Bde. Rom 1783–1784. Johann Joachim Winckelmann: Description des Pierres Gravées du Feu Baron de Stosch, dédiée à son Eminence Monseigneur le Cardinal Alexandre Albani. Florenz 1760. Johann Joachim Winckelmann: Monumenti antichi inediti spiegati ed illustrati (Erstveröffentlichung: Rom 1767). Bd. 1: Text. Hg. v. Adolf H. Borbein u. Max Kunze. Mainz 2011; Bd. 2: Kommentar. Hg. v. Adolf H. Borbein, Max Kunze u. Axel Rügler. Mainz 2014 (= SN 6.1 und 6.2). In Winckelmanns umfangreichen Exzerptbüchern sind neben Exzerpten auf Latein und Griechisch zahlreiche Auszüge aus französisch-, italienisch-, englisch- und deutschsprachigen Werken zu finden. Vgl. Paris, Bibliothèque Nationale de France, Département des manuscrits, Fonds allemand: Bde. 56–76 (im Folgenden: BN All.; zum Inventar, vgl. André Tibal: Inventaire des manuscrits de Winckelmann déposés à la Bibliothèque Nationale. Paris 1911); Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek: Cod. hist. art. 1, 1 (2°) und Cod. hist. art. 1, 2 (4°); Savignano sul Rubicone, Rubiconia Accademia dei Filopatridi: Nachlass Giovanni Critofano Amaduzzi; Montpellier, Bibliothèque Universitaire de Médecine: H 356 und H 433. Zu Winckelmanns Exzerpierpraxis und ihrer Auswirkung auf sein Werk, vgl. Elisabeth Décultot: Johann Joachim Winckelmann. Enquête sur la genèse de l’histoire de l’art. Paris 2000 (Deutsche Übersetzung: Dies.: Untersuchungen zu Winckelmanns Exzerptheften. Ein Beitrag zur Genealogie der Kunstgeschichte im 18. Jahrhundert. Übers. v. Wolfgang von Wangenheim u. René Mathias Hofter. Ruhpolding 2004).

https://doi.org/10.1515/9783110710373-001

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Elisabeth Décultot

Im 18. Jahrhundert ist die Mehrsprachigkeit des Lesers Winckelmann an sich nicht außergewöhnlich, gehörte doch die Beherrschung der wichtigsten modernen Sprachen neben den unerlässlichen Latein- und Griechischkenntnissen zu den unumgänglichen Requisiten frühneuzeitlicher Gelehrsamkeit. Die mehrsprachige Publikationsstrategie des Autors Winckelmann ist allerdings bemerkenswert. Zwar ist er keineswegs der einzige deutschsprachige Gelehrte der Aufklärungsepoche, der eigene Werke gleich in einer Fremdsprache publiziert. So veröffentlichte Christian Ludwig von Hagedorn, um nur ein Beispiel aus der zeitgenössischen Kunstliteratur zu benennen, seinen anonymen Lettre à un amateur de la peinture 1755 direkt auf Französisch.5 Dass ein Autor in drei verschiedenen modernen Sprachen schreibt und publiziert, kommt in dieser Zeit allerdings selten vor. Dabei erfüllte der Umgang mit modernen Fremdsprachen zentrale kognitive Funktionen für ihn. So erarbeitete Winckelmann einige seiner Kernbegriffe, wie etwa den Begriff der „Einfalt“, in direkter Auseinandersetzung mit den Verwendungen, die diese Wörter bei den von ihm gelesenen französischen oder englischen Autoren – etwa „simplicité“ bei Charles Perrault beziehungsweise „simplicity“ bei Shaftesbury – gefunden hatten.6 Bilden Fremdsprachen häufig die Grundlage für Winckelmanns Arbeit am Begriff, so machen sie auch einen zentralen Bestandteil seiner Werkpolitik aus. Mit eifersüchtiger Sorge zeigt er sich um die Verbreitung seiner Arbeiten in verschiedenen europäischen Sprachen bemüht. Mit Unterstützung des in Paris etablierten Kupferstechers Johann Georg Wille wurde seine Erstlingsschrift, die Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und BildhauerKunst,7 die im Herbst 1755 in nur 50 Exemplaren in Friedrichstadt bei Dresden veröffentlicht worden war, schon im Januar 1756 im Journal étranger in einer französischen Übersetzung von Jakob Emmanuel Wächtler publiziert, was dem

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Christian Ludwig von Hagedorn: Lettre à un amateur de la peinture. Dresden 1755. In Charles Perraults Parallèle des Anciens et des Modernes exzerpiert Winckelmann z.B. eine Bemerkung des Chevalier über die „Einfachheit und Naivität“ („simplicité et naïveté“) der Griechen (BN All., Bd. 72, fol. 172 v°). Die Verbindung des Begriffs „simplicity“ mit der Antike ist sehr verbreitet in Shaftesburys Characteristicks, die er ebenfalls extensiv exzerpiert (vgl. insb. BN All., 66, fol. 42). Mit dem Begriff „Einfalt“ fängt zwar Winckelmann die moralisch-ästhetische Bedeutungsebene auf, die bei Perrault und Shaftesbury präsent ist, fügt ihr aber eine ethnologische hinzu, dies sich insbesondere in der Geschichte der Kunst des Alterthums kundtut: „Einfalt“ bedeutet hier in Bezug auf die Kunst der Griechen Unvermischtheit, künstlerische Autarkie. Folgt man Winckelmanns historischem Abriss der antiken Völker, so zeichneten sich die Griechen durch eine solche „Einfalt“ aus, dass sie ihre Artefakte nur aus sich selbst hervorgebracht haben: Sie waren die „ersten Erfinder“ ihrer Kunst, was insbesondere bedeutet, dass sie in älteren Zeiten den Ägyptern nichts entliehen haben (Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums. Dresden 1764, S. 5 [= SN 4.1, S. 8]). Johann Joachim Winckelmann: Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst (Erstveröffentlichung: Friedrichstadt 1755). In: KS, S. 27–59.

Winckelmann. Eine europäische Karriere

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Text gleich einen europäischen Widerhall verlieh.8 Kaum war seine Geschichte der Kunst des Alterthums auf Deutsch erschienen, als er schon erwog, eine erweiterte und verbesserte Ausgabe auf Französisch zu publizieren. Sein Dresdner Verleger Georg Conrad Walther, der zuerst dem Plan nicht abgeneigt zu sein schien, weigerte sich schließlich, eine französische Neuauflage zu veranstalten, bevor die 1200 Exemplare der ersten Auflage verkauft waren – der Verlag soll nach sechzig Jahren noch immer Exemplare am Lager gehabt haben.9 Nach fruchtlosen Verhandlungen mit dem deutschen Verleger bemühte sich Winckelmann eifrig in anderen Kreisen um die Publikation einer korrigierten und erweiterten Fassung der Geschichte der Kunst direkt in französischer Sprache.10 Die Wichtigkeit, die er der Verbreitung seines Werkes insbesondere in Frankreich beimaß, lässt sich an der Aufmerksamkeit ablesen, die er zentralen Vermittlerfiguren im französischen literarischen Feld – wie etwa Johann Georg Wille oder dem Grafen Caylus – schenkte. Mitte August 1757 schickte er beispielsweise Wille eine erste Version seiner berühmten Beschreibung des Apollo vom Belvedere sowie einen Gliederungsentwurf zur Geschichte der Kunst, damit seine aktuellen Arbeiten in Paris angekündigt werden.11 1763 sandte er ihm sein Sendschreiben von den Herculanischen Entdeckungen, das kurz darauf ins Französische übersetzt wurde.12 8

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Johann Joachim Winckelmann: Réflexions sur l’imitation des ouvrages des Grecs. Übers. v. Jakob Emmanuel Wächtler. In: Journal étranger, Januar 1756, S. 104–163; Ders.: Méthode suivie par Michel-Ange, pour transporter dans un bloc et pour y exprimer toutes les parties et toutes les beautés sensibles d’un modèle. Übers. v. Jakob Emmanuel Wächtler. In: Journal étranger, Mai 1756, S. 176–196. Vgl. u.a. Johann Joachim Winckelmann: Brief an Georg Conrad Walther. In: Br. III, S. 149f.; Heinrich Alexander Stoll: Winckelmann. Seine Verleger und seine Drucker. Berlin 1960, S. 23 unter Berufung auf Carl Justi, der seine Quelle für die Auflagenhöhe der Geschichte der Kunst nicht nennt. Vgl. Carl Justi: Winckelmann und seine Zeitgenossen (zuerst erschienen unter dem Titel: Winckelmann, sein Leben, seine Werke und seine Zeitgenossen. 3 Bde. Leipzig 1866– 1872). Hg. v. Walther Rehm. 3 Bde., hier Bd. 3, Köln 1956, S. 313. Nach mehreren erfolglosen Anfragen insbesondere an seinen Schweizer Freundeskreis beschloss Winckelmann, auf eigene Kosten eine französische Ausgabe herauszubringen. Dazu beherrschte er die Sprache allerdings nicht genug. So wendete er sich mit der Bitte um Unterstützung an eine Gruppe von Französischkundigen in Berlin. Ihnen schickte er, vermutlich im Jahr 1768, eine beträchtlich erweiterte Fassung des Werks zur Übersetzung ins Französische. Zu einer Publikation ist es nicht gekommen. Diese Übersetzung blieb ein Torso. Vgl. dazu Stefano Ferrari: Il piacere di tradurre. François-Vincent Toussaint e la versione incompiuta dell’Histoire de l’art chez les anciens di Winckelmann. Rovereto 2011, S. 15–54; Marcel Baumgartner: „Gewillet, ein ganz anderes Werk aus derselben zu machen“. Zur Entstehungs- und Editionsgeschichte von Johann Joachim Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums, 1755–1825. In: Pascal Griener u. Kornelia Imesch (Hg.): Klassizismen und Kosmopolitismus. Programm oder Problem? Austausch in Kunst und Kunsttheorie im 18. Jahrhundert. Zürich 2004, S. 59–88; Stoll: Winckelmann. Seine Verleger und seine Drucker (wie Anm. 9), S. 88–96. Johann Joachim Winckelmann: Brief an Johann Georg Wille, Mitte August 1757. In: Br. I, S. 294–297. Johann Georg Wille: Brief an Leonhard Usteri, 18. März 1763. In: Johann Georg Wille, Briefwechsel. Hg. v. Elisabeth Décultot, Michel Espagne u. Michael Werner. Tübingen 1999, S. 289; J. J. Winckelmann, Sendschreiben von den Herculanischen Entdeckungen an den [...]

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Elisabeth Décultot

Diese verschiedenen Versuche erlauben einen Einblick in Winckelmanns paradoxes Verhältnis zu nationalen Kategorien überhaupt. Zwar pflegte er seit seiner Ankunft in Rom ein durchaus distanziertes Verhältnis zu Deutschland. Im Gegensatz zum „Römischen Gebiete“ – ein „Land [...], wo niemand befiehlt, und niemand gehorcht“13 – erschienen ihm Sachsen und Preußen rückblickend als wenig anziehende Orte höfischer Gebundenheit. Gleichzeitig stilisierte er sich gerne in seinem Briefwechsel als ein weltgewandter homme de lettres, der von der römischen Metropole aus Kontakt zu gebildeten Reisenden aus ganz Europa zu pflegen wusste.14 Dieser durchaus kosmopolitische Habitus bleibt allerdings nicht frei von nationalen Grenzziehungen. So wimmelt sein Briefwechsel ab der Ankunft in Rom von scharfen Urteilen über die „elende“ französische „Nation“, mit der er sich brüstet, keinerlei Beziehung zu unterhalten: „Ich kann mich rühmen“, schreibt er an seinen Freund Berendis, „daß ich mit keinem von der verachtenswürdigsten Art zweyfüßiger Creaturen eine Gemeinschaft habe“. Und er fügt hinzu: „Ein Franzose, so wie die Nation itzo ist, ist ungeschickt ein großer Künstler, ein gründlicher Gelehrte zu werden, ja kein Franzose kann eine andere Sprache ohne Lachen zu erwecken, reden lernen.“15 Diese immer wieder bekundete kritische Einstellung gegenüber dem französischen Kulturmodell hinderte ihn allerdings nicht daran, in einem Kontext französischer Kulturprädominanz die Verbreitung seiner Schriften auf dem europaweiten französischsprachigen Büchermarkt als eine seiner allerersten Prioritäten zu betrachten.

I. Zur europäischen Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Winckelmanns Werk Diese dezidiert europäisch ausgerichtete Werkpolitik zeitigte Früchte. Mitte der 1780er Jahre lagen insgesamt vier verschiedene französische Übersetzungen seiner allerersten Publikation,16 der Gedancken über die Nachahmung der Griechischen

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Herrn Heinrich Reichsgrafen von Brühl, Dresden 1762; Johann Joachim Winckelmann: Lettre de M. l’abbé Winckelmann [...] à M. le Comte de Brühl [...] sur les découvertes d’Herculanum. Traduit de l’allemand [par Michael Huber ?]. Dresden 1764. Johann Joachim Winckelmann: Brief an Johannes Wiedewelt, 3. Juni 1767. In: Br. III, S. 269. Ders.: Brief an Johann Michael Francke, 1. Januar 1759. In: ebd., Bd. 1, S. 443: „Ich bin arm und habe nichts, aber ich genieße eine stolze Freyheit, die ich nicht für aller Welt Schätze gebe“. Vgl. auch: Ders.: Brief an Heinrich von Bünau, 12. Mai 1757. In: ebd., Bd. 1, S. 280f.; Ders.: Brief an Gottlob Burchard Genzmer, 20. November 1757. In: ebd., Bd. 1, S. 313; Ders.: Brief an Hieronymus Dieterich Berendis, 21. Februar 1761. In: ebd., Bd. S. 2, 122. Ders.: Brief an Hieronymus Dieterich Berendis, 29. Januar 1757, in: ebd., Bd. 1, S. 267. Johann Joachim Winckelmann: Pensées sur l’imitation des Grecs dans les ouvrages de Peinture et de Sculpture. In: Nouvelle Bibliothèque Germanique 17 (1755), S. 302–329; 18 (1756), S. 72–100; Ders.: Réflexions sur l’imitation des ouvrages des Grecs (wie Anm. 8); Ders.: Méthode (wie Anm. 8); Ders.: Réflexions sur l’imitation des Artistes Grecs dans la Peinture & la Sculpture par M. l’Abbé Winckelmann. In: Gazette littéraire de l’Europe 4 (1765), S. 114– 121, 209–221, 365–379; 5 (1765), S. 105–121; Ders.: Réflexions sur l'imitation des artistes

Winckelmann. Eine europäische Karriere

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Wercke, und zwei englische17 vor. Kurz nach ihrer Publikation in Dresden wurde die Geschichte der Kunst des Alterthums von Gottfried Sellius ins Französische übersetzt, worauf noch zwei neue französische Übersetzungen und zwei italienische bis Ende des Jahrhunderts folgten.18 Dass man bis Mitte des 19. Jahrhunderts warten musste, um über zwei englischsprachige Übersetzungen der Geschichte der Kunst zu verfügen – eine amerikanische und eine britische –, liegt wahrscheinlich daran, dass das Werk für ein nicht-deutschsprachiges Publikum schon längst auf Französisch und Italienisch zugänglich war.19 Das komplexe Verhältnis zwischen der deutschen Vorlage der Geschichte der Kunst, den französisch- oder italienischsprachigen Fassungen und den kritischen Anmerkungen von zeitgenössischen oder nachfolgenden Altertumswissenschaftlern wie Christian Gottlob Heyne bietet ein fruchtbares und heute noch nur ansatzweise bearbeitetes Feld für die Erforschung der europäischen Wissenstransfers. Zu dieser breit angelegten europäischen Aufnahme trug die Form der Geschichte der Kunst des Alterthums nicht unerheblich bei. Mit ihrem synthetischen und doch informationsreichen Überblick im handlichen Quartformat eröffnete das Werk dem gebildeten Leser im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts einen Bereich, der bis dahin allein dem Kreis gelehrter Antiquare vorbehalten war. Winckelmann konnte auf 431 Seiten liefern, wofür Bernard de Montfaucon ca. fünfzig Jahre zuvor noch zehn Foliobände benötigt hatte.20 Damit

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grecs dans la peinture et la sculpture, in: Ders.: Recueil de différentes pièces sur les arts, Paris 1786, S. 1–62. Vgl. Pascal Griener: L’esthétique de la traduction. Winckelmann, les langues et l’histoire de l’art. Genf 1998. [Johann Joachim Winckelmann]: Thoughts concerning the imitation of the Grecian Artists in Painting and Sculpture. In: The Scots Magazine 27 (1765), S. 17–19, 74f., 124–126, 192–194, 233–235, 289–291, 345–348 (zwischen dem 11. Dezember 1764 und dem 19. Februar 1765 in der Zeitung London Chronicle schon erschienen); Ders.: Reflections on the Painting and Sculpture of the Greeks, with Instructions for the Connoisseur, and an Essay on Grace in Works of Art. Translated from The German Original of the Abbé Winkelmann [...], by Henry Fusseli [= Johann Heinrich Füssli]. London 1765, S. 1– 64. Vgl. Anm. 1. Zur deutschen Rezeption Winckelmanns, vgl. Henry Caraway Hatfield: Winckelmann and his German Critics, 1755–1781. A Prelude to the Classical Age. New York 1943; Ludwig Uhlig (Hg.): Griechenland als Ideal. Winckelmann und seine Rezeption in Deutschland. Tübingen 1988. Zur Winckelmann-Rezeption in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Frankreich, vgl. François Hartog: Faire le voyage d’Athènes: Winckelmann et sa réception française. In: Jean-Paul Barbe u. Jackie Pigeaud (Hg.): Winckelmann et le retour à l’antique. Entretiens de la Garenne Lemot. Nantes 1995, S. 127–143; Francis Haskell: Winckelmann et son influence sur les historiens. In: Edouard Pommier (Hg.): Winckelmann. La naissance de l’histoire de l’art à l’époque des Lumières. Paris 1991, S. 83–99; Décultot: Winckelmann. Enquête (wie Anm. 4), S. 285–292 (dt. Übersetzung: Dies.: Untersuchungen zu Winckelmanns Exzerptheften [wie Anm 4], S. 166–170). John Winckelmann: The History of Ancient Art, Boston 1849–1873; Johann Joachim Winckelmann: The History of Ancient Art among the Greeks, translated from the German by Giles Henry Lodge, London 1850. Bernard de Montfaucon: L’Antiquité expliquée et représentée en figures. 10 Bde. Paris 1719.

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Elisabeth Décultot

trug er jener Verbindung von Eleganz und Gelehrsamkeit Rechnung, wie sie von d’Alembert und Jaucourt in der Encyclopédie eingefordert worden war.21

II. Politische Lesarten in revolutionären Zeiten Ideengeschichtlich erklärt sich die breite europäische Resonanz der Geschichte der Kunst des Alterthums zunächst durch die darin vertretene Kernthese des unübertroffenen Vorrangs altgriechischer Kunst. Für ein Publikum, das sich seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in ganz Europa immer stärker an der ‒ insbesondere griechischen ‒ Antike orientierte, leistete Winckelmanns Schrift wertvolle Schützenhilfe. Diesem gesamteuropäischen Zug der Winckelmann-Rezeption, der außerhalb von Deutschland insbesondere in Italien vertreten war – wofür der vorliegende Band zahlreiche beweiskräftige Materialien liefert –, kamen aber spezifische Akzentsetzungen hinzu. Kennzeichnend für die französische Winckelmann-Rezeption des ausgehenden 18. Jahrhunderts ist die politische Lesart. Ab 1789 berufen sich zahlreiche Akteure der revolutionären Kunstpolitik auf den Autor der Geschichte der Kunst des Alterthums, um die Verbundenheit, ja die Wesensverwandtschaft von Kunst und politischer Freiheit aufzuzeigen und damit die Vorteile der neuen politischen Ordnung für die künstlerische Produktion darzulegen.22 Bereits Jahrzehnte zuvor hatte sich diese politische Deutung in Frankreich angebahnt, hatte sich doch schon 1765 Denis Diderot für jenen „reizenden Enthusiasten“ begeistert, der „das Gefühl der Freiheit, das die Seele erhebt und ihr große Dinge eingibt“, zum Schlüssel seiner Geschichtssdeutung der Antike gemacht hatte.23 Grundlage für die Hervorhebung 21

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[Jean Le Rond d’Alembert]: Erudition. In: Denis Diderot u. Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Bd. 5. Paris 1755, S. 914–918, hier S. 916; [Louis de Jaucourt]: Lettres (encyclopédie). In: ebd., Bd. 9. Paris 1765, S. 409f., hier S. 409. Edouard Pommier: Winckelmann et la vision de l’Antiquité classique dans la France des Lumières et de la Révolution. In: Revue de l’art 83 (1989), S. 9–20; Ders.: L’art de la liberté. Doctrines et débats de la Révolution française. Paris 1991, S. 324–334; Ders.: Winckelmann, inventeur de l’histoire de l’art. Paris 2003, S. 199–244; Max L. Baeumer: Winckelmanns Auffassung republikanischer Freiheit und sein Einfluss auf die Kunst der Französischen Revolution. In: Beiträge der Winckelmann-Gesellschaft 16 (1986) (Beiträge zur internationalen Wirkung Winckelmanns 4/5), S. 18–34. Denis Diderot: Aus dem „Salon von 1765“. In: Ders.: Ästhetische Schriften. 2 Bde. Hg. v. Friedrich Bassenge. Aus dem Französischen übersetzt v. Friedrich Bassenge u. Theodor Lücke. Frankfurt a.M. 1968, Bd. 1, S. 508–634, hier: S. 611. Zur französischen Originalversion vgl. Denis Diderot: Salon de 1765. In: Ders.: Salons. Hg. v. Jean Seznec u. Jean Adhémar. Bd. II: 1765. Oxford 1960, S. 207: „Demandez à cet enthousiaste charmant, par quelle voie Glicon, Phydias et les autres sont parvenus à faire des ouvrages si beaux et si parfaits ? Il vous répondra : Par le sentiment de la liberté qui élève l’ame, et lui inspire de grandes choses, les récompenses de la nation, la considération publique, la vue, l’étude, l’imitation constante de la belle nature, le respect de la postérité, l’ivresse de l’immortalité, le travail assidu, l’heureuse influence des moeurs et du climat, et le génie.“

Winckelmann. Eine europäische Karriere

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der politischen Freiheit als wichtiger Parameter der Kunstgeschichte, ja als eigentliche Ursache einer jeden Kunstblüte war eine Passage aus dem Kapitel „Von der Kunst unter den Griechen“ der Geschichte der Kunst des Alterthums: „In Absicht der Verfassung und Regierung von Griechenland ist die Freyheit die vornehmste Ursache des Vorzugs der Kunst.“24 In Winckelmanns Panorama der Kunstentwicklung bei den Alten fiel in der Tat der Höhepunkt der griechischen Kunst mit der Zeit der Perikleischen Demokratie zusammen. Nach diesem Höhepunkt, dessen Glanz bis zum Ende der Herrschaft Alexanders des Großen zu spüren gewesen sei, musste, so Winckelmann, „die Kunst, welche von der Freyheit gleichsam das Leben erhalten, [...] also nothwendig durch den Verlust derselben, an dem Orte, wo dieselbe vornehmlich geblühet, sinken und fallen.“25 Die Römer versuchten sie zwar wiederzubeleben, aber selbst Kaiser Hadrian habe trotz ausgezeichneter Bildung den Verfall nicht verhindern können: „Der Geist der Freyheit war aus der Welt gewichen“26 – und damit war das Kunstschöne unwiederbringlich dahin. Der Bezug auf Winckelmann war im revolutionären Diskurs über die Kunst von besonderer strategischer Bedeutung, lieferte er doch das wissenschaftliche Gerüst zur Gleichstellung des revolutionären Frankreichs und Altgriechenlands unter dem Zeichen der Freiheit: Paris, das Vaterland der Freiheit, avancierte somit zum neuen Athen. An dieser Analogie hatte das neue Regime ein konkretes Interesse: damit sollte die ‚Rückführung‘ der in den eroberten Ländern beschlagnahmten Kunstwerke nach Paris, dem neuen Sitz der Freiheit, legitimiert werden. Ob Winckelmanns Freiheitsbegriff ein streng politischer ist, der – gemäß einem weit verbreiteten Verständnis unter französischen Winckelmann-Lesern und -Verehrern zur Zeit der Revolution – seinen vornehmlichen Ausdruck in den Institutionen der altgriechischen Demokratie oder der französischen Republik fand, darf allerdings bezweifelt werden. „[A]uch neben dem Throne der Könige“ habe die Freiheit in Griechenland ihren „Sitz“ gehabt, betont der Autor der Geschichte der Kunst des Alterthums.27 Mit anderen Worten wird Winckelmanns Grieche nicht frei, sondern er ist – eben weil er ein Grieche ist – frei geboren. Die griechische Freiheit besitzt somit bei Winckelmann eine naturgegebene, anthropo- beziehungsweise ethnologische Dimension, die von jeglicher Regierungsform unabhängig ist.28 Von der Ambivalenz des Winckelmann’schen Freiheitsbegriffs sahen die 24 25 26 27 28

Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums. Dresden 1764, S. 130 (= SN 4.1, S. 218). Ebd., S. 356 (= SN 4.1, S. 690). Ebd., S. 407 (= SN 4.1, S. 802). Ebd., S. 130 (= SN 4.1, S. 218). Vgl. dazu Elisabeth Décultot: Metamorphosen der Freiheit. Zur Genealogie und Rezeption einer Schlüsselkategorie Winckelmanns. In: Adolf H. Borbein u. Ernst Osterkamp (Hg.): Kunst und Freiheit. Eine Leitthese Winckelmanns und ihre Folgen. Stuttgart 2020, S. 1–25 (Einzelveröffentlichung Nr. 16 der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur); Dies.: Winckelmann. Enquête (wie Anm. 4), S. 151–159, 175–189 (dt. Übersetzung: Dies.: Untersuchungen zu Winckelmanns Exzerptheften [wie Anm. 4], S. 95–99, 106–112).

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revolutionären Leser nun völlig ab und fanden in seinen Ausführungen zur athenischen Demokratie die Grundlage für ein Freiheitsverständnis, das sich ohne Weiteres auf den französischen citoyen des ausgehenden 18. Jahrhunderts übertragen ließ und die Auslieferung der schönsten italienischen Kunstwerke in die französische Hauptstadt rechtfertigen konnte. Dass Winckelmanns Texte ganz andere politische Interpretationen hervorrufen konnten, beweist allerdings eine weitere französische Stimme aus dieser Zeit. Mit seinen Lettres à Miranda meldet sich Quatremère de Quincy im Jahre 1796, um – ebenfalls unter Anlehnung an Winckelmann – gegen die Auslieferung der italienischen Kunstwerke nach Frankreich zu protestieren: Der gelehrte Winckelmann ist der erste, der den wahren Beobachtungsgeist in dieses Studium brachte; der erste, der es sich einfallen ließ, das Altertum zu zergliedern, die Zeiten, Völker, Schulen, Manieren und die Nuancen derselben zu analysieren [...] Da er endlich von der Analyse zur Synthese zurückkam, glückte es ihm, aus einem Haufen von Trümmern einen Körper zu schaffen; er vereinigte in der Tat disjecti membra poetae. [...] Glauben Sie, dass Winckelmann sein Werk vollbracht hätte, wenn ihm Rom seine gesamten Gegenstände nicht an einem Standort dargeboten hätte? Stellen Sie sich diese Gegenstände verstreut oder weit entfernt vor. Stellen Sie sich vor, dass unser Beobachter die Galerien Europas hätte besichtigen müssen, statt nur diejenigen Italiens oder Roms – wie hätte er dann die Idee seines Werkes überhaupt entworfen, geschweige denn entwickelt?29

Um die unantastbare Zusammengehörigkeit aller römischen Sammlungen zu verteidigen, beruft sich Quatremère gerne auf eine natürliche, organische Metapher. Das „römische Museum“ – ein Terminus, den er gerne bemüht, um die Gesamtheit der römischen Sammlungen zu bezeichnen – bildet in seinen Augen einen einheitlichen Körper, den man nur verstümmeln würde, würde man ihm einzelne Glieder entreißen wollen, um sie nach Paris zu transportieren. Damit spiegeln die französischen Winckelmann-Lektüren des ausgehenden 18. Jahrhunderts das spannungsreiche Verhältnis der Denkansätze wider, die Winckelmanns Werk zugrunde liegen. Konnten ihm die Akteure der revolutionären Kunstpolitik – mit Hinweis auf seine freiheitsfreundliche Auslegung der athenischen Kunstblüte – eine Rechtfertigung ihrer Plünderungspolitik entnehmen, so 29

Antoine Quatremère de Quincy: Lettres sur le préjudice qu’occasionneraient aux Arts et à la Science, le déplacement des monumens de l’art de l’Italie, le démembrement de ses Ecoles, et la spoliation de ses Collections, Galeries, Musées, &c. Paris 1796, S. 24f.: „Le savant Winckelmann est le premier qui ait porté le véritable esprit d’observation dans cette étude; il est le premier qui se soit avisé de décomposer l’antiquité, d’analyser les temps, les peuples, les écoles, les styles, les nuances de style [...]. Revenu enfin de l’analyse à la synthèse, il est parvenu à faire un corps de ce qui n’étoit qu’un amas de débris; il a véritablement réuni disjecti membra poetae. [...]. Imaginez-vous que Winckelman eût pu faire ce qu’il a fait, sans la réunion des matériaux que Rome lui présentoit? Supposez-les épars ou éloignés; supposez qu’au lieu de parcourir les galeries de l’Italie ou de Rome, notre observateur eût à visiter celles de l’Europe, croira-t-on qu’il eût, je ne dis pas projetté [sic], mais seulement conçu l’idée d’entreprendre son ouvrage?“.

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beriefen sich Gegner derselben Kunstpolitik ebenfalls auf Winckelmann, um die Unversehrtheit des römischen Kunstkörpers zu verteidigen. So entgegengesetzt diese Interpretationen in ihrer strategischen Ausrichtung auch sein mochten, sie stimmten in ihrer Beschaffenheit überein: Für die einen wie für die anderen war Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums nicht nur ein historisches, sondern auch ein eminent politisches Werk, dem sich für die gegenwärtigen Fragen der Kunstpolitik entscheidende Schlüsse entnehmen ließen.

III. „Edle Einfalt und stille Größe“ – zur politischen Genese einer antipolitischen Zauberformel Ganz anders verhielt es sich zur selben Zeit im deutschsprachigen Sprachraum. Winckelmanns Werken entnehmen viele deutsche Leser des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts vornehmlich eine Schönheitslehre mit kulturgeschichtlicher Valenz und sehen dabei mit bemerkenswerter Konstanz von jeglicher Form der politischen Interpretation und a fortiori der politischen Aktualisierung ab. Gerade in der Zeit, wo der Name Winckelmanns in Frankreich zunehmend mit dem Begriff der Freiheit assoziiert wird, steigt in Deutschland die Assoziation mit der beflügelten Formel der „edlen Einfalt und stillen Größe“ antiker Kunstwerke. Ob die Begriffe des Edlen, Stillen und Großen, worauf die Winckelmann’schen Texte im deutschen Sprachraum immer wieder zurückgeführt werden, eine wirklich rein künstlerisch-ästhetische Bedeutung besitzen, sollte allerdings vor dem Hintergrund der europäischen Winckelmann-Diskussion hinterfragt werden. Das Insistieren auf der Ruhe als grundlegender ästhetischer Qualität antiker Kunstwerke erhält vor den revolutionären Unruhen im Nachbarland de facto eine politische Konnotation. In dieser anscheinend überwiegend apolitischen deutschen Rezeptionslandschaft gibt es allerdings eine Ausnahme. Christian Gottlob Heyne, Professor für Beredsamkeit in Göttingen, zeichnete sich schon früh durch eine recht kritische Distanz zum Autor der Geschichte der Kunst des Alterthums aus. Zwar war Heyne bereit, Winckelmann eine Vorreiterrolle bei der Gründung der Altertumskunde als wissenschaftlicher Disziplin zuzuweisen, betonte dabei aber gerne seine zahlreichen Interpretations- und Datierungsfehler.30 Zu den wichtigsten Dissenspunkten, die Heyne von Winckelmann trennen, gehört nun nicht zufällig die Deutung des Freiheitsbegriffs. Zwar könne „Freyheit von Umständen begleitet werden“, räumt Heyne in einer seiner Besprechungen von Winckelmanns Geschichtskonzept ein, „welche die Künstlergenies erwecken können“, wie zum Beispiel die „Begeiste30

Christian Gottlob Heyne: Lobschrift auf Winckelmann (Erstveröffentlichung: Leipzig 1778). In: Die Kasseler Lobschriften auf Winckelmann. Hg. v. Arthur Schulz. Berlin 1963, S. 17–27, hier u.a. S. 24f.

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rung der Ruhmbegierde“. Viel häufiger sei aber Freiheit eine Gefahr, ja ein Hindernis für die künstlerische Produktion: sie könne „an und für sich […] ein unthätiger, träger, tämischer [sic] Zustand seyn“, der von „so vielen Unruhen und Bedrängnissen, physischer, sittlicher und politischer Art“ begleitet werde, dass Kunst und Wissenschaft darunter leiden.31 Diesen anthropologischen Vorbehalten gegenüber den Vorteilen der Freiheit für die Künste fügt Heyne schließlich Einwände gegen Winckelmanns Geschichtsdeutung hinzu: Die Freyheit der Griechen ist überdies ein so unbestimmtes, und nach verschiedenen Gegenden und Zeiten Griechenlands so vielartiges Ding, daß alles schwankend wird, was man darauf bauet. Ganz anders war man frey in Athen, anders zu Sparta, zu Theben, und noch anders in den ruhigen Gefilden von Phocis und Doris, von Elis und Arcadien; und hier ist die Kunst nie hochgestiegen. Vor dem Einfall der Perser war in Griechenland vielleicht mehr politische Freyheit, als nachher.32

Mit anderen Worten sei Freiheit keineswegs nur eine Erscheinung der Blütezeit, sondern auch der Dekadenz der griechischen Polis. Am Ende von Heynes Demonstration bleibt vom Winckelmann’schen Grundsatz, „der die Vollkommenheit der Kunst unter den Griechen von der Freyheit ableitet“, recht wenig übrig. Nicht die Freiheit erkläre die griechische Kunstblüte, sondern die „Wohlhabenheit und die Prachtliebe“, die „beyde in politischer Freyheit und unter politischer Sklaverey erwachsen“.33

IV. Ein umstrittener Klassiker Der vorliegende Band versammelt die Beiträge zu einer Tagung, die im Herbst 2017 in der Villa Vigoni stattfand. Ziel der Tagung war es, die Wirkungsgeschichte von Winckelmanns Werk in Italien vor dem Hintergrund seiner europäischen Rezeption zu untersuchen. Fokussiert wurde dabei auf verschiedene Aspekte und Dimensionen der Rezeptionsprozesse. Von einem räumlichen Standpunkt aus wurde – ausgehend von der italienischen Rezeption – nach der Verbindung beziehungsweise Diskrepanz zwischen verschiedenen nationalen oder transnationalen Winckelmann-Bildern gefragt. Untersucht wurde dabei die Zeitspanne vom ausgehenden 18. bis zum 20. Jahrhundert, wobei die Periode 1780–1850 als Hochphase der Auseinandersetzung mit Winckelmanns Werk im Fokus stand. Einen der Hauptansatzpunkte hierfür bildete die Analyse der Übersetzungen von Winckelmanns Werken ins Italienische, die sich bei genauerer Betrachtung als adaptieren-

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Ders.: Ueber die Künstlerepochen beym Plinius. In: Ders.: Sammlung antiquarischer Aufsätze. 2 Bde. Leipzig 1778–1779. Bd. I, S. 165–235, hier S. 171f. Ebd., S. 171f. Ebd.

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de, transponierende und synthetisierende Überarbeitungen der Urtexte erweisen.34 Dabei kam die fächerübergreifende Dimension der Winckelmann-Rezeption deutlich zum Vorschein: Winckelmann spielte nicht nur als Vaterfigur der Kunstgeschichte, Archäologie und Altertumswissenschaften eine entscheidende Rolle in der italienischen und europäischen Wissensgeschichte,35 sondern wurde auch zu einer Inspirationsquelle für Poesie, Drama und literarische Fiktionen36 sowie zum Gegenstand einer Memorialpolitik,37 die stets Ästhetik, Wissenschaftsgeschichte und politische Botschaft vermengte. Kennzeichnend für diese italienische und europäische Rezeption ist die unentwirrbare Mischung aus kritischer und affirmativer Bezugnahme. Vorbehalte wurden insbesondere gegen die mangelnde wissenschaftliche Stringenz seiner Geschichte der Kunst des Alterthums geäußert. Ein frühes Beispiel einer solchen Kritik lieferte der Comte de Caylus, dessen Recueil d’antiquités zwischen 1752 und 1767 erschien.38 Aus Sicht des französischen Antiquars verließ Winckelmann vorschnell den Bereich der Empirie, um allgemeine Thesen zur Entwicklung der Kunst aufzustellen.39 Winckelmanns historiographisches Unterfangen, das anhand eines breit angelegten Narrativs auf die Produktion eines vollständigen, lückenlosen Tableaus der antiken Kunstgeschichte zielte, war für Caylus keineswegs imstande, der wesenhaften Unvollständigkeit des Wissens über die Antike Rechnung zu tragen. Schon an den strukturellen Unterschieden, die die Hauptwerke beider Autoren voneinander trennen – auf der einen Seite eine vollständige „Geschichte“ der antiken Kunst, auf der anderen die unsystematische, kumulative Form des als Auslese verstandenen „Recueil“ –, lässt sich eine epistemologische Divergenz erkennen, die die damals einsetzende Loslösung der Kunstgeschichte von der antiquarischen Wissenschaft modellhaft widerspiegelt. Die von Caylus früh geäußerten Einwände waren bald in zahlreichen gelehrten Kreisen Europas hörbar. In Deutschland wurde die Geschichte der Kunst des Alterthums zwar regelmäßig als Gründungsdokument der Kunstgeschichte und Ar-

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Vgl. in diesem Band insbesondere die Aufsätze von Fabrizio Slavazzi, Stefano Ferrari, Giulia Canturatti, Fausto Testa und Elena Agazzi. Neben den in Anm. 34 erwähnten Aufsätzen vgl. auch die Aufsätze von Helmut Pfotenhauer, Christoph Schmälzle, Daniel Fulda und Thomas Franke. Vgl. die Aufsätze von Serena Feloj, Mariagabriella Gambiaghi und Elio Franzini. Vgl. den Aufsatz von Martin Dönike und Charlotte Kurbjuhn. Anne Claude Philippe de Tubières, comte de Caylus: Recueil d’antiquités égyptiennes, étrusques, grecques et romaines. 7 Bde. Paris 1752–1767; Joachim Rees: Die Kultur des Amateurs. Studien zu Leben und Werk von Anne Claude Philippe de Thubières, Comte de Caylus (1692–1765). Weimar 2007; Samuel Rocheblave: Essai sur le comte de Caylus: l’homme, l’artiste, l’antiquaire. Paris 1889. Elisabeth Décultot: Winckelmann et Caylus. Enquête sur les rapports de l’histoire de l’art au savoir antiquaire. In: Nicholas Cronk u. Kris Peeters (Hg.): Le comte de Caylus, les arts et les lettres. Actes du colloque international Université d’Anvers (UFSIA) et Voltaire Foundation, Oxford, 26–27 mai 2000. Amsterdam 2004, S. 59–78; Chantal Grell: Le dix-huitième siècle et l’Antiquité en France, 1680–1789. 2 Bde. Oxford 1995, S. I, S. 135–136, 180–182.

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chäologie angeführt, jedoch selten ohne den obligaten Hinweis auf ihre, so die weit verbreitete Wahrnehmung, zutiefst unhistorische Dimension.40 Das Werk gebe von der antiken Kunst mehr ein ideales als ein wirklich historisches Bild, tadelt Heyne in der Kasseler Lobschrift auf Winckelmann von 1778.41 In der Paarung von Geschichte und Philosophie stecke eine grundlegende Schwierigkeit, die Winckelmann nicht ganz überwunden habe, merkt ebenfalls Herder an.42 Der deutschrömische Antiquar habe zwar Sinn für das System, aber ihm fehle, setzt Friedrich August Wolf im Jahre 1805 nach, „jenes gemeinere Talent“ zum „Blick auf die Geschichte“, jene „seltene Mischung von Geistes-Kälte und kleinlicher, unruhiger Sorge um hundert an sich geringfügige Dinge“43 – allerhand Einwände, die in den Paratexten der italienischen Übersetzungen der Geschichte der Kunst des Alterthums durch Carlo Amoretti und Carlo Fea Eingang gefunden haben.44 In Nietzsches Augen schließlich waren Winckelmanns Griechen „über alle Maaßen historisch falsch“ – dafür aber höchst „modern, wahr“.45 Solche Einschätzungen sind in der wissenschaftlichen Literatur zur Geschichte der Geschichtsschreibung nicht wirkungslos geblieben. In vielen Untersuchungen zur Entstehung und Entwicklung der Historiographie seit der Aufklärung wird Winckelmann als Historiker eine eher beschränkte Rolle zugewiesen.46 Von Friedrich Meinecke wird er aus der Ahnenreihe des Historismus und damit des historischen Denkens selber ausgeschlossen, weil er zu sehr Theorie und Geschichte vermische und die Lehre des Schönen mit der historischen Darstellung der Kunstentwicklung verwechselt habe.47 In Friedrich Jägers und Jörn Rüsens, Reinhart 40

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Hinrich C. Seeba: Johann Joachim Winckelmann. Zur Wirkungsgeschichte eines „unhistorischen Historikers“ zwischen Ästhetik und Geschichte. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 56 (1982), H. 3, S. 168–201; Ders.: Winckelmann: Zwischen Reichshistorik und Kunstgeschichte. Zur Geschichte eines Paradigmawechsels in der Geschichtsschreibung. In: Hans Erich Bödeker u.a. (Hg.): Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert. Göttingen 1986, S. 299–323. Heyne: Lobschrift auf Winckelmann (wie Anm. 30), S. 24f. Johann Gottfried Herder: Älteres kritisches Wäldchen. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. v. Günter Arnold u.a., Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur, 1767–1781. Hg. v. Gunter E. Grimm. Frankfurt a.M. 1993, S. 11–62, insb. S. 12–14, 25. Friedrich August Wolf: [Skizzen zu einer Schilderung Winckelmanns III]. In: Johann Wolfgang Goethe (Hg.): Winckelmann und sein Jahrhundert. In Briefen und Aufsätzen [1805]. In: Ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. 20 Bde. und 1 Registerbd. Hg. v. Karl Richter u.a., Bd. 6.2. Hg. v. Victor Lange u.a. München 1988, S. 389–400, hier S. 397. Vgl. in diesem Band insbesondere die Aufsätze von Stefano Ferrari und Giulia Canturatti. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. Herbst 1885 bis Anfang Januar 1889. 2. Teil: November 1887 bis Anfang Januar 1889. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. 15 Bde. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. 2., durchges. Aufl. Bd. 13. Berlin 1988, S. 140. Ulrich Muhlack: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus. München 1991, S. 250–254. Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus [nach der 2. Aufl. von 1946; Erstausgabe 1936]. In: Ders.: Werke. 8 Bde. Hg. v. Hans Herzfeld, Carl Hinrichs u. Walther Hofer. Bd. 3. Hg. u. eingel. v. Carl Hinrichs. München 1959, S. 295–302. Zur Winckelmann-Rezeption mit

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Kosellecks oder Lutz Raphaels Arbeiten zur Geschichtsschreibung wird er nicht oder nur am Rande erwähnt.48 Ziel des vorliegenden Bands ist es, ausgehend vom italienischen Kontext einige Schlaglichter auf diesen paradoxen Klassiker zu werfen, der kurz nach seinem Tod zugleich kanonisiert und scharf kritisiert wurde. Deutlich wird dabei, dass die italienische Winckelmann-Rezeption vor allem deshalb komplex ist, weil sie immer in Kenntnis von und mit Blick auf die Winckelmann-Rezeption in anderen europäischen Ländern – insbesondere in Deutschland und Frankreich – stattfindet: Rezeptionsgeschichte kann hier nur als eine Geschichte von Verflechtungen geschrieben werden.

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Blick auf die Begriffsgeschichte des Historismus vgl. den Aufsatz von Daniel Fulda in diesem Band. Reinhart Koselleck: Geschichte. In: Ders., Otto Brunner, Werner Conze (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 7 Bde. Stuttgart 1972–1992, Bd. 2, 1975, S. 647–717; Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M. 1979; Friedrich Jaeger u. Jörn Rüsen: Geschichte des Historismus. München 1992; Jörn Rüsen: Ästhetik und Geschichte. Geschichtstheoretische Untersuchungen zum Begründungszusammenhang von Kunst, Gesellschaft und Wissenschaft. Stuttgart 1976.

1. Ein Klassiker des Klassizismus Zirkulation und Adaption

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250 Jahre Winckelmann-Jubiläen in europäischer Perspektive Die internationale Tagung in der Villa Vigoni Ende 2017 über „Winckelmanns italienische und europäische Rezeption“ war durch ein Jubiläum veranlasst: 2017 wurde der 300. Geburtstag des 1717 in Stendal geborenen Gelehrten gefeiert, 2018 sein 250. Todestag.1 Die deutsch-italienische Vigoni-Tagung fügte sich ein in einen veritablen Reigen internationaler Veranstaltungen. Zu nennen wären etwa die Winckelmann-Ausstellungen in Florenz, Chiasso, Neapel, Weimar, Berlin, Wörlitz, Mailand, Rom und München, aber auch die Winckelmann-Tagungen und Vortragszyklen in St. Petersburg, New York, Halle, Zürich, Madrid, Rom, Oxford und London.2 Natürlich hat es eine Ausstellung und eine Tagung auch in Winckelmanns Heimatstadt Stendal gegeben; zudem sind vom deutschen Bundesministerium der Finanzen eine Briefmarke und eine Silbermünze zu Ehren Winckelmanns ausgegeben worden.3 Schon das genannte Spektrum von Städtenamen macht deutlich, dass Winckelmanns Bedeutung nicht eine genuin deutsche, vielmehr eine internationale ist. In diesem Sinne hat Ernst Osterkamp im Katalog zur Weimarer Ausstellung Winckelmann als einen „Europäer“ charakterisiert, der „ganz der europäischen Gelehrtenkultur des 18. Jahrhunderts“ angehört habe: Er korrespondierte mit Altertumskennern in allen wichtigen Nationen Europas, er schrieb für ein internationales Publikum von antikebegeisterten Lesern, unterhielt Freundschaften zwischen Spanien und dem Baltikum, zwischen Kopenhagen und Neapel, konversierte in den Salons von Rom, Neapel und Florenz mit Reisenden, Gelehrten, Künstlern, Diplomaten aus allen Ländern, interessierte sich für spanische Megalithgräber nicht anders als für das englische Stonehenge [...] und für die künstlerischen Entwicklungen in Frankreich ebenso wie für diejenigen in England.4

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Der dem Beitrag zugrundeliegende Vortrag ist in Zusammenarbeit beider Verfasser entstanden. Im vorliegenden Text stammen die dem Zeitraum bis zum Jubiläumsjahr 1942/43 gewidmeten Seiten 17–32 von Martin Dönike; die die Phase seit dem Jubiläum 1967/68 bis heute in den Blick nehmenden Seiten 32–46 von Charlotte Kurbjuhn. Siehe dazu unten, S. 43ff. Sonderpostwertzeichen „Johann Joachim Winckelmann 1717–1768“, Entwurf: Susann Stefanizen; Wert: 0,70 €, Maße: B × H 33 × 39 mm, Ausgabetag: 12. Oktober 2017. Das Bild zeigt den Kopf Winckelmanns nach dem Vorbild des Mengs-Porträts gemeinsam mit zwei antiken Skulpturen; 20-Euro-Gedenkmünze „300. Geburtstag Johann Joachim Winckelmann“; Entwurf: Andre Witting; Material: Silber (925/1000); Durchmesser: 32,5 mm; Ausgabetag: 12. Oktober 2017; Prägestätte: Stuttgart. Nach dem Vorbild antiker Münzen ist Winckelmann auf der Bildseite im Profil zu sehen. Auf der Wertseite sind neben Adler und dem in Antiqua gestalteten Schriftzug „BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND“ die Jahreszahl 2017 sowie die zwölf Europasterne geprägt. Die Randschrift lautet: „EDLE EINFALT UND STILLE GRÖSSE“. Ernst Osterkamp: Johann Joachim Winckelmann: Der Europäer. In: Winckelmann. Moderne Antike, Ausstellungskatalog Neues Museum Weimar 2017. Hg. v. Elisabeth Décultot, Martin

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Diese Beschreibung dürfte heutzutage wohl auf allgemeine Zustimmung treffen. Winckelmanns Lektüren, Werke und Briefe zeigen, dass er ein europäischer Gelehrter war, der sich als Mitglied einer internationalen res publica litteraria verstand und tatsächlich auch international rezipiert wurde. Dennoch ist es nicht allzu lange her, dass Winckelmann als ein genuiner Deutscher galt, der sich von Italienern, Engländern und Franzosen nicht beirren ließ und zu einem der Grundpfeiler deutsch-nationaler Identität erklärt wurde. Ziel dieses Beitrages ist es zu zeigen, dass das Bild Winckelmanns von Anfang an zwischen den beiden Polen Deutschland und Europa bzw. der Welt aufgespannt war. Natürlich, das lässt sich nicht leugnen, liegt der Schwerpunkt der Rezeption Winckelmanns bis heute in den deutschsprachigen Ländern, aber eben nicht nur und schon gar nicht von Anfang an. Erinnert sei daran, dass der erste Versuch einer Ausgabe von Winckelmanns Werken im Frankreich der 1790er Jahre unternommen wurde und dass die ersten Winckelmann-Denkmäler im römischen Pantheon (1782) und in Triest (1822) errichtet wurden.5 Wichtige Beiträge der Winckelmann-Forschung sind ebenfalls nicht allein in den deutschsprachigen Ländern, sondern ebenso in Italien, Frankreich, England und den USA entstanden. Der Beitrag richtet den Fokus auf die normalerweise alle 50 bzw. 100 Jahre gefeierten Winckelmann-Jubiläen, das heißt auf die Jahre 1777/78, 1817/18, 1867/68, 1917/18, 1967/68 und 2017/18; hinzu kommt das Jubiläumsjahr 1942/43, in dem außerhalb der üblichen Reihe des 225. Geburtstags bzw. 175. Todestags Winckelmanns gedacht wurde.6 Eine solche Fokussierung hat natürlich etwas Willkürliches an sich, denn tatsächlich sind einige der wichtigsten Beiträge zu Winckelmann

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Dönike, Wolfgang Holler, Claudia Keller, Thorsten Valk u. Bettina Werche. München 2017, S. 23–38, hier S. 38. Der erste Band einer von dem Verleger Henri (Hendrik) Jansen initiierten und ursprünglich auf acht Bände angelegten Edition der sämtlichen Schriften Winckelmanns erschien 1793/94. Mit dem Erscheinen des dritten Bandes wurde das Projekt jedoch im Jahre 1803 abgebrochen: Johann Joachim Winckelmann: Histoire de l’art chez les anciens. Hg. v. Hendrik Jansen. 3 Bde. Paris An II [1793/94] – An XI [1802/03]. Siehe dazu Pascal Griener: La nécessité de Winckelmann: Hendrik Jansen (1741–1812) et la littérature artistique à la fin du XVIIIème siècle. In: Winckelmann et le retour à l’antique. Entretiens de la Garenne Lemot (Actes du Colloque, 9.–12. Juni 1994). Nantes 1995, S. 111–126. – Zu den beiden in Italien errichteten Denkmälern siehe Christoph Schmälzle: Winckelmann als Symbolfigur der Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts. In: Winckelmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Martin Disselkamp u. Fausto Testa. Stuttgart 2017, S. 306–319, hier S. 307–309 sowie Rüdiger Splitter: Die Porträtbüsten Winckelmanns und Mengs’ für das Pantheon in Rom. Überlegungen zu Entstehung, Aufstellung und Rezeption. In: Antike Welt 6 (2016), S. 40–48 (jeweils mit weiterführender Literatur). Die erste deutsche, sogenannte Weimarer WinckelmannWerkausgabe erschien erst ab 1808 in Dresden, das von Ludwig Wichmann verfertigte Winckelmann-Denkmal in Stendal wurde sogar erst 1859 eingeweiht. Vgl. zum Thema allgemein Winfried Müller (Hg.): Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus. Münster 2004 (Geschichte, Forschung und Wissenschaft, Bd. 3); zur Frage der Säkulargliederung Arndt Brendecke: Die Jahrhundertwenden. Eine Geschichte ihrer Wahrnehmung und Wirkung. Frankfurt a.M. 1999.

250 Jahre Winckelmann-Jubiläen in europäischer Perspektive

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gerade in den Jahren zwischen den Jubiläen erschienen, so etwa der von Goethe 1805 herausgegebene Band Winckelmann und sein Jahrhundert oder Alex Potts’ einflussreiches Buch Flesh and the Ideal von 1994. Dennoch: Die genannten Jubiläumsjahre sind Kulminationspunkte der Winckelmann-Rezeption – und zwar in dem Sinne, dass sie den jeweiligen Festrednern und -schreibern den Anlass und die Möglichkeit boten und bieten, im Blick zurück und nach vorn programmatische Aussagen zu formulieren.7 In den Praktiken, Motiven und Medien des Winckelmann-Gedenkens spiegelt sich dadurch auch die politische Geschichte der vergangenen 250 Jahre.

I. Das Jubiläum vor den Jubiläen: 1777/78 Noch ohne expliziten Bezug auf ein Jubiläum – in diesem Fall der 60. Geburtstag Winckelmanns – erschien 1777 in Dresden der erste Band von Karl Wilhelm Daßdorfs (1750–1812) Sammlung der Briefe Winckelmanns an seine Freunde, dem 1780 ein zweiter Band folgen sollte. Vor dem Hintergrund der „traurige[n] Zurückerinnerung seines frühen und grausamen Todes“ ist es das vordringliche Anliegen von Daßdorfs Ausgabe, das „Andenken eines großen Mannes zu erhalten“.8 Schon im folgenden Jahr 1778 – zum zehnten Todesjahr Winckelmanns – wurde diese erste Sammlung von Briefen Winckelmanns durch die von Leonhard Usteri (1741–1789) herausgegebenen Briefe Winckelmanns an seine Freunde in der Schweiz ergänzt, auch hier freilich noch ohne expliziten Bezug auf das Jubiläum.9 Gleiches gilt für die 1777 von der Kasseler Societé des Antiquités ausgeschriebene und 1778 publizierte Lobschrift auf Winckelmann, bei der Christian Gottlob Heyne (1729–1812) den Sieg über Herder davontrug.10 Schon die Frage7

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Auszunehmen hiervon sind Beiträge, die ein Jubiläum zum Anlass nehmen, neuentdeckte bzw. bislang übersehene Quellen zu publizieren, vgl. etwa Heinrich Schneider: An unpublished letter by Johann Joachim Winckelmann. In: Germanic Review 18 (1943), S. 172–175; Else Rehm: Briefe von und über Winckelmann. Zum Gedenken anläßlich seines 250. Geburtstages am 9. Dezember 1967. In: Arcadia 2 (1967), H. 3, S. 305–319. Dasselbe gilt für Neuauflagen von Werken wie Goethes Winckelmann-Aufsatz oder Justis Biographie: [Johann Wolfgang von] Goethe: Winckelmann. Mit einer Einleitung von Ernst Howald. Erlenbach-Zürich 1943; Carl Justi: Winckelmann und seine Zeitgenossen. 4. Aufl. mit einer Einführung v. Ludwig Curtius. 2 Bde. Leipzig 1943. Winckelmanns Briefe an seine Freunde. Mit einigen Zusätzen und literarischen Anmerkungen. Hg. v. Karl Wilhelm Daßdorf. 2 Bde. Dresden 1777–1780, hier Bd. 1, Vorbericht, o.S. Winckelmanns Briefe an seine Freunde in der Schweiz. Hg. v. Leonhard Usteri. Zürich 1778. – Noch im selben Jahr ließ Johann Caspar Füssli diesem Band eine Schrift mit dem Titel Geschichte von Winckelmanns Briefen an seine Freunde in der Schweiz (Zürich 1778) folgen. Siehe Mémoires de la Société des Antiquités de Cassel. Bd. 1 [mehr nicht erschienen]. Kassel 1780, S. 1–26; Heyne hatte das deutsche Original seiner Eloge bereits zwei Jahre zuvor publiziert: Lobschrift auf Winckelmann, welche bey der Hessen Casselischen Gesellschaft der Alterthümer den ausgesetzten Preis erhalten hat. Kassel 1778. – Herders unterlegene Lobschrift

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stellung – „où il [Winckelmann, M. D.] a trouvé la Science des Antiquités, et à quel point il l’a laissée“ (in der damaligen Übersetzung: „wo, auf welcher Stufe Winckelmann das Studium des Altertums fand, und wo er das Studium des Alterthums ließ“) – macht allerdings deutlich, dass zehn Jahre nach Winckelmanns Tod der Zeitpunkt gekommen war, seine Leistung zu historisieren.11

II. Wanderer zwischen den Welten: Das Jubiläum 1817/18 Das erste reguläre, weil ‚runde‘ Doppeljubiläum fällt in die Jahre 1817/18. Anlässlich von Winckelmanns 100. Geburtstag und 50. Todestag ist die Ausbeute jedoch auffallend gering. Es drängt sich der Eindruck auf, dass Goethe mit dem von ihm 1805 vorgelegten Band zu Winckelmann und seinem Jahrhundert das Thema bereits vorzeitig erschöpft hatte. So findet sich beispielsweise in dem 1817 erschienenen siebten Band der Weimarer Winckelmann-Ausgabe kein Hinweis auf dessen 100. Geburtstag, obwohl dies durchaus nahegelegen hätte.12 Für Deutschland gibt es darüber hinaus noch zwei Beiträge von eher lokaler Bedeutung,13 ein weitaus bedeutenderer Beitrag stammt jedoch aus Italien, obwohl er in Dresden publiziert wurde. Gemeint ist der von Karl August Böttiger (1760–1835) herausgegebene Bericht Domenico Rossettis (1774–1842) über Joh.[ann] Winckelmann’s letzte Lebenswoche, laut Untertitel ein „[a]us den gerichtlichen Originalacten des Criminalprocesses seines Mörders Arcangeli“ gezogener „Beitrag zu dessen Biographie“. Es ist bezeichnend für diese italienisch-deutsche ‚Koproduktion‘, dass sowohl Rossetti als auch Böttiger wie selbstverständlich von Italien und Deutschland als den zwei „Vaterländern“ Winckelmanns sprechen: „Triest“, so heißt es in der

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wurde erstmals 1882 publiziert. Eine Edition beider Schriften wurde 1963 vorgelegt: Die Kasseler Lobschriften auf Winckelmann. Einführung und Erläuterung. Hg. v. Arthur Schulz. Berlin 1963. Die „Societé des Antiquités“ ging auf die Initiative des Landgrafen Friedrich II. von HessenKassel zurück, der sie im April 1777, kurz nachdem er von einer Italienreise zurückgekehrt war, begründete. Siehe Annett Volmer: Antikerezeption im 18. Jahrhundert: Die Gesellschaft der Alterthümer. Ein Beitrag zur Spätaufklärung in Hessen-Kassel. In: Sozietäten, Netzwerke, Kommunikation. Neue Forschungen zur Vergesellschaftung im Jahrhundert der Aufklärung. Hg. v. Holger Zaunstöck u. Markus Meumann. Tübingen 2003, S. 85–113. Zur Aufgabe („L’Eloge de Mr. Winckelmann, dans lequel on fera entrer le point où il a trouvé la Science des Antiquités, et à quel point il l’a laissée.“) vgl. die Notiz in: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 1777. Bd. 2. 92. St. (2. August 1777), S. 736. Winckelmann’s Werke. Hg. v. Carl Ludwig Fernow u.a. Bd. 7: Trattato preliminare oder vorläufige Abhandlung vor dem Werk: Monumenti antichi inediti. Aus dem Italienischen übersetzt. Mit 8 Kupfern. Hg. v. Johann Heinrich Meyer u. Johannes Schulze. Dresden 1817. [Johann Samuel Friedrich Kah]lb[au]: Johann Joachim Winckelmann, ein berühmter Stendaler. In: Altmärkisches Intelligenz- und Leseblatt 1817, S. 443, 446, 450–452; 1819, S. 185f.; Johannes Gurlitt (Hg.): Zwei Reden studirender Jünglinge bei der dritten Secularfeier der Reformation gehalten im Gymnasium zu Hamburg am 1. Nov. 1817. [...] Angehängt sind drei ungedruckte Briefe von Joh. Winckelmann. Hamburg 1818.

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Vorrede Böttigers, in der er Bezug nimmt auf das dort geplante WinckelmannDenkmal, ist eine deutsche Stadt von italischen Lüften angeweht und von den weichen Tönen italischer Sprache und Zauberklängen italischer Beredtsamkeit liebkosend umfangen. So gehörte auch Winckelmann beiden Ländern und Zungen an. Deutsch sey die eine, italisch die andere Inschrift auf dem Cippus oder der Gedächtnißsäule.14

Ganz in diesem Sinne und dabei nur scheinbar paradox ist bei Rossetti im selben Atemzug von Rom als dem „neuen Vaterlande“ Winckelmanns und zugleich von dessen „Sehnsucht“ nach dem alten „Vaterlande“, das heißt Deutschland, die Rede.15 Von dieser kosmopolitischen Sicht auf Winckelmann, die etwa auch die ab 1829 in Rom am Instituto di corrispondenza archeologica begangenen Winckelmann-Feiern prägt, sollte im Laufe des 19. Jahrhunderts immer weniger übrigbleiben.16 Aus dem Europäer Winckelmann wurde im Zuge des deutschen ‚nationbuilding‘ immer mehr ein reiner, unverfälschter Deutscher.

III. Deutscher Genius und europäischer Renaissancemensch: Das Jubiläum 1867/68 Das Winckelmann-Jubiläumsjahr 1867/68 begann, gewissermaßen verfrüht, mit der Wiederauflage von Otto Jahns (1813–1869) erstmals 1844 publiziertem biographischen Winckelmann-Aufsatz und der Veröffentlichung des ersten Bandes von Carl Justis (1832–1912) monumentaler Biographie, die beide bereits 1866 erschienen waren.17 Doch zumindest Justis Biographie war tatsächlich schon mit Blick auf das Jubiläum geschrieben, wie ein Blick in das Vorwort deutlich macht, wo es heißt:

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Dominicus von Rossetti: Johann Winckelmanns letzte Lebenswoche. Ein Beitrag zu dessen Biographie. Aus den gerichtlichen Originalacten des Criminalprocesses seines Mörders Arcangeli. Hg. mit einer Vorrede v. Karl August Böttiger. Dresden 1818, S. X (Vorrede). Ebd, S. 1f. Zu den Mitte bzw. Ende der 1820er Jahre einsetzenden Winckelmann-Feiern in Berlin und Rom, später dann auch in Stendal, Kiel, Bonn, Greifswald, Halle und Leipzig siehe Johannes Rößler: Winckelmann-Verehrung und Winckelmann-Biographik. In: Winckelmann-Handbuch (wie Anm. 5), S. 278–288, hier S. 281f. – Insbesondere die römischen Winckelmann-Feiern des auf Betreiben von Eduard Gerhard, Christian Karl Josias von Bunsen, August Kestner, Carlo Fea und Bertel Thorvaldsen gegründeten und unter dem Protektorat König Friedrich Wilhelm IV. stehenden Instituto di corrispondenza archeologica zeichneten sich durch die Internationalität der Festredner und Beiträger aus. Otto Jahn: Winckelmann [„Ursprünglich eine Rede, am 9. December 1843 in der akademischen Aula zu Greifswald gehalten und gedruckt Greifswald 1844, hier umgearbeitet.“]. In: Ders.: Biographische Aufsätze. Leipzig 1866, S. 1–88; Carl Justi: Winckelmann. Sein Leben, seine Werke und seine Zeitgenossen. 2 Bde. Leipzig 1866–1872 [2. Aufl. Leipzig 1898 in drei Bänden u.d.T.: Winckelmann und seine Zeitgenossen].

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Martin Dönike / Charlotte Kurbjuhn Hundert Jahre sind nun bald dahin, seit Winckelmann aus den Lebenden weggerissen ward; und noch immer fehlt ihm die Erzählung seines Lebens, die Abrechnung seiner geistigen Hinterlassenschaft: noch immer steht seine Nische in dem biographischen Pantheon leer, während seine Büste schon lange im Pantheon des Agrippa aufgestellt ist.18

Für beide, den Archäologen Jahn wie auch den Kunsthistoriker Justi gilt, dass sie versuchen, Winckelmann, wohl nicht zuletzt im Kontext der Reichsgründung, dezidiert als einen Deutschen zu profilieren.19 So heißt es bei Jahn: Sein Andenken unter uns zu erhalten geziemt uns um so mehr, als Winckelmann ein Deutscher war, ein Deutscher an Sinn und Geist, und wie er sein Volk in seinen schönen Bestrebungen geweckt, gefördert und gehoben hat, so errang er, wie vor ihm Keiner, nach ihm nicht Viele, der Tiefe und Klarheit, der Kraft und Gediegenheit des deutschen Geistes durch ganz Europa hin bewundernde Anerkennung. Mit Recht feiern wir daher seinen Geburtstag, und nicht wir allein. Schon seit einer Reihe von Jahren begeht das Institut für archäologische Correspondenz in Rom, an dem Orte seines Wirkens, in festlicher Zusammenkunft auf dem Capitol den Geburtstag des Stifters der Archäologie, und bereits sind mehrere deutsche Universitäten diesem Beispiel gefolgt.20

Ganz ähnlich argumentiert Justi in der Einleitung zu seiner WinckelmannBiographie: Die Erscheinung Winckelmanns steht gleichsam an der Pforte, die aus der Verknöcherung und Geschmacklosigkeit der vorhergegangenen Zeiten hinüberführt in den unserer Erinnerung so theuern Bezirk, wo die bei den neuern Völkern herumgehende Leitung der geistigen Bewegung an Deutschland kam: seine Werke gehören zu den Erstlingen des deutschen Genius, aber es sind Erstlinge, nach welchen uns selbst das Höchste nicht mehr sehr überraschen kann, was die Folgezeit bringen sollte. Der Eintritt der bildenden Kunst in den Kreis unserer Nationalbildung, die Oeffnung des griechischen Alterthums, die Anfänge der deutschen Prosa und der deutschen Geschichtsschreibung, die Erhebung der deutschen Literatur zur Weltliteratur: dieser und noch anderer Dinge ist man gewohnt sich zu erinnern, wenn der Name Winckelmanns genannt wird.21

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Justi: Winckelmann (wie Anm.17), Bd. 1, S. 2. – Umgekehrt dürfte Justis Publikation von dem Jubiläum insofern profitiert haben, als Winckelmanns Geburts- und Todestag Thema der Tagespresse war. Siehe etwa [Anon.]: Zum 150. Geburtstage Winckelmanns. In: Illustrirte Zeitung [Leipzig] 49 (1867), Nr. 1276 (14. Dezember), S. 403: „Bald werden es 100 Jahre sein, als die gemeinste Habsucht einen der edelsten, hochverdientesten Männer der Wissenschaft und ihrer Erforschung entriß. [...] Lieber als jenes Tages, der uns so viel raubte, wollen wir dessen gedenken, der uns so viel verliehen, des Tages, an welchem Johann Joachim Winckelmann das Licht der Welt erblickte.“ Vgl. Rößler: Winckelmann-Verehrung (wie Anm. 16), S. 282–285. Jahn: Winckelmann (wie Anm. 17), S. 3f. Justi: Winckelmann (wie Anm. 17), Bd. 1, S. 1. – Justi hat diese Passage für die zweite Auflage seines Werkes (Leipzig 1898) zwar umformuliert, die Profilierung Winckelmanns als Deutscher dabei jedoch belassen: „Seine Werke und ihre Aufnahme waren eins der Anzeichen, daß endlich auch Deutschland eine leitende Rolle in der geistigen Bewegung des Abendlandes beschieden sein sollte.“ (S. 1). Vgl. auch Karl Bernhard Stark: Johann Joachim Winckelmann, sein Bildungsgang und seine bleibende Bedeutung. Berlin 1867 (Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge. Hg. v. R. Virchow u. Fr. von Holtzendorff, H. 42),

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Auch wenn gerade Justis Monumentalbiographie Winckelmanns Wirken dezidiert in einen internationalen Kontext stellt,22 kann für ihn wie auch im Allgemeinen gelten: Aus dem Europäer Winckelmann wird gegen Ende des 19. Jahrhundert immer mehr ein Deutscher, ja der Deutsche schlechthin. Und doch ist es die Winckelmanns Deutschtum herausstreichende Biographie Jahns gewesen, die einem Engländer den Anlass für die Niederschrift eines Textes bot, dessen Bedeutung für den Fortgang der Winckelmann-Forschung wie auch vor allem für die Entwicklung des europäischen Ästhetizismus gar nicht überschätzt werden kann. Unter dem schlichten Titel „Winckelmann“ veröffentlichte Walter Pater (1839–1894) im Jahre 1867 in der Londoner Westminster Review eine vorgebliche „Rezension“ von G. H. Lodges englischer Übersetzung der Geschichte der Kunst des Alterthums (London 1850) und Jahns Biographischen Aufsätzen, die aber eher ein eigenständiger Essay über Winckelmann (und nicht zuletzt seinen Einfluss auf Goethe) war.23 Wie die Pater-Forschung betont hat, ist der frühe WinckelmannEssay, Paters zweite literarische Arbeit überhaupt, als Keimzelle für den Hellenismus und Ästhetizismus seines Verfassers zu betrachten.24 Sechs Jahre später sollte Pater den Text mit lediglich leichten Veränderungen in den berühmten Band The Renaissance: Studies in Art and Poetry aufnehmen.25 Obwohl der WinckelmannAufsatz hier an letzter Stelle platziert ist, ist er der Schlüsseltext des Bandes, der Kenneth Clark zufolge zuerst gelesen werden sollte.26 Am Ende einer langen Reihe

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dem es daran gelegen ist, dass „Winckelmann’s Geist lebendig der deutschen Nation bleibe, ja lebendiger werde“ (S. 8). Diese internationale Dimension Winckelmanns ist denn auch Gegenstand des WinckelmannVortrags, den Justi anlässlich des 150. Geburtstags am römischen Institut gehalten hat: Sulle relazioni del Winckelmann colla repubblica letteraria di Roma. Discorso letto nell’adunanza solenne tenuta dall’Instituto archeologico a 13 decembre 1867. In: Bullettino dell’Instituto di Corrispondenza Archeologica per l’anno 1868. Rom 1868, S. 3–11 [2. Aufl. Neapel 1870]. Walter Pater: Winckelmann. In: Westminster Review N.S. 31 (1867), Nr. 1, S. 80–110. – Als ein weiteres in das Jubiläumsjahr 1867/68 fallendes Beispiel für die Rezeption Winckelmanns im englischsprachigen Raum, die durch Lodges Übersetzung überhaupt erst eine Grundlage bekommen hatte, sei hier lediglich erwähnt: Johann Joachim Winckelmann: Description of the Torso of the Hercules of Belvedere in Rome, translated by Thomas Davidson. In: The Journal of Speculative Philosophy 2 (1868), Nr. 3, S. 187–189; Ders.: Remarks on the Laokoon, translated by E. S. Morgan. In: Ebd., Nr. 4, S. 213–215. Vgl. dazu Denis M. Sweet: Die Grenzen der Aufklärung – Winckelmann im englischen Sprachraum. In: Beiträge zur internationalen Wirkung Winckelmanns. Teil 4/5. Stendal 1986, S. 5–17, hier S. 8. Siehe Stefano Evangelista: The German Roots of British Aestheticism: Pater’s ‚Winckelmann‛, Goethe’s Winckelmann, Pater’s Goethe. In: Rüdiger Görner (Hg.): Anglo-German Affinities and Antipathies. München 2004, S. 57–70; Ders.: British Aestheticism and Ancient Greece. Hellenism, Reception, Gods in Exile. Basingstoke u.a. 2009, S. 23–54, 168–173 („Pater, ‚Winckelmann‘, and the Aesthetic Life“); vgl. auch David Carrier: Walter Pater’s „Winckelmann“. In: The Journal of Aesthetic Education 35 (2001), Nr. 1, S. 99–109. Die Erstausgabe trug noch den Titel Studies in the History of the Renaissance (London 1873). Den heute bekannteren Titel trägt das Buch seit der vier Jahre später erschienenen zweiten Auflage (London 1877). Kenneth Clark: Introduction. In: Walter Pater: The Renaissance. Cleveland u. New York 1961, S. 13.

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von Künstlern und Gelehrten des 15. und 16. Jahrhunderts, darunter Pico della Mirandola, Botticelli, Luca della Robbia, Michelangelo, Leonardo und Joachim du Bellay, erscheint der „in spirit to an earlier age“ gehörende Winckelmann als Abschluss bzw. Höhepunkt der europäischen Renaissance und damit zugleich als Muster für die Möglichkeit eines nicht an der christlichen Morallehre, sondern der griechischen Antike orientierten ästhetischen Lebens in der Moderne: By his enthusiasm for the things of the intellect and the imagination for their own sake, by his Hellenism, his life-long struggle to attain to the Greek spirit, he is in sympathy with the humanists of an earlier century. He is the last fruit of the Renaissance, and explains in a striking way its motive and tendencies.27

Winckelmann als europäischer Renaissancemensch – ein größerer Gegensatz zum Bild des ‚Reichsdeutschen‘ lässt sich kaum denken.

IV. „Echter Deutscher“ oder „verwelscht“? Das Jubiläum 1917/18 Es wäre müßig darüber nachzusinnen, wie sich die Feierlichkeiten zum Winckelmann-Jubiläum 1917/18 gestaltet hätten, wenn sie nicht in die Endphase des ersten Weltkriegs gefallen wären. In seiner in Zürich gehaltenen Festrede zum 200. Geburtstag Winckelmanns zeigte sich der in der Schweiz lehrende deutsche Archäologe Hugo Blümner (1844–1919) zumindest überzeugt: Nur die Schrecken des Krieges sind schuld, wenn der 200. Geburtstag Winckelmanns [...] nicht über die großen Kulturländer hin gefeiert wird; denn Winckelmanns Wirkung war nicht nur auf Deutschland beschränkt; sie erstreckte sich in der zweiten Hälfte des 18. und noch zu Anfang des 19. Jahrhunderts über die ganze gebildete Welt.28

Tatsache ist, dass – abgesehen von der Schweiz und Österreich – das Gedenken an Winckelmann zum überwiegenden Teil im Deutschen Reich gefeiert wurde und Winckelmann hier häufig für ‚die deutsche Sache‘ vereinnahmt wurde. Exemplarisch für die nationalchauvinistische Variante dieser Winckelmann-Interpretation sei hier der Aufsatz Zu Winckelmanns Gedenktag des Münchener Klassischen Philologen Otto Crusius (1857–1918) erwähnt, der Winckelmann als Opfer einer Dolchstoßlegende avant la lettre darstellt: „An der Grenzscheide, wo heute Deutschtum und Welschtum miteinander ringen“, so Crusius in direkter Umkehrung des 100 Jahre zuvor von Böttiger und Rossetti entworfenen Idealbildes des 27 28

Pater: Studies (wie Anm. 25), S. xiv (Preface). [Anon.]: Die Zürcher Winckelmann-Feier [7. Dezember 1917]. In: Neue Zürcher Zeitung 138 (1917), 11. Dezember, S. 1f. – So übrigens auch Hans Ruppert: Winckelmann-Renaissance. In: Geistige Arbeit 9 (1942), H. 1, S. 1f., hier S. 1: „Einen entscheidenden Anstoß zur erneuten und seitdem nicht mehr unterbrochenen Beschäftigung mit Winckelmann gab dann die 200. Wiederkehr seines Geburtstags 1917. Wäre sie nicht in den Krieg gefallen, hätten sich ihre literarischen Auswirkungen wohl noch weit umfangreicher gestaltet.“

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Gelehrten als Sohnes zweier gleichberechtigter Vaterländer, „ist Winckelmann, als angehender Fünfziger, unter den Dolchstichen eines Italieners gefallen.“29 Und weiter heißt es mit deutlich franzosenfeindlicher Spitze, wobei gerne auf die einschlägigen xenophoben Äußerungen30 Winckelmanns zurückgegriffen wird: Für uns stellt Winckelmann vor allem jene Seite des nordisch-deutschen Wesens dar, die ihre Ergänzung sucht im Süden und im Reich der reinen Form, und die über die Enge und Bedingtheit des Tageslebens sich hinaussehnt in ein neues höheres Sein, nach freiem allseitigen Wachstum und persönlicher Vollendung. Denn deutsch ist auch dies und gerade dies; das wußte Ernst Moritz Arndt, als er deutsche Art schilderte. Und als Deutscher fühlte sich Winckelmann allezeit mit Stolz, mitten unter den Welschen und im Gegensatz zu ihnen. „Solche Werke (wie die deutsche Brutustragödie eines Schweizers) werden ewige Denkmale zur Schande unsrer deutschen Prinzen seyn, denen übel wird, wenn sie nur deutsch lesen hören. Die nichtswürdigen Franzosen und andre Ausländer haben Alles bis auf das Geblüt verdorben“ (an Geßner, Rom 17. I. 1761). „Unter anderen Dingen, für die ich Gott preise, ist auch dies, daß ich ein Deutscher und kein Franzose bin“ (an Walther, Rom 8. XII. 1759).31

Auch für den Kieler Archäologen Bruno Sauer (1861–1919) gehörte Winckelmann zu den „guten Geistern unsers Volkes, die, ihrem ganzen Wesen nach friedfertig und liebewerbend, aus idealen Fernen [...] in den rohen Kampf unsrer Tage eingreifen und unsre Waffen segnen und entsühnen“.32 Zugleich sah Sauer aber die 29

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Otto Crusius: Zu Winckelmanns Gedenktag. In: Deutscher Wille [Des Kunstwarts 31. Jahr] 31 (1917), H. 1, S. 143–146, hier S. 146. Im Jahr 1917 gehörte Crusius zu den Unterzeichnern des Aufrufs zur Gründung des bayrischen Landesverbandes der Deutschen Vaterlandspartei, einem „Sammelbecken der extremen politischen Rechten am Ende des Kaiserreichs“ (Sarah Hadry: Deutsche Vaterlandspartei (DVLP), 1917/18, publiziert am 20.12.2007. In: Historisches Lexikon Bayerns. URL: http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Deutsche Vaterlandspartei_(DVLP),_1917/18 [17.01.2019]). Siehe auch Heinz Hagenlücke: Deutsche Vaterlandspartei. Die nationale Rechte am Ende des Kaiserreiches. Düsseldorf 1997, S. 237; Karl Preisendanz: Otto Crusius. In: Biographisches Jahrbuch für Altertumskunde 40 (1920), S. 1–57, bes. S. 53–56. Zu Winckelmanns v.a. anti-französischer Polemik, die tatsächlich nicht selten verpuffte, sobald er Franzosen wie z.B. Claude-Henri Watelet oder den Duc de La Rochefoucault persönlich kennenlernte, siehe Steffi Roettgen: Winckelmann in Italien. In: Winckelmann-Handbuch (wie Anm. 5), S. 18–47, hier S. 35f. sowie Ernst Osterkamp: Johann Joachim Winckelmanns „Heftigkeit im Reden und Richten“. Zur Funktion der Polemik in Leben und Werk des Archäologen. In: Ders.: „Der Kraft spielende Übung“. Studien zur Formgeschichte der Künste seit der Aufklärung: Hg. v. Jens Bisky u.a. Göttingen 2010, S. 70–97, hier S. 88f.; Ders.: Winckelmann, der Europäer (wie Anm. 4), S. 23–27 mit dem Hinweis, dass Winckelmann als Europäer kein einzelnes „Vaterland“, sondern tatsächlich „viele Vaterländer“ hatte. Crusius: Zu Winckelmanns Gedenktag (wie Anm. 29), S. 146. Mit diesem Argument tritt Crusius dem impliziten Vorwurf entgegen, dass Winckelmann kurz vor seinem Tod Deutschland den Rücken gekehrt hatte und nach Rom zurückkehren wollte. Bruno Sauer: Johann Joachim Winckelmann (geboren 9. Dezember 1717). In: Westermanns Monatshefte (1917), S. 482–487, hier S. 483. Etwas weniger martialisch klingt dies in: Ders.: Zu Winckelmanns Ehren. In: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur und für Pädagogik 39 (1917), S. 577–586, wo Sauer auf den „unseligen Krieg“ hinweist, „der die Pflege friedlicher Gedanken und allgemein menschlicher Kulturideale auf lange Zeit schonungslos gestört“ habe: „Statt glänzender Festakte widmen wir

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Notwendigkeit, sich gegen potentielle Kritik an Winckelmanns mangelndem Deutschtum wenden zu müssen: „Aber“, so höre ich, schüchtern vielleicht, doch vernehmlich fragen, „war dieser große Sohn deutscher Erde ein rechter, echter Deutscher? War er nicht seinem Volke untreu geworden, verwelscht oder einem farblosen Weltbürgertum verfallen, und hat er damit nicht ein gut Teil des Dankes und der Verehrung verscherzt, die wir dem unentwegt Treuen willig zollen? Und erscheint uns Winckelmann, der Italiener und Kosmopolit, nicht in einem ähnlich bedenklichen Licht wie Winckelmann, der Katholik, der um weltlicher Vorteile willen den [sic] angestammten Glauben abgeschworen hatte?“ Gewiß, der Schein ist gegen ihn, doch hüten wir uns, ihn nach dem Schein zu richten.33

Winckelmanns wenig entwickeltes Nationalgefühl (wie auch sein Katholizismus) sind ein grundsätzliches Problem, mit dem sich alle deutschtümelnden Winckelmann-Interpreten konfrontiert sahen. Bei der Betrachtung der WinckelmannFeierlichkeiten der Jahre 1942/43 wird hierauf noch einmal zurückzukommen sein. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass Winckelmann vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs zu einem Exponenten deutscher Kultur stilisiert wurde, die es zu verteidigen galt: Ohne einen Hinweis auf die „Feinde“, die die Kathedrale von Arras 1915 „in Trümmer geschossen“ hätten, kommt auch der Festvortrag des Berliner Kunsthistorikers Max Georg Zimmermann (1861–1919) an der Technischen Hochschule in Berlin-Charlottenburg nicht aus.34 (Abb. 1) „Es ist“, so formulierte zur gleichen Zeit der Philologe und Archäologe Friedrich Koepp in seinem in Frankfurt a.M. vor dem Bund der Freunde des humanistischen Gymnasiums gehaltenen Festvortrag, als ob dieses Jahr 1917 uns durch Erinnerungstage die Werte tief einprägen wollte, um die letzten Endes der Kampf geht: selten drängen sich so die Gedenktage großer Männer, die

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dem Großen wenige schlichte Sätze; nur nicht ganz von ihm schweigen wollen wir an dem Tage, der ihn vor zweihundert Jahren seinem Volke geschenkt hat.“ (S. 577). Sauer: Johann Joachim Winckelmann (wie Anm. 32), S. 487. Vgl. ganz ähnlich Max Georg Zimmermann: Winckelmann, der Klassizismus und die märkische Kunst. Zum 200. Geburtstage Winckelmanns. Leipzig 1918, S. 3: „Der Grundsatz des Nationalismus, für den heute solche Ströme edlen Bluts vergossen werden, existierte für Winckelmann nicht. Keine Spur von Stolz darauf, daß er ein Märker, daß er ein Preuße war, zu einer Zeit, in der ein großer König durch seine geniale Kriegführung und Staatskunst das kleine Land zu einer europäischen Großmacht führte.“ Max Georg Zimmermann: Die Stellung Winckelmanns in der Kultur-, Kunst und Literaturgeschichte seines Zeitalters. In: Deutsche Bauzeitung 52 (1918), Nr. 1–2 (5. Januar), S. 11f., hier S. 11. – Zu der Feier siehe [Anon.]: Winckelmann-Feier der Technischen Hochschule in Charlottenburg. In: Deutsche Bauzeitung 51 (1917), Nr. 101 (19. Dezember), S. 500; [Anon.]: Die Winckelmann-Feier der Technischen Hochschule zu Charlottenburg. In: Deutsche Bauzeitung 52 (1918), Nr. 1–2 (5. Januar), S. 9.

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Deutschland mit Stolz seine Söhne nennt, die auch den anderen etwas bedeuteten, bevor sie entdeckt hatten, daß wir „Barbaren“ seien, nicht anders als unsere Vorväter zur Zeit Cäsars: dieser Männer Vermächtnis nicht zuletzt ist es, um das wir kämpfen.35

Abb. 1: „Festdekoration zu Winckelmann’s 200. Geburtstag in der Technischen Hochschule zu Berlin“, 11. Dezember 1917, in: In: Deutsche Bauzeitung 52 (1918), Nr. 1–2 (5. Januar), S. 9.

Eher selten sind demgegenüber abwägende Einschätzungen wie die des bereits oben zitierten Hugo Blümners,36 des Schweizer Klassischen Philologen Ernst Howald (1887–1967)37 oder des ebenfalls aus der Schweiz stammenden sozialdemokratischen Journalisten Edgar Steiger (1858–1919).38 Diesen ‚ausländischen‘ 35

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Friedrich Koepp: Winckelmann und wir. Vortrag gehalten am 9. Dezember 1917 im Bund der Freunde des humanistischen Gymnasiums zu Frankfurt am Main. In: Das humanistische Gymnasium 29 (1918), S. 114–127, hier S. 115. Neben Winckelmann nennt Koepp Heinrich von Sybel, Theodor Mommsen, Wilhelm von Humboldt und Martin Luther. Siehe oben, S. 24. Ernst Howald: Johann Joachim Winckelmann, geboren am 9. Dezember 1717. In: Neue Zürcher Zeitung 138 (1917), 8. Dezember (Nr. 2309), S. 1f. u. 9. Dezember (Nr. 2315), S. 1f. – Deutlich ist, dass Howald Winckelmanns allein als historische Gestalt zu schätzen vermag: „Der große Winckelmann ist also für uns, Menschen, nicht Archäologen, tot. [...] Jetzt, wo er tot ist, ist unser historischer Blick für ihn um so geschärfter.“ (8. Dezember, Nr. 2309, S. 1). Edgar Steiger: Johann Joachim Winckelmann. Ein Beitrag zur Kunstgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. In: Die neue Zeit. Hg. v. Parteivorstand der SPD 36 (1917/18), H. 15, S. 349–356. Steiger vertritt die These, dass das Neue bei Winckelmann zwar die „Verdeut-

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Stimmen an die Seite stellen ließe sich allenfalls ein Beitrag des deutschen klassischen Archäologen Hermann Thiersch (1874–1939) zum 200. Todestag Winckelmanns. Seinen am 8. Dezember 1917 vor der Freiburger Wissenschaftlichen Gesellschaft gehaltenen Vortrag über Winckelmann und seine Bildnisse wollte Thiersch explizit als ein „Zeugnis“ verstanden wissen auch dafür, wie wir in Deutschland mitten im Krieg und Streit der Nationen nicht vergessen der höheren Einheit, für deren völkerverbindende Kraft gerade Winckelmann ein wahres Symbol darstellt: dieser klärende, zusammenfassende und verbindende Geist, von allen Nationen hoch gefeiert, und dieser trotz alledem auch in Rom im Kern seines Wesens durchaus deutsch gebliebene Mann – mit seiner genügsamen Anspruchslosigkeit, seiner kindlichen Dankbarkeit, hingebenden Selbstlosigkeit und Aufopferungsfähigkeit, mit seiner Herzensgüte, freimütigen Offenheit und mannhaften Selbständigkeit, mit seiner gründlichen Schaffenskraft, seinem umfassenden Wissen und rastlosen Streben nach Vollkommenheit!39

Man sieht: Auch dem an die „völkerverbindende Kraft“ Winckelmanns erinnernden Thiersch gelingt es letztlich nicht, aus der Zwickmühle ‚kosmopolitischer Europäer oder treuer Deutscher‘ auszubrechen. Eine nüchternere Einschätzung Winckelmanns und des ihm vor allem in Deutschland gewidmeten Kults war neben den (Deutsch-)Schweizern Blümner, Howald und Steiger offenbar nur einem Nicht-Europäer wie dem nordamerikanischen Althistoriker und Klassischem Philologen Walter Woodburn Hyde (1870–1966) möglich. In einem Beitrag für die Zeitschrift Art and Archeology äußerte Hyde 1918 eine gewisse Skepsis gegenüber der in Deutschland grassierenden „Winckelmannolatry, a cult in which he was the spiritual superman, the patron saint of archaelology and art criticism“.40 „A more reasonable appreciation of his greatness“ erkannte er stattdessen in the custom now long obtaining in Rome and in the universities of Germany of repeatedly commemorating his natal day – December ninth – by the publication of learned contributions to the science which he founded.41

Auch andere Beiträge Hydes zum Winckelmann-Jubiläum 1917/18 zeichnen sich durch ein dezidiertes Streben nach wissenschaftlicher Nüchternheit und Objektivität aus.42

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schung der Antike“ sei, diese aber als eine genauso produktive „Verfälschung und Entartung“ anzusehen sei wie ihre italienischen und französischen Vorgänger. Hermann Thiersch: Winckelmann und seine Bildnisse. Vortrag gehalten für die Freiburger wissenschaftliche Gesellschaft am 8. Dezember 1917 zur Vorfeier von Winckelmanns 200. Geburtstag. München 1918, S. 49. Walter Woodburn Hyde: Winckelmann’s contribution to the aesthetics of art. In: Art and Archeology 7 (1918), S. 141–144, hier S. 144. Ebd. Siehe Hydes „extended memoir of Winckelmann“, erschienen unter dem Titel: The TwoHundreth Anniversary of the Birth of Winckelmann. In: The Monist 28 (1918), H. 1, S. 76–122 sowie Ders.: The Place of Winckelmann in the History of Classical Scholarship. In: The Classical Weekly 12 (1919), Nr. 10 (= 324), S. 74–79, wobei es sich, wie er selbst schreibt, um die „expansion“ einiger Absätze aus dem Artikel im Monist handelt.

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V. Finale oder Präludium? Das Jubiläum 1942/43 Mit der nationalpatriotischen Umdeutung des Winckelmann-Gedenkens hatte das 19. Jahrhundert dem 20. Jahrhundert ein Problem hinterlassen, das sich zunehmend als unlösbar erweisen sollte. Denn allzu bekannt waren nicht nur die Zitate, in denen Winckelmann gegen Franzosen, Engländer und Italiener polemisierte,43 sondern auch diejenigen, in denen er sich äußerst abschätzig über Deutschland und insbesondere Preußen, „ce païs despotique et de l’esclavage“,44 äußerte. So heißt es etwa in einem Brief an seinen Schweizer Freund Usteri vom 15. Januar 1763 in aller Deutlichkeit: Es schaudert mich die Haut vom Haupte bis zu den Zehen, wenn ich an den Preußischen Despotismus und an den Schinder der Völker gedenke, welcher [das] von der Natur selbst vermaledeyete und mit Lybischen Sande bedeckte Land zum Abscheu der Menschheit machen und mit ewigen Fluche belegen wird. Meglio farsi Turco circonciso che Prussiano.45

Dieses Problem, dass der Kosmopolit Winckelmann sich so wenig als deutscher Heros eignete, war, wie gesehen, schon im Rahmen der Feiern 1917/18 aufgetaucht, und sollte in der Zeit des Nationalsozialismus in verschärfter Form wiederkehren. Einen ersten Vorstoß, Winckelmann gegen den Vorwurf in Schutz zu nehmen, er habe „den Blick von der eigenen Art weg zur Antike“ gerichtet und „ein heimatloses Bildungsideal“ verkündet, unternahm der Kunsthistoriker Alfred Kamphausen (1906–1982) zwei Jahre vor dem sozusagen außerplanmäßigen Jubiläum von 1942/43 (225. Geburtstag bzw. 175. Todestag Winckelmanns): Das 19. Jahrhundert hat Winckelmann weithin als einseitig verworfen, zwar noch ohne seinen Namen zu nennen [...]. Die Romantiker ehrten in Winckelmann den Idealisten, der er war, als er im Dienste einer Idee renegierte. [...] In der weiteren Entwicklung des 19. Jahrhunderts aber verwarf man Winckelmann immer mehr. Er galt schließlich als ein Verneiner einer eigenen deutschen Art, und sein Tun galt als die für viele Deutsche so bezeichnende Flucht vor dem Deutschtum. Wir kennen diese Angriffe auf Winckelmanns Erbe und auf die auf sein Werk sich aufbauende Gedankenwelt. Es sind die Angriffe, die man in jüngsten Tagen noch gegen die Archäologie richtet, wenn man ihre vermeintlich zu starke Förderung als ein Zeichen der Volksvergessenheit ansieht, und wenn man im ganzen humanistischen Denken eine Schwäche des Deutschen sieht, der darin weltbürgerlicher wäre als selbst der Franzose. Solche Gegner Winckelmanns konnten sich auf seinen eigenen Ausspruch berufen: „Mein Vaterland vergesse ich gern, es ist kein Tropfen preußisches Blut in mir“. Doch ein solcher Ausspruch war im 18. Jahrhundert nicht nur nicht ungewöhnlich, sondern häufig gehört.46

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Siehe oben, S. 25. An Barthélemy, Rom, 13. September 1760 (Br. II, S. 99). – Zur Kontext- und Adressatenabhängigkeit dieses und vergleichbarer Zitate siehe Osterkamp: Winckelmann, der Europäer (wie Anm. 4), S. 24–27. Br. II, S. 283. Vgl. auch ebd., S. 291 (an Usteri, Rom, 20. Februar 1763) und Br. I, S. 331 (an Berendis, Rom, 5. Februar 1758). Alfred Kamphausen: Winckelmann und sein Dienst an der Heimat. In: Stendaler Beiträge zur Geschichte, Landes- und Volkskunde der Altmark 7 (1940), S. 197–208, hier S. 197 u. 199. Der relativ frei zitierte „Ausspruch“ Winckelmanns stammt aus einem Brief an Berendis vom

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Ob Kamphausen mit diesem Argument streng nationalsozialistische Kritiker Winckelmanns von dessen ideologischer Unbedenklichkeit überzeugen konnte, erscheint zweifelhaft. In ganz ähnlicher Weise wie bei Kamphausen, jedoch mit vermeintlich stärkeren Argumenten wird Winckelmann in der Einleitung zu der von Fritz Forschepiepe 1943, das heißt im Jahr seines 175. Todestags, herausgegebenen Auswahl aus Winckelmanns Schriften und Briefen gegen den Vorwurf mangelnden Deutschtums in Schutz genommen. Als über jeglichen Einwand erhabener Garant von Winckelmanns ‚wesenhaftem‘ Deutschtum muss dabei die angeblich nicht auflösbare „Bindung des Blutes an seinen Ursprung“ dienen: Doch im Grunde seines Wesens wie in seinem Denken war und blieb er ein Deutscher. Zwar hatte er die Heimat aufgegeben, um in Rom die Freiheit zu finden, nach seiner Art zu leben. Aber die Bindung des Blutes an seinen Ursprung leugnete und verleugnete er nie. Zwischen den römischen Gelehrten, Prälaten und Kardinälen bewegte er sich mit dem Bewußtsein eines Stolzes, nicht nur ein kraft eigenen Werkes aufgestiegener und umworbener Gelehrter, sondern auch ein Deutscher zu sein, und die Intensität seiner Arbeit an der „Geschichte der Kunst“ galt nicht nur seinem eigenen Ruhm, sondern dem Nachweis, wessen der deutsche Geist fähig sei. Wenn er sich auch gelegentlich in einer Veröffentlichung der Sprache des Volkes bediente, dessen dankbarer Gast er war, so hat er doch an seiner Muttersprache mit größter Selbstverständlichkeit festgehalten, ihrem fortschreitenden Verfall entgegengewirkt und selber einen der gewichtigsten Beiträge zu ihrer Erneuerung geleistet. Vereinzelte Angriffe auf deutsche Art zielen nicht auf das wahre deutsche Wesen, sondern auf die Entartungen, die er vor allem an den repräsentativen Höfen wahrnahm. In der von ihnen geförderten Überwucherung deutschen Wesens durch die französische Kultur sah er die ärgste Gefahr, die ihn zu leidenschaftlicher und maßloser Ablehnung alles Französischen hinriß, und nichts verübelte er seinen Freunden mehr als die Neigung, der deutschen Zeitmode nachzugeben und französische Art und Sprache zu übernehmen.47

Es zeigt sich, dass auch und gerade nationalsozialistische Forscher es sich nicht nehmen lassen wollten, dem Winckelmann-Bild ein eigenes, ‚völkisches‘ Gepräge zu geben. Winckelmanns Kosmopolitismus und seine offensiv formulierte Kritik an Deutschland waren mit diesen Blut-und-Boden-Argumenten gleichwohl nicht so einfach aus der Welt zu räumen. Sie standen als Problem im Hintergrund aller Versuche, Winckelmann in die NS-Ideologie zu integrieren – sei es im Rahmen einer von Seiten der Archäologie und der 1940 gegründeten WinckelmannGesellschaft betriebenen Winckelmann-Renaissance,48 sei es im Sinne des Hinweises auf Winckelmann als eines Ahnherrn der nationalsozialistischen Ideologie: „Die nationalsozialistische Weltanschauung, die neue Sichtung und Wertung der

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5. Februar 1758 (Br. I, S. 331). Fünfundzwanzig Jahre später sollte Kamphausen übrigens auch einen Beitrag zum Jubiläumsjahr 1968 leisten. Siehe dazu unten, S. 33. Johann Joachim Winckelmann. Ewiges Griechentum. Auswahl aus seinen Schriften und Briefen. Hg. u. eingel. v. Fritz Forschepiepe. Stuttgart 1943, S. LXIXf. Hans Ruppert: Winckelmann-Renaissance (wie Anm. 28). Vgl. Gerhart Rodenwaldt: [Ansprache zum] 101. Winckelmannsfest am 9. Dezember 1941. In: Archäologischer Anzeiger (1941), Sp. 891–894; Karl Wernecke: Dem Erforscher und beredten Verkünder der Kunst des Altertums. In: Mitteilungen der Winckelmann-Gesellschaft 1 (1941), o.S.

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geistigen Schätze der Nation“, so heißt es etwa in einer Publikation des Jahres 1942, „wird sich auch mit Johann Joachim Winckelmann gründlich beschäftigen.“49 Einen gewissen Ausweg bot die Beschränkung auf Winckelmanns Biographie, wie sie etwa der Archäologe Max Wegner „zum 225. Geburtstag am 9. Dezember 1942“ in der selbst allerdings ideologisch nicht unbelasteten Monatsschrift der Deutsch-italienischen Gesellschaft in strikt historisierender Perspektive unternahm.50 Wenn Winckelmann darüber hinaus überhaupt in einer internationalen Perspektive wahrgenommen wurde, dann allein in dem Sinn, dass Europa am deutschen bzw. deutsch-griechischen Wesen genesen könne und solle. Als Begründer der modernen „Lehre“ über den „Zusammenhang von Kunst, Klima, Boden und Rasse“, so heißt es 1942 im Deutschen Wissenschafts-Dienst, stehe Winckelmann „in der ersten Reihe jener großen Deutschen, die in der Wahlverwandtschaft ihres Lebensgefühls mit griechischem Menschentum die eigene Art zu einem Gedankensystem von europäischer Geltung zu steigern vermochten.“51 Während all diese und zahlreiche weitere Versuche einer Dienstbarmachung Winckelmanns für die nationalsozialistische Idee heute allenfalls noch von wissenschafts- bzw. ideologiegeschichtlichem Interesse sind, ist es wiederum eine Publikation aus dem Ausland, die sich als wegweisend für die Winckelmann-Forschung erwiesen hat: In dasselbe Jahr 1943, in dem der Erziehungswissenschaftler Fritz Blättner (1891–1981) in einem Aufsatz für die Deutsche Vierteljahrsschrift über Winckelmanns deutsche Sendung ernsthaft behauptete, dass Winckelmanns Werk „ein Protest gegen den Romanismus“52 und die Rolle der Deutschen „festgelegt“ sei durch die „Mittelstellung zwischen jener romanisch-katholischen und dieser slavischen, vielfach geistig noch nicht geformten Welt“,53 fällt die Publikation von Henry Caraway Hatfields New Yorker Dissertation über Winckelmann and His 49

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Ulf Dietrich: Winckelmann. In: Der goldene Reiter 5 (1942), S. 102f., hier S. 102. Vgl. auch Erwin Wäsche: Von Winckelmann zu Goethe. Schriften zur Geschichte der klassischromantischen Humanitätsepoche. In: Brüsseler Zeitung 1942, Nr. 300, S. 4: „Die Aufgabe einer volksnahen Kulturwissenschaft besteht darin, die in dieser Zeit erarbeiteten geistigen Werte abzustimmen auf die weltanschauliche Situation der Gegenwart, die dergestalt womöglich ein ganz neues, fruchtbares Verhältnis zu der klassischen Blütezeit des deutschen Geisteslebens, als die wir die Spanne von Winckelmann bis zu Goethe auch heute noch betrachten müssen, zu gewinnen vermag.“ Max Wegner: Winckelmann. Zum 225. Geburtstag am 9. Dezember 1942. In: Italien. Monatsschrift der deutsch-italienischen Gesellschaft 1 (1942), S. 291–293. Dasselbe gilt für Walter-Herwig Schuchhardt: Johann Joachim Winckelmann. In: Atlantis 15 (1943), H. 9, S. 284–288. D. Schäfers: Winckelmann. In: Deutscher Wissenschafts-Dienst 3 (1942), Nr. 28, S. 2f., hier S. 3. Vgl. auch Albert Ippel: Winckelmanns Bedeutung für seine und unsere Zeit. In: Winckelmann-Gesellschaft Stendal, Jahresgabe 1941, S. 5–34, hier S. 7 („völkische Eigenart“). Vgl. hierzu den Ausstellungskatalog Winckelmann. Moderne Antike (wie Anm. 4), S. 297 u. 312–319. Fritz Blättner: Winckelmanns deutsche Sendung. In: DVjS 21 (1943), S. 23–66, hier S. 27. Ebd., S. 65.

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German Critics.54 Statt wie der nach dem Krieg als Professor in Kiel tätige Blättner mit Winckelmann Ideologien und Völker in einem finalen Kampf von welthistorischem Ausmaß gegeneinander in Stellung zu bringen, konzentriert sich Hatfield (1912–1995) auf die Jahre 1755 bis 1781 als „prelude to the classical age“ und dürfte gleichwohl mit seinem so bescheiden auftretenden und sich jeglicher germanischen Wesensschau verweigernden Buch den sicherlich bedeutendsten und auch heute noch lesenswerten Beitrag zum Winckelmann-Jubiläum 1942/43 geleistet haben.

VI. Winckelmann-Gedenken 1967/68: Deutsch-deutsche Perspektiven auf den Sohn eines Flickschusters Die Gedenkjahre 1917/18 und 1942/43 wurden, wie gesehen, von deutscher Seite genutzt, um Winckelmann als nationale Orientierungsgestalt zu profilieren. Gegenüber dieser Indienstnahme vor dem Hintergrund zweier Weltkriege, bei der man Winckelmann vor allem gegen den westlichen Kriegsgegner Frankreich in Stellung brachte, verschoben sich zum Doppeljubiläum 1967/68 die geographischen und ideologischen Grenzen um einige hundert Kilometer nach Osten. Zu Zeiten der deutsch-deutschen Teilung bot die potentielle Gedenktopographie des Gelehrten entlang seiner biographischen Stationen und Wirkungsstätten – Stendal, Halle, Seehausen, Nöthnitz, Dresden – hervorragende Voraussetzungen, um ihn als Vordenker einer sozialistischen Kunsttheorie im idealen Arbeiter- und Bauernstaat zu inszenieren. Er wurde vehement zum Wegbereiter der gewünschten „realistischen“ Kunstauffassung der DDR stilisiert. Die große Energie, mit der das Winckelmann-Gedenken in der DDR ideologisch nutzbar gemacht wurde, wird umso deutlicher, wenn man zunächst den Blick nach Westen richtet. Bemerkenswert an den westdeutschen Beiträgen zum Doppelgedenkjahr 1967/68 ist, dass es sich erstens um relativ wenige Beiträge handelt, dass diese zweitens in ihrer Konzeption einigermaßen disparat erscheinen55 und 54

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Henry Caraway Hatfield: Winckelmann and his German Critics 1755–1781. A prelude to the classical age. New York 1943. Hatfield hatte 1934/35 an der Berliner Universität studiert (siehe ebd., S. 159). Als Beispiele: Curt Vinz: Eine Winckelmann-Bibliographie der seit 1945 erschienenen, deutschsprachigen Buchveröffentlichungen[,] an Stelle eines Gedenkartikels. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel (Frankfurter Ausgabe) 23 (1967), Nr. 102, S. 3093–3095; Olaf Miehe: Der Mord an Winckelmann. Göttingen 1968 (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse, Nr. 8), S. 211–230. – Der Stuttgarter Baurat Fritz Wiedermann würdigte Winckelmann, indem er zahlreiche Architekten (Gilly, Schinkel, Klenze, Langhans) und deren Bauwerke auf die Ästhetik des Deutschrömers zurückführte und diese Bauten allesamt zu „bleibende[n] Denkmäler[n]“ Winckelmanns erklärte (Ders.: Der Archäologe Winckelmann als Lehrmeister der Architekten. Zu seinem 200. Todestag am 8. Juni. In: Der Deutsche Baumeister 29 (1968), H. 5, S. 371–373, hier S. 373.

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dass drittens diese ‚Denkmäler‘ oftmals keineswegs ‚Originalbeiträge‘ aktuellen Datums sind. Noch heute präsent ist die von Walther Rehm (1901–1963) für das doppelte Gedenkjahr geplante und nach seinem Tod von seiner Witwe Else Rehm (1901–1984) und Hellmut Sichtermann (1915–2002) dann 1968 realisierte Ausgabe der Kleinen Schriften Winckelmanns. Sichtermann konstatiert in der Einleitung das mangelnde Interesse der Archäologen an Winckelmann, deren „‚Festgedanken‘“ nur „das Fehlen eines wirklichen Interesses [...] um so deutlicher“ werden ließen, je „festlicher“ sie seien.56 Emphatisch setzt er dagegen: „Er war nichts anderes als Archäologe, aber er war es als Genie.“57 Diesem ‚Genie‘ könne man sich nur durch die Lektüre von Winckelmanns Schriften und Briefen nähern – also durch Performanz wie bei Konzerten zum Jubiläum eines Komponisten. Sichtermann propagierte damit eine genuine, wenngleich säkularisierte Erlebnisform des 18. Jahrhunderts, nämlich die persönliche Erfahrung ‚spiritueller‘ Nähe aus dem Geist des Pietismus. Der Gedanke an eine öffentlichkeitswirksame, pädagogische oder auch nur repräsentative Form des Winckelmann-Gedenkens lag hier denkbar fern. Die insgesamt verhaltenen Reaktionen lassen sich im Problemzusammenhang der nicht aufgearbeiteten eigenen Vergangenheit der Fachdisziplinen und der ideologischen Vereinnahmung Winckelmanns im Nationalsozialismus verorten. Wie schwierig die Lage war, zeigt nicht zuletzt ein Beitrag Alfred Kamphausens (1906–1982) im Umfeld des Gedenkjahres: Kamphausen hatte bereits 1940 über Winckelmanns „Dienst an der Heimat“ publiziert.58 Der Verfasser nutzte noch 1968 die Gelegenheit, in einer „Rede zum Winckelmannjahr“ Eliza Butlers 1935 erschienene Studie The Tyranny of Greece over Germany vehement zu kritisieren. Dort werde „die Linie Winckelmann-Wagner-Nietzsche-George bis hin zu schließlichen SS-Ideologien und Phrasen“ wie so oft „in angelsächsischer Literatur […] gezogen“.59 Kamphausen selbst beschwört am Ende seines Beitrags in einem eigentümlich konditionalen Präteritum60 das Potential der Kunst, „ein neues Athen entstehen“ zu lassen, „das Winckelmann stets vor sich sah“: 56

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Hellmut Sichtermann: Einleitung. In: Johann Joachim Winckelmann: Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe. Hg. v. Walther Rehm. Mit einer Einleitung v. Hellmut Sichtermann. Berlin (West) 1968, S. XIII. Ebd., S. XXXIII. Siehe oben, S. 29f. Alfred Kamphausen: Johann Joachim Winckelmann: Edle Einfalt und stille Größe. Eine Rede zum Winckelmannjahr am 28. Februar 1968 in der Kieler Kunsthalle. In: Nordelbingen: Beiträge zur Kunst- und Kulturgeschichte 38 (1969), S. 7–17, hier S. 8. Bemerkenswert ist schon die Tatsache, wie sehr der Verfasser sich über eine mehr als dreißig Jahre zurückliegende Publikation ereifert (ebd.). „Denn wenn die Kunst so der Schöpfung eines immer wirkenden Gottes gleichgesetzt wird, wie es Shaftesbury spekulierte, Goethe frohlockte, Winckelmann es in seinen Beschreibungen erlebte und als Erlebnis mitteilte, [...] dann konnte die Kunst trotz der Vollendetheit des Griechischen über das Griechische hinauskommen, konnte ein neues Athen entstehen [...]“. (Ebd., S. 16).

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Martin Dönike / Charlotte Kurbjuhn [D]ann war der Menschheit und in Winkelmanns Zuversicht sonderlich den Deutschen das Paradies nicht verloren, sondern war als Elysium erst Hoffnung. […] Utopia? Es war echte Hoffnung bei Winckelmann und auch George. Weshalb sollte man nicht eben deshalb [Winckelmanns, C. K.] gedenken. Weshalb sollten wir bei ihm den Hymnus auf die Menschlichkeit und Hoffnung auf die Freundschaft, die Freun[d]schaft aller Welt im Angesicht Elysiums, nicht vernehmen? Haben wir doch den gleichlautenden Schillerschen Schlußchoral in Beethovens Neunter auch nicht aus unserem Gedächtnis verloren!61

Die Linie Winckelmann – George – Beethoven bleibt dabei dürftige Camouflage. Wichtig ist aber der Name Stefan Georges, denn tatsächlich zeigt sich in den Winckelmann-Würdigungen von 1967/68 ein letztes Mal der späte Nachschein des George-Kreises. In dessen Blättern für die Kunst hatte 1931 Berthold Vallentin sein Winckelmann-Buch veröffentlicht, und auch der Archäologe Ernst Langlotz (1895–1978) hatte in Kontakt zum George-Kreis gestanden. Seinen Beitrag Winckelmann heute, den er in der Fassung des Winckelmann-Tags in Bonn 1968 drucken ließ, hatte Langlotz nach eigener Aussage in modifizierter Form im Rahmen der „1945 wieder aufgenommenen Vorträge am Winckelmanns-Tag“62 immer wieder gehalten, und zwar als „Einleitung“ zum eigentlichen wissenschaftlichen Vortrag. Eine beachtliche Traditionslinie über fast ein Vierteljahrhundert Nachkriegsgeschichte mithin. Langlotz’ Publikation verweist zudem auf weitere Kreismitglieder: Gewidmet ist sein Buch Erich Boehringer, erschienen ist es in einer Reihe, die der George-Forscher Eckhart Heftrich mit herausgab.63 Das George’sche Erbe des Gestalt-Kults noch in den späten 1960er Jahren – in der gemäßigten Variante des Personengedenkens – wird besonders deutlich bei Karl Schefold (1905–1999), der in der Neuen Zürcher Zeitung zum 250. Geburtstag Winckelmanns 1967 einen großen Artikel veröffentlichte, der gleich zu Beginn die „Gestalt“ beschwört: Da wir heute das Wort Schönheit nicht mehr im Sinn des 18. Jahrhunderts gebrauchen können, reden wir besser mit Goethe von der Gestalt, die uns in Natur und Kunst begegnet und vom göttlichen Wesen der Welt zeugt. Gestaltend antwortet der Mensch auf die Erfahrung des Höheren. Vor solcher Betrachtungsweise verschwindet das Geschlechtliche, das Winckelmann

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Ebd. Ernst Langlotz: Winckelmann heute [gekürzte Version 1968]. In: Ders.: Griechische Kunst in heutiger Sicht. Frankfurt a.M. 1973, S. 83–91, der Hinweis zum Winckelmann-Vortrag ebd., S. 92. Manfred Fuhrmann hat in seinem 1969 gehaltenen Vortrag mit großer Trennschärfe die Rolle des George-Kreises für die (deutsche) „Symbolwerdung“ Winckelmanns nachgezeichnet. Die „eigentlich symbolische, ja mythische Phase“ der Rezeption habe „in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts ein[gesetzt]“ und „durch den George-Kreis und andere Propagandisten nationalistischer Vorstellungen ihre bestimmenden Merkmale“ erhalten: Manfred Fuhrmann: Winckelmann – ein deutsches Symbol. Vortrag, gehalten zur Winckelmann-Feier am 9.12.1969 in Mainz. In: Neue Rundschau 83 (1972), S. 265–283, hier S. 267; zur Aufnahme von Winckelmanns ‚Freundschaftskult‘ im George-Kreis vgl. ebd., S. 265, zu Vallentins Winckelmann-Buch ausführlich ebd., S. 278–280.

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und auch noch unsere Zeitgenossen oft mit der Leidenschaft für die vollkommene Gestalt verwechseln.64

Wie zahlreiche Würdigungen (zu unterschiedlichen Jahrestagen) beruft sich auch Schefold auf Goethe als Legitimationsinstanz, wobei der Unanfechtbare hier nicht nur als Beispiel großer Winckelmann-‚Verehrung‘ genannt wird, sondern auch als Gewährsmann, als „heroisches Vorbild“ einer spezifischen Goethe’schen „Weltund Gestaltfrömmigkeit“: Goethe habe in seiner „Schrift Winckelmann und sein Jahrhundert [...] in dem verehrten Mann Züge seines eigenen Wesens geschildert“.65 Mit anderen Worten: Winckelmann ist ein Klassiker. In dem Bewusstsein, dass Klassiker gerade in den Jahren 1967/68 der Vermittlung bedürfen – und man diese mit einigem Abstand zur einstigen nationalsozialistischen Vereinnahmung wieder versuchen sollte –, erweisen sich auffallend viele Festgaben des DoppelJubiläumsjahres 1967/68 als Akten der ‚Klassiker-Pflege‘, und zwar in beiden deutschen Staaten. Bei nicht wenigen zu den Jubiläen veröffentlichten Schriften handelt es sich um Editionen, Übersetzungen und sogar Bibliographien – ‚Denkmäler‘, für die der Leser noch heute dankbar ist.66 Winckelmanns Erbe war aus und in westdeutschen Händen 1968 offenbar schwierig weiterzureichen. Genuin neue Perspektiven wurden ihm hier nicht zuteil. Die Hilflosigkeit zeigt sich in der Publikation von Inter Nationes. Der von der Bundesregierung finanzierte und im Jahr 2000 mit dem Goethe-Institut fusionierte Bonner Verein veröffentlichte 1968 in deutscher und in englischer Sprache ein Heft mit drei bezeichnenderweise älteren Beiträgen über Winckelmann. Sie stammen von dem Archäologen Ludwig Curtius (1874–1954), dem Literaturwissenschaftler Horst Rüdiger (1908–1984) und dem Journalisten Richard Biedrzynski (1901–1969); unterbrochen werden die Textabdrucke von einem Best of der Zitate 64

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Karl Schefold: Winckelmanns neue Sicht der antiken Kunst. Johann Joachim Winckelmann zum 250. Geburtstag (9. Dezember). In: Neue Zürcher Zeitung 188 (1967), 10. Dezember, Literatur und Kunst, S. 4f. Die hier nur angedeutete homoerotische Komponente der Winckelmann’schen Ästhetik sollte erst weitere knapp 50 Jahre später, im Gedenkjahr 2017, im Rahmen zweier Ausstellungen unbefangen reflektiert werden. Vgl. weiter unten zur Weimarer Ausstellung Winckelmann. Moderne Antike und der Berliner Ausstellung Johann Joachim Winckelmann. Das göttliche Geschlecht im Schwulen Museum Berlin. Ebd. Neben den bereits erwähnten, von Walther Rehm herausgegebenen Kleinen Schriften sind dies: Johann Joachim Winckelmann: Historia del arte en la antigüedad. Trad. directa del alemán por Herminia Dauer. Con unas notas prologales de Emiliano M. Aguilera. Barcelona 1967; Johann Joachim Winckelmann: The History of ancient art. With the Life of Winckelmann. Translated by G. Henry Lodge. 4 Bde. New York 1968 [ND der Ausg. Boston 1880]; Winckelmanns Werke in einem Band. Ausgewählt u. eingel. v. Helmut Holtzhauer. Berlin (Ost) u. Weimar 1969 (Bibliothek deutscher Klassiker); Winckelmann-Bibliographie. Folge 1 [Für die Jahre bis 1942] und 2 [Für die Zeit von 1942 bis 1955]. Zusammengestellt v. Hans Ruppert. Berlin 1968 (Jahresgabe Winckelmann-Gesellschaft 1968); Winckelmann-Bibliographie. Folge 3: Für die Jahre 1955 bis 1966. Sondergabe für das Gedenkjahr 1967. Zusammengestellt v. Hans Henning. Berlin 1967 (Jahresgabe Winckelmann-Gesellschaft 1967); Vinz: WinckelmannBibliographie (wie Anm. 55); Rehm: Briefe (wie Anm. 7).

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aus der Winckelmann-Rezeption.67 Inter Nationes vermied damit jede aktualisierende Stellungnahme – auch gegenüber der früheren deutschen WinckelmannVereinnahmung – ebenso wie jede Konfrontation mit den gleichzeitigen ostdeutschen Winckelmann-Deutungen. Die internationale Würdigung der Gedenkjahre 1967/68 fiel ebenfalls eher zurückhaltend aus, doch finden sich darunter immerhin italienische bzw. italienischsprachige Beiträge68 sowie ein amerikanischer Artikel, der Winckelmanns europaweite Wirkung durch die frühen Übersetzungen seiner Werke betont. Der Verfasser beruft sich unter anderem auf Karl Schultz’ Urteil, Winckelmann sei der erste Deutsche nach Luther gewesen, der europäische Anerkennung gefunden habe.69 Winckelmann und Luther verbanden im Jahr 1967 zwei weitere Fakten: zum einen die Koinzidenz von 450. Reformationsjubiläum und Winckelmanns 250. Geburtstag, zum andern die regionale Verbundenheit mit dem Osten Deutschlands. Letzteres bedeutete auf der politischen Landkarte von BRD und DDR und damit für die Festaktivitäten einen beträchtlichen Standortvorteil für den östlichen Teil, und diesen nutzte man. In der DDR gab es in den Jahren 1967/68 im Gegensatz zu den verhaltenen Aktivitäten im Westen eine Vielzahl von Veranstaltungen. Über Goethe als Schnittstelle bemühten sich insbesondere die Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (NFG) unter ihrem Direktor Helmut Holtzhauer (1912–1973) darum, im Reigen der Festveranstaltungen 1967/68 maximale Sichtbarkeit zu erlangen.70 So realisierte Holtzhauer – noch vor 67

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Johann Joachim Winckelmann: 1768/1968. Bad Godesberg 1968. Zum ganzen Komplex vgl. den Katalogbeitrag von Elisabeth Décultot, Martin Dönike u. Claudia Keller. In: Winckelmann. Moderne Antike (wie Anm. 4), S. 326–328. Vgl. u.a. Mario Torelli: Giovanni Gioacchino Winckelmann nel secondo centenario della morte. In: archeologia. Ricerche – scoperte – turismo 7 (1968), Mai/Juni, S. 179–180; Hellmut Sichtermann: Winckelmann e Roma (nel II centenario della morte). In: Studi Romani 17 (1969), H. 1, S. 47–59. Vgl. auch Werner Becker: Zu zwei Winckelmann-Gedenktagen. In: Helikon 8 (1968), S. 535–538. Nachträglich publiziert: Marcello Gigante: Nel bicentenario della morte di Winckelmann. In: Rivista di filologia e di istruzione classica 97 (1969), S. 234– 242. Gigante listet die ostdeutschen Feierlichkeiten und ihre Beiträger auf und erwähnt die „manifestazzione“ am 8. Juni in Triest, die von der dortigen Società di Minerva, der Gemeinde und der Universität gemeinsam mit der Universität Halle organisiert wurde (ebd., S. 234); vgl. dazu auch die Konzeption der Kranzniederlegung in Triest in den Akten zur „Konzeption der Winckelmann-Ehrung“ im Universitätsarchiv Halle-Wittenberg, Rep. 7, Nr. 1240, Bl. 38. Todd A. Britsch: Winckelmann. For the Bicentennial of his Death. In: Brigham Young University Studies 9 (1968), H. 1, S. 56–63, der Vergleich mit Luther ebd., S. 57. Zu den Positionierungs- und Profilierungskämpfen beim Streben nach der Deutungshoheit innerhalb der DDR vgl. ausführlich den materialreichen Aufsatz von Franziska Bomski und Rüdiger Haufe: Wohin gehört Winckelmann? Die Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten in Weimar und die Winckelmann-Ehrung in der DDR 1967/68. In: Die Erfindung des Klassischen. Winckelmann-Lektüren in Weimar. Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar 2017. Hg. v. Franziska Bomski, Hellmut Th. Seemann u. Thorsten Valk. Göttingen 2017, S. 317– 341, zum Wettlauf um die erste Ausstellung ebd., S. 322 u. 325.

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den in Halle und Stendal geplanten Veranstaltungen – im Mai 1967 im Rahmen eines ‚Wettlaufs‘ um die erste Ausstellung eine Präsentation über Winckelmann im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv. Der Termin war mit Bedacht gewählt: Die Eröffnung der Ausstellung fand im Rahmen der Hauptversammlung der internationalen Goethe-Gesellschaft statt, so dass ihr maximale internationale Aufmerksamkeit garantiert sein konnte. Das DDR-Fernsehen betonte in seinem Bericht in der „Aktuellen Kamera“, dass Wissenschaftler aus 14 europäischen und „überseeischen“ Ländern angereist seien.71 Holtzhauer propagierte dazu in einem Interview, das er in Goethes Arbeitszimmer gab, nachdrücklich die sozialistische Deutungshoheit über die Klassik als realistische Kunst, bevor kurze Einblicke in die Winckelmann-Ausstellung folgten.72 Das zugehörige Faltblatt betonte Winckelmanns Strahlkraft „auf die europäischen Zeitgenossen“, die schnellen Übersetzungen seiner Schriften ins „Französische, Italienische und Englische“: „Sie machten Epoche in Europa und begründeten eine neue Kunstauffassung“.73 Eine größere Ausstellung zu „Winckelmann und Goethe“ wurde im Jahr darauf am 26. Mai 1968 in Weimar eröffnet.74 Für diese und weitere Festivitäten wurde von DDR-Seite ein offizielles Winckelmann-Komitee eingesetzt, das sich mit Planungen in großem Stil befassen sollte. Die heute in den Archiven der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und der Klassik Stiftung Weimar befindlichen Akten dokumentieren den immensen kulturpolitischen Anspruch des DDR-Regimes, das sich zum „legitime[n] Erbe[n] der progressiven Traditionen der deutschen Kulturentwicklung, wie sie durch Winckelmann verkörpert wird“, erklärte und den zu Ehrenden nicht nur „den sowjetischen Menschen [nahebringen]“ wollte.75 Die Akten propagieren, „innerhalb der westdeutschen Bundesrepublik“ sei „eine Militarisierung der Wissen-

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Aktuelle Kamera vom 20. Mai 1967 (Deutsches Rundfunkarchiv Babelsberg, Inv. AD5668-1), Minute 0’51’’–0’55’’. Vgl. Winckelmann. Moderne Antike (wie Anm. 4), S. 342, Kat. 221. Ebd. Das Interview bzw. der Monolog Holtzhauers bei Minute 1’32’’–2’32’’, Blicke in die Ausstellung bei Minute 2’32’’–2’53’’. Die Kamera zeigt u.a. am Ende die Inszenierung des Winckelmann-Portraits von Maron auf einer Staffelei vor einem immens vergrößerten zeitgenössischen Panorama von Rom, während rechts ein Abguss des Apoll von Belvedere zu sehen ist; ansonsten sind sehr viele Reproduktionen von Bildern und Schriftstücken an den Wänden zu erkennen. Zur Textlastigkeit und den zahlreichen Faksimiles vgl. Bomski/Haufe: Wohin (wie Anm. 70), S. 325f. u. 336, eine Skizze zur Aufstellung ebd., S. 326. Johann Joachim Winckelmann (1717–1768). Ausstellung im Goethe- und Schiller-Archiv der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen Deutschen Literatur. Weimar 1967. Dazu der Katalog: Winckelmann und Goethe. Ausstellung zum 200. Todestag Johann Joachim Winckelmanns. Weimar 1968. – Die Ausstellung wurde anschließend in Leipzig gezeigt und wanderte bis 1970 zu Stationen in Karl-Marx-Stadt, Greifswald, Cottbus und Rudolstadt, vgl. Bomski/Haufe: Wohin (wie Anm. 70), S. 340. Universitätsarchiv Halle-Wittenberg, Rep. 7, Nr. 1240, Bl. 31, 32. – Vgl. dazu auf Grundlage der Archivalien im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar auch Bomski/Haufe: Wohin (wie Anm. 70), S. 322, 328–330.

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schaft – u.a. auch der Kunstgeschichte – [zu] beobachten.“ Auch angesichts dessen sei es die Aufgabe der in der DDR lebenden Kunst- und Altertumswissenschaftler, während des Gedenkjahres die Bedeutung Winckelmanns in Forschung und Publizistik zu würdigen. Eine auf unsere sozialistische Gegenwart bezogene Betrachtungsweise kann hier wesentlich zur ideologischen Unterstützung der demokratischen Kräfte unter den Kunst- und Geistesschaffenden der westdeutschen Bundesrepublik beitragen.76

Ebenfalls kalkuliert werden die „Ausstrahlungen auf das Ausland“: Die Winckelmann-Feiern des Jahres 1967/68 dürften eine vielschichtige kulturpolitische Wirkung auf das Ausland haben. Die Sowjetunion [...], Bulgarien, Rumänien und Jugoslawien [...]. [Es ist] die Pflicht der DDR-Wissenschaft, den völkerverbindenden Charakter des Winckelmannschen Erbes auch in der ČSSR und in den Volksrepubliken Polen und Ungarn wirksam werden zu lassen.77

Große Möglichkeiten ergäben sich auch für die „arabischen Völker“: in den Vereinigten Arabischen Emiraten, in Syrien, Algerien und im Irak, denn Winckelmann sei schließlich einer der Stammväter der orientalischen Archäologie gewesen. Weiter heißt es: „Die von Westdeutschland betriebenen Winckelmann-Ehrungen [...] werden sich [wahrscheinlich] außenpolitisch hauptsächlich auf Italien konzentrieren.“ Gerade deshalb müsse die DDR die bestehenden Kontakte „intensivieren“.78 Gleiches gelte für die Beziehungen nach Frankreich, Finnland, Dänemark und Schweden. Die deutschdeutsche Konkurrenz war also eine treibende Kraft im Aufbau des erhofften kulturpolitischen Exportschlagers, denn – so war es gedacht – die Weimarer Ausstellung sollte verschickt werden nach beispielsweise Prag, Moskau und Helsinki.79 Jenseits der Stendaler, Weimarer und Halleschen Festivitäten und den in ihrem Umfeld publizierten Schriften80 erschien 1968 als Sitzungsbericht der Ost-Berliner Akademie der Wissenschaften Martin Fontius’ Beitrag Winckelmann und die französische Aufklärung und brachte so ein wenig internationalen Geist in die Schriftenflut. Fontius (*1934) wendet sich gleich zu Beginn dezidiert gegen die nationalistischen Vereinnahmungen Winckelmanns. Die „Verabsolutierung“ des vermeintlich charakteristisch Deutschen in seinem Griechenlandideal habe Winckelmann zu Unrecht „aus der europäischen humanistischen Bewegung ausgeklammert“ und ein „Vakuum“ geschaffen, in dem sich „[national]mythologisches 76 77 78 79 80

Ebd., Bl. 31. Ebd. Ebd., Bl. 32, 33. Ebd., Bl. 40. Dokumentiert in: Bertold Häsler (Hg.): Beiträge zu einem neuen Winckelmannbild. Berlin 1973. (Neben den Beiträgen und Festansprachen der Jahre 1967/68 findet sich hier auch eine Dokumentation der Konzeption der in Halle gezeigten Ausstellung Winckelmann in Rom 1755–1768 von Verena Zinserling, S. 113–117). Vgl. zu den Jahresgaben der WinckelmannGesellschaft auch Anm. 66.

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Denken“ entwickeln konnte, das sich „in der Tat seit dem George-Kreis kräftig an Winckelmanns Gestalt emporgerankt“ habe.81 Den oben erwähnten westdeutschen Winckelmann-Publikationen der Jahre 1967/68, in denen die späte Nachwirkung des George-Kreises fassbar wird, stellt Fontius hier eine signifikante andere Perspektive auf die Hemmnisse einer umfassenden Würdigung im europäischen Kontext gegenüber. In Winckelmanns Biographie stellt das ‚soziale Moment‘ eine zentrale Komponente dar, die in den Jahren 1967/68 im Rahmen der Feierlichkeiten in der DDR mit aller Propagandawucht inszeniert wurde. Nachdem dies lange Zeit in den Hintergrund gerückt war, kontrastierte auch auf westdeutscher Seite Manfred Fuhrmann (1925–2005) die fatale Wirkung der nationalistischen WinckelmannAneignung mit dem nun zeitgemäß aktuellen sozialen Faktor. Fuhrmann bezog sich auf Wilhelm Waetzold, der Winckelmann als Repräsentanten des dritten Standes sah, der sich durch Intellekt und Geist emporgearbeitet habe, und beklagte, in der Rezeption Winckelmanns sei das „soziale Motiv“ immer mehr „verblaßt[], je mehr sich die Zeit von Winckelmanns ständisch-aristokratischer Umwelt entfernte; das nationale Motiv erstarkte, je mehr sich der Nationalismus auch sonst zum alles beherrschenden Prinzip erhob.“82 Umso plakativer fielen die ostdeutschen Vereinnahmungen Winckelmanns zugunsten des sozialen Motivs aus, wobei, wie gesehen, zugleich der Nutzen für die „Völkerfreundschaft“ stets hervorgehoben wurde. Für die Jahre 1967/68 sind zahlreiche Winckelmann-Veranstaltungen in der DDR dokumentiert, darunter sogar mehrere Ausstellungen.83 Dabei war es in der DDR zunächst durchaus nicht selbstverständlich, sich mit Winckelmann zu beschäftigen. Der Klassische Philologe Johannes Irmscher (1920–2000) stellte daher in seiner Festansprache am 9. Dezember 1967 in Stendal die Frage, ob „in unserer Gesellschaft von heute, die nicht mehr durch die Bourgeoisie, sondern durch die Arbeiterklasse bestimmt wird“, Gestalten wie Winckelmann „nicht vielleicht zu Anachronismen geworden“ seien.84 Daher musste die Beschäftigung mit dem Ge81

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Martin Fontius: Winckelmann und die französische Aufklärung. Berlin (Ost) 1968 (Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Klasse für Sprache, Literatur und Kunst, 1968, 1), S. 3. Fuhrmann: Winckelmann (wie Anm. 63), S. 266. Die wichtigsten Veranstaltungen von 1967/68 im Überblick: Neben der kleineren Ausstellung im Goethe-und-Schiller-Archiv, die lediglich den Titel Johann Joachim Winckelmann trug und von einem Faltblatt begleitet wurde, fand am 9. Dezember 1967 eine Feier mit Kranzniederlegung, Konzert, Lesung und Vorträgen in Stendal aus Anlass von Winckelmanns Geburtstag statt; am 25. Mai 1968 folgte ein Festakt an der Universität Halle, am 26. Mai die Eröffnung der Ausstellung Winckelmann und Goethe in Weimar (danach in Leipzig gezeigt). Am 27. Mai schloss sich eine Tagung an der Universität Halle an („Werk und Wirkungen Winckelmanns“), begleitet von einem Ausflug nach Wörlitz und einem Besuch in der Ausstellung Winckelmann in Rom 1755–1768 im Hauptgebäude der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Johannes Irmscher: Johann Joachim Winckelmann und die Altertumswissenschaft heute. Halle 1968, S. 4. Der Aufsatz wurde nochmals abgedruckt in dem 1973 publizierten Sammelband von Häsler: Beiträge (wie Anm. 80), der alle Festbeiträge vereinte.

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lehrten, mussten die vielen Ehrungen und Feiern um seinetwillen legitimiert werden. Dies erfolgte regelmäßig unter systemkonformer, massiver verbaler Aufrüstung: Die Festreden und Aufsätze wurden meist an Anfang und Ende gepanzert mit mehr oder weniger extensiven Zitaten von Marx85 – oder von Goethe, der selbst als genügend legitimiert gelten konnte, um auch Winckelmann zu rechtfertigen. Anders als die nationalpatriotischen oder nationalistischen Feierwilligen während der Jubiläen 1917/18 und 1942/43 konnte die DDR einen damals gewichtigen Rezeptionswiderstand sehr gut lösen: Winckelmanns Äußerungen gegen Preußen spielten einer sozialistischen Aufwertung Winckelmanns als Rebell gegen Absolutismus und westliche Dekadenz in die Hände. So konnte am 25. Mai 1968 der Dekan der Philosophischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, der Historiker und Sportwissenschaftler Gerhard Lukas (1914–1998), in seiner Festansprache zur Winckelmann-Ehrung der DDR bemerken, man sei heute der „patriotischen und humanistischen Lebensauffassung“ Winckelmanns gerade deswegen verpflichtet, weil sie ihn „inmitten feudalistischer Kleinstaaterei [...] zum unversöhnlichen Feind des preußischen Absolutismus und Militarismus – Friedrich II. nannte er einen ‚Tyrannen‘ und ‚Schinder der Völker‘ –“ werden ließ.86 Lukas beruft sich in seiner Rede auf den „Staatsratsbeschluß vom November 1967 über ‚Die Aufgaben der Kultur bei der Entwicklung der sozialistischen Menschengemeinschaft‘“ und zitiert die „neue[] Verfassung“ der DDR, in der „die Aufgabe gestellt“ werde, „alle humanistischen Werte des nationalen Kulturerbes und der Weltkultur zu pflegen und die sozialistische Nationalkultur als Sache des ganzen Volkes zu entwickeln“. Daraus leitet er die gesellschaftliche Pflicht ab, „das von Winckelmann angestrebte Menschheitsideal unter unseren gesellschaftlichen Bedingungen zu verwirklichen.“87 Kurz gesagt: Die Beschäftigung mit Winckelmann hat nationale Priorität und wird geradezu von der Verfassung der DDR gefordert.88 85

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Siehe etwa Gerhard Lukas: Johann Joachim Winckelmann in unserer Gegenwart. Festansprache. Halle 1968 (Hallesche Universitätsreden), S. 13. – Lukas, der in seiner am 25. Mai 1968 gehaltenen Festansprache zur Winckelmann-Ehrung der DDR erklärtermaßen „die weltanschaulich-ideologische Bedeutung und Aktualität der Winckelmannschen Lehre, seiner Persönlichkeit und seines kunsttheoretischen Wirkens in den Mittelpunkt [...] rücken“ (S. 3) wollte, sieht in Karl Marx’ „Einleitung zur ‚Kritik der politischen Ökonomie‘“ den „Schlüssel zur Antike-Rezeption Winckelmanns“ (S. 4). Vehement und wortreich wendet er sich gegen die westdeutschen Winckelmann-Deutungen, die den Gelehrten als einen weltabgewandten Träumer darstellten und seine Verdienste gänzlich verkennten. „In solchen ideologischen Denkschemata erscheint Winckelmann [...] als ein träumerischer, weltabgewandter, visionärer, auf die antiken Bildungswerte orientiert Denker, dessen humanistische Gesamtaussage als illusionäres, imaginäres und schwärmerisches Streben sowie als ‚ästhetischer Mystizismus‘ verunglimpft wird.“ Ebd., S. 5. Ebd., S. 11. Zur Sicherheit lässt Lukas noch ein Zitat einer Tagung des Zentralkomitees der SED folgen. Demnach sei die „sich entfaltende sozialistische Nationalkultur“ ein „bedeutende[r] Faktor des Kampfes gegen die imperialistische Reaktion und Unkultur in Westdeutschland geworden“ (ebd., S. 11).

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Die Winckelmann-Veranstaltungen fanden große mediale Aufmerksamkeit, nicht zuletzt aufgrund akribischer Planungen der Pressearbeit.89 Häufig findet in den Publikationen der Jubiläumsjahre die internationale Komponente, die sich mit Winckelmanns Werk und Leben unweigerlich verband, Erwähnung. Bereits das Faltblatt zur Ausstellung im Goethe- und Schiller-Archiv 1967 betonte, wie oben zitiert, die europäische Bedeutung Winckelmanns; Berichte in Tages- und Wochenzeitungen der DDR lassen neben der sozialistisch kompatiblen Profilierung Winckelmanns90 vor allem erkennen, welch großer Wert dem zu Ehrenden als einem internationalen ‚Kapital‘ beigemessen wurde. Vor allem auch im DDR-Fernsehen stand die europäische Strahlkraft Winckelmanns im Zentrum. Die Sendung „Aktuelle Kamera“ berichtete am 10. Dezember 1967 über die Feierlichkeiten zum 250. Geburtstag in Stendal und versuchte, die internationale Komponente rein bildlich evident zu machen. Als der Sprecher „Leben und Werk“ Winckelmanns erwähnt, zeigt die Kamera einen Abguss eines ägyptischen Reliefs, dann die italienische Ausgabe von Winckelmanns Werken durch Carlo Fea und eine französische Übersetzung der Geschichte der Kunst.91 Zudem wird gezeigt, wie die Winckelmann-Medaille an Johannes Irmscher und Graf Domenico Rossetti de Scander (1910–1980) aus Triest als Repräsentanten der dortigen Winckelmann-Pflege verliehen wird.92 Die Ehrung des Repräsentanten der Società della Minerva in Triest wurde in den zeitgenössischen Medien als hoffnungsvoller Beginn künftiger Kooperationen mit der italienischen Seite hervorgehoben, die man sich – wie gesagt – eifersüchtig vor westdeutschen Kontakten zu sichern versuchte. Bereits die in der DDR publizierte Übersetzung der Mordakte Winckelmann zu den Umständen der Ermordung des Gelehrten war in diesem Sinne als Triumph gefeiert worden.93

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Universitätsarchiv Halle-Wittenberg, Rep. 7, Nr. 1240, Bl. 13–19, 39, 40. Zur Illustration diente beispielsweise im Zeitungsartikel des Vorsitzenden der WinckelmannGesellschaft, Gerhard Richter, ein Foto der rekonstruierten Flickschusterwerkstatt im Winckelmann-Haus in Stendal. Vgl. Gerhard Richter: So wie ein Stern strahlt sein Gedächtnis. Johann Joachim Winckelmann zu seinem heutigen 200. Todestag. In: Neue Zeit (B) 24 (1968), Nr. 134, S. 6. Aktuelle Kamera vom 10.12.1967 (Deutsches Rundfunkarchiv Babelsberg, Inv. OBC19680-1), hier Minute 0‘47‘‘–0‘55‘‘. Vgl. Winckelmann. Moderne Antike (wie Anm. 4), S. 342, Kat. 222. Ebd., Minute 1‘30‘‘–1‘35‘‘. Bei Minute 1‘00 ist die Inszenierung des Weimarer WinckelmannPortraits von Maron in einem kulissenhaften Arrangement von Säulen, Draperien und Blumenschmuck im Rahmen der Festveranstaltung zu sehen. – Bei Domenico Rossetti de Scander handelt es sich übrigens um einen direkten Nachfahren des gleichnamigen Verfassers des 1818 erschienenen Berichts über Winckelmann’s letzte Lebenswoche, der auch den ersten Anstoß zur Errichtung eines Winckelmann-Denkmals in Triest gegeben hatte. Siehe oben, S. 20f. Mordakte Winckelmann. Die Originalakten des Kriminalprozesses gegen den Mörder Johann Joachim Winckelmanns (Triest 1768). Aufgefunden und im Wortlaut des Originals in Triest von Cesare Pagnini, Triest 1964. Hg., übersetzt u. kommentiert v. Heinrich Alexander Stoll. Berlin 1965 (Winckelmann-Gesellschaft Stendal. Jahresgabe 1965). Dazu Richter: So wie ein

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Blickt man nun auf die wenigen überlieferten Dokumente zur konkreten Beschaffenheit der Ausstellungen in Halle und Weimar in den Jahren 1967/68, so stellt sich heraus, dass die „präsentierten Objekte und Textstellen [...] lediglich als Belege“ dienten „für eine dogmatische Auffassung der Kunst und ihrer Geschichte, die das vorformulierte Lernziel darstellte.“94 In diesem Sinne schrieb Holtzhauer explizit an den Direktor des Goethe-Nationalmuseums Willi Ehrlich (1916–1977), es sei notwendig, das Schema der bisherigen Museumsgestaltung für die Ausstellung (die relativ kurzlebig ist und deshalb mehr Agitator [...] sein muß) aufzugeben und alle graphischen und sonstigen Ausstellungsregister zu ziehen, durch die dem Besucher die Ergebnisse unserer Forschungsarbeit [...] eingehämmert werden. Zu diesen Mitteln gehören vorzüglich Vergrößerungen, Detaildarstellungen, Lichtwirkungen, Nachbildungen (außer bei Plastik) und weniger die behutsame Wirkung des Originals. Wo dieses verwendet wird, soll es entschieden und buchstäblich ins rechte Licht gerückt werden.95

Also Winckelmann-Gedenken als Indoktrination. Angesichts der ideologischen Fronten und ihrer europäischen Kontextualisierung ist die Kontingenz der zeitlich zusammenfallenden Jubiläen bemerkenswert, die auch Irmscher in seiner Festansprache am 9. Dezember 1967 in Stendal betonte: Das Jahr 1967 ist ein Jahr der Gedenktage und Jubiläen. Ihnen allen voran steht der 50. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, die im vollsten Sinne des Wortes eine „neue Epoche in der Weltgeschichte“ einleitete, und selbst die dezidiertesten Antikommunisten werden die Veranlassung, seiner zu gedenken, nicht in Abrede stellen. Die übrigen Anlässe beziehen sich auf Persönlichkeiten und Ereignisse, die mit der Geistesgeschichte des deutschen Volkes, ja vornehmlich sogar mit dem Territorium der Deutschen Demokratischen Republik verbunden sind, denen aber doch sämtlich darüber hinaus in unterschiedlichem Maße [...] europäische Bedeutung zukommt.96

Als Beispiele nennt Irmscher den 200. Geburtstag Wilhelm von Humboldts, den 100. Geburtstag August Boeckhs, den 100. Todestag Franz Bopps, den 450. Jahrestag von Martin Luthers Thesenanschlag, den 150. Geburtstag Theodor Mommsens und, nicht zuletzt, den 250. Geburtstag Winckelmanns.

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Stern (wie Anm. 90), S. 6: „Dem Verfasser gelang es, die deutsche Ausgabe für die DDR zu sichern“. Bomski/Haufe: Wohin (wie Anm. 70), S. 337. Vgl. ebd., S. 336–340 zur Ausstellungskonzeption, v.a. zu den Wand- und Erläuterungstexten. Helmut Holtzhauer an Willi Ehrlich, 18. Januar 1967. GSA 150/1782 (2), unfol.; zit. nach Bomski/Haufe: Wohin (wie Anm. 70), S. 337. Irmscher: Winckelmann und die Altertumswissenschaft (wie Anm. 84), S. 3.

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VII. Praktiken und Medien des Winckelmann-Gedenkens im 21. Jahrhundert: Multimedial und international Mit der Zeit haben sich in der deutschen Erinnerungskultur, wie man 2017/18 wieder sehen konnte, also eigenwillig kontingente Gedenkjahr-Cluster etabliert. Das Panorama der diesmaligen Festveranstaltungen für Winckelmann präsentierte sich – verglichen mit den vergangenen Jubiläen – vor allem erfreulich entspannt. Gegenüber der aggressiven Nationalisierung Winckelmanns 1917/18 und der (auf DDR-Seite) massiven ideologischen, antiwestlichen Positionierung zu den Gedenkjahren 1967/68 spiegelte die kaum übersehbare Flut an Veranstaltungen zum ersten Winckelmann-Doppelgedenken im 21. Jahrhundert – wenig überraschend – auf spezifische Weise die gegenwärtige politische Situation nicht nur in Deutschland, sondern im gesamteuropäischen Raum. Denn das Winckelmann-Gedenken stand ganz im Zeichen der Regionalisierung – der Themenschwerpunkt des Jahrbuchs der Klassik Stiftung Weimar 2017, Die Erfindung des Klassischen. Winckelmann-Lektüren in Weimar, ist nur ein Beispiel. Andernorts nahm man das Jubiläum zum Anlass, um neue Blicke auf die eigenen Sammlungen zu werfen – so in Neapel (Winckelmann e le raccolte del MANN, 2017) oder Rom (Il Tesoro di Antichità. Winckelmann e il Museo Capitolino nella Roma del Settecento, 2017/18), oder um Winckelmanns Perspektive auf die eigene engere Kulturregion zu thematisieren – so in Florenz mit dem Fokus auf der Etruskologie (Winckelmann, Firenze e gli Etruschi. Il padre dell’archeologia in Toscana, 2016/17) oder in Palermo mit dem Blick auf Winckelmann e la Sicilia (2017). In Mailand stand die Rezeption Winckelmanns in der örtlichen Gelehrtenkultur im Fokus (Winckelmann a Milano, 2017); die Ausstellung widmete sich der ersten Übersetzung der Geschichte der Kunst des Alterthums durch Carlo Amoretti (Mailand 1779) sowie unter anderen Gaetano Cattaneo, dem Direktor des Mailänder Münzkabinetts und Verfasser mehrerer Bücher über Winckelmann. Unter den zahlreichen internationalen Festivitäten sei nur summarisch auf Veranstaltungen in Großbritannien, der Schweiz und Italien hingewiesen.97 Weitere Veranstaltungen, Übersetzungsprojekte und Ausstellungen galten Winckelmann beispielsweise in Polen, Spanien oder Griechenland.98 97

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In England zeigte die University of Reading 2017 die Ausstellung From Italy to Britain: Winckelmann and the spread of neoclassical taste, in Oxford war 2018 die Ausstellung Winckelmann and Curiosity in the 18th-Century Gentleman’s Library zu sehen; flankiert wurden beide Tagungen durch drei Kolloquien 2017/18: „Ideals and Nations: New perspectives on the European reception of Winckelmann’s aesthetics“, „Imitation and Geographies of Art after Winckelmann“ (King’s College London/The Warburg Institute) und „Spreading good taste: Winckelmann and the objects of dissemination“. In der Schweiz fand 2017 u.a. ein Zürcher Kolloquium über „Winckelmann und die Schweiz“ statt. In Triest gab es ein umfangreiches Festprogramm. Auf polnischer Seite handelt es sich v.a. um ein längerfristiges polnisch-deutsches Forschungsund Übersetzungsprojekt zu „Johann Joachim Winckelmann und Stanislaw Kostka Potocki.

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In Deutschland widmeten sich Winckelmann zunächst zwei Ausstellungen, deren Blickwinkel sich ergänzten. Während die Weimarer Präsentation Winckelmann. Moderne Antike99 neben der Ästhetik Winckelmanns und anthropologischen Aspekten unter anderem die Politisierung seiner Rezeption akzentuierte – und dabei auch die Funktion Weimars vom Zeitalter Goethes bis zum Gedenkjahr 1967/68 berücksichtigte –, verortete die Berliner Ausstellung Winckelmann. Das göttliche Geschlecht den Gelehrten und sein Werk innerhalb der Kulturgeschichte der Homosexualität. Hinzu kamen im Jahr 2018 zahlreiche weitere Ausstellungen, unter anderem in München.100 Während die Neueröffnung des Winckelmann-Museums in Stendal am 7. und 8. Dezember 2018 erfolgte, wurde am 8. Juni 2018 in Triest das dortige Archäologische Museum in einem Festakt zum „Museo d’Antichità J. J. Winckelmann“ umbenannt.101 Als Praktiken, Medien und Formate des Winckelmann-Gedenkens lassen sich abschließend unterschiedliche Varianten festhalten: zunächst, wie bereits in Weimar zur Goethezeit, die Ausgabe seiner Schriften oder deren Übersetzung, später auch die Wiederauflage derselben im Reprint oder die Edition neu entdeckter Briefe aus Winckelmanns Umkreis. Jenseits der publizistischen Ehrungen etablieren sich Kranzniederlegungen an Winckelmann-Denkmälern oder Bühnenarrangements, die an Leichenaufbahrungen erinnern und Winckelmann als Büste oder im Portrait in effigie präsent sein lassen. Alternativ können Arrangements die Schriften Winckelmanns als Denkmal inszenieren: Gerahmt von Draperien und antiken Fragmenten erscheinen solche Memorialräume als dreidimensionales, begehbares Gelehrtenportrait (vgl. Abb. 1). Durch die wenigen authentischen WinckelmannPortraits gewinnen die bekannten Darstellungen darüber hinaus eine Art ‚Ikonen‘Status, mit Blick auf die propagandistische Wirkungsabsicht zahlreicher Winckelmann-Vereinnahmungen könnte man vielleicht sogar von einer ‚Marke‘ sprechen. Zu einer ‚richtigen‘ Marke in einem anderen Sinne, nämlich zum Postwertzeichen, ist Winckelmann auch 2017 nochmals geworden. Selbstverständlich wurde auch

Meister und Schüler“. In Spanien fand 2017 in Madrid die Tagung „Johann Joachim Winckelmann (1717–2017). Coloquio con motivo de su 300 aniversario“ statt. In Griechenland blieb es offenbar bei einem Athener Kolloquium zum Thema „Inventing the Classical Body. From Winckelmann to Cyberspace“ (2017). 99 Vgl. auch die Anfang 2018 freigeschaltete Online-Präsentation der Ausstellung URL: https://winckelmann-moderne-antike.uni-halle.de/. 100 Tod in Triest – Auf den Spuren von Johann Joachim Winckelmann vom 6. Juni bis 9. Dezember 2018, eine Ausstellung in den Staatlichen Antikensammlungen München. 101 Die Webseite der Winckelmann-Gesellschaft in Stendal betont, dass es damit nun „erstmals ein ‚Winckelmann-Museum‘ in Italien“ gebe, und das „zweite Museum in Europa, das diesen Namen trägt. Dort befindet sich der 1823 [...] geschaffene Kenotaph [für Winckelmann, C. K.], der in einem Tempelchen in einem Lapidarium, einem Garten mit Antiken und antiken Fragmenten steht. E[s] soll ein Ort der Muße, der Erholung und des Nachdenkens sein.“ (URL: https://www.winckelmann-gesellschaft.com/news/2018/06/8/zweites_winckelmann_mu seum_in_europa_nun_auch_am_todesort_in_triest/ [25.10.2018]).

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die Ausgabe von Briefmarke und Medaille mit einem Festakt begangen;102 bereits 1967 aber hatte die Winckelmann-Gesellschaft in Stendal anlässlich der Ausgabe der Winckelmann-Briefmarke der DDR sogar ein Sonderpostamt in ihren Räumlichkeiten eröffnet.103 Neben unterschiedlichen Formen von Festakten (mit Empfängen, musikalischer Rahmung und Vorträgen über Winckelmann und seine Aktualität oder zu Themen der sich auf ihn zurückführenden Wissenschaften) treten als Praktiken des Gedenkens und Verehrens Lesungen aus Winckelmanns Werken oder Lesungen von Romanen über sein Leben. In Stendal gab es 2017 zudem unter anderem eine Licht-Installation am Denkmal und eine Baustellenführung durch die nicht rechtzeitig fertiggestellten, restaurierten Räume des Winckelmann-Museums bzw. der künftigen Bibliothek. Das Theater der Altmark zeigte – charakteristisch für eine Zeit, in der auch das Gedenken sich selbst historisch geworden ist – ein Theaterstück, in dem eine Journalistin einer überregionalen Wochenschrift zu einem Bericht über Winckelmann anlässlich seines Gedenkjahres recherchiert.104 Videos und multimediale Möglichkeiten der Vermittlung im Museum ergänzen das Geschehen im gegenwärtigen Raum. Auch den Typus der virtuellen Gedenkausstellung gibt es: die auf 61 Powerpoint-Folien dokumentierte Präsentation der Werner Oechslin-Bibliothek Einsiedeln.105 Hinzu kommen Fernsehsendungen; eine solche produzierte etwa die italienische RAI, die in Triest im Rahmen der Winckelmann-Feiern im Sommer gezeigt wurde.106 Mit Blick auf die medialen Erscheinungsformen des Winckelmann-Gedenkens – von traditionellen Printmedien über Münzen, Briefmarken hin zu Radiosendungen und Fernsehreportagen seit den 1960er Jahren – zeigt sich, dass eine Geschichte des Winckelmann-Gedenkens zugleich notwendigerweise auch eine Mediengeschichte beinhaltet. Die einstigen Publikationsformen aus dem Ausstellungskontext – Katalog, Faltblatt, Plakat – werden heute durch Social Media-Auftritte der entsprechenden Institutionen multipliziert (Twitter, Facebook-Seite und Blog der Klassik Stiftung Weimar). Neue Medien ermöglichen neue künstlerische Auseinandersetzungen mit Winckelmanns Werk, so dass die Gedenkjahre 2017/18 sich auch in dieser Hinsicht in die Rezeptionsgeschichte einschrieben: Beispielsweise präsentierten im Blog der Klassik Stiftung Weimar Künstler*Innen der Bauhaus-

102 103 104

Siehe oben, S. 17. Vgl. Bomski/Haufe: Wohin (wie Anm. 70), S. 330f. „Winckelmanns Traum“, Premiere am 3.12.2017. Vgl. zum ausführlichen Programm der Festwoche URL: https://www.winckelmann-gesellschaft.com/fileadmin/redaktion/winckel mann-gesellschaft.de/jubilaeen_2017_2018/Programm_Festwoche.pdf [25.10.2018]. 105 URL: https://www.bibliothek-oechslin.ch/ausstellungen/winckelmann/winckelmann.pdf/view [25.10.2018]. 106 „In morte di un archeologo. Winckelmann, Trieste e il riscatto di una città“ (2017) von Paola Bonifacio u. Piero Pieri, 60 Minuten; URL: http://www.museostoriaeartetrieste.it/archeologiadi-sera-2017/ [25.10.2018].

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Universität Weimar ihre von Winckelmann inspirierten Werke.107 Die Social Media von Kulturinstitutionen fungieren nicht mehr nur als marketingstrategische Multiplikatoren oder Medien kultureller Vermittlung, sondern können durch die Tatsache, dass sie als Formate existieren und gefüllt sein wollen, zum Initiator, wo nicht Auftraggeber neuer Auseinandersetzungen mit Winckelmann werden. Rückblickend hat sich vor allem seit den Gedenkjahren 1967/68 in der DDR die Ausstellung als beliebtes Mittel des Winckelmann-Gedenkens etabliert – bei genauerem Nachdenken eine eigentlich ungewöhnliche Form der Erinnerungspflege für einen Gelehrten. Die frühen Winckelmann-Ausstellungen der DDR waren entstanden aus dem (inter-)nationalen Wettstreit um kulturpolitische Kooperationen sowie aus dem Wunsch der Akteure und Institutionen, die eigene Rolle in der staatlichen Hierarchie der Klassiker-Verwaltung zu profilieren. Wesentlich war dabei die größtmögliche öffentliche Sichtbarkeit, verbunden mit dem propagierten Willen zur ideologischen Volksbildung im Arbeiter- und Bauernstaat. Heute stehen Winckelmann-Ausstellungen dagegen nicht nur im Kontext allgemeiner museumspädagogischer und partizipativer Vermittlungsarbeit oder im Wettbewerb eventorientierter Kulturangebote, sondern auch im Kontext eines gesteigerten Bemühens der universitären Geisteswissenschaften um größere Breitenwirkung, um public outreach. Über 250 Jahre Winckelmann-Gedenken in europäischer Perspektive nachzudenken, heißt nicht nur, Wissenschafts- und Ideengeschichte oder die Geschichte der Medien und Memorialpraktiken des Kulturbetriebs nachzuvollziehen. Die Geschichte des Winckelmann-Gedenkens zeigt, pointiert an den Gedenkjahren als Kristallisationspunkten, wie in jeweils spezifisch historischen Situationen Geistesgeschichte und Geisteswissenschaften politisch und ideologisch vereinnahmt und missbraucht werden, aber auch, welchen Freiheiten sie den Weg bereiten können, wenn jenes Potential genutzt wird, das Johann Joachim Winckelmann als Wechselverhältnis von „Kunst und Freiheit“108 bestimmt hat.

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Vgl. z.B. URL: https://blog.klassik-stiftung.de/maren-sendrowski-we-love-winckelmann-trotz dem/ [25.10.2018], weitere Beiträge auf den Seiten des Blogs der Klassik Stiftung Weimar. Unter dem Titel „Kunst und Freiheit. Eine Leitthese Winckelmanns und ihre Folgen“ fand in der Vertretung des Landes Sachsen-Anhalts beim Bund vom 13.–14. Juni 2018 in Berlin eine internationale Tagung statt, ausgerichtet von der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz und der Winckelmann-Gesellschaft Stendal.

HELMUT PFOTENHAUER

Romantischer Klassizismus? August Wilhelm Schlegel im Lichte der europäischen Wirkungsgeschichte Winckelmanns Als August Wilhelm Schlegels Aufsatz über Flaxman’s Umrisse in der gemeinsam mit seinem Bruder Friedrich herausgegebenen Zeitschrift Athenaeum 1798 erschien, hatte der Bruder sich längst vom Klassizisten, der ein Winckelmann der Literatur werden wollte, zum Modernen gewandelt: Die zweite Fassung seines Aufsatzes Über das Studium der griechischen Poesie von 1797 nimmt dabei nur ein paar Umakzentuierungen gegenüber der Erstfassung von 1795 vor, die noch im Geist des Klassizismus geschrieben war. Klassizismus und frühe Romantik liegen denkbar nah beieinander. Eine Vorrede legt dar, dass aus der Erklärung eines Bedürfnisses klassischer Poesie überraschend eine glänzende Rechtfertigung der modernen geworden sei.1 An die Stelle des Schönen als Ideal der Poesie trete das Interessante, an die Stelle des Vollkommenen die progredierende, unendliche, nie perfekte Vervollkommnung.2 Die Werke der Alten seien heute oft Fragmente geworden, die der Neueren seien es gleich bei ihrer Entstehung.3 Eine Ästhetik des Sprunghaften und Bruchstückhaften, des Nicht sich Rundenden, Gegensinnigen, des Paradoxes und der Ironie leitet sich daraus ab. Die schillernde Pointe und die unvermittelte Ideen-Kollision sind August Wilhelm Schlegels Sache nicht.4 Er bevorzugt die systematische, anthropologischgeschichtsphilosophisch gestützte Argumentation, wie seine Jenaer, Berliner und später Wiener Vorlesungen zeigen. Wir kommen darauf zurück. Das Romantische ist ihm in Anlehnung an Schelling das im Endlichen symbolisch dargestellte Unendliche.5 Und doch gibt es auch bei ihm jene klassizistisch-romantischen Kippfiguren, jene Denk- und Argumentationsmuster, die aus dem Klassizismus kommen und ins Romantische hinüberspielen.

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Friedrich Schlegel: Über das Studium der griechischen Poesie [1795–1797]. In: Ders.: Kritische Schriften. 3. Aufl. Hg. v. Wolfdietrich Rasch. Darmstadt 1971, S. 113–230, hier S. 115 (Vorrede). Ebd., S. 118f. Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente [1798]. In: Ebd., S. 25–88, hier S. 27. Vgl. auch Detlef Kremer. Ästhetik und Kulturpolitik in A. W. Schlegels Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. In: York-Gotthart Mix u. Jochen Strobel (Hg.): Der Europäer August Wilhelm Schlegel. Romantischer Kulturtransfer – romantische Wissenswelten. Berlin u. New York 2010, S. 31–44. August Wilhelm Schlegel: Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst [Berlin 1801–1804]. In: Ders.: Kritische Ausgabe der Vorlesungen. Begründet v. Ernst Behler in Zusammenarb. mit Frank Jolles, 1989ff., hier Bd. I: Vorlesungen über Ästhetik I (1798–1803). Hg. v. Ernst Behler. Paderborn 1989, S. 248.

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Im Flaxman-Aufsatz geht es um dessen Umrisszeichnungen – die zu Dante, Homer und Aischylos.6 Schlegel betont, dass es „der bloße Umriß“ sei, der hier den Dichter pittoresk begleite, keine „ausgefüllte Zeichnung“. Dies sei noch mehr „Abstrakzion“ als bei den ‚Licht- und Schattentinten‘ des Kupferstiches, gar des illuminierten und kolorierten, der bei den Zeitgenossen so beliebt sei.7 Es sei ein Stil der „leichten Andeutungen“,8 nicht der naturalistisch Realität simulierenden Gegenstandswiedergabe (Abb. 1).

Abb. 1: Thomas Piroli nach John Flaxman: Die Prozession der trojanischen Frauen. Aischylos, Die Choephoren, Radierung, 172 mm x 263 mm. In: Compositions from the tragedies of Æschylvs designed by Iohn Flaxman. Engraved by Thomas Piroli. The original drawings in the possession of the Countess Dowager Spencer. London 1795, Nr. 19

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August Wilhelm Schlegel: Ueber Zeichnungen zu Gedichten und John Flaxman’s Umrisse. In: Athenäum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. Nachdruck in 2 Teilen. Hg. v. Bernard Sorg. Dortmund 1989, Bd. 2 (ND des Zweiten Bandes Zweites Stück. Berlin 1799), S. 193–246. Zu den Blättern, die Schlegel vorlagen vgl. die Angaben in der Fußnote, ebd., S. 203f. Es handelt sich um eine unpublizierte Sammlung von Blättern des Dresdner Bibliothekars Johann August Heine aus dem Jahr 1793. Vgl. Emil Sulger-Gebing: Die Brüder A. W. und F. Schlegel in ihrem Verhältnis zur bildenden Kunst. München 1897, S. 62–67 und Roger Paulin: The Life of August Wilhelm Schlegel. Cosmopolitan of Art and Poetry. Cambridge 2016, S. 165. Schlegel: Ueber Zeichnungen zu Gedichten (wie Anm. 6), S. 204f. Ebd., S. 205. Vgl. John Flaxman. Mythologie und Industrie. Kunst um 1800. Ausstellungskatalog Hamburg 1979. Hg. v. Werner Hofmann. München 1979, S. 117 (Die Prozession der trojanischen Frauen, nach: Aischylos, Die Choephoren) und S. 119 (Skizzenbuch mit Entwürfen zu Dantes Göttlicher Komödie. Zu Goethe und Schlegel: Peter-Klaus Schuster: ‚Flaxman der Abgott aller Dilettanten‘. Zu einem Dilemma des klassischen Goethe und den Folgen. In: Ebd., S. 32–35.

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Diesen Andeutungs- und Abstraktionsstil nennt Schlegel mit einem typisch romantischen Terminus „Hieroglyphe“ – „die Phantasie wird aufgefordert zu ergänzen, und nach der empfangenen Anregung selbständig fortzubilden“. Ermächtigt wird die Einbildungskraft, die über die Grenzen des bloß Gegenständlichen hinwegschreitet. Der bloße Umriss kann das besser als das Helldunkel, die Fläche besser als die räumliche Suggestion des Perspektivischen.9 Denn sie lassen der Phantasie mehr Spielraum. Diese romantisierende Kunstübung steht für Schlegel nicht im Widerspruch zu Winckelmanns Klassizismus. Im Gegenteil: Sofort wird als einer Autorität Winckelmanns gedacht.10 Er habe an Homer gezeigt, dass dieser nicht in Bildern spreche, „sondern fortschreitende Bilder giebt“. Schlegel verteidigt Winckelmann gegen die Kritik seiner Vorstellung vom Idealschönen, dem des gemäßigten, geläuterten Ausdrucks und gegen die Kritik von Aloys Hirt, der die Darstellung des unsublimiert Charakteristischen in der Kunst, auch in der der Alten, einfordert.11 Und Schlegel verweist darauf, dass das Vorbild für die Flaxman’schen Umrisszeichnungen die „griechischen (ehedem hetrurisch genannten) Vasen“ seien.12 Man kannte sie aus Winckelmanns Monumenti antichi inediti von 1767.13 Auch in den Vorarbeiten zur zweiten Auflage der Geschichte der Kunst von 1776 geht Winckelmann darauf ein.14 Er hatte die Vasen der Sammlung Hamilton in Neapel gesehen und begeistert sich für das „allerhöchste der Zeichnung“15 in ihnen. Auch das Stichwerk von Passeri lieferte den Zeitgenossen davon eine Anschauung.16 Wilhelm Tischbein verarbeitete sie in seinem vierbändigen Werk über die „engravings from ancient vases“ von 1791 bis 1795.17 Eine Mode des Linearstils im Geiste der Antike wird dadurch ausgelöst, die auf die Abstraktionsvorgänge in der Moderne vorausweist.18 August Wilhelm Schlegel leistet mit seinem romantisierenden Klassizismus dazu einen Beitrag.

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Schlegel: Ueber Zeichnungen zu Gedichten (wie Anm. 6), S. 206. Ebd., S. 207. Ebd., S. 226. Ebd., S. 232f. Vgl. Max Kunze: Zur Umrisszeichnung in der Illustration. John Flaxman bei August Wilhelm Schlegel. In: Marginalien. Zeitschrift für Buchkunst und Bibliophilie 92 (1983), S. 40–52, hier S. 46. Vgl. zusammenfassend: Helmut Pfotenhauer: Ausdruck. Farbe. Kontur. Winckelmanns Ästhetik und die Moderne. In: Winckelmann. Moderne Antike. Ausstellungskatalog Neues Museum Weimar 2017. Hg. v. Elisabeth Décultot u.a. München 2017, S. 67–81, hier bes. S. 79. Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums. 2. Aufl. Wien 1776, S. 213 (= SN 4.1, S. 203). Giovanni Battista Passeri: Picturae Etruscorum in Vasculis. 3 Bde. Rom 1767–1775. Johann Heinrich Wilhelm Tischbein: Collection of Engravings from Ancient Vases Mostly of Pure Greek Workmanship. [...] Now in the Possession of Sir W. Hamilton. 4 Bde. Neapel 1791–1795/[1809]. Zur „Linear Abstraction“ und ihrem Modernepotential vgl. das Pionierwerk von Robert Rosenblum: Transformations in Late Eighteenth Century Art. Princeton 1967.

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Goethes gereizte Reaktion – „Die Flaxmannischen Kupfer durch Rat Schlegel kommuniziert“ schreibt er am 31. März 179919 – zeigt recht gut, wie sehr Schlegel damit den Nerv der Zeit getroffen hatte. Goethe sieht in Schlegels Flaxman, diesem „Abgott aller Dilettanten“,20 wohl einen Aufruf zu romantisierender Phantasterei, zu ästhetischer Stil- und Zuchtlosigkeit. Übrigens hatte Schlegel selbst schon in seinem Essay auf die Nähe zum Dilettantismus hingewiesen.21 Eine klassizistisch-romantische Kippfigur findet sich auch im anderen Hauptzeugnis des Frühwerks zur bildenden Kunst, in dem mit Caroline gemeinsam verfassten Dresdener „Gemählde“-Gespräch von 1799.22 Hier steht nun also die Malerei, die für Schlegel spezifisch nachantike Kunst, im Mittelpunkt. Die Farben, ihre Schattierungen und Übergänge treten hervor; die Umrisse verlaufen sich.23 Die Malerei ist für Schlegel die nicht-skulpturale, moderne unter den bildenden Künsten. Eine ihrer vornehmsten Formen, die Landschaft, nähert sich gar dem ungegenständlichen Medium der Musik an. Nun ist es aber ein gegenständlich-narratives Gemälde von Andrea del Sarto, das besondere Aufmerksamkeit erregt.24 (Abb. 2) Es stellt Abraham bei der Opferung Isaaks dar. Vom Gesicht des Knaben heißt es da: Zwar ist der Mund vom Schrecken weit geöffnet, und die Augenbraunen spannen sich in der Ecke nach der Nase zu stark hinauf: aber das Edle der Züge bleibt völlig erkennbar. Der Unterleib ist von der Furcht eingezogen, ohne krampfhafte Zuckung: da er die Hände auf dem Rücken hat, wird der schöne Körper in weichen Schatten völlig sichtbar.25

Unverkennbar: Das Schöne und Edle, über den Schmerz sich Erhebende, siegt über das Charakteristische der Darstellung des Todesschmerzes. Winckelmann’sche Argumentationsmuster, etwa aus den Laokoon-Passagen in den Gedancken über die Nachahmung (1755), werden aufgegriffen und von der heidnischen Mythologie in die christliche transponiert. Im Folgenden ist vom wehmütigen Gesichtsausdruck des Knaben die Rede – „Schmerz und Schönheit halten sich rührend die Wage“. Romantisierende Sentimentalismen und Psychologisierungen, die in einer Bildbeschreibung streng im Geiste Winckelmanns keinen Platz hätten, überlagern die klassizistischen Ekphrasis-Ansätze. Andrea del Sarto, so heißt es dann auch 19

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Zitiert nach Johann Wolfgang von Goethe: Poetische Werke. Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen (Berliner Ausgabe). 22 Bde. u. ein Suppl.-Bd., Bd. 19: Aufsätze zur bildenden Kunst (1772–1808). Winckelmann und sein Jahrhundert. Philipp Hackert. Hg. v. Siegfried Seidel. Berlin u. Weimar 1973, S. 848. Goethe: Über die Flaxmanischen Werke [1799]. In: Ebd., S. 285–292, hier S. 285. Schlegel: Ueber Zeichnungen zu Gedichten (wie Anm. 6), S. 228. August Wilhelm u. Caroline Schlegel: Die Gemählde. In: Athenäum (wie Anm. 6), Bd. 1 (ND des Zweiten Bandes Erstes Stück. Berlin 1799), S. 39–151. Vgl. auch die von Lothar Müller herausgegebene Neuauflage: August Wilhelm Schlegel: Die Gemählde. Gespräch. Amsterdam u. Dresden 1996. Ebd. [Ed. Müller], S. 15. Ebd., S. 51–55. Ebd., S. 53.

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schlussfolgernd, die Gegensätze vermittelnd, habe Abraham als den „Laokoon des Christenthums“ vorgestellt. Bei der Zeichnung des Isaak seien die Söhne des trojanischen Priesters gegenwärtig gewesen.26

Abb. 2: Nach Andrea del Sarto: Das Opfer Abrahams, Kupferstich, 508 mm x 468 mm. In: Recueil d’Estampes d’après les plus célèbres tableaux de la Galerie Royale de Dresde. Hg. v. Carl Heinrich von Heineken. Bd. 1. Dresden 1753, Tafel. Nr. VIII, gestochen von Louis Surugue nach einer Vorlage von Giovanni Battista Internari

In früherer Forschung wurden Klassizismus und Romantik, speziell Frühromantik, mitunter als Opposition gesehen, der Übergang am Ende des 18. Jahrhunderts als Wende, als Paradigmenwechsel.27 Die neuere Forschung widerspricht dem.28 Das bisher hier Gesagte bestätigt das: Für August Wilhelm Schlegel zumindest scheint Klassizismus kein Set von Normen, die dogmatisch festgelegt wären. Zwar erkennt er ästhetische Grundprinzipien, wie das der Affektdämpfung, oder das des Vor26 27 28

Ebd., S. 54. Vgl. etwa Martin Brück: Antikenrezeption und frühromantischer Poesiebegriff. Studien zur Gräkomanie Friedrich Schlegels und ihre Vorgeschichte seit Winckelmann. Konstanz 1983. Vgl. Dorit Messlin: Antike und Moderne. Friedrich Schlegels Poetik, Philosophie und Lebenskunst. Berlin u. New York 2011, bes. S. 22–29.

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rangs der Skulptur. Auch das Postulat, den Alten als Vorbildern nachzuahmen, nimmt er zur Kenntnis. Aber starre Argumentationsgrenzen erblickt er darin offenbar nicht. Er sieht die Ästhetik des hochgeachteten Winckelmann als belastbar, bis zu einem gewissen Grad biegsam, Denkexperimenten zugänglich – insbesondere dort, wo die Alten auf die Moderne treffen. Was ist mit der Malerei der Modernen, was mit ihrer Skulptur? Kann man die Maßstäbe der Alten auf sie anwenden oder aus ihrer Kenntnis das Neue in seiner Eigenart verstehen? Schlegel ist viel zu sehr Historiker bzw. als Ästhetiker auch Geschichtsphilosoph, um das Normative einzelner Zeiten und Gattungen der Kunst absolut zu setzen, also etwa die antike Plastik. Und doch wird ihm Winckelmann nicht gleichgültig, gilt ihm nicht einfach als überholt. Seine Grundbegriffe vermögen eine – wie immer dann modifizierbare – Ästhetik zu begründen und seine Kunstgeschichte ein Verständnis der Stile, des Stilwandels und der Epochen, an welchen sich alle späteren Bemühungen messen lassen und abarbeiten müssen. Goethe soll später einmal zu Eckermann in Bezug auf Winckelmann gesagt haben: „Man lernt nichts, wenn man ihn lieset, aber man wird etwas.“29 August Wilhelm Schlegel hätte sich diesen Ausspruch nicht zu eigen gemacht, zumindest nicht in seinem frühen und mittleren Werk. Romantischer Klassizismus! So der Forschungskonsens heute, so scheint es. Aber was ist Klassizismus bei Schlegel? Wie weit reicht er, wo sind seine Grenzen im Bemühen um eine romantische Ästhetik und Kunstgeschichte. Dem romantischen Klassizismus wäre sein Fragezeichen zurückzuerstatten: Romantischer Klassizismus? Der Frage soll im Folgenden anhand dreier weiterer Texte bzw. Textkomplexe aus verschiedenen Phasen von August Wilhelm Schlegels Schaffen nachgegangen werden.30 Da sind zunächst die Vorlesungen in Jena und Berlin von 1798 bis 1804 und dann die Wiener Vorlesungen von 1809 – hier ohne systematischen Anspruch, immer nur mit einem kurzen Blick auf die Bedeutung Winckelmanns in ihnen. Dann ist da das Schreiben an Goethe über einige Arbeiten in Rom lebender Künstler von 1805. In ihm kommt Winckelmann – fast – nur noch indirekt zur Sprache: Die nächste Generation der Klassizisten wird aufgerufen – in Italien und in Deutschland. Schlegels internationale Kontakte werden sichtbar. Und schließlich ist da die große Rezension der Edition von Winckelmanns Werken durch die Weimarer Kunstfreunde, hier also besonders durch Carl Ludwig Fernow und Heinrich

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Johann Wolfgang Goethe: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. 3. Aufl. Hg. v. Ernst Beutler. Bd. 24: Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Zürich u. München 1976, S. 240 (16. Februar 1827). Ich bin dabei in Vielem der neuen Biographie von Roger Paulin verpflichtet (siehe Anm. 6). Darüber hinaus haben zahllose Gespräche mit Paulin mein Verständnis von August Wilhelm Schlegel geprägt.

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Meyer. Insbesondere hier ist es, wo Schlegel als der Kosmopolit31 auftritt, dessen Bildung keine Sprach- und Landesgrenzen kennt. Auch darin ist ihm Winckelmann ein Vorbild.

I. Die Vorlesungen in Jena, Berlin und Wien Die Vorlesungen über Philosophische Kunstlehre, die August Wilhelm Schlegel 1798/1799 in Jena hält, und die über schöne Literatur und Kunst, gehalten in Berlin, 1801 bis 1804,32 erheben anthropologisch-geschichtsphilosophische Begründungsansprüche.33 Die Kunst und die Sprache werden aus Rhythmus, Tanz und der Musik als ursprünglicher Form der Affektmodellierung abgeleitet. Die Natur des Menschen soll dessen Kunstbedarf erklären und deren dynamische Ausdifferenzierung in Geschichte. Hieraus leitet sich dann eine philosophische Geschichte der Kunst und ihrer Stile und Epochen ab – systematisierend, wie gesagt unter dem Einfluss Schellings. Winckelmanns Konzept einer Kunstgeschichte34 wird also aufgegriffen, um es, über den normativen Anspruch, in dem es bei Winckelmann noch sistiert ist, hinaus, in eine energische Geschichte der Kunst zu überführen. Dabei arbeitet sich Schlegel immer wieder an diesen Winckelmann’schen ästhetischen Normen ab: Im Kapitel über Plastik in der Jenaer Vorlesung heißt es, dass ihr gelinde Bewegung und ruhige Stellung zuzuschreiben sei.35 Man habe sich die Plastik auch nicht koloriert vorzustellen, da sie sonst von wirklichen Figurationen nicht mehr zu unterscheiden sei und als Idealschönes verkannt würde. Dann findet sich der Verweis auf einen anderen Kronzeugen der Kunstlehre für Schlegel: auf François Hemsterhuis. Dieser habe bemerkt, dass die Neueren in der Skulptur zu sehr Maler seien, so wie die Alten in der Malerei zu sehr Bildhauer.36 Der Satz 31 32 33

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Vgl. noch einmal den treffenden Titel der englischen Fassung von Roger Paulins Biographie: The Life of August Wilhelm Schlegel. Cosmopolitan of Art and Poetry (vgl. Anm. 6). Vgl. Anm. 5. Vgl. dazu Claudia Becker: „Naturgeschichte der Kunst“. August Wilhelm Schlegels ästhetischer Ansatz im Schnittpunkt zwischen Aufklärung und Frühromantik. München 1998, hier bes. S. 20–37. Nach dem „Verzeichniß meiner Bücher“ von Schlegels eigener Hand (wahrscheinlich 1812), das sich im Dresdner Nachlass befindet (Mscr. Dresd. E90, XV) und nach dem „Katalog der von Aug. Wilh. von Schlegel, Professor an der Königl. Universität zu Bonn, Ritter etc., nachgelaßenen Büchersammlung [...] (Ed. J. M. Heberle, Bonn 1845) besaß Schlegel folgende Ausgaben der Werke Winckelmanns: Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauerkunst. Dresden 1755 (Verzeichniß Nr. 97, Heberle Nr. 1511); Sendschreiben von den Herculanischen Entdeckungen. Dresden 1762 (Verzeichniß Nr. 96, Heberle Nr. 1510); Geschichte der Kunst des Alterthums. 2 Bde. Dresden 1764 (Verzeichniß Nr. 95, Heberle Nr. 1512). Dazu: Dass. 2 Bde. 2. Aufl. Wien 1776. Vgl. auch das Literaturverzeichnis in Schlegel: Kritische Ausgabe der Vorlesungen (wie Anm. 5), hier Bd. II/2: Vorlesungen über Ästhetik (1798–1827). Hg. v. Stefan Knödler. Paderborn 2016, S. 944. Zum folgenden siehe Schlegel: Kritische Ausgabe der Vorlesungen (wie Anm. 5), Bd. I: Vorlesungen über Ästhetik I (1798–1803), S. 122ff. Ebd., S. 124.

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bezieht sich auf Hemsterhuis Lettre sur la sculpture von 1769.37 Damit ist schon innerhalb des Klassizismus eine Differenzierung angedeutet, die über den alleinigen Maßstab antiker Plastik hinausweist. Denn auch bei den Alten gab es bereits Malerei, wenn auch noch im Skulpturalen befangen. Bei den Neueren aber dominiert die Malerei mit ihren andersartigen ästhetischen Möglichkeiten der Farbe, des Helldunkels, der Perspektive. Die Plastik läuft Gefahr, zu sehr in deren Sog zu geraten. Im Zusammenhang mit dem Streit um Canova, an dem sich Schlegel ebenfalls beteiligt, kommen wir darauf zurück. Und so wird in dieser Vorlesung im Folgenden denn auch über die Malerei gesprochen, über deren Luft- und Linienperspektive, über die Landschaft und das Musikalische in der Malerei, schließlich über das Stillleben. Auch die Berliner Vorlesung kommt, wo es um Skulptur geht, sogleich wieder auf Winckelmann und Hemsterhuis zu sprechen. Beide werden in einem Atemzug genannt: „Winkelmann und Hemsterhuys haben beyde behauptet, die alten Künstler hätten den Ausdruck bey Darstellung gewaltsamer Handlungen gemäßigt, oder Momente gewählt, wo er nicht den äußersten Grad erreicht haben durfte, weil er der Schönheit Eintrag thue.“38 Als Beispiele werden wieder die klassischen Figurationen genannt – Laokoon und die Niobiden. Das dürfe aber nicht ins Gegenteil der Glättung, der süßlichen Freundlichkeit, umschlagen.39 Die Skulptur darf des Weiteren nicht „coloriren“;40 wenngleich die alten Bildner sich nicht ganz der Färbung enthalten hätten, etwa durch Elfenbein, durch eingesetzte Augensterne, durch „Drapperien“ von Gold. Selbst Winckelmanns Revision des Monochromie-Gebots angesichts der Diana bzw. Artemis von Pompeij41 scheint Schlegel, immer auf der Suche nach Selbstkorrekturen und Selbstüberbietungen des Klassizismus, zur Kenntnis genommen zu haben: Als Beispiel für die Ausnahmen von der Kolorierungs-Abstinenz nennt er die „Diana mit purpurnen oder rothen Halbstiefeln“.42 Damit ist wieder der Übergang zur „Mahlerey“ und damit zur genuinen Kunstübung der Neueren gegeben. „Die Sculptur stellt Formen durch Formen dar; die Mahlerey die ganze sichtbare Erscheinung durch einen optischen Schein.“43 Sie 37

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François Hemsterhuis: Lettre sur la Sculpture, à Monsieur Théodore de Smeth, ancien président des échevins de la ville d’Amsterdam. Amsterdam 1769, S. 24: „[...] mais on peut dire que nos Sculpteurs modernes sont trop Peintres, comme apparemment les Peintres Grecs étoient trop Sculpteurs.“ Schlegel besaß in seiner Bibliothek: Frans Hemsterhuis: Œuvres philosophiques. 2 Bde. Paris 1792. Vgl. Schlegel: Verzeichniß (wie Anm. 34), Nr. 305 u. 306 und Heberle: Katalog (wie Anm. 34), Nr. 424. Vgl. auch Schlegel: Kritische Ausgabe der Vorlesungen (wie Anm. 5), Bd. II/2: Vorlesungen über Ästhetik I (1798–1827) (wie Anm. 34), S. 938. Ebd., Bd. I: Vorlesungen über Ästhetik I (1798–1803), S. 290. Ebd., S. 291. Ebd., S. 295. Vgl. Pfotenhauer: Ausdruck. Farbe. Kontur (wie Anm. 14), S. 74f. Schlegel: Kritische Ausgabe der Vorlesungen (wie Anm. 5), Bd. I: Vorlesungen über Ästhetik I (1798–1803), S. 295. Ebd., S. 323.

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wende sich ans Auge und orientiere sich daran, wie uns die Welt erscheint. Mit Farbe, Helldunkel und Perspektive werde die Erscheinung fürs Auge des Betrachters modelliert, nicht das Lebendige als solches, als Form, hingestellt. Dadurch werde die Einbildungskraft aufgerufen, welche die Scheinwelt zu einer Wirklichkeit forme. Man ist damit wieder in einer Welt, in welcher die normative Geltung des Plastischen endet; die historische Dynamik führt darüber hinaus. Was im Flaxman-Aufsatz noch eins war, die klassizistisch gesehene Umrisslinie und die romantisierende Aufrufung der Einbildungskraft, tritt nun in historischer Differenzierung auseinander. Die Wiener Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, 1808, wie schon in Berlin, vor vornehmstem, elitärem Publikum gehalten,44 1809 bei Mohr und Zimmer erschienen, verneigen sich erneut, wenn auch nicht ohne kritische Reserve, vor Winckelmann. Aber da es sich hier um dramatische Kunst und Literatur handelt, tritt dieser nun zurück.45 Die antiken Statuen, heißt es dort, wo sie als Vorbilder für Kunst schlechthin behandelt werden, seien Urbilder menschlicher Gestalt und bedürften keiner Dolmetschung. Sie seien von unerreichbarer Vortrefflichkeit. Der beste Schlüssel für die Betrachtung dieses Heiligtums sei nach wie vor Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums.46 Winckelmann habe in Einzelnem zwar Irrtümer begangen, aber den innersten Geist der griechischen Kunst habe niemand so tief ergründet. Winckelmann behandle die bildende Kunst, aber dies sei auch für das Verständnis der Poesie lehrreich. Von der Untersuchung der Gruppe der Niobe oder des Laokoon könne man auch lernen, die Tragödien des Sophokles zu verstehen. Nur leider fehle eine solche Gesamtschau der griechischen Poesie, wie sie Winckelmann für die Kunst geleistet habe. Der Winckelmann der Poesie, das Wunschbild, das einst den Kopf des Bruders Friedrich entflammt hatte, der sich inzwischen aber längst von diesem Projekt verabschiedet hat, tritt noch einmal in Erscheinung. August Wilhelm Schlegel hat Winckelmann noch längst nicht verabschiedet. Allerdings liest sich diese Referenz nun doch mehr wie eine Respektsbezeugung, eine Pflichtübung fast. Der frühere Enthusiasmus der Brüder Schlegel ist historisch geworden.

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Vgl. Paulin: The Life of August Wilhelm Schlegel (wie Anm. 6), S. 302–314. Zur Publikationsgeschichte vgl. ebd., S. 304. Die hier zugrunde gelegte Ausgabe: August Wilhelm Schlegel: Kritische Schriften und Briefe. Hg. v. Edgar Lohner u.a. Bd. V: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Erster Teil. Stuttgart u.a. 1966. Ebd., S. 44f.

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II. Rom. 1805 Im Gefolge von Mme de Staël kam August Wilhelm Schlegel 1805 erstmals nach Rom. Er ist nun, seit seiner Entscheidung für die rastlos durch Europa reisende Napoleon-Feindin de Staël, mehr denn je Reisender, Europäer, aufgrund seiner immensen Sprachkenntnisse ohne jegliches Kommunikationshemmnis. Schlegel konnte hier nun, in Rom, Winckelmanns Ikonen klassischer Kunst, die Grundlage seines Klassizismus, aber auch die Werke der zeitgenössischen Künstler, in der nächsten Generation entstanden aus der Auseinandersetzung mit Winckelmanns Ästhetik, selbst in Augenschein nehmen. Auch unternahm Schlegel in Italien eigene archäologische Erkundungen. An Goethe berichtet er gleich nach seiner Rückkehr. Die Schrift ist unter dem Titel Artistische und literarische Nachrichten aus Rom. Im Frühling 1805 im Intelligenzblatt der Jenaer Allgemeinen Literatur-Zeitung erschienen47 und später, 1846, als Schreiben an Goethe über einige Arbeiten in Rom lebender Künstler. Im Sommer 1805 in den Band IX der von Böcking herausgegebenen Sämmtlichen Werke übernommen worden.48 Schlegel reagiert damit auf die von Goethe soeben publizierte Sammelschrift Winkelmann und sein Jahrhundert. Er will neue, nunmehr auf eigener Erfahrung und Anschauung basierende Erkenntnisse zur Kunstgeschichte des 18. Jahrhunderts beitragen, dem längsten Abschnitt dieses Buches, den er irrtümlich Goethe, nicht, wie korrekt, Heinrich Meyer zuschreibt. Schlegel wusste, dass die „Weimarer Kunstfreunde“ seit 1803 Zuwachs durch den ehemaligen Deutschrömer Carl Ludwig Fernow erhalten hatten.49 Schlegel kannte Fernows Sitten- und Kulturgemälde von Rom von 1802, in dem dieser erstmals seine Fundamentalkritik am neoklassizistischen Bildhauer Antonio Canova formuliert hatte.50 Canova ahmte die Alten nicht nur einfach nach, er konkurrierte mit ihnen, er versuchte sie zu übertreffen. Und er reüssiert damit in spektakulärer Weise. Im Zuge des napoleonischen Kunstraubes waren ja Winckelmanns Ikonen, allen voran der Apollo vom Belvedere, nach Paris verbracht worden. Papst Pius VII. hatte daraufhin Canovas Perseus angekauft und ihn im Pio-Clementino

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August Wilhelm Schlegel: Artistische und literarische Nachrichten aus Rom. Im Frühling 1805. An Hn. Geh. Rath von Goethe. In: Intelligenzblatt der Jenaischen Allgemeinen LiteraturZeitung 120 (23. Oct. 1805) und 121 (28. Oct. 1805), Sp. 1001–1024. August Wilhelm Schlegel: Schreiben an Goethe über einige Arbeiten in Rom lebender Künstler. Im Sommer 1805. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Hg. v. Eduard Böcking. Bd. IX. Leipzig 1846, S. 231–266. Zu Fernow und August Wilhelm Schlegel im Kontext der Canova-Diskussion vgl. Harald Tausch: Entfernung der Antike. Carl Ludwig Fernow im Kontext der Kunsttheorie um 1800. Tübingen 2000, hier bes. S. 210f. Carl Ludwig Fernow: Sitten und Kulturgemälde von Rom. Mit dem Bildnisse des Kardinals Ruffo und neun andern Kupfern. Gotha 1802.

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genau an die Stelle platzieren lassen, an der vormals der Apollo gestanden hatte.51 Deutlicher konnte man den Anspruch in diesem Paragone, diesem Wettstreit mit den Alten, diese zu überbieten, nicht zum Ausdruck bringen. In seinem Atelier hatte Canova eine Replik des Apollo neben seinen eigenen Perseus gestellt. Fernow nun möchte diesen Anspruch eines Hyperklassizismus durch die Kritik seiner Mittel desavouieren. An der allseits als anmutig gelobten Hebe zeigt er, dass das Fleisch zu weich modelliert sei, weich bis zur Schlaffheit, dass der Reiz der Materie bis zum Widerlichen getrieben sei, indem dem Marmor durch eine Beize aus Rußwasser ein gelblicher Ton gegeben werde, der an das Inkarnat erinnern solle, in Wahrheit aber etwas Wachsartiges habe.52 Kurz, Canova spiele die Plastik ins Malerische hinüber und gebe ihr dadurch etwas Sentimentales. Der barocke Bildhauer Gian Lorenzo Bernini sei da nicht fern. August Wilhelm Schlegel, an Hemsterhuis geschult, kann hier affirmativ anknüpfen. Canovas Statuen seien von einschmeichelnder Weichheit; sie näherten durch malerische Mittel das Dargestellte in Bernini’scher Manier der Wirklichkeit an53 und begingen damit den von Hemsterhuis diagnostizierten Fehler moderner Bildhauerei, die Gattungen durcheinanderzubringen und die Skulptur um des Effekts willen unplastisch zu machen. Ein Hang zum Überempfindsamen ergebe sich so; Amor und Psyche zeigten eine gerührte, schmachtende Zärtlichkeit, welche den Alten fremd gewesen wäre. Schlegel argumentiert hier strenger klassizistisch als viele der Zeitgenossen, etwa als Canovas Unterstützer, der Polychromie-Ästhetiker Quatremère de Quincy. Ja, Schlegel nimmt sogar romantikkritische Anklänge in Kauf, wie sie in Weimar ja an der Tagesordnung waren. Was die Skulptur anlangt, bleibt Winckelmanns Urteil maßgeblich. Schlegel favorisiert wie Fernow gegenüber Canova den Dänen Thorvaldsen, der bei allem Pathos seine Figuren mehr Ruhe ausstrahlen lasse und ihnen mehr Plastizität gebe.54 Schlegel kommt dann auf die zeitgenössische Malerei zu sprechen. Hier lockern oder verflüchtigen sich die klassizistischen Kriterien. Zwar wird Claude Lorrain noch über Johann Christian Reinhardt gestellt,55 aber mit der Begründung, dass jener in der musikalischen Stimmung der Landschaft noch unübertroffen sei. Joseph Anton Koch aber wird als zeitgenössischer Landschafter gerühmt, weil er phantasievoller, poetischer und wiederum musikalischer sei als die Zeitgenossen.56 Schlegel lobt auch Kochs Enthusiasmus für Dante und vergleicht ihn mit Flaxman.57 Aber ein strikter Klassizismus ist dies, im Hinblick auf die Malerei, 51

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Vgl. Lothar Müller: Achsendrehung des Klassizismus. Die antiken Statuen und die Kategorie des „Plastischen“ bei Friedrich und August Wilhelm Schlegel. In: Mix u. Strobel (Hg.): Der Europäer August Wilhelm Schlegel (wie Anm. 4), S. 57–75, hier S. 74f. Fernow: Sitten und Kulturgemälde von Rom (wie Anm. 50), S. 266f. Schlegel: Schreiben an Goethe (wie Anm. 48), S. 231–239. Ebd., S. 240–243. Ebd., S. 257–259. Ebd., S. 259f. Ebd., S. 256f.

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nicht mehr. Christliche Gegenstände treten gleichgültig in den Blick; unplastische Verfahrensweisen erscheinen legitim. Am Ende heißt es, man möge mit dem Altertum vertraut umgehen. Aber neben das Klassische trete das Entferntere des Orients und das uns Nähere des Christentums.58 Eine privilegierte Epoche und eine herausragende Kunstform gibt es für Schlegel nicht mehr. Er deutet an, dass sich sein Horizont welthistorisch geweitet hat. Die nächsten Jahrzehnte wird er nicht zuletzt den indologischen Studien widmen. Schlegel trifft in Rom – neben Wilhelm und Alexander von Humboldt – auch Carlo Fea, den Archäologen des Papstes und italienischen WinckelmannÜbersetzer, dessen Storia delle arti del disegno presso gli antichi er studiert.59 Er interessiert sich für Winckelmanns europäische Wirkungsgeschichte. Seine Notizen zur Begegnung mit Fea werden in die Rezension der Werkausgabe von 1812 eingehen, wie noch zu sehen sein wird. Schlegel sucht den Kontakt auch zu anderen italienischen und österreichischen Archäologen und Schriftstellern. In Mailand trifft er sich mit Ludwig Graf Bossi, der später unter anderem durch seine Introduzione allo studio delle arti del disegno bekannt geworden ist;60 in Rom nimmt er Kontakt auf zu Pierre François Hugues d’Hancarville, dessen Antiquités etrusques, grecques et romaines61 er gekannt haben dürfte, ein Werk, dessen zahlreiche Abbildungen Einfluss unter anderem auf Flaxman hatte. Gleichfalls in Rom begegnet er Giuseppe Antonio Guattani, dessen Roma descritta ed illustrata soeben erschienen war. Schlegel sucht den dänischen Archäologen Johann Georg Zoëga auf,62 neben Winckelmann ein anderer Gründungsvater der klassischen Archäologie, Freund auch von Bertel Thorvaldsen. Kontakte zum französischen DanteÜbersetzer und Gesandten, dem Connoisseur Alexis-François Artaud de Montor, sind ebenso belegt. August Wilhelm Schlegel verkehrt also im Kreis der europäischen Klassizisten nach Winckelmann. Schlegel betreibt auch eigene archäologische Studien in Rom. Mit Alexander von Humboldt zusammen analysiert er beispielsweise die Steinbeschaffenheit der Löwen auf dem Kapitol. Er stellt fest, dass die „sogenannten basaltenen Löwen am Kapitol“ „die Steinart für Hornblende mit durchlaufenden Feldspath-Adern, dergleichen sich in Granit eingesprengt findet“, aufweisen. Dies lasse auf ägyptische

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Ebd., S. 263. Vgl. August Wilhelm Schlegel: [Rez]. Winckelmanns Werke, herausg. von C. L. Fernow 1.2. Band. 3. 4. Band, herausg. von Heinrich Meyer und Joh. Schulze, Dresden 1809. 1811 [1812]. In: Ders.: Sämmtliche Werke (wie Anm. 48), Bd. XII. Leipzig 1847, S. 321–383, hier S. 334. Luigi Bossi: Introduzione allo studio delle arti del disegno e vocabolario compendioso delle arti medesime. 2 Bde. Mailand 1821. Pierre Francois Hugues d’Hancarville: Antiquités etrusques, grecques et romaines. Gravées par F. A. David. Avec leurs explications par d’Hancarville. 4 Bde. Paris 1785–1787. Die Erstausgabe war 1766/1767 in Neapel erschienen. Vgl. Paulin: The Life of August Wilhelm Schlegel (wie Anm. 6), S. 253.

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Herkunft schließen.63 Derlei Beobachtungen dienen Schlegel dazu, sich von Winckelmann’schen Dogmen, hier der Marginalisierung des Ägyptischen zugunsten des von ihm als klassisch angesehenen Antiken, zunehmend zu befreien. Wiederum ist es die Rezension der Winckelmann-Edition von 1812, die dafür als ein Fazit gelten kann.

III. Rezension von „Winckelmanns Werke“ Am Ende von Winkelmann und sein Jahrhundert steht Friedrich August Wolfs Beitrag zu dieser von Goethe herausgegebenen Sammelschrift über Winckelmanns Studiengang. Er mündet in die Frage, ob „nicht endlich der Wunsch einer vollständigen Sammlung der Schriften Winkelmanns unter dem Volke“ rege werde.64 Bereits Anfang 1806 legt Fernow, aus Italien zurück und nunmehr Bibliothekar der Herzogin Anna Amalia, einen „Editionsplan für die Erste Gesamtausgabe der Winckelmannschen Schriften“ vor.65 Winckelmann solle dabei als klassischer Autor behandelt werden. Seine Schriften seien in philologischer Genauigkeit wiederzugeben, so wie es die Philologen mit den Werken antiker Autoren halten. Selbst die „Ortografie“ müsse genau beibehalten werden. Nur offensichtliche Druckfehler seien zu revidieren. Zur Historisierung und Monumentalisierung Winckelmanns kommt also, wie Martin Dönike in seinem Buch über Altertumskundliches Wissen in Weimar zurecht schreibt, die Philologisierung.66 Die Werkausgabe solle von den Gedanken über die Nachahmung über die Geschichte der Kunst bis zum Versuch einer Allegorie alles erfassen – bis auf die nichtdeutschsprachigen Werke, die Monumenti antichi inediti und die Description des pierres gravées du feu Baron de Stosch. Von den Monumenti sei nur der Discorso preliminare, allerdings „in einer treuen deutschen Übersetzung“,67 wiederzugeben. Fernow fügt hinzu, dass in einem Anmerkungsteil die vielen, inzwischen von der Wissenschaft zusammengetragenen Berichtigungen Winckelmanns aufzunehmen seien. Insbesondere Feas italienische Ausgabe sei dabei zu berücksichtigen. Der erste und zweite Band der Ausgabe erscheint, von Fernow herausgegeben, 1808 und umfasst neben einem biographischen Abriss die kleineren Schriften von den Gedanken über die Nachahmung an bis zu den Anmerkungen über die Bau63 64

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Schlegel: [Rez.] Winckelmanns Werke (wie Anm. 59), S. 359. Friedrich August Wolf: [Winckelmann als Philologe]. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens (Münchener Ausgabe). 33 Bde. Hg. v. Karl Richter. Bd. 6/2. Weimarer Klassik. 1798–1806. Hg. v. Victor Lange u.a. München 1988, S. 300–400, hier S. 400. Vgl. Martin Dönike: Altertumskundliches Wissen in Weimar. Berlin u. Boston 2013, S. 8 u. 8–15. Vgl. die Wiedergabe des Textes bei Harald Tausch: Entfernung der Antike (wie Anm. 49), S. 271f. Eine andere, leicht abweichende Fassung findet sich im Nachlass Karl August Böttigers, abgedruckt in: Carl Ludwig Fernow: „Rom ist eine Welt für sich“. Briefe 1789– 1808. 2 Bde. Hg. v. Margrit Glaser u. Harald Tausch. Göttingen 2013, Bd. 2, S. 498–500. Nach Dönike: Altertumskundliches Wissen (wie Anm. 64), S. 11. Zitiert nach Tausch: Entfernung der Antike (wie Anm. 49), S. 271.

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kunst der Alten, den Schriften über die herkulanischen Entdeckungen bis zum Versuch einer Allegorie. Nach Fernows Tod im selben Jahr setzen Heinrich Meyer und Johannes Schulze die Edition fort. Sie beginnen in den Bänden drei und vier mit der Geschichte der Kunst des Alterthums. August Wilhelm Schlegels kritische Würdigung erscheint 1812. Sie bezieht sich auf die Bände eins bis vier.68 Konnte man im Brief an Goethe von 1805 noch den Eindruck haben, Schlegel würde mit Fernow weitgehend übereinstimmen, so schlägt er nun deutlich kritischere Töne an. Er demonstriert eine Kennerschaft, die nicht nur den Philologen und Altertumskundigen zeigt, sondern auch den Kosmopoliten, der in den verschiedenen europäischen Sprachen zuhause ist und dessen Erudition sich vor allem auch aus seinen internationalen Kontakten speist. Schlegel stimmt Fernow in dessen Einstufung Winckelmanns als „klassisch“ zu,69 bezieht dies allerdings auf Winckelmanns Prosastil. Dieser habe, trotz vieler grammatischer Unvollkommenheiten70 doch eine gewisse „alterthümliche Würde“ „und besonders eine großartige Ruhe in der Begeisterung“. Allerdings zeugten seine Schriften auch von einem geringen philologischen Talent: Er lasse sich falsche Auslegungen zu Schulden kommen und begehe unglückliche Versuche, korrupte antike Texte zu verbessern. Und gar nicht klassisch und in der Edition erhaltenswert findet Schlegel Winckelmanns Bildung der Sprachformen und Orthographie. Hier widerspricht Schlegel Fernow, der alles fast wie ein Heiligtum bewahren will, vehement. Die Kanonisierung zum Klassiker und die Monumentalisierung Winckelmanns hat für Schlegel spätestens hier ihre Grenzen.71 Selbst Spracheigentümlichkeiten Winckelmanns möchte Schlegel durch Normalisierung glätten. So schlägt er vor, den berühmten Anfangssatz der Gedancken über die Nachahmung, „Der gute Geschmack, welcher sich mehr und mehr durch die Welt ausbreitet, hat sich angefangen zuerst unter dem griechischen Himmel zu bilden“ in „hat unter dem griechischen Himmel zuerst angefangen sich zu bilden“ zu verbessern.72 Besonders ausführlich geht Schlegel auf die Anmerkungen Fernows zu den ersten beiden Bänden und jenen Meyers und Schulzes zu den Bänden drei und vier ein. Sehr kritisch sieht Schlegel Winckelmanns Allegorie-Schrift. Hier werde versucht, „das Wesen und die verschiedenen Arten der menschlichen Zeichensprache zu ergründen“;73 aber Winckelmann werfe alles durcheinander: „Personifikation allgemeiner Begriffe, beigelegte Zeichen, sinnbildliche Handlungen“ etc. Auch der Unterscheidung zwischen Allegorie und Symbol, die Schlegel Meyer zuschreibt, also dem auf Externes verweisenden Zeichen und dem in sich bedeuten68 69 70 71 72 73

Schlegel: [Rez.] Winckelmanns Werke (wie Anm. 59). Ebd., S. 333. Ebd., S. 325. Vgl. ebd., S. 326–333. Ebd., S. 331. Ebd., S. 345.

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den, erteilt Schlegel eine Absage. Das seien „fremde Wörter“, die das Verwickelte nicht klären.74 Er schlägt für das ästhetisch zu privilegierende Zeichen, das, in dem das „Innere durch das Äußere“ offenbart werde, „das vortreffliche Wort ‚Sinnbild‘“ vor, ohne hier jedoch in der seit Karl Philipp Moritzens Kritik des Winckelmann’schen Allegoriekonzepts so brisanten semiotischen Debatte75 neue Akzente setzen zu können. Der Begriff der „Hieroglyphe“, der ihm in seiner AthenäumsZeit noch so wichtig war, wird hier nur noch mit Reserve gebraucht: Es scheint als wolle Winckelmann eine neue Hieroglyphenschrift erfinden.76 Aber nichts mehr von dem einstigen Engagement, dieses Zeichenkonzept für einen romantischen Klassizismus fruchtbar zu machen. Hier nun, in den „Anmerkungen“ zu den ersten Bänden der Edition, kommt auch wieder Schlegels römischer Gewährsmann Carlo Fea ins Spiel.77 Zunächst wird er gegen Vorwürfe der Weimarer Kunstfreunde in Schutz genommen, er habe nicht ausreichend griechisch gekonnt und deshalb die einschlägigen Textstellen nicht angemessen würdigen können. Sowohl Fernow als auch in der Nachfolge Meyer und Schulze hätten in ihrer Edition der Schrift über die Baukunst und die herkulanischen Entdeckungen in dem belesenen Altertumsforscher Fea einen gründlichen Vorarbeiter gehabt, weshalb die Zweifel an seiner Kompetenz doch eher unangemessen erscheinen. Fea hätte in die Diskussion um philologische Details auch im Bereich der griechischen Kunstliteratur, etwa im Streit um die Auslegung des Diodor, als Kenner treffend eingegriffen. Und von seiner hervorragenden Kenntnis der lateinischen Sprache habe er, Schlegel, sich selbst in zahlreichen persönlichen Gesprächen in Rom mehrfach überzeugen können.78 Schlegel, so lässt die Schärfe dieser Apologie vermuten, scheint hier ein Ressentiment der Deutschrömer und vor allem der Weimarer Kunstfreunde gegenüber der lateinischen Antike und ihrer Kennerschaft zurückweisen zu wollen. Dann aber kann Fea auch geltend gemacht werden in den für Schlegel so wichtigen Fragen der Materialien antiker Kunst. Welche Gesteinsart lässt auf welche Herkunft der Kunstwerke schließen? Schlegel hatte ja zu dieser Frage, zusammen mit Alexander von Humboldt, durchaus eigenständige Forschungsergebnisse vorlegen können – Forschungsergebnisse, die Winckelmanns Vorbehalte gegenüber ägyptischer Provenienz relativieren konnten. Nun lässt sich für Schlegel zeigen, dass schon Fea solche für die Archäologie neuen Fragen nach den Materialien

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Ebd., S. 346. Vgl. dazu auch Helmut Pfotenhauer: Fernow als Kunsttheoretiker in Kontinuität und Abgrenzung von Winckelmanns Klassizismus. In: Michael Knoche u. Harald Tausch (Hg.): Von Rom nach Weimar – Carl Ludwig Fernow. Tübingen 2000, S. 38–51, hier bes. S. 47–51 zur semiotischen Winckelmann-Kritik im zweiten Band der Edition („Anmerkungen und Zusätze zu Winckelmann’s Versuch einer Allegorie besonders für die Kunst“). Schlegel: [Rez.] Winckelmanns Werke (wie Anm. 59), S. 346. Ebd., S. 334–336. Ebd.

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gestellt habe.79 Die Weimarer Herausgeber hätten in ihren Anmerkungen zu Winckelmann besonders die neueren Forschungen zu den Steinarten, und hier besonders zu den der ägyptischen Denkmale, außer Acht gelassen.80 Die Entschuldigung, sie seien keine Mineralogen aus Profession, reiche da nicht aus. Die Ungerechtigkeit Winckelmanns gegenüber der ägyptischen Kunst81 sei so nicht entscheidbar. Schlegel spricht als der Altertumskundler mit den internationalen Referenzen. Dies gilt auch für die die Rezension abschließenden Bezüge auf die zeitgenössische Kunst. Schlegel zitiert einen Satz aus den Anmerkungen, demzufolge die heutigen Maler und Bildhauer nur die äußere Gestalt der Werke des Altertums nachahmten, nicht aber den „göttlichen Lebensfunken“ zum Leuchten brächten.82 Schlegel bemerkt dazu hochmütig, fast überheblich und seiner eigenen Weltläufigkeit gewiss, dass der Verfasser dieser Anmerkung wohl seit geraumer Zeit nicht in Rom gewesen sei. Ansonsten würde er über Thorvaldsen und andere deutsche und französische Bildhauer günstiger urteilen. Schlegel versäumt es nicht, an dieser Stelle an seinen römischen Brief an Goethe aus dem Jahre 1805 zu verweisen, übersieht dabei aber, dass gerade Fernow – lange Jahre (1794 bis 1803) in Rom lebend – und die Weimarer Kunstfreunde es waren, die Thorvaldsen als gelungenes Beispiel zeitgenössischer Kunst gegen Canova in Stellung gebracht hatten.83 Nach Schlegel zeugten gerade auch die neuesten Fortschritte in der Skulptur von Winckelmanns Bedeutung, denn er habe den Anstoß für diesen klassizistischen Geschmack gegeben. Schlegel beschränkt dieses fruchtbare Fortwirken aber einmal mehr auf die Plastik. Zur Malerei hat Winckelmann für ihn nichts zu sagen, da kaum Malerei der Alten auf uns gekommen sei und die Malerei der Neueren eigene Wege gehe. Vorbildlich sei hier die deutsche Schule, die sich an den älteren Meistern orientiere und in einer eigenen Tradition christlicher Kunst stehe.84 Der Ausdruck des Gemüts, des Inneren, der Seele, sei dabei vornehmlich wichtig, nicht die körperliche Vollkommenheit des Äußeren. Schlegel resümiert: Heute, durch die Neuedition seiner Werke, würden die Schwächen Winckelmanns deutlich. Er verehre, obwohl er auch vom hohen und strengen Stil spreche, zu sehr das Gefällige.85 Er sage wenig zur Malerei und fast gar nichts zur Baukunst. Und dennoch, darin stimmt er trotz aller Differenzen mit 79 80 81 82 83

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Ebd., S. 355: Ton sei das älteste Material der Künstler gewesen, besonders im Hinblick auf Italien. Ebd., S. 358f. Ebd., S. 361. Ebd., S. 371. Vgl. etwa Carl Ludwig Fernows Äußerungen in Bezug auf Thorvaldsens Jason in seinen Kunstnachrichten und neueste Literatur aus Rom. Rom den 1. Juli 1803. In: Neuer Teutscher Merkur 1803. 8. Stück, S. 312f. Vgl. dazu auch Tausch: Entfernung der Antike (wie Anm. 49), S. 236–241. Schlegel: [Rez.] Winckelmanns Werke (wie Anm. 59), S. 373f. Ebd., S. 378f.

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den Weimarer Kunstfreunden überein, sei sein Werk klassisch geblieben. Schlegel, der Europäer, merkt abschließend und mit kritischem Unterton noch an, dass die italienischen und französischen Werke des Europäers Winckelmann, die Monumenti antichi inediti und die Description des pierres gravées, aus dem Editionsplan ausgegliedert worden seien und dass man noch über die Edition der Briefe und des nach Paris verbrachten handschriftlichen Nachlasses zu befinden habe.86

Epilog Nur in die französische Ausgabe der Werke August Wilhelm Schlegels aufgenommen und deshalb wenig bekannt ist noch eine spätere, kritischere Auseinandersetzung mit Winckelmann. Sie wurde 1816 geschrieben und 1846 posthum veröffentlicht.87 Sie trägt den Titel Niobe et ses enfants. Sur la composition originale de ces statues und bezieht sich auf die 1583 ausgegrabene Florentiner Niobiden-Gruppe. Sie zeigt die wachsende Distanz zu Winckelmann, begründet in der neueren archäologischen Forschung. Winckelmann, so heißt es da, habe es versäumt, über das Zusammenspiel von Plastik und Architektur nachzudenken. Diese Figurengruppe aber müsse im Hinblick auf ihre Anordnung im Raum gewürdigt werden – ebenso wie etwa die inzwischen nach London verbrachten Figuren des Parthenon.88 Außerdem sei bei der Bestimmung ihres Alters und ihrer Herkunft wiederum die Materialfrage zu berücksichtigen. Daraus ergebe sich nämlich, dass die Figurengruppe im Wesentlichen nicht aus Paros-Marmor, sondern aus italienischem, wahrscheinlich Carrara-Marmor bestehe. Dies könne im Gegensatz zu Winckelmann auf eine Kopie aus der römischen Kaiserzeit deuten. Die Kommentatoren Winckelmanns, Meyer und Schulze, erscheinen Schlegel nun ihrerseits bereits als historisch. Ein letztes Mal dann nennt er Winckelmann kurz noch in seiner Berliner Vorlesung von 1827.89 Er bezeichnet ihn hier als philosophierenden Rhapsoden, dessen gesunder Sinn ihn vor der kranken Richtung seines Zeitalters bewahrt; gemeint sind wohl Verstiegenheiten, wie er sie Karl Philipp Moritz attestiert. Für die Philosophie des Schönen lerne man bei Winckelmann zwar nichts, aber er lehre uns, mit Ernst und Ehrfurcht vor die Werke des Altertums zu treten.

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Ebd., S. 381–383. August Wilhelm Schlegel: Niobe et ses enfants. Sur la composition originale de ces statues. In: Œuvres de M Auguste-Guillaume de Schlegel. Ecrits en Français. Publiées par Edouard Böcking. Bd. 2: Beaux-Arts – Essais littéraires et critiques – Littérature occidentale. Leipzig 1846, S. 3–29. Vgl. auch Emil Sulger-Gebing: Die Brüder A. W. und F. Schlegel (wie Anm. 6), S. 167–169. Schlegel: Niobe et ses enfants (wie Anm. 87), S. 14–16. August Wilhelm Schlegel: Vorlesungen über Theorie und Geschichte der bildenden Künste. In: Ders.: Kritische Ausgabe der Vorlesungen (wie Anm. 5), Bd. II/1: Vorlesungen über Ästhetik (1803–1827). Textzusammenstellung v. Ernst Behler. Paderborn u.a. 2007, S. 294.

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Trotz dieser wachsenden Distanz zu Winckelmann aber ist unverkennbar: Für August Wilhelm bleibt Winckelmann im Gegensatz zu seinem Bruder Friedrich lebenslang eine Herausforderung.90 Friedrich verabschiedet den Klassizismus und mit ihm Winckelmann bereits in seinen Gemäldebeschreibungen der Europa Anfang des neuen Jahrhunderts:91 Gegen den prosaischen Nebel antikischer Nachahmer, gegen das klassizistische „Kunstgeschwätz“, wie er sagt, bietet er erneut den frühromantischen Schlüsselbegriff der Hieroglyphe auf, nun aber ohne klassizistisch-romantische Zwischentöne, rein auf die Sinnbilder christlicher Mystik und die altdeutsche Schule bezogen. Jahre später, 1810, rezensiert zwar auch Friedrich Schlegel die neue Werk-Ausgabe Winckelmanns,92 aber er setzt sich nicht wie sein Bruder einlässlich damit auseinander, sondern lobt nur pauschal das Unterfangen und erweist Winckelmann seine Reverenz wegen seiner Kenntnisse des Altertums und wegen seines klassisch-vollkommenen Prosastils. Winckelmann und der Umgang der Zeitgenossen mit diesem scheint da nicht mehr eine Herausforderung zu sein, sondern eher Gegenstand routinierter Literaturkritik.93 Seinem Bruder August Wilhelm hingegen wird Winckelmann immer wieder zum Anstoß für ästhetische Selbstvergewisserung. Zweifellos erkennt er das Forschende, stets Revisionsbereite, Biegsame in Winckelmanns Schriften selbst. Winckelmann ist dem älteren Schlegel kein überholter dogmatischer Klassizist, sondern für den Übersetzer immer wieder ins Romantische, Moderne übersetzbar. Und, mindestens ebenso wichtig: Winckelmann ist ihm wohl auch ein Vorbild, was den interdisziplinären und polyglotten Umgang mit europäischer Kultur anlangt. Winckelmann ist dem Europäer Schlegel – nicht zuletzt – Europäer.

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Schlegels Biograph Roger Paulin (siehe Anm. 6) sieht in Winckelmanns platonischem Ästhetizismus sogar – zusammen mit den indologischen Ursprungsforschungen – eine der wichtigsten weltanschaulichen Leitlinien der letzten Lebensjahrzehnte (ebd., S. 557): Romantischer Klassizismus bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Friedrich Schlegel: Aufforderungen an die Maler der jetzigen Zeit. In: Ders.: Kritische Schriften (wie Anm. 1), S. 584–586. Friedrich Schlegel: [Rez.] Winckelmanns Sämtliche Werke. In: Österreichischer Beobachter (1810). Beilage I. Hier zitiert nach: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung v. Jean-Jacques Anstett u. Hans Eichner. München u.a. 1958 ff. Abt. 1. Bd. 3: Charakteristiken und Kritiken II (1802–1829). Hg. v. Hans Eichner. München u.a. 1975, S. 163f. 1812, in der fünfzehnten Vorlesung der Geschichte der alten und neuen Literatur (ebd., Abt. 1, Bd. 6, S. 379), ist noch einmal von Winckelmann die Rede; er habe es, wie Klopstock, verstanden, alle Kraft auf ein großes Ziel zu konzentrieren.

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Die Abenteuer von Sappho und die Ästhetik der Grazie: Winckelmann als Quelle für Alessandro Verri Der Beitrag Winckelmanns zur Ästhetik ist seit vielen Jahren gemeinhin anerkannt. Unbestritten ist auch die unter anderen von Senff1 geäußerte Auffassung, dass Winckelmann als Vordenker der klassischen deutschen Ästhetik zu betrachten ist, genauso wie er als Begründer der Archäologie gilt. Die Kategorie der Grazie, die bis zur Hälfte des 19. Jahrhunderts ein zentraler Begriff der Ästhetik war, hat bekanntermaßen ebenso ihren Ursprung bei Winckelmann wie das in Deutschland besonders prominente Konzept eines genuinen Zusammenhangs zwischen dem Schönen und dem Erhabenen. Meines Wissens liegen aber noch keine Studien zu Winckelmanns Einfluss auf die italienische Aufklärung vor, insbesondere zu den Auswirkungen auf die Ästhetik-Debatte, die nicht nur aus den theoretischen Schriften eines Pietro Verri hervorgehen, sondern auch aus den literarischen Werken seines Bruders Alessandro. Die Reaktion der Brüder Verri auf die Übersetzung der Geschichte der Kunst zeigt dabei die ganze Komplexität der italienischen Winckelmann-Rezeption. Es handelt sich hierbei um einen nicht einfach zu bestimmenden Zusammenhang, wie Stefano Ferrari, einer der wenigen Forscher, die sich bislang mit dieser Beziehung beschäftigt haben, deutlich hervorgehoben hat;2 und es wäre verkürzt, die Frage einfach mit Pietro Verris Ablehnung der Winckelmann’schen Auffassung der Kunstgeschichte abzutun, der er in seinem Discorso sull’indole del piacere e del dolore (1773) eine deutliche Absage erteilt und eine emotionalistische Ästhetik gegenüberstellt. Es ist wahrscheinlich überflüssig zu unterstreichen, wie bedeutend die Rolle der Brüder Verri für die italienische Kultur des 18. Jahrhunderts war, und wie entscheidend daher die Positionen Pietros und Alessandros sind, wenn es darum geht, die Rezeption von Winckelmanns Geschichte der Kunst in Italien besser zu verstehen. Die in dieser Frage eingenommenen Haltungen sind, wie gesagt, nur schwer zu rekonstruieren und zudem alles andere als eindeutig. Ein wertvolles Instrument ist dabei der Briefwechsel (Carteggio) zwischen den beiden Brüdern, der vor wenigen Jahren veröffentlicht wurde.3 Die anerkennende Haltung 1

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Wilhelm Senff: Einführung. In: Johann Joachim Winckelmann: Kleine Schriften und Briefe. Auswahl, Einführung und Anmerkungen von Wilhelm Senff. Weimar 1960, S. 361–419; vgl. Max Kunze: Neue Forschungen zu Winckelmann. Ein Literaturbericht. In: Thomas Gaehtgens (Hg.): Johann Joachim Winckelmann (1717–1768). Hamburg 1986, S. 11–30, hier S. 16. Siehe insbesondere Stefano Ferrari: Da Vienna a Milano: genesi e reazioni alla prima traduzione della Storia delle Arti e del Disegno di Winckelmann. In: Helmut Meter u. Furio Brugnolo (Hg.): Vie Lombarde e Venete: Circolazione e trasformazione dei saperi letterari nel Sette-Ottocento fra l’Italia settentrionale e l’Europa transalpina. Berlin 2011, S. 259–272. Siehe die Briefe vom 2. Juli 1768 (Carteggio di Pietro e Alessandro Verri. Hg. v. Francesco Novati, Emmanuele Greppi u. Alessandro Giulini. 12 Bde. Milano 1910–1942, hier Bd. 1.2, S.

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Alessandro Verris geht daraus ebenso hervor wie das Unbehagen Pietros in Reaktion auf die 1779 erscheinende Übersetzung der Geschichte der Kunst von Amoretti, zu deren Unterzeichnern Pietro Verri im Übrigen selbst gehörte.4 Die Tatsache, dass Pietro Verri dem Bruder ein Jahr vor der Wiederveröffentlichung seines Discorso 1781 von seinen Bedenken schrieb, ist dabei nicht nebensächlich. Er hatte zu diesem Zeitpunkt schon seine eigene sensualistische Ästhetik entwickelt und wahrscheinlich eben aus diesem Grund eine dezidiert anti-gelehrte Position eingenommen. Ferrari hat bei seiner Untersuchung der Übersetzung von Amoretti hervorgehoben, dass die italienische Aufklärung der Geschichte der Kunst eine insgesamt eher kühle Aufnahme bescherte und insbesondere die neoplatonische Dimension der Winckelmann’schen Ästhetik nicht in den Blick bekam.5 Erst in den Anfangsjahren des 19. Jahrhunderts kann von einer ernsthaften Verbreitung seines Denkens in Italien gesprochen werden, dies nicht zuletzt infolge der Übersetzung von Fea.6 Im Falle der lombardischen Aufklärung ist auch die Rolle des Grafen Carlo Firmian zu berücksichtigen, dem Winckelmann eine Kopie seiner Beschreibung des Apollo vom Belvedere geschenkt hatte. Allerdings hatte sich die Beziehung Pietro Verris zum Grafen schon in den sechziger Jahren verschlechtert.7 Dieser vielschichtige Kontext zeigt, dass sich die Winckelmann-Rezeption aus verschiedenen Faktoren, kulturellen wie politischen, speist, und dass die nur verhaltene Zustimmung zu seiner historischen Methodologie am Ende nicht das Eindringen seiner theoretischen Ideen in die italienische Kultur der Epoche verhindern konnte. Das Beispiel der Brüder Verri zeigt darüber hinaus, dass zwei diametral entgegengesetzte Haltungen zur Geschichte der Kunst sogar innerhalb einer Familie nebeneinander existieren können: Der kritischen Haltung Pietros steht die deutlich positivere seines Bruders Alessandro gegenüber. Alessandro Verri kommt 1767, ein Jahr vor Winckelmanns Tod, nach Rom und verkehrt dort in denselben Kreisen wie dieser. Besonders intensiv ist sein Kontakt

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345–347), 14. Juli 1779 (ebd., Bd. 10, S. 319), 4. August 1779 (ebd., S. 337–339) und vor allem die zwei Briefe von Pietro vom 22. und 26. Januar 1780, die eine scharfe Kritik zur Geschichte Winckelmanns enthalten. Am 4. August 1779 schreibt Alessandro Verri an den Bruder von seiner Wertschätzung des Winckelmann’schen Werks, 1780 schreibt Pietro hingegen, dass er die Gelehrsamkeit und die „strenge teutonische Härte“, die er in Winckelmann ausmacht, nicht teilt und es vorzieht, das Urteil über die Kunst der Sensibilität und dem Gefühl zu überlassen. Ebd., Bd. 10, S. 337–339. Stefano Ferrari: Carlo Amoretti e la storia delle arti. In: Giulia Cantarutti u. Stefano Ferrari (Hg.): Paesaggi europei del neoclassicismo. Bologna 2007, S. 191–212. Stefano Ferrari: I traduttori italiani di Winckelmann. In: Giulia Cantarutti, Stefano Ferrari u. Paola M. Filippi (Hg.): Traduzioni e traduttori del Neoclassicismo. Milano 2010, S. 161–174. Man bedenke auch, dass Pietro Verri in den siebziger Jahren konstant gegen die habsburgische Regierung polemisiert hat, von der die Aufforderung zur Übersetzung von Winckelmann stammte, vgl. Carlo Capra: I progressi della ragione. Vita di Pietro Verri. Bologna 2002, S. 164–166; siehe auch Stefano Ferrari: Il Nachlaß italiano di Winckelmann: bilancio storiografico e nuove prospettive di ricerca. In: Archivio storico italiano 173 (2015), S. 65–88.

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zu Anton Raphael Mengs8 wie zu Kardinal Albani; entscheidend aber wird seine Bekanntschaft mit der Marquise Sparapani Gentili Boccapaduli. In seiner 2016 veröffentlichten Biografie von Alessandro Verri rekonstruiert Pierre Musitelli minutiös das römische Ambiente, in das Verri ab 1767 eingetaucht war.9 Meines Wissens nach ist Musitellis Studie auch die erste, die die Wirkung des Winckelmann’schen Denkens auf das Schaffen von Alessandro hervorgehoben hat. Der Vergleich der Äußerungen beider Brüder nimmt dem harschen Urteil, das Pietro in der Corrispondenza mit Blick auf die Geschichte der Kunst geäußert hatte, seine Ausschließlichkeit. Im Besonderen sieht Musitelli genügend Indizien, den ersten und vielleicht bekanntesten Roman von Alessandro Verri, Le Avventure di Saffo, mit Winckelmann in Verbindung zu bringen und erkennt in diesem nicht nur die indirekte Hauptquelle für Verri, sondern auch den theoretischen Bezugsrahmen für die Entfaltung seiner eigenen Ästhetik. Der von Musitelli aufgezeigte Weg erscheint mir überzeugend, ja mehr noch, es lohnt sich ihm auf diesem Weg zu folgen, um den Einfluss noch greifbarer zu machen, den Winckelmann in den direkt auf die erste italienische Übersetzung der Geschichte der Kunst folgenden Jahren ausgeübt hat. Eine solche Perspektive verspricht neue Einblicke sowohl auf die italienische Aufklärung als auch auf Winckelmann selbst. Darüber hinaus ermöglicht sie eine neue Sicht auf die ästhetische Kategorie der Grazie und deren theoretische Implikationen. Die von mir vertretene These gliedert sich also in zwei Teile. Zuerst möchte ich den Einfluss der Geschichte der Kunst auf Le Avventure di Saffo von Alessandro Verri aufzeigen, wobei ich den Roman in Einklang mit dem klassischen Ideal lese und Abstand nehme von solchen Interpretationen, die ihn auf die Kategorie der Präromantik zurückführen. Mich leitet also die Überzeugung, dass schon das aufklärerische 18. Jahrhundert in dem Klassischen ein Element der Unruhe sah, und zwar auf eine besondere und autonome Art im Vergleich zu dem, was später in der Romantik diskutiert wurde. Im zweiten Teil werde ich Le avventure di Saffo als narrativen Ausdruck des ästhetischen Dualismus bei Winckelmann lesen, demzufolge das Schöne und das Erhabene nicht als zwei gegensätzliche ästhetische Kategorien zu betrachten sind, sondern als komplementäre Teile ein und derselben Suche nach der Grazie.

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Vittoria Orlandi Balzari: Alessandro Verri antiquario in Roma. In: Quaderni storici 39 (2004), Nr. 116/2, S. 495–528. Alessandro Verri kannte den Namen Winckelmanns schon, bevor er nach Rom zog: Alfonso Longo hatte Winckelmann bereits 1765 in Rom getroffen und ein Protokoll des Gesprächs an Beccaria und an die Studienfreunde der Pugni geschickt. Nachdem er sich in Rom niedergelassen hatte, besuchte Alessandro Verri gemeinsam mit Canova und Anton Raphael Mengs die Accademia di San Luca, die er in seinen Notti Romane neben Winckelmann zitiert. Vgl. Pierre Musitelli: Le Flambeau et les ombres. Alessandro Verri des Lumières à la Restauration (1741–1816). Rom 2016.

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I. Die Grazie des Schönen, die Grazie des Erhabenen Le Avventure di Saffo werden 1781 publiziert,10 im selben Jahr der Wiederveröffentlichung des Discorso von Pietro Verri und zwei Jahre nach Amorettis Übersetzung der Geschichte der Kunst. Der Roman ist reich an klassizistischen Bezügen und gelehrten Elementen und findet auf Anhieb großen Anklang. Bis heute ist er ein wichtiger Bezugspunkt der italianistischen Forschung. Von der ÄsthetikForschung hingegen ist Alessandro Verri nie als gleichrangig mit seinem Bruder Pietro betrachtet worden.11 Gewiss hat Alessandro, anders als Pietro, nie eine Abhandlung zur Ästhetik verfasst und dennoch liefert sein erster Roman Anregungen, die auch für aktuell diskutierte Themen und Tendenzen wie die ‚Philosophie der Emotionen‘ von Interesse sein können. Meine Untersuchung zu Le Avventure di Saffo möchte eben diesen theoretischen Anregungen nachgehen und dafür die Analyse des Textes und die historische Rekonstruktion in den Hintergrund rücken. Wenn man den Roman von Alessandro Verri aus dieser Perspektive betrachtet, wird nämlich deutlich, dass er der Winckelmann’schen Ästhetik, seiner Gelehrsamkeit und seinen Reflexionen über die Grazie, weit mehr verdankt als dem Empfindsamkeitskonzept, das im Zentrum der sensualistischen Ästhetik seines Bruders Pietro steht. Der Roman geht den amourösen Leidenschaften von Sappho nach und beschreibt sie als ein junges Mädchen, das zwar nicht anmutig, dafür geistvoll ist und einen feinen Intellekt hat. Da sie es versäumt hat, zwei Tauben für Venus zu opfern, wird sie von der Göttin dazu verurteilt, sich in Phaon zu verlieben, der ihre Liebe nicht erwidert. Le Avventure di Saffo erzählen aber nicht etwa von vergeblicher Liebesmüh’ der Hauptfigur, sondern von ihren Versuchen, eben diese amouröse Leidenschaft zu unterdrücken und den Zustand der Grazie zu erreichen, in den die Protagonistin erst versetzt wird, als sie sich vom Felsen Leukate in den Tod stürzt. Eben aus dieser Suche nach Grazie12 erklärt sich zum einen der Impuls, die ästhetischen Kategorien von Winckelmann aufzunehmen. Zum anderen wird daran 10 11

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Der Text wird in den ersten vier Monaten des Jahres 1780 verfasst und 1781 veröffentlicht, mit der falschen Angabe „Padova 1782“ und nur den Initialen des Autors. In den zwanziger Jahren zeigt sich jedoch ein größeres Interesse an dem klassizistischen Verri der Romane und der römischen Epoche. Siehe diesbezüglich: Francesca Favaro: Alessandro Verri e l’antichità dissotterrata. Ravenna 1998; Fabio Tarzia: Libri e rivoluzioni. Figure e mentalità nella Roma di fine ancien régime. Mailand 2000; Isabella Colucci: Il salotto e le collezioni della Marchesa Boccapaduli. In: Quaderni storici 39 (2004), Nr. 116/2, S. 449–494; Marina Pieretti: Il Viaggio d’Italia di Margherita Sparapani Gentili Boccapaduli. In: Marina Caffiero u. Manola Ida Venzo (Hg.): Scritture di donne. La memoria restituita. Rom 2007, S. 61–67. In den Avventure kann man zahlreiche Hinweise finden, die anzeigen, wie sehr Alessandro Verri sich an der klassizistischen Ästhetik und dem Begriff der Grazie maß (man denke z.B. an die Bezüge auf Xenophon und Phidias). Musitelli unterstreicht, dass in diesem Zusammenhang sowohl die ausdrückliche Wertschätzung Winckelmanns für Phidias in der Geschichte der

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ersichtlich, wie schwer es ist, Alessandro Verris Roman auf den Begriff der Präromantik zu reduzieren.13 Der Roman kennzeichnet also eine Übergangsphase, in der sich der Gegensatz zwischen Klassizismus und Aufklärung zunehmend auflöst. Noch mehr scheint das Werk aber jener Überzeugung seines Autors Ausdruck zu verleihen, die dieser einmal in einem Beitrag für die Zeitschrift Il Caffè festhielt, wo es heißt: „l’uomo è un animale capace di qualunque contraddizione“ („der Mensch ist ein zu allen Widersprüchen fähiges Tier“)14 – eine Überzeugung, die die der Aufklärungsbewegung innewohnenden Spannungen und Aporien widerspiegelt. Der Roman ist also als ein Versuch aufzufassen, die Tendenzen des Irrationalismus zu ergründen,15 über die ablehnende Haltung des Bruders Pietro gegenüber der Gelehrsamkeit Winckelmanns hinaus und in Einklang mit einem moralischen und erzieherischen Interesse,16 das der allgemeinen anthropologischen Absicht der Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entspricht. Es handelt sich also nicht um das Manifest eines subversiven Aufklärers, das sich gegen die ‚großen‘ Autoren der Aufklärung richtet, wie Fabrizio Cicoira vertritt,17 sondern vielmehr um eine Antwort auf die aufklärerische Frage nach der Bestimmung des Menschen, die auch den Klassizismus berücksichtigt. Es empfiehlt sich daher, Alessandro Verri im Lichte eines „unregelmäßigen 18. Jahrhunderts“ („Settecento irregolare“) zu lesen, wie Sergio Luzzatto einmal vorgeschlagen hat. Dort können sich Klassizismus und Aufklärung auch konzeptionell begegnen, indem sie die Spannung zwischen rationaler Logik und dem Eindringen der Leidenschaften ins Licht rücken.18 Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass die dem Roman von Alessandro Verri zugrunde liegenden Quellen umfangreich und vielfältig sind und keinesfalls nur auf Winckelmann reduziert werden können. Nur angedeutet werden kann hier die Bedeutung von Richardsons Clarissa, Fénelons Abenteuer des Telemach oder Homers Ilias, die Verri selbst übersetzt hat. Eine wichtige Rolle spielt nicht zuletzt die besondere Prominenz des Sappho-Mythos in der Zeit, die sich insbesondere der Veröffentlichung der von Johann Christian Wolf gesammelten Fragmente verdank-

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Kunst als auch die Verbreitung seiner Schrift über die Grazie durch Übersetzungen von Bedeutung sind. Siehe Musitelli: Le Flambeau et les ombres (wie Anm. 9), S. 228. Bekanntlich wurde der Begriff der Präromantik von Walter Binni geprägt (Walter Binni: Preromanticismo italiano. Napoli 1947). Vgl. Musitelli: Le Flambeau et les ombres (wie Anm. 9), Einleitung, S. 2–14. Alessandro Verri: Comentariolo di un galantuomo di mal umore che ha ragione, sulla definizione: L’uomo è un animale ragionevole, in cui si vedrà di che si tratta. In: „Il Caffè“ 1764– 1766. Hg. v. Gianni Francioni u. Sergio Romagnoli. Turin 1998, Fogl. XXI. Vgl. Marco Cerruti: Motivi e figure di un romanzo ‚neoclassico‘. In: Lettere italiane 14 (1964), H. 3, S. 251–279; Ders.: Neoclassici e giacobini. Mailand 1969. Bruno Toppan: „Du Caffè“ aux „Nuits romaines“: Alessandro Verri romancier. Nancy 1984. Fabrizio Cicoira: Alessandro Verri: sperimentazione e autocensura. Bologna 1992. Sergio Luzzatto: L’illuminismo impossibile. Alessandro Verri tra rivoluzione e restaurazione. In: Rivista di letteratura italiana 3 (1985), S. 263–290.

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te.19 Unbestritten zeigt sich der Bezug auf Winckelmann jedoch bei der Figurenbeschreibung, insbesondere bei den Darstellungen von Phaon und Cleonice. Phaon, so liest man auf den ersten Seiten der Avventure, ist mit einer göttlichen Schönheit versehen, die ihm von Venus als Belohnung für eine Fahrt übers Meer verliehen wird. Derart verwandelt sieht er in sich „la candida gioventù, e la proporzionata forma in tutte le membra, e finalmente anche nel volto“ („die reine Jugend, alle seine Glieder und zum Schluss auch sein Gesicht bekommen eine ebenmäßige Form“); es ist also eine „divina bellezza e il di lui volto, quando venisse attentamente osservato, aveva la prima sembianza, ma ridotta a perfezione“ („göttliche Schönheit und sein Gesicht hatte bei genauer Betrachtung die früheren Züge, die aber nun zur Perfektion gebracht waren“).20 Sappho begegnet Phaon das erste Mal, als sie ihn während der Spiele im Stadion von Mytilini kämpfen sieht. Der Verweis auf Winckelmann ist hier offensichtlich und der Kampf gibt die Möglichkeit, die Grazie Phaons noch klarer herauszustellen: Seine Muskeln sind von außen nicht sichtbar und die Anstrengung deformiert weder sein Gesicht noch die Proportionen des Körpers. Phaons Gegner aus Kreta zeigt hingegen „turgidi muscoli in quel modo che gli scultori sogliono rappresentare Ercole“ („schwellende Muskeln auf die Weise, in der Bildhauer gemeinhin Herkules darstellen“);21 Phaons Glieder sind nicht „così alte o smisurate“ („groß oder übermäßig“) wie die seines Gegners, sondern haben „piacevole proporzione“ („angenehme Proportionen“)22: Non appariva in lui l’azione de’ muscoli esternamente visibili, ma soltanto dubbiosamente adombrati. Spuntava lanugine delicata dalle guance fresche come i fiori mattutini, ed il colore di tutta la persona non potrebbe in altro modo esprimersi che mescolando i gigli alle rose.23

Aus der Beschreibung von Phaon klingt zweifellos das heraus, was Alessandro Verri in der von Amoretti übersetzten Geschichte der Kunst über den Torso vom Belvedere und den Herkules Farnese hatte lesen können: Dieser Künstler hat ein hohes Ideal eines über die Natur erhabenen Körpers, und eine Natur männlich vollkommener Jahre, wenn dieselbe bis auf den Grad Göttlicher Genügsamkeit erhöhet wäre, in diesem Hercules gebildet, welcher hier erscheint, wie er sich von den Schlacken der Menschheit mit Feuer gereiniget, und die Unsterblichkeit und den Sitz unter den Göttern erlanget hat. Denn er ist ohne Bedürfniß menschlicher Nahrung, und ohne ferneren Gebrauch der Kräfte vorgestellt. [...] Der Künstler bewundere in den Umrissen dieses Körpers die immerwährende Ausfließung einer Form in die andere, und die schwebenden Züge, die nach Art

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Siehe die Beiträge in: Huguette Krief (Hg): La Sapho des Lumières. Saint-Étienne 2006. Alessandro Verri: Le avventure di Saffo poetessa di Mitilene. In: I romanzi. Le avventure di Saffo poetessa di Mitilene. Le notti romane. La vita di Erostrato. Hg. v. Luciana Martinelli. Ravenna 1975, S. 85f. Ebd., S. 93. Ebd. Ebd. („Die Bewegungen seiner Muskeln waren äußerlich nicht sichtbar, sie erschienen nur zweifelhaft umschattet. Ein delikater Flaum bildete sich auf seinen Wangen, wie Morgenblüten, und die Farbe seiner ganzen Person könnte nicht anders beschrieben werden als mit der Mischung von Lilien und Rosen.“).

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der Wellen sich heben und senken, und ineinander verschlungen werden [...]. Die Gebeine scheinen mit einer fettlichen Haut überzogen, die Muskeln sind feist ohne Ueberfluß [...].24

Seine ganze Verpflichtung gegenüber dem Klassizismus Winckelmanns zeigt Verris Roman bei der Beschreibung der Cleonice, der zukünftigen Braut von Phaon. Im Kapitel Il sonno di Cleonice tritt die Suche nach der Grazie stärker als zuvor in den Vordergrund und sind die Verweise auf die Mal- und Bildhauerkunst noch greifbarer. So wie der Kreter mit einer Skulptur des Herkules verglichen und die Muskeln des Phaon als Inspirationsquelle für einen Zeichner dargestellt werden, kommt der Anlass zur Beschreibung von Cleonice auch diesmal von einem Maler, der, neugierig angezogen von ihrer Schönheit, nach Mytilini gelangt, um sie zu porträtieren. Cleonice entspricht der Ästhetik Winckelmanns vor allem in der perfekten Übereinstimmung zwischen Form und Inhalt: „[N]essuna poteva a lei paragonarsi e in Lesbo ed oltre il mare, sia per lo splendore della bellezza, sia per la soave integrità de’ costumi.“25 Der Maler betrachtet Cleonice als eine Venus und ihre körperlichen Vorzüge werden „maravigliosamente accresciuti dalla naturale di lei modestia“ („wunderbar erhöht durch ihre natürliche Bescheidenheit“)26: Costei è Venere, dicea fra se stesso il Pittore, guardandola immobile; ma poi osservando la casta negligenza del vestire e il non artificioso contegno, variando opinione, gli pareva Diana.27

Die Beschreibung der Cleonice entspricht bis aufs kleinste Detail dem von Winckelmann definierten schönen Stil: die Ebenmäßigkeit, das Kleid, die wie die der Nymphe in die Stirn fallenden Haare28 und selbst die Art, auf den Arm gestützt einzuschlafen. Ganz anders hingegen ist die Figur der Sappho, deren Äußeres „quantunque se non belle, per certo non dispiacevoli e freschissime“ („als nicht

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Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums. Dresden 1764, S. 369f. (= SN 4.1, S. 714–716). In der Übersetzung von Amoretti konnte Alessandro Verri lesen: „Ercole qui rappresentasi quale esser doveva, allorché si purificò col fuoco da tutte le umane debolezze, e fatto immortale ottenne di seder fra gli dei […]. Egli è espresso senza la necessità di nutrirsi, e di oltre usar delle forze, poiché non se gli veggono le vene, e ’l ventre sembra satollo senza aver preso cibo […] Ivi ammirar deve l’artefice ne i contorni del corpo la morbidezza delle forme, il dolce loro passaggio da una all’altra, e i tratti quasi moventisi, che con un molle ondeggiamento si sollevano, e si incavano, e un nell’altro insensibilmente si perdono. […] Le ossa sembrano d’una pingue cute ricoperte, carnosi sono i muscoli, ma senza una superflua pinguedine […].“ (Johann Joachim Winckelmann: Storia delle arti del disegno presso gli antichi. Traduzione italiano di Carlo Amoretti. 2 Bde. Milano 1779, hier Bd. 2, S. 227f.). Verri: Le Avventure di Saffo (wie Anm. 20), S. 131 („[K]eine in Lesbos und jenseits des Meers konnte sich mit ihr vergleichen, weder mit dem Glanz ihrer Schönheit, noch mit ihrer lieblichen moralischen Integrität.“). Ebd., S. 132. Ebd. („Sie ist Venus, sprach der Maler zu sich selbst und schaute sie dabei regungslos an; aber als er die keusche Sorglosigkeit ihrer Kleidung und ihr ungekünsteltes Betragen beobachtete, änderte er seine Meinung und sie schien ihm Diana zu sein.“). Winckelmann: Geschichte der Kunst (wie Anm. 24), S. 227–234 (= SN 4.1, S. 448–462).

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schön, aber angenehm und frisch“)29 beschrieben wird. Bei ihr stechen die intellektuellen Gaben und der lebhafte Blick hervor, besonders während der philosophischen Debatten im Hause von Eutychius; sie erscheint fast wie eine Statue der Pallas Athene. Im Hause von Eutychius hat Sappho auch die Möglichkeit, ihre Ode an Phaon zu deklamieren. Hierzu äußert Verri sehr deutlich seine ästhetische Überzeugung: Nessuno potrà mai invero così energicamente esprimere alcuna passione, quanto colui che la porta nell’animo; ond’è che anche le rozze lingue divengono sublimi nelle estreme angosce e tenere negli affettuosi deliri, quando che rimangono fredde e inanimate le opere de’ più colti ingegni, allorché scrivono con artificiosa imitazione.30

Es ist schwer, in diesem ästhetischen Programm nicht den Verweis auf Winckelmann und den von ihm vertretenen hohen Stil zu erkennen. Die Suche der Sappho zielt also auf die Ataraxie, auf die Winckelmann in seinen Monumenti antichi inediti verweist, im Geist des Ideals der Helden, die „die Hitze der Leidenschaften unterdrücken und nichts zeigen, außer den Funken des Feuers“,31 die sich rühren und bewegen, „aber wie Schiffe, die fest verankert sind“.32

II. Die dunkle Aufklärung In der Interpretation von Musitelli, der den Roman über Sappho zu Recht mit der Geschichte der Kunst Winckelmanns in Verbindung gebracht hat, werden die Figuren Phaon und Cleonice, gemäß dem Winckelmann’schen Gegensatz zwischen der Grazie und dem Erhabenen, der Figur Sapphos gegenübergestellt. In Verris Roman verkörpern Phaon und Cleonice unbestreitbar die reine und harmonische Form der klassischen Welt, während durch Sappho das Große und Energische gegenüber dem Schönen hervorgehoben wird. Meines Erachtens hat Verri die Winckelmann’sche Ästhetik aber so grundlegend in sich aufgenommen, dass er es nicht bei einer einfachen Entgegensetzung der beiden ästhetischen Kategorien belässt. Der Dualismus Winckelmanns wird bei ihm als eine Suche nach der Harmonie zwischen dem hohen Stil, der in den Verwirrungen Sapphos aufscheint, und dem schönen Stil, der Phaon und Cleonice kennzeichnet, aufgefasst. Dies geschieht durch eine komplexe und mitnichten banale Reflexion über die Macht der Leiden29 30

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Verri: Le Avventure di Saffo (wie Anm. 20), S. 204. Ebd., S. 192f. („Niemand kann je so wahrhaftig und kraftvoll eine Leidenschaft ausdrücken, wie derjenige, der sie in der Seele trägt; so wie auch die derben Sprachen in den größten Ängsten erhaben werden und zart im Rausch der Gefühle, so bleiben die Werke der gelehrtesten Geister kalt und seelenlos, wenn sie mit gekünstelter Imitation schreiben.“). Johann Joachim Winckelmann: Monumenti antichi inediti. Rom 1767, S. XLV (= SN 6.1, S. 71:„che sopprimono il bollore delle passioni, non facendo vedere che le sole scintille del fuoco“). Ebd. („ma a guisa di nave che sta fermata con l’ancora”).

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schaften, über das Streben nach dem Unendlichen und schließlich über die Krise des aufklärerischen Optimismus. Daraus entsteht die Suche nach einer Grazie, die Anleihen beim Sentimentalismus wie auch beim Stoizismus macht, einem Stoizismus, der das Streben der Sappho nach einem Gleichgewicht der Leidenschaften leitet,33 ebenso wie die Harmonie der Formen und des Charakters, die Phaon und Cleonice zu Modellen der Perfektion macht. Es wäre meiner Ansicht nach ein Fehler, den Roman von Verri als eine Form von Präromantik zu interpretieren, als Antizipation des Vorrangs der Leidenschaften vor Norm und Regel. Er sollte vielmehr im Lichte eines komplexeren Begriffs von Aufklärung gelesen werden, einem vielschichtigen Phänomen, das von Spannungen durchzogen wird, die man nicht auf die einfache Formel Erleuchtung durch Vernunft reduzieren kann. Verri stellt also nicht der Welt der Helligkeit und Klarheit von Phaon und Cleonice eine dunkle Welt der Leidenschaften gegenüber, er setzt vielmehr die ästhetische Empfehlung Winckelmanns um, jedes künstlerische Element der Grazie unterzuordnen, da sie als Neutralisierung des Aufruhrs der Seele für deren Beruhigung sorgt. Das mindert die irrationale Vorherrschaft der Leidenschaften, anerkennt aber auch deren Kraft und Potential.

III. Sappho und die Suche nach der stillen Größe Der diese Interpretation stützende Kern ist die Figur der Sappho. Alessandro Verris Sappho zeigt zwar anfänglich Züge, die auf die Kategorie des parenthyrsos verweisen, jene emotionale Heftigkeit, die aus dem Leiden stoischer Größe herrührt, eine Kategorie, die Winckelmann in den Gedanken über die Nachahmung behandelt, und die er, wie Reinhard Brandt gezeigt hat, aus der Abhandlung des PseudoLonginus über das Erhabene übernimmt.34 Als sie von Phaon abgewiesen wird, erforscht Sappho die Welt des Erhabenen, von der Leidenschaft dazu getrieben, bricht sie Maß und Anstand, erfährt Dunkelheit und Angst und bewegt sich in Landschaften, die Diderots Beschreibungen der Schiffbrüchigen von Vernet in

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Winckelmann weist in der Geschichte der Kunst darauf hin, dass die Künstler die Natur weder zu verändern noch zu verschönern vermögen und sie daher nur verherrlichen und ihre Haupteigenschaften hervorheben können; diese allgemeine Grundlage führt ihn dazu, zu theoretisieren: „da, wohin der größte Schmerz geleget ist, zeiget sich auch die größte Schönheit“ (= SN 4.1, S. 676). Es ist bedeutsam, dass Amoretti in seiner Übersetzung den Sinn dieses Satzes umkehrt und behauptet, dass „ove sta la maggior bellezza, son pur la sede del dolore“; auf diese Weise vertritt Winckelmann in der Übersetzung Amorettis die These, dass nur dort, wo Schönheit ist, auch der Sitz des Schmerzes liegt, und dass mithin letzterer von der ersten abhängt (Winckelmann: Storia delle arti del disegno (wie Anm. 24), Bd. 2, S. 196). Winckelmann vertrat hingegen in Einklang mit dem stoischen Ideal die gegenteilige Auffassung, dass die Darstellung des Schmerzes der Ausdruck der größten Schönheit sei. Reinhard Brandt: „...ist endlich eine edle Einfalt, und stille Größe“. In: Gaehtgens (Hg.): Johann Joachim Winckelmann 1717–1768 (wie Anm. 1), S. 41–53.

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wildester und furchteinflößendster Natur evozieren.35 Dennoch denke ich nicht, dass man behaupten kann, die Figur der Sappho stelle einen frühromantischen Bruch des klassischen Ideals dar.36 Ich teile nicht nur die Meinung von Musitelli, der festhält, dass Sappho sich immer in einem klassizistischen Rahmen bewegt, welcher am Ende durch Sapphos Tod und das ihr gewidmete Denkmal aus weißem Marmor wiederhergestellt wird. Meine Überzeugung ist es darüber hinaus aber auch, dass die auf das Erhabene zurückgeführten Dynamiken als dem klassischen Ideal innewohnend zu begreifen sind, und nicht etwa als sein Scheitern oder als etwas der Ästhetik Winckelmanns Fremdes. Verris Sappho ist als die narrative Transposition jener heroischen Anstrengung zu verstehen, trotz körperlichen Schmerzes und psychischen Leidens das Ideal einer stillen Größe zu erreichen. Der in der Geschichte der Kunst beschriebene hohe Stil ist meines Erachtens der theoretische Rahmen, auf den Alessandro Verri bei der Komposition seiner Figur der Sappho referiert, und er muss nicht notwendig als der Grazie diametral entgegengesetzt verstanden werden. Sicherlich ist Sappho mit jener Härte und Einfachheit ausgestattet, die Winckelmann in der Athena Medici und in der Niobe ausmacht, während Phaon und Cleonice Beispiele des schönen, zarten und runden Stils sind. Dennoch ist der die Sappho kennzeichnende erhabene Stil nichts anderes als eine spezifische Art, jene „erhabene Grazie“ zu kennzeichnen, die Winckelmann von der „angenehmen Grazie“ zwar unterscheidet, ihr aber nicht entgegensetzt: Mit den Worten von Amorettis Übersetzung handelt es sich vielmehr um questa Grazia che, siccome Venere di cui è ministra, ebbe due diversi nomi presso gli antichi Greci, sembra che siano pure stati attribuiti due differenti caratteri. Una, seguace della Venere Celeste, è di più sublime origine, costante ed immutabile […]. L’altra, compagna della Venere Dionea, è più materiale e terrena [...].37

Die erhabene Grazie, die man in der Niobe dargestellt sieht, ist eine Form der Erhebung, durch die der Künstler si sollevò alla regione delle idee Spirituali, e vi trovò la difficil arte di unire sul medesimo volto le angosce di morte colla più sublime bellezza; e divenne creatore di que’ puri spiriti, e di quelle anime celesti, le quali senza punto movere i sensi eccitano la mente a contemplare

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Siehe die berühmte Beschreibung der Promenade von Vernet in Denis Diderot: Œuvres complètes. Hg. v. Herbert Dieckmann u.a. Bd. 11: Salon 1767. Hg. v. Else Marie Bukdahl u.a. Paris 1990, S. 224–237. Luca Bani hat sich kürzlich in diese Richtung geäußert, und zwar in seinem Vortrag: Un milanese alla corte di Winckelmann. Le „Notti romane“ di Alessandro Verri tra classicismo e preromanticismo (gehalten auf der Tagung Winckelmann, l’antichità classica e la Lombardia, Universität Bergamo, 11.–13. April 2018). Winckelmann: Storia delle arti del disegno (wie Anm. 24), Bd. 2, S. 92f. („jene Grazie, der, da Venus, ihre Vestalin, zwei Namen bei den antiken Griechen hatte, auch offenbar zwei verschiedene Charaktere zuerkannt wurden. Die eine folgt der Himmlischen Venus und ist von erhabenerem Ursprung, konstant und unwandelbar […]. Die andere ist die Gefährtin der Venus Dionea und ist materieller und irdischer [...].“).

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1’essenza del bello. Quelle figure diffatti sembrano non essere state formate per le passioni, ma solo averle adottate.38

Unweigerlich denkt man hier an die Figur der Sappho bei Verri, wie sie versucht, ihre Leidenschaft zu beherrschen, eine Leidenschaft freilich, die ihr als göttliche Strafe zugefügt wurde. In seinem vielzitierten Artikel über die Grazie hat Édouard Pommier diese Duplizität der Grazie unterstrichen und dabei ihren symbolischen Charakter hervorgehoben: Auch wenn es unmöglich ist, sie kategorisch zu definieren, ist die Grazie in der Tat ein Referenzgefüge, das über Regel und Technik hinausgeht und bei dem die Form den höchsten Inhalt der puren, sinnlich wahrnehmbaren Schönheit ausdrückt. Die Grazie lässt sich also durchaus mit der Kategorie des Sublimen vereinen, d.h. mit einer Form der Erhebung über die Sinne hin zu einem moralischen Horizont. Und genau in diesem Referenzgefüge wird der Platonismus erkennbar, der die Winckelmann’sche Ästhetik von Grund auf charakterisiert: Winckelmann sieht die Grazie in den Bereich der abstrakten Schönheit gerückt und transponiert sie in das Reich des Geistes und der Ethik, da sie die Bezwingung der äußerlichen Manifestation von inneren Bewegungen ist. Die Grazie ist von der Heftigkeit der Leidenschaften, die nicht ausgedrückt, aber auch nicht unterdrückt, sondern vielmehr akzeptiert werden müssen, verschleiert.39 Zugleich erinnert Pommier daran, dass die Grazie wie geschmackloses Wasser ist: Sie hat keine feste Form, sie ist pure Möglichkeit, das Unendliche der Vollkommenheit. Es zeichnet sich so ein schwaches Gleichgewicht ab, bei dem die Suche nach der Grazie sich zwischen schönen Formen und moralischer Erhöhung bewegt, zwischen einem leidenschaftlichen Temperament und der stoischen Fähigkeit, die Leidenschaft der Vernunft unterzuordnen, in einer typisch aufklärerischen Verschmelzung von Ästhetik und Ethik.40 Es scheint mir an diesem Punkt überflüssig zu betonen, dass der hohe Stil, den Verri durch die Figur der Sappho ausdrückt, auch im Licht des komplexen, spezifisch Winckelmann’schen Begriffs der Grazie zu lesen ist. Präzisiert werden muss dabei, dass in der Übersetzung Amorettis, auf die Alessandro sich bezieht, der von Winckelmann beschriebene ‚hohe Stil‘ fast immer mit „stile sublime“ (erhabener Stil) wiedergegeben wird. Giuseppe Pucci hat diesbezüglich darauf hingewiesen, dass das Adjektiv ‚erhaben‘ sicherlich auf den hohen Stil referiert, „aber nie in einer klassifizierenden Funktion, mit Bezug auf 38

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Ebd., S. 94 („sich in den Bereich der geistigen Ideen erhob, wo er die schwierige Kunst erlangte, auf demselben Gesicht die Todesangst mit der erhabensten Schönheit zu vereinen; und wurde zum Erschaffer dieser reinen Geister und dieser himmlischen Seelen, die ohne die Sinne zu bewegen, den Geist dazu anregen, das Wesen des Schönen zu betrachten. Diese Figuren scheinen wahrlich nicht für die Leidenschaften gebildet zu sein, sondern sie nur angenommen zu haben.“). Édouard Pommier: La notion de grâce chez Winckelmann. In: Ders. (Hg.): Winckelmann: la naissance de l’histoire de l’art à l’époque des Lumières. Paris 1991, S. 39–81, hier S. 59f. Ebd., S. 67.

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einen präzisen Stil“.41 Wenn Alessandro Verri die Figur der Sappho dem erhabenen Stil zuschreibt, ist wiederum zu berücksichtigen, dass er nicht einen Stil meint, der dem Schönen und der Grazie entgegensetzt ist, sondern sich im Gegenteil eben gerade auf die Winckelmann’sche Vorstellung der Grazie bezieht. An Verris Le Avventure di Saffo, so lässt sich abschließend festhalten, kann zum einen gezeigt werden, dass der Roman Resultat und Ausdruck einer aufklärerischen Rezeption der Ästhetik Winckelmanns ist und mit Blick auf Winckelmanns Begriff der sublimen Grazie Alessandro Verris tiefes Verständnis der Geschichte der Kunst offenbart. Zum anderen kann er bei der Frage helfen, inwieweit bei Winckelmann, besonders in der Geschichte der Kunst, die Grazie und das Sublime vor dem Hintergrund seines ästhetischen Dualismus gelesen werden müssen. Phaon, Cleonice und Sappho sind keine voneinander getrennten Welten, sondern zwei verschiedene Ausdrucksweisen derselben Grazie, die zu derselben theoretischen Schlussfolgerung führen: Beherrschung und zugleich Akzeptanz der Leidenschaften. In diesem Zusammenhang ist der Artikel von Reinhard Brandt hilfreich, in dem dieser die Beziehung zwischen der Grazie und dem Sublimen im Dualismus Winckelmanns behandelt: So wie im Laokoon, gemäß der typischen Duplizität des Sublimen, der Mensch ein Element der Natur und zugleich Geist ist, der ihr widersteht, so muss in einem Kunstwerk die Seele in ihrer Ruhe und zugleich in ihrer Kraft erscheinen.42 Die von Winckelmann derart angelegte dualistische Struktur des Ästhetischen meint dabei nicht einen Gegensatz zwischen der Grazie und dem Sublimen, sondern, im Gegenteil, ihre gegenseitige Durchdringung in einer komplexen Struktur von Verweisen, bei der die ethische Größe überwiegt. Die Beherrschung der Leidenschaften ist demnach also nur durch den Ausdruck des Leidens möglich. Die von Brandt vertretene These, nach der Winckelmann das Schöne und das Sublime im Wesentlichen als Synonyme gebrauche, scheint mir zwar etwas gewagt,43 aber sie ermöglicht es, die Vision der Ästhetik als eine vom Gegensatz geleitete zu überwinden. Brandt stellt Winckelmann zu Recht in die Tradition von Sulzer und Kant, in der das Schöne als Symbol von Moralität aufgefasst wird, und das Erhabene jene Kategorie ist, die das Schöne (oder das Angenehme) in diesem Referenzgefüge ergänzt und damit die Distanz wie auch die Verbindung zwischen Beherrschung der Sinne und Leidenschaften und ethischer Größe verstärkt.44 In der 41

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Giuseppe Pucci: Winckelmann e il sublime. In: Tecla – Rivista di temi di Critica e Letteratura artistica 4 (2011), S. 54–67, hier S. 55 („ma mai in funzione classificatoria, con riferimento ad uno stile preciso“). Brandt: „...ist endlich eine edle Einfalt“ (wie Anm. 34), S. 45. Ebd., S. 48. Winckelmann reiht sich in diese ästhetische Tradition schon 1755 mit den Gedanken ein, wo er in aller Deutlichkeit formuliert, dass die künstlerische Nachahmung nicht die Form betreffe, sondern die heroischen Stärken des Geistes; im Unterschied zu dem, was Lessing vertreten wird, ist das, was bei dem ästhetischen Vergnügen überwiegt, nicht das Mitleid mit dem Leidenden, sondern die Erwartung, dass dieser sich wie ein Held verhalte.

Die Abenteuer von Sappho und die Ästhetik der Grazie

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italienischen Rezeption zeigt Verris Roman Le Avventure di Saffo diese der Grazie zugrunde liegende komplexe Dialektik in einer narrativen Form, in der Sappho Phaon und Cleonice nicht einfach entgegengesetzt wird, sondern sie sich selbst der Suche nach der Grazie verpflichtet; Sappho ist also jenes Element des edlen Sublimen, das die stille Schönheit von Phaon und Cleonice ergänzt. Daraus geht zweierlei hervor, das zugleich miteinander in Beziehung steht: Von einem historischen Gesichtspunkt aus wird Alessandro Verris Selbstverpflichtung auf den Winckelmann’schen Klassizismus deutlich, einen Klassizismus, der sich dabei auch mit seinen aufklärerischen Überzeugungen verbindet; unter einem theoretischen Gesichtspunkt wird die ganze Komplexität der ästhetischen Kategorie der Grazie deutlich, die – wie die Beziehung zwischen Winckelmann und Alessandro Verri zeigt – nicht auf die Ruhe der schönen Formen reduziert werden kann, sondern auch auf die stoische und sublime Suche nach der Befriedung der Leidenschaften ausgreift. Übersetzung von Gudrun Wiesel (unter Mitarbeit von Aleksandra Ambrozy)

CHRISTOPH SCHMÄLZLE

Antike im Zeitalter der Romantik. Zur italienischen Laokoon-Ikonographie nach 1800 Auf dem 12. Internationalen Kongress für Kunstgeschichte, der 1930 in Brüssel stattfindet, trifft der französische Kunsthistoriker René Schneider eine grundsätzliche Feststellung zur Antikenrezeption: „[...] la vertu des antiques est telle que chacun trouve en eux ce qu’il cherche.“1 Schneider zielt damit auf einen blinden Fleck der traditionellen Laokoon-Forschung, nämlich die Rezeption des Meisterwerks in der französischen und flämischen Kunst des 17. Jahrhunderts, insbesondere bei Peter Paul Rubens. Angesichts der neoklassizistischen Klischees, die der Laokoon-Gruppe seit Winckelmanns Gedancken über die Nachahmung von 1755 anhaften, irritiert ihre ‚barocke‘ Deutung vielleicht.2 Doch hatte Aby Warburg schon 25 Jahre vor Schneider gegen die „einseitig klassizistische Doktrin von der ‚stillen Größe’ des Altertums“ polemisiert und Winckelmanns ‚apollinische’ Sicht auf die Skulptur in Frage gestellt.3 Letztlich sichert gerade die Interpretationsoffenheit der antiken Kunst ihre Nachwirkung über stil- und weltgeschichtliche Umbrüche hinweg. Die Aufgabe, sich die Vergangenheit produktiv anzueignen, stellt sich für jede Generation neu. An den Akademien des 19. Jahrhunderts treten zwar ‚moderne‛ Paradigmen wie das Charakteristische oder das Romantische in den Vordergrund. Der Kanon der klassizistischen Kunstliteratur von Vasari bis Winckelmann und das Zeichnen nach überlieferten Vorbildern bleiben parallel dazu aber weiter verbindlich. Die Kunst des ‚bürgerlichen Zeitalters‘ reflektiert entsprechend die ganze Bandbreite möglicher Antikenbezüge. Gegenstand der folgenden Untersuchung sind akademische Darstellungen des Laokoon-Mythos aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Einige von ihnen brechen bewusst mit der Tradition des Neoklassizismus und rekurrieren statt dessen auf Deutungsmuster der Frühen Neuzeit.

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René Schneider: Le prestige et l’influence du Laocoon en France et en Flandre au XVIIe siècle. In: Actes du XIIe congrès international d’histoire de l’art sous le haut patronage de S. M. le Roi des Belges. 2 Bde. Brüssel 1930, Bd. 1, S. 95f. u. Bd. 2, S. 377–390, hier S. 377: „[...] die Wirkung der Antiken ist dergestalt, dass jeder in ihnen findet, wonach er sucht.“ [Übers. Ch. S.]. Vgl. Christoph Schmälzle: Laokoon als Richtschnur der ‚barocken‘ Kunst. In: Abgekupfert. Roms Antiken in den Reproduktionsmedien der Frühen Neuzeit. Ausstellungskatalog Göttingen 2013/14. Hg. v. Manfred Luchterhandt u.a. Petersberg 2013, S. 101–114; Ders.: Laokoon in der Frühen Neuzeit. 2 Bde. Frankfurt a.M. u. Basel 2018. Aby Warburg: Dürer und die italienische Antike. In: Verhandlungen der 48. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Hamburg vom 3. bis 6. Oktober 1905. Leipzig 1906, S. 55–60, hier S. 55.

https://doi.org/10.1515/9783110710373-004

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I. Produktive Aneignung 1829 gewinnt der Maler Luigi Lolli de Lugo einen Wettbewerb der Akademie in Bologna zu deren baulicher Ausschmückung. Das Sujet seines Freskos in den Arkaden der Hochschule leistet eine Verhältnisbestimmung von Antikenstudium und aktuellem Kunstschaffen (Abb. 1): „Annibale Carracci che di memoria disegna il Laocoonte sul muro alla presenza di Agostino suo fratello.“4

Abb. 1: Luigi Lolli de Lugo, Annibale Carracci zeichnet die Laokoon-Gruppe, 1829, Fresko, Accademia di Belle Arti, Bologna

Es liegt nahe, sich in diesem Zusammenhang auf die Carracci als Gründerväter der Bologneser Akademie zu beziehen. Ein gängiges kunsthistorisches Narrativ, auf das auch Winckelmann rekurriert, lobt sie als Neuerer der Kunst nach dem Manierismus.5 Die dargestellte Geschichte ist schnell erzählt. Sie findet sich ebenso bei Giovanni Battista Agucchi wie in Belloris Vite und Malvasias Felsina Pittrice:6 In 4

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Gaetano Giordani: Guida per la pontificia accademia di belle arti in Bologna. Bologna 1846, S. 23 u. 64, Anm. 62; Andrea Emiliani (Hg.): La pinacoteca nazionale di Bologna. Bologna 1967, S. 22: „Annibale Carracci, der den Laokoon im Beisein seines Bruders Agostino aus dem Gedächtnis an die Wand zeichnet.“ [Übers. Ch. S.]. Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums. Dresden 1764, S. 248 u. 365 (= SN, Bd. 4.1, S. 478 u. 708). Denis Mahon: Studies in seicento art and theory. London 1947, S. 253f. Vgl. Giovanni Pietro Bellori: Le vite de pittori, scultori et architetti moderni. Parte Prima. Rom 1672, S. 31; Carlo Cesare Malvasia: Felsina pittrice. Vite de pittori bolognesi. 2 Bde. Bologna 1678, Bd. 1, S. 480.

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einem Kunstgespräch mit Kardinal Farnese und anderen Gästen über die LaokoonGruppe brilliert Agostino Carracci mit seiner rhetorischen Gewandtheit. Sein Bruder Annibale verfolgt das Geschehen erst schweigend. Dann greift er zum Kohlestift und zeichnet aus dem Stegreif den Umriss der Laokoon-Gruppe an die Wand, um abschließend zu erklären: „Noi altri Dipintori habbiano da parlare con le mani.“7 Lolli lokalisiert die Begebenheit, die meist als Kritik an der gedanklichen Überfrachtung des Antikendiskurses gelesen wird, in der römischen Galleria Farnese. Dort sind die Brüder ab 1597 tätig, um das Deckengewölbe mit einem später berühmt gewordenen Zyklus auszumalen. Auf den Palast verweisen nicht nur die Architekturelemente und Statuennischen im Hintergrund, sondern auch die beiden Vorstudien im Bild. Auf der Staffelei ist eindeutig die Szene mit Polyphem, Acis und Galatea zu erkennen. Die Skizze auf dem Beistelltisch meint mit hoher Wahrscheinlichkeit das Paar Glaukos und Skylla. Die beiden Schüler am rechten Bildrand sollen wohl Francesco Albani und Domenichino sein, die Annibale bei der Vollendung des Zyklus geholfen haben. Die Hauptszene gilt dem topischen Wettstreit zwischen den Brüdern. Während der Kardinal Farnese nur Augen für die Laokoon-Zeichnung hat, sind Annibale und Agostino als Gegensätze angelegt. Die ausgebreiteten Arme des vor seiner Stegreifzeichnung sitzenden Annibale fungieren als Lollis zentrales visuelles Argument. Mit dem Bild an der Wand, i.e. der perfekt imitierten antiken Form, kann das Buch, das Agostino in seiner Rechten hält, nicht konkurrieren. Der Disegno triumphiert deutlich über die bloß rhetorische Gewandtheit. Bei Agucchi hat die Anekdote eine zweite Pointe, die Bellori und Malvasia nicht mehr zitieren: Nachdem Annibale alle zum Schweigen gebracht hat, setzt er erneut an und zeichnet auf Papier einen Laokoon, „di sua propria inuentione, tutto diuerso da quello antico di marmo“ – ein von allen bewundertes Werk, das der Kardinal sofort für seine Sammlung erwirbt.8 Die finale Volte gilt dem Akademiegedanken. Denn die Verinnerlichung des antiken Formenschatzes ist kein Selbstzweck, sondern befähigt zu eigenen Schöpfungen, die den Vergleich mit den Alten nicht scheuen müssen.

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Mahon: Studies in seicento art and theory (wie Anm. 6), S. 254: „Wir Maler müssen mit den Händen sprechen.“ [Übers. Ch. S.]. Ebd.: „nach seiner eigenen Erfindung, ganz anders als jener antike aus Marmor“ [Übers. Ch. S.]. Die Zeichnung ist nicht mehr nachweisbar. Möglicherweise dokumentiert eine Sisto Badalocchio zugeschriebene Kopie im Louvre das Motiv. Vgl. Catherine Loisel (Hg.): Dessins bolonais du XVIIe siècle. Bd. 2. Paris 2013 (Inventaire général des dessins italiens. Musée du Louvre, Département des Arts Graphiques, Bd. 10), Kat.-Nr. 387, S. 268.

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II. Text und Bild Die Geschichte selbständiger Laokoon-Darstellungen, die sich vom übermächtigen Vorbild der vatikanischen Gruppe abgrenzen und dafür verstärkt am Text der Aeneis orientieren, ist ein eigenes Feld der Laokoon-Forschung. Die Kunst der Frühen Neuzeit, aber auch die des 19. Jahrhunderts, kennt zahlreiche Beispiele für dieses Phänomen.9 Insbesondere in Norditalien entstehen an der Schwelle zur Moderne einige prominente Arbeiten, auf die im Folgenden einzugehen sein wird. Die Adaption antiker Muster für die neuzeitliche Malerei, Grafik oder Skulptur ist oftmals mit medialen Transfers verbunden. Das gilt erst recht, wenn Anklänge an berühmte Formvorlagen bei der Behandlung mythologischer Stoffe vermieden werden sollen. In seinen Tableaux tirés de l’Iliade, de l’Odyssée d’Homère et de l’Enéide de Virgile von 1757 systematisiert der Comte de Caylus das Problem als einer der ersten. Mit dem Gestus des adligen Amateurs, der den unbelesenen Praktikern die Richtung vorgeben will, übersetzt er die antiken Texte in eine Kette lohnender Bildmotive, wobei er im Detail vielfach hohe Kennerschaft beweist. Die Laokoon-Handlung aus Vergils Aeneis zerlegt Caylus in drei bildwürdige Szenen: Laokoons Angriff auf das hölzerne Pferd, seinen Tod am Altar mit beiden Söhnen, die Flucht der Schlangen in den Minerva-Tempel.10 Während der Lanzenwurf in frühneuzeitlichen Illustrationszyklen gut belegt ist, bleiben die Schlangen vor dem Kultbild ein Nebenmotiv der Kunstgeschichte. Die Einholung des todbringenden Pferdes liegt hier als Sujet sehr viel näher. Der künstlerisch fruchtbarste Gegenstand, der auch als Einzelbild funktioniert, ist – wenig überraschend – Laokoons Agonie. Caylus räumt der vatikanischen Marmor-Gruppe als Skulptur durchaus kanonischen Status ein. Doch hat dies Künstler wie Adriaen de Vries schon im 17. Jahrhundert nicht daran gehindert, mit ihr in Wettstreit zu treten und eine eigene Version des Themas vorzulegen.11 Eine grafische oder malerische Umsetzung, wie sie Caylus vorschwebt, muss gleichermaßen dem Text der Aeneis gerecht werden wie die durch das antike Meisterwerk begründete Formtradition reflektieren. Anders als eine Skulptur kann ein Tableau die „accessoires très-nécessaires à l’explication du texte“12 ebenso leicht zeigen wie den Schauplatz der Szene im Ganzen. 9 10

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Schmälzle: Laokoon in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 189–249. Anne Claude Philippe Comte de Caylus: Tableaux tirés de l’Iliade, de l’Odyssée d’Homère et de l’Enéide de Virgile; avec des observations générales sur le Costume. Paris 1757, S. 301– 305. Adriaen de Vries. 1556–1626. Augsburgs Glanz – Europas Ruhm. Ausstellungskatalog Augsburg 2000. Hg. v. Björn R. Kommer. Heidelberg 2000, Kat.-Nr. 33, S. 297–299; Jane Bassett: The Craftsman Revealed. Adriaen de Vries. Sculptor in Bronze. Los Angeles 2008, S. 196– 205. Caylus: Tableaux tirés (wie Anm. 10), S. 304: „für die Erklärung des Textes unerläßliche Requisiten“ [Übers. Ch. S.].

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Quoique les deux serpens eussent saisi les enfans de Laocoon avant que de l’avoir enveloppé lui-même, je réunirois ces deux instans, & je représenterois ce groupe infortuné dans l’intention de la statue antique. Les habits du Prêtre de Neptune ajoûteroient peut-être des richesses, du moins quelque vraisemblance; ceux des enfans, quelque légers qu’ils puissent être, produiroient le même effet. Laocoon, dont on verroit les armes abandonnées, sacrifioit un taureau sur l’Autel de Neptune; cette richesse, loin d’être postiche, est liée & nécessaire au sujet: la mer qui feroit le fonds du Tableau, ne serviroit qu’à détacher encore plus les figures: ce desordre, la crainte & l’étonnement des Spectateurs, seroient favorables au génie de l’Artiste, & la composition plus riche ne seroit pas moins intéressante.13

Ein Maler, der sich des Laokoon-Themas annehmen will, muss demnach einige Entscheidungen treffen: Legt er den Todeskampf als kompakte Dreiergruppe an oder entfaltet er die Handlung stärker im Raum? Lässt er den Figuren ihre heroische Nacktheit oder beweist er malerische Kompetenz in der Wiedergabe stofflicher Qualitäten?14 Welche Requisiten kommen ins Bild und wo spielt die Szene? Sind im Hintergrund die Mauern Troias zu sehen und spiegeln Assistenzfiguren die Drastik des Geschehens? Mehr als andere Sujets verlangt die Agonie des Laokoon die Balance zwischen erwartbaren Elementen und einer eigenständigen Erfindung.

III. Konjunkturen eines Sujets Es sind nicht zuletzt Publikationsprojekte, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Interesse an Laokoon als Gegenstand der Kunst wachhalten. Noch bevor Carlo Fea in Rom seine Übersetzung von Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums vorlegt, erscheint 1779 in Mailand eine erste italienische Ausgabe in zwei Bänden.15 Verantwortlich zeichnet Carlo Amoretti, der spätere Bibliothekar der Biblioteca Ambrosiana, wo sich seit 1684 Rubens’ berühmte Laokoon-Studien befinden.16 13

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Ebd.: „Obwohl die beiden Schlangen die Kinder des Laokoon packten, bevor sie ihn selbst umwickelten, würde ich beide Momente vereinen und diese unglückliche Gruppe gemäß der Intention der antiken Statue darstellen. Die Gewänder des Neptunpriesters würden gewiss einiges an Pracht hinzufügen, zumindest aber die Wahrscheinlichkeit erhöhen; jene der Kinder, wie leicht sie auch sein mögen, hätten denselben Effekt. Laokoon, dessen zurückgelassene Waffen man sähe, würde einen Stier am Altar des Neptun opfern; dieser Reichtum, weit davon entfernt, unangemessen zu sein, ist mit dem Sujet verbunden und notwendig. Das Meer, das den Hintergrund des Bildes abgäbe, diente nur dazu, die Figuren noch mehr hervorzuheben: das Chaos, die Furcht und die Verwunderung der Betrachter kämen dem Genie des Künstlers entgegen und die reichere Komposition wäre mitnichten weniger interessant.“ [Übers. Ch. S.]. Vgl. Christoph Schmälzle: Der Mantel des Schweigens. In: Christine Kutschbach u. Falko Schmieder (Hg.): Von Kopf bis Fuß. Bausteine zu einer Kulturgeschichte der Kleidung. Berlin 2015, S. 257–262. Vgl. Stefano Ferrari: Carlo Amoretti e la ‚Storia delle Arti del Disegno‘ (1779) di Winckelmann: In: Ders. u. Giulia Cantarutti (Hg.): Paesaggi europei del Neoclassicismo. Bologna 2007, S. 191–212. Francesca Massaro: Il Laocoonte di Rubens. In: Gemma Sena Chiesa u. Elisabetta Gagetti (Hg.): Laocoonte in Lombardia. 500 anni dopo la sua scoperta. Mailand 2007, S. 71–94, hier S. 73.

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Anders als in den Gedancken über die Nachahmung würdigt Winckelmann die Laokoon-Gruppe in seinem Hauptwerk als Ganzes und verzichtet auf literarische Querverweise wie den berühmten Vergleich mit Vergils Schilderung in der Aeneis.17 Dass die Illustration in Amorettis Ausgabe dennoch nur den Vater als Brustbild zeigt, ist kein Anachronismus.18 Vielmehr folgt die Darstellung einer Büste aus der Villa des Marchese Pompeo Litta in Lainate bei Mailand und verzahnt das Publikationsprojekt auf diese Weise mit dem Kunstbesitz eines prominenten Subskribenten.19 1790 legt der Dichter Clemente Bondi in Parma den ersten Band seiner ambitionierten Vergil-Übersetzung vor.20 Sie soll die noch aus dem 16. Jahrhundert stammende Version von Annibale Caro ersetzen und erhält internationale Aufmerksamkeit.21 Als Bartolomeo Pinelli 1811 einen Zyklus mit 50 Illustrationen zur Aeneis publiziert, legt er den Band als eine Art Nachtrag zu Bondis Werk an.22 Die querformatigen Motive tragen als Bildunterschriften Auszüge der neuen Übersetzung. Statt auf die Verszählung des Originals verweist Pinelli, was äußerst unüblich ist, auf die Seitenzahlen bei Bondi. Pinellis Wiedergabe der Laokoon-Szene bleibt ganz dem neoklassizistischen Idiom seiner Zeit verpflichtet (Abb. 2). Nur die Haupthandlung ist mit Schraffuren ausmodelliert, den Rest des Blattes gestaltet er im nüchternen Umriss-Stil. Auffällig sind die übergroßen Schlangen, die Laokoon in den Oberschenkel und den gebeugten Arm beißen. Zur weiteren Dramatisierung des Geschehens tragen die Rauchsäule auf dem Altar und Laokoons gebauschter Mantel bei, beides Motive der barocken Laokoon-Ikonographie.23 Gerahmt wird die Kampfgruppe am linken Bildrand durch Opfergerät und den fliehenden Stier sowie rechts durch troianisches Militär.

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Christoph Schmälzle: Was Laokoons Seufzen bedeutet. Das Winckelmann-Autograph der Bibliotheca Bodmeriana. In: Text. Kritische Beiträge 11 (2006), S. 161–179, hier S. 169f. Johann Joachim Winckelmann: Storia delle arti del disegno presso gli antichi. 2 Bde. Übers. v. Carlo Amoretti. Mailand 1779, Bd. 2, S. 188. Ebd., S. 194, Anm. 2 u. S. 340. L’Eneide tradotta in versi italiani da Clemente Bondi. Parma 1790 (Bd. 1) u. 1793 (Bd. 2). Vgl. die anerkennende Rezension in: Jenaer Allgemeine Literatur-Zeitung 1 (1791), Sp. 198– 200. L’Eneide di Virgilio. Tradotta da Clemente Bondi. Inventata ed incisa all’aquaforte da Bartolomeo Pinelli Romano. Rom 1811. Bereits 1810 erscheinen im Selbstverlag 24 Tafeln vorab (Staatsbibliothek zu Berlin, Signatur: 4" Wd 1225). Vgl. Werner Suerbaum: Handbuch der illustrierten Vergil-Ausgaben. 1502–1840. Hildesheim 2008, Kat.-Nr. VP 1811A, S. 607– 613. Vgl. Schmälzle: Laokoon in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 213f.

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Abb. 2: Bartolomeo Pinelli, Tod des Laokoon und seiner Söhne, 1811, Radierung, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Weimar (Tafel 9 aus: L’Eneide di Virgilio. Tradotta da Clemente Bondi. Inventata ed incisa all’aquaforte da Bartolomeo Pinelli Romano. Rom 1811)

Die Posen der Hauptfiguren sind von der vatikanischen Gruppe abgeleitet, meinen aber einen etwas späteren Moment des Geschehens: Der linke Sohn liegt tot am Boden, der rechte ist eng an den Vater gerückt, aber noch unverletzt, während Laokoon selbst auf dem Höhepunkt seiner Bedrängnis geschildert wird. Nach einer Deutung des 16. Jahrhunderts, die bis zu Goethes Über Laokoon ausstrahlt, repräsentiert die Gruppe drei Phasen der Agonie, nämlich von links nach rechts Tod, schmerzvolle Klage und Mitleid bzw. Angst.24 Der Leichnam am Boden rekurriert zudem auf ein sehr altes Motiv der Laokoon-Ikonographie.25 Dass nur einer der beiden Söhne an der Seite des Vaters ringt, erzeugt Abwechslung im Bild und passt sehr gut zu Vergils zeitlich gedehnter Schilderung in der Aeneis. Im Jahr 1822 werden in Mailand Stimmen laut, die eine italienische Übersetzung von Lessings Laokoon fordern.26 Es dauert noch ein Jahrzehnt, bis in Voghera

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Ulisse Aldrovandi: Delle statue antiche, che per tuttta Roma, in diuersi luoghi, & case si ueggono [1556]. In: Lucio Mauro: Le antichità della citta di Roma. Venedig 1558, S. 115–315, hier S. 119. Vgl. Sonia Maffei: La fama di Laocoonte nei testi del Cinquecento. In: Salvatore Settis: Laocoonte. Fama e stile. Rom 1999, S. 85–230, hier S. 166, 194 u. 204. Bereits die beiden im 19. Jahrhundert in Pompei entdeckten Laokoon-Fresken folgen diesem Muster. Auch in der Kunst der Frühen Neuzeit finden sich viele Beispiele für diese visuell attraktive Aufteilung. Vgl. Schmälzle: Laokoon in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 59 u. 211f. Alessandro Costazza: Die ‚Laokoon-Rezeption’ in Italien im 19. Jahrhundert. In: Lessing Yearbook 32 (2000), S. 117–139, hier S. 118. Allerdings meint ‚Laokoon-Rezeption‘ bei Costazza ausschließlich das Nachleben von Lessings gleichnamigem Text, nicht aber das der vatikanischen Marmorgruppe.

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eine anonyme, unzuverlässige Ausgabe erscheint.27 Erst 1833 publiziert Carlo Giuseppe Londonio seine Übertragung, die zu Recht breiten Beifall findet.28 Da Lessings Werk mit einer Kritik von Winckelmanns Laokoon-Deutung in den Gedancken über die Nachahmung beginnt, bringt Londonios Buch auch deren Kernthesen wieder ins Gespräch. Neben der Charakterisierung der antiken Kunst durch „edle Einfalt“ und „stille Größe“ zählt dazu die Annahme, die LaokoonGruppe zeige einen durch Sittlichkeit – oder kluge Kunstregeln – gemäßigten Schmerz. Die Bedeutung von Londonios Auseinandersetzung mit Lessing wird vor dem Hintergrund seiner Karriere besonders deutlich: Seit 1818 fungiert er als Generaldirektor der lombardischen Gymnasien. 1832 wird er Präsident der Mailänder Kunstakademie. Die Übersetzung, mehr aber noch der 1841 erschienene Band mit den Fragmenten zum zweiten Teil des Laokoon, gehören in den Zusammenhang einer generellen Diskussion über eine zeitgemäße Historienmalerei in Italien und das Verhältnis des Neoklassizismus zur ‚romantischen Schule‘.29

IV. Historienmalerei nach Vergil Die Suche nach einer vom antiken Vorbild unabhängigen Laokoon-Ikonographie erlebt nach der Frühen Neuzeit einen letzten Zenit im 19. Jahrhundert. Noch während sich das Original kriegsbedingt in Paris befindet, schreibt die Mailänder Akademie 1812 einen Wettbewerb für Historienmaler aus.30 Gewünscht ist eine an der Aeneis orientierte, aber vom Ballast der Tradition emanzipierte Darstellung: „Il Laocoonte preso dalla descrizione fattane da Virgilio, ed esclusa l’imitazione del celebre gruppo“.31 Die Abgrenzung gegenüber der vatikanischen Gruppe ist programmatisch gemeint. Sie öffnet die Tür zu einer dezidiert ‚modernen‘ Auffassung des Sujets, zumal literarische Stoffe in der Kunst dieser Zeit ohnehin Konjunktur haben. Von den drei eingereichten Arbeiten werden nur zwei zur Ausstellung in der Accademia di Brera zugelassen. Deren Urheber genießen prominente Protektion: Antonio de Antoni ist Schüler des neoklassizistischen Malers Andrea Appiani, 27 28

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Gotthold Ephraim Lessing: Il Laocoonte. Prima versione italiana. Voghera 1832. Gotthold Ephraim Lessing: Del Laocoonte o sia dei limiti delle pittura e della poesia. Übers. v. Carlo Giuseppe Londonio. Mailand 1833. Vgl. Costazza: Die ‚Laokoon-Rezeption‘ in Italien (wie Anm. 26), S. 119. Gotthold Ephraim Lessing: Frammenti della seconda parte del Laocoonte. Übers. v. Carlo Giuseppe Londonio. Mailand 1841. Vgl. Costazza: Die ‚Laokoon-Rezeption‘ in Italien (wie Anm. 26), S. 119f. u. 124–126. Vgl. Angela Cerutti: Un concorso per Laocoonte. In: Sena Chiesa u. Gagetti (Hg.): Laocoonte in Lombardia (wie Anm. 16), S. 107–122. Discorsi letti nella grande aula del Palazzo Reale delle Scienze e delle Arti in Milano 8 (1812), S. 49: „Laokoon nach der Beschreibung, die Vergil von ihm gibt, unter Ausschluss der Nachahmung der berühmten Gruppe“ [Übers. Ch. S.].

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einem Hofmaler Napoleons. Francesco Hayez weiß Antonio Canova und Leopoldo Cicognara hinter sich.32 Die Jury findet zu keinem eindeutigen Urteil und erteilt beiden Künstlern den Preis, da zwar die Behandlung des Gegenstandes verschieden, das Verdienst aber identisch sei.33 Im Unterschied zu Hayez’ Werk, das bis heute einen gewissen Nachruhm genießt, ist de Antonis Wettbewerbsbeitrag fast vollkommen vergessen und in beklagenswertem Zustand (Abb. 3).34

Abb. 3: Antonio de Antoni, Laokoon-Episode nach Vergil, Bildmotto: »disgroppar con le man tentava indarno«, 1812, Öl auf Leinwand, Pinacoteca di Brera, Mailand

Die Komposition hat einige Gemeinsamkeiten mit älteren Lösungen der Bildaufgabe: die Lokalisierung vor einer Steilküste, die heroische Nacktheit der Protagonisten, die dramatisch beleuchteten Wolken über dem Meer. Nicht von ungefähr erinnern diese Elemente an das einflussreiche Laokoon-Gemälde von Pieter Claesz. Soutman aus dem frühen 17. Jahrhundert, von dem drei Fassungen belegt sind.35 Am linken Bildrand, überragt von den Mauern Ilions, weichen die Troianer 32 33 34

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Cerutti: Un concorso per Laocoonte (wie Anm. 30), S. 107. Ebd., S. 108. Vgl. Discorsi letti nella grande aula (wie Anm. 31), S. 49. Federico Zeri (Hg.): Pinacoteca di Brera. Dipinti dell’Ottocento e del Novecento. Collezioni dell’Accademia e della Pinacoteca. 2 Bde. Mailand 1993/94, Bd. 1: A–L (1993), Kat.-Nr. 239, S. 220f.; Cerutti: Un concorso per Laocoonte (wie Anm. 30), S. 116f. Vgl. Guillaume Ambroise (Hg.): Musée des beaux-arts de Bordeaux. Guide des collections. XVIe–XXe siècle. Bordeaux 2010, S. 43; Staatliche Museen Kassel (Hg.): Gemäldegalerie

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mit Gebärden der Abwehr und des Entsetzens vor dem Geschehen zurück. Der zum Opfer vorbereitete Altar und der Rauch, der von ihm aufsteigt, trennen diese Gruppe von der Hauptszene am Strand. Dieses Motiv, das sich oft auch in Buchillustrationen neu findet, dient gleichermaßen der narrativen Kontextualisierung wie der Etablierung eines bildimmanenten Betrachterstandpunkts: Die Troianer sind die ersten Zeugen und Interpreten von Laokoons grausamem Tod. Deutlich ist das Bemühen um ein – gerade im Gegensatz zu Winckelmanns Ideal der Affektdämpfung – sentimental gesteigertes Pathos. Im Mittelpunkt des Gemäldes steht Laokoons bärtiges Haupt, dem man die Verwandtschaft mit dem antiken Vorbild deutlich anmerkt. Der Priester, den die Götter just im Moment des Opfers heimsuchen, richtet flehende Blicke zum Himmel. Während der eine Sohn sterbend am Ufer liegt, sucht der andere Schutz zwischen Laokoons Beinen. Dieser presst ihn an seine Brust, so dass die zwei beinahe wie ein Körper wirken. Bedrohliche Schlangenhäupter nähern sich den beiden. Laokoon hat eben einen blutigen Biss an der Achsel empfangen. Seinem Sohn steht ein ähnliches Schicksal unmittelbar bevor. Aufmerksamkeit verdient dessen expressive Gestik. Der ausgesteckte Arm des Kindes mit den gespreizten Fingern, die der dunkle Hintergrund besonders akzentuiert, drückt äußerstes Entsetzen aus. Diese Pathosformel ist zeittypisch und findet sich analog bei den anderen hier besprochenen Bildwerken. Der Ansatz, den Hayez mit seinem Gemälde verfolgt, ist dem seines Konkurrenten diametral entgegengesetzt (Abb. 4).36 Er taucht die Szene in heiteres, von keiner Wolke getrübtes Tageslicht. Insgesamt nähert sich Hayez dem Thema mit antiquarischer Liebe zum Detail und einer Tendenz, die affektive Dynamik zu reduzieren. Die figurenreiche Handlung entfaltet sich parallel zum Strand. Im Hintergrund erheben sich Troias wehrhafte Mauern, hinter die sich die Menge mit dem hölzernen Pferd geordnet zurückzieht. Im Vordergrund liegt Opfergerät auf dem Sand, darunter das Messer, das Laokoon offenbar in Todesangst fallengelassen hat. Die zentrale Dreiergruppe (i.e. Laokoon und seine Söhne) platziert Hayez zwischen dem Altar, dem Opferdiener und dem Stier auf der einen sowie einigen entsetzt blickenden Assistenzfiguren auf der anderen Seite. Hayez’ Zeitgenossen loben besonders die realistische Darstellung der Schlangen: Der Künstler soll für das Projekt eigens lebende Reptilien angeschafft haben.37 An die Stelle der konventionellen Nacktheit der antiken Helden, die Canova selbst für seine Napoleon-

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Alte Meister. Gesamtkatalog. Bearb. v. Bernhard Schnackenburg. Mainz 1996, Bd. 1, S. 253f. (Laokoon hier mit gebauschtem Gewand); Martin-von-Wagner-Museum der Universität Würzburg (Hg.): Gemäldekatalog. Bearb. v. Volker Hoffmann. Würzburg 1986, S. 101 (Motiv stark beschnitten). Zeri (Hg.): Pinacoteca di Brera (wie Anm. 34), Bd. 1, Kat.-Nr. 363, S. 323f.; Cerutti: Un concorso per Laocoonte (wie Anm. 30), S. 114f. Hayez. Ausstellungskatalog Mailand 1983/84. Hg. v. Maria Cristina Gozzoli u. Fernando Mazzocca. Mailand 1983, Kat.-Nr. 21, S. 59–62, hier S. 61; Fernando Mazzocca: Francesco Hayez. Catalogo ragionato. Mailand 1994, Kat.-Nr. 14, S. 119–121, hier S. 120.

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Statue in Anspruch genommen hat, tritt ein vielfach ausdifferenziertes historisierendes Kostüm. Ungeachtet ihrer Genauigkeit im Detail ist Hayez’ Komposition nicht ohne Schwächen. So sind Laokoon, sein noch lebender Sohn und die Schlangen posenhaft zum Betrachter hin orientiert. Obwohl die Schlangen schon zwischen Ohr und Schulter ihrer Opfer züngeln, scheinen diese sie nicht zu bemerken. Insbesondere der kniende, sich sanft am Schenkel des Vaters abstützende Knabe mutet wie eine aus der Zeit gefallene Aktstudie an, die keinen Bezug zur Handlung des Bildes hat.38

Abb. 4: Francesco Hayez, Laokoon-Episode nach Vergil, Bildmotto: »se la sorte mi fosse amica«, 1812, Öl auf Leinwand, Pinacoteca di Brera, Mailand

Wie bereits der Wettbewerbsbeitrag von de Antoni mit seinem heroischen Pathos beruht auch Hayez’ Kernidee auf Konzepten des 17. Jahrhunderts, wobei es nun um formale Anleihen geht: Die Disposition der Bildelemente, vor allem die Anlage der Architektur im Hintergrund, folgt einem Bronzerelief von Massimiliano Soldani Benzi, das seinerseits auf eine Komposition aus dem Umfeld Pietro da Cortonas zurückgeht.39 Teil dieser Genealogie ist eine Radierung, die Francesco Barto-

38 39

Cerutti: Un concorso per Laocoonte (wie Anm. 30), S. 109. Vgl. Die Pracht der Medici. Florenz und Europa. Ausstellungskatalog München, Wien, Blois 1998/99. Hg. v. Cristina Acidini Luchinat u. Mario Scalini. München u.a. 1998, S. 249; La principessa saggia. L’eredità di Anna Maria Luisa de’ Medici elettrice palatina. Ausstellungskatalog Florenz 2006/07. Hg. v. Stefano Casciu. Livorno 2006, S. 195.

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lozzi 1765 in London publiziert hat.40 Sie dokumentiert eine heute dem CortonaSchüler Giovanni Francesco Romanelli zugeschriebene Zeichnung und verweist damit wohl auf dasselbe florentinische Vorbild. Trotz des ähnlichen Bildaufbaus fallen sofort die Unterschiede zwischen Hayez und seinen Vorläufern ins Auge: Während bei Soldani Benzi und Bartolozzi eine dynamische Fluchtbewegung im Mittelpunkt steht, die selbst Laokoon erfasst, scheinen Hayez’ Figuren nahezu stillzustehen. Laokoon bleibt bei seinen Söhnen; seine Körperhaltung wirkt so, als wollte er sich gegen das dräuende Unheil in Stellung bringen. Hier flieht nicht einmal das Opfertier. Der an Canovas Faustkämpfer Damoxenos aus dem Cortile del Belvedere geschulte Victimarius hält den Stier mit einer Hand fest. Ebenso ruhig und glatt modelliert sind die Physiognomien. Wenn irgendein Laokoon die von Winckelmann beschriebene Duldermiene zeigt, dann dieser. Soldani Benzi dagegen bietet eine solche Fülle aufgerissener Münder, dass sein Relief Lessing das Fürchten gelehrt hätte.41 Gemäß den akademischen Usancen haben Hayez und de Antoni ihre Bilder anonym eingereicht und durch Wahlsprüche gekennzeichnet, die eine Zuordnung erlauben und zur Bestimmung des Bildthemas beitragen. Die Auswahl ist jeweils sprechend. De Antoni rekurriert auf Vergil, den er in der klassischen Übersetzung Annibale Caros zitiert: „disgroppar con le man tentava indarno“.42 Hayez’ Laokoon folgt dem eher ironischen Motto: „se la sorte mi fosse amica“.43 Daraus spricht einerseits das Selbstbewusstsein des jungen Künstlers, der auf einen Sieg hofft, und andererseits die Ironie des Schicksals, der Laokoon zum Opfer fällt. Schließlich warnt der Priester zu Recht vor dem todbringenden Geschenk der Danaer. Wie die am Ende des 19. Jahrhunderts publizierten Dokumente zeigen, war die Entscheidung, die beiden Künstler als ebenbürtig auszuzeichnen, nicht unumstritten.44 Noch Monate später beklagt Leopoldo Cicognara gegenüber Antonio Canova die „turpe ingiustizia“, die ihrem Schützling widerfahren sei.45 Angesichts von Hayez’ weiterer Karriere, die ihn zum führenden Kopf der lombardischen Romantik macht, mag diese Niederlage indes zu verschmerzen sein. 40

41

42 43 44 45

Vgl. Francesco Bartolozzi. Incisore delle Grazie. Ausstellungskatalog Rom 1995. Hg. v. Barbara Jatta. Rom 1995, S. 122f.; Clelia Orsenigo: Il Laocoonte di carta. In: Sena Chiesa u. Gagetti (Hg.): Laocoonte in Lombardia (wie Anm. 16), S. 153–191, hier S. 166f. u. 180f. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlery und Poesie. Mit beyläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte. Erster Theil. Berlin 1766, S. 20f. L’Eneide di Virgilio, del Commendatore Annibal[e] Caro. Venedig 1581, S. 59. Vgl. Verg. Aen. 2, 220: „vergeblich versucht er, sich mit den Händen zu befreien“ [Übers. Ch. S.]. Discorsi letti nella grande aula (wie Anm. 31), S. 49: „wenn das Schicksal mir freundlich wäre“ [Übers. Ch. S.]. Francesco Hayez: Le mie memorie. Hg. v. Giulio Carotti. Mailand 1890, S. 108f. Zitiert nach Zeri (Hg.): Pinacoteca di Brera (wie Anm. 34), Bd. 1, Kat-Nr. 363, S. 324: „schamlose Ungerechtigkeit“ [Übers. Ch. S.].

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V. Ein moderner Laokoon Die Mailänder Wettbewerbsbeiträge sind nicht die einzigen Laokoon-Gemälde im Zeitalter Napoleons, sondern haben eine Parallele in Frankreich. Um 1810 vollendet der in Paris ausgebildete Maler Armand-Julien Pallière eine vollkommen vergessene Laokoon-Darstellung, die 2017 im Kunsthandel wieder aufgetaucht ist (Abb. 5).46 Pallière lokalisiert die Szene im Tempel vor dem Kultbild des Gottes. Zwei kannelierte Säulen geben den Blick auf die Steilküste und einen dramatisch geröteten Himmel frei. Während Laokoon sich appellativ an die Gottheit wendet, sinkt der linke Sohn leblos nach hinten; man sieht ihn förmlich erbleichen. Sein erschlaffter Körper, dessen Bezug zur Draperie nicht ganz überzeugt, scheint zu schweben, nur von der Hand des Vaters und der Schlange gehalten. Im Hintergrund kämpft der rechte Sohn mit steil aufragendem Arm und schmerzvoll geöffnetem Mund um sein Leben. Mit präzise gesetzten Blutspritzern klärt Pallière die Chronologie, die dem konventionellen Muster folgt: Die Schlange, die das sterbende Kind auf dem Gewissen hat, beißt nun den Vater. Der zweite Sohn ist noch unverletzt, was sich aber jeden Moment ändern kann. Einige von Pallières Erfindungen weisen auf den kolossalen Marmor-Laokoon voraus, an dem der venezianische Bildhauer Luigi Ferrari ab 1834 arbeitet, nämlich die schwebende Pose des linken Sohnes, Laokoons breiter Ausfallschritt, sein ausgestreckter Arm und das Haupt mit der Priesterbinde (Abb. 6).47 Das megalomane Projekt bleibt bezeichnenderweise unvollendet. 1837 stellt Ferrari in Mailand ein erstes Gipsmodell zur Schau. Ein Jahr später folgt die Präsentation in Venedig. Dort formiert sich ein Kreis prominenter Mäzene um den Conte Giovanni Correr, die ab 1844 für eine Umsetzung in Carrara-Marmor werben – und zwar ex uno lapide, wie Plinius es schon für die antike Gruppe als Qualitätsmerkmal anführt.48 Geplant war, die für die Errichtung des Monuments auf einem öffentlichen Platz in Venedig benötigten 18.000 Florin mittels einer Subskription einzuwerben,49 ähnlich der Finanzierung des Canova-Grabmals in der Frari-Kirche einige Jahre zuvor.50 Am Ende realisiert Ferrari nur eine im Format reduzierte Version für 46 47 48

49 50

Raphaël Aracil de Dauksza u. Damien Dumarquez: Galerie la Nouvelle Athènes. Peintures et œuvres préparatoires du XIXe siècle. Paris 2017, Kat.-Nr. 4 [unpaginiert]. Vgl. Marcello Albini: Il Laocoonte di Luigi Ferrari. In: Sena Chiesa u. Gagetti (Hg.): Laocoonte in Lombardia (wie Anm. 16), S. 123–131. Ebd., S. 126; Plinius: Naturalis historia 36, 37. Zum Renaissance-Topos der monolithischen Statue vgl. Iring Lavin: Ex uno lapide. The renaissance sculptor’s tour de force. In: Matthias Winner u.a. (Hg.): Il Cortile delle Statue. Mainz 1998, S. 191–210. Vgl. Progetto di associazione per l’esecuzione in marmo di Carrara mediante sottoscrizioni volontarie del gruppo colossale del Laocoonte dello scultore Luigi Ferrari. Venedig 1844. Philipp Fehl: Canova’s tomb and the cult of genius. In: Labyrinthos 1 (1982), S. 46–66, hier S. 54 u. 61.

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den Sammler Paolo Tosio, die dieser unter dem Eindruck seiner ambitionierten Pläne bestellt hat.51 Doch selbst die knapp lebensgroße Ausführung in Marmor nimmt weit mehr als ein Jahrzehnt in Anspruch. Als Ferrari seinen Laokoon 1853 nach Brescia liefern lässt, ist der Auftraggeber seit elf Jahren tot.52

Abb. 5: Armand-Julien Pallière, Tod des Laokoon und seiner Söhne, um 1810, Öl auf Leinwand, Privatbesitz

51 52

Maurizio Mondini u. Carlo Zani (Hg.): Paolo Tosio. Un collezionista bresciano dell’Ottocento. Brescia 1981, S. 83. Albini: Il Laocoonte di Luigi Ferrari (wie Anm. 47), S. 125–127.

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Abb. 6: Luigi Ferrari, Entwurf für eine kolossale Laokoon-Gruppe unabhängig vom antiken Vorbild, 1844, Lithographie, Privatbesitz (Frontispiz aus: Progetto di associazione per l'esecuzione in marmo di Carrara mediante sottoscrizioni volontarie del gruppo colossale del Laocoonte dello scultore Luigi Ferrari, Venedig 1844)

Die Werbebroschüre zur Subskription enthält eine Fülle interessanter Dokumente, darunter die Konditionen für die Geldgeber und den ausführenden Künstler, eine Übersicht über die Resonanz des Projekts in der Presse sowie ein aus dem Deutschen übersetztes Lobgedicht von Heinrich Stieglitz auf Luigi Ferrari. Der Presse-

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spiegel belegt einen rezeptionsgeschichtlichen Paradigmenwechsel:53 Ferrari konkurriert nicht nur mit dem antiken Original, sondern er muss sich auch zu dessen Deutung durch Winckelmann und Lessing verhalten. Diese gehört nicht erst seit Londonios Übersetzung zum Allgemeingut. Teils werden die beiden Autoren namentlich genannt, teils sind sie in Form von Zitaten und Paraphrasen präsent. So gut wie keine Würdigung von Ferraris Entwurf kommt dabei an der Frage nach Laokoons Schrei vorbei. Non è il Laocoonte antico che ha inspirato il giovane artista, non è nemmeno il concetto del vecchio artista che si scorge nel moderno lavoro. Il Laocoonte del Ferrari è quale ne l’ha descritto Virgilio: egli manda orribili grida. La nobilità del dolore dell’antico è, per comune consentimento, encomiata; ma perchè non si potrà giungere allo stesso fine per opposte vie?54

Die Aufzählung der Differenzen, die Ferraris Projekt von seinem antiken Vorläufer trennen, gerät zur Apologie der Moderne. Der Ferraris Laokoon zugeschriebene Schrei wird zum Symbol der Emanzipation von den Dogmen Winckelmanns und Lessings, die sich wie ein Schleier über das Original gelegt haben. Entsprechend würdigt die Gazzetta privilegiata di Venezia den Entwurf bereits im Januar 1835 als exemplarisches Werk, das grundlegende Fragen der Kunst illustriert. Ma tra il gruppo di Atenodoro e quello del Ferrari havvi questa principale differenza: che nell’uno tra i patimenti più atroci si scorge un dolore, di cui la virtù si è fatta signora, un dolore impavido e per così dire tranquillo, quale i Greci dicevano provenire dalla magnanimità, quale credevano che solo esser potesse dalle arti rappresentato; laddove l’altro esprime un terrore profondo, tutte le smanie, tutte le angosce dell’amor paterno posto a si dura prova, e fa udir quasi quelle grida orrende che Virgilio indicò, e di cui lo scultore greco non volle dar segno, saggiamente avvisando le diverse ragioni estetiche della poesia e della scultura.55

Die luzide Argumentation hat nur einen Schönheitsfehler: Hier stehen sich gar nicht Antike und Moderne gegenüber, sondern es wird ein neoklassizistisches Klischee der Antike mit den legitimen Ansprüchen der romantischen Schule kontrastiert. Ferraris Laokoon fungiert als Katalysator einer längst überfälligen Aktua53 54

55

Progetto di associazione (wie Anm. 49), S. 15–25. Ebd., S. 18: „Es ist nicht der antike Laokoon, der den jungen Künstler inspiriert hat, und nicht einmal das concetto des alten Künstlers findet man in der modernen Arbeit wieder. Ferraris Laokoon ist der, den Vergil beschrieben hat: er stößt schreckliche Schreie aus. Der Adel des Schmerzes in der antiken Fassung wird von allen einmütig gepriesen, aber warum könnte man nicht auf entgegengesetzten Wegen zu demselben Ziel gelangen?“ [Übers. Ch. S.]. Ebd., S. 16: „Aber zwischen der Gruppe des Athenodorus und jener Ferraris besteht dieser grundsätzliche Unterschied: dass man bei der einen unter den grausamsten Leiden einen Schmerz gewahrt, dessen sich die Tugend bemeistert hat, einen furchtlosen und sozusagen stillen Schmerz, von dem die Griechen sagten, dass er von der Seelengröße komme und von dem sie glaubten, dass er allein von den Künsten ausgedrückt werden könne; während die andere einen tiefen Schrecken ausdrückt, die ganze Aufregung, die ganze Angst der einer so harten Probe ausgesetzten Vaterliebe, und gleichsam jene schrecklichen Schreie hören lässt, die Vergil erwähnt und von denen der griechische Bildhauer kein Zeichen geben will, wenn er sich die unterschiedlichen ästhetischen Regeln der Poesie und der Bildhauerkunst mit Klugheit vor Augen führt.“ [Übers. Ch. S.]. Vgl. die analogen Passagen ebd. auf S. 22 u. 24f.

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lisierung des Antikenparadigmas. Nicht zufällig erinnern die ihm zugeschriebenen Eigenschaften an die Debatte über das Charakteristische als Kunstprinzip, in deren Rahmen Aloys Hirt eine neue Sicht auf die Laokoon-Gruppe formuliert hat.56 Statt die Vorlage umzuwerten, wählt der Kritiker der Gazzetta privilegiata di Venezia einen anderen Weg. Er lässt dem Laokoon im Vatikan seinen Status als Ikone des neoklassizistischen Ideals im Sinne Winckelmanns und Lessings und stellt ihm Ferraris Laokoon als Verkörperung einer dezidiert ‚modernen‘ Antike an die Seite. Perciò i due gruppi dimostrano esattamente i principii diversi della scuola antica e della moderna, delle quali l’una sempre si presiggeva la rappresentazione della bellezza, e quindi inclinava all’ideale, e l’altra pone invece ogni cura nel rappresentare la realtà della vita, o brutte o belle che sieno, o tristi o gioconde.57

Derartige Kontrastierungen des Klassischen und des Romantischen sind ihrerseits topisch und haben eine lange Tradition. Bemerkenswert an der Diskussion über Ferraris Laokoon ist die enorme Dominanz von Winckelmanns und Lessings Laokoon-Interpretationen. Sie werden mit Blick auf das Original referiert, als ob es sich um quasi neutrale Beschreibungen von dessen Intention handle. Dabei würde ein unbefangener Blick auf die antike Laokoon-Gruppe ausreichen, um das Postulat der Affektdämpfung zu widerlegen, das ihre Rezeption seit Mitte des 18. Jahrhunderts prägt. In der Wahrnehmung der Frühen Neuzeit hat Laokoon immer geschrien, ganz so wie Vergil es erzählt.58 Erst Winckelmann bringt den Priester mit seiner epochalen Deutung von 1755 zum Schweigen.59 Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass die Griechen über Laokoons „stillen Schmerz“ und „die ästhetischen Regeln der Poesie und der Bildhauerkunst“ reflektiert haben, wie der an neoklassizistischen Texten geschulte Kritiker der Gazzetta privilegiata di Venezia insinuiert.60 Mit dem historischen Abstand von heute wird deutlich, dass Ferrari den Umbruch, den sein Werk repräsentieren soll, künstlerisch gar nicht einlöst. Die Skulptur zeichnet sich durch einen vergleichsweise konventionellen Neoklassizismus aus, wie er im Umfeld Canovas gepflegt wurde. Im Vergleich mit anderen nachantiken Laokoon-Schöpfungen kann sie sich gleichwohl gut behaupten. Das Mittel 56 57

58 59

60

Vgl. Martin Dönike: Pathos, Ausdruck und Bewegung. Zur Ästhetik des Weimarer Klassizismus 1796–1806. Berlin u. New York 2005, S. 12–84. Progetto di associazione (wie Anm. 49), S. 16: „Deshalb spiegeln die beiden Gruppen exakt die unterschiedlichen Prinzipien der antiken und der modernen Schule wider, von denen sich die eine auf die Darstellung des Schönen fokussiert und so dem Ideal annähert, während die andere im Gegenzug alle Mühe darauf legt, die Realität des Lebens darzustellen, so roh oder schön, so traurig oder fröhlich diese auch sei.“ [Übers. Ch. S.]. Schmälzle: Laokoon als Richtschnur der ‚barocken‘ Kunst (wie Anm. 2), S. 101f. u. 108f. Luca Giuliani: Winckelmanns Laokoon. Von der befristeten Eigenmächtigkeit des Kommentars. In: Glenn W. Most (Hg.): Commentaries – Kommentare. Göttingen 1999, S. 296–322, hier S. 301f.; Schmälzle: Was Laokoons Seufzen bedeutet (wie Anm. 17), S. 161f. Vgl. Progetto di associazione (wie Anm. 49), S. 16. Die Passage wurde auf der vorangehenden Seite bereits im vollen Wortlaut zitiert.

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der Dynamisierung, das Ferrari einsetzt, ist die zeichenhaft aufragende Hand des Vaters mit den gespreizten Fingern. Mit dieser Geste versucht Laokoon vergebens, dem Geschehen Einhalt zu gebieten. Die erhobene Hand fungiert als visuelles Analogon der gellenden Schreie, die Ferraris Zeitgenossen in der Skulptur erkennen. Mit Lessings Doktrin ist die Pathosformel überraschend gut vereinbar: Ferraris Laokoon blickt mit geschlossenem Mund und kaum verzerrten Gesichtszügen zu seinem erschlafft am Boden liegenden Sohn. Die Innerlichkeit dieses Blickes bildet ein Gegengewicht zum expressiven Potential der Armhaltung. Passiv scheint der andere Sohn, von Schlangenringen gehalten, zum Vater emporzuschweben. Sein Blick geht nach oben, seine Hand liegt auf dessen Schulter – ein Opfer der gottgesandten Tiere, das sich nur verhalten wehrt. Ferrari zeigt einen ungewöhnlichen Moment, in dem noch keiner der beiden verletzt ist. Vorwitzig ragt ein Schlangenkopf zwischen dem Brustkorb des Kindes und dem Abdomen des Vaters heraus. Der Betrachter klagt mit Laokoon über den Sohn, den die Schlangen bereits hingestreckt haben. Durch die Absenz akuter Schmerzen ist der Körper des Vaters ganz Zeichen seiner Emotion.

VI. Winckelmanns Nachleben Es wäre leicht, über die Rezensenten des 19. Jahrhunderts zu spotten, die eine historische Interpretation mit dem Werk selbst verwechseln. Doch haben die Texte Winckelmanns und Lessings ein langes Nachleben. Noch Leopold Ettlinger unterläuft in einem ansonsten brillanten Aufsatz derselbe Fehler wie dem Kritiker der Gazzetta privilegiata di Venezia. Statt wie Warburg den Spuren einer leidenschaftlichen Antike in der Frühen Neuzeit nachzugehen, rekurriert er auf ein Schulwissen, das die Laokoon-Gruppe auf das normative Ideal der Affektdämpfung festlegt. Er unterstellt damit nicht nur der Laokoon-Gruppe eine stoische Programmatik, sondern auch der Gegenreformation ein Interesse an der Unterdrückung der Leidenschaften: Above all, the Laocoon may have been from the beginning a Stoic exemplum of silent and noble suffering which was destined to become an important model when similar concepts again influenced artistic expression. [...] That is why theologians during the Counter Reformation could recommend the Laocoon to those who had to make images of the Passion of Christ, of suffering saints and martyrs.61

61

Leopold Ettlinger: Exemplum Doloris. Reflections on the Laocoon Group. In: Millard Meiss (Hg.): Essays in Honor of Erwin Panofsky. New York 1961, S. 121–126, hier S. 126: „Vor allem mag der Laokoon von Anfang an ein stoisches Beispiel des stillen und edlen Leidens gewesen sein, das dazu bestimmt war, wieder ein bedeutendes Vorbild zu werden, wenn ähnliche Konzepte den künstlerischen Ausdruck beeinflussten. [...] Das ist der Grund, weshalb Theologen während der Gegenreformation den Laokoon denen empfehlen konnten, die Bilder

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Das Gegenteil ist der Fall: In dieser Zeit wurde die Laokoon-Gruppe zum Studium empfohlen, nicht weil sie eine gedämpfte, sondern weil sie eine extreme Form des Schmerzes zeigt.62 Eine philosophische Verbrämung des dargestellten Schmerzes war für dessen Vorbildcharakter im Rahmen der religiösen Kunst keineswegs notwendig. Ettlingers Rede vom „edlen und stillen Leiden“ ist ein verdecktes Winckelmann-Zitat, das unmittelbar an den „stillen Schmerz“ erinnert, auf den der venezianische Kritiker mehr als hundert Jahre zuvor abhebt.

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der Passion Christi und von leidenden Heiligen und Märtyrern zu machen hatten.“ [Übers. Ch. S.]. Vgl. Maffei: La fama di Laocoonte nei testi del Cinquecento (wie Anm. 24), S. 191–199; Schmälzle: Laokoon in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 173–180.

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Der Schauspieler als lebende Statue. Winckelmanns Einfluss auf das Theater des 19. Jahrhunderts in Frankreich und Italien 1785 und 1786 erschien Johann Jacob Engels zweibändige Abhandlung über die Schauspielkunst Ideen zu einer Mimik. Sie hatte maßgeblichen Anteil am Erneuerungsprozess der Bühnenkunst im 18. Jahrhundert und wurde recht bald nach ihrem Erscheinen auch außerhalb Deutschlands gelesen. In der bereits 1788 unter dem Titel Idées sur le geste et l’action théâtrale1 erschienenen französischen Übersetzung fand der Text schließlich in ganz Europa Verbreitung. In der langen Einleitung zieht der anonyme Übersetzer eine Parallele zwischen Engels Werk und Winckelmanns Bedeutung für die Kunstgeschichte. Dieser habe das Fach durch sorgfältiges Studieren der Quellen und philologische Akribie sowie Offenlegung von Fälschungen, oberflächlichen Restaurierungsarbeiten und fragwürdigen Interpretationen neu begründet. Ähnlich werde Engels Abhandlung auf den Bereich des Theaters einwirken und die Meisterwerke der Dramaturgie gegen Pfuscher und skrupellose Schmierenkomödianten verteidigen: Winckelmann dans son Histoire de l’Art, parle des têtes antiques, du plus beau travail, conservées dans les cabinets d’Italie, sur lesquelles une main profane avoit porté le ciseau pour en faire des portraits. Pourrions-nous juger du talente sublime d’un Phidias, en reconnaissant par l’inscription une des ses statues qu’un barbare auroit transformée en un Vandale? Et tel est cependant le sort qui attend les chef-d’œuvres dramatiques [...].2

In Bezug auf die wissenschaftliche Methode und hermeneutische Sorgfalt, auf genaues Textstudium und Texttreue sowie auf die Berücksichtigung des jeweiligen Handlungsortes konnte Winckelmann dem Theater also ein ganz im Widerspruch zu den Konventionen und Anachronismen der damals üblichen Aufführungspraxis stehendes Vorbild sein. Damit entwickelte sich aber auch eine neue Herangehensweise des Theaters an den Themenkomplex Antike, der im kulturellen Leben des 18. Jahrhunderts bereits eine Rolle gespielt hatte. Bislang hatte es der Darstellung von Ereignissen aus der antiken Geschichte oder der Mythologie allerdings an jeglicher historistischen und

1 2

Johann Jacob Engel: Idées sur le geste et l’action théâtrale. Paris 1788. Préface du traducteur. In: Ebd., S. 18 („In seiner Geschichte der Kunst des Alterthums spricht Winckelmann über hervorragend gearbeitete antike Köpfe, die in den italienischen Kunstkabinetten aufbewahrt sind, denen eine unkundige Hand den Meißel angesetzt hat, um daraus ein Porträt zu machen. Können wir eine Statue allein durch die Inschrift als ein Werk von Phidias’ sublimem Talent erkennen, wenn ein Barbar sie in einen Vandalen verwandelt hat? Und eben dieses Schicksal harrt der dramatischen Meisterwerke [...].“).

https://doi.org/10.1515/9783110710373-005

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philologischen Methode gemangelt, und Helden, Nymphen und Götter waren im Stil und in den Formen des Rokkoko dargestellt worden, oft mit klassischen Requisiten zu zeitgenössischen Kostümen.3 Mit der Verbreitung von Winckelmanns Studien und der Etablierung des klassizistischen Geschmacks im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts änderte sich die Einstellung gegenüber der Antike. Sie glich nunmehr einem Ringen um eine direkte Nachahmung der Bilder aus der klassischen Welt, für deren Rekonstruktion die Ergebnisse der archäologischen Entdeckungen und schriftliche Zeugnisse herangezogen wurden. Für das Theater bedeutete dies zunächst eine wesentliche Veränderung im Erscheinungsbild des Schauspielers auf der Bühne, vom Kostüm, das als genaue Kopie des griechischen oder römischen Gewandes entworfen wurde, bis zur originalgetreuen Rekonstruktion der Requisiten. Unterstützung finden diese enthusiastischen Bemühungen um die Antike und die korrekte Ausstattung in den klassizistischen Texten zur Dramaturgie überdies in der neuen politischen Linie, die in den Bildern der jüngsten archäologischen Entdeckungen eine neue Ikonologie und Mythographie ausmacht, die dem Bildervorrat des ancien régime für jeden erkennbar entgegengesetzt werden soll. Man kann also festhalten, dass „es mit der Revolution in allen Künsten im Hinblick auf die Rezeption der Antike zu einem Wandel kam und diese zum Symbol eines politischen Projekts, einem idealen Modell wurde“.4 Das in dieser Hinsicht symbolträchtigste Ereignis ist zweifelsohne die Aufführung von Voltaires Tragödie Brutus am 17. November 1790 im Théâtre de la Nation in Paris: François Joseph Talma spielte den Proculus mit entblößten Armen und Beinen, in einer römischen Toga und mit kurz geschnittenen Haaren, einer Frisur, die rasch zur Modeerscheinung avancierte („nach Art des Brutus“). Die Aufführung war eine kalkulierte Überschreitung der bienséance, eine ästhetische Revolution gegen den Publikumsgeschmack und ideologische Stellungnahme in einem. Talma selbst gab in einem Gespräch aus dem Jahre 1813 zu Protokoll, er habe sich für die Ausstattung direkt von antiken Flachreliefs und römischen Statuen inspirieren lassen. Sein Interesse für die Antike sei vornehmlich von Jacques-Louis Davids Gemälde Brutus, dem die Leichen seiner Söhne ins Haus gebracht werden geweckt worden, aus dem er die Pose des Brutus für die letzte Szene der Tragödie übernommen habe.5 David habe ihn überdies dazu angeregt, sich für seine aufsehenerregende Frisur von römischen Büsten, wie sie sich etwa in den Monumenti 3 4 5

Mara Fazio: Il rinnovamento del Settecento tra attori e autori. In: Luigi Allegri (Hg.): Breve storia del teatro per immagini. Rom 2008, S. 161–190, hier S. 183. „Con la Rivoluzione il ricorso all’antico cambiò di segno in tutte le arti e si trasformò in simbolo di un progetto politico, divenne un modello ideale.“ (Ebd., S. 183). Camille Mellinet: Souvenir du pays, une conversation avec Talma à Nantes en 1813; zitiert nach: Bruno Villien: Talma pendant la Révolution. In: Revue d’histoire du théatre 1 (1989), Sp. 36–43.

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antichi inediti finden, inspirieren zu lassen: „Je dois à David mon premier travail d’étude des bas-reliefs, des médailles, des statues, des objets antiques de tout éspeces.“6 Noch interessanter sind Talmas Bemerkungen zur Gestalt des von ihm verkörperten Nero in Racines Tragödie Britannicus, die in der napoleonischen Zeit wiederholt aufgeführt und wegen seiner sorgfältigen Kostümgestaltung und Ausstattung gefeiert wurde. Wesentlich ist dafür die Berücksichtigung der Ikonographie der Antike, wofür Talma namentlich die Recherches sur les costumes et sur les théâtres de toutes les nations tant anciennes que modernes von Levacher de Charnois heranzog.7 Die Recherches waren ab 1790 in einzelnen Faszikeln in Paris erschienen. Die Veröffentlichung fand allerdings ein jähes Ende, nachdem der Autor im Jahr 1792 im Zuge der Terreur ermordet worden war. Ausgestattet ist es mit farbigen Bildtafeln, die die Kostüme und notwendigen Requisiten für die Inszenierung der wichtigsten klassizistischen Tragödien aus dem französoschen Repertoire zeigen. Ab 1802 wurde das Werk in zwei Bänden neu aufgelegt. In seiner Abhandlung greift Charnois auf Winckelmann zurück, zitiert ihn wiederholt und übernimmt auch dessen Arbeitsmethode, die im aufmerksamen Studium jener antiken literarischen Quellen und Bilder besteht, die Winckelmann in den Monumenti antichi inediti und der Geschichte der Kunst des Alterthums wiedergegeben hatte. Sie sollen Schauspielern und Theaterleuten als Anschauungsmaterial dienen und Auskunft geben darüber, wie eine Toga drapiert, wie ein Mantel getragen werden soll, welches Schuhwerk oder welche Frisur zu bevorzugen ist, damit auf der Bühne die Handlung glaubwürdig erscheint. Auf Winckelmann, den Charnois für „einen der gelehrtesten Männer, die je die Antike erforscht haben“ hält,8 wird etwa zurückgegriffen, um sich Informationen für das Kostüm der Hermione in Racines Andromaque (Abb. 1) zu holen:

6 7 8

Ebd., S. 39 („David hat mich in die Beschäftigung mit den Flachreliefs, den Münzen, den Statuen, mit jedem antiken Gegenstand eingeführt.“). Jean Charles Le Vacher de Charnois: Recherches sur les costumes et sur les théâtres de toutes les nations, tant anciennes que modernes. 2 Bde. 2. Aufl. Paris 1802. „Winckelmann est un de plus savans hommes qui ait étudié l’antiquité.“ (Ebd., Bd 1, S. 16).

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Abb. 1: Hermione, dans Andromaque. Aus: Levancher de Charnois, Recherches sur les costumes et sur les théâtres de toutes les nations, Bd. 1, Paris 1790, Taf. 1 zu S. 1

Die Angabe, wie man den doppelten Gürtel und das ricinium zu tragen hat, stammt aus den Monumenti antichi inediti.9 Auch das Basrelief, das als Vorbild für die lange Tunika des Pyrrhus von Bildtafel 2 dient, und der Kommentar zur Tunika des Ödipus kommen von dort.10 Aus der Geschichte der Kunst des Alterthums wiederum stammen Informationen zum korrekten Gebrauch des Trauerschleiers

9 10

Ebd., Bd. 1, S. 4f. Die zitierte Stelle stammt aus den Monumenti antichi Inediti, II, 1, Cap. IV, S. 15, Nr. 16 (= SN 6.1, S. 163f.) Ebd., Bd. 1, S. 10. Die zitierte Stelle stammt aus den Monumenti Antichi Inediti, II, 1, Cap. XIII, S. 137f., Nr. 103 (= SN 6.1, S. 337f.).

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der Frauen oder zum Busenband, das unter der Tunika getragen wird,11 sowie eine lange Abhandlung über die Form des pallium, mit der sich Charnois vergleichsweise kritisch auseinandersetzt (Abb. 2).12

Abb. 2: Pallium. Aus: Levancher de Charnois, Recherches sur les costumes et sur les théâtres de toutes les nations, Bd. 1, Paris 1790, Taf. 5 zu S. 28

Zahlreiche weitere Textstellen dieser Art könnten angeführt werden, doch wichtig scheint hier vor allem die Absicht Charnois’, ein für – wie es der Untertitel besagt – „Maler, Bildhauer, Architekten, Bühnenbildner, Kostümschneider, kurz jegliche

11 12

Zum Schleier, den Winckelmann als Teriston bezeichnet, vgl. Charnois: Recherches (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 16f.; zum strophium oder zona ebd., S. 36f. Ebd., Bd. 1, S. 28f. zum pallium; Bd. 2, S. 31 zur Toga.

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Art von Künstlern nützliches Werk“13 zu verfassen; mit anderen Worten einen vereinfachten Winckelmann, dessen Gedanken dem Laien verständlich gemacht werden sollen, den Theaterautoren, den Schauspielern, aber auch den Handwerkern, die sich mit so praktischen Dingen wie der Bühnenausstattung auseinandersetzen müssen. Wenn er einen solchen demokratischen Ansatz wählt, dann auch, um dem üblichen Los gelehrter Publizistik zu entgehen: [L]es savans n’ont guère écrit jusqu’ici que pour ceux qui étaient aussi éclairés qu’eux, pour ceux qui étaient familiers avec leur idiome particulier, et cette habitude [...] a été la source [...] qui a éloigné de la lecture de leurs ouvrages [...].14

Jedenfalls leitete dieses Buch einen entscheidenden Wandel ein, denn von nun an war es undenkbar geworden, ein Stück von Racine, Voltaire oder Alfieri wie früher mit Helm und Perücke oder mit Rüstung und Reifrock zu rezitieren. In Italien kommt dem toskanischen Schauspieler Antonio Morrocchesi, der sich an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert auf die Aufführung der Tragödien Alfieris spezialisiert hatte, das Verdienst zu, das historisch korrekte antike Kostüm mit der dazugehörenden Körperhaltung und Gestik auf der Bühne durchgesetzt zu haben. Für einen italienischen Schauspieler war Morrocchesi recht untypisch, denn er entstammte keiner Schauspielerfamilie, sondern hatte an der Accademia delle Belle Arti studiert und war über Laienaufführungen zum professionellen Theater gekommen. Berühmt machten ihn vor allem seine genauen historischen Forschungen. Die Entblößung des Körpers, das durch den Faltenwurf des Kostüms betonte Sichabzeichnen der Formen sind Kennzeichen seiner Interpretation der tragischen Gestalten Alfieris, die nicht zufällig während der dreijährigen Herrschaft der Jakobiner Berühmtheit erlangten. Aber auch in seinen theoretischen Lektionen über die tragische Deklamation, mit denen er ab 1808 befasst war und die später in die 1832 erschienenen Lezioni di declamazione e d’arte teatrale Eingang finden sollten, ebenso aber auch in seinen Briefen und Vorträgen führt Morrocchesi oft die Skulptur als Modell an, die bestens geeignet sei, „eine Form zu schaffen, in der man die Gefühlsregungen und den diskontinuielichen Fluss ihrer mentalen Bilder kontrollieren kann, ohne ihn zum Versiegen zu bringen.“15 Damit erweist sich der italienische Schauspieler als der ästhetischen Erneuerung des Klassizismus verpflichtet, Winckelmann als Quelle wird allerdings nie ausdrücklich angeführt. Morrocchesis berühmte Bildtafeln mit den Bühnenposen stammen 13 14

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„Ouvrage utile aux peintres, statuaires, architectes, décorateurs, comédiens, costumiers, en un mot, aux artistes de tous les genres.“ (Ebd., Frontispiz). Ebd., Bd. 1, S. 4 („[D]ie Gelehrten hatten ihre Werke bislang nur für ebenso aufgeklärte Köpfe wie sie selbst geschrieben, für diejenigen, die mit ihrer besonderen Sprache vertraut waren, und diese Gewohnheit [...] hat dann dazu geführt [...], dass ihre Werke nicht mehr gelesen wurden [...].“). Stefano Geraci: Frammenti dell’antico nel tempo degli attori. In: Dionysus ex machina 1 (2010), S. 242–252, hier S. 250 („creare una forma entro cui controllare senza inaridirli i flussi emotivi e lo scorrere discontinuo delle sue immagini mentali“).

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noch aus der Antiquité expliquée von Bernard de Montfaucon, dem großen Sammelwerk der antiken Kunst aus dem Jahr 1719, das im gesamten 18. Jahrhundert weite Verbreitung fand. Im Laufe der Zeit zeigte sich, dass Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums auch in Italien ihren größten Einfluss im Bereich des Geschmacks ausübte: Als 1817 die anfangs erwähnte italienische Übersetzung von Engels Abhandlung erschien, schrieb die Gazzetta di Milano in Bezug auf die Erneuerung der Geistewissenschaften und der Schauspielkunst, Winckelmann habe „nei suoi libri, scritti con la nobile semplicità degli antichi, aveva risvegliato il buon gusto, rianimando lo studio dell’antichità.“16 Allerdings hat Winckelmann der Aufführungspraxis des 19. Jahrhunderts noch ein weiteres tiefgreifendes Erbe hinterlassen, und zwar die gestische und proxemische Konstruktion der Figur durch den Schauspieler, insbesondere durch den französischen oder italienischen Tragödiendarsteller. Tatsächlich lässt sich nahezu für das gesamte 19. Jahrhundert ein für die Tragödie und das Geschichtsdrama typischer gehobener Vortragsstil ausmachen, der auf ikastischen, unterbrochenen Gesten beruht, die oft in einer Bühnenpose fixiert werden, was im Schauspiel einer Handlungspause entspricht. Geste und Ausdruck der Gestalt erstarren und halten dabei einige Momente lang inne, wie in einer Standaufnahme, ganz mit Blick auf das Publikum, das so das Werk des Schauspielers genießen und seinem Gedächtnis einprägen kann. Angsichts einer solchen Suspendierung/Arretierung des Bühnengeschehens ist in den zeitgenössischen Schriften zum Theater entsprechend von statuenhaften Schauspielern die Rede, von skulpturalen Posen, von statuarischen Gruppen, und es verwundert daher nicht, dass die Publikationen aus der Zeit voll sind mit Hinweisen auf eine den antiken Statuen verpflichtete Plastizität der Bewegungen. Das Bild des Schauspielers als einer lebenden Statue wird sogar zu einer häufig wiederkehrenden Metapher, ja zu einer mentalen Sehanleitung für den Zuschauer. Auch die Schauspieler selbst weisen in ihren Erinnerungen wiederholt darauf hin, dass sie sich im Studium der Antike die nötige Inspiration für die szenische Realisierung holten. Man ging ins Museum, um sich von der Schönheit der klassischen Kunst ergreifen zu lassen: So stand etwa Miss Sara Siddons bezaubert vor dem Apoll vom Belvedere,17 und die Schauspielerin Adelaide Ristori schreibt in ihren Erinnerungen: „Hanno avuto sempre sopra di me un’attrattiva affascinante la musica, la pittura, la scultura“, und „appena giunta in una città nuova per me [...] visito le gallerie di quadri e di sculture.“18 16

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Appendice, in: Gazzetta di Milano, 15. März 1817, S. [1] („in seinen Büchern, die mit der edlen Einfalt der Alten verfasst seien, den guten Geschmack wiedererweckt und damit die Erforschung der Antike wiederbelebt“). Thomas Campbell: Life of Mrs. Siddons. 2 Bde. London 1834, Bd. 1, S. 357. Adelaide Ristori: Ricordi e studi artistici. Turin u. Neapel 1887, S. 12f. („Schon immer haben die Musik, die Gemälde und die Skulpturen eine starke Anziehungskraft auf mich ausgeübt“;

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Am Spiel von Mademoiselle Rachel, der wohl bekanntesten französischen Schauspielerin der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die zwischen 1838 und 1858 auf den wichtigsten europäischen Bühnen Erfolge feierte, zeigt sich wohl am besten die Gleichsetzung des Schauspielers mit einer klassizistischen Statue. Jules Janin hatte sie in der Rolle der Andromaque erlebt und schrieb daraufhin begeistert: On la prenderait pour une de ces statues antiques sans nom de l’auteur, à demi ébauchées, mais si belles que nul ne serait assez hardi pour vouloir donner un couple de ciseau de plus à ce marbre inachevé.19

Über ihre Darbietung der Hermione berichtet er entzückt: „Die Statue ist von ihrem Sockel herabgestiegen“, und in der Rolle der Phèdre erscheine sie ihm wie „eine aus antikem Marmor gehauene Statue“.20 Auch bei den italienischen Schauspielern hinterließ Rachel einen großen Eindruck: Salvini erlebte sie 1851 während ihrer Italientournee und zeigte sich von ihren „stets statuarischen Bewegungen“21 begeistert. Ristori, die Rachel 1855 in Paris in der Rolle der Camille in Corneilles Horace bewundern konnte, beschreibt sie mit den folgenden Worten: Al suo presentarsi sulla scena, compresi subito la potenza del suo fascino. Ella sembrava una statua romana. Il portamento era maestoso, l’incesso reale: il panneggiamento del suo manto, tutto era studiato con mirabile intento artistico.22

Offensichtlich ist hier der kaum verhehlte Bezug auf Winckelmanns klassizistische Ästhetik, die die Schauspielerin bei ihrer schöpferischen Arbeit natürlich nicht ignorieren konnte. Eben darum geht es bei einem Gespräch in der Comédie Française aus dem Jahr 1852, von dem eine Mitschrift in den Jahrbüchern des Theaters erhalten ist: Der Bildhauer Pradier bewundert ihre Darstellung der Phèdre, in der Züge der klassizistischen Bildhauerei zu erkennen seien, wie „l’amour de la ligne sévère, la grâce savante de contour, le charme ardente de la couleur“.23 Hatte Rachel also Winckelmann gelesen?

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„kaum in einer für mich neuen Stadt angekommen [...] besichtige ich die Gemälde- und Skulpturengalerien“). Jules Janin: Rachel et la tragédie. Paris 1859, S. 75 („Man könnte sie für eine dieser antiken Statuen eines unbekannten Meisters halten, die zwar nicht vollständig ausgeführt sind, aber doch so schön, dass niemand es wagen würde, diesen unvollendeten Marmor noch weiter mit dem Meißel zu bearbeiten.“). „La statue est descendue de son piedistal“; „une statue taillée dans le marbre antique“ (ebd., S. 330 u. 434). Tommaso Salvini: Ricordi, aneddoti ed impressioni. Mailand 1895, S. 112. Ristori: Ricordi (wie Anm. 18), S. 51 („Kaum hatte sie die Bühne betreten, begriff ich die Macht ihres Charmes. Sie glich einer römischen Statue. Die Körperhaltung war majestätisch, sie schritt wie eine Königin: Der Faltenwurf ihres Mantels, alles war mit bewundernswürdiger künstlerischer Absicht erdacht.“). Arsène Houssaye: Les confessions. Souvenirs d’un demi siècle (1830–1880). 6 Bde. Paris 1885–1891, hier Bd. 3, S. 180 („die Liebe zur klaren Linie, die weise Anmut der Konturen, die glühende Dramatik der Farben“).

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Pradier: Dites-moi, qui vous a enseigné l’art de vous coiffer avec cette grâce antique; [...] Vous avez donc feuilleté les in folio? Rachel: J’ai entrouvert Winckelmann et je n’y ai rien compris, N’est-ce pas lui qui a dit que l’art, comme la sagesse, commence par l’étude de soi-même? Mais à quoi bon lire Winckelmann, qui savait tout? J’en sais bien plus que lui, car j’ai deviné tout. Quand j’ai vu pour la première fois des figures grecques, j’ai cru m’y reconnaître. Pradier: Oui, je vous ai vue dans un bas-relief de la Chasse de Diane [...]. Je vous enverrai demain votre portrait sculpté il y a deux mille ans. [...] Rachel: Je ne suis pour rien dans vos belles visions. L’antiquité vit dans votre esprit [...] et quand j’entre en scène, ce n’est pas le rideau du théâtre qui se lève, c’est le rideau de votre imagination.24

Das Geheimnis in der Darstellungskunst eines statuenhaften Schauspielers liegt also in der Wahrnehmung des Zuschauers, in dessen Erwartungshorizont eine Antike aufscheint, in der man sich innerhalb der Grenzen von Wickelmanns Idee des Schönen und Erhabenen bewegt. Nicht von ungefähr bezeichnete die Kritik Rachels Kunst als Prototyp einer Darstellung nach klassischer Manier, attestierte ihr aber zugleich, beim Publikum auch romantische Leidenschaften hervorzurufen.25 Der scheinbare Widerspruch löst sich jedoch auf, wenn man bedenkt, dass die statuarische und entschieden klassizistische dramaturgische Gestaltung dem Zuschauer ja nicht die intensiven, erhabenen und überwältigenden Gefühle verwehrt, die ihm im Gedächtnis bleiben. Klassizistisch ist zweifelsohne Rachels Pose zu nennen: Gesten und Körperhaltung ihrer Figuren liegen Winckelmanns Denkprinzip zugrunde, wonach die klassizistische Schönheit nicht darin bestehe, den Impetus der tragischen Leidenschaft im Moment des Ausbruchs darzustellen, sondern ihn vielmehr entweder kurz davor oder kurz danach für einen kurzen Augenblick stillzustellen. Der Schauspieler des 19. Jahrhunderts wählt daher als topischen Moment seiner publikumswirksamen Pose den Augenblick nach dem Höhepunkt, wenn die Energie sich schon entladen und die Spannung sich gelegt hat, oder den Augenblick des Entstehens, wenn die Erregung steigt, das Individuum aber noch nicht überwältigt und zum Handeln angetrieben hat.

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Ebd., Sp. 179f. („Pradier: Sagen Sie mir, wer hat Sie gelehrt, sich mit dieser antiken Anmut zu frisieren? [...] Haben Sie etwa die Folioausgabe durchblättert? Rachel: Ich habe ein wenig von Winckelmann gelesen und nichts davon verstanden. War es nicht er, der gesagt hat, dass die Kunst wie die Weisheit mit der Selbsterkenntnis beginnt? Aber wozu sollte man Winckelmann lesen, der alles wusste? Ich weiß mehr als er, denn ich habe alles erahnt. Als ich zum ersten Mal griechische Figuren sah, kam es mir so vor, als würde ich mich in ihnen wiedererkennen. Pradier: Ja, ich habe Sie auf einem Basrelief einer Jagd der Diana gesehen [...] Morgen schicke ich Ihnen Ihr Porträt, das vor zweitausend Jahren entstanden ist. Rachel: Ich tauche ja nicht zufällig in Ihren schönen Vorstellungen auf. Die Antike lebt in Ihrem Geist [...] und wenn ich die Bühne betrete, dann hebt sich nicht der Theatervorhang, sondern der Vorhang Ihrer Vorstellungskraft.“). Vgl. Mirella Schino: Racconti del grande attore. Mailand 2016, Sp. 61f.

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Eine ähnliche Vorgehensweise im Aufbau der Figurengestik lässt sich bei der Schauspielerin Adelaide Ristori erkennen. Auch wenn sie, gleich nachdem sie Rachel zum ersten Mal auf der Bühne erlebt, zu bedenken gibt, sie würden sich zwar beide innerhalb des Regelsystems der Tragödie bewegen, sich aber dabei unterschiedlicher Ausdrucksweisen bedienen, ist auch in Ristoris Gebärden das statuarische und klassizistische Muster nicht zu übersehen, ganz besonders in ihrer Interpretation der Medea im gleichnamigen Stück des französischen Dramatikers Ernest Legouvé. Das ihr auf den Leib geschriebene Stück wurde für ihre internationale Tournee im Jahr 1856 zu einem großen Schauspielerstück umgeschrieben. Es ist sicher kein Zufall, dass Legouvé das Stück ursprünglich für Rachel geschrieben hatte (die aber ablehnte), mit einer zwischen Leidenschaft und Schmerz schwankenden Medea, bei der der visuelle Aspekt zum zentralen Vehikel für die Anteilnahme des Zuschauers avanciert. Nachdem Ristori zugesagt hatte, wurde die Tragödie in der Übersetzung des toskanischen Dichters und Patrioten Giuseppe Montanelli am 8. April 1856 in der Pariser Salle Ventadour vor einem erlesenen Publikum uraufgeführt. Ganz besonders in diesem Stück zeigt Ristori, dass sie Winckelmanns Lehre über die antike Kunst beherzigt hatte: Genaue historische Recherchen über Fresken und Fundstücke aus Pompei erlaubten eine detailgenaue Ausarbeitung des Bühnenbilds und der Kostüme, die interpretative Konstruktion stützte sich auf wirkungsvolle Posen, für die antike Skulpturen das Modell lieferten. Gut zu sehen ist dies auf einer Reihe von Aufnahmen des französischen Fotografen Disderi aus dem Mai 1856. Von den erhaltenen Exemplaren befindet sich ein Teil heute im Fondo Ristori des Museo Biblioteca dell’Attore in Genua: Es handelt sich dabei um eine Serie von im Fotoatelier nachgestellten Standfotografien, nicht um echte Szenenaufnahmen, schließlich konnte das Geschehen damals noch nicht direkt auf der Bühne fotografisch festgehalten werden. Wenn man jedoch in Rechnung stellt/bedenkt, dass sie nach der Aufführung als Erinnerungsstück in Form von Postkarten an die Zuschauer verkauft werden sollten, sind die von den dargestellten Posen ausgelösten Emotionen von großem Interesse. Ristori selbst spricht in ihren Betrachtungen zur Medea von einem Schauspiel, das aus einer gestischen Partitur bestehe, die „Gruppen“ bilde, welche beim Zuschauer große Gefühle erregen sollen: Es handle sich um Augenblicke, in denen das Geschehen aufgehoben werde, in denen die Schauspieler wie auf einem tableau vivant in einer ausdrucksstarken Pose innehielten, damit den Zuschauern Zeit bleibe, den Anblick zu goutieren. Die größte Wirkung geht dabei von den Posen aus, die den antiken Skulpturen entlehnt sind, insbesondere von jener Winckelmann verpflichteten Pose am Ende des Theaterstücks, der die in Florenz aufbewahrte Statue der Niobe als Vorbild diente. Dies wird von der Schauspielerin selbst bestätigt: „Osservo che questa attitudine, come molte altre, io aveva adottata studi-

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ando gli stupendi gruppi di Niobe, raccolti nelle famose gallerie degli Uffizi di Firenze, nella sala detta di Niobe.“26 Ristori erwähnt zwar mit keinem Wort, die entsprechende Beschreibung Winckelmanns gelesen zu haben. Seine an der Zweiergruppe der Niobe mit ihrer jüngsten Tochter durchdeklinierte Auslegung der Geschichte als Beispiel des Erhabenen muss sie jedoch gekannt haben, da sie deren Haltung auf der Bühne nachbildete und dabei den Ausdruck des stummen Schreckens der Mutter übernahm, um auf diese Weise die Verzweiflung der mythologischen Figur auf Legouvés Text zu übertragen: Seine Version der Medea sah ja vor, dass das Volk sich in seiner Wut über die Ermordung der Kreusa gegen sie wendet und beschließt, ihr die Kinder zu nehmen und sie selbst zu töten. Und genau dieser Schreckensmoment wird von der Schauspielerin nach dem Vorbild des Mythos in die Pose übertragen, sozusagen als ein Vorspiel zum tragischen Finale, bei dem in Legouvés Version Medea ihre Kinder auf den Altar des Saturn wirft und (hinter dem Altar) tötet: Lieber opfert sie diese dem Gott, anstatt sie sich von der wütenden Menschenmasse entreißen zu lassen. Ein Vergleich der beiden Bilder zeigt ganz deutlich, wie die Bewegung des ausgestreckten Arms, der den Mantel zum Schutz der Kinder hält, übernommen wurde. Zwar sind es hier zwei Kinder – in der Niobengruppe ist es dagegen nur ein Mädchen –, aber in derselben Haltung wie in der Skulpturengruppe: vor Schreck erstarrt, regungslos, bis die Mutter wieder in Aktion tritt, sie in den Mantel hüllt und hinter den Altar führt (Abb. 3). Die lähmende, Stimme und Ausdruck raubende Angst – wie Winckelmann mit Blick auf das antike Meisterwerks angemerkt hatte27 – verkehrt den Sinn der Kindstötung ins Gegenteil: Medeas Handeln erscheint als der verzweifelte Versuch, sie vor dem Los zu bewahren, das ihnen von der wütenden korinthischen Menschenmenge droht. Die zwischen der Hauptfigur und dem Publikum platzierte Menschenansammlung entzieht die verbrecherische Tat den Augen des Zuschauers, was es wiederum leichter macht, Medea von einer Schuld am Tod ihrer Kinder loszusprechen. Die von der Ristori verkörperte Medea wird dadurch tatsächlich zur Niobe, einer mater dolorosa, die – wie ein Großteil der Kritiker schrieb – den Ereignissen unkontrollierbarer Gewalt unterliegt. Am Ende des Stücks erwartet den Zuschauer ein weiterer Moment intensiven Pathos’, als die Schauspielerin nach der Untat in statuenhafter Pose zur Bühnenmitte schreitet und anklagend den Finger auf den eben auftretenden Jason richtet, der fassungslos wissen möchte, wer seine Söhne getötet habe. Mit Medeas eisiger

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Ristori: Ricordi (wie Anm. 18), S. 239 („Diese und andere Haltungen habe ich nach dem Studium der wunderbaren Niobidengruppe in der berühmten Galleria degli Uffzi in Florenz eingenommen.“). Winckelmanns Beschreibung findet sich in Monumenti antichi inediti, II, 1, Cap. VII, S. 119f., Nr. 89 (= SN 6.1, S. 311–313).

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Antwort „du“, die das „Medea superest“ aus Senecas Tragödie aufnimmt, endet das Stück.

Abb. 3: André Adolphe-Eugène Disdéri: Adelaide Ristori als Medea, 1856 (Museo Biblioteca dell’Attore di Genova)

Tatsächlich wird in den Rezensionen wiederholt das Bild der Statue herangezogen, um die Gebärdenkunst der Schauspielerin zu beschreiben: De Gubernatis spricht von „unsterblichen skulpturalen Formen“, Gautier von „der schönsten statuarischen Haltung“; der englische Kritiker der Times schreibt sogar, dass ihre Posen geradezu eine „Skulpturengalerie“ bildeten.28 In den Versen De Mussets über die Interpretation Ristoris ist zu lesen, dass „ces dieux de porphyre et du marbre et d’alabatre / Dont le monde romain autrefois fut peuplé“, ins Leben zurückgekehrt seien, und „dans un théatre, / Une statue antique, un soir avait parlé“.29

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Die Urteile über Ristoris Darstellung in der Medea stammen aus Elena Adriani: La Medea di Adelaide Ristori: un esempio della drammaturgia di un grande attore, In: Umberto Artioli (Hg): Il teatro dei ruoli in Europa. Padua 2000, S. 167–214, hier S. 197. Alfred de Musset: A madame Ristori. In Ristori: Ricordi (wie Anm. 18), S. 307 („die Götter aus Porphyr, aus Marmor und aus Alabaster / die einst die römische Welt bevölkerten“; „in einem Theater eine antike Statue zu sprechen anhob“).

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Das Stück, das sich vornehmlich an ein ausländisches, des Italienischen nicht mächtiges Publikum richtete, lebte hauptsächlich vom Bild der Protagonistin in ihrem Verhältnis zur Antike. Mehrfach wurde bemerkt, dass die Faszination, aber auch das Manko von Ristoris Medea eben darin liege, dass es sich nicht um eine kanonische Heldin der Klassik handele, sondern dass sie Züge der barbarischen Welt und des Griechentums in sich mische. Einige Beobachtungen zur Rezeption des Kostüms der Medea können zeigen, wie der klassizistische Blickwinkel die kollektiven Vorstellungen des Publikums beeinflusst hat. Das heute im Schauspielermuseum in Genua (Museo Biblioteca dell’Attore) aufbewahrte Kostüm hatte die Schauspielerin selbst entworfen, und dabei auf das herkömmliche Peplum mit der Palla verzichtet, um auch visuell den halbbarbarischen Charakter der Heldin, einer Fremden in Griechenland, herauszustreichen.30 Für ihr Modell ließ die Schauspielerin eigens die griechischen Vasen rotfigurigen Stils im Archäologischen Museum in Neapel untersuchen und schickte Reproduktionen davon an den Maler Ary Shaffer, damit er nach deren Vorbild ein zweiteiliges Kostüm im warmen Orange des antiken Tons anfertigte, mit einer Bordüre mit griechischen Mustern, ergänzt noch durch einen blauen Mantel. In Europa äußerten sich die Kritiker lobend über Ristoris Wahl. Einige fanden sogar Gefallen daran, die Quellen des Kostüms auszumachen und es nicht nur auf antike Vasenmalereien, sondern auch auf die pompeianische Wandmalerei zurückzuführen.31 Beim nordamerikanischen Publikum dagegegen sorgte erstaunlicherweise eben dieses Kostüm für die meisten Vorbehalte gegenüber dem Schauspiel. Als 1866 und dann auch 1875 das Stück im Zuge triumphaler Tourneen durch Südund Nordamerika auf die Bühnen der Vereinigten Staaten gelangte, reagierte das Publikum einigermaßen verblüfft auf angesichts einer klassischen Heldin, deren Darstellung so gar nicht den kanonisierten Vorstellungen entsprach. Das Kostüm wurde zum Gegenstand leidenschaftlicher Diskussionen und heftiger Kritiken: Das Bild der Schauspielerin verwirre, denn es sei zu bunt und das lachsrosa Kostüm passe nicht zur Eleganz einer klassizistischen Statue. So schrieb etwa der Theaterrezensent der New York Tribune: Ristori’s dress in Medea is designed by Ary Scheffer and is exceedingly picturesque. Salmon colored cloth edged with a marroon border of Greek pattern forms the dress, which is relived by a perfectly plain blue mantle, fastened on the left shoulder by a Greek ornament and caught under the right arm.32

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Eine Reproduktion des Bildes von Ristoris Kostüm findet sich in Teresa Viziano: Il palcoscenico di Adelaide Ristori. Rom 2000, S. 298. „Elle a tout l’air de s’étre détachée d’un des ces amphores […].“ (Théophile Gautier: Revue dramatique, 14. April 1856, [o.S.]); „elle etait vetue à ravir dans cette pourpre et dans cet habit retrouvé […] sur les murailles de Herculanum et de Pompei […].“ (J. J.: La semaine dramatique. In: Feuilletton du Journal des Debats, 16. April 1856, [o.S.]). The drama music, Ristori in Medea, in: New York tribune, 6. März 1875, [o.S.] („Das Kostüm der Ristori in Medea wurde von Ary Scheffer entworfen und ist übertrieben ausgefallen. / Das

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Und auch bei der Erstaufführung der Medea in Boston hebt die Kritik das Problem der Ausgefallenheit des Kostüms und sogar der Frisur hervor: Medea is a ‚barbarian‘, and it is permissible that she assumes a barbaric dress, but she marries a Greek and is among Greeks, and we see no reason why she should not dress her hair so as to preserve an artistic outline. With such curls Medea would not look well in a classic sculpture.33

Die allgemein verbreitete, auf der klassizistischen Auslegung beruhende Vorstellung vom Antiken fand hier keine genaue Entsprechung im Aussehen der Schauspielerin, obgleich nicht wenige Kritiker ihr das Verdienst eines intensiven Quellenstudiums zusprachen. Für das große Publikum war das Fehlen der kunstvoll drapierten traditionellen weißen Tunika ein unverzeihlicher Mangel, für uns hingegen ist es Zeugnis des beachtlichen Einflusses von Winckelmanns Ästhetik auf die Vorstellungswelt des Theaterpublikums im 19. Jahrhundert. Jedoch, die Zeiten ändern sich, und die vom Rezitationsstil geprägte Darstellung des Antiken auf dem Theater ist heute Sinnbild eines mittlerweile überwundenen Geschmacks. Was Ristori selbst darüber dachte und wie überzeugt sie immer noch von ihrem Auftreten auf der Bühne war, wissen wir nur aus einem Brief vom 29. Dezember 1899 an Tommaso Salvini, ihren langjährigen Schauspielkollegen aus vergangenen Tagen. Die nunmehr siebzigjährige Schauspielerin, die sich schon Jahre zuvor von der Bühne zurückgezogen hatte, vertraut dem Freund ihre unverhohlene Meinung über den modernen Rezitationsstil der Jahrhundertwende an. Von Neurosen und übertriebenen Gebärden und Körperbewegungen sei er beherrscht, heißt es dort, bevor Ristori mit den Worten schließt: Io modestamente sono d’avviso che l’attuale forma di interpretazione è falsa e acrobatica e che noi dobbiamo essere orgogliosi di essere stati quello che fummo, seguaci della vera bellezza e della manifestazione scultorea della grande arte.34

Übersetzung von Gunhild Schneider (unter Mitarbeit von Aleksandra Ambrozy)

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Kleid besteht aus einer lachsfarbenen Tunika mit einer braunen Bordüre mit griechischen Mustern, das durch einen einfarbig blauen Mantel aufgebessert wird, der mit einer griechischen Fibel an der linken Schulter befestigt und unter dem rechten Arme zusammengerafft ist.“) Auch die Frisur wird bemängelt: „The arrangement of hair […] is too stiff. It is difficult to admire that red band around the head, with its modern bow pendant from the back. Equally distasteful are the heavy set curls that spoil the contour of Ristori’s head.“ (Ebd.). Kate Field: Ristori’s first appaerance in Boston. In: Boston Daily Evening, 30. Oktober 1866, [o.S.] („Medea ist eine „Barbarin“ und es leuchtet daher ein, dass sie die Kleidung der Barbaren trägt, aber sie hat einen Griechen geheiratet und lebt unter Griechen und daher ist es unverständlich, warum ihre Frisur nicht dem künstlerischen Profil entsprechen sollte. Mit diesen Locken würde Medea in einer klassischen Skulptur nicht gut aussehen.“). Zit. nach Mirella Schino: Sulla tradizione attorica. La nuova recitazione alta in Italia alla fine dell’Ottocento. In: Teatro e Storia 8 (1990), S. 59–87, hier S. 75 („In aller Bescheidenheit meine ich, dass die aktuelle Rezitationsform falsch und akrobatisch ist, und dass wir darauf stolz sein müssen, dass wir die waren, die wir waren, Verkünder der Schönheit und des skulpturalen Ausdrucks der großen Kunst.“).

ELIO FRANZINI

Goethe in Italien: Auf Reisen mit Winckelmann Unter dem Titel Winckelmann und sein Jahrhundert veröffentlicht Goethe im Jahre 1805 gemeinsam mit Johann Heinrich Meyer und Friedrich August Wolf eine Hommage auf Winckelmann: Die Schrift sollte bekanntermaßen ein klares Zeugnis für die Zustimmung Goethes zu einigen der grundlegenden Ideale Winckelmanns sein, aber streng genommen verbleibt der Text auf einem oberflächlichen Niveau. Zudem enthält er einige kritische Anmerkungen, besonders in Bezug auf das Werk Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, das als „barock und wunderlich“ definiert und dem sogar ein eigentlicher „Sinn“ abgesprochen wird.1 Gegenüber der Geschichte der Kunst wird hingegen eine ganz andere Position eingenommen, die allerdings auch einige dunkle Punkte enthält. Als ein Beispiel für das klassische Ideal zitiert Goethe ein Werk, das Winckelmann zwar erwähnt, aber nicht hatte sehen können, da es verschollen und nur durch literarische Quellen bekannt war. Die Rede ist von der Statue des Olympischen Zeus. Man kann sich fragen, warum Goethe sich nicht auf ein Werk bezieht, das von Winckelmann beschrieben wurde und das er mit eigenen Augen gesehen hatte, wie etwa den Apollo vom Belvedere, der von Winckelmann als „das höchste Ideal der Kunst unter allen Werken des Alterthums, welche der Zerstörung derselben entgangen sind“ betrachtet wurde.2 Hier realisiert sich für Winckelmann ein wirkliches und echtes, übrigens auch von Benedetto Croce ausdrücklich geschätztes ‚ästhetisches Ideal‘, zu dessen Verwirklichung der Künstler „nur eben so viel von der Materie“ genommen habe, „als nöthig war, seine Absicht auszuführen und sichtbar zu machen.“3 Sein „Gewächs“, führt Winckelmann weiter aus, sei „[ue]ber die Menschheit erhaben [...], und sein Stand zeuget von der ihn erfüllenden Größe.“4 Goethe selbst löst den von ihm aufgeworfenen Zweifel auf, indem er einen ersten Hinweis zur Interpretation seiner ‚italienischen‘ Beziehung mit Winckelmann gibt: Der Bezug auf den Zeus von Olympia ist vielleicht eine Andeutung der Tatsache, dass, wie er schreibt, Winckelmann „mit den Augen [sehe]“, „mit dem Sinn unaussprechliche Werke [fasse], und doch [...] den unwiderstehlichen Drang [fühle], mit Worten und Buchstaben ihnen beizukommen“.5 Wenn die Beschreibung des Apolls vom Belvedere fast eine Synthese der Beziehung zwischen Idealität und 1

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Goethe: Skizzen zu einer Schilderung Winckelmanns. In: Ders.: Sämtliche Werke (Münchener Ausgabe). 33 Bde. Hg. v. Karl Richter. Bd. 6.2: Weimarer Klassik 1798–1806. Teil 2. Hg. von Victor Lange u.a. München 1988, S. 348–381, hier S. 359. Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums. Dresden 1764, S. 392 (= SN 4.1, S. 780). Ebd. Ebd. Goethe: Skizzen zu einer Schilderung Winckelmanns (wie Anm. 1), S. 372.

https://doi.org/10.1515/9783110710373-006

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Materie bei Winckelmann ist, so ist auch richtig, dass die Verwandlung des Verhältnisses zur Materie in der Nachahmung einer Idee umso glaubwürdiger gelingen kann, wenn der – auch marmorne – Körper fehlt, und alles auf die finiten Funktionen der Worte reduziert wird. Vermutlich ist dies der ‚Kern‘ der ‚römischen‘ Beziehung zwischen Winckelmann und Goethe. Goethe erwirbt Winckelmanns Geschichte der Kunst kurz nach seiner Ankunft in Rom und gibt in einer Anmerkung vom 3. Dezember 1786 ausdrücklich an, die Übersetzung von Carlo Fea zu benutzen, die auf der Wiener Ausgabe von 1776 basierte und zwei Jahre zuvor in drei Bänden erschienen war. Ende Oktober 1786 war Goethe in Rom angelangt und nach einem allgemeinen Blick auf die nicht nur ‚klassische‘ Stadt erklärt er auf derselben Seite, auf der er den Erwerb von Feas Übersetzung vermerkt, dass ihn nun auch „die römischen Altertümer [...] zu freuen“ anfingen.6 Einige Tage später, am 13. Dezember, teilt er mit, die italienischen Briefe Winckelmanns gelesen zu haben, die dieser einunddreißig Jahre zuvor geschrieben hatte, und erklärt: Mit welcher Rührung hab ich sie zu lesen angefangen! [...] ihm war es auch so deutsch Ernst um das Gründliche und sichre der Alterthümer und der Kunst. Wie brav und gut arbeitete er sich durch! Und was ist mir nun das Andencken dieses Mannes auf diesem Platze.7

Die Rolle, die in diesem Zusammenhang Feas Übersetzung gespielt haben könnte, ist keine unbedeutende. Wir kennen dank Stefano Ferrari die ‚Geschichte‘ der italienischen Winckelmann-Übersetzungen, deren Einfluss wichtig ist, da es hierbei nicht nur um die vielen literaturwissenschaftlichen Themen geht, sondern vor allem auch um die kulturelle und soziale Identität der daran beteiligten Übersetzer.8 Fea ist sich der Grenzen der vorhergehenden Übersetzung von Amoretti bewusst und nimmt, auch wenn er die deutsche Sprache nicht kennt, eine grundlegende Revision des Textes vor. Er wird dabei von einer großen Gruppe von Mitarbeitern beraten, unter denen der Spanier Azara und der Deutsche Reiffenstein hervorstechen. Es ist wichtig hier zu unterstreichen, dass in Feas Ausgabe der ikonografische Apparat erweitert und dem Werk eine feste Ordnung gegeben wird. Dazu kommen eine große Anzahl an gelehrten Anmerkungen: Die Ausgabe stellt also 6

7 8

Goethe: Italienische Reise. In: Ders: Sämtliche Werke (wie Anm. 1), Bd. 15: Italienische Reise. Hg. v. Andreas Beyer u. Norbert Miller. Frankfurt a.M. 1992, S. 174 (Brief vom 3. Dezember 1786). Vgl. Goethe an das Ehepaar Herder, 2. Dezember 1786. In: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausg.). 40 Bde. Hg. v. Hendrik Birus u.a. Abt. 2. Bd. 3: Italien – im Schatten der Revolution. Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 3. September 1786 bis 12. Juni 1794. Hg. v. Karl Eibl. Frankfurt a.M. 1991, S. 181. Goethe an das Ehepaar Herder und dessen Kinder, 13. Dezember 1786. In: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (wie Anm. 6). Abt. 2. Bd. 3, S. 187. Siehe Stefano Ferrari: L’eredità culturale di Winckelmann: Carlo Fea e la seconda edizione della Storia delle Arti del Disegno presso gli Antichi. In: Roma moderna e contemporanea X (2002), H. 1–2 (Januar–August), S. 15–48; Ders.: I traduttori italiani di Winckelmann. In: in Traduzioni e traduttori del Neoclassicismo. Hg. v. Giulia Cantarutti, Stefano Ferrari u. Paola Maria Filippi. Mailand 2010, S. 161–174.

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einen guten ‚Leitfaden‘ dar, gerade angesichts einer Art Verwirrung, von der auch Goethe in Rom ergriffen zu sein scheint und die ihn dazu bringt, Winckelmanns Geschichte der Kunst zu lesen. Dieser Leitfaden ist jedoch vorwiegend ein ‚emotionaler‘ und weniger ein theoretischer. Winckelmann dient Goethe, wie Francesco Vitale herausstellt, in erster Linie dazu, Ordnung in die Flut von Bildern zu bringen, von denen er in Rom überwältigt wird:9 Im Januar 1787 schreibt er, dass Winckelmann ihm ein Ansporn sei, „die Style der verschiednen Völcker des Alterthums und die Epochen dieser Style in sich“ zu unterscheiden.10 Vor allem aber, und das ist der hier entscheidende Punkt, wird Winckelmann zum Ansporn, über die Beziehung zwischen dem Idealen und dem Natürlichen, zwischen der Schönheit und der Sinnlichkeit zu reflektieren. Dabei hegt Goethe den Verdacht – und dieser hatte sich auch schon als wesentlich für seine theoretische Entwicklung gezeigt – dass die Werke der klassischen Kunst „nach eben den Gesetzen verfuhren, nach welchem die Natur verfährt“ und denen ich „auf der Spur bin.“11 Bei der weiteren Untersuchung dieses Zusammenhangs, dieser ambivalenten Beziehung, in der Winckelmann ihn gleichzeitig anzieht und abstößt, ist es besonders wichtig, die zentrale Rolle des Mythos vom Pygmalion hervorzuheben, der im Zentrum von Goethes Verhältnis zur Skulptur in Rom steht. Dieses Verhältnis hat eine Geschichte, die Goethe, und teilweise auch Winckelmann selbst, nicht unbekannt sein konnte. Die von Lessing angedeutete Frage der Taktilität markiert eine kritische Position gegenüber einer normativen, auf Regeln gestützten Auffassung der Schönheit, die nicht in der Lage sei, den Kern des Ästhetischen, nämlich die sinnlichen Vermögen, zu erfassen. Schon Condillac hatte in seiner 1754 erschienenen Abhandlung Traité des sensations die Bedeutung des Tastsinns als Sinnesorgan betont und auf präzisen philosophischen Grundlagen etabliert, wobei er ihn mit dem Gesichtssinn als dem für die Erkenntnis fundamentalen Sinnesvermögen verbunden hatte.12 Diese Position wurde auf anderer Ebene von Berkeley und im Allgemeinen von der englischen Philosophie des 18. Jahrhunderts bekräftigt. In ihr nimmt das ‚Manifest‘ des künstlerischen Anti-Klassizismus der Zeit, d.h. Edmund Burkes A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful eine zentrale Rolle ein. Im Rahmen einer sinnlichen Vision der ästhetischen Kategorien (sowohl der schönen als der erhabenen) widmet diese Schrift dem Tastsinn eine besondere Aufmerksamkeit und stellt ihn explizit neben den Gesichtssinn. Es reicht hier an die Passage zu erinnern, in der Burke die Ansicht 9 10 11 12

Francesco Vitale: Il corpo e l’ideale. Goethe e l’eredità di Winckelmann. In: Atti dell’ Accademia di Scienze Morali e Politiche CXIV (2003), S. 27–75. Goethe an Herzog Carl August, 13.–20. Januar 1787. In: Ders: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (wie Anm. 6), Abt. 2, Bd. 3, S. 225. Goethe: Italienische Reise (wie Anm. 6), S. 200 (Brief vom 28. Januar 1787). [Étienne Bonnot de Condillac:] Traité des sensations. 2 Bde. London 1754. Bd. 2, insbes. S. 1–15, 26–94.

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vertritt, dass die vom Gesichtssinn ausgehende Beschreibung der Schönheit auch durch den Tastsinn erläutert werden könne, der einen „ähnlichen Eindruck“ hervorrufe: Er bewirkt „ein gleiches Vergnügen“ und zeigt, dass „[z]wischen allen unsern äussern Sinnen [...] ein enges Band“ sei; und wiederum seien sie „alle nur verschiedne Arten des Gefühls“, die von verschiedenen Gegenständen hervorgerufen werden, „aber einerley in der Art der Eindrücke“.13 Darüber hinaus gelangt Burke nicht nur zu dem berühmten Paradox, demzufolge das Wohlgefallen der Farben durch den Tastsinn erfolge, sondern auch und vor allem konzipiert er seine ganze ästhetische Theorie der Schönheit aufgrund sinnlich wahrnehmbarer Eigenschaften, die in erster Linie den Tastsinn betreffen. In diesen Quellen gibt es also ohne weiteres ‚Sinnlichkeit‘, eine Sinnlichkeit, die die Schönheit umhüllt und dabei die Idealität annulliert. Bekanntermaßen ist bei Burke der Tastsinn der wahre und eigentliche Sinn des Schönen, jener, der sowohl die Form des Gefallens, als auch, durch die Sexualität, dessen soziale Nützlichkeit definiert. Er ist dies zudem, weil „der Tastsinn das Vergnügen der Weichheit erlebt, die ursprünglich kein Gegenstand des Gesichtssinns ist.“14 Da, wo es Form gibt (mehr im Schönen mithin als im Erhabenen), ist der Tastsinn absolut notwendig, weil er eine empathische Beziehung zu dem Objekt ermöglicht, und eine ‚Entspannung‘ der Körper hervorruft. Kurz gesagt hat der Tastsinn eine präzise ästhetische Rolle, und, besonders auf das Schöne bezogen, ist er die Hauptursache jenes Gefallens, das dieses hervorruft: Er erweist sich als ‚ästhetisches‘ Organ, weil er, gegen jeden Klassizismus, nicht die Einheitlichkeit der Körper erfasst, sondern deren Variation, die für die Schönheit notwendig ist, und die den Gesichtssinn und den Tastsinn auf eine fast untrennbare Weise nebeneinanderstellt. Es ist darüber hinaus kaum vorstellbar, dass Goethe, wenn er sich von Winckelmann leiten lässt, nicht auch die Position Herders kennt, der in seiner Abhandlung über die Plastik von 1778 dem Tastsinn eine besondere Rolle zuzuordnen scheint, und damit jene vorausgehende Tradition des 18. Jahrhunderts weiterführt, die, vor allem bei Burke, auch die Dunkelheit dieses Organs beachtet. Herder geht aber noch weiter, indem er die enge Verbindung zwischen ‚Tastsinn‘ und ‚Skulptur‘ darlegt, fast so, als könne diese Kunst den axiologischen Referenzpunkt des sinnlichen Empfindungsvermögens überhaupt bilden und die Debatte zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren neu definieren, die bis zu diesem Moment nur in der Malerei und der Poesie stattfindet, im Bild und im Logos. Dies ist also der Hintergrund, den Goethe gut kennt, als er sich über die Frage der Aufseherin, die ihm die Minerva Giustiniani zeigt, lustig macht, ob er auch „eine Schöne hätte, die diesem Marmor ähnlich sähe, daß er mich so sehr anzö-

13 14

[Edmund Burke:] Burkes Philosophische Untersuchungen über den Ursprung unsrer Begriffe vom Erhabnen und Schönen. Nach der fünften Englischen Ausgabe. Riga 1773, S. 199. Ebd., S. 201.

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ge.“15 Er verfängt sich damit deutlich in einen Widerspruch, schreibt er doch an seine Geliebte Frau von Stein, dass die Statue durchaus eine Rivalin von ihr sein könnte.16 Der Marmor nimmt im Unterschied zu den Kopien aus Gips, wie auch bei Herder, eine explizite Fleischlichkeit an aufgrund des, so ist in einem Brief Goethes von Weihnachten 1786 aus Rom zu lesen, „edle[n] Halbdurchsichtige[n] des gilblichen, der Fleischfarbe sich nähernden Steins“.17 Die Idealität scheint leichter erreichbar, wenn Statuen beschrieben werden, die es, wie gesagt, nicht mehr gibt: In dem Moment aber, in dem reale Züge erscheinen, hat die Idealität es schwer, sich zu behaupten. Der Tastsinn, oder dessen Vermögen, verändern die Ambiguitäten der reinen Sichtbarkeit des 18. Jahrhunderts tiefgreifend. Als Goethe sich über die Anspielungen der Aufseherin empört, scheint er zweifellos Winckelmann geistig nahe zu stehen: Er gebraucht Worte, die rhetorisch denen ähneln, die Winckelmann selbst verwendet, wenn er den Laokoon kommentiert und dabei schreibt, dass der Künstler „die Stärcke des Geistes in sich selbst fühlen [musste], welche er seinem Marmor einprägete“.18 Sieht man aber einmal ab von Rhetorik und emotionaler Beteiligung, kommt Pygmalion ins Spiel und mit ihm eine Beziehung, die durch die Italienreise nur scheinbar gestärkt, in Wirklichkeit aber eher geschwächt wurde, oder zumindest nun in eine umfassendere theoretische Fragestellung einbezogen ist. Winckelmann ist wohlgemerkt auch hier ein Bezugspunkt, wenn auch ein quälender und widersprüchlicher, da auch für ihn der von Ovid verbreitete Pygmalion-Mythos ein doppeldeutiges Symbol des Übergangs von einem dargestellten zu einem berührten und fleischlich besessenen Körper ist. Dies ist dann ein metaphorisches Bild der Überführung der formalen Repräsentation in den sinnlichen Besitz. Womöglich bricht es nicht mit dem formalistischen Klassizismus, wie es bei Burke der Fall ist, sondern wendet sich stattdessen zunächst einem akzentuierten Sensualismus und dann, wie bei Goethe, einem metamorphischen Begriff zu, die sich nicht darauf beschränkt, den Ursprung ‚darzustellen‘, sondern diesen vielmehr sehen und berühren möchte. Winckelmann ist auch in der Lektüre Goethes ein wichtiger Anhaltspunkt dieser pygmalionischen Ambiguität, in deren Mittelpunkt kurz zusammengefasst die Beziehung zwischen einer idealen Konzeption des Werks und seiner sinnlich wahrnehmbaren Erfahrung steht. Winckelmann wird gemeinhin einerseits als der Theoretiker des idealen Menschen betrachtet, dem es gelingt, Idee und Materie zu harmonisieren, und der dabei gleichzeitig eine nur intellektualistische Sicht der klassischen Welt vermeidet. Andererseits weist er aber auch deutlich, wie Goethe klar erkennt, auf einen fleischlichen Aspekt der antiken Bildhauerkunst hin (man 15 16 17 18

Goethe: Italienische Reise (wie Anm. 6), S. 187 (Brief vom 13. Januar 1787). Goethe an Charlotte von Stein, 25.–27. Februar 1787. In: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (wie Anm. 6), Abt. 2, Bd. 3, S. 233. Goethe: Italienische Reise (wie Anm. 6), S. 178 (Brief vom 25. Dezember 1786). Winckelmann: Gedancken über die Nachahmung (= SN 9.1, S. 66).

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denke dabei etwa an den Apollo vom Belvedere). Auf diese Weise beabsichtigt Winckelmann, den sinnlichen und natürlichen Reiz der menschlichen Figur mit der idealen Betrachtung der Verkörperung des Göttlichen zu vereinigen.19 Goethe weiß also im Jahr 1787 sehr wohl um den Wert der Winckelmann’schen ‚Methode‘, die dazu geeignet ist, die Werke unter historischevolutionären Kriterien zu betrachten. Er weiß, dass der Kern des Diskurses sich auf eine Ebene ausdehnen kann, die eine metaphysische Vorstellung von der Geschichte der antiken Kunst überschreitet und ihre Ambiguitäten auf eine theoretische Weise behandelt. Goethe scheint in der Tat einerseits den Mythos des Pygmalion (ein „unwürdiges Märchen“20) abzulehnen, bei dem die Sinnlichkeit die Darstellung und die Kontemplation des Schönen töte, insofern sie in ein Verlangen nach fleischlichem Besitz ausarte. Andererseits scheint er aber auch von diesem Mythos gefesselt, als verweise er auf eine verwirrende, nicht preiszugebende Erfahrung, die das Unbewusste enthüllt. In dieser Ambiguität scheint er den Weg Winckelmanns nachzuvollziehen, der in dem Mythos den sinnlichen Ursprung der antiken Skulptur sieht: Die großen Künstler der Griechen, die sich gleichsam als neue Schöpfer anzusehen hatten, ob sie gleich weniger für den Verstand, als für die Sinne arbeiteten, suchten den harten Gegenstand der Materie zu überwinden, und, wenn es möglich gewesen wäre, dieselbe zu begeistern: dieses edle Bestreben derselben auch in früheren Zeiten der Kunst gab Gelegenheit zu der Fabel von Pygmalions Statue.21

Es ist dies ein Mythos, für dessen Rezeption im 18. Jahrhundert zwar Bodmers literarische Bearbeitung tonangebend war, den Winckelmann aber in eine Richtung interpretiert, die jener von Ovid gewiesenen sehr nahekommt. Der Autor der Geschichte der Kunst betont hier nicht die Sinnlichkeit der Transformation, sondern vielmehr die ideale Beschaffenheit der Beziehung zwischen dem Künstler und den von ihm erschaffenen Körpern (ganz anders als etwa der Kirchenvater Clemens von Alexandria, der, wie übrigens Goethe auch, in diesem Mythos den Beweis für die trügerische Funktion der Kunst und zudem die Gefahr der heidnischen Illusionen sah, die mit dem Bilderkult verbunden sind). Wie lassen sich nun Winckelmanns ‚idealisierende‘ Faszination und Goethes zweideutige Entrüstung zusammenzubringen? Ist letztere nur ein patristisches Überbleibsel oder das Anzeichen einer neuen Haltung? Sind es zwei Seiten derselben Medaille oder zwei verschiedene Arten, die Bedeutung des Körpers und seine Berührbarkeit zu begreifen? Um diese keinesfalls bloß rhetorischen Fragen zu beantworten und zu einer Schlussfolgerung zu gelangen, ist zunächst zu betonen, dass der Unterschied – der vielleicht das Zeichen einer Überwindung der neuklas19 20 21

Vitale: Il corpo e l’ideale (wie Anm. 9), S. 32. Johann Wolfgang Goethe: Diderots Versuch über die Malerei. In: Ders.: Sämtliche Werke (wie Anm. 1), Bd. 7, S. 528. Winckelmann: Geschichte der Kunst (= SN 4.1, S. 262).

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sischen Poetik ist, die in Rom ihre Wurzeln hat – seinen Grund in einem unterschiedlichen Konzept von Körperlichkeit hat, das sich bei Goethe (und nicht bei Winckelmann) dreier Einflüsse verdankt: Der erste ist Lavater, an dessen Physiognomischen Fragmenten Goethe mitarbeitete, bevor er mit dem theologischen Ansatz ihres Autors brach. Der zweite ist die Freundschaft mit dem Bildhauer Alexander Trippel, dem Goethe sogar Modell stand und dank dem er zu einer ersten Schlussfolgerung in dieser Frage gelangte, die im Übrigen auch in den Schriften über die Natur und die Urpflanze nachzulesen sind: die Überzeugung nämlich, dass die Körperlichkeit der Skulptur nicht nur das Ergebnis einer raffinierten Technik, das Resultat der Anwendung eines Kanons oder einer starken Sinnlichkeit ist, sondern auch das „Produkt von notwendigen Naturgesetzen, in denen es möglich ist, die Präsenz des Göttlichen zu erfahren, entsprechend der unmittelbaren Intuition, die die Griechen hatten“.22 Mit Herder, dessen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit Goethe in jener Zeit liest, zeigt sich hier nun der dritte und grundlegende Einfluss. Herder zitiert darin – und Goethe bittet ihn, ihm die fragliche Passage in Gänze zu exzerpieren – die Arbeit des Goethe wohlbekannten Anatomen Petrus Camper.23 Camper wird – vielleicht bewusst – herangezogen, um sich von der Methode Winckelmanns, aber auch von dessen pygmalionischer Ambiguität zwischen dem Sinnlichen und dem körperlichen Ideal zu distanzieren. Bekanntermaßen beruht für Winckelmann die Schönheit der Körper in der griechischen Plastik auf einer zweistufigen Nachahmung: Da ist zum einen die individuelle Schönheit, die aus der Nachahmung eines subjektiven lebendigen Modells resultiert, und zum anderen die ideale Schönheit, die allerdings eine Art Weiterentwicklung der ersten ist. Die ideale Schönheit ist eine Art Kombination der beiden Elemente, die – nach dem Prinzip der Einheit in der Mannigfaltigkeit – in der Darstellung der Götter die besten Teile der individuellen Körper zusammenfügt. Das Schema wird oft von Winckelmann verwendet und häufig auf eine zweideutige Weise: Das Ideal hat eine feste empirische Grundlage und seine Herausbildung erfolgt in einem konstanten Austausch zwischen Idee und Darstellung. Für den in der Linie Herders argumentierenden Goethe ist die konzeptionelle Ebene eine ganz andere, auch wenn er von ähnlichen Voraussetzungen und denselben Begriffen ausgeht wie Winckelmann, so als ob er auf der Suche nach einem ‚transzendentalen‘ Prinzip der der antiken Plastik innewohnenden Körperlichkeit sei. Goethe entfernt sich also von Winckelmann und nähert sich Herder gerade in der Suche nach der „Möglichkeit“ an, „eine allgemeine Regel für das Verständnis der antiken Plastik aufzustellen, eine Regel, die auf der Beobachtung der Natur gründet und nicht auf abstrakten metaphysischen Spekulationen“.24 Der Mythos 22

23 24

Vitale: Il corpo e l’ideale (wie Anm. 9), S. 41 („prodotto delle leggi necessarie della natura nelle quali è possibile cogliere la presenza del divino, secondo l’intuizione immediata che ne aveva l’uomo greco“). Goethe: Italienische Reise (wie Anm. 6), S. 500 (Brief an Herder, 12. Oktober 1787). Ebd., S. 43.

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des Pygmalion wird interpretiert – und das in eine Richtung, die von jener metamorphischen Ovids womöglich nicht sehr weit entfernt liegt – um die Bedeutung der Kunst in ihrer formalen Beziehung zur Natur hervorzuheben.25 Die Kunst ist nicht nur fähig, die Natur zu ersetzen, sondern sich mit ihr auch auf eine Ebene zu stellen, mit den gleichen Voraussetzungen und Möglichkeiten. Der Pygmalion-Mythos, über den Winckelmann und Goethe in zeitlichem Abstand beim Betrachten derselben römischen Statuen debattieren, und mit dem sich in ähnlicher Weise auch schon Rousseau und Diderot auseinandergesetzt hatten, wird bei Herder, was Goethe erst in Rom realisiert, zum Ausgangspunkt einer Frage, die zwar im ästhetisch-philosophischen Denken des 18. Jahrhunderts schon präsent und möglich war, sich aber nun von dessen Prämissen loslöst, oder besser: einen neuen Weg aufzeigt. Die ästhetisch-künstlerische Zusammenarbeit von Visuellem und Taktilem, die im 18. Jahrhundert die theroetischen Debatten bestimmte, und die Goethe Winckelmann irgendwie zum ‚Vorwurf‘ machte, wird hier auf einer anderen Ebene erschüttert, und zwar mit Auswirkungen auf das Verständnis von Stil und künstlerischer Form. Herder vertritt am Beginn der Plastik die Auffassung, daß das Gesicht uns nur Gestalten, das Gefühl allein, Körper zeige: daß Alles, was Form ist, nur durchs tastende Gefühl, durchs Gesicht nur Fläche, und zwar nicht körperliche, sondern nur sichtliche Lichtfläche erkannt werde.26

Es gilt also nicht nur, wie noch bei Lessing, in Frage zu stellen, dass alle bildenden Künste Künste des Körpers seien, sondern auch, dass die ‚Form‘ durch den Gesichtssinn erfasst werden kann. Der Körper – d.h. der durch drei Dimensionen im Raum präsente Gegenstand – kann für Herder nur von der Skulptur dargestellt werden, während die Malerei sich mit der Abbildung begnügen muss. Das bedeutet, dass man sich immer weiter von einer sowohl mimetischen und idealen, als auch rein darstellenden Sichtweise der Kunst entfernt hat, mit all ihren metaphysischen oder abstrakten Implikationen. Der Körper der Skulptur ist ein solcher – und hier erkennt man die allgemeine gnoseologische Auffassung, die dem Diskurs Herders, wie Goethe klar erfasst, zugrunde liegt – weil er in taktilem Kontakt mit unserem Körper steht, d.h. mit dem Körper, der wirklich die Form spüren lassen kann, seine „Undurchdringlichkeit, Härte, Weichheit, Glätte, Form, Gestalt, Rundheit“.27 Tastsinn und Gesichtssinn sollen also nicht einander entgegengesetzt werden, man muss vielmehr begreifen, dass nur ihre Vereinigung zum Urteil führen kann. Folglich kommt der Plastik als jener Kunst, bei der der Tastsinn den Gesichtssinn leitet, eine besondere erkenntnisleitende Funktion zu, denn allein sie 25 26 27

Vgl. Gianpiero Rosati: Narciso e Pigmalione. Illusione e spettacolo nelle Metamorfosi di Ovidio. Pisa 2016. Johann Gottfried Herder: Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traum. Riga 1778, S. 9. Ebd., S. 11.

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kann die Form der Dinge wiedergeben. Bei Herder werden mithin die kanonischen Motive des 18. Jahrhunderts zur kognitiven Vereinigung der beiden Sinne, die bei Winckelmann augenscheinlich so stark sind, sowohl dazu verwendet, die Künste voneinander zu unterscheiden, und dabei abstrakte Verbindungen aufzubrechen, als auch vor allem dazu, die starke Körperlichkeit der Skulptur hervorzuheben, die eine Form symbolisiert, bei der die Idee nur durch das Fleisch und sein Erleben ausdrückbar ist. Goethes Geringschätzung des Pygmalion-Mythos ist demnach das eigentliche Zeichen für die Wiederkehr des Verdrängten. Derselbe Autor, den die Idealität des Körpers in der klassischen Skulptur begeistert, und der die sensualistische Reduzierung anprangert, schreibt in einer seiner Römischen Elegien diese Worte: Aber die Nächte hindurch hält Amor mich anders beschäftigt; Werd’ ich auch halb nur gelehrt, bin ich doch doppelt vergnügt. Und belehr ich mich nicht? wenn ich des lieblichen Busens Formen spähe, die Hand leite die Hüften hinab. Dann versteh ich erst recht den Marmor: ich denk’ und vergleiche, Sehe mit fühlendem Aug’, fühle mit sehender Hand.28

Der Schluss ist sehr explizit und sehr wenig papieren: Die Verbindung der Sinne erweckt den Körper aus dem Marmor, macht ihn zu lebendigem und pulsierendem Fleisch. Goethe wird gegen seinen Willen zum Pygmalion: „mit Augen zu sehen und mit Händen zu greifen“, schreibt er an einer anderen Stelle.29 Die neapolitanischen Erfahrungen bei Lord Hamilton gehen in dieselbe Richtung.30 Die menschliche Schönheit, sagt er 1805 in der Winckelmann gewidmeten Abhandlung, wird zum Höhepunkt der Natur und kann nicht in einer beengten ‚Idealität‘ enden.31 Die Notwendigkeit einer direkten Erfahrung stellt sich in einen völlig neuen Erfahrungsrahmen, und das ist die große Lehre, die er aus Winckelmann zieht. Francesco Vitale behauptet zu Recht, dass Goethe in Italien von seiner Suche nach der Urpflanze als statischem Strukturmodell zur Suche nach einem wandelbaren Reich der Formen und des Lebens übergeht, so wie die von Pygmalion angefertigte Statue zu Fleisch wird als Protagonistin einer organischen Metamorphose: [È] possibile riconoscere, a proposito della scultura, un movimento analogo, che va dalla iniziale ricerca del canone ideale, sublimazione divina della corporeità umana, all’identificazione di quest’ultima, quale forma naturale immanente alla plastica, la cui elaborazione risponde ad

28 29

30 31

Goethe: Römische Elegien. In: Ders.: Sämtliche Werke (wie Anm. 1), Bd. 3.2: Italien und Weimar 1786–1790, Teil 2. Hg. von Hans J. Becker u.a., München 1990, S. 47 (Fünfte Elegie). Johann Wolfgang Goethe: Zur Morphologie. Erster Band. In: Ders: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (wie Anm. 6), Bd. 24: Schriften zur Morphologie. Hg. v. Dorothea Kuhn, Frankfurt a.M. 1987, S. 399–568, hier S. 403. Vgl. etwa Goethe: Italienische Reise (wie Anm. 6), S. 268 (Neapel, 22. März 1787). Goethe: Skizzen zu einer Schilderung Winckelmanns (wie Anm. 1), S. 354f.

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una necessità non più soltanto estetica, o ancora estetica, ma in senso differente (non più ideale, ma materiale, sensibile, pulsionale.32

Goethes pygmalionische Zweifel am Winckelmann’schen Neoklassizismus stimmt also mit der von Herder entwickelten Perspektive überein. Gleichzeitig sind sie das Zeichen einer ‚Erfahrung‘, die sich nur in Italien vollzieht und in einer neuen Betrachtungsweise der klassischen Welt realisiert: Die antike Plastik wird dabei als Vermögen betrachtet, den metaphorischen Sinn der Form in der ‚Präsentation‘ ihrer selbst zu erfassen, die nicht auf ihre ‚Präsenz‘ reduzierbar ist, auf eine stabile beurteilbare Form, auf eine beruhigte und vermittelnde ‚Darstellung‘. Der Tastsinn ist der Sinn, der die Isolierung meidet und zur Totalität der ästhetischen Erfahrung öffnet, jener Totalität, bei der es eine inter-körperliche Wahrnehmung gibt, die sich nicht auf die Sichtbarkeit beschränkt, sondern versucht, deren scheinbare ‚Klarheit‘ zu überwinden, indem sie sie neben eine ‚dunkle‘ Macht stellt, die nicht durch die Selbsttransparenz des Dargestellten täuscht. Der Tastsinn ermöglicht es, auch die dunklen Aspekte der Form zu ergründen, jenes Unsichtbare und ‚Unfertige‘, das die beste Antwort auf die ausschließlich narrativen, allegorischen, metaphorischen, rhetorischen Sichtweisen der Kunst selbst ist. Die Kunst ist nicht nur ‚Darstellung‘, sie ist auch ‚Erlebnis‘. Als solches eröffnet sie eine symbolische Dimension, die nicht nur auf Formen reduzierbar ist, so sehr diese auch mit Allegoresen verfeinert sind. Trotz der Distanzierung zu Winckelmann hebt Goethe jedoch auch jene Ambiguität hervor, die die eigentliche Faszination für Winckelmann ausmacht: Dieselbe Idealität – diejenige, die sich im Olympischen Zeus manifestiert – vermischt sich mit einer gezügelten, aber unbeugsamen Sensualität, die sich im Apoll vom Belvedere zeigt. Unter dem Eindruck der Italienreise, des Pygmalion, aber auch der jungen Engländerin Emma Harte, die er in Neapel im Hause Lord Hamiltons kennenlernt,33 arbeitet Goethe den ‚körperlichen‘ Aspekt bei Winckelmann heraus, jenes Verlangen also, das immer auch in dem Idealen steckt, das Heidnische, die Natur, die die Göttlichkeit der Kunst transzendiert. Goethe liest Winckelmann vielleicht mit den Augen Diderots und überwindet so die Poetiken von Klassizismus und Neoklassizismus: Die ‚Form‘ der Objekte, so erscheint es bei Goethe, ist untrennbar von der ‚totalen Erfahrung‘ unserer körperlichen Sinne. Die Wahrnehmung ist die Fähigkeit, all unsere sinnlichen Erfahrungen in einer ‚einzigen Welt‘ zu vereinen, in der kein abstraktes und ideales Subjekt die Synthese vornimmt, sondern, wie Merleau-Ponty schreibt „der Leib, der seiner Zerstreuung sich ent32

33

Vitale: Il corpo e l’ideale (wie Anm. 9), S. 59 („Bezüglich der Skulptur ist eine analoge Bewegung erkennbar, die von der anfänglichen Suche nach dem idealen Kanon, von der göttlichen Sublimierung der menschlichen Körperlichkeit zur Identifizierung der letzteren als natürlicher, der Plastik immanenter Form geht, deren Ausarbeitung einer nicht mehr nur ästhetischen, oder noch ästhetischen Notwendigkeit entspricht, sondern einem anderen Sinne (kein idealer mehr, sondern ein materialer, sensibler, instinktiver).“). Siehe Goethe: Italienische Reise (wie Anm. 6), S 257f. (Caserta, den 16. März 1787).

Goethe in Italien: Auf Reisen mit Winckelmann

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reißt, sich sammelt und mit allen Mitteln auf ein einziges Ziel seiner Bewegung verlegt, indem in ihm in Gestalt des Phänomens der Synergie eine einzige Intention sich durchsetzt.“34 1805 formuliert Goethe die Auffassung, dass die formale Zustimmung Winckelmanns zu christlichen Prinzipien vielleicht eine Ideologie gewesen sei, eine Ideen-Verkleidung, ein „Maskenkleid“,35 fast so wie für ihn selbst in Rom die Ächtung des Pygmalion: Wird der Schleier aber weggerissen, so dringt mächtig und deutlich das Gesicht Diderots hervor, die Kraft einer heidnischen naturalistischen Metamorphose, die den menschlichen Körper nicht in zwei Teile trennt – Marmor und Fleisch –, sondern es vielmehr aufgrund ihrer gleichzeitigen Erfahrung vermag, ein Fleisch zu zeigen, das, wie Diderot schreibt, das einzige echte Gewand des Menschen ist, seine vitale Essenz. Übersetzung von Gudrun Wiesel (unter Mitarbeit von Aleksandra Ambrozy)

34 35

Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Hg. v. Rudolf Boehm. Berlin 1966, S. 272. Goethe: Skizzen zu einer Schilderung Winckelmanns (wie Anm. 1), S. 358.

2.

 

Ein Klassiker der Geschichtsschreibung Transposition und Transformation

STEFANO FERRARI

Die ersten beiden italienischen Übersetzungen von Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sind es italienische Editionen, die für die europaweite Verbreitung der wichtigsten Werke Winckelmanns maßgeblich werden und in dieser Funktion die bereits früher zirkulierenden französischen Übersetzungen beerben. Waren es hier fast ausschließlich Vermittler, die jenseits der französischen Grenzen geboren wurden, wie die Deutschen Johann Georg Wille, Gottfried Sellius und Michael Huber, der Österreicher Jakob Emmanuel Wächtler und der Holländer Hendrik Jansen, sind im Fall der italienischen Winckelmann-Rezeption gebürtige Italiener vermittelnd tätig. Die Kenntnis der deutschen Sprache ist dabei jedoch nicht immer als conditio sine qua non vorauszusetzen. 1779 in Mailand und dann 1783–1784 in Rom werden die ersten beiden Versionen der Storia delle Arti del Disegno presso gli Antichi publiziert. Beide Übersetzungen basieren auf der zweiten, 1776, also postum in Wien gedruckten Auflage der Geschichte der Kunst des Alterthums. Damit ist Italien zugleich das einzige europäische Land im 18. Jahrhundert, das bei der Übertragung von Winckelmanns Hauptwerk allein von diesem Druck ausgeht.1 Die beiden italienischen Versionen der Storia delle Arti del Disegno sind dabei nicht das Werk Einzelner, sondern jeweils eines ganzen Kollektivs. Die daran beteiligten Übersetzer sind also nie allein mit dem Original beschäftigt, wie dies etwa 1781 bei der französischen Übertragung der Geschichte der Kunst des Alterthums durch Huber der Fall war.2 Hinter den verlegerischen Vorhaben von Mailand und Rom steht jeweils eine ganze Arbeitsgruppe, bestehend aus dem Übersetzer, der für die sprachliche Vermittlung zuständig ist, sowie aus einem Stab von Mitarbeitern, die allein mit der Prüfung und Überarbeitung des gelehrten Apparats und der Erweiterung der ikonographischen Dokumente betraut sind. In der Außendarstellung aber lässt man es gerne an der notwendigen Transparenz vermissen: Der tatsächliche Beitrag der einzelnen Beteiligten wird unterschlagen bzw. verborgen, womit man nicht weit weg von der Praxis vieler anderer editorischer Gemeinschaftsunternehmen der Zeit wie etwa der Enzyklopädien oder der literarischen Zeitschriften ist.

1

2

Stefano Ferrari: Joseph von Sperges e la ricezione austriaca di Winckelmann. In: Giulia Cantarutti u. Stefano Ferrari (Hg.): L’Accademia degli Agiati nel Settecento europeo. Irradiazioni culturali. Mailand 2007, S. 219–240. Michel Espagne: Übersetzer in Paris und Leipzig: Michael Huber (1727–1804). In: Ders. u. Werner Greiling (Hg.): Frankreichfreunde. Mittler des französisch-deutschen Kulturtransfers (1750–1850). Leipzig 1996, S. 85–106; Pascal Griener: L’esthétique de la traduction. Winckelmann, les langues et l’histoire de l’art (1755–1784). Genf 1998.

https://doi.org/10.1515/9783110710373-007

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Stefano Ferrari

Die Mailänder Version wird Carlo Amoretti anvertraut, dem zwei kompetente Mitarbeiter für die Aktualisierung des kritischen Apparats und die Erneuerung des illustrativen Teils zur Seite gestellt werden, und zwar die Zisterzienser Angelo Fumagalli und Carlo Giovanni Venini.3 Die römische Ausgabe wird von Carlo Fea herausgegeben, der neben anderen auf den Beistand zweier herausragender Persönlichkeiten der ausländischen Gemeinde zählen kann, den Spanier José Nicolás de Azara und den Deutschen Johann Friedrich Reiffenstein.4 Die Mailänder Übersetzung entspringt dem direkten Willen der österreichischen Zentralregierung, den Misserfolg der Neuauflage von 1776 vergessen zu machen, die schon vor ihrem Erscheinen heftig kritisiert worden war. Diese negative Einschätzung wurde in den folgenden Jahren von einigen der wichtigsten deutschen Gelehrten und Schriftsteller wie Christian Gottlob Heyne, Christoph Gottlieb von Murr, Michael Huber, Gotthold Ephraim Lessing, Johann Gottfried Herder und Johann Wolfgang Goethe nachdrücklich bestätigt.5 Die Möglichkeit, eine eigene, aber anderen Herausgebern anvertraute Neuausgabe anzugehen, wird indes verworfen. Stattdessen wendet sich der Wiener Hof noch im gleichen Jahr an die der Regierung direkt unterstellte Druckerei des Klosters Sant’Ambrogio Maggiore in Mailand, um eine neue Edition vorzubereiten, diesmal in Form einer Übersetzung. Die Wahl fällt auf die lombardische Hauptstadt, da es sich bei dieser um das damals bedeutendste intellektuelle und verlegerische Zentrum der österreichischen Hoheitsgebiete in Italien handelt. Außerdem muss die neue Version innerhalb der Grenzen des Habsburgerreichs erscheinen, um es der Krone zu ermöglichen, diese als Ausdruck der eigenen Kulturpolitik darzustellen. Im Unterschied zur römischen ist im Falle der Mailänder Übersetzung unter den überlieferten Autographen auch der handschriftliche Text Amorettis erhalten, ganz entgegen den Usancen des Buchdrucks im Ancien Régime, diese Art von Dokumenten nach der Drucklegung zu vernichten.6 Die Handschrift ist jedoch ohne den Anmerkungsapparat überliefert, der separat erstellt und dann vom Übersetzer und seinen beiden unentbehrlichen Assistenten Fumagalli und Venini der Arbeit beigefügt wurde. Für die Realisierung der Edition stellten Hof und Kanzlei den Verantwortlichen eine Reihe von Materialien zur Verfügung, von denen man sich eine im Vergleich zur Ausgabe von 1776 vollständigere und korrektere Version versprach. Unter den besonders interessanten aus Wien übersandten Dokumenten, die sich in den Papieren Amorettis erhalten haben, findet sich zum Beispiel ein 3

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5 6

Stefano Ferrari: La prima traduzione italiana della Geschichte der Kunst des Alterthums: vicende editoriali e ricezione critica. In: Aldo Coletto u. Pierluigi Panza (Hg.): Winckelmann a Milano. Mailand 2017, S. 22–35. Stefano Ferrari: L’eredità culturale di Winckelmann: Carlo Fea e la seconda edizione della Storia delle Arti del Disegno presso gli Antichi. In: Roma moderna e contemporanea 10 (2002), H. 1–2, S. 15–48. Griener: L’esthétique de la traduction (wie Anm. 2), S. 38–39. Istituto Lombardo di Scienze e Lettere di Milano, Mss. Amoretti, XV, Winkelmann, Storia delle Arti del Disegno, Fasz. 2.

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anonymer Text mit dem Titel Flüchtige Erinnerungen gegen die neue wienerische Auflage von Winkelmanns Geschichte der Kunst im J. 1776, in dem äußerst penibel die schwerwiegendsten Ungenauigkeiten der österreichischen Neuausgabe aufgelistet werden. Über die gleichen Kanäle gelangt auch die Handschrift der unvollständigen, von dem Pariser Enzyklopädisten François-Vincent Toussaint zwischen 1768 und 1772 in Berlin realisierten französischen Version der Histoire de l’art chez les anciens Winckelmanns in die Hände des Mailänder Übersetzers. Für die neue italienische Edition ist diese jedoch nicht maßgeblich. Schon Amoretti zieht sie lediglich als Hilfsmittel heran, um einigen textlichen Mängeln des Wiener Nachdrucks zu begegnen.7 Auf Anfrage erhalten die Mailänder Bearbeiter von Kardinal Alessandro Albani außerdem eine Reihe von Zeichnungen, mit denen der ikonographische Apparat ihrer Übersetzung bereichert werden soll, und der Winckelmann eine Reihe von neuen Monumenten entnehmen wollte, um sie in die zweite Ausgabe der Geschichte der Kunst wie auch in das in Angriff genommene aber nie verwirklichte Projekt des dritten Bandes der Monumenti antichi inediti einzufügen. Mit Zufriedenheit wird die neue italienische Ausgabe am Habsburger Hof aufgenommen. Wenzel Anton von Kaunitz sieht sich zu den folgenden Zeilen veranlasst, die er am 12. März 1780 an Graf Carlo Firmian, den bevollmächtigten Minister der Lombardei, richtet: Ho ricevuto gli esemplari della Traduzione Italiana della Storia delle Arti del Disegno, opera del Winkelmann, che V. E. mi aveva annunziata. Quest’intrapresa fa molto onore alla Congregazione Cistercense: sono degne di lode le persone, che l’hanno progettata, e condotta: non che il traduttore, e l’autore delle erudite annotazioni. […]. Parendomi utile la detta opera del Winkelmann a spandere lumi ottimi pel progresso, e perfezione delle Belle Arti, anche nella Lombardia[,] non ebbi difficoltà di presentare a S. M. l’esemplare destinato alla Medesima, la quale non contenta di voler che sia manifestato per il mezzo di V. E. il particolare suo aggradimento ai PP. Superiori della Congregazione Cistercense, mi ha fatto tenere le qui annesse sei Medaglie d’oro da darsi in contrasegno della R.le accettazione, quattro a quei Monaci Autori della Storia Diplomatica di Milano sotto Federico I. ed editori della seguente opera; e due al suo traduttore abate Amoretti.8

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Stefano Ferrari: Il piacere di tradurre. François-Vincent Toussaint e la versione incompiuta dell’Histoire de l’art chez les anciens di Winckelmann. Rovereto 2011, S. 155–240; Ders.: Una memoria inedita sulla riedizione viennese della Geschichte der Kunst des Alterthums (1776) di Winckelmann. In: Michael Dallapiazza, Stefano Ferrari u. Paola Maria Filippi (Hg.): La brevitas dall’Illuminismo al XXI secolo / Kleine Formen in der Literatur zwischen Aufklärung und Gegenwart. Scritti in onore di Giulia Cantarutti / Festschrift für Giulia Cantarutti. Frankfurt a.M. 2016, S. 65–74. Archivio di Stato di Milano, Studi parte antica, Fasz. 107 („Ich habe die Exemplare der italienischen Übersetzung der Storia delle Arti del Disegno, ein Werk Winkelmanns, wie mir von Eurer Exzellenz angekündigt wurde, erhalten. Dieses Unternehmen macht der Zisterziensischen Kongregation große Ehre: die Personen, die das Werk geplant und ausgeführt haben, sind großen Lobes würdig, und natürlich auch der Übersetzer und der Autor der gelehrten Anmerkungen. […]. Besagtes Werk Winkelmanns erscheint mir nützlich, um hervorragendes Licht für den Fortschritt und die Perfektion der bildenden Künste auch in der

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Feas römische Ausgabe wiederum verfolgt hauptsächlich das Ziel, die zahlreichen Fehler und Schwächen der Übersetzung von Amoretti zu berichtigen und auszumerzen. Es handelt sich dabei also nicht so sehr um eine neue Übersetzung als vor allem um eine Korrektur der Mailänder Vorgängerversion auf sprachlicher wie auch wissenschaftlicher Ebene. Die Position von Fea wird nicht nur von verschiedenen italienischen Gelehrten gestützt, sondern auch von Amoretti selbst, der am 16. Januar 1780 Paolo Maria Paciaudi gegenüber ausdrücklich eingeräumt hatte: „Ella troverà l’opera di Winkelmann tuttora piena di difetti; ma ciò non toglie che io non abbia fatta molta fatica a tradurla, e toglierle quelli che or più non ci sono.“9 Die römische Ausgabe ist unzweifelhaft als Fortschritt anzusehen, bedeutet aber gleichzeitig eine eklatant verpasste Gelegenheit, was die textkritische Dimension betrifft. Wie ein unveröffentlichter Brief belegt, den Kanzler Kaunitz am 25. September an Kardinal Albani sandte, war der römische Würdenträger seit 1776 erneut im Besitz des Originalmanuskripts der Geschichte der Kunst: Fra le robbe del povero Winckelman trovate dopo il tragico suo caso, e da me innoltrate a V. E., v’era anche il Manoscritto della sua Istoria dell’Arte dell’Antichità, da lui riformata, notabilmente accresciuto, e preparato per una nuova Edizione. Essendo quest’Opera estesa in lingua Alemana, e che d’altronde l’Autore voleva procurarne la pubblicazione colla ristampa in Dresda, qualorchè non fosse stato prevenuto dalla morte, ho creduto poter far cosa grata all’E. V., e secondare in questa anche le intenzioni del defunto, con assumermi la cura della detta Edizione, attesa con desiderio da’ Letterati, ed Artisti. Ora che l’Opera è sortita da’ Torchj con una lunga prefazione dell’Editore sotto l’amparo di questa Accademia di Belle Arti, ho il piacere di rimettere a V. Em.za un Esemplare, accompagnato dalla presente mia. Devo all’Em.za V.a quest’atto d’attenzione come Protettore del celebre Autore della stessa Opera, e come Mecenate delle Belle Arti: lo devo anche per testimoniarle la gratitudine per essere V. Em.za concorsa col tacito suo assenso a questa nuova Edizione, ed aver così contribuito al desiderio del Pubblico.10

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Lombardei zu verbreiten[;] ich hatte keinerlei Schwierigkeiten, Ihrer Majestät das Ihr gewidmete Exemplar zu überreichen. Ihre Majestät besteht nicht nur darauf, dass durch Eure Exzellenz ihr besonderes Wohlgefallen gegenüber den Oberen der Zisterziensischen Kongregation ausgedrückt werde, sondern veranlasst mich, die sechs hier beigegebenen goldenen Medaillen, die sie mir hat zukommen lassen, als Zeichen der königlichen Annahme zu übergeben, vier davon den Mönchen, Autoren der Storia Diplomatica di Milano sotto Federico I. und Herausgebern des folgenden Werks; und zwei seinem Übersetzer, Abt Amoretti.“). Biblioteca Palatina di Parma, Carteggio Paciaudi, Fasz. 65 („Sie werden das Werk Winckelmanns immer noch voller Mängel finden; aber das bedeutet nicht, dass ich es nicht unter großen Anstrengungen übersetzt und die Mängel behoben hätte, die jetzt nicht mehr vorhanden sind.“). Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Rom Vatikan I, Korrespondenz Albani, Fasz. 211 („Unter den Sachen des armen Winckelmann, die nach seinem tragischen Fall gefunden und von mir Seiner Eminenz geschickt wurden, befand sich auch das Manuskript seiner Geschichte der Kunst des Altertums, von ihm für eine Neuausgabe bearbeitet und bemerkenswert erweitert. Da dieses Werk in deutscher Sprache verfasst ist und da der Autor beabsichtigte, durch den Wiederabdruck in Dresden es publik zu machen, was auch erfolgt wäre, wenn er nicht durch den Tod daran gehindert worden wäre, so habe ich gedacht, Ihnen, Eure Eminenz, etwas Willkommenes zu machen und gleichzeitig auch den Absichten des Verstorbenen zu

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Fea hatte die Möglichkeit, für seine Edition den Nachlass Winckelmanns in der Bibliothek des Palazzo Albani alle Quattro Fontane zu studieren. Tatsächlich konsultierte er aber nur wenige Materialien, und dies auch nur eher oberflächlich, wie er selbst in einer Fußnote der Vorrede bestätigt: A me sembra di poter rilevare dai molti suoi volumi di manoscritti nella libreria Albani, che nel greco fosse versatissimo, e si comprende anche dalle opere pubblicate; e che molto fosse avanzato nella cognizione della lingua latina, e delle dette viventi per intenderle, e scrivervi sufficientemente, e in particolare nell’italiana, che parlava pure con qualche proprietà, e franchezza, dopo essere stato molti anni in Roma. E dello scrivere opere credo vada intesa una di lui lettera al signor Ferronce [sic] dei 13. Giugno 1761, tra i detti manoscritti, nella quale dice di essersi limitato alle lingue tedesca, e italiana, per avere negligentata la francese, e principalmente dopo essere stato in Roma sei anni. Una parte di tali volumi sono di passi greci, e molti sono lettere, squarci di qualche operetta abbozzata in parte, ed estratti di libri, e di cose per lui rimarchevoli scritte nelle altre lingue.11

Fea scheint folglich die Existenz des Originalmanuskripts der Geschichte der Kunst verborgen geblieben zu sein, nicht zuletzt wohl auch, weil Kardinal Alessandro Albani zu dem Zeitpunkt, als Fea sich entschloss, den Palazzo Albani aufzusuchen, bereits seit drei Jahren verstorben war. Anstatt sich mit diesem wichtigen Dokument zu beschäftigen, beschränkt er sich auf Emendationen der Amoretti-Übersetzung auf der Basis des Wiener Nachdrucks. Andererseits hatten aber auch schon vor ihm so bedeutende Gelehrte wie der Italiener Luigi Lanzi oder der dänische Heyne-Schüler Friedrich Münter bei ihren Erkundungen des Winckelmann-Nachlasses in der Bibliothek des Palazzo Albani nichts von der Existenz des dort seit 1776 lagernden handschriftlichen Originals bemerkt. Auch Reiffenstein,

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entsprechen, indem ich die Betreuung der obengenannten, von Gelehrten und Künstlern sehnlich herbeigewünschten Ausgabe auf mich genommen habe. Nun, da das Werk mit einer langen Vorrede des Verlegers und unter Betreuung dieser Akademie der Schönen Künste erschienen ist, habe ich die Freude, Eurer Eminenz ein Exemplar zukommen zu lassen, begleitet von diesem Schreiben. Dies zum Dank an Eure Eminenz, dem Förderer des berühmten Autors und dem Mäzen der Schönen Künste. Verpflichtet dazu fühle ich mich auch, um die Dankbarkeit zu bezeugen, dass Eure Eminenz durch stillschweigendes Einverständnis diese neue Ausgabe ermöglicht hat und damit dem Wunsch des Publikums entsprochen hat.“). Giovanni Winkelmann: Storia delle Arti del Disegno presso gli Antichi. Tradotta dal Tedesco e in questa edizione corretta e aumentata dall’abate Carlo Fea. 3 Bde. Rom 1783–1784, Bd. 1, S. LXV, Anm. A („Mir scheint aus vielen seiner handschriftlichen Bände in der Bibliothek Albani hervorzugehen, dass er im Griechischen äußerst versiert war, was man auch aus den publizierten Werken erkennen kann, und dass er in der Kenntnis des Lateinischen und der sogenannten lebendigen Sprachen sehr weit fortgeschritten war, um sie zu verstehen und sich in diesen Sprachen ausreichend schriftlich auszudrücken, und im Besonderen im Italienischen, das er mit einigen Besonderheiten und Unbefangenheiten sprach, nachdem er einige Jahre in Rom gelebt hatte. Und was das Schreiben von Werken angeht, ist es wohl so zu verstehen, wie aus einem seiner unter besagten Handschriften befindlichen Briefe an Herrn Ferronce [sic] vom 13. Juni 1761 hervorgeht, in dem er schreibt, sich auf die deutsche und italienische Sprache beschränkt und das Französische vernachlässigt zu haben, vor allem nachdem er sechs Jahre in Rom war. Ein Teil dieser Bände sind griechisch, vieles sind Briefdokumente, Fragmente kleinerer Werke, in Teilen skizziert, Exzerpte aus Büchern und weitere in anderen Sprachen verfasste Sachen, die ihm beachtenswert schienen.“).

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persönlicher Freund des deutschen Kunsthistorikers und Mitarbeiter von Fea, scheint sich nicht um das Manuskript der Geschichte der Kunst gekümmert zu haben, obwohl er bereits am 30. Juli 1768, wenige Wochen nach dem Tod des Freundes, an Christian von Mechel geschrieben hatte: Wenn das Werk verloren ginge oder in falsche Hände geriete, wäre das „ein neuer Mord“.12 Und schließlich ist offenbar nicht einmal Stefano Antonio Morcelli, Bibliothekar des Hauses Albani von 1775 bis 1791, daran interessiert gewesen, die gelehrten Besucher auf die Spur dieses so wichtigen Autographen zu setzen. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist das Manuskript, genauso wie viele andere Dokumente aus dem Nachlass Winckelmanns, nach der 1798 erfolgten französischen Konfiszierung aller Sammlungen von Kunstwerken, Büchern und Archivalien aus dem Besitz der Familie Albani verloren gegangen.13 Die so verpasste Chance, das Manuskript der Geschichte der Kunst zu konsultieren, bedeutet nicht nur für Fea und seine Mitarbeiter eine ein für alle Mal verlorene Gelegenheit, sondern auch für alle folgenden Editoren des deutschen Kunsthistorikers. Anstatt sich auf die Suche nach dem originalen Autographen zu begeben, ziehen es viele von ihnen vor, einen neuen Text aus den letzten publizierten Schriften Winckelmanns zu erschaffen, womit sie sich allerdings zum Garanten der Kohärenz im Denken ihres Autors erheben.14 Zwischen der Mailänder und der römischen Übersetzung gibt es Gemeinsamkeiten, wie auch signifikante Abweichungen. Amoretti und Fea sind sich beispielsweise darin einig, dass die Struktur der Geschichte der Kunst die Stabilität und Kohärenz erhalten müsse, die der deutsche Kunsthistoriker seinem Werk nicht zu geben gewusst habe. Tatsächlich beenden die beiden italienischen Versionen definitiv jene Prozesshaftigkeit, die Winckelmann seinem Entwurf zu Grunde gelegt hatte – angelegt als ein Werk, das nie zu einem Ende kommen und ihm erlauben würde, kontinuierlich Ergänzungen und Korrekturen anzubringen. Zudem glauben Amoretti und Fea, dass die Geschichte der Kunst aufmerksam im Lichte einer rigorosen kritischen Methode und zwingenden Logik geprüft werden müsse. Sie ziehen einen diskursiven Aufbau vor, der einer strengen linearen und rationalen Struktur folgt, um damit dem unorganischen und fragmentarischen Charakter des Originals zu begegnen. Da weder Fea noch Amoretti ein Interesse daran haben, als Bearbeiter der Textes unkenntlich zu bleiben, bedienen sie sich vorrangig des Apparats und der Anmerkungen, um ihre kritische Stimme hörbar werden zu lassen und all die nötigen Änderungen vorzunehmen, mit denen das Werk Winckelmanns dem Kontext der zeitgenössischen italienischen Kultur angenähert werden soll. Den fortgeschrittensten philosophischen Ideen ihrer Zeit anhängend, bemühen sie sich außerdem, den deutschen Gelehrten als typischen Vertreter der Aufklärung 12 13 14

Br. IV, S. 303. Stefano Ferrari: Il Nachlaß italiano di Winckelmann: bilancio storiografico e nuove prospettive di ricerca. In: Archivio storico italiano 173 (2015), No. 1 (643), S. 65–88. Michel Espagne: Le creuset allemand. Histoire interculturelle de la Saxe (XVIIIe–XIXe siècles). Paris 2000, S. 137f.

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erscheinen zu lassen. Immer dann, wenn sie jedoch der Auffassung sind, er entferne sich von einer strengen ‚aufklärerischen‘ Einstellung, werden in den Anmerkungen der beiden Ausgaben umgehend ihre scharfen kritischen Beobachtungen vernehmbar. Und genau im Rahmen dieser gemeinsamen Front teilen denn beide auch die von Heyne gegenüber der Geschichte der Kunst in zentralen Punkten formulierten methodischen und theoretischen Einwände.15 Alle drei halten das „Lehrgebäude“ des Winckelmann’schen Werks für zu abstrakt und unzuverlässig, kritisieren die Vorstellung der politischen Freiheit als Hauptquelle für die Überlegenheit der griechischen Kunst und betonen die wenig klare Position des deutschen Kunsthistorikers hinsichtlich der Rolle des Gelehrten gegenüber den von der modernen Wissenschaft erhobenen neuen Ansprüchen. Eine andere wichtige Übereinstimmung zwischen beiden italienischen Übersetzungen betrifft den Umfang des ikonographischen Apparats, vor allem im Vergleich mit der Wiener Ausgabe von 1776. Mit Heyne stimmen Amoretti und Fea auch darin überein, wenn dieser in seiner Prüfung einiger Nachrichten und Behauptungen vom Laocoon im Belvedere ebenso kritisch wie knapp festhält: „Beschreibung ohne Bild selbst wird bloße Declamation“.16 Für den Göttinger Professor ist also die Beschreibung von Kunstwerken ohne die Unterstützung eines adäquaten illustrativen Apparats nichts mehr als eine nichtssagende rhetorische Übung. Bietet die Wiener Edition von 1776 nur 22 Illustrationen, zwei weniger als die editio princeps von 1764, kann die Ausgabe von Amoretti bereits mit 53 und jene von Fea sogar mit 89 Abbildungen aufwarten. Dabei stammen nur sehr wenige dieser Stiche aus den vorhergehenden beiden deutschen Ausgaben; der größte Teil geht auf die Initiative der beiden Italiener zurück. Sie hatten neue Bilder aus diversen privaten und öffentlichen Sammlungen besorgen oder stechen lassen. Für Amoretti und Fea steht die Bereicherung des ikonographischen Apparats dabei in enger Wechselbeziehung mit dem Text, da auf diese Weise das Bild nicht mehr reines Beiwerk zum Wort ist, wie noch in der deutschen Ausgabe der Geschichte der Kunst, sondern ganz im Gegenteil eine unerlässliche Voraussetzung.17

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Stephanie-Gerrit Bruer: Die Wirkung Winckelmanns in der deutschen Klassischen Archäologie des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1994, S. 29–42; Silvia Caianiello: Scienza e tempo alle origini dello storicismo tedesco. Napoli 2005, S. 129–161; Daniel Graepler: Heyne und Winckelmann. In: Ders. u. Joachim Migl (Hg.): Das Studium des schönen Altertums. Christian Gottlob Heyne und die Entstehung der Klassischen Archäologie. Göttingen 2007, S. 17–28. Christian Gottlob Heyne: Prüfung einiger Nachrichten und Behauptungen vom Laocoon im Belvedere. In: Ders.: Sammlung antiquarischer Aufsätze. 2 Bde. Leipzig 1778–1779, Bd. 2, S. 1–52, hier S. 25. Vgl. Elisabeth Décultot: Genèse d’une histoire de l’art par les images. Les recueils d’antiquités et la naissance du discours historique sur l’art, 1600–1800. In: Dies. (Hg.): Musées de papier. L’Antiquité en livres 1600–1800. Paris 2010, S. 24–35.

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Zwischen den beiden italienischen Editionen bestehen aber auch tiefgreifende Unterschiede – nicht zuletzt als Ergebnis einer glühenden Rivalität. Grundlegende Differenzen sind vor allem zwischen den jeweiligen kritischen Apparaten festzustellen. Gemeint sind dabei die von den italienischen Bearbeitern ex novo hinzugefügten Anmerkungen, nicht jedoch diejenigen Winckelmanns, die entweder originalgetreu wiederaufgenommen und in unveränderter Form übersetzt werden oder aber direkt in den Text einfließen. Dank eines spezifischen Identifikations- und Nummerierungssystems sind die neu hinzugefügten Anmerkungen in ansteigender Ordnung und auf jeder Seite neu beginnend klar erkennbar. Zwischen beiden Ausgaben besteht ein regelrechter Wettbewerb, Resultat einer gelehrten Bulimie: Mit seinen Zurechtweisungen und Ergänzungen versucht Fea den bereits üppigen Anmerkungsapparat des Mailänder Kollegen noch zu überbieten. Bei gleichem Äußerem – beide Werke sind im Quartformat und umfassen jeweils zwei Bände – kommt die Mailänder Ausgabe insgesamt auf 821 Seiten, während die römische 1062 Seiten umfasst, also 241 mehr als die vorhergehende. Haben die Anmerkungen bei Amoretti noch den Zweck, den Text Winckelmanns zu erklären, ihn durch die neuen, aus Wien erhaltenen Materialien zu ergänzen oder gegebenenfalls einer scharfen Kritik zu unterziehen, erfüllen sie bei Fea noch eine andere und womöglich gewichtigere Funktion, nämlich die Mailänder Übersetzer und Kommentatoren zu widerlegen. Es kommen aber auch Anmerkungen vor, in denen der römische Herausgeber sich von der Mailänder Ausgabe – obwohl es keinen Grund gibt, diese anzufechten – absetzen will, indem er eine versöhnliche oder ausgleichende Position zwischen augenscheinlich gegensätzlichen Theorien einnimmt. Ein Beispiel aus Winckelmanns Kapitel über die von den ägyptischen Künstlern verwendeten Gesteinsarten mag dies verdeutlichen. Als es um die Frage nach der Beschaffenheit des Basalts geht, übernimmt Fea zunächst die Anmerkung aus der Mailänder Edition vollständig, ergänzt sie aber sodann durch einen Text fast gleicher Länge. Dessen Zweck besteht aber nicht darin, die Argumentation der Kollegen zu widerlegen, die in der Sache ja nur feststellen, dass der Basalt noch immer Gegenstand der Diskussion zwischen den Vertretern des Plutonismus und jenen des Neptunismus ist. Fea dagegen gibt die Position von Cosimo Alessandro Collini wieder, ehemaliger Sekretär Voltaires, der in seinem Werk Considérations sur les montagnes volcaniques (1781) die Meinung vertritt, die Entstehung des Säulenbasalts könne erklärt werden „durch die Zusammenwirkung von Feuer und Wasser“.18 Ein letzter Aspekt, der eine genauere Untersuchung verdient, betrifft die Übersetzung selbst. Generell weisen beide Versionen viele Ähnlichkeiten auf, beide orientieren sich insgesamt eng am Originaltext. Hin und wieder aber wird die sprachliche Übertragung von einer textlichen Umstrukturierung begleitet, um dem Leser logischere und anschaulichere Gedankengänge zu vermitteln als das Origi18

Winkelmann: Storia delle Arti del Disegno (wie Anm. 11), Bd. 1, S. 128.

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nal. Es fehlt auch nicht an Passagen, die allein dem Zweck dienen, durch signifikante Erweiterungen die bisweilen allzu elliptischen Behauptungen des deutschen Autors zu erklären. Um das konkrete Vorgehen der Übersetzer näher zu beleuchten, möchte ich zwei spezifische Fälle untersuchen: zum einen eine maßgebliche Abweichung der Mailänder wie auch der römischen Ausgabe gegenüber dem Originaltext; zum anderen eine deutliche Absetzung der Version Feas von derjenigen Amorettis. Hinsichtlich des ersten Falls möchte ich die Aufmerksamkeit auf folgende Stelle lenken, die in der den grundlegenden Prinzipien der griechischen Kunst gewidmeten zweiten Sektion des vierten Kapitels enthalten ist: Wie ist es aber geschehen, da in allen Wissenschaften gründliche Abhandlungen erschienen sind, daß die Gründe der Kunst und der Schönheit wenig untersuchet geblieben? Mein Leser! die Schuld davon lieget in der uns angebohrnen Trägheit aus uns selbst zu denken, und in der Schulweisheit. Denn auf der einen Seite sind die alten Werke der Kunst als Schönheiten angesehen worden, zu deren Genuß man nicht zu gelangen verhoffen kan, und die deswegen in einigen die Einbildung leichthin erwärmen, aber nicht bis zur Seele dringen; und die Alterthümer haben nur Anlaß gegeben, Belesenheit auszuschütten, der Vernunft aber wenige oder gar keine. Auf der andern Seite hingegen, da die Weltweisheit größtentheils geübet und gelehret worden von denen, die durch Lesung ihrer düstern Vorgänger in derselben, der Empfindung wenig Raum lassen könen, und dieselbe gleichsam mit einer harten Haut überziehen lassen, hat man uns durch ein Labyrinth metaphysischer Spitzfindigkeiten und Umschweife geführet, die am Ende vornehmlich gedienet haben, ungeheure Bücher auszuhecken, und den Verstand durch Eckel zu ermüden.19

Hier nun wie zunächst Amoretti und nach ihm Fea diesen Passus wiedergeben: Ma dond’ avvien mai che mentre d’ogni altra scienza si sono determinati i principj, non siansi fissati ancora i fondamenti della bellezza, e delle arti del disegno? Ciò a mio credere nasce da due cagioni: da una non so quale inerzia dello spirito umano, per cui difficilmente pensa da se stesso, e da un certo scolasticismo introdotto da coloro che su tale argomento hanno scritto. I monumenti dell’arte antica, simili a quelle bellezze cui non si spera mai di possedere, possono bensì riscaldare alcun poco l’immaginazione, ma non giungono mai a commovere il cuore. Altronde gli storici dell’arte pieni d’una pesante erudizione, o copiandosi l’un l’altro, hanno soffocata la sensibilità; e nulla ispirando all’anima de’ loro leggitori l’aggirano in un labirinto di sottigliezze, e l’affaticano con istudj penosi, dai quali una sola idea giusta e sublime per avventura non raccolgono.20

Die beiden italienischen Übersetzer befinden sich in augenfälligen Schwierigkeiten. Sie schaffen es nicht, eine der wohl frechsten von Winckelmann formulierten Positionen wiederzugeben, nämlich seine klare Absage an rein spekulative und metaphysische Diskussionen über Kunst. Abgesehen von einigen Missverständnissen lexikalischer Art, deren schwerwiegendste sicherlich „Weltweisheit“ ist – völlig unverständlich übersetzt mit „storici dell’arte“ –, verblüfft vor allem die unerklärliche Unterschlagung des kompletten Satzes „die Alterthümer haben nur 19 20

Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums. Wien 1776, S. 247 (= SN 4.1, S. 239 u. 241). Dieser Absatz findet sich nicht in der editio princeps von 1764. Giovanni Winkelmann: Storia delle Arti del Disegno presso gli Antichi. 2 Bde. Milano 1779, Bd. 1, S. 196; Winkelmann: Storia delle Arti del Disegno (wie Anm. 11), Bd. 1, S. 264.

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Anlaß gegeben, Belesenheit auszuschütten, der Vernunft aber wenige oder gar keine“. Die Eliminierung dieses Passus ist umso erklärungsbedürftiger, wenn man bedenkt, dass er von Huber in seiner französischen Ausagabe von 1781 regulär wiedergegeben und übersetzt wird und diese Version dem römischen Bearbeiter dank José Nicolás de Azara von Anfang an zur Verfügung stand.21 In den Fällen dagegen, in denen Fea die Übersetzung Amorettis korrigiert, handelt es sich um von dem römischen Bearbeiter für notwendig erachtete Eingriffe, mit denen er die ursprüngliche Bedeutung ganzer Sätze oder Begriffe, die er in der Mailänder Ausgabe falsch wiedergegeben sah, wiederherstellen wollte. Bei diesen Operationen lässt sich der römische Bearbeiter, der anders als sein Kollege die deutsche Sprache nicht versteht, vor allem von Reiffenstein helfen, auch wenn das Zutun anderer in Rom wohnender Deutscher nicht ausgeschlossen werden kann.22 Die relevantesten Ungleichheiten zwischen der Mailänder Edition und der römischen betreffen die zwei wohl berühmtesten Kunstbeschreibungen aus der Geschichte der Kunst: die Beschreibung der Laokoon-Gruppe und die des Apollo vom Belvedere. Die Korrekturen in Feas Ausgabe betreffen einzelne lexikalische Verfeinerungen, ohne die Gestalt der vorhergehenden Version in ihrer Gänze zu modifizieren. Nachdem die Übersetzung der Apollo-Beschreibung bereits 2002 Gegenstand einer eingehenden Analyse war, möchte ich mich hier auf die Beschreibung des Laokoon konzentrieren.23 Winckelmann beschreibt die berühmte Skulpturengruppe wie folgt: Laocoon ist eine Natur im höchsten Schmerze, nach dem Bilde eines Mannes gemacht, der die bewußte Stärke des Geistes gegen denselben zu sammeln suchet; und indem sein Leiden die Muskeln aufschwellet, und die Nerven anziehet, tritt der mit Stärke bewaffnete Geist in der aufgetriebenen Stirne hervor, und die Brust erhebet sich durch den beklemmten Othem, und durch Zurückhaltung des Ausbruchs der Empfindung, um den Schmerz in sich zu fassen und zu verschließen. Das bange Seufzen, welches er in sich, und den Othem an sich zieht, erschöpfet den Unterleib, und machet die Seiten hohl, welches uns gleichsam von der Bewegung seiner Eingeweide urtheilen läßt.24

Der Textabschnitt wird, zuerst von Amoretti, und dann von Fea, auf folgende Weise übersetzt: Veggiamo nel Laocoonte la natura nel suo maggior dolore: vi scorgiamo l’immagine di un uomo che cerca di adunare intorno al suo cuore tutta la

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Veggiamo nel Laocoonte la natura nel suo maggior patimento: vi scorgiamo l’immagine di un uomo che cerca di unire tutta la forza dello spirito contro i tormenti; e mentre

M. Winkelmann: Histoire de l’Art de l’Antiquité. 3 Bde. Leipzig 1781, Bd. 2, S. 27. Vgl. Friedrich Noack: Aus Goethes römischem Kreise. Hofrat J. F. Reiffenstein. In: GoetheJahrbuch 30 (1909), S. 131–140; 31 (1910), S. 169–179, hier S. 172f. Ferrari: L’eredità culturale di Winckelmann (wie Anm. 4), S. 30–34. Winckelmann: Geschichte der Kunst (wie Anm. 11), S. 699 (= SN 4.1, S. 677).

Übersetzungen von Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums forza dello spirito contro i tormenti; e mentre l’eccessiva pena ne gonfia i muscoli, e ne stira violentemente i nervi, mostra il suo coraggio sulla fronte rilevata. Il petto sollevasi a stento e per l’angoscia che lo stringe, e per lo sforzo ch’egli fa di trattenere l’espressione della sensazion dolorosa, e di tutti concentrare e chiudere in se stesso i suoi mali. I sospiri soffocati, e ‘l trattenuto respiro comprimongli il ventre, e incavangli i fianchi; onde in qualche modo par che ne veggiamo il moto degli intestini.25

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l’eccessiva pena ne gonfia i muscoli, e ne stira i nervi, mostra il suo coraggio sulla fronte corrugata in alto. Il petto sollevasi a stento e per l’impedita respirazione e per lo sforzo ch’egli fa di trattenere l’espressione della sensazion dolorosa, e di tutti concentrare e chiudere in se stesso i suoi tormenti. I gemiti soffocati, e ‘l trattenuto respiro ritirangli il ventre, e incavangli i fianchi; onde in qualche modo par che ne veggiamo gli intestini.26

Beide Übersetzer entscheiden sich für die Verben „vedere“ und „scorgere“ um zu verhindern, dass der Leser direkt vor und in die Marmorgruppe und deren Beschreibung hinein ‚katapultiert‘ wird, und zwingen ihn damit, eine gewisse Distanz zur Skulptur einzuhalten. Das Substantiv „Schmerz“ wird von Amoretti mit „dolore“ wiedergegeben, von Fea mit „patimento“, also mit zwei Synonymen. Während der Satz „die bewußte Stärke des Geistes gegen denselben zu sammeln suchet“ vom Mailänder mit einem unpassenden „cerca di adunare intorno al suo cuore tutta la forza dello spirito contro i tormenti“ übersetzt wird, setzt ihn Fea in den Stand seiner originalen Bedeutung zurück: „cerca di unire tutta la forza dello spirito contro i tormenti“, auch wenn er das Adjektiv „bewußt“ unterschlägt. Ein weiterer Unterschied besteht in der Übersetzung des Ausdrucks „beklemmten Othem“: Die Mailänder Ausgabe überträgt ihn mit „angoscia che lo stringe“ und stützt sich dabei offenkundig auf die Abstammung des Adjektivs „beklemmt“ vom Verb „beklemmen“, während die römische korrekt mit „impedita respirazione“ übersetzt. Die Ausgangsintention, die die beiden ersten italienischen Ausgaben der Storia delle Arti del Disegno bestimmt, das haben die vorangehenden Untersuchungen deutlich gezeigt, ist die einer Kampfansage auf Distanz zwischen Rom und Mailand, die sich gegenseitig den Primat in der Frage streitig machen, welche von beiden als legitime und einzige Bewahrerin des kulturellen Erbes Winckelmanns zu gelten hat. Statt die unterschiedlichen Zentren der italienischen Gelehrsamkeit in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts zusammenzuführen, wird Winckelmanns Name zum Element der stolzen Unterscheidung, im Sinne jener regionalen Rivalitäten, die andererseits so typisch für die literarischen Traditionen Italiens im Ancien Régime sind.27 Dieser Gegensatz beschränkt sich nicht allein auf die Übersetzungen der Geschichte der Kunst, sondern betrifft auch andere mit dem 25 26 27

Winkelmann: Storia delle Arti del Disegno presso gli Antichi (wie Anm. 20), Bd. 2, S. 195. Winkelmann: Storia delle Arti del Disegno (wie Anm. 11), Bd. 2, S. 243. Die Unterschiede zwischen den beiden Übersetzungen sind kursiv gekennzeichnet. Ezio Raimondi: I lumi dell’erudizione. Saggi sul Settecento italiano. Milano 1989.

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Stefano Ferrari

Namen Winckelmann verbundene verlegerische Unternehmungen, wie den Nachdruck der Monumenti antichi inediti, zuerst 1820 in Neapel und dann im folgenden Jahr in Rom.28 Dennoch ist festzuhalten, dass der hitzige Wettstreit zwischen den beiden Versionen der Storia delle Arti del Disegno im Grunde nur das folgerichtige Resultat verlegerischer Strategien ist. Wenn Amoretti von der österreichischen Regierung angehalten wurde, sich eng an den Text des Wiener Nachdrucks der Geschichte der Kunst zu halten, um so den harschen Kritiken zu begegnen, die von den wichtigsten zeitgenössischen deutschen Intellektuellen mit Blick auf die Neuauflage von 1776 geäußert worden waren, so sieht sich Fea weder der Wiener noch einer anderen Ausgabe verpflichtet. Anstatt aber eine neue und unabhängige Arbeit vorzulegen und dabei neben anderem auch den reichen Nachlass Winckelmanns auszuschöpfen, der sich, zum Greifen nah, noch in der Bibliothek des Palazzo Albani befand, gibt er sich damit zufrieden, die vorhergehende Mailänder Übersetzung zu überarbeiten und zu verbessern, was aus seiner Sicht die einzig praktikable Option war. Feas Absicht war es nicht, den Text der Geschichte der Kunst so nahe wie möglich an seine ursprüngliche Form anzunähern, sondern vor allem den kritischen Apparat dazu zu benutzen, die Überlegenheit der römischen Gelehrten gegenüber den Konkurrenten aus Mailand zu demonstrieren. Er hatte die reale Chance für einen neuen Transfer des magnum opus Winckelmanns, wofür ihm aber sowohl die unverzichtbaren sprachlichen und kulturellen Kompetenzen fehlten als auch der Wille dazu. Die Zeit war noch nicht reif für eine rigorose philologische Untersuchung des gedruckten Werks, und offensichtlich nicht einmal für eine umfassende Erschließung und Verwertung der im Nachlass enthaltenen Materialien. Nicht nur unter den italienischen Gelehrten, die sich mit Winckelmann befassen, bestand und besteht weiterhin ein grundlegendes Misstrauen, was das Studium seines handschriftlichen Nachlasses betrifft, sondern auch unter den deutschen Winckelmann-Forschern. Das gilt zumindest für große Teile des 19. Jahrhunderts. Es wird generell vorgezogen, die Untersuchungen auf die veröffentlichten Schriften Winckelmanns zu beschränken. So liest man 1818 etwa bei Karl August Böttiger: Ob wohl diesen Briefen [Winckelmanns, S. F.] zur letzten Ausstattung auch Auszüge aus den 21 gebundenen Heften des handschriftlichen Nachlasses, welcher aus der Bibliothek des Cardinals Albani in die Vaticana [sic], von da aber auf besondere Requisition im Jahr 1799 nach

28

Stefano Ferrari u. Nicoletta Ossanna Cavadini (Hg.): J. J. Winckelmann (1717–1768). Monumenti antichi inediti. Storia di un’opera illustrata / History of an Illustrated Work. Milano 2017, S. 41–49.

Übersetzungen von Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums

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Paris in die damalige National-Bibliothek gebracht worden sind, noch beizufügen wären, könnte sich erst nach einer nochmaligen Untersuchung dieser Papiere genau bestimmen lassen. Denn was bisher daraus bekannt worden ist, hat die Sehnsucht darnach nur wenig erregt. Auf keinen Fall wird der Gewinn davon sehr beträchtlich seyn. Die wahren Fundgruben bleiben die von ihm selbst vollendeten Schriften.29

Übersetzung von Michael Dallapiazza

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Domenico Rossetti: Joh. Winckelmann’s letzte Lebenswoche. Ein Beitrag zu dessen Biographie. Dresden 1818, S. XVIII. Noch in den siebziger Jahren meint Carl Justi, einer der besten Kenner Winckelmanns, vom Studium des Pariser Nachlasses wenig erwarten zu können. Vgl. Johannes Rößler: Poetik der Kunstgeschichte. Anton Springer, Carl Justi und die ästhetische Konzeption der deutschen Kunstwissenschaft. Berlin 2009, S. 206f.

GIULIA CANTARUTTI

Die frühe Rezeption von Winckelmanns Geschichte der Kunst zwischen Mailand und Rom Mit der Edition des Verlagsprospekts der Amoretti-Ausgabe, der Ankündigung der Fea-Ausgabe und der Fertigstellung ihres ersten, zweiten und dritten Bandes. Aus Amaduzzis Winckelmanniana in Savignano sul Rubicone I. Vom „Volkmann“ bis Fea „Wer die Werke der Alten mit rechtem Nutzen besehen, und den Geschmack bilden will, kann nichts besseres thun, als Winckelmanns Geschichte der Kunst in Rom selbst lesen“,1 schreibt Johann Jacob Volkmann Anfang der Siebzigerjahre in seinen Historisch-kritischen Nachrichten von Italien, einer Pflichtlektüre für alle gebildeten Deutschen, die nach Italien fuhren. Der berühmteste unter den Volkmann-Lesern, Goethe, schafft sich gleich nach seiner Ankunft in Rom „Winckelmanns Kunstgeschichte übersetzt von Fea“ an, und liest sie, „hier am Ort“: „ein sehr brauchbares Werk in guter, auslegender und belehrender Gesellschaft.“2 Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, sinnigerweise in der Italienischen Reise in Zusammenhang mit Johann Friedrich Reiffenstein3 als „herzlicher Freund“ erwähnt, verewigt in einer berühmten Zeichnung von Goethes Zimmer Feas Winckelmann-Übersetzung, die Storia delle Arti del Disegno presso gli Antichi. Tradotta dal Tedesco e in questa edizione corretta e aumentata da Carlo Fea, die 1

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Johann J. Volkmann: Historisch-kritische Nachrichten von Italien, welche eine Beschreibung dieses Landes, der Sitten, Regierungsform, Handlung, des Zustandes der Wissenschaften und insonderheit der Werke der Kunst enthalten. 3 Bde. Leipzig 1770–1771, hier zitiert nach der „zweyten viel vermehrten und durchaus verbesserten Auflage“, Leipzig 1777–1778, Bd. 2, S. 245. Zur Beziehung Volkmann/Winckelmann siehe Wolfgang Adam: Winckelmann e Volkmann: „une amitié ordinaire et coustumière“. In: La rete prosopografica di Johann Joachim Winckelmann: bilancio e prospettive. Hg. v. Stefano Ferrari. Rom 2019, S. 89–104. Zu diesem Eintrag vom 3. Dezember 1786 in Goethes Italienischer Reise und den Beziehungen zu Reiffenstein und Tischbein im Kontext der Rezeption der Fea-Ausgabe vgl. Stefano Ferrari: L’eredità culturale di Winckelmann: Carlo Fea e la seconda edizione della Storia delle arti del Disegno presso gli antichi. In: Roma moderna e contemporanea X (2002), H. 1–2, S. 15–48, insbes. S. 37, mit Erwähnung der Sulzer-Lektüre (in Goethes Italienischer Reise am 15. November 1786) und S. 47 (Kritik an Ernst Osterkamps Aufsatz zu Goethe als Leser Johann Joachim Winckelmanns). Der für das Zustandekommen der Fea-Ausgabe so wichtige und in der Italienischen Reise oft zitierte Reiffenstein war Mitglied der Akademie der Arkadier, wie Fea und alle, die an der FeaAusgabe teilnahmen. Er war Gegenstand eines von Christoph Frank auf der diesem Band vorausgehenden Villa-Vigono-Tagung gehaltenen Vortrags („Johann Joachim Winckelmann und Johann Friedrich Reiffenstein: Vom Versuch einer zeitgenössischen Umsetzung eines bestimmten Griechenlandideals in der Kunst“).

https://doi.org/10.1515/9783110710373-008

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Giulia Cantarutti

zwischen 1784 (mit dem Datum 1783) und 1786 (mit dem Datum 1784) bei Pagliarini in Rom erschienen war.4 Kurz darauf gibt Carlo Fea (1753–1836), „doctor utriusque juris“, der in der Biblioteca Chigiana unter der Leitung von Ennio Quirino Visconti arbeitete, bei demselben Verlag auch Anton Raphael Mengs’ Werke heraus: Opere di Antonio Raffaello Mengs, primo pittore della maestà del Re cattolico Carlo III. Pubblicate dal Cav. D. Giuseppe Niccola d’Azara, e dallo stesso rivedute ed aumentate in questa edizione (1787). Die wertvollste Neuerung gegenüber der von José Nicolás de Azara verbesserten und vermehrten Ausgabe sind die Auszüge aus 18 Briefen Winckelmanns an den pictor philosophus. Ob von Winckelmann oder von Mengs unter dem Gesichtspunkt des deutsch-italienischen Kulturtransfers die Rede ist,5 stets fällt der Name Fea.6 Im Vorwort zur Geschichte der Kunst des Alterthums innerhalb der Gesamtausgabe Johann Joachim Winckelmann, Schriften und Nachlass wird als einzige italienische Übersetzung „die dreibändige [...] von Carlo Fea 1783–1784“ zitiert, die „dem ersten Versuch einer deutschen Gesamtausgabe der Schriften Winckelmanns, der sogenannten Weimarer Ausgabe“ voranging.7 Der Fea-Ausgabe wiederum vorausgegangen war die in Mailand – „MDCCLXXIX. / Nell’Imperial Monistero di S. Ambrogio Maggiore“ – und ohne Angabe des Übersetzers erschienene Storia delle arti del disegno presso gli antichi di Giovanni Winkelmann tradotta dal tedesco con note originali degli Editori. Fea nennt sich auf dem Frontispiz, Carlo Amoretti (1741–1813) nicht. Sein Name ist erst der letzten Seite der einführenden Erklärung zu entnehmen, die die Zisterzienser-Mönche als Herausgeber signieren: „I monaci cisterciesi editori.“8 In beiden Fällen handelt es sich um – im wahrsten Sinne des Wortes – Leistungen, an welchen mehrere beteiligt waren. Verzeichnet ist für die römische Ausgabe die Rolle von Johann Friedrich Reiffenstein und José Nicolás de Azara, dem mit Mengs engbefreundeten spanischen Gesandten in Rom, als den Haupt-Akteuren, ferner die Beteiligung von Ennio Quirino Visconti, Luigi Lanzi, dem berühmten Verfasser 4

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Vgl. Anm. 2 und Roberto Zapperi: Una vita in incognito. Goethe a Roma. Turin 2000, S. 120– 123 sowie S. 137 die Abbildung von Tischbeins Zeichnung Das verfluchte zweite Küssen. Goethe in seiner römischen Wohnung. Vgl. dazu als einschlägige Sammelbände: . Giulia Cantarutti, Stefano Ferrari u. Paola Maria Filippi (Hg.): Il Settecento tedesco in Italia. Bologna 2001; Giulia Cantarutti u. Stefano Ferrari (Hg.): Paesaggi europei del Neoclassicismo. Bologna 2007. Im Winckelmann-Handbuch z.B. wird Carlo Fea außer in dem Beitrag von Stefano Ferrari (Publikationsgeschichte. Übersetzungen und Editionsgeschichte (1755–1834). In: Winckelmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Martin Disselkamp u. Fausto Testa. Stuttgart 2017, S. 330–339, hier S. 335–336) in weiteren fünf Beiträgen erwähnt (bei Steffi Roettgen, Orietta Rossi Pinelli, Fausto Testa, Elisabeth Décultot und Adolf H. Borbein). Vorwort. In: Johann J. Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums. Text: Erste Auflage Dresden 1764. Zweite Auflage Wien 1776. Hg. v. Adolf H. Borbein, Thomas W. Gaethgens, Johannes Irmscher (†) u. Max Kunze. Mainz 2009 (= SN 4.1), S. vii–xiii, das Zitat hier S. ix. Giovanni Winkelmann: Storia delle arti del disegno presso gli antichi. Tradotta dal tedesco con note originali degli Editori. 2 Bde. Mailand 1779, hier Bd. 1, S. vij–xij.

Die frühe Rezeption von Winckelmanns Geschichte der Kunst

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der Storia pittorica della Italia, Gaetano Marini9 und Marinis „amico carissimo“ Jean-Baptiste Seroux d’Agincourt, Léon Dufourny10 sowie Anton von Maron: Offen bleibt dabei in den meisten Fällen die genaue Art dieser Beteiligung. So rät etwa der soeben erwähnte Gaetano Marini dem Rektor der St. Nicolai Schule in Leipzig, Georg Heinrich Martini, von dem Erwerb der Fea-Ausgabe so energisch ab, dass sein Briefpartner sich am 26. Juni 1786 wegen der Anschaffung des dritten Bandes zu folgender Entschuldigung verpflichtet fühlt: [M]a l’opera del Sig.re Fea non posso non fare venire, perché io possiedo già li due primi tomi. È necessario di continuar una opera cominciata, quantunque non ci recchi tanti avvanzamenti nelle lettere, quanti l’autore promese sul principio.11

Carlo Fea, The Popeʹs Archaeologist,12 und alle ihn umstehenden, zuvor erwähnten Figuren sind den wenigen Kennern der Materie ein Begriff und nur in diesem Punkt ist es in der Forschung um die römische Ausgabe vielleicht ein wenig besser bestellt als um die Mailänder Ausgabe. In beiden Fällen bewegt man sich auf einem für den heutigen Forscher weitgehend unerschlossenen Terrain.

II. Verborgene Zusammenhänge Leicht einzusehen ist die Beziehung von Feas Storia delle arti del disegno zu den Efemeridi letterarie di Roma und der Antologia romana, den zwei wichtigsten Zeitschriften für die Verbreitung des Neoclassicismo,13 die denselben Begründer, Giovanni bzw. Gian Lodovico Bianconi (1717–1781), Sächsischer Legationsrat am Päpstlichen Stuhl, und größtenteils dieselben Mitarbeiter hatten. Das dreibändige Werk Feas erhält in den Efemeridi letterarie di Roma eine Besprechung, die obwohl in der für diese Rezensionszeitschrift typischen Form verfasst, außeror9

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Grundlegend mit Herausarbeitung u.a. seiner Beziehungen zu Karl Eugen von Württemberg, Onofrio Boni, Seroux D’Agincourt: Gaetano Marini (1742–1815) protagonista della cultura europea. Scritti per il bicentenario della morte. Hg. v. Marco Buonocore. 2 Bde. Città del Vaticano 2015. Insbesondere zu Fea siehe den Aufsatz von Serenella Rolfi Ožvald: L’editoria artistica di fine Settecento nel carteggio di Gaetano Marini e i nuovi generi di consumo culturali. In: Ebd., Bd. 1, S. 827–881, hier S. 861f. Zur Bedeutung, die dem von Dufourny redigierten Prospectus der Histoire de l’art zukommt, siehe Ilaria Miarelli Mariani u. Simona Moretti: Seroux D’Agincourt e „l’amico carissimo“. In: Ebd., Bd. 2, S. 1568–1593. Zitiert nach: Rolfi Ožvald: L’editoria artistica (wie Anm. 9), S. 861: „Ich kann nicht umhin, das Werk des Herrn Fea liefern zu lassen, weil ich schon die zwei ersten Bände besitze. Ich muß mit dem angefangenen Ankauf fortfahren, obwohl das Werk keine so großen literarischen Fortschritte einbringt, wie der Autor [Fea, G.C.] anfänglich versprach.“ Ronald T. Ridley: The Pope’s archaeologist. The life and times of Carlo Fea. Rom 2000. Vgl. die oben (Anm. 5) genannten Titel und zuletzt Giulia Cantarutti: Due riviste romane nel transfert culturale italo-tedesco dell’età di Winckelmann. In: „La densità meravigliosa del sapere“. Cultura tedesca in Italia fra Settecento e Novecento. Hg. v. Maurizio Pirro. Mailand 2018, S. 29–55.

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dentlich umfangreich ist: 21 Spalten.14 Beim Erscheinen des ersten Bandes wird Fea als bekannter und oft besprochener Autor präsentiert: „noto per altre sue opere, delle quali parlammo a suo tempo ne’ nostri fogli“.15 Gemeint sind insbesondere die „fogli“ der Antologia romana, wo Feas Herausgabe bereits am 15. Oktober 1782 mit einem Avviso librario angekündigt worden war. Ebenso eng, aber andersgeartet, ist die Beziehung zwischen der Mailänder Ausgabe, die Ende 1779 erscheint, und der bedeutendsten, auch im Ausland hochgeschätzten italienischen Publikation im Bereich des „giornalismo scientifico“, der Scelta di Opuscoli interessanti tradotti da varie lingue, die Amoretti 1775 zusammen mit dem mit ihm engbefreundeten Francesco Soave (1743–1806) in die Wege geleitet hatte. Die „Opuscoli di Milano“, die Aurelio de’ Giorgi Bertola in einem fiktiven Brief „Al Sig. Abate Amaduzzi“ seiner Idea della bella letteratura alemanna im Zusammenhang mit Johann Georg Sulzer erwähnt,16 enthalten keine Besprechungen, dafür aber ebenso knappe wie aussagekräftige und von den damaligen Lesern stets aufmerksam gelesene Ankündigungen von Neuerscheinungen. Unter Libri nuovi, Spalte Germania, werden 1778 der erste Teil von Heynes Sammlung antiquarischer Aufsätze und die Benutzung der von ihm vorgebrachten Kritikpunkte für die sich im Druck befindliche Übersetzung der Geschichte der Kunst des Alterthums angekündigt.17 Es sind nur vier Zeilen und noch kürzer ist die Ankündigung vom 15. Mai 1776 in der Gazzetta letteraria,18 deren Kontext aber äußerst aufschlussreich ist. Die von Giuseppe Parini redigierte Mailänder Gazzetta letteraria (1772–1776), die Vorgängerin der Scelta di Opuscoli, feiert bereits 1772, vier Jahre vor der Mitarbeit Amorettis, die heteronome Ästhetik Sulzers. Der Anfang der Rezension der „Allgemeine[n] Theorie, cioè: Teoria universale delle Belle-arti in ordine alfabetico, di J. Giorgio Sulzer“ lautet: „Egli [Sulzer, G.C.] ha delle Belle-arti un’idea più elevata, che non si suole comunemente avere“, „crede che elle [le Belle-arti, G.C.] possano in un popolo contribuire moltissimo

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Efemeridi letterarie di Roma 13 (1784), S. 169f. (29.5.1784), S. 177f. (5.6.1784); ebd., Bd. 14 (1785), S. 129–131 (23.4.1785); ebd. Bd. 15 (1786), S. 57f. (25.2.1786), S. 65–67 (4.3.1786), S. 73f. (11.3.1786). So ebd., Bd. 14 (1784) auf der ersten Seite (29.5.1784: „bekannt wegen anderer Werke von ihm, von denen wir zur Zeit ihrer Erscheinung in unseren Blättern sprachen“). Aurelio de’ Giorgi Bertola: Idea della bella letteratura alemanna. Bd. II. Lucca 1784, S. 220. Die Erwähnung der „dotti ed eleganti autori degli Opuscoli scelti“ (i.e. die „gelehrten und eleganten Autoren“ Soave und Amoretti als Herausgeber der Scelta di Opuscoli interessanti tradotti da varie lingue) hatten in ihrer erfolgreichen Reihe Artikel aus Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste übersetzt. Dazu unten (Anm. 19). Zu Amaduzzi siehe im Folgenden. Opuscoli scelti sulle scienze e sulle arti (bis 1777: Scelta di Opuscoli interessanti tradotti da varie lingue) 1 (1778), S. 43f. (Libri Nuovi), zum Vorhaben hier, S. 44. Immer noch unentbehrlich: Franco Arato: Carlo Amoretti e il giornalismo scientifico nella Milano di fine Settecento. In: Annali della Fondazione Luigi Einaudi XXI (1987), S.175–220. Vgl. Stefano Ferrari: Carlo Amoretti e la Storia delle arti del disegno (1779) di Winckelmann. In: Paesaggi europei (wie Anm. 5), S. 191–212, hier S. 196.

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all’accrescimento della verità e della virtù.“19 Folgerichtig werden Artikel aus Sulzers Hauptwerk in die Scelta di Opuscoli aufgenommen. Die Übersetzungen erfolgen unmittelbar vor Amorettis Übertragung der Geschichte der Kunst des Alterthums (bzw. vor Soaves Übersetzung von Gessners Neuen Idyllen und Brief über die Landschaftsmahlerey) und zeugen von Bestrebungen, deren bedeutendster Vertreter in der römischen Akademie der Arkadier Giovanni bzw. Gian Cristofano Amaduzzi (1740–1792) war: ein aus einer kleinen Stadt im Kirchenstaat, Savignano sul Rubicone, gebürtiger Gelehrter, der seit seinem zweiundzwanzigsten Jahr in Rom lebte und in der Winckelmann-Forschung, wenn überhaupt, nur dank des Winckelmann-Nachlasses in der Bibliothek der Rubiconia Accademia dei Filopatridi (künftig BAFS) präsent ist. Beschränkt man sich auf die Ausgabe der Briefe Winckelmanns, so erscheinen dieser Abate und sein Lehrer, der Rimineser Universalgelehrte Giovanni Bianchi (auch Janus Plancus bzw. Jano Planco, 1693–1775), eher uninteressant. Beide werden nur flüchtig erwähnt: ein paar nichtssagende Zeilen, eine Einladung in die Villa Albani Anfang Oktober 1766.20 Amaduzzis Einsatz in der Verbreitung der noch nicht erschienenen „nova edizione Romana di Winckelmann“ wird in einem Brief vom 20. Juli 1783 zusammen mit der Hochschätzung Heynes musterhaft dokumentiert: Le novità letterarie che Ella mi diede da Roma sono tutte interessantissime. Dunque la nova edizione Romana di Winckelmann sarà ottima l’edizione; il Sig. Heyne a Gottinga (il quale è pieno di stima per lei) col quale ho l’onore di corrispondere ne è desiderosissimo. [...] Lui è Eruditorum princeps in Germania e di un charattere sopra ogni modo amabile.21

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Gazzetta letteraria di Milano 1772, S. 162 („Er [Sulzer, G.C.] hat von den schönen Künsten eine erhabenere Idee, als man gewöhnlich zu haben pflegt“; „er glaubt, dass die Verbreitung der schönen Künste sehr viel zur Beförderung der Wahrheit und der Tugend beitragen kann“). Zu den Sulzer-Übersetzungen und der Rolle Amaduzzis siehe Giulia Cantarutti: Gessner vs. Kant im Italien des Neoclassicismo: Streifzüge durch eine versunkene Landschaft. In: Salomon Gessner als europäisches Phänomen. Hg. v. Maurizio Pirro. Heidelberg 2012, S. 135–139. Br. 3, S. 215. Das Original der kurzen Einladungsschrift befindet sich in der Biblioteca Gambalunga di Rimini (im Folgenden BGR) Fondo Gambetti, lettere autografe al Dott. Giovanni Bianchi, Winckelmann, Giovanni und trägt kein Datum. Erst nachträglich hat Giovanni Bianchi vermerkt „P° Ottobre 1766.“ Als erste Auswertung des (immer noch!) unveröffentlichten Briefwechsels zwischen Amaduzzi und Bianchi (in BAFS, BGR und in der Biblioteca Apostolica Vaticana) bezüglich der Rezeption Winckelmanns verweise ich auf meinen Beitrag: Gian Lodovico Bianconi und Gian Cristofano Amaduzzi in den Kulturbeziehungen zwischen Deutschland und Italien. In: Gelehrsamkeit in Deutschland und Italien im 18. Jahrhundert/Letterati, erudizione e società scientifiche negli spazi italiani e tedeschi del ’1700 – scambi e confronti. Hg. v. Giorgio Cusatelli u.a. Tübingen 1999, S. 41–68. „Die literarischen Neuigkeiten, die Sie mir aus Rom mitteilen, sind alle hochinteressant. Die neue römische Ausgabe Winckelmanns wird also eine hervorragende Ausgabe sein; Herrn Heyne in Göttingen (der voll Hochachtung für Sie ist), mit welchem ich die Ehre habe, in Briefwechsel zu stehen, verlangt es sehr danach. Er ist der Fürst der Gelehrten in Deutschland und von einem überaus liebenswürdigen Charakter.“ BAFS, Ms 15, insbes. der Brief an Amaduzzi vom 20. Juli 1783. Vgl. dazu Giulia Cantarutti: Giovanni Cristofano Amaduzzi: un europeo del Settecento. In: Quaderni dell’Accademia dei Filopatridi di Savignano sul Rubicone

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Die wichtigste Vermittlerfigur war dabei Andreas Christian Hviid (1749–1788), einer der „boreali“, der in Göttingen studiert hatte.22 Amaduzzis Beitrag zur Fea-Ausgabe gehört zum Verschütteten und Vergessenen und zeigt, wie differenziert und spannungsreich das Bild der römischen Accademia dell’Arcadia ist. So verwunderlich es auch scheinen mag: Die Winckelmanniana, die in der Rubiconia Accademia dei Filopatridi di Savignano den von Amaduzzi eigenhändig betitelten „codice manoscritto 70“ ausmachen, Johannis Winckelmanni Brandeburgensis viri clarissimi Adversaria et Nonnullae Epistolae Ms. autographae De re antiquaria Graec. et Roman., sind viel weniger ausgewertet, als man annehmen könnte.23 Die Zusammensetzung der einzelnen 14 Classes, die einzeln betitelt und zum Teil mit Erklärungen versehen sind, ist wohlbedacht: Die letzte Classis, die ohne einen Gesamttitel sieben Prospectus (Manifesti, Avvisi, Avvisi librari) umfasst, reicht von dem „Manifesto della di lui opera intitolata Monumenti antichi inediti spiegati, ed illustrati, tomi II. in folio“ bis zum „Manifesto nuovo d’una più compita edizione delle opere del Cav. Mengs con lettere di Winckelmann allo stesso, da far continuazione coll’opera antecedente in qualità di IV. tomo“.24 Feas Mengs-Ausgabe wird als Fortsetzung der WinckelmannAusgabe betrachtet. Stefano Ferrari, der als erster den italienischen Übersetzungen der Geschichte der Kunst des Alterthums unter der Perspektive des Kulturtransfers nachgegangen ist, hat im Nachlass Amorettis im Istituto Lombardo di Scienze e Lettere di Milano ein Exemplar des „Manifesto di Antonio Agnelli“ gefunden,25 das nur in Savignano zusammen mit den vier Avvisi (für die Edizione romana in ihrer Ganzheit und für jeden einzelnen Band) erhalten geblieben ist. Dieses Unikum ist auch in seiner Materialität die Spitze des Eisbergs unzähliger verborgener Beziehungen und gemeinsamer Bestrebungen.

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XIX (1997–1998), S. 1–16; Dies.: „Doctus Italus, Amadutius“. Con documenti su Corilla e gli ‚Oltramontani‘. In: Corilla Olimpica e la poesia del Settecento europeo. Hg. v. Moreno Fabbri. Montespertoli 2002, S. 69–86. Als „boreali“ wurden die aus dem Norden kommenden Gelehrten (meist Orientalisten und Bibelforscher wie der aus Altona stammende Hviid) bezeichnet. Vgl. Anm. 20 und Stefano Ferrari: Il Nachlaß italiano di Winckelmann: bilancio storiografico e nuove prospettive di ricerca. In: Archivio storico italiano 643 (2015), S. 65–88, insbes. S. 88. „Prospetto“, „Manifesto“, „Avviso (librario)“ dürfen als Synonyme betrachtet werden. Der erste Prospektus unter den sieben, die im Ms 70 die Classis XIIII ausmachen, gilt der Ankündigung der Monumenti antichi inediti in zwei Bänden folio, der letzte kündigt eine vollständigere Ausgabe der Werke von Anton Raphael Mengs mit Briefen Winckelmanns an, die als Fortsetzung der Storia delle arti del disegno präsentiert wird. Am Ende des vorliegenden Aufsatzes werden nur die Prospekte wiederabgedruckt, die die Storia dell’arte dell’antichità betreffen. Der u.a. wegen der Hinweise auf die Übersetzung Toussaints und auf die Rolle Merians und Sulzers äußerst interessante Manifesto ist hier unter Nr. 2 vollständig wieder abgedruckt. Verwertet in Ferrari: Carlo Amoretti (wie Anm. 18), S. 198–200.

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III. Was man in Rom und Mailand lesen konnte Die Rezeption der Geschichte der Kunst des Alterthums in Italien deckt sich keineswegs mit jener der italienischen Übersetzungen: Französische Quellen, angefangen bei den Zeitschriften, waren überall im Spiel, aber ebenso gut belegt ist auch noch vor 1764 die Rolle der Nova Acta eruditorum. So hätte kein Gelehrter gleichgültig bleiben können beim Lesen von Urteilen wie etwa dem am Anfang der Nova acta eruditorum von 1763, wo Winckelmann als derjenige charakterisiert wird, dessen „laudes“ und Ruhm von „keinem von all denjenigen, die in der Antiquaria berühmt sind, in jeglichem Winkel der Erde“, übertroffen werde.26 Die Rezensionen in der von Adolf H. Borbein und Max Kunze herausgegebenen und heute maßgeblichen Ausgabe der Geschichte der Kunst des Altherthums27 beginnen mit einem Eintrag jeweils aus der Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste und den Nova acta eruditorum der Jahre 1764 und 1765. „La Biblioteca delle belle Lettere e delle Belle Arti“, wie sie Francesco Soave in seiner Übersetzung von Gessners Brief über die Landschaftsmahlerey nannte,28 hatte Fea vergeblich gesucht: „Ho dovuto contentarmi di tradurle [i.e. „le osservazioni di Winckelmann sopra i due tempj, della Concordia, così detto volgarmente, e di Giove Olimpico, amendue a Girgenti“, G.C.] sulla versione francese“, schreibt er in der Prefazione zum dritten Band seiner Storia delle arti, „perché non mi è riuscito di trovare quel Tomo nella Biblioteca delle Scienze, e Belle Arti stampata in Lipsia in lingua tedesca“.29 Soave, einem in den Efemeridi letterarie di Roma immer eingehend und äußerst positiv rezensierten Autor, stand dagegen in Mailand die deutsche Zeitschrift in der Bibliothek von Karl von Firmian zur Verfügung: In der immerhin um die 20.000 Bände starken Bibliothek von De Azara gab es keine Zeitschrift in deutscher Sprache. Der spanische Gesandte, der Monate vor dem Erscheinen der Mailänder Ausgabe gegenüber seinem Freund Giambattista Bodoni (künftiger Drucker seiner Opere di Antonio Raffaello Mengs, primo pittore della maestà del Re cattolico Carlo III. Pubblicate dal Cav. D. Giuseppe Niccola d’Azara, e dallo stesso rivedute ed aumentate in questa edizione, Parma 26

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Description des pierres gravées du feu Baron de Stosch, etc. In: Nova acta eruditorum 1763, S. 3–25, hier S. 3: „nemo illorum omnium, qui antiquitatis scientia clari sunt, quocumque terrarum in angulo“. Johann Joachim Winckelmann: Statuenbeschreibungen. Materialien zur „Geschichte der Kunst des Alterthums“. Rezensionen. Hg. v. Adolf H. Borbein u. Max Kunze. Bearb. v. Lilian Balensiefen, Eva Hofstetter, Max Kunze u. Manfred Wenzel. Mit Beiträgen v. Balbina Bäbler, Adolf H. Borbein, Klaus-Peter Goethert u. Axel Rügler. Mainz 2012 (= SN 4.5). Antologia romana 5 (1778–1779), S. 33–37, 41–45 u. 49–53, das Zitat hier S. 53. Giovanni Winkelmann: Storia delle arti del disegno presso gli antichi. Tradotta dal Tedesco e in questa edizione corretta e aumentata. 3 Bde. Rom 1783–1784, hier Bd. 3, S. 8 („Ich habe damit Vorlieb nehmen müssen, sie [i.e. die Anmerkungen über die Baukunst der alten Tempel zu Girgenti in Sizilien, G.C.] aus dem Französischen zu übersetzen, da es mir nicht gelungen ist, den [einschlägigen, G.C.] Band der in Leipzig in deutscher Sprache gedruckten Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste zu finden“).

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1780) den dringenden Wunsch äußerte, so schnell als möglich in den Besitz einer Ausgabe der „istoria del arte che si fa a Milano“30 oder wenigstens des davon bereits Gedruckten zu gelangen, sprach und verstand kein Deutsch. Das non legitur in Bezug auf in deutscher Sprache Geschriebenes war die Regel. Soave und der mit ihm engbefreundete Amoretti zählten zu den wenigen Ausnahmen auch hinsichtlich der ihnen offenstehenden Möglichkeit, an englische und deutsche Bücher heranzukommen. Die Nova Acta eruditorum und die Acta Litteraria waren dagegen leicht zugänglich und wurden auch lange nach dem jeweiligen Erscheinungsjahr gelesen. Ein vollständiges Bild über die Anzahl der Artikel in den zwei auf Lateinisch geschriebenen Zeitschriften bietet das Standardwerk vom Christ-Schüler Christoph Gottlob Sachse (1714–1806), das Onomasticon Literarium.31 Die in den Acta litteraria abgedruckte Rezension der Geschichte der Kunst des Alterthums verdient hier genauer betrachtet zu werden. Ihr Anfang lautet: In tanta librorum copia, qui veterum monimentorum historiam et interpretationem continent, nullum meminimus esse, tanta ingenii, doctrinae, illiusque inprimis acuti de artibus operumque venustate iudicii laude dignum, aut qui tamen lectori vtilitatem adferre possit, quantam is.32

Hier wird auch auf eine lange ausgeblendete Tatsache hingewiesen, die erst von der neueren Winckelmann-Forschung anerkannt wurde – die Bedeutung des Aufenthalts in Sachsen: [E]legantissimus Auctor, cum in patria sua viueret, atque inprimis in Bunauaianae bibliothecae sinu assiduam bonis litteris operam daret, immensas antiquae et nouae eruditionis opes collegit [...] Hunc vero pulchritudinis omnis et venustatis sensum cum aluit docta et frequenti eorum monimentorum consideratione, quae Augustorum liberalitate collecta et arcessita Dresda exibet, tum auxit, posteaquam in Italiam [...] peruenit.33

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Die Mailänder Ausgabe erscheint Ende 1779, der Brief an Giambattista Bodoni (1740–1813) ist auf den 15. Juli 1779 datiert. Siehe Angelo Ciavarella: De Azara Bodoni. Bd. 1. Parma 1979, S. 5f. – Azara brauchte die Mailänder Ausgabe für seinen „Elogio di Mengs“. Christopherus Saxius: Onomasticon Literarium sive nomenclator historico-criticus praestantissimorum omnis aetatis, populi, artiumq. formulae scriptorum [...]. Bd. 7. Traiecti ad Rhenum [Utrecht] 1790, S. 197–202. Iohann Winckelmanns, Praesidentens der Alterthümer zu Rom, und Scrittore der Vaticanischen Bibliothek etc. Geschichte der Kunst des Alterthums. In: Acta litteraria 1 (1764), Teil 3, S. 336–353, das Zitat hier S. 336f. („In der so großen Menge an Büchern, die sich mit der Geschichte und Auslegung alter Denkmäler beschäftigen, ist keines erinnerlich, das für seinen Reichtum an Geist und Kenntnissen und seinen Scharfsinn in der Beurteilung des Altertums und der Schönheit der Werke so viel Lob verdient wie dieses oder aber dem Leser so sehr von Nutzen sein könnte wie dieses.“ [Übs.: G. C.]). Ebd., S. 337 („Autor von größter Eleganz, solange er in seiner Heimat lebte und in erster Linie im Schoß der Bünauischen Bibliothek beharrlich sich dem schönsten Teil der Gelehrsamkeit widmete, einen riesigen Schatz an Kenntnissen in der älteren und neueren Literatur sammelte [...] Dann, nachdem er [...] in Italien ankam, verstärkte sich in ihm dieser Sinn für jede Form der Schönheit, die er durch die gelehrte und häufige Betrachtung derjenigen Denkmäler genährt hatte, die Dresden prachtvoll aufweist, und die es dank der Liberalität seiner Herrscher

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Man beachte die Reihenfolge „inprimis in Bunauaianae bibliothecae sinu“ – zuerst im Schloß der Bibliothek des Reichsgrafen von Bünau, dann die gelehrte und häufig wiederkehrende Betrachtung der in Dresden gesammelten Schätze und schließlich das „auxit“ in Italien: Es handelt sich um ein augere, um ein Vermehren, also um eine Kontinuität, nicht um eine Opposition.34 Die Geschichte der Kunst des Alterthums wird als ein Buch aufgefasst, das lehrt, „quantus sit studiorum humanitatis ambitus“.35 Der letzte Satz lautet lapidar: „Indignus est, qui non ipsum librum legat, cui humanitatis siue studiosi, siue periti, siue doctoris, nomen tribuatur.“36

IV. Eine versunkene Landschaft In der Biblioteca Gambalunga di Rimini wird im Nachlass des Arztes, Naturwissenschaftlers, Gräzisten und Pflegers der scientia antiquitatis Giovanni Bianchi eine Charakteristik des „Abbate Giovanni Winckelmann Sassone“ – „eccellente filologo“ („hervorragender Philologe“), „esperto antiquario“ („erfahrener Altertumswissenschaftler“), „fornito di ottimo gusto nelle arti“ („mit ausgezeichnetem Geschmack für die Künste ausgestattet”) – aufbewahrt,37 der eine Liste seiner gedruckten Werke folgt. Die Schrift stammt von Epifanio Brunelli, einem Schüler von Bianchi, der in seiner Wohnung in Rimini eine Art Privatuniversität errichtet hatte und seinen Schülern die besten periodischen Werke aus seiner großen Bibliothek zur Verfügung stellte.38 In welcher Sprache die Texte verfasst waren, aus denen Brunelli seine Informationen schöpfte, erhellt daraus, dass die vier Einträge der Liste auf Latein geschrieben sind. Der letzte lautet „Jo. Winckelmanni, Monu-

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[lat. Augusti] sich verschafft und in sich gesammelt hat“). Der Text in SN 4.5 (wie Anm. 27) leider nicht wiederabgedruckt. Elisabeth Décultot: Freiheit. Zur Entwicklung einer Schlüsselkategorie von Winckelmanns Kunstverständnis. In: Das achtzehnte Jahrhundert 37 (2013), H. 2, S. 219–233, insbes. S. 232. Iohann Winckelmanns (wie Anm. 32), S. 338 („wie weit der Bereich der Studia humanitatis reicht“). Ebd., S. 353 („Wer das Buch selbst nicht lesen sollte, ist nicht würdig, dass man ihm den Namen eines Pflegers oder eines Kenners oder eines Doktors der Studia humanitatis verleiht.“). Im Nachlass von Giovanni Bianchi, BGR (wie Anm. 20) aufbewahrt (unveröffentlicht). Es handelt sich um eine Art Zusammenstellung der Winckelmann betreffenden Informationen, die Bianchis Schüler aus Rom an diesen gesandt hatten. Ebenda findet sich auch der Verweis auf die positiven Besprechungen in den Nova Acta Eruditorum, in den von Govanni Lami herausgegebenen Novelle letterarie und in anderen Zeitschriften („vantaggiosi estratti sugli Atti di Lipsia, nelle Novelle letterarie del Lami, ed in altri giornali“). Einen herzlichen Dank an Frau Dr. Paola Delbianco, die beim ersten Blick die Hand von Epifanio Brunelli erkannt hat. An seinen Mitschüler Brunelli, der auch in der Villa Albani mit Winckelmann war (siehe Anm. 20), richtet Amaduzzi den Brief, in dem sein Gespräch mit Winckelmann den Katalog der Tragödien des Euripides betreffend festgehalten wird („Lettera sopra un antico marmo contenente il Catalogo delle Tragedie di Euripide, e sopra altre cose antiche, scritta al Sig. Abate D. Epifanio Brunelli di Rimino“ in: Miscellanei varia letteratura, vol. VII, Lucca 1767, S. 173–203).

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mentorum Antiquit., quae Romae superunt Inspectoris, Scriptoris in Bibliotheca Vaticana, Societ. Antiquariae Londinensis, Academiae Pictorum Romanae S. Lucae, Hetruscae item Cortonensis, Socii, Historia Artium Antiquitatis Dresdae p. Waltherum 1764.“39 Die zwei von Brunelli namentlich erwähnten Zeitschriften, die von der Leipziger Gelehrtenfamilie Mencke herausgegebenen Nova Acta eruditorum und die von Giovanni Lami (1697–1770) herausgegebene florentinische Zeitschrift Novelle letterarie, sind vollständig in der Bibliothek von Giovanni Bianchi vorhanden. Die Zeitschrift der Gelehrtenfamilie Mencke wird schon vor 1764 in einem als Brief an den Herausgeber Lami verfassten Artikel40 von Amaduzzi, dem fleißigsten Korrespondenten unter den Schülern Bianchis, zitiert. Die Wahl der Form ist bezeichnend. Amaduzzis Berichte aus Rom, die bereits im Jahr seiner Ankunft aus Rimini wissenschaftliche Gespräche mit Winckelmann festhalten, sind druckfertig: der Brief vom 11. Dezember 1762 mit dem ideologisch wichtigen Hinweis auf die Lektüre der Kirchenväter als Beweggrund für den Übertritt zum katholischen Glauben41 wie der zum Druck bestimmte Brief vom 15. Februar 1775 mit der Nachricht zur „Storia dell’arte degli antichi“,42 den Bianchi an seinen „Amico d’Yverdon“, das heißt an Fortunato Bartolomeo De Felice (1723–1789), weiterleitet. Von den Gesprächen auf Augenhöhe mit Giovanni Gaetano Bottari und Winckelmann zeugen unveröffentlichte Briefe.43 In den Novelle letterarie wird jedoch noch vor der Herausgabe der mit Anmerkungen von Giovanni Pietro Bellori versehenen Fragmenta vestigii veteris Romae44 das frühe Interesse für das Thema bekundet und in einem Artikel in Briefform das Erscheinen der Monumenti antichi inediti bekanntgegeben.45 Der Artikel birgt einen frühen Beleg für die keineswegs willkürliche italienische Übersetzung des deutschen Titels Geschichte der Kunst des Alterthums als Storia delle arti del disegno. Amaduzzi zitiert den Trattato preliminare dell’arte 39 40

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Wie Anm. 37 („Jo. Winckelmanns Oberaufsehers der Alterthümer in Rom, [...] Geschichte der Kunst des Alterthums, Dresden Walther 1764“). Der einfach als „Lettera“ („Brief“) betitelte Aufsatz erwähnt die Stamperia De propaganda Fide und Costantino Ruggeri, ihren Aufseher, „Bibliotecario della libreria Imperiale“, der mit Winckelmann gut befreundet war. Siehe: Lettera scrittami dal Sig. Abate Amaduzzi. In: Novelle letterarie 24 (1763), S. 552–557, hier S. 553 u. 556. Vgl. Cantarutti: „Doctus italus Amadutius“ (wie Anm. 21). Siehe Stefano Ferrari: Il rifugiato e l’antiquario. Fortunato Bartolomeo De Felice e il transfert culturale italo-elvetico di Winckelmann nel secondo Settecento. Rovereto 2008, S. 81. Siehe oben (Anm. 20). Fragmenta vestigii veteris Romae XX tabulis comprehensa cum notis Johannis Petri Bellorii, Editio quarta, cui accesserunt incerti Auctoris, et Johannis Christophori Amadutii Sabinianensis adnotationes [...]. Rom 1764. – Hierzu wie auch zu den Besprechungen in der Gazette littéraire de l’Europe vom 18. Juli 1764 und „dem ersten Band der Novelle letterarie stampate in Yverdon nel 1767“ siehe Isidoro Bianchi: Elogio dell’abate Giovanni Cristofano Amaduzzi. Pavia 1794, S. 99. Articolo di lettera scrittami dal Signor Abate Giov. Cristofano Amaduzzi sotto di 6. giugno 1767. In: Novelle letterarie 28 (1767), Sp. 457–459.

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del disegno degli antichi popoli – so Winckelmanns autographe Kapitelüberschrift – in abgekürzter Form als „Dissertazione sull’arte del disegno“. Das Syntagma „Arte del Disegno“ ist nämlich ebenso geläufig wie die Auffassung von „Winckelmanns Kunstgeschichte als eine[r] Skulpur und Baukunst umfassende[n] Darstellung“.46 Die Monumenti antichi inediti werden in einem Atemzug mit dem noch nicht erschienenen ersten Band von Giambattista Passeris Picturae etruscorum in vasculis (1767) genannt. Die erste Adprobatio dieses Werkes, das als Meisterstück der „ragionata antiquaria“ galt,47 unterschreibt unter dem Datum 4. Juni 1767 „Jo. Winckelmann Praefectus Antiqu. Romani“.48 Gleichsam als Fortsetzung erscheint dann anonym in der Florentiner Zeitschrift eine Besprechung der Storia dell’arte dell’antichità, die am Anfang die zahlreichen renommierten Vorgänger Winckelmanns nennt, die Amaduzzi meist aus persönlichem Umgang kannte. Ein Satz in der Konzessivform, „Sebbene molti e rinomati scrittori“, leitet die Erklärung des von Winckelmann eröffneten radikal neuen Weges folgendermaßen ein: Sebbene molti e rinomati Scrittori abbiano intrapreso ad illustrare gli antichi monumenti delle Arti del Disegno; tutti però anno battuta la stessa strada, o poco almeno se ne sono scostati, essendo stato il principale loro scopo l’investigare e lo stabilire il soggetto in que’ lavori rappresentato. Il celebre Winkelmann in quest’Opera aprì una carriera affatto nuova, rimontando all’origine delle Arti presso quelle nazioni che le coltivarono, e seguendole ne’ diversi loro periodi fino alla loro decadenza. S’interna egli eziandio nel costitutivo dell’Arte stessa, ragionando da profondo metafisico con rigorosa critica e vasta erudizione sul bello, sul sublime, sul grazioso e sulle altre sue proprietà. Toglie inoltre vari pregiudizj, stati finora comunemente

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Das ist also kein Spezifikum für Fea, wie man dem Vorwort zu SN 4.1 (wie Anm. 7), S. ix entnehmen könnte, wo es heißt: „Wie im Titel ausgewiesen, verstand Fea Winckelmanns Kunstgeschichte als eine Skulptur und Baukunst umfassende Darstellung, so daß er Winckelmanns ältere Monographie Anmerkungen über die Baukunst der Alten (1762) mit in seine Ausgabe aufnahm.“ Hauptquelle für die einschlägige Auffassung ist der Elogio del Sig. Abate Giovanni Batista Passeri. In: Antologia romana 7 (1779–1780), S. 137–140, 145–148, 153–156, 161–164, 169– 172, 177–179, 185–188, 193–196, 201–204, 209–212. – Als Rechtsgelehrter, Antiquar und Naturforscher zählte Giambattista Passeri (1694–1780), gemeinsam mit Anton Francesco Gori, zu den größten Koryphäen der Etruskologie. Beide waren bereits Korrespondenten von Amaduzzis Lehrer Giovanni Bianchi. In BAFS Ms 18 sind 87 Briefe von Giambattista Passeri (4. April 1767 bis 4. August 1777) und sechs Antwortbriefe Amaduzzis an ihn erhalten, darunter einer vom 3. Juni 1763, in dem die Description des pierres gravées du feu Baron de Stosch zitiert wird. Vgl. auch die folgende Anmerkung. Im ersten der drei Bände von Passeris Picturae Etruscorum in vasculis, Roma 1767, S. IX. Die letzte Adprobatio im zweiten und dritten Band der Picturae Etruscorum sind von Amaduzzi, der zum dritten Band auf S. LXXI–CXII mit seiner Beschreibung des Alphabetum veterum Etruscorum [Rom 1775] beitrug. Drei Tage vorher hatte er in Echtzeit seinem Korrespondenten Passeri (in eben dem Brief, in dem von Winckelmanns „descrizione delle pietre intagliate del Baron de Stosch“ die Rede war) die soeben erfolgte Veröffentlichung der „Monumenti antichi inediti per lo più della Villa Albani“ mitgeteilt.

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adottati dagli Antiquarj, e stabilisce pe’ medesimi degli utili precetti, onde poter formare un giusto e fondato giudizio sui monumenti dell’Arte.49

Die Einsicht in das Neue und Spezifische von Winckelmanns Herangehensweise an die „Antichi documenti delle Arti del Disegno“, das ihn als „profondo metafisico“50 auszeichnete, vereinte die Leser, die sich für Sulzer begeisterten.51

V. Gemeinsame Nenner Giovanni Lami, Bibliothekar der Riccardiana, „italien dans l’Europe de la République des Lettres“,52 „historiae sacrae et eccles. professor“,53 ist die Bekannschaft ältesten Datums, die auf die Vermittlung von Giovanni Bianchi zurückgeht. Der besonders gut in den Nova Acta eruditorum, aber auch in dem Catalogus Bibliothecae Bunavianae vertretene Rimineser, Bekämpfer des Aristotelismus, Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften, Korrespondent Hallers, war engbefreundet auch mit einem anderen Riesen der „Europa erudita“: Paolo Maria Paciaudi (1710–1785), Historiker der Malteserordens, „Ordinis Equestris Hierosolimitani Historikus“,54 der die wichtigste Brücke zwischen Rom, Parma, Rimini und Mailand bildete. Der heute hauptsächlich außerhalb Italiens dank seiner Korrespondenz mit dem Comte de Caylus bekannte Theatiner ist der bedeutendste unter den hochgelehrten Prälaten, die die Reformen seiner Zeit tatkräftig unterstützten:

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Novelle letterarie [2. Ser.] 11 (1780), Sp. 116f. („Auch wenn viele und namhafte Autoren es unternommen haben, die Denkmäler der Geschichte der Kunst des Altertums zu beschreiben, sind alle denselben oder fast denselben Weg gegangen, da ihr Hauptzweck darin bestand, zu erforschen und festzustellen, welches Sujet in diesen Werken dargestellt war. Der berühmte Winckelmann beschritt dagegen mit diesem Werk [der Geschichte der Kunst des Alterthums, G.C.] ganz neue Bahnen, indem er von den Ursprüngen der Künste bei jenen Nationen ausging, die sie pflegten und sie in ihrer Entwicklung bis zum Niedergang verfolgte. Er dringt auch ins Wesen der Kunst selbst ein und räsonniert als tiefdenkender Metaphysiker mit zwingender Kritik und breiter Gelehrsamkeit über das Schöne, das Erhabene, das Graziöse [in den Werken der Kunst, G.C.] und über ihre sonstigen Eigenschaften. Er tilgt auch etliche Vorurteile, denen die Altertumswissenschaftler gewöhnlich anhingen und er stellt für dieselbigen nützliche Regeln bereit, um ein angemessenes und begründetes Urteil über die Denkmäler der Kunst zu bilden.“). Unter „metafisica“ sind die „operazioni dell’intelletto umano“ zu verstehen. Siehe Carlo Amoretti: Notizie sulla vita e gli studi del p. d. Francesco Soave C. R. S. Mailand 1806, S. 7. Siehe oben, S. 144f. Siehe den grundlegenden Beitrag von Jean Boutier: Giovanni Lami, un „letterato“ italien dans l’Europe de la République des Lettres. In: L’Accademia degli Agiati nel Settecento europeo. Hg. v. Giulia Cantarutti u. Stefano Ferrari. Mailand 2007, S. 35–51, mit zahlreichen Hinweisen auf noch auszuwertende Materialien in der Florentiner Biblioteca Riccardiana, so insbes. S. 47 auf die „518 lettres reçues de Giovanni Bianchi“ und auf die „importance des relations avec le monde germanique“. So die Bezeichnung auf dem Frontispiz von Iohannis Lami: In antiquam tabulam aheneam [...] observationes. Florenz 1745. Saxius: Onomasticon (wie Anm. 31), S. 265.

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Während der Regierung des reformfreundigen Ministers Du Tillot wurde der Piemonteser von Rom nach Parma berufen, wo er in Amoretti und Soave treue Mitarbeiter fand. In Amoretti hatte er auch einen Schüler, der ihm in den späten Siebzigerjahren von Mailand aus (in unveröffentlichten Briefen der Biblioteca Palatina di Parma) über die Winckelmann-Ausgabe genau berichtete. Paciaudi, ehemaliger Bibliothekar des Cardinal Passionei, teilt mit Amoretti auch den Korrespondenten, der die wichtigste Brücke nach Mailand schlägt: Fortunato Bartolomeo De Felice, Repräsentant par excellence des „giornalismo enciclopedico“. Amaduzzi begegnet ihm noch in Rimini: Giovanni Bianchi hatte dem aus Rom stammenden Wissenschaftler bei seiner Flucht in die Schweiz entscheidend geholfen. De Felices Estratto della letteratura europea (Bern 1758–1769) und Excerptum totius Italicae nec non Helveticae Literaturae (Bern 1758–1762) sind das Modell für das Giornale enciclopedico di Milano, in welchem Amorettis Übersetzung in Verbindung mit der von Michael Huber ins Französische übersetzten Histoire de l’art de l’antiquité (Leipzig 1781) besprochen wird,55 sowie für das Giornale enciclopedico56 von Elisabetta Caminer Turra. Die Auskunft, die Amaduzzi seinem Lehrer zum Weiterleiten nach Yverdon schickt, „Ha [l’Abate Winckelmann, G.C.] pur pubblicata la Storia dell’arte degli antichi nell’anno 1764, di cui si dà ragguaglio nell’Estratto della Letteratura europea per l’anno 1765 Tom. I, Yverdon, Estratto VI, pag. 97 sino a pag. 135“,57 bezieht sich nur auf den ersten Teil einer um die 100 Seiten umfassenden Präsentation: De Felice ist nämlich 1765 der erste, der in seinem Estratto della letteratura europea in italienischer Sprache und in aller Ausführlichkeit von der Geschichte der Kunst des Alterthums berichtet.58 Diese Rezension ist, wie so oft in dieser Epoche, eine adaptierte Übersetzung aus dem Journal encyclopédique und wird von Francesco Griselini dankbar und prompt für seine venezianische Zeitschrift Il corriere letterario übernommen.59 Die umfangreichste italienische Besprechung, die mit einer lebhaft geschriebenen Vita anfängt, verdankt sich Angelo Fabroni (1732–1803), der in ganz Europa wegen seiner Gelehrtenbiographien (der immer wieder erweiterten Vitae italorum doctrina excellentium qui saeculo XVIII floruerunt, Rom 1766ff.) zu Berühmtheit gelangt war: „[D]alla sua diletta libreria [des Grafen Bünau, G.C.] passava spesso alla vicina Dresda per vedervi le copie in gesso delle più magistrali opere antiche [...]. Imperrocchè fin d’allora immaginò il piano della sua storia dell’arti del diseg55 56 57

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Giornale enciclopedico di Milano 1 (1782), S. 77–79. Giornale enciclopedico [Vicenza] 4 (1780), S. 33–42, hier S. 34. Biblioteca Apostolica Vaticana, Ferrajoli Manoscritti, 419, c. 127r („Er [Winckelmann, G.C.] hat auch die Geschichte der Kunst des Altertums im Jahr 1764 veröffentlicht, worüber in der Zeitschrift Estratto della letteratura europea für das Jahr 1765, Bd. 1, Yverdon, Estrattto VI, S. 97–135 berichtet wird“). Estratto della letteratura europea 1765, Bd. 1, S. 97–135; Bd. 2, S. 77–104; Bd. 3, S. 3–38. Dazu Ferrari: Il rifugiato (wie Anm. 42), S. 61–63. Francesco Griselini ist 1778 der Vorläufer von Amoretti als Sekretär der Società patriottica.

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no“,60 liest man im Giornale de’ Letterati di Pisa, dem „Pietro Leopoldo Arciduca d’Austria e Granduca di Toscana“ gewidmeten Pisaner Journal. Auch Fabroni hatte in seinen römischen Jahren enge Freundschaftsbeziehungen zum philojansenistischen „Circolo dell’Archetto“, der sich um Giovanni Bottari, Bibliothekar der Familie Corsini, sammelte. Die antikuriale und antijesuitische Haltung, das „concordet scientia cum fide“, die Lobpreisung der Wissenschaften, die Bekämpfung der „irragionevole autorità“ („unvernüftigen Macht“) werden von Amaduzzi in seinen programmatischen Reden mit großer Entschlossenheit formuliert: Die erste Rede, Del fine e utilità dell’Accademie, entspricht den aufklärerischen Absichten von Amoretti und Soave so sehr, dass sie in abgekürzter Form in die Scelta di Opuscoli 61 aufgenommen wird. Der Gesinnung, die nur eine kleine, hochkultivierte Fraktion der Arkadier, die „pastori filosofi“, charakterisierte, entsprach das Bekenntnis zur „ragionata antiquaria“, wie es Amaduzzi 1780 mit Bezug auf Giambattista Passeri in aller Klarheit in der Antologia romana ausdrückt.62 Genau die „Antiquarischen Briefe“ Winckelmanns, in der Form, die ihnen Amaduzzi verliehen hatte, werden für den dritten Band der Storia delle arti del disegno gewählt: Es sind die Briefe, die in der Antologia romana zwischen Juli und Oktober 1779 unter dem Titel Alcune lettere dell’abate Winckelmann, da lui scritte nella sua prima venuta a Roma ad un suo amico di Dresda, riguardanti principalmente le preziose antichità che si scavarono in quei tempi ad Ercolano, Pompei, Stabbia, Caserta e nelle vicinanze di Roma erschienen waren. Die Briefe, die Winckelmann ab dem 31. März 1758 an Bianconi, den damaligen Arzt am Sächsischen Hof, gerichtet und zum Vorlesen vor dem sächsischen Kurprinzen Friedrich Christian und seiner Gemahlin Maria Antonia 60

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Giornale de’ letterati di Pisa 38 (1780), S. 56–105, hier S. 58 („Von seiner geliebten Bibliothek [der Bünaischen Bibliothek, G.C.] ging er oft nach Dresden, das nah gelegen war, um die Gipskopien der besten Werke der Alten zu sehen [...], da er bereits damals den Plan seiner Geschichte der Kunst des Altertums entwarf“). Vgl. dazu oben Abschnitt III. Giovanni Cristofano Amaduzzi: Discorso filosofico sul fine ed utilità dell’Accademie. In Livorno per i Torchi dell’Enciclopedia 1777, S. 5–31, mit Widmung an Luigi Gonzaga „veneratore [...] della più sana dottrina degli antichi Padri della Chiesa“ („Verehrer [...] der gesündesten Lehre der alten Kirchenväter“). Dass. unter dem Titel Storia delle Accademie tratta dal Discorso filosofico in abgekürzter Form in: Scelta di Opuscoli interessanti tradotti da varie lingue XXIX (1777), S. 20–33. Siehe ebd. die Kernüberzeugungen der „Arcadia filosofica“, insbesondere die Verherrlichung der wissenschaftlichen Akademien als Wegen zu einer gesunden Philosophie und die Bekämpfung der unvernünftigen Ausübung der kirchlichen Macht („irragionevole autorità“) wie auch des Aristotelismus. Zum Bündnis zwischen Verstand/scienze (den Wissenschaften im Allgemeinen, die als Teil der Philosophie galten) einerseits und fides (Glauben) andererseits vgl. Amaduzzis programmatische Rede La filosofia alleata della religione [...]. In: Livorno per i tipi dell’Enciclopedia 1778, S. 5–51, hier S. 22 u. 45– 47 zu Haller bzw. Haller und Euler. Siehe oben, S. 1. Vgl. dazu den begeisterten Brief des Abate Annibale degli Olivieri vom 30. März 1780, BAFS Ms 18, in dem Amaduzzi das Verdienst zuerkannt wird, die Kenntnisse und die Werke Passeris zum System erhoben zu haben („Ella ha ridotto a sistema la sua dottrina e le sue opere.“).

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Walpurgis bestimmt hatte, bilden in Winckelmanns Nachlass in Savignano die elfte der 14 Classes vom Ms 70. Die tiefgreifende Umarbeitung dieser Briefe zu 16 thematisch geordneten Artikeln mit dazugehörigen Anmerkungen ist bekanntlich Amaduzzis Arbeit. Die römische Signatur könnte nicht deutlicher sein.

Aus Amaduzzis Winckelmanniana in Savignano sul Rubicone Biblioteca della Rubiconia Accademia dei Filopatridi di Savignano sul Rubicone: Codice Manoscritto 70, Classis XIIII: Das im Nachlass von Giovanni Cristofano Amaduzzi aufbewahrte Konvolut von Winckelmanniana, Ms 70, welches der aus Savignano gebürtige Gelehrte handschriftlich mit dem Titel Johannis Winckelmannii Brandeburgensis viri clarissimi Adversaria et Nonnullae Epistolae Ms. autographae De re antiquaria Graec. et Roman. Colligente et in ordinem redigente Johanne Christophoro Amadutio huiusmodi autographorum possessore versehen hat, besteht aus 14 Klassen, welche ebenfalls einzeln mit detaillierten handschriftlichen Angaben versehen sind. Die letzte, die Classis XIIII, beginnt mit dem folgenden, von Nummer I. bis Nummer VII. durchnummerierten Verzeichnis: n. I. Manifesto della di lui opera intitolata Monumenti antichi inediti spiegati, ed illustrati, tomi II. in fol. n. II. Manifesto di Antonio Agnelli stampatore, e libraio in Milano sovra la versione Italiana, ed edizione della di lui Storia dell’arti del disegno presso gli antichi, scritta originalmente in lingua tedesca. n. III. Avviso I. dell’Abate Carlo Fea per l’edizione Romana, corretta, ed accresciuta, della stessa opera, tomi III in 4. n. IIII. Avviso II. del compimento del I. tomo. n. V. Avviso III. del compimento del II. tomo. n. VI. Avviso IV. del compimento del III. ed ultimo tomo. n. VII. Manifesto nuovo d’una più compita edizione delle opere del Cav. Mengs con lettere di Winckelmann allo stesso, da far continuazione coll’opera antecedente in qualità di IV. tomo. Dann folgen die Prospekte selbst, von denen hier diejenigen wiederabgedruckt werden, die die italienischen Übersetzungen der Geschichte der Kunst des Alterthums betreffen: n. II. (Prospekt der Amoretti-Ausgabe der Storia delle Arti del Disegno), n. III. (Feas Ankündigung der römischen, in drei Bänden geplanten Ausgabe), n. IV. (Ankündigung der Fertigstellung des ersten Bandes der Fea-Ausgabe), n. V. (Ankündigung der Fertigstellung des zweiten Bandes der Fea-Ausgabe), n. VI (Ankündigung der Fertigstellung des dritten Bandes der Fea-Ausgabe). Diese

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typologisch äußerst ephemeren, weil fliegenden Blättern anvertrauten Dokumente werden hier zum ersten Mal wiederabgedruckt.

n. II: ANTONIO AGNELLI STAMPATORE E LIBRAIO IN MILANO Dalla tipografia nuovamente eretta nell'Imperial Monastero di S. Ambrogio Maggiore Non v’è amatore degli antichi monumenti, e delle belle arti, cui grave stata non sia e sensibile la tragica immatura morte del celebre Signor Abate GIO WINKELMANN, egualmente onorato in Germania, dove nacque, e visse per lungo tempo, che nell’Italia, dove fissò il suo soggiorno per poter con agio contemplare gli ammirabili avanzi, che ancora ne rimangono degli antichi professori delle belle arti, dalle cui opere riconosce il moderno buon gusto il suo rinascimento. Accolto egli, e guidato dai lumi del più grande conoscitore della bella antichità, e mecenate delle arti, e degli ingegni il Signor Cardinale ALESSANDRO ALBANI, ebbe tutto il comodo di sviluppare il proprio genio, e di aprirsi una nuova carriera, esaminando i lavori degli Antichi secondo i principj dell’arte, tanto nel disegno, che nella pittura, nella scoltura, e nella architettura: in una parola, ebbe campo di tessere la meno conosciuta, e forse la più importante parte della storia dello spirito umano. L’opera, che ne pubblicò col titolo di Storia dell’Arte degli Antichi, stampata a Dresda l’anno 1764 in lingua tedesca, che più d’ogni altra gli era famigliare, fu accolta da tutti i conoscitori con grandissimo applauso, non solo per l’importanza delle cose, che vi si contenevano, ma eziandio per la nobiltà, e per la vivezza dello stile. Fu questa ben presto tradotta in francese: ma la traduzione riuscì infedele a segno, che 1’autore ebbe a dolersene altamente ne’ foglj periodici di que’ tempi, e nella prefazione ai Monumenti antichi inediti; opera celebre da lui pubblicata in italiano, e dedicata al suddetto Porporato nell’anno 1767, nella quale inserì parte delle cose trattate nella detta storia. Non tardò guari il Signor WINKELMANN, sempre occupato dello studio delle antichità, ad avvedersi, che molto ancora mancava a rendere perfetta la già pubblicata Storia dell’arte degli Antichi, di quelle arti cioè, che noi sogliamo chiamare Arti del Disegno, onde s’accinse a nuove ricerche, viaggiò per quasi tutta l’Italia, ebbe sott’occhio nuovi monumenti, e non solo ebbe materia, onde accrescere l’opera sua, ma eziandio onde rifonderla, siccome fece. Temendo poi che incontrasse in Francia la sorte della prima, andò alla volta di Berlino per valersi del Signor Toussaint a farne la traduzione. Mal soffrendo però di trovarsi lungi dall’Italia, e di dovere per assai tempo restar lontano

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dall’incomparabile Porporato suo mecenate, cangiò di pensiero, ripigliò il cammino d’Italia, ma nel suo ritorno fu crudelmente assassinato. L’opera ms. fu portata a Vienna, d’onde per legato dell’autore dovea rendersi all’Eminentissimo Cardinale ALESSANDRO ALBANI, come quegli, che vi aveva un pieno diritto. La lingua però, in cui era scritta, fece sì, che fu combinato di pubblicarla colà, e nello stesso tempo, secondo l’intenzione dell’autore, fu incaricato il Signor Toussaint d’intraprenderne, come egli fece di fatti, 1a traduzione francese, alla quale il Signor Merian, ed il rinomato autore della teoria universale delle belle arti, il Signor Sulzer, pur vollero assistere: ma per la morte del Signor Toussaint restò sospesa la traduzione, e giunse appena ad una piccola parte dell’intero volume. Quest’opera postuma, per compir la quale tanto avea travagliato l’autore, si è finalmente pubblicata nell’anno scorso a Vienna dai torchj del Signor De Trattnern in due volumi in quarto, che formano 881 pagine di stampa, oltre una ben lunga prefazione, dove si rende conto di alcune circostanze della vita del Signor WINKELMANN. Pervenutane notizia agli Abati della Congregazione Cisterciense di Lombardia, che recentemente si è in particolar modo destinata a coltivare lo studio delle antichità sacre e profane ad imitazione d’altri illustri corpi regolari fuori d’Italia, hanno essi creduto di rendersi benemeriti della letteratura italiana col fare, che quest’opera non restasse più oltre sconosciuta al bel paese dov’è nata, e dove si è accresciuta e perfezionata, e se n’è perciò da’ medesimi procurata la traduzione. Essendo ormai questa ridotta a termine, verrà fra non molto pubblicata in questa tipografia nuovamente eretta dalla stessa Congregazione Cisterciense, che secondando le intenzioni dell’AUGUSTA SOVRANA, ad esempio di altri monasterj, specialmente di Germania, ha eretta una tipografia fornita di nitidissimi caratteri; e perchè nulla manchi al suo compimento, ha intrapreso altresì la fabbrica di una grandiosa cartiera a cilindri all’uso di quelle d’Olanda, già quasi terminata, colla cui carta si farà la presente edizione. Poichè il Signor Cardinale ALESSANDRO ALBANI ha a tanti riguardi diritto su tale opera, i Monaci direttori di questa tipografia, seguendo la mente de’ Superiori della loro Congregazione, l’hanno fatto supplicare a permettere, che sotto i di lui auspicj se ne pubblicasse la traduzione. Si è non solo degnata l’E.S. di accordare tal grazia, ma ha voluto eziandio colla solita sua generosità concorrere anche in questo incontro a rendere più compiuta l’opera stessa a vantaggio degl’Italiani letterati, ed amatori delle belle arti. A questo fine ha fatti avere ai Monaci direttori della tipografia i disegni di tutti quegli antichi monumenti più importanti ed inediti, che sono citati nel corso dell’opera, una parte de’ quali esiste nella Villa dello stesso Signor Cardinale, che a buona ragione può dirsi contenere la più preziosa e la più scelta raccolta di belle antichità, che siasi giammai formata. Tutti questi disegni diligentemente incisi, saranno aggiunti a quelli, che trovansi nella originale edizione tedesca, e perciò ne renderanno di gran lunga più

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pregevole e più istruttiva la traduzione, a cui per compimento si aggiungeranno varie ed opportune note. A tale edizione nulla mancherà di ciò, che costituisce il merito tipografico. L’opera sarà compresa in due volumi in quarto con un carattere maggiore di questo, chiamato Silvio. La carta ne sarà ancor più consistente e migliore di quella del presente annunzio. Il prezzo non s’indica per ora, dipendendo questo dalla moltiplicità de’ rami, sui quali non si può fare ancora un esatto calcolo. Sarà però fissato in un altro annunzio prima che l’opera si pubblichi. Assicurasi intanto che sarà il minore possibile, e che i non associati la pagheranno un quarto di più degli associati, i nomi de’ quali, ad esempio dell’edizione originale, saranno registrati appiè del secondo volume. Chi si associerà per dieci copie averanne una gratis. Le associazioni riceverannosi nel mio negozio nella contrada di S. Margarita, e presso i Signori Libraj nelle Città d’Italia. n. III. AVVISO È ben noto ai signori Letterati, che il pregio essenziale delle opere, che si fanno per istruire, non per dilettare solamente, è che siano esatte nelle notizie, che contengono, e corrette quanto alle citazioni, e alla materia. L’editore della Storia delle Arti del Disegno di Winkelmann quando propose di farne in Roma la ristampa non avrebbe mai creduto, che un’opera tanto interessante, e tanto applaudita da tutta l’Europa, forse così mancante nei detti punti, come non lo crede d’ordinario chiunque legge un libro senza impegno di esaminarlo. Ma dopo aver dato fuori il manifesto, e prefisso il termine alla pubblicazione dei fogli avendo fatto su di essa più maturo esame, e inteso anche il parere di più valenti, e illustri Letterati ed Antiquarj, che ad una voce dicevano che meritava di essere almeno riveduta per renderla veramente utile, si accinse all’ardua impresa di confrontare la traduzione di Milano sull’originale tedesco, da cui l’ha trovata ben molte volte stranamente discorde, e di consultare insieme le due diverse traduzioni fattene in lingua francese, e occorrendo, anche le altre opere dell’Autore per colpire più dirittamente nel di lui sentimento; di rincontrare con incredibile, ostinata, tediosissima fatica le tante citazioni, che vi sono, la maggior parte delle quali si trovano sbagliate, e per rettificarle convien leggere interi volumi; di correggere gli equivoci ed abbagli, che sono sfuggiti all’Autore; e in fine di accrescerla della notizia dei monumenti, che si sono disotterrati, o sono venuti a pubblica luce in questi ultimi tempi, ornandola ancora di altri rami, e non badando a spesa riguardo a tutte queste cose, siccome anche per la correzione: ed ormai li signori Associati, che prendono i fogli, potranno essere persuasi con quanto impegno, e sollecitudine ciò sia stato eseguito. A tutte queste diligenze al presente se ne deve aggiugnere un’altra.

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Essendo stato mosso fondato dubbio, che Winkelmann abbia preso anche delle sviste in molte cose dei monumenti esistenti in Roma, che comincia a descrivere nei fogli seguenti, e che i disegni di alcuni rami di essi posti nell’opera, siano alterati, si dovrà andare a rincontrarli, ed esaminarli attentamente, e trovandosi necessario, rifarne i disegni. Ogni uomo equo intende, che tutte queste cose non possono eseguirsi in pochi giorni, comunque vi si attenda colla maggior sollecitudine. Quindi è che l’Editore si trova in necessità di pregare i signori Associati di permettergli di sospendere, benchè con suo discapito, l’ulteriore pubblicazione dei fogli fino al primo martedì dopo Pasqua; nel qual frattempo peraltro si stamperanno anticipatamente dei fogli, per poter stampare i rami con più comodo, e diligenza, ed essere puntuali in appresso ogni martedì a distribuirli: facendo riflettere, che nei primi fogli, per meglio illustrare alcuni monumenti parte editi, e parte inediti, vi saranno aggiunti sei, o sette rami, che non si sono potuti incidere in questi giorni. Se egli avesse voluto cercare i suoi vantaggi pecuniarj, ed imposturare alla Repubblica Letteraria, anzichè giovarle, avrebbe potuto risparmiarsi tante fatiche e spese, che non era obbligato a fare, e che poteva riservare per una nuova edizione; ma pure ha fatto, e fa volentieri, senza nemmeno accrescere il prezzo vilissimo di due bajocchi per foglio: e se per esse non cerca applausi, e ringraziamenti; desidera almeno dalla discrezione dei signori Associati di essere benignamente compatito, e non tacciato di mancator di parola. Non sarà paragonabile l’incomodo di sì tenue dilazione al vantaggio, che loro ne ridonderà, ed ai forestieri principalmente, che non possono ad ogni lor piacere venire in Roma ad osservare i monumenti. n. IIII. AVVISO È terminato il primo Tomo della Storia delle Arti del Disegno di Giovanni Winkelmann. Non si è fatta più la ristampa dell’edizione di Milano, come si promise nel manifesto; ma si è corretta la traduzione, piena di molti gravi errori, sull’originale tedesco, e sulle altre opere dell’Autore, e sulle due traduzioni francesi, anch’esse peraltro scorrette di molto; si sono rincontrate le citazioni degli autori, gran parte delle quali erano sbagliate; si sono date notizie più precise, e giuste di molti monumenti citati da Winkelmann, e di altri scoperti dopo la di lui morte; si sono aggiunte molte altre note per illustrare sempre più la materia, e discutere opinioni mal fondate dell’Autore, e di altri Scrittori; e finalmente si sono aggiunti molti rami di varia. grandezza in principio dei capi, e nel fine o per necessità, o per maggior pulizia, e lustro dell’edizione, senza lasciar tante mezze pagine bianche, o mettervi dei fregi cattivi, ed insignificanti; e si sono dovuti anche rifare i disegni dei rami grandi, che erano inesatti nell’anzidetta edizione. Per le quali cose tutte essendo cresciute le spese ad una gran somma, che da principio non poteva prevedersi, e per conseguenza non si poteva valutare nel prezzo dei fogli, che allora si

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fissò tenuissimo; sono pregati i signori Associati di volersi contentare di dar un piccolo compenso, se non alle fatiche, almeno alle dette spese, col pagare ciascuno dei ventidue rami grandi al prezzo di un foglio, come appunto si è sempre pagato, e si paga per regola nelle altre associazioni, nelle quali si valutano anche i piccoli. Agli altri poi, che non si sono ascritti, non si potrà dare questo Tomo, se lo vorranno in carta bianca fina, a meno di venticinque paoli romani, e di trenta, se in carta turchina, sciolto, o al più legato in rustico: il che non ostante, ragguagliatamente a tutte le dette cose, e all’essere cresciuti i fogli quasi di un terzo, costerà meno di quello si è venduta finora l’edizione milanese, e le dette francesi; l’ultima delle quali si vende in Roma 9. scudi, al prezzo di 3. ciascun Tomo, benchè siano più piccoli, con più pochi rami, e senza note. Inoltre, dovendosi usare le stesse diligenze per il secondo Tomo, sono pregati i signori Associati, e gli altri, di pazientare per la distribuzione dei fogli fino al dì 10. di Gennaro 1784., in cui si darà principio, e si continuerà ogni sabato, fuorchè nelle settimane, nelle quali occorreranno più giorni di festa. I pochi rami di varie più belle statue, che si aggiugneranno a questo Tomo, stanti le spese tre volte maggiori, che dovranno farsi, non si potranno dare a meno di quattro bajocchi l’uno. Roma, dalla Stamperia Pagliarini questo dì 12. Novembre 1783. n. V. AVVISO Per le stesse ragioni, che hanno fatto diferire il compimento del Tomo I. della Storia delle Arti del Disegno di Giovanni Winkelmann, si è dovuta diferire anche la pubblicazione del Tomo II., che ora viene a luce. Si è corretta in infiniti luoghi la traduzione italiana di Milano con un esatto rincontro sull’originale tedesco stampato nel 1775. a Vienna, combinando anche la prima edizione, e la traduzione francese fatta in Lipsia dal signor Huber nel 1781., trovata peraltro egualmente scorretta in moltissime cose, e mal tradotta. Si sono consultati i Monumenti antichi inediti (de’ quali sono stati rilevati molti difetti), ed altre opere dell’Autore, per rettificarne i sentimenti quanto era possibile; e ciò non bastando si sono riveduti monumenti citati nell’opera, e le citazioni degli scrittori ivi recati; emendando così con tutto il fondamento non pochi errori, che potevano credersi sviste dell’Autore, o sbagli dell’amanuense, o della stampa. Si sono esaminate con giusta critica tante opinioni, che non potevano sostenersi, e ne sono state difese molte altre dalle ingiuste censure delli signori Heyne, Bracci, Falconet, Lens, Tiraboschi, e tanti altri scrittori, che hanno quasi presa di mira nelle loro opere la Storia dell’Arte. Vi sono state aggiunte anche molte erudizioni antiquarie, e notizie di altri monumenti o non veduti da Winkelmann, o scoperti dopo la di lui morte. Tanto pareva che esigesse il merito, e l’utilità di un’opera così celebre, ed importante per l’antiquaria, e per le

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arti del disegno; e l’onore della Metropoli delle belle arti, e dell’antiquaria medesima, in cui si fa questa edizione. A questi due Tomi se ne aggiugne un Terzo, di cui si daranno i primi tre fogli alli 15. del venturo gennajo 1785. Vi si riportano in primo luogo le Osservazioni di Winkelmann sull’Architettura degli Antichi, e sul tempio antico di Girgenti in Sicilia, piene di belle notizie, colle quali viene a supplirsi in qualche modo alla storia dell’architettura, che egli non avea fatta nella Storia delle Arti del Disegno, benchè il titolo sembri prometterla. Sono state tradotte in italiano sulla non troppo fedele versione francese fatta in Parigi 1’anno scorso in 8.; ma per l’esattezza si è tenuto lo stesso metodo, che nei due primi Tomi, rincontrando cioè con tutta l’attenzione l’originale tedesco, che fu stampato in Dresda nel 1762. In 4., rettificando i sentimenti dell’Autore, e le citazioni; e supplendo con altre notizie, principalmente in ciò che riguarda le antichità, ed architettura di Pesto, per cui si riporteranno in molte tavole in rame tutte le cose più interessanti di esse, estratte dalla magnifica, ed esattissima opera pubblicata ultimamente dal nostro Tipografo intorno alle medesime dal ch. Padre Paulantonio Paoli con tanto applauso degli intendenti. Molto maggiori notizie intorno alla origine dell’architettura, e varj suoi ordini si avranno da una lettera dello stesso P. Paoli, che verrà inserita in fine di queste Osservazioni di Winkelmann, per occasione delle quali è stata ora scritta. Appresso a questa verranno le lettere dell’Autore stampate già in italiano nell’Antologia Romana l’anno 1779. in sedici articoli, vertenti sulle antichità d’Ercolano, Pompeja, e Stabbia, ed altri monumenti scoperti in Roma. Saranno anch’esse corrette di qualche piccolo errore, ed illustrate con note. Chiuderà la materia una dissertazione dell’Editore, in cui si esamina con più precisione, in che tempo, e da chi siano state distrutte tante belle fabbriche, statue, ed altri monumenti dell’antica Roma. Seguiranno quindi varj Indici, di tutte le tavole in rame, che fra grandi, e piccole oltrepasseranno le cento, e molte contengono monumenti inediti; dei monumenti illustrati, o citati, secondo i luoghi, ove si trovano; degli autori citati, illustrati o criticati, e le loro edizioni, delle quali si è fatto uso; e in fine un indice copioso, e ragionato delle materie. Il prezzo di tutta l’opera compita che sia per li signori Associati arriverà sciolta circa i due zecchini romani: per li non associati costeranno due zecchini i due primi Tomi; e per il terzo si valuteranno i fogli di stampa, e i rami grandi al prezzo di due bajocchi e mezzo l’uno; onde verrà l’opera. intiera a costare circa i cinque scudi: prezzo, che non potrà credersi eccessivo, atteso il sesto in 4. grande, la quantità dei fogli, e dei rami, la qualità fina della carta, la moltiplicità delle note, e citazioni degli autori in piè di pagina, la correzione esattissima, e la nitidezza dei caratteri; e molto più in confronto, delle dette due traduzioni di Milano, e di Lipsia, la prima delle quali si è venduta in Roma due zecchini, e la seconda nove scudi; non ostante che contengano la metà meno di materia, e di rami. Se i signori Associati, e gli altri, che faranno acquisto dell’opera, desiderassero, che il loro nome fosse posto, come si usa, nel fine del Terzo Tomo in catalogo, si compiaceranno dare quanto

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prima i loro nomi, cognomi, titoli, e patria alli libraj, che la spacciano, Giulio Barluzzi a Pasquino, e Gregorio Settari al Corso. Roma dalla Stamperia Pagliarini li 8. novembre 1784.

n. VI. AVVISO Essendo finalmente compito il Tomo Terzo, ed ultimo della Storia delle Arti del Disegno di Giovanni Winkelmann, se ne fanno avvisati i signori Associati, e gli altri, affinchè sabato 14. del corrente possano prenderlo nei soliti luoghi, ove si dispensa. Si comprendono in esso varie cose, che riguardano principalmente la storia dell’Architettura antica come la terza parte della Storia, che mancava; e sono le Osservazioni di Winkelmann eruditissime, ora pubblicate per la prima volta in italiano; la descrizione fatta da lui del Tempio della Concordia, e di Giove Olimpico a Girgenti resa ora anche per la prima volta in italiano; una dissertazione del ch. P. Paoli parimente sull’Architettura, e degli Orientali in ispecie; le lettere di Winkelmann, nelle quali descrive molti monumenti del museo Ercolanese, e dà relazione degli scavi fatti al suo tempo a Pompeja, e in altri luoghi sepolti dal vesuvio, a Roma, e altrove. A queste segue una lunga dissertazione dell’Editore sulle rovine di Roma, ossia una storia della città, delle sue vicende, delle fabbriche, e delle statue dai tempi degl’imperatori fino ai nostri: argomento nuovo, e interessato con moltissime ricerche, e nuove scoperte intorno varj edifizj antichi, ed altri monumenti celebri. Dopo di questa vengono gli indici copiosissimi, dei rami inseriti in tutta l’opera, ove si sono fatte delle nuove osservazioni di molta utilità; di tutti i monumenti, de’ quali si parla nell’opera, per ordine dei luoghi ove si trovano, a comodo principalmente dei forastieri, e degli artisti; di tutti gli autori lodati, spiegati, criticati, o difesi; delle edizioni importanti dei libri citati; e in fine quello delle materie lungo, e ragionato. I rami tanto nel corpo di questo Tomo, che in fine, sono aggiunti, toltone uno dato da Winkelmann per le Osservazioni sull’Architettura. Fra i più interessanti vi sono le stesse Tavole dell’opera magnifica, e tanto esatta in questa parte, del lodato P. Paoli sugli edifizj di Pesto ridotte in piccolo, e colle misure; quattro Tavole del suddetto Tempio della Concordia fatte sopra nuovi disegni, e colle osservazioni del valente architetto parigino sig. Giacomo Barbier de’ Noisy; diversi disegni di stufe antiche, ed altri di monumenti inediti. Per le operette di Winkelmann si sono fatte le stesse diligenze, che nei due Tomi precedenti, rivedendole cioè sugli originali, rincontrando gli autori, e monumenti citativi, correggendole ove era necessario, e corredandole di molte annotazioni per supplire alla materia. Si è procurato di fare il tutto colla possibile esattezza, e impegno anche per la correzione, nitidezza della carta, e dei caratteri, dei buoni disegni, e della quantità dei rami, che ascendono in tutti a cento trenta: attese le quali spese, ed altre, come anche il numero dei fogli, che compongono i tre volumi,

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questi non potranno darsi a meno di sette scudi e mezzo a quelli, che non sono associati, e le poche restate in carta turchinetta di scudi nove: prezzo, che si troverà discretissimo in confronto delle edizioni tedesche, italiana, e francesi, nelle quali oltre gli errori, non vi è la quarta parte della materia, e dei rami, che sono in questa nostra. Roma dalla Stamperia Pagliarini li 10. gennajo 1786.

FABRIZIO SLAVAZZI

Die Illustrationen zur Geschichte der Kunst des Alterthums in den deutschen und italienischen Ausgaben des 18. Jahrhunderts Der folgende Beitrag untersucht den Bildapparat der deutschen und italienischen Editionen der Geschichte der Kunst des Alterthums von der ersten Ausgabe aus dem Jahr 1764 bis zur römischen Fassung von 1783–1784.1 Die Beziehung zwischen dem Text und den Abbildungen, mit denen die Dresdner Ausgabe versehen ist, stellt ein Problem dar, das schon in den ersten Rezensionen hervorgehoben wurde und auch gegenwärtig ein Untersuchungsgegenstand ist. Die äußerst geringe Zahl an Bildern, die ausgewählten Monumente und die dargestellten Sujets sind das Ergebnis einer bewussten Entscheidung des Autors.2 Die nachfolgenden Ausgaben versuchen diesem Mangel an Bildern zwar abzuhelfen, aber die Auswahl wird jeweils von den Herausgebern vorgenommen und folgt je eigenen Kriterien und Motivationen. Eine umfassende Analyse der Bildapparate der deutschen und italienischen Ausgaben der Geschichte der Kunst im 18. Jahrhundert ermöglicht es uns meiner Ansicht nach, die Rolle der Abbildungen in dem Werk sowie Gründe und Erfolg ihrer jeweiligen Auswahl besser zu beurteilen.

I. Die Abbildungen der verschiedenen Editionen 1. Die Dresdner Ausgabe von 1764 Die erste und einzige von dem Autor persönlich herausgegebene Ausgabe enthält 24 Abbildungen, 21 im ersten Teil und drei im zweiten; es gibt nur 21 illustrierte Monumente, nach Kategorien unterteilt umfassen sie: zehn Gemmen (von denen zwei auf den Titelblättern der beiden Teile abgebildet sind), fünf Reliefs, zwei zusammengehörige Vasenbilder, zwei Fresko-Gemälde (die sich beide als modern herausstellen), zwei Abbildungen einer Bronzevase, die Cista Ficoroni, eine Münze.3 Hiervon unterscheidet sich die das erste Kapitel einleitende Illustration, bei der 1

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Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums. 2 Teile. Dresden 1764; Ders.: Geschichte der Kunst des Altertums. 2 Teile. Wien 1776; Ders.: Storia delle arti del disegno presso gli antichi. 2 Bde. Mailand 1779; Ders.: Storia delle arti del disegno presso gli antichi. 3 Bde. Rom 1783–1784. Ernst Osterkamp: Zierde und Beweis. Über die Illustrationsprinzipien von J. J. Winckelmanns „Geschichte der Kunst des Altertums“. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 39 (1989), S. 301–325. Gemmen: Winckelmann: Geschichte der Kunst [1764] (wie Anm. 1), T. 1, Titelblatt, S. [VII], XXVI, 30, 114, 127, 140, 141; T. 2, S. 313 (Titelblatt), 431 (= SN 4.1, S. IV, X, XXVI, 50, 177, 210, 234, 236, 598, 838). Reliefs: Ebd., T. 1, S. [VIII], [IX], 31, 80, 81; T. 2, S. 315

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es sich um eine Zusammenstellung von Monumenten aus verschiedenen Epochen und Zivilisationen handelt: eine Säule, eine Sphinx, eine bemalte Vase, eine ägyptische Darstellung, etc.4 Es ist augenfällig, dass Skulpturen, einschließlich der berühmtesten Werke, gänzlich fehlen. Die zur Illustration ausgewählten Monumente stammen aus acht Kollektionen – Albani, Dehn, Diel de Marsilly,5 Farnese, Mengs, Spada, Stosch und der Sammlung des Autors selbst. Nur drei davon befinden sich in öffentlich zugänglichen Sammlungen: dem Museum der Jesuiten im Collegio Romano, dem Museo Capitolino und der Reggia di Capodimonte in Neapel, die einen Teil der FarneseSammlung enthält. Auffällig ist, dass elf der illustrierten Werke, also die Mehrzahl, aus Sammlungen stammen, mit deren Besitzern Winckelmann in enger Beziehung stand.6 In Bezug auf die Schöpfer der Bilder gibt es nur wenige Informationen.7 Nur zwei Künstler signieren acht der Stiche: Nicolas Mosmann, Urheber und Stecher der Abbildung des aus der Villa Albani stammenden Reliefs mit Apoll und Nike,8 und Michael Keyl, der die restlichen sieben gestochen hat, darunter sämtliche des zweiten Bandes.9 Der erstgenannte Künstler ist auch der Urheber der Abbildung des berühmten Antinoos-Reliefs in der Villa Albani, das in den Monumenti antichi inediti (1767) erscheint, das einzige signierte Bild von den mehr als 200 Tafeln, die das letzte Werk Winckelmanns illustrieren.10 Auch die Anordnung der Abbildungen im Werk ist signifikant: Sie befinden sich auf den Titelblättern der beiden Teile, jeweils zu Anfang und Ende der Widmung, der Vorrede und der Kapitel, darüber hinaus in einigen Abschnitten, um bedeutsame Teile des Werks einzuleiten oder abzuschließen.

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(= SN 4.1, S. XII, XIV, 52, 128, 130, 600). Vasenbilder: Ebd., T. 1, S. 115, 126 (= SN 4.1, S. 178, 210). Gemälde: Ebd., T. 1, S. 262, 263 (= SN 4.1, S. 522, 524). Cista Ficoroni: Ebd., T. 1, S. 289, 312 (= SN 4.1, S. 560, 596). Münze: Ebd., T. 1, S. 213 (= SN 4.1, S. 426). Ebd., T. 1, S. 3 (= SN 4.1, S. 2). Wie aus der Erklärung der Kupfer (ebd., S. XL = SN 4.1, S. CIV) hervorgeht, handelt es sich um die Säule eines Tempels in Paestum, ein TerracottaRelief mit Sphinx, eine Vase aus der Sammlung von Anton Raphael Mengs und eine ägyptische Skulptur. Er ist der mutmaßliche Besitzer der gefälschten antiken Gemälde. Siehe dazu unten. Es handelt sich um Baron Stosch, Kardinal Albani und Anton Raphael Mengs, zudem um den Autor selbst. Nicoletta Ossanna Cavadini: Vicende e tecniche grafiche dell’apparato illustrativo dei Monumenti antichi inediti. In: J. J. Winckelmann (1717–1768). Monumenti antichi inediti. Storia di un’opera illustrata. Ausstellungskatalog Chiasso 2017. Hg. v. Stefano Ferrari u. Nicoletta Ossanna Cavadini. Mailand 2017, S. 56–81, hier S. 62. Winckelmann: Geschichte der Kunst [1764] (wie Anm. 1), T. 1, S. IX (= SN 4.1, S. XIV). Ebd., T. 1, S. 3, 31, 289, 312; T. 2, S. 313 (Titelblatt), 315, 431 (= SN 4.1, S. 2, 52, 560, 596, 598, 600, 838). Zu den Künstlern siehe: Emmanuel Benizet (Hg.): Dictionnaire critique et documentaire des peintres, sculpteurs, dessineurs et graveurs de tous les temps et de tous les pays […]. 3 Bde. Paris u. Brüssel 1911–1919, hier Bd. 1, S. 775. Johann Joachim Winckelmann: Monumenti antichi inediti. Rom 1767 (= SN 6.1), Taf. 180. Dazu Ossanna Cavadini: Vicende e tecniche (wie Anm. 7), S. 64.

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2. Die Wiener Ausgabe des Jahres 1776 In der Wiener Edition, die die von Winckelmann vorgenommenen Ergänzungen für eine Neuausgabe seines Werks enthält, gibt es 22 Abbildungen, von denen sich 19 im ersten und drei im zweiten Band befinden, womit die ungleiche Verteilung der ersten Edition beibehalten wird. 18 Bilder werden von der Dresdner Ausgabe übernommen.11 Unter den neuen Abbildungen sind zwei Porträts, zum einen des Autors und zum anderen des Staatskanzlers und Förderers des Werks Wenzel Anton von Kaunitz, die beide in allegorische Kompositionen eingefügt sind. Zudem erscheinen eine Münze und zwei Reliefs aus der Albani-Sammlung und dem Kapitolinischen Museum.12 Die letzten zwei Illustrationen müssen von Kardinal Albani zusammen mit dem Manuskript der Ergänzungen des Autors zur Verfügung gestellt worden sein, da das Bild des Kapitolinischen Reliefs gemäß der Bildlegende eigentlich für den nie veröffentlichten dritten Band der Monumenti antichi bestimmt war.13 Auch die typologische Verteilung der 19 illustrierten Monumente ändert sich in dieser Ausgabe nicht wesentlich: Plastiken und die berühmtesten Werke fehlen noch ganz. Es gibt Abbildungen von sieben Gemmen (alle bereits in der Dresdner Ausgabe enthalten), sechs Reliefs und zwei Münzen. Darüber hinaus abgebildet finden sich die bemalte Vase, die Bronzemünze und die zwei gefälschten Gemälde. Die Abbildungen sind überwiegend von den Stechern signiert: das Titelblatt und die Widmung von Quirin Marck,14 sieben weitere Stiche von Emilie Brunet15 und zwölf von J. Winckler.16 Die Anordnung der Abbildungen entspricht weitgehend der ersten Edition, sowohl in ihrer Position im Text als auch in ihrer Sequenz, wie in der synoptischen Präsentation der beiden Editionen aus Dresden und Wien in der kritischen Ausgabe

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Winckelmann: Geschichte der Kunst [1776] (wie Anm. 1), T. 1, S. 55, 134, 186, 187, 220, 221, 244, 245, 450, 451, 506, 507, 557, 595; T. 2, Titelblatt (unpag.) u. S. 619, 881 (= SN 4.1, S. 53, 129, 177, 179, 209, 211, 235, 237, 425, 427, 477, 479, 525, 561, 599, 601, 839). Ebd., T. 1, Titelblatt u. Widmung (beide unpag.), S. 3, 54, 135 (= SN 4.1, S. V, VII, 3, 51, 131). Ebd., T. 1, Verzeichniß der Kupferstiche, Nr. 7 (unpag. = SN 4.1, S. CVII). Zur Rolle von Kardinal Albani in der Wiener Ausgabe siehe Stefano Ferrari: Joseph von Sperges e la ricezione austriaca di Winckelmann. In: L’accademia degli Agiati nel Settecento europeo. Irradiazioni culturali. Hg. v. Giulia Cantarutti u. Stefano Ferrari. Mailand 2007, S. 219–240 u. 228f. Winckelmann: Geschichte der Kunst [1776] (wie Anm. 1), T. 1, Titelblatt und Widmung (= SN 4.1, S. V, VII). Zu dem Künstler siehe Benizet: Dictionnaire critique (wie Anm. 9), Bd. 3, S. 198. Winckelmann: Geschichte der Kunst [1776] (wie Anm. 1), T. 1, S. 3, 54, 55, 186, 187, 220, 244 (= SN 4.1, S. 3, 51, 53, 177, 179, 209, 235). Zu dem Künstler siehe Benizet: Dictionnaire critique (wie Anm. 9), Bd. 1, S. 783. Winckelmann: Geschichte der Kunst [1776] (wie Anm. 1), T. 1, S. 134, 135, 221, 245, 451, 506, 507, 557, 595; T. 2, Titelblatt (unpag.) u. S. 619, 881 (= SN 4.1, S. 129, 131, 211, 237, 427, 477, 479, 525, 561, 599, 601, 839). Es handelt sich vermutlich um den deutschen Künstler Jean-Christophe Winckler. Siehe Benizet: Dictionnaire critique (wie Anm. 9), Bd. 3, S. 1071.

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von 2009 klar erkennbar ist.17 Abweichungen gibt es im ersten Teil, vom Titelblatt bis zum Beginn des zweiten Kapitels, wo auch die neuen Abbildungen eingefügt sind, im zweiten Teil des vierten Kapitels und am Ende des zweiten Bandes, wo die Abbildungen an andere Positionen gerückt sind.

3. Die Mailänder Ausgabe von 1779 In der ersten italienischsprachigen Ausgabe, die 1779 in Mailand veröffentlicht wurde, beträgt die Anzahl der Abbildungen mehr als das Doppelte, es sind 55, von denen sich 39 im ersten und 16 im zweiten Band befinden. Von der Dresdner Ausgabe werden 21 Abbildungen übernommen,18 während 19 auch schon in der Wiener Edition vorhanden waren.19 Unterschieden nach der Typologie lautet die jeweilige Anzahl: 19 Skulpuren,20 zwölf Gemmen (darunter eine moderne),21 neun Reliefs,22 vier Vasenbilder, zwei Münzen, zwei (moderne) Gemälde und zwei Abbildungen des schon erwähnten Bronzegefäßes; darüber hinaus abgebildet ist ein Objekt aus Glas.23 Die Neuheit liegt in den nun dargestellten dreidimensionalen Skulpturen; ferner werden die bereits in den vergangenen Editionen präsentierten Reliefs um weitere ergänzt sowie einige neue Vasenbilder hinzugefügt. Diese erstmals in der Mailänder Ausgabe illustrierten Werke stammen großteils aus der Sammlung des Kardinals Alessandro Albani: Es sind 16 neue Stücke, mit denen die schon in den vorherigen Editionen vorhandenen ergänzt werden, insgesamt also 20 Monumente.24 Zur Verfügung gestellt wurden sie von dem Besitzer selbst, wie in der Prefazione angegeben wird.25 Es gibt auch Werke aus fünf Mailänder Sammlungen: Die von Carlo Trivulzio ist mit zwei Stücken vertreten, der als Diatreta Trivulzio bekannten Glasvase und einem bemalten Krater;26 jene von Graf Carlo di Firmian mit zwei Skulpturen.27 Dazu kommt eine Skulptur aus dem Kloster des Heiligen Ambrosius, eine Gemme 17

18 19 20 21 22 23

24 25 26 27

Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums. Text: Erste Auflage Dresden 1764. Zweite Auflage Wien 1776. Hg. von Adolf H. Borbein, Thomas W. Gaehtgens, Johannes Irrmscher u. Max Kunze. Mainz 2002 (= SN 4.1). Winckelmann: Storia delle arti [1779] (wie Anm. 1), Bd. 1, Titelblatt u. S. 1, 14, 44, 54, 110, 111, 194, 215; Bd. 2, Titelblatt u. S. 3, 70, 71, 131, 132, 189, 246, 247, 261, 297, Taf. 18. Ebd., Bd. 1, S. XXXIX, 1, 14, 44, 54, 96, 110, 175, 194; Bd. 2, Titelblatt u. S. 3, 71, 132, 189, 246, 247, 261, 298, Taf. 18. Ebd., Bd. 1, S. 45, 236, 305, Taf. 1–12, 15, 16; Bd. 2, S. 24, 188. Ebd., Bd. 1, Titelblatt u. S. LIV (modern), 14, 44, 110, 111; Bd. 2, Titelblatt u. S. 70, 132, 172, 189, 261. Ebd., Bd. 1, S. 1, 54, 175, 215, Taf. 13, 14; Bd. 2, S. 3, 297, 298. Vasenmalerei: Ebd., Bd. 1, S. 174, 194, 216, Taf. 17. Münzen: Ebd., Bd. 1, S. 96; Bd. 2, S. 71. Gemälde: Ebd., Bd. 2, S. 246, 247. Cista Ficoroni: Ebd., Bd. 2, S. 131, Taf. 18. Glas: Ebd., Bd. 1, S. 31. Ebd., Bd. 1, S. 45, 215, Taf. 1–15; Bd. 2, S. 3, 24, 298. Ebd., Bd. 1, S. XI. Vgl. auch die Widmung ebd., S. V. Ebd., Bd. 1, S. 31, 154. Ebd., Bd. 1, S. 305, Taf. 16.

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aus dem Besitz von Carlo Bianconi, dem Sekretär der Accademia di Brera, und die moderne Kopie einer Büste des Laokoons aus der Villa Litta di Lainate.28 Zwei Vasenbilder entstammen aus d’Hancarvilles Publikation der Sammlung Sir William Hamiltons.29 Die Urheber der Stiche sind Domenico Aspari, der zwölf Tafeln signiert (Pierluigi Panza zufolge sind ihm allerdings 16 Bilder zuzuschreiben),30 Domenico Cagnoni (drei Tafeln)31 und Girolamo Mantelli (fünf Tafeln).32 Viele Abbildungen sind den vorangehenden Editionen entnommen und in ihrer Bildqualität verbessert worden, vor allem die einiger Gemmen. Positioniert sind die Abbildungen auf den Titelblättern, zu Anfang und Ende der Widmung, der Elogio di Winkelmann sowie am Beginn und am Schluss der Bücher und einzelner Kapitel. Ihre Anordnung folgt also dem Schema der vorherigen Ausgaben. Eine bedeutende Neuheit sind die ganzseitigen Tafeln, die allesamt Monumente zeigen, die in den vergangenen Editionen nicht behandelt worden waren. 17 davon befinden sich am Ende des ersten Bandes, während eine weitere Tafel, welche die schon seit der Dresdner Ausgabe in kleinerem Format abgebildete Bestrafung des Amykos auf der Cista Ficoroni darstellt, den zweiten Band abschließt.

4. Die römische Ausgabe von 1783–1784 Die römische Ausgabe von 1783–1784 ist dreibändig. Obwohl der letzte Band Winckelmanns Schriften zur antiken Architektur enthält, die nicht Teil der Geschichte der Kunst sind, wird das Werk hier in seiner Gesamtheit behandelt, da es von seinem Herausgeber Carlo Fea als Ganzes betrachtet und unter demselben Titel publiziert wird; darüber hinaus sind einige der 38 Abbildungen des dritten Bandes aus den vorherigen Editionen übernommen worden. Das Werk enthält insgesamt 128 Abbildungen, von denen 58 Tafeln am Ende der drei Bände angefügt sind (19 im ersten, elf im zweiten, 28 im dritten Band). Die von der Dresdner Ausgabe übernommenen Abbildungen schrumpfen auf 19 zusammen,33 wovon nur 15 auch in der Wiener Ausgabe enthalten sind,34 während 28 29

30

31 32 33

Ebd., Bd. 1, S. 236; Bd. 2, S. 172, 188. Ebd., Bd. 1, S. 216, Taf. 17. Siehe Pierre-François Hugues d’Hancarville: Collection of the Etruscan, Greek and Roman Antiquities from the Cabinet of the Hon.ble W.m Hamilton His Britannick Maiesty’s Envoy Extraordinary at the Court of Naples. 4 Bde. Neapel [Florenz] 1766–1767 [1767–1776]. Winckelmann: Storia delle arti [1779] (wie Anm. 1), Bd. 1, S. V (Bildnis des Kardinals Albani), XXXVIII, 305, Taf. 1–6, 10, 14, 16; Bd. 2, Titelblatt u. S. 3, 24. Vgl. Pierluigi Panza: Schede. In Winckelmann a Milano. Ausstellungskatalog Mailand 2017. Hg. v. Aldo Coletto u. Pierluigi Panza. Mailand 2017, S. 106–170, hier S. 134. Winckelmann: Storia delle arti [1779] (wie Anm. 1), Bd. 1, S. XXXIX, 1, 54. Ebd., Bd. 1, Taf. 7–9, 12, 15. Panza: Schede (wie Anm. 30) zufolge können den beiden Autoren jeweils fünf respektive sieben Abbildungen zugerechnet werden. Winckelmann: Storia delle arti [1783–1784] (wie Anm. 1), Bd. 1, Titelblatt, S. 1, 77, 107, 119, 162, 206, 238; Bd. 2, S. 1, 5, 31, 87, 162, 235, 236, 389, Taf. 1; Bd. 3, S. 16.

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von der Mailander Edition 45 Illustrationen übernommen werden.35 81 Tafeln erscheinen zum ersten Mal in der römischen Ausgabe, 35 davon befinden sich im dritten Band. Das Relief des Bellerophontes und Pegasos wurde wiederum von den vorangegangenen Editionen übernommen. Typologisch geordnet handelt es sich um 41 Skulpturen,36 25 Reliefs (zwei davon Sarkophage, aber auch Reliefs aus Terrakotta, Bronze und Elfenbein),37 13 Gemmen (eine davon erklärtermaßen modern),38 neun Münzen, vier Vasenbilder, drei Gemälde, zwei Bronzegefäße und ein Gefäß aus Glas.39 Die Architekturen sind alle im dritten Band aufgeführt, insgesamt 19 an der Zahl, und zeigen u.a. einen Grundriss der Tempel von Paestum. Sechs Kompositionen umfassen Porträts (von Winckelmann, José Nicolás de Azara und von Fea selbst) sowie Kenotaphe.40 Bei den neuen Monumenten handelt es sich um einige griechische Stücke aus den Sammlungen Stosch, Albani, dem Museo Pio-Clementino und dem Museum der Jesuiten beim Collegio Romano sowie um Werke aus den Kollektionen Borgia a Velletri, Reiffenstein, Visconti, Azara, Mead, der Vatikanischen Bibliothek und dem Herkulanischen Museum. Unter den auf den Tafeln illustrierten Skulpturen sind auch Exemplare der Sammlungen Borghese, Massimo und dem Konservatorenpalast, darüber hinaus erscheinen verschiedene neue Stücke aus der Villa Albani (unter denen aber eine Büste und ein Relief ausgelassen wurden). Die strittigen antiken oder modernen Werke aus den Sammlungen Marsilly (die gefälschten antiken Gemälde), Firmian (die Skulpturen von Andromeda und Iole) und Litta (die moderne Büste des Laokoon) entfallen hingegen. Unter den Schöpfern der Stiche finden sich acht Zeichner, darunter Oeser (der das Frontispiz des ersten Bandes signiert), Stefano Piale (Schöpfer von 24 Darstellungen, die vor allem auf den Tafeln erscheinen), Giovanni Battista Calandrucci und Antonio Dominici. Hinzu kommen 15 Stecher, darunter Giacomo Bossi, der allein 37 Abbildungen, die sich vor allem im ersten Band befinden, signiert, sowie Luigi Cunego, Girolamo Rossi, Girolamo Carattoni und Alessandro Mochetti. Michele Sorollo schließlich hat die Tafel mit dem Relief des Antinoos aus der Villa Albani nach einer Zeichnung von Pompeo Batoni gestochen.41 34 35

36 37 38 39

40 41

Ebd., Bd. 1, S. LXI, 1, 77, 119, 143, 206, 238, 239; Bd. 2, S. 1, 5, 87, 163, 236, 389, Taf. 1. Ebd., Bd. 1, Titelblatt, S. XVII, XXII, LXI, LXXXII, 1, 42, 119, 120, 143, 162, 206, 207, 238, 239, 287, 288, 422, Taf. 1–3, 6, 8–18; Bd. 2, S. 1, 5, 31, 87, 162, 163, 235, 236, 389, 407, Taf. 1; Bd. 3, S. 16. Ebd., Bd. 1, S. 59, 60, 106, 116 (zwei Bilder), 120, 312, 422, Taf. 1–15, 18; Bd. 2, S. 348, Taf. 2–11; Bd. 3, S. 416, 514, Taf. 21–23. Ebd., Bd. 1, S. 1, 77, 107, 119, 239, 397, 451, Taf. 16, 17; Bd. 2, S. 5, 51, 88, 162, 256, 374, 375, 385; Bd. 3, S. V, XII, 16, 266, Taf. 13–15, 17, 18. Ebd., Bd. 1, Titelblatt, S. LXXXII, 19, 161, 162, 206, 396; Bd. 2, S. 3, 31, 163, 236, 389, 407. Münzen: Ebd., Bd. 1, S. V, 143, 195; Bd. 2, S. 87, 105, 304, 427; Bd. 3, S. 1, 85. Vasenbilder: Ebd., Bd. 1, S. 207, 238, 287, 288. Gemälde: Ebd., Bd. 1, S. 76; Bd. 2, S. 305; Bd. 3, S. 17. Bronzevasen: Ebd., Bd. 2, S. 235, Taf. 1. Glas: Ebd., Bd. 1, S. 42. Ebd., Bd. 1, Frontispiz, S. I, XXII, LXI, LXXXII; Bd. 2, S. 2; Bd. 3, Titelblatt. Ebd., Bd. 2, S. 385.

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Mit Blick auf Anordnung und Sequenz der Abbildungen im Text sind die größten Veränderungen im Vergleich zu den vorangehenden Editionen am Beginn der Bände und bei den Tafeln zu finden. Hier wie auch in den dritten Band ist der Großteil der neuen Abbildungen eingefügt. Die Illustrationen, die von der Mailänder Ausgabe übernommen werden, bleiben in ihrer Position und Sequenz mehr oder weniger gleich.

II. Wege durch die Bilder Die präsentierten Daten erlauben verschiedene Lesarten hinsichtlich der Abbildungen selbst, der dargestellten Sujets, der Standorte der Werke und der Frage ihrer Zugänglichkeit für den Autor und die Herausgeber; einige davon sollen hier weiter verfolgt werden. Im ersten Teil des vorliegenden Beitrags wurden die verschiedenen Konstellationen in denen Illustrationen entweder aufgenommen oder nicht aufgenommen wurden, erfasst. Nur 13 Abbildungen aus der ersten Edition sind in allen hier behandelten Folgeausgaben beibehalten worden.42 Während sich Anzahl und Art der Abbildungen in der Wiener Ausgabe nur unwesentlich ändern, erfolgt mit der Mailänder Übersetzung ein erster Versuch, den Bildapparat unter anderem durch ganzseitige Illustrationen, die auf den Tafeln am Ende des Bandes angefügt sind, zu vermehren. Dazu kommen die Abbildungen von Vollplastiken. In der römischen Ausgabe wird diese Linie weiterverfolgt, aber in einem größeren Umfang: Die 18 Tafeln werden auf 58 erhöht und im dritten Band erscheinen erstmals auch Architekturen (Grundrisse, Aufrisse und Details der Bauwerke). Darüber hinaus werden schließlich auch die berühmtesten Statuen abgebildet, vom Apollo vom Belvedere bis hin zum Laokoon, dazu viele andere Werke und neue Entdeckungen, wie etwa der 1781 wiederaufgefundene Diskobolos.43 Ein Problem der ersten Ausgabe war die mangelnde Bildqualität: Besonders die auf einigen Gemmen dargestellten Bilder sind nur unzureichend wiedergegeben. Winckelmann legte bekanntlich großen Wert darauf, wie die Monumente auf den Tafeln illustriert werden. Nicht immer war er mit dem Resultat zufrieden, wie zum Beispiel im Fall der Farnesischen Gemme mit den Köpfen von Bacchus und Ariadne, die von Winckelmann als Muster der Schönheit ausgewählt wurden, an deren Darstellung er aber kritisierte, man habe „in dem Kupfer die hohen Begriffe

42

43

Winckelmann: Geschichte der Kunst [1764] (wie Anm. 1), T. 1, S. 30, 80, 81, 114, 126, 127, 140, 141, 213, 289; T. 2, S. 313, 314, 431 (= SN 4.1, S. 50, 128, 130, 177, 208, 210, 234, 236, 426, 560, 598, 600, 838). Antonio Giuliano: L’identificazione del Discobolo Lancellotti. In: Scritti in onore di Giuliano Briganti. Hg. v. Marco Bona Castellotti. Mailand 1990, S. 11–19.

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derselben in diesen Köpfen nicht völlig erreichet“;44 oder wie im Falle einiger in Kupferstiche übertragener Gemälde.45 Unzufrieden war der Autor auch mit der Komposition, die am Beginn des ersten Kapitels dazu dient, die dort behandelten Themen bildlich darzustellen: Von der Säule eines Tempels in Paestum schreibt er, diese „sollte Kegelmäßiger gehen, welches der Zeichner nicht beobachtet“ habe.46 Eine ähnliche Aufmerksamkeit und Sorge findet man auch bezüglich des weitaus komplexeren Bildapparats der Monumenti antichi inediti, wie von Nicoletta Ossanna Cavadini im Katalog der dem letzten Werk Winckelmanns gewidmeten Ausstellung in Chiasso hervorgehoben wird.47 Einige Abbildungen, insbesondere die der Gemmen, sind in den verschiedenen Fassungen der Geschichte der Kunst verbessert worden, so etwa in der Mailänder Ausgabe im Vergleich zu den vorherigen; andere sind verändert worden, wie im Fall des Reliefs mit Pegasos und Bellerophontes48 oder der Abbildung der Grabstätte Winckelmanns in den Editionen von Mailand und Rom.49 Die Aufgabe und Sichtbarkeit der Künstler variiert in den verschiedenen Editionen. Die an der Dresdner Ausgabe beteiligten Zeichner und Stecher sind zum Großteil anonym: Von den Stechern kennt man nur zwei Namen, während man als den Schöpfer einer Zeichnung Giovanni Battista Casanova zu erkennen meint, der jedoch im Werk selbst nicht verzeichnet ist.50 Die gleiche Anonymität wird in der ersten französischen Ausgabe beibehalten, die 1766 noch zu Lebzeiten des Autors erschienen war: Bekannt ist nur der Künstler, der das Titelblatt des ersten Bandes gestaltet hat.51 In der Wiener Ausgabe sind hingegen fast alle Tafeln von den drei schon angeführten Künstlern signiert. Auch bei den beiden italienischen Ausgaben kennt man die Namen der verschiedenen Künstler, drei in der Mailänder und viele mehr in der römischen Ausgabe mit ihren insgesamt 23 Zeichnern und Stechern. Was die Standorte der abgebildeten Monumente betrifft, erhöht man sie von den elf der beiden ersten Editionen, die allesamt römisch und mit dem Autor verbunden waren und acht Sammlungen und drei Museen umfassen, auf 17 in der

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49 50

51

Winckelmann: Geschichte der Kunst [1764] (wie Anm. 1), T. 1, S. LI, Nr. 16 [Bildlegende] u. S. 141 [Abbildung] (= SN 4.1, S. CVIf. u. 236). Ebd., T. 1, S. 268 (= SN 4.1, S. 534). Ebd., T. 1, S. XL [Bildlegende] u. S. 3 [Abbildung] (= SN 4.1, S. CIV u. S. 2). Ossanna Cavadini: Vicende e tecniche (wie Anm. 7). Winckelmann: Geschichte der Kunst [1764] (wie Anm. 1), T. 1, S. [VIII] (= SN 4.1, S. XII); Ders.: Storia delle arti [1779] (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 297; Ders.; Storia delle arti [1783–1784] (wie Anm. 1), Bd. 3, S. 16. Winckelmann: Storia delle arti [1779] (wie Anm. 1), Bd. 1, S. XXXVIII; Ders.: Storia delle arti [1783–1784] (wie Anm. 1), Bd. 1, S. XXII. Siehe oben, S. 166. Zu Giovanni Battista Casanova siehe SN 4.3, S. 51 u. 58; Elisabeth Décultot: J. J. Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums. In: Dies. (Hg.): Musée de papier. L’Antiquité en livre 1600–1800. Paris 2010, S. 146. Johann Joachim Winckelmann: Histoire de l’art chez les anciens. Ouvrage traduit de l’allemand [par Gottfried Sellius, et rédigé par Jean Baptiste René Robinet]. 2 Bde. Paris 1766. Der Künstler ist N. van Frankendaad.

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Mailänder Ausgabe, wo fünf Sammlungen dieser Stadt erscheinen, aber auch Stücke aus englischen Sammlungen (Hamilton, Carlisle). Die von Fea herausgegebene Ausgabe wird nochmals erweitert und bildet Werke aus insgesamt 31 verschiedenen Standorten ab, die sich auf über 23 Sammlungen und acht Museen verteilen, darunter die Borghese-Sammlung und die Vatikanischen Museen. Die Gemmen scheinen in der ersten Edition die bevorzugte Kategorie von Monumenten zu sein: Zehn von 24 Illustrationen zeigen Darstellungen auf geschnittenen Edelsteinen und sieben davon werden auch in allen weiteren angeführten Editionen abgebildet. Die beträchtliche Anzahl an Abbildungen derartiger Kunstwerke hat natürlich mit Winckelmanns Sachverstand auf dem Gebiet der antiken Glyptik zu tun, den er durch seine Arbeit für die Sammlung Stosch erworben hatte, aber auch mit der Beliebtheit, derer sich diese Art von Kunstgegenständen bei Sammlern und Forschern im 18. Jahrhundert erfreute, da sie zahlreich, wertvoll und aufgrund ihrer Größe leicht transportierbar, reproduzierbar, erforschbar und beschreibbar waren.52 Geringeren Erfolg als die Abbildungen der Gemmen haben diejenigen der antiken Gemälde, deren Schicksal eng mit den beiden aus dem Besitz des verstorbenen Marsilly stammenden Darstellungen der Geschichte von Erichthonios und einer Tanzszene verbunden ist.53 Wie schon erwähnt, hielt Winckelmann sie für antik, in Wahrheit aber waren sie Teil eines Scherzes oder Betrugs vonseiten der mit ihm befreundeten Maler Giovanni Battista Casanova (Bruder des berühmteren Giacomo) und Anton Raphael Mengs, von dem auch das berühmte, in der Geschichte der Kunst allerdings nicht abgebildete Gemälde mit Zeus und Ganymed stammt.54 Es ist anzumerken, dass die beiden Abbildungen der antiken Gemälde aus der Dresdner Edition in der ersten französischen Übersetzung von 1766 fehlen,55 mit ziemlicher Sicherheit deshalb, weil Winckelmann, der mittlerweise von der Fälschung wusste, verboten hatte, sie zu reproduzieren. Sie erscheinen jedoch wieder in der Wiener Ausgabe, wo eine davon sogar das Werk beschließt,56 während erst Fea sie für seine römische Ausgabe vollständig eliminieren wird. Ein ikonografisches Thema von besonderem Interesse im Hinblick auf seine Entwicklung und Positionierung in den verschiedenen Bänden stellen die Porträts der Personen, denen die Werke gewidmet sind, sowie des Autors dar, zu denen 52 53 54

55 56

Peter u. Hilde Zazoff: Gemmensammler und Gemmenforscher. Von einer noblen Passion zur Wissenschaft. München 1983. Winckelmann: Geschichte der Kunst [1764] (wie Anm. 1), T. 1, S. 262–264 (= SN 4.1, S. 526). Steffi Roettgen: Casanova, Cavaceppi e Mengs – amici compagni e truffatori. In: La Firenze di Winckelmann. Hg. v. Stefano Bruni u. Marco Meli. Florenz 2018, S. 157–174 (mit Bibliographie der vorherigen Forschung). William Spaggiari: „Adorateur des anciens“: Winckelmann, Mengs e i fratelli Casanova. In: Winckelmann, l’antichità classica e la Lombardia. Hg. v. Elena Agazzi u. Fabrizio Slavazzi. Roma 2019, S. 163–174. Winckelmann: Histoire de l’art [1766] (wie Anm. 51). Winckelmann: Geschichte der Kunst [1776] (wie Anm. 1), T. 1, S. 506; T. 2, S. 881 (= SN 4.1, S. 477, 839).

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noch die Darstellung der ideellen Grabstätte für Letzteren hinzukommt. Das Porträt Winckelmanns, das in der ersten Ausgabe sowie in der französischen Übersetzung von 1766 noch fehlt, erscheint erstmals auf dem Titelblatt der Wiener Edition, in Form eines Medaillons innerhalb einer allegorischen Komposition und parallel zu dem von Kaunitz, das die Widmung eröffnet.57 Die Mailänder Ausgabe beginnt mit dem Porträt des Kardinals Albani, dem das Werk gewidmet ist, in einer den beiden Porträts in der Wiener Ausgabe ähnlichen Komposition, und drei Abbildungen, die den Autor Winckelmann zum Gegenstand haben: die allegorische Grabstätte am Ende der Prefazione, das von der Wiener Ausgabe übernommene Porträt, mit dem der Elogio des Autors beginnt, sowie eine weinende, die Graburne umarmende Figur an dessen Ende.58 Die beiden Bilder der ideellen Grabstätte sind Beispiele einer breiten Strömung, die Winckelmanns durch die Darstellung von Urnen, Sarkophagen, Altaren, Kenotaphen und weinenden Figuren feierlich gedenkt.59 Das Bild des Grabes in der Mailänder Ausgabe, das einen in ein Kolumbarium eingefassten Sarg darstellt, findet sich auch auf der Tafel abgebildet, mit der der zweite Band der 1767 verfassten, aber erst 1769 veröffentlichten Vasensammlung von Sir William Hamilton beginnt, eine frühe Hommage d’Hancarvilles an den verstorbenen Freund. Ein drittes Mal, jedoch mit einem anderen Schnitt, erscheint diesselbe Darstellung auch in der römischen Ausgabe.60 Das zweite Bild zeigt eine zeitgenössische Gemme, einen Kameo aus Glaspaste mit der Muse Klio neben einer von Johann Friedrich Reiffenstein entworfenen Urne.61 Diese letzte Abbildung wird auch von der römischen Ausgabe übernommen, die wiederum mit einer neuen dramatischen und ganzseitigen Darstellung der Grabstätte des Autors und seinem Porträt beginnt, dem zwei weitere Porträts Winckelmanns folgen, von denen das eine aus dem berühmten Gemälde Antons von Maron genommen ist und sich am Beginn des dritten Bandes befindet. Porträts des Herausgebers Carlo Fea und des Widmungsempfängers José Nicolas de Azara finden sich am Beginn des ersten beziehungsweise zweiten Bandes.62 Die „Verzeichniß und Erklärung der angebrachten Kupfer von niemals bekannt gemachten Werken der Kunst“ betitelte Zusammenstellung ist eine bedeutende Ergänzung des Bildapparates. Die der ersten Edition, die einzigen von Winckel57 58 59

60 61

62

Ebd., T. 1, Titelblatt u. Widmung, unpag. (= SN 4.1, S. V u. VII). Winckelmann: Storia delle arti [1779] (wie Anm. 1), Bd. 1, S. V, XXXVIII, XXXIX, LIV. Zum Thema siehe Domenico Rossetti. Il sepolcro di Winckelmann in Trieste. Venedig 1823; Arthur Schulz: Gedenkblätter auf Winckelmann. In: Winckelmann Gesellschaft Stendal. Jahresgabe 1954/1955. Berlin 1956, S. 57–72. Hancarville: Collection (wie Anm. 29), Bd. 2, Frontispiz; Winckelmann: Storia delle arti [1783–1784] (wie Anm. 1), Bd. 1, S. XXII. Stefano Ferrari: L’eredità culturale di Winckelmann: Carlo Fea e la seconda edizione della Storia delle arti del disegno presso gli antichi. In: Roma moderna e contemporanea 10 (2002), H. 1–2, S. 15–48, hier S. 23f. Winckelmann: Storia delle arti [1783–1784] (wie Anm. 1), Bd. 1, Frontispiz (Grab), S. I (Fea); LXI (Winckelmann), LXXXII (Gemme), Bd. 2, Frontispiz (Azara); Bd. 3, Frontispiz (Winckelmann nach Maron).

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mann selbst geschriebenen, sind kurz – zwischen zwei und zehn Zeilen63 – und nehmen vier Seiten ein.64 In den wenigen, jeder einzelnen der 24 Abbildungen gewidmeten Zeilen rechtfertigt der Autor die Auswahl eines jeden Monuments auf Basis seiner Repräsentativität, der Ikonografie oder seines künstlerischen Werts: Zur Gemme mit den Sieben gegen Theben heißt es, daß dieser Stein „vielleicht der seltenste und schätzbarste in der Welt“65 sei, die Gemme mit Tydeus sei eine der schönsten Arbeiten der etruskischen Kunst, die mit Theseus eine der „schönsten aus dem Alterthume“,66 In den folgenden Editionen wachsen die Bildlegenden nicht nur in ihrer Anzahl, sondern auch in ihrem Umfang immer mehr an: Nehmen sie in der Wiener Ausgabe trotz einer im Vergleich zur ersten Edition geringeren Zahl an Abbildungen noch drei Seiten ein,67 so sind es in der Mailänder Übersetzung bereits sechs Seiten (wobei jedoch zu berücksichtigen ist, dass einige Illustrationen zudem in den Fußnoten zum Text erklärt werden).68 In der römischen Ausgabe haben sich die Bildlegen schließlich völlig gewandelt: Sie beanspruchen nun ganze 98 Seiten, sind Ort kritischer Diskussionen und Erweiterungen des Fußnotenapparats, wobei ihre Länge zuweilen mehr als 100 Zeilen erreicht.69

III. Fazit Die Analyse des Bildapparats der italienischen Übersetzungen der Geschichte der Kunst, so lässt sich abschließend sagen, zeigt eine klare Tendenz an. Die wenigen Abbildungen in der ersten Edition sind auf den Willen des Autors zurückzuführen, dem Text Vorrang zu geben und durch die Beschreibung der Werke die Fähigkeit des Lesers zu Verständnis und Einfühlung zu fördern.70 Die abgebildeten Monumente werden ausgewählt, weil sie noch unbekannt sind, und oft, wie aus den Erklärungen der Kupferstiche hervorgeht, eher aufgrund ihres symbolischen oder repräsentativen Wertes als dass sie eine konkrete Verbindung zum Text hätten:71 Die Köpfe von Diomedes und Odysseus, die am Anfang der Widmung abgebildet sind, stellen den weisesten und den tapfersten Helden der vor Troja lagernden Griechen dar; das Relief mit Bellerophontes wird abgebildet „als eine Deutung auf

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Die Bildlegende zur Cista Ficoroni ist mit ca. 30 Zeilen länger. Siehe Winckelmann: Geschichte der Kunst [1764] (wie Anm. 1), T. 1, S. LIf., Nr. 20 (= SN 4.1, S. CVIII). Ebd., T. 1, S. XLIX–LII (= SN 4.1, S. CIV–CX). Ebd., T. 1, S. XLIX, Nr. 1 (= SN 4.1, S. CIV). Ebd., T. 1, S. L, Nr. 11 u. 14 (= SN 4.1, S. CVI). Winckelmann: Geschichte der Kunst [1776] (wie Anm. 1), T. 2, unpag. (= SN 4.1, S. CV– CXI). Winckelmann: Storia delle arti [1779] (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 337–342. Winckelmann: Storia delle arti [1783-84] (wie Anm. 1), Bd. 3, S. 417–514. Vgl. oben, Anm. 2. Man kann auch eine mangelnde Aufmerksamkeit bezüglich der Anordnung der abgebildeten Werke erkennen, häufig fehlt ein Hinweis darauf.

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einen Herrn, welcher die schönen Künste befördert, liebet und kennet“,72 und so weiter. Das Anordnungsschema der Abbildungen bestätigt deren symbolische und zum Teil bloß dekorative Rolle zu Beginn und Ende eines Abschnitts. Der in der Wiener Ausgabe noch beibehaltene Aufbau des Bildapparats wird von den Herausgebern der Mailänder Übersetzung in Frage gestellt; sie halten seine Erweiterung für nötig und führen diese in einem begrenzten Umfang, auch mit Hilfe von Fußnoten und Bildlegenden, aus. Ungeachtet dieser, wenn auch zaghaften Eingriffe bewegen sie sich jedoch weiterhin in den Winckelmann nahestehenden Kreisen sowie unter dem Schutz des Kardinals und lassen daneben nur lokale Förderer und Mäzene zu. Erst mit der römischen Ausgabe erlangen die Abbildungen eine Konsistenz und Kohärenz, die einem Werk angemessen sind, dessen Ruhm im Laufe der Zeit immer größer wurde und dessen Umfang aufgrund des ausgedehnten Apparates an erläuternden Fußnoten und Bilderklärungen kontinuierlich gewachsen war. Hier nun endlich finden die berühmtesten Monumente Eingang ins Buch. Man sieht also bei den aufeinanderfolgenden italienischen Übersetzungen eine fortschreitende ‚Normalisierung‘ des Bildapparates am Werk – durch die Einfügung von Abbildungen der wichtigsten in der Geschichte der Kunst behandelten Werke, durch ganzseitige Tafeln, Porträts des Autors und der Widmungsadressaten. Das Gleiche geschieht auf der Ebene des Textes, indem die Storia delle arti die wichtigsten antiquarischen Werke des Jahrhunderts miteinbezieht, wie etwa die Antiquité expliquée von Montfaucon oder Caylus’ Recueil d’antiquitées.73 Diese Richtung ist auch in den späteren französischen Ausgaben des Werks von Winckelmann erkennbar, die teilweise dem Modell der italienischen Übersetzungen folgen und damit den Erfolg von deren Vorgehensweise bestätigen. Übersetzung von Gudrun Wiesel

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Winckelmann: Geschichte der Kunst [1764] (wie Anm. 1), T. 1, S. XLIX, Nr. 3 (= SN 4.1, S. CIV). Bernard de Montfaucon: L’antiquité expliquée et representée en figures. 15 Bde. Paris 1719– 1724; Anne-Claude-Philippe de Tubières comte de Caylus: Recueil d'antiquités égyptiennes, étrusques, grecques, romaines et gauloises. 7 Bde. Paris 1752–1767.

FAUSTO TESTA

„Wie könnt Ihr ihn guten Gewissens [...] als Geschichte der Kunst, und insbesondere der Baukunst ausgeben?“ Asymmetrien und Kohärenz in Winckelmanns System der Künste zwischen den Anmerkungen über die Baukunst der Alten und der Geschichte der Kunst des Alterthums in der querelle zwischen Onofrio Boni und Carlo Fea La riputazione meritamente acquistatasi dal Wink. per la sua Storia delle Arti del disegno presso gli Antichi, chi, per cui serviva la semplice erudizione, che in lui era vastissima, e in cui, quando dalla Storia passò a parlare delle Arti, si giovò dei consigli di un Mengs, potrebbe imporre ai dilettanti delle Belle Arti, che leggessero anche queste sue Osservazioni sull’Architettura degli Antichi, delle quali egli stesso tanto si compiaceva, e che erano il frutto delle sue ricerche di cinque anni sì in Roma, che in altre città d’Italia. Abbiamo creduto per vantaggio delle Arti di notar ciò, in cui ci sembrano mancanti, affinchè non si cada in equivoci; e se ci siamo ingannati, di buona voglia il confesseremo, quando altri celo mostri.1

Mit dieser lapidaren und wenig schmeichelhaften Gesamteinschätzung, die nahezu unverhohlen den Lesern Winckelmanns davon abrät, sich an die Lektüre der Osservazioni sull’Architettura degli Antichi zu machen, beschließt Onofrio Boni den Zyklus von vier Rezensionen der italienischen Übersetzung der Anmerkungen über die Baukunst der Alten, die Carlo Fea zu Beginn des Jahres 1786 herausgegeben hatte; Boni selbst hatte ab März desselben Jahres die Anmerkungen in seine Zeitschrift Memorie per le Belle Arti aufgenommen, für die er von 1785 bis zum Frühjahr 1788 als Redakteur für die Sachgebiete Architektur, Kupferstiche und Glyptik zuständig war.2 1

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[Onofrio Boni]: Segue l’esame del tomo III della Storia delle arti del disegno di Giovanni Winkelmann. In: Memorie per le Belle Arti. Bd. 2. Rom 1786 (Juni), S. CXXXIX–CXLVI, hier S. CXLf. („Die Reputation, die sich Winckelmann für seine Verdienste um die Storia delle Arti del disegno presso gli antichi erworben hat, für die ihm seine einfache, wenngleich breiteste Bildung gute Dienste leistete und in der er sich, sobald er von der Geschichte auf die Kunst zu sprechen kam, der Ratschläge eines Mengs bediente, könnte Liebhaber der Schönen Künste dazu führen, auch seine Osservazioni sull’Architettura degli Antichi zu lesen, mit denen er selbst so zufrieden war und die die Frucht seiner fünfjährigen Untersuchungen sowohl in Rom als auch in anderen Städten Italiens waren. Zum Nutzen der Künste glaubten wir uns berechtigt, das bemerklich zu machen, woran sie einen Mangel aufweisen, damit keine Missverständnisse entstehen, und wenn wir uns täuschten, so werden wir das bereitwillig eingestehen, wann immer uns das jemand nachweisen kann.“). Mara Bonfioli: Boni, Onofrio. In: Dizionario Biografico degli Italiani. Hg. v. Mario Carvale. Bd. 12. Rom 1971, S. 84f.; Stefano Grandesso: Kat.-Nr. VIII/10. In: Il Neoclassicismo in Italia: da Tiepolo a Canova. Mailand 2002, S. 477; Alessandra Di Croce: Onofrio Boni Architetto Intendente: gli scritti teorici. In: Neoclassico 21 (2002), S. 27–46, hier S. 27f.; dies: Onofrio Boni e lo Scrittoio delle Regie Fabbriche: il mestiere dell’architetto a Firenze tra Sette e Ottocento. In: Ricerche di Storia dell’arte Arti visive, Conservazione e restauro 84 (2004),

https://doi.org/10.1515/9783110710373-010

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Abgesehen von der Härte dieses Urteils – dem Epilog eines Tadels, der nicht nur Winckelmann, sondern, in einem weit strengeren Tonfall, der oft die Grenze zur persönlichen Beleidigung überschreitet, auch seinem Herausgeber Carlo Fea gilt – enthält diese Passage den Hinweis auf eine innere Asymmetrie, die dem System der Künste eignet, wie es Winckelmann in dem Werkpaar der Geschichte der Kunst und der Anmerkungen über die Baukunst entwickelt hat. Besagte Asymmetrie betrifft zunächst einmal die unterschiedliche wissenschaftliche Wertschätzung von Winckelmanns „capo d’opera“3 einerseits und andererseits jenem Text, der durch seinen postumen Erfolg in den Rang einer opera minore gehoben wurde. Sie betrifft aber auch den andersartigen kognitiven Ansatz, den Winckelmann in seinen Anmerkungen über die Baukunst verfolgt und der, wie Boni bemerkt, fest in den ausgetretenen Pfaden der Gelehrtentradition verläuft. Die im oben zitierten Passus enthaltenen Hinweise können deshalb als Kompass dienen, um jene querelle besser zu verstehen, in der sich Onofrio Boni und Carlo Fea einige Monate lang und mit wachsender polemischer Zuspitzung gegenüberstehen. Sie liefern zugleich einen theoretischen Rahmen, der es erst ermöglicht, zu einem angemessenen Verständnis der epistemologischen Wende4 zu kommen, die den Übergang zwischen den Anmerkungen und der Geschichte markiert – ohne sich im Schlamm der persönlichen Schmähungen und dem immer zäheren Bodensatz an Nichtigkeiten zu verlieren, den die beiden Kontrahenten im Laufe der Auseinandersetzungen mit giftiger Akribie anhäufen. Der Streit, immerhin ein Meilenstein innerhalb der Rezeption der Anmerkungen über die Baukunst

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S. 25–34, hier S. 25 u. 33, Anm. 2 u. 3. Zu den Aktivitäten Bonis in der Zeit seiner Mitarbeit an den Memorie per le Belle Arti und allgemeiner zu seiner Rolle in den kulturellen Kreisen Roms in den achtziger Jahren des Jahrhunderts verweisen wir auf Serenella Rolfi Ožvald: „Agli Amatori delle belle arti Gli Autori“. Il laboratorio dei periodici a Roma tra Settecento e Ottocento. Rom 2012, zur querelle zwischen Boni und Fea siehe ebd., S. 125f. u. 173–179. Zum Thema vgl. auch Ronald T. Ridley: The Pope’s archaeologist: the life and times of Carlo Fea. Rom 2000. S. 40–45. Carlo Fea: Risposta dell’abate Carlo Fea giureconsulto alle osservazioni del sig. cav. Onofrio Boni sul tomo III. della Storia delle arti del disegno di Giov. Winkelmann pubblicate in Roma nelle sue Memorie per le belle arti, ne’mesi di Marzo, Aprile, Maggio, e Giugno del corrente anno MDCCLXXXVI. Rom 1786, S. 10. Vgl. Fausto Testa: Winckelmann e l’architettura antica. In: Federica Lamanna (Hg.): Gusto dell’Antico e cultura neoclassica in Italia e in Germania. Rende (Cz) 2006, S. 113–150, hier S. 113–116; Ders.: Le Anmerkungen über die Baukunst der Alten di J. J. Winckelmann: il testo di architettura tra continuità e fratture epistemologiche nella cultura del Secolo dei Lumi. In: Francesco Paolo Di Teodoro (Hg.): Saggi di letteratura architettonica, da Vitruvio a Winckelmann. Bd. 1. Florenz 2009, S. 313–354, hier S. 313–320; Ders.: Anmerkungen über die Baukunst der Alten. In: Martin Disselkamp u. Ders. (Hg.): Winckelmann-Handbuch. Leben–Werk–Wirkung. Stuttgart 2017, S. 210–224, hier S. 210–214; Ders.: Frammentismo e esprit de système nell’opera di Winckelmann. In: Istituto Lombardo di Scienze e Lettere. Rendiconti. Parte generale 145 (2011), S. 23–41; Ders.: „Facendo queste come la terza parte della Storia delle Arti del Disegno“. Il dibattito sull’identità delle Anmerkungen über die Baukunst der Alten di Winckelmann nella querelle tra Onofrio Boni e Carlo Fea, In: Storia della Critica d’Arte. Annuario della S.I.S.C.A. (2019), S. 219–237.

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in Italien, dreht sich in seinem theoretischen Kern um die Notwendigkeit, dem Werk eine eindeutige Stellung im Verhältnis zur akademischen Tradition und zu den Architekturabhandlungen zuzuweisen – also zu den diskursiven Formen, denen die Anmerkungen ihre Themen und Argumentationsweisen entlehnen; er offenbart den epistemologischen Bruch, der die Anmerkungen von der Geschichte der Kunst trennt und verweist zugleich in einer genealogischen Perspektive auf Winckelmanns opus magnum, auf die untergründigen Linien einer theoretischen und strukturellen Kontinuität, die beide Texte durchaus verbindet. Alles beginnt Anfang 1786, als im Verlag Pagliarini der letzte der im Subskriptionsverfahren publizierten Faszikel von Band 3 der Storia delle Arti del Disegno presso gli Antichi di Giovanni Winkelmann erscheint, übersetzt aus dem Deutschen und herausgegeben von Carlo Fea.5 Das Frontispiz trägt das Datum 1784 und bezieht sich auf den Beginn der Veröffentlichung. Das Datum ist nicht ohne Bedeutung für die von Boni losgetretene Polemik, wie man noch sehen wird. Feas Vorwort, das noch nichts von der späteren vergifteten Atmosphäre verrät, nimmt, wenn auch knapp, eine genaue Einordnung der Anmerkungen über die Baukunst in das von Winckelmann verfolgte Konzept vor: Facendo queste come la terza parte della Storia delle Arti del Disegno, che nei due Tomi già dati manca affatto, eccettuate alcune osservazioni fatte di passaggio sopra qualche fabbrica, si è creduto bene di tradurle in nostra favella, e quì metterle in principio del Tomo, come più vicine alla storia delle altre due arti Scultura, e Pittura. [...] Sono, a dir vero, di molta importanza, piene di quello stesso fondo di erudizione, che l’Autore ha profuso nel rimanente; e vi sono sparse molte belle, e nuove ricerche, ed osservazioni, che non si trovano in altri scrittori, che hanno trattato la materia per lo più superficialmente, o da semplici architetti.6

Fea betont hier, dass zwischen den beiden Werken, der Geschichte der Kunst und den Anmerkungen über die Baukunst, eine wesentliche thematische Komplementarität bestehe, und spricht sich für eine Interpretation der Anmerkungen aus, die ausdrücklich die Kontinuität zur Geschichte der Kunst des Alterthums hervorhebt – jenem Manifest der von Winckelmann auslösten epistemologischen Revolution, das 1764 als Programmschrift zu den umfangreichen Forschungsarbeiten zur antiken Kunst veröffentlicht worden war, die der deutsche Archäologe nach seiner 5

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Giovanni Winkelmann: Storia delle Arti del Disegno presso gli Antichi di Giovanni Winkelmann Tradotta dal Tedesco e in questa edizione corretta e aumentata dall’abate Carlo Fea giureconsulto. Bd. 3. Rom 1784. Carlo Fea: Prefazione dell’Ab. Carlo Fea. In: Ebd., S. v–xii, hier S. vf. („Indem diese [die Anmerkungen, F. T.] als dritter Teil der Storia delle Arti del Disegno gegeben werden, die in den zwei bereits aufgelegten Bänden fehlen, sofern man von einigen beiläufigen Beobachtungen zu dem einen oder anderen Gebäude absieht, glaubte man gut daran zu tun, sie in unsere Sprache zu übersetzen und an den Anfang dieses Bandes zu stellen, wo sie in der Nähe der Geschichte der anderen beiden Künste, der Bildhauerei und der Malerei stehen. [...] Sie sind, um nur das Wenigste zu sagen, von großer Bedeutung, voll vom gleichen Reichtum gelehrter Bildung, die der Autor bereits in den übrigen Werken gezeigt hat; sehr schöne und neue Forschungsergebnisse sind verstreut darin vorhanden, die sich bei anderen Autoren nicht finden, da sie den Stoff meistens oberflächlich behandelt haben, nach Art einfacher Architekten.“).

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Ankunft in Rom in Angriff genommen hatte. Deren erstes systematisches Ergebnis war indes schon in den zwei Jahre vor der Geschichte der Kunst erschienenen Anmerkungen über die Baukunst publiziert worden.7 Unter einem Titel (Anmerkungen), der an eine eher rhapsodische und unsystematische Schrift denken lässt, soll sich also das fehlende Kapitel der Geschichte der Kunst des Alterthums verbergen, der Schlussakt eines umfassenden Projekts der „Verzeitlichung“8 des Diskurses über die Künste, der sich damit nicht mehr nur auf die Bildhauerei und die Malerei beschränkt, sondern seinen Geltungsanspruch auch auf die Architektur erstreckt. Im Fortgang seiner Argumentation, und ohne dass dies als bewusster Widerruf gemeint ist, hebt Fea jedoch auch den gelehrten Charakter des Werkes hervor, mit dem aber zugleich – wie der Ausdruck „verstreut“ („sparse“) nahelegt – eine gewisse Tendenz zur begrifflichen Fragmentierung einhergeht. Der Leser wird schließlich gewarnt, dass trotz des behandelten Gegenstandes die Anmerkungen über die Baukunst keinesfalls in die Tradition von Architekturschriften eingereiht werden dürften, wie sie gemeinhin von „einfache[n] Architekten“ angefertigt würden. Normative und präskriptive Zielsetzungen schließt Fea somit für die Anmerkungen aus; keineswegs sollten damit Prinzipien oder formale Poetiken befördert werden, wie sie im Schrifttum über Architektur verschiedentlich anzutreffen seien. Wie man sieht, wird das theoretische Gegenstandsfeld der Anmerkungen über die Baukunst durch schwer zu fassende, in mancherlei Hinsicht sogar widersprüchliche Grenzen abgesteckt, was für ein so multidisziplinäres Werk wie dieses allerdings mehr als angemessen ist. Die letzte Bemerkung Feas lieferte, wie noch zu sehen sein wird, den Anlass für eine der heftigsten Polemiken in der querelle mit Onofrio Boni, die sich einige Monate später entzünden sollte. Im März desselben Jahres veröffentlicht der aus Cortona gebürtige Gelehrte Onofrio Boni in den Memorie delle Belle Arti9 den ersten Teil der vierteiligen Rezension des dritten Bandes der Storia delle Arti del Disegno; in den folgenden 7 8

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Vgl. Johann Joachim Winckelmann: Anmerkungen über die Baukunst der Alten. Leipzig 1762, S. If. (= SN 3, S. 13–70, hier S. 16). Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M. 1979, S. 19 u. passim; Ders.: Geschichte. In: Geschichtliche Grundbegriffe, hg. v. Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck. Bd. 2. Stuttgart 1979, S. 593–717, hier S. 655f. Vgl. Wolf Lepenies: Autoren und Wissenschaftler im 18. Jahrhundert. Buffon, Linné, Winckelmann, Georg Forster, Erasmus Darwin. München u. Wien 1988; Ders.: Der Andere Fanatiker. Historisierung und Verwissenschaftlichung der Kunstauffassung bei Johann Joachim Winckelmann. In: Ideal und Wirklichkeit der bildenden Kunst im späten 18. Jahrhundert, hg. v. Herbert Beck, Peter Cornelis Bol u. Eva Maek-Gerard. Berlin 1984, S. 19–29; Ders.: Johann Joachim Winckelmann. Kunst und Naturgeschichte im achtzehnten Jahrhundert. In: Thomas W. Gaehtgens (Hg.): Johann Joachim Winckelmann (1717–1768). Hamburg 1986, S. 221–237; Fausto Testa: Winckelmann e l’invenzione della storia dell’arte. I modelli e la mimesi. Bologna 1999, S. 39–57; Elisabeth Décultot: Johann Joachim Winckelmann. Enquête sur la genèse de l’histoire de l’art. Paris 2000, S. 193–292. [Onofrio Boni]: Storia delle arti del disegno di Giovanni Winkelmann. In: Memorie per le Belle Arti. Bd. 2. Rom 1786 (März), S. LXV–LXXII.

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Monaten April bis Juni folgen die weiteren Teile als Etappen einer akribischen Kritik mit dem Ziel, Wert und Intention der Anmerkungen in Frage zu stellen und den Herausgeber der italienischen Edition wissenschaftlich zu delegitimieren. Dass dies die vorrangige Absicht von Boni war, erkennt man gleich am Anfang, wo er sich über das Vorhaben Feas lustig macht, der passando all’improvviso dai serj, e meno piacevoli studj legali [...] ai più ameni, e brillanti di quella parte di Antiquaria, che risguarda le Belle Arti, con straordinario coraggio, e pertinace fatica si è dato la pena di riscontrare le innumerabili citazioni del Winkelmann, di rettificarle, correggerle, aumentarle, corredando il tutto con molte altre sue note, piene di erudzione,10

wobei ihm jedoch im Verlauf dieser gewaltigen Arbeit viele „Irrtümer“ („abbagli“) und „Fehler“ („sviste“) unterlaufen seien.11 In scheinbar distanziertem Tonfall, der die Kritik in ihrer Stoßrichtung nicht mildert, wird mitgeteilt, dass Fea, um dieser Aufgabe gewachsen zu sein, „unermüdlich und mit unverdrossenem Eifer die berühmtesten Literaten und die klügsten Künstler Roms“12 befragen musste, ganz so, wie Winckelmann für seine Geschichte der Kunst erfolgreich aus dem Fachwissen und dem Kunstverstand seines Freundes Anton Raphael Mengs geschöpft hätte. Das Fehlen eines solchen Führers lasse sich klar an den Anmerkungen über die Baukunst erkennen, die Boni – von der Kritik an der Ausgabe Feas zu einem Urteil über das Werk Winckelmanns überleitend – kritisch mit der Geschichte der Kunst vergleicht, wobei die verwendeten Begriffe denjenigen in der oben zitierten Passage sehr ähneln: E quando paragoniamo quella colle sue Osservazioni sull’Architettura degli Antichi, ci sembra, che in queste non abbia consultato un Architetto, come consultò un gran Pittore nelle altre; giacchè per buone, ed erudite, che sieno, sono spesso mancanti del sugo, e della sostanza delle prime, e ben di rado penetrano dentro il midollo dell’Arte.13

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Ebd., S. LXVf. („plötzlich von den ernsten und weniger angenehmen Rechtsstudien [...] zu den reizvolleren und glänzenderen jenes Teils der Antiquaria wechselte, die zu den Belle Arti gehören, und sich mit außergewöhnlichem Mut und beharrlicher Ausdauer der Mühe unterzogen hat, die zahllosen Zitate Winckelmanns zu prüfen, zu berichtigen, zu erweitern und alles mit seinen Fußnoten voller Gelehrsamkeit zu versehen“). Ebd., S. LXV. Ebd., S. LXVI („non ha risparmiato di assiduamente interrogare con indess premura i Letterati più celebri, e gli Artisti più savj di Roma“). Ebd. („Wenn wir diese mit den Osservazioni sull’Architettura degli Antichi vergleichen, so scheint uns, dass er in diesen keinen Architekten konsultiert hat, so wie er einen großen Maler in den anderen konsultierte; so gut und gelehrt sie sein mögen, es fehlt ihnen oft der Saft und die Substanz der ersteren und sehr selten dringen sie ins Mark der Kunst vor.”) – Vgl. Serenella Rolfi Ožvald: Espressione e Bello ideale. Onofrio Boni e la „Riflessione sopra Michelangelo Buonarroti“ del 1809. In: Giovanna Capitelli u. Carla Mazzarelli (Hg.): La pittura di storia in Italia. 1785–1870. Ricerche, quesiti, proposte. Atti delle Giornate di studio, Roma 24–26 giugno 2008. Cinisello Balsamo 2008, S. 101–111, hier S. 103.

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Winckelmanns Anmerkungen über die Baukunst sind für Boni kaum mehr als ein bloßes Sammelsurium, zuweilen weitschweifig und überladen, mit gelehrtem Buchwissen überfrachtet, mangels direkt „an den Bauwerken der Alten“14 gewonnener Beobachtungen und Erkenntnisse in ihrem Wert gemindert, und von einer offensichtlichen theoretischen Leichtfertigkeit im Vergleich mit den Architekturtraktaten der Renaissance.15 Gegenüber der traditionellen, mit den Namen Alberti, Serlio, Palladio und Scamozzi verknüpften Literatur zur Architektur erscheine der Beitrag, den die Anmerkungen zum Wissen über die Architektur der Alten zu leisten vermögen, weit weniger bedeutsam und originell, als es Fea glauben machen wolle.16 Bevor er sich an die Rezension des Textes von Winckelmann macht, fühlt Boni sich jedoch veranlasst, ein polemisches Thema anzuschneiden, das im weiteren Verlauf der querelle immer wieder und geradezu obsessiv aufgegriffen werden sollte: Er wirft Fea vor, naiv und unkritisch die Thesen von Pater Paoli übernommen zu haben, der hinsichtlich der Säulen der Tempel von Paestum von einer etruskischen statt einer dorischen Ordnung ausgegangen war,17 um dann angesichts einer Publikation Bonis vom August 1785 jedoch einen Rückzieher zu machen18 – zu einem Zeitpunkt, da die letzten Hefte seines im Subskriptionsverfahren publizierten Werkes bereits in Druck gehen sollten. Mit einem in der nachgeschickten Spiegazioni dei rami untergebrachten Widerruf korrigierte Fea seinen Fehler.19 Um jedoch nicht durch ein entsprechendes Zitat eingestehen zu müssen, dass er bei Boni wissenschaftlich in der Schuld stehe, habe Fea das Erscheinungsdatum auf dem Frontispiz der Storia delle Arti del disegno in betrügerischer Art und Weise von 1786 auf 1784 zurückdatiert.20 Bonis Gesamturteil bleibt auch bei der folgenden Detailanalyse der Anmerkungen über die Baukunst weitgehend unverändert, mit Blick auf Winckelmanns Arbeit verschärft er seine Kritik sogar. Obwohl er vorgibt, die im Inhaltsverzeichnis dargelegte Anlage des Werkes, dem eine klug durchdachte Bestandsaufnahme der materiellen Komponenten der Bauwerke zugrunde liege, zu schätzen, weil sie „klar

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[Boni]: Storia delle arti del disegno [März 1786] (wie Anm. 9), S. LXVII („osservazioni fatte con occhio di Architetto sulle fabbriche degli antichi di ogni genere“). Ebd. Ebd. Paolo Antonio Paoli: De Majori Templo et paestana architectura. Dissertatio III. In: Paesti, quod Posidoniam etiam dixere, rudera. Paestanae Dissertationes. Rovine della citta di Pesto detta ancora Posidonia. Rom 1784, S. 63–108. [Onofrio Boni]: Architettura. Rovine della citta di Pesto detta ancora Posidonia. Rom 1784. In: Memorie per le Belle Arti. Bd. 1. Rom 1785 (August), S. CXXVII–CXXXIV. Vgl. Rolfi Ožvald: „Agli Amatori delle belle arti Gli Autori“ (wie Anm. 2), S. 171. Vgl. Winkelmann: Storia delle Arti del Disegno (wie Anm. 6), Bd. 3, S. 472–488, hier S. 478– 487. Vgl. Ridley: The Pope’s archaeologist (wie Anm. 2), S. 41–45.

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und interessant“21 sei, tadelt Boni bei der Prüfung der ersten beiden „Articoli“ des Baumaterial und Baukunst gewidmeten „Capo I“ den ausgesucht gelehrten Ton des Werkes, aber auch seinen mangelnden Beitrag zur Wissenschaft (die „wenigen Beobachtungen“22) – verglichen insbesondere mit der Literatur der Renaissance und ihren Vertretern Alberti, Palladio und Scamozzi, die „viel umfassender und kenntnisreicher diese Materien behandelt“ hätten.23 Beim dritten „Articolo“, der die „Formen der Gebäude“ behandelt, rügt Boni, wie bereits zuvor, den geringen wissenschaftlichen Ertrag, außerdem die Fragwürdigkeit und unsichere Begründung einiger Behauptungen, um sich dann kurz bei der Behandlung der Säulenordnungen aufzuhalten.24 Sie gehörten zwar in ein solches Kapitel, die hier formulierten Erkenntnisse seien aber weniger relevant im Vergleich zur älteren architektonischen Literatur, insbesondere zu Scamozzi, der das Verdienst habe, „als Architekt zu sprechen“.25 Nebensächlich und überdies oberflächlich im Verhältnis zur herausragenden theoretischen Bedeutung des Themas in der Struktur von Winckelmanns Text ist die Bemerkung Bonis bezüglich der „vierten Epoche der großen Dorischen Ordnung von sechs Durchmessern“: Boni wundert sich, dass Winckelmann „den Tempel von Cori heranzieht, der unter Tiberius erbaut worden sein soll, wobei er nicht nur die Autorität Vitruvs übergehe, sondern auch die Dorische Ordnung des Marcellus-Theaters, das früher erbaut worden war“26 – und dies, obwohl es doch im Text von Le Roy27 erwähnt werde, dem Winckelmann erklärtermaßen seine Anregungen für die eigene, noch im Anfangsstadium befindliche Theorie der hier vorgeschlagenen Geschichte der Dorischen Ordnung entnommen hatte.28 Der erste 21 22 23 24 25 26

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[Boni]: Storia delle arti del disegno [März 1786] (wie Anm. 9), S. LXIX („chiaro, e interessante“). Ebd. („poche osservazioni“). Ebd. („molto più copiosamente, e dottamente hanno trattato queste materie“). Ebd., S. LXX. Ebd., S. LXXI („parlarne [...] da Architetto“). Ebd. („E’ singolare, che per fissare la quarta epoca dell’ordine Dorico maggiore di sei diametri, ricorra il Wink. al tempio di Cori, che egli vuole edificato sotto Tiberio, tralasciando, oltre l’autorità di Vitruvio, l’ordine Dorico del Teatro di Marcello, che è anteriore.“). Julien-David Le Roy: Les Ruines des plus beaux monuments de la Grèce. 2 Bde. Paris 1758, hier Bd. 1, S. 4. Vgl. Testa: Winckelmann e l’architettura antica (wie Anm. 4), S. 116–122; Ders.: Winckelmann, il Tempio di Ercole a Cori e lo sviluppo storico dell’ordine dorico. In: Francesco Paolo Di Teodoro u. Michela Scolaro (Hg.): L’intelligenza della passione. Scritti per Andrea Emiliani. Bologna 2001, S. 587–609; Ders.: Vitruvio nelle Anmerkungen über die Baukunst der Alten di Winckelmann. In: Gianluigi Ciotta (Hg.): Vitruvio nella cultura architettonica antica, medioevale e moderna. Bd. 2. Genf 2003, S. 685–695, hier S. 691–694; Ders.: „Quanto più s’inalza, più si degrada“. La storicizzazione dell’ordine dorico nella seconda metà del XVIII secolo: Le Roy, Piranesi, Winckelmann, Milizia. In: Daniela Caracciolo, Floriana Conte u. Angelo Maria Monaco (Hg.): Enciclopedismo e storiografia artistica tra Sette e Ottocento. Lecce 2008, S. 51–69; Ders.: Le Anmerkungen über die Baukunst der Alten (wie Anm. 4), S. 344–354; Ders.: Anmerkungen über die Baukunst der Alten (wie Anm. 4), S. 219–223.

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Teil der Rezension schließt mit kleineren kritischen Anmerkungen zu einzelnen Passagen von Winckelmanns Text. Boni behält diese Haltung auch bei der Analyse des vierten „Articolo“ bei, der die „äußeren und inneren Teile der Bauwerke“29 behandelt und im April 1768 veröffentlicht wurde. Seinen rhapsodisch-kritischen Bemerkungen schickt Boni hier zunächst einen Einwand voraus, der noch einmal seine generelle Geringschätzung der Buchgelehrsamkeit von Winckelmanns Anmerkungen über die Baukunst unterstreicht: „[W]ir finden nichts, was die Kunst direkt schildert, und bewundern nur die große Gelehrsamkeit“, zur Schau gestellt mit beckmesserischen Beiträgen, die „ausschließlich zum Gegenstand gelehrter Neugier werden“.30 Gleichermaßen armselig und von geringer Bedeutung erscheint ihm Winckelmanns Beitrag zur Erklärung der antiken Architektur in den beiden Kapiteln des zweiten Teils des Textes, die sich jeweils mit den Ornamenten „im Innern“ („nell’interno“) und „im Äußern“ („nell’esterno“)31 der Bauten beschäftigen; hier reihe er als Produkte eines gelehrten Desinteresses eine Fülle von Detailbeschreibungen aneinander, „die keinen Begriff der Kunst in sich enthalten [...] und die durch bloßen Augenschein der antiken Bauwerke oder der Bücher, die davon handeln, einem jeden auffallen.“32 Im Anschluss bemängelt Boni, wie ein so umfangreiches Thema, das nach Auskunft des Autors gut fünf Jahre der Recherche bedurft hatte, in einem so kurzen und armseligen Werk kondensiert werden konnte, „das „uns so wenig sagt, viel weniger als das, was unsere verdienten Meister und großen Kenner der Antike, die Architekten des sechszehnten Jahrhunderts schrieben“.33 Gegenüber Letzteren, vor allem Palladio, zeige sich eindeutig „der Unterschied zwischen dem Auge des gebildeten Künstlers und dem des einfachen Literaten“,34 und der Vergleich mit den großen Autoren der Vergangenheit – nicht nur den Italienern, sondern auch einem François Blondel – bringe „Winckelmann in der Architekturgeschichte der Antike zum Verschwinden“.35 Im Vergleich zu dieser Tradition wird Winckelmann außerdem ein substanzielles Desinteresse an den dieser Textgattung innewohnenden normativen Fragen vorgeworfen, was sich darin zeige, dass er „von den totalen und partiellen Propor29 30 31 32 33 34 35

[Onofrio Boni]: Segue l’esame del tomo III della Storia delle arti del disegno di Giovanni Winkelmann. In: Memorie per le Belle Arti. Bd. 2. Rom 1786 (April), S. LXXXIX–XCVII. Ebd., S. LXXXIX („non troviamo cosa, che direttamente illustri l’arte, e solo vi ammiriamo molta erudizione“; „diventano oggetti di sola erudita curiosità“). Ebd., S. XCI. Ebd. („che non racchiudono in sè alcun precetto dell’arte [...] e che dalla sola ispezione oculare delle antichità, o dei libri, che di queste trattano, possono esser note a chiunque“). Ebd., S. XCII („che dica sì poco, e molto meno di quello, che già scrissero con tanto sapere i nostri valenti maestri, e grandi antiquarj Architetti del secolo decimosesto“). Ebd. („la differenza dell’occhio dell’erudito artista, da quello del semplice letterato“). Ebd. („faccia scomparire il Wink. nell’antiquaria Archittetonica“). – Vgl. Serenella Rolfi: Onofrio Boni e l’Elogio di Pompeo Girolamo Batoni del 1787. Considerazioni in margine alla sua fortuna. In: Intorno a Batoni. Hg. v. Liliana Barroero. Lucca 2009, S. 185–199, hier S. 194.

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tionen der antiken Gebäude, von denen ihre ganze Schönheit abhängt [...] kein Wort sagt; wodurch man nach Lektüre seiner Anmerkungen die Schönheit der Kunst in keiner Weise zu beurteilen weiß.“36 Vor dem Hintergrund dieser Kritik am methodologischen Fundament des Winckelmann’schen Werkes wendet sich Boni anschließend solchen Passagen zu, die seiner Meinung nach eine Berichtigung verdienen, und bemerkt, dass Winckelmann, gerade auf Grund seines unbestrittenen Ansehens, die Leser leicht in die Irre führen und ihnen dadurch eine „falsche Vorstellung von den Praktiken der Alten“ („falsa idea delle pratiche degli antichi“)37 vermitteln könne. Der zweite Teil der Rezension schließt mit einer Verteidigung Michelangelos, dem in Winckelmanns Entwurf der Entwicklungsgeschichte der modernen Architektur die Einführung der exzessiven Verwendung des Ornaments angelastet wird, die dann zu den formalen Häresien Borrominis geführt hätte.38 Damit ist die kritische Rezension der Osservazioni sull’Architettura degli Antichi abgeschlossen und Boni wendet sich stattdessen den ebenfalls im dritten Band der Fea-Ausgabe enthaltenen Osservazioni sull’architettura dell’antico tempio di Girgenti in Sicilia zu, denen er den gesamten dritten Teil seiner Rezension widmet.39 Im vierten Teil, der im darauffolgenden Monat erschien, geht er auf einige Ausführungen zum Tempel des olympischen Jupiter in Agrigent ein, die sich in den am Schluß des dritten Bandes abgedruckten Spiegazione dei rami finden. Hier findet sich das lapidare Gesamturteil, von dem auch unsere Darstellung ihren Ausgangspunkt genommen hat.40 Als Ergebnis seiner Gegenüberstellung der Geschichte der Kunst und der Anmerkungen über die Baukunst betont er noch einmal den vornehmlich buchgelehrten Ansatz Winckelmanns, der dessen Studium der antiken Kunst kennzeichne.41 Dabei lässt er es sich nicht nehmen, noch einmal genüsslich zu bemerken, dass Fea die von Boni selbst vorgebrachten Einwände hinsichtlich der Säulenordung der Tempel von Paestum korrigiert habe.42 Die Rezension schließt mit einer ironischen laudatio auf die architektonischen Kompetenzen Feas, die es ihm leicht machen würden, die neue Vitruv-Edition, die Fea nach eigener Auskunft gerade vorbereite und bald in Druck geben wolle, meisterlich zu Ende zu führen. 36

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[Boni]: Storia delle arti del disegno, aprile 1786 (wie Anm. 29), S. XCIII („le proporzioni totali, e parziali degli antichi edifizj, dal che dipende tutta la loro bellezza, e di che il Wink. non sa parola; onde dopo lette le sue osservazioni non si sa giudicare di niuna bellezza dell’Arte.“). Ebd., S. XCIVf., hier S. XCV. Ebd., S. XCV–XCVII. Vgl. Winkelmann: Storia delle Arti del Disegno (wie Anm. 6), Bd. 3, S. 106. [Onofrio Boni]: Segue l’esame del tomo III della Storia delle arti del disegno di Giovanni Winkelmann. In: Memorie per le Belle Arti. Bd. 2. Rom 1786 (Mai), S. CXV–CXXII. Siehe oben, Anm. 1. [Boni]: Segue l’esame del tomo III [Juni 1786] (wie Anm. 1), S. CXXXIX–CXLVI, hier S. CXLf. Siehe dazu oben.

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Feas Antwort auf Bonis pedantischen Diffamierungsversuch lässt nicht lange auf sich warten. Schon Ende Juni druckt der Verleger Pagliarini ein kompaktes Büchlein von vierzig eng beschriebenen Seiten mit einer Erwiderung.43 Fea bedauert darin, dass Boni nicht in Erwägung gezogen habe, ihm seine Kritik direkt mitzuteilen, statt sein „Urteil so unvermittelt dem Publikum zu übergeben“;44 er fühlt sich deshalb verpflichtet, „meine Ehre und mehr noch die des hochberühmten Autors, den ich zu erläutern unternommen habe“,45 zu verteidigen. Boni wird beschuldigt, „eine oberflächliche, flüchtige Klosett-Lektüre“46 unternommen zu haben, mit dem einzigen Ziel, die Fehler, nicht aber die Vorzüge des Werkes zu sehen; er sei nicht in der Lage, „den Geist der Autoren und ihrer Worte vollständig zu erfassen“.47 Fea beteuert, die ihm abgesprochenen Kompetenzen auf dem Gebiet der Kunst durchaus zu besitzen, um schließlich im Einzelnen auf die Kritik an ihm und an Winckelmanns Werk einzugehen. In der Absicht, die Behauptungen seines Kontrahenten Punkt für Punkt zu widerlegen, wählt er dazu eine Art linearen Kommentar, eigensinnig und gallig im Ton und oft verschroben im argumentativen Duktus. Bei aller emotionalen Spannung, die in Feas Replik nahezu unverhüllt wahrnehmbar ist, lassen sich dennoch aus ihr interessante Einsichten im Hinblick auf Winckelmanns Werk gewinnen. Hinsichtlich der oben zitierten Passage aus seinem Vorwort zum dritten Band von Winckelmanns Storia delle arti del disegno48 verwirft Fea Bonis Verriss als fehl am Platz, und hebt den ganz andersartigen und spezifischen Charakter der Anmerkungen hervor, die sich nicht in die Tradition der architektonischen Fachliteratur einordnen ließen, sondern der akademischen Gelehrsamkeit angehörten. Das begründe auch die Legitimität ihrer Tendenz zu einer unsystematischen und fragmentarischen Darstellung, auf die Fea selbst in seinem Vorwort ja anspiele.49 Den von Boni in den Memorie von März 1786 umrissenen Disput zwischen Gelehrsamkeit und architektonischem Fachwissen als ideellen Kampfplatz akzeptierend,50 bekräftigt Fea erneut den einschlägig gelehrten Charakter des Winckelmann’schen Textes und behauptet, dass dieser den Texten der Fachautoren Alberti 43

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Fea: Risposta (wie Anm. 3). Der Text trägt unten das Datum „Dalla Biblioteca Chigi li 21. giugno 1786“, und wird in Folgen von Juli bis Dezember desselben Jahres auch im Giornale delle belle arti veröffentlicht. Siehe: Giornale delle belle arti e della incisione, antiquaria, musica e poesia. Rom 1786, Nr. 30, S. 235–338; Nr. 31, S. 243–245; Nr. 32, S. 252–254; Nr. 33, S. 259–261; Nr. 34, S. 269–271; Nr. 35, S. 276–278; Nr. 36, S. 283–287; Nr. 37, S. 292–295; Nr. 38, S. 303f.; Nr. 39, S. 308–312; Nr. 40, S. 316–319; Nr. 42, S. 330–333; Nr. 43, S. 338–341; Nr. 44, S. 346–348; Nr. 45, S. 356–359; Nr. 46, S. 362–365; Nr. 47, S. 370–372; Nr. 48, S. 378–380; Nr. 49, S. 386–388; Nr. 50, S. 395f. Fea: Risposta (wie Anm. 3), S. 3 („passare all’improviso a dare il vostro giudizio al pubblico“). Ebd. („l’onor mio, e quello molto più dell’Autore celeberrimo, che ho preso ad illustrare“). Ebd., S. 4 („una lettura superficiale, passeggiera, e da toletta“). Ebd. („d’intendere a pieno la mente degli autori, e le loro parole“). Fea: Prefazione (wie Anm. 6), S. vi. Vgl. oben, S. 179. Fea: Risposta (wie Anm. 3), S. 5. Vgl. [Boni]: Storia delle arti del disegno, marzo 1786 (wie Anm. 9), S. LXVI.

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und Scamozzi, die mehr als andere in ihren Werken nach Gelehrsamkeit gestrebt hätten, weit überlegen sei.51 Er verweist außerdem auf den prinzipiellen und weitaus nützlicheren methodischen Beitrag, den Winckelmann auf dem Feld der traditionellen Lehre geleistet habe; dieser ergebe sich aus dem von ihm angestellten Vergleich zwischen den antiken Texten und den Dokumenten zur materiellen Baukultur, wie sie durch archäologische Forschungen belegt sind: Torno a dirvi, che non avete capito, che egli ha voluto con queste ricerche fare anche delle osservazioni sugli antichi scrittori: ha voluto decidere delle questioni agitate da tanti grandi uomini, Salmasj, Casauboni, Mureti, ec. colle semplici autorità di diversi antichi autori senza badare ai monumenti dell’arte.52

Diese methodologische Entscheidung habe, wie Fea betont, zwangsläufig zur inneren fragmentarischen Struktur der Anmerkungen geführt, gepaart mit der Absicht, diese laufend zu ergänzen, was der Autor nach der Veröffentlichung nachweislich im Sinn hatte:53 Avete equivocato parimente nel figurarvi, o nel pretendere quasi, che Winkelmann facesse un’opera compita d’architettura, come l’hanno fatta lo Scamozzi, e l’Alberti; quando egli non ha inteso di fare altro, che mettere insieme quelle osservazioni, che andava facendo nel leggere i classici, e nel vedere le fabbriche antiche [...].54

Um Bonis Vorwurf zu widerlegen, wonach die Anmerkungen angesichts fünfjähriger Forschungsarbeit nur ein mageres Resultat darstellten, weist Fea darauf hin, dass Winckelmann zur gleichen Zeit seine Geschichte der Kunst des Alterthums konzipiert habe. Anders als dieser war den Anmerkungen vom Autor selbst nie der Status eines „Hauptwerks“ zugedacht, „das man mit der Geschichte der Kunst oder den [Werken, F. T.] von Alberti und Scamozzi vergleichen dürfe“.55 Nach Prüfung der Kritik, die Boni gegenüber Winckelmanns Werk „im Allgemeinen“56 formuliert, wendet Fea sich den von diesem inkriminierten Detailfehlern zu; dazu listet er die Missverständnisse und Mängel auf, die dem strengen Zensor 51 52

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Fea: Risposta (wie Anm. 3), S. 7–9. Ebd., S. 9 („Ich muss Euch noch einmal sagen, dass Ihr nicht verstanden habt, dass er mit diesen Forschungen auch zu den antiken Autoren etwas bemerken wollte: er wollte die von großen Männern, von Salmasius, Casaubonus, Muretus etc., aufgeworfenen Fragen entscheiden und zwar mit der einfachen Autorität verschiedener antiker Autoren, ohne die Kunstwerke zu berücksichtigen.“). Vgl. Marianne Gross u. Max Kunze: Einleitung. In: Winckelmann: Schriften zur antiken Baukunst (wie Anm. 7), S. IX–XXXIV, hier S. XVIf. und ebd., S. 71–88. Fea: Risposta (wie Anm. 3), S. 10 („Gleichermaßen unterliegt Ihr einem Missverständnis, wenn Ihr Euch vorstellt oder es sogar fordert, dass Winckelmann ein vollendetes Werk der Architektur geschrieben habe, wie es Scamozzi und Alberti getan hatten; während er nichts anderes tun wollte, als Anmerkungen zusammenzustellen, die ihm bei der Lektüre der Klassiker und bei der Betrachtung der antiken Bauwerke einfielen“). Ebd. („un capo d’opera […], che voi aveste da mettere in confronto colla Storia delle Arti del Disegno, o con quelle [opere, F. T.] dell’Alberti, e dello Scamozzi“). Ebd.

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unterlaufen seien,57 um dann den Anmerkungsapparat des Textes zu verteidigen.58 Angesichts der Bedeutung, die die vexata quaestio der Tempel in Paestum für Bonis Verriss gewonnen hatte, ist es nur angebracht, an dieser Stelle auch Feas Antwort wiederzugeben. Dieser bestreitet, in Bonis Schuld zu stehen, und behauptet mit Nachdruck, den dorischen und nicht etwa etruskischen Charakter der Säulenordnung noch vor Boni und völlig unabhängig von dessen Publikationen erkannt zu haben.59 Boni, von Tonfall und Inhalt des Büchleins von Fea empfindlich getroffen, zahlt es ihm mit gleicher Münze zurück. Seine Antwort erfolgt prompt, und zwar unter dem Pseudonym Bajocco; am unteren Seitenrand trägt sie den Vermerk des Ortes und des Datums ihrer Entstehung – „Dal Caffè degl’Inglesi in Roma 30. Luglio 1786.“60 Welche Schärfe die querelle inzwischen angenommen hat, lässt sich den Hinweisen entnehmen, die der Drucker des Büchleins zum Nutzen des Lesers vorausgeschickt; gewarnt wird darin vor dem Dilettantismus und der Inkompetenz, die Carlo Fea bei der Übersetzung und Herausgabe des Winckelmann’schen Werkes an den Tag gelegt habe.61 In der Lettera wird Fea beschuldigt, in den Künstlerkreisen Roms geradezu um „Erleuchtung gebettelt“62 zu haben, um seiner Ignoranz abzuhelfen; er sei ein bloßer Buchgelehrter und als solcher unfähig, Kunstwerke zu verstehen, die „allein mit Gelehrsamkeit und der Hilfe griechischer und lateinischer Zitate nicht beurteilt werden können“.63 In der Spiegelfechterei, die nunmehr die argumentative Rhetorik Bonis beherrscht, scheint hinter der Figur Feas immer wieder das Bild Winckelmanns auf, der ebenfalls jeglicher Praxiserfahrung in den Künsten entbehrt habe und deshalb in Sachfragen auf die Expertise seines Freundes Mengs angewiesen gewesen sei.64 Die intellektuelle Unredlichkeit Feas habe sich nach dem gleichen Schema auch in der Übersetzung der Anmerkungen aus dem Deutschen gezeigt, einer Sprache, von der Fea „kein Wort versteht“,65 weshalb er gezwungen gewesen sei, um Hilfe und

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Ebd., S. 10–17. Ebd., S. 17–28. Ebd., S. 19–22. Es folgt (ebd., S. 28–39) eine minutiöse Widerlegung der kritischen Bemerkungen Bonis zu den Osservazioni sull’architettura dell’antico tempio di Girgenti in Sicilia. [Onofrio Boni]: Lettera di Bajocco al ch. signor abate Carlo Fea giureconsulto, o sia, Memorie Per servire alla Storia Letteraria di questo nuovo Scrittore di Antiquaria, e Belle Arti. Cosmopoli 1786, das Zitat S. XXIV. Vgl. Ridley: The Pope’s archaeologist (wie Anm. 2), S. 43–45; Rolfi: Onofrio Boni e l’Elogio di Pompeo Girolamo Batoni (wie Anm. 35), S. 192– 194; Dies.: „Agli Amatori delle belle arti Gli Autori“ (wie Anm. 2), S. 178. [Boni]: Lettera di Bajocco (wie Anm. 60), o. S. (i.e. S. III: Lo Stampator a chi legge). Ebd., S. V („avete mendicato lumi, e notizie da tanti Letterati, ed Artisti per illustrare la vostra edizione“). Ebd., S. VI („non se ne possa guidicare colla sola erudizioni, e a forza di citazoni Greche, e Latine“). Ebd. Ebd. („egli non ne sa una parola“).

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Rat zu betteln, ohne dabei jedoch seinen Ratgebern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und ihre Verdienste anzuerkennen. Der persönliche Angriff auf Fea wird von einem kurzen Einschub unterbrochen, in dem Boni grundsätzliche Überlegungen zum Schaffen Winckelmanns und insbesondere der Frage nach dem Verhältnis von den Anmerkungen über die Baukunst und der Geschichte der Kunst innerhalb der Gesamtökonomie seiner intellektuellen Produktion äußert: I primi due tomi della vostra Opera, che conviene separare affatto dal terzo, che voi avete fabbricato di pianta, sono generalmente piaciuti, come quelli, che contengono la vera Storia delle Arti del Disegno, e sono il deposito dell’immensa erudizione di un grandissimo Antiquario come il Winkelmann, e delle osservazioni, e profondi giudizj su i monumenti antichi delle Arti di un rarissimo Pittore Filosofo, come il Mengs.66

Die gehässige und analytisch-penible Untersuchung der Kompetenzen und des Kunstverstandes Feas wie auch des modus operandi bei seiner Edition der Werke Winckelmanns hinter sich lassend,67 geht Boni im Folgenden genauer auf den Inhalt des dritten Bandes, und hier speziell auf die Übersetzung der Anmerkungen über die Baukunst, ein: Veniamo adesso al vostro terzo tomo. Come in coscienza potete con tutte le vostre modificazioni farlo passare per Istoria delle Arti, e specialmente dell’Architettura? Come avete mai creduto, che possa stare a fronte degli altri due tomi, che soli contengono l’opera classica del Winkelmann [...]? Cominciano le osservazioni sull’Architettura degli Antichi del Winkelmann; opuscolo di poche carte, in cui il meno, di che si occupi l’autore è la storia dell’Arte, non seguitandola per serie di tempi, ma solo dando al pubblico alcune osservazioni, che aveva fatte sugli edifizj di Roma, e per l’essenziale dell’Architettura, e sopra i suoi ornamenti in genere. Un poco più si accosta al tema in quelle 10. carte delle sue osservazioni sull’antico Tempio di Girgenti: ma una fabbrica, o due non possono dar l’idea dell’Arte dalla sua nascita fino a Vitruvio. [...] Ma [...] le brevi osservazioni del Winkelmann sul tempio di Girgenti non servono a prestare il nome di Storia a tutto il tomo, di cui formano appena la quinta parte.68

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Ebd., S. VII („Die ersten beiden Bände Eures Werkes, die man wohl vom dritten, das Ihr zusammengeschustert habt, getrennt halten sollte, haben allgemein gefallen, wie die, welche die wahre Storia delle Arti del Disegno enthalten; in ihnen ist die immense Bildung eines großen Altertumsforschers wie Winckelmann aufbewahrt und die Beobachtungen und auch tiefschürfenden Urteile über die antiken Kunstdenkmäler eines so seltenen Malerphilosophen wie Mengs.“). Ebd., S. VIII–XIII. Ebd., S. XIIIf. („Kommen wir nun zu Eurem dritten Band. Wie könnt Ihr ihn guten Gewissens [...] als Istoria delle Arti, und insbesondere der Baukunst ausgeben? Wie habt Ihr nur geglaubt, ihn den anderen beiden Bänden gleichstellen zu können, die allein das klassische Werk Winckelmanns enthalten [...]? Winckelmanns Osservazioni sull’Architettura degli Antichi sind eine zweitrangige Schrift von wenigen Seiten, in der sich der Autor mit allem Möglichen beschäftigt, aber kaum mit der Kunstgeschichte, die er nicht in zeitlicher Folge untersucht; stattdessen bietet er den Lesern nur einige Betrachtungen zu Bauwerken in Rom, zum Wesentlichen der Architektur und deren Ornamenten überhaupt. Etwas näher kommt er seinem Thema in den 10 Seiten seiner osservazioni sull’antico Tempio di Girgenti, aber ein Bauwerk oder zwei können kein Bild der Kunst von ihrer Entstehung bis Vitruv vermitteln. [...] Aber [...] die kurzen Anmerkungen Winckelmanns zum Tempel von Agrigent rechtfertigen es nicht,

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Da auch die beiden zusätzlichen Texte, die den Band ergänzen und dabei mehr als die Hälfte seines Umfangs ausmachen (i.e. die Briefe Winckelmanns zu den Entdeckungen in Herculaneum69 und die von Fea selbst redigierte Dissertazione sulle rovine di Roma70), „nichts mit der Geschichte der Architektur zu tun haben“,71 gilt der dritte Band in den Augen Bonis aufgrund seiner Heterogenität, des mangelnden „Wertes der Dinge“ („valore delle cose“)72 und der „Qualität“ („la loro qualità“)73 als nachgerade überflüssig. Die Schlüsse, zu denen Boni gelangt, gehen also weit über die persönliche Polemik mit Fea hinaus: Sie betreffen nicht nur die Zusammenstellung der Ausgabe, die letzterer mit einem zusammenhanglosen dritten Band ungebührlich abgeschlossen habe. Deutlich geht aus Bonis Darlegungen eine dem Winckelmann’schen „System der Künste“ ursprünglich innewohnende innere Asymmetrie hervor, die in dem Paar Anmerkungen – Geschichte ihren Ausdruck findet und die letztlich der Grund dafür ist, dass bei Winckelmann eine echte „storia dell’Architettura”74 fehlt. Eine grundsätzliche epistemologische Grenzlinie trennt die beiden Werke und hat Auswirkungen auch auf andere als eigentümlich hervorstechende Aspekte der Anmerkungen über die Baukunst: So fehlt die Kategorie der Zeitlichkeit im Begriffssystem, das der Analyse der antiken Architektur vorausgeht, wodurch nicht deren Geschichte geschrieben, sondern in einem zeitenthobenen Rahmen ein weites Repertoire an fragmentarischen gelehrten Begriffen zusammengetragen wird, die aus verschiedenen – literarischen, archäologischen und bildlichen – Quellen stammen.75

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dem ganzen Band, von dem sie gerade mal den fünften Teil bilden, den Namen Geschichte zu verleihen.“). Winckelmann: Storia delle Arti del Disegno (wie Anm. 5), Bd. 3, S. 187–266. Ebd., S. 267–416. [Boni]: Lettera di Bajocco (wie Anm. 60), S. XIV („Queste due cose, [...] che cosa in grazia, hanno che fare colla storia dell’Architettura?“). Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Testa: Vitruvio nelle Anmerkungen über die Baukunst der Alten (wie Anm. 28), S. 685– 690; Ders.: Winckelmann e l’architettura antica (wie Anm. 4), S. 124–139; Ders.: Cultura architettonica e pratiche erudite nei quaderni parigini di Winckelmann. In: Lucia Bertolini (Hg.): Saggi di letteratura architettonica, da Vitruvio a Winckelmann. Bd. 2. Florenz 2009, S. 179–230; Ders.: Le fonti iconografiche per la conoscenza dell’architettura antica nelle Anmerkungen über die Baukunst der Alten di J. J. Winckelmann. In: Howard Burns, Francesco Paolo Di Teodoro u. Giorgio Bacci (Hg.): Saggi di letteratura architettonica, da Vitruvio a Winckelmann. Bd. 3. Florenz 2010, S. 339–361; Ders.: Documenti numismatici e glittici come fonti iconografiche per la conoscenza dell’architettura antica nelle Anmerkungen über die Baukunst der Alten di J. J. Winckelmann. In: Rosanna Cioffi u. Ornella Scognamiglio (Hg.): Mosaico. Temi e metodi d’arte e critica per Gianni Carlo Sciolla. Bd. 1. Napoli 2012, S. 281– 292; Ders.: Anmerkungen über die Baukunst der Alten (wie Anm. 4), S. 214–216; Ders.: Frammentismo e esprit de système (wie Anm. 4), S. 26–31; Ders.: „die Theile der Gebäude“: la pittura antica come fonte iconografica per la conoscenza materiale dell’architettura antica nelle Anmerkungen über die Baukunst der Alten di J. J. Winckelmann. In: Le cose nell’immagine, III Colloquio A.I.R.P.A, Pavia 17–18 Juni 2019, im Druck befindlich.

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Das einzige Fragment einer „storia dell’Architettura“, noch atrophisch und embryonal, findet sich in den Anmerkungen über die Baukunst der alten Tempel zu Girgenti in Sicilien,76 wo die Analyse der archaischen dorischen Tempel tatsächlich in einen ersten Versuch der „Verzeitlichung“ mündet, und zwar nach einem Schema, das in vollständigerer Form – und ohne dass sich Boni dessen bewusst gewesen wäre – ausgerechnet in der Darstellung der dorischen Säulenordnung in den Anmerkungen über die Baukunst der Alten zu finden ist. Obwohl fest verankert im Gefüge des gelehrten altertumswissenschaftlichen Textes, emanzipiert sich der Abschnitt deutlich von seiner Umgebung, um mit einem radikalen epistemologischen Bruch77 die gleichen revolutionären Analyse- und Klassifizierungsmethoden anzuwenden, wie sie in der Geschichte systematisch zum Einsatz kommen. Übersetzung von Klaus Ruch (unter Mitarbeit von Aleksandra Ambrozy)

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Winkelmann: Storia delle Arti del Disegno (wie Anm. 5), Bd. 3, S. 107–128. Vgl. Eric M. Moormann: Winckelmann und die griechischen Tempel von Agrigento. In: Disselkamp u. Testa (Hg.): Winckelmann-Handbuch (wie Anm. 4), S. 180–184. In den Anmerkungen wird von der Kategorie der Zeitlichkeit auch im Kapitel über das Ornament in der Architektur und im Bezug auf den Entwicklungsgang der korinthischen Ordnung gesprochen. Vgl. Testa: Winckelmann e l’invenzione della storia dell’arte (wie Anm. 8), S. 253–260; Ders.: Winckelmann e l’architettura antica (wie Anm. 4), S. 122–124 u. 140–150; Ders.: Le Anmerkungen über die Baukunst der Alten (wie Anm. 4), S. 337–344 u. 353f.; Ders.: Anmerkungen über die Baukunst der Alten (wie Anm. 4), S. 213 u. 217–219.

ELENA AGAZZI

Die historiografischen Grundlagen des Kommentars zur italienischen Ausgabe der Geschichte der Kunst des Alterthums von Carlo Fea (1783–1784) Von der Istoria Universale Francesco Bianchinis bis zur „Völkergeschichte“ von Antoine-Yves Goguet I. Vorbemerkung Einer großen Zahl an italienischen Studien aus den letzten zwanzig Jahren zur Frage der Winckelmann-Rezeption in Italien ist es zu verdanken, dass wir heute besser denn je nachvollziehen können, welche enorme theoretische und ideologische Schlagkraft gerade von den kritischen Apparaten ausging, mit denen die italienischen Ausgaben der Schriften Winckelmanns ausgestattet waren. Davon betroffen ist insbesondere die uns hier interessierende Winckelmann-Edition von 1783– 1784, die auf Carlo Fea zurückgeht. Die – schon in der Ausgabe von Carlo Amoretti durch teils massive Eingriffe in den paratextualen Teil – vorgenommene Neugestaltung des Aufbaus der Wiener Ausgabe der Geschichte der Kunst (1776), die ikonografische Neuauswahl, die Veränderung und Erweiterung des Anmerkungsapparats, all das sind bereits wichtige Wegmarken für den sich abzeichnenden Übergang von der antiken Philologie zur neuen wissenschaftlichen Methode.1 Unser Interesse gilt nicht den Verschiebungen zwischen dem deutschen Ausgangstext und seiner italienischen Übersetzung aus einer linguistischen und übersetzungswissenschaftlichen Sicht. Im Zentrum steht vielmehr die Transformation des paratextuellen Teils, wobei auf die in diesem Zusammenhang grundlegende Bedeutung von Christian Gottlob Heynes Lobschrift auf Winkelmann aus dem Jahr 1778 einzugehen ist.2 1

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Vgl. Arnaldo Momigliano: Sui fondamenti della storia antica. Turin 1984. Dieser Band enthält grundlegende Abhandlungen zu den verschiedenen Phasen der historiografischen Revolution vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Für diesen Beitrag sind die ersten vier, von S. 3 bis S. 88, besonders wertvoll. Bezüglich der Ausgabe von Carlo Fea und einer Erklärung der Kriterien, mit denen Fea das schon von Amoretti übersetzte Werk neu betrachtet hat, vgl. besonders Stefano Ferrari: L’eredità culturale di Winckelmann: Carlo Fea e la seconda edizione della Storia delle Arti del Disegno presso gli Antichi. In: Roma moderna e contemporanea X (2002), H. 1–2 (Januar–August), S. 15–48. In der Fußnote 94 auf S. 46 führt Ferrari die Nummern der Efemeridi letterarie di Roma an, in denen der Edition von Fea gewidmete Rezensionen erschienen sind. Christian Gottlob Heyne: Lobschrift auf Winkelmann welche bey der Hessen Casselischen Gesellschaft der Alterthümer den ausgesezten Preis erhalten hat. Leipzig 1778. – Diesem Aspekt hat Stefano Ferrari wichtige und richtungsweisende Überlegungen gewidmet, die hier natürlich berücksichtigt werden. Sein Beitrag untersucht sehr weitgehend die verschiedenen

https://doi.org/10.1515/9783110710373-011

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Elena Agazzi

Heynes Lobrede war zuerst von Amoretti übersetzt und dem Avviso dei Monaci Cisterciesi und der Prefazione degli Editori Viennesi nachgestellt worden. Später griff Fea auf die von Amoretti besorgte Version zurück, um sie im Anschluß an seine Prefazione di Carlo Fea ai leggitori sowie den Avviso degli Editori Milanesi und die Prefazione degli Editori Viennesi abzudrucken. Weitaus bewusster als noch bei Amoretti war der Einsatz der Schrift hier mit bestimmten Absichten verbunden. Heynes Lobschrift kommt in den zeitgenössischen deutsch-italienischen Debatten über die neuesten Entwicklungen in der klassischen Philologie eine besondere Bedeutung insofern zu, als sie im Zentrum einer neuen historistischen Perspektive steht, die im spätaufklärerischen Europa allmählich an Raum gewinnt. Die Lobschrift, von einem deutschen Gelehrten verfasst, kritisiert unverhohlen bestimmte Positionen Winckelmanns und ist als solche eine willkommene Gelegenheit für die beiden italienischen Herausgeber Amoretti und Fea, auf jeweils verschiedene Weise gegen das ausdrückliche Veto Winckelmanns zu verstoßen, mit dem er sich jegliche Veränderungen am Text sowie Hinzufügungen von Anmerkungen verbeten hatte. Die Herausgeber der mailändischen Ausgabe (Amoretti, zusammen mit Fumagalli und Venini) beteuern in ihrem Vorwort, dass sie diese Eingriffe in das Werk hätten vornehmen müssen, um die von Winckelmann selbst gepriesene „Menschheit“ und „Wahrheit“ zu ehren.3 Fea wird sogar deutlicher: [V]i ho aggiunte non poche mie annotazioni, colle quali ho corretti moltissimi equivoci, e sbagli dell’Autore sì per riguardo all’erudizione, che alla qualità, e forma dei monumenti citati, o al luogo, ove esistono; e vi ho sparse altre erudizioni relative al soggetto, che avevo in pronto, e quelle notizie di altri monumenti, ai quali egli non avea badato, o che si sono scoperti dopo la di lui morte, ed erano a mia notizia.4

Heynes Text ist das ‚Brückenelement‘ zwischen einerseits einer für das Spätbarock typischen historiografischen Auffassung von der Erforschung der Ursprünge der antiken Zivilisationen – ein Projekt des Christentums, um den eigenen Anfang zu

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Aufnahmen der italienischen Übersetzungen, sowohl in Italien als auch in Deutschland, und behandelt besonders die Instrumentalisierung der Kritik von Heyne an Winckelmann, die von einigen Gelehrten und Wissenschaftlern der Epoche vorgenommen wurde. Siehe Stefano Ferrari: Christian G. Heyne e la ricezione del Winckelmann nell’Italia del secondo Settecento. In: Neoclassico 19 (2001), S. 75–101. I Monaci Cisterciesi Editori. In: [Johann Joachim Winckelmann:] Storia delle arti del disegno presso gli antichi di Giovanni Winkelmann. Tradotta dal tedesco con note originali degli editori. Hg. v. Carlo Amoretti u. Angelo Fumagalli. 2 Bde. Milano nell’Imperial Monastero di Sant’Ambrogio Maggiore 1779, Bd. 1, S. vii–xii, hier S. x. Carlo Fea: Prefazione. In: [Johann Joachim Winckelmann:] Storia delle arti del disegno presso gli antichi di Giovanni Winkelmann tradotta dal tedesco e in questa edizione corretta e aumentata dall’Abate Carlo Fea Giureconsulto. 3 Bde. Roma dalla Stamperia Pagliarini 1783– 1784, Bd. 1, S. v–xvi, hier S. x („[H]ier habe ich etliche meiner Anmerkungen hinzugefügt, mit denen ich viele Zweideutigkeiten und Irrtümer des Autors korrigiert habe, bezüglich der Kenntnis, der Beschaffenheit und der Form der zitierten Monumente, oder des Ortes, an dem sie sich befinden; und ich habe weitere Kenntnisse zu dem Gegenstand, die mir zur Verfügung standen, eingefügt sowie die Nachrichten zu anderen Monumenten, die er nicht beachtet hatte, oder die erst nach seinem Tod entdeckt wurden und in meiner Kenntnis waren.“).

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verstehen (man denke z.B. an die unvollendete Istoria universale provata con monumenti e figurata con simboli degli antichi von Francesco Bianchini aus dem Jahr 1697,5 der im Übrigen dort, ganz der Naturwissenschaftler, der er ja war, nichts weniger als den ‚historischen Beweis‛ gelten lassen wollte) – und andererseits dem Versuch einer historisch-didaktischen Sondierung innerhalb der Altertumswissenschaft, wie sie Heyne vorschwebte, um junge Menschen im historischantiquarischen Handwerk auszubilden und dabei Kenntnisse aus der bildenden Kunst heranzuziehen. Deutlich herauszulesen aus der Schrift ist Heynes Unbehagen angesichts eines bei Winckelmann ausgemachten Widerspruchs zwischen dem normativen Ansatz der Nachahmungstheorie, die (zusammen mit den Gedanken über die Nachahmung) der ersten, deutschen Periode zuzurechnen sei, und der historistischen Perspektive des „Lehrgebäudes“ in der Geschichte der Kunst aus der römischen Periode. Mit dieser Kritik überschreitet Heyne zugleich den eigentlichen Zweck der Lobschrift,6 an die Verdienste Winckelmanns zu erinnern. Fea geht in seinen kommentierenden Anmerkungen zunächst auf einige Aussagen aus der Lobschrift ein, bevor er zur Kunstgeschichte Winckelmanns übergeht. Sein kritischer Apparat versteht sich dabei nicht nur als eine einfache Ergänzung zu den ursprünglichen Anmerkungen Winckelmanns sowie den von Amoretti hinzugefügten. Fea weiß sich mit Heyne auf einer Linie sowohl da, wo er in seinen Kommentaren eher auf die „nicht-literarischen“ als die „literarischen“ bzw. philologischen Quellen eingeht, als auch da, wo er die Kriterien, nach denen Winckelmann die Entwicklung von künstlerischen Stilen der verschiedenen Völker beurteilt, einer Prüfung unterzieht. Heyne hatte in seiner Lobschrift ja gemahnt, Winckelmanns übertriebenen Enthusiasmus zugunsten des Idealmodells der griechischen Kunst kritisch zu hinterfragen, da dieses eher auf der Vorliebe für das „griechisch Schöne“ basiere als auf einer konkreten Untersuchung der historischen Bedingungen, unter denen der damalige Künstler seine Werke schuf. Auch die politischen Zustände und die klimatische Lage seien keine ausreichende Erklärung

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Vgl. Franco Lanza: L’„Istoria Universale“ del Bianchini e la „Scienza Nuova“. In: Lettere italiane X (1958), H. 3 (Juli–September), S. 339–348; Brigitte Sölch: Einleitung. In: Francesco Bianchini (1662–1729) und die Anfänge öffentlicher Museen in Rom, hg. v. ders. München u. Berlin 2007, S. 9–21; Carlo R. Chiarlo: Considerazioni sull’apparato illustrativo de „La Istoria universale“: le immagini relative ai monumenti classici. In: Unità del sapere molteplicità dei saperi. Francesco Bianchini (1662–1729) tra natura, storia e religione, hg. v. Luca Ciancio u. Gian Paolo Romagnani. Verona 2010, S. 245–258; Chiara Piva: La Repubblica delle Lettere e il dibattito sul metodo storico (1681–1814). In: Storia delle Storie dell’arte, hg. v. Orietta Rossi Pinelli. Turin 2014, S. 91–179. Siehe diesbezüglich den erhellenden Beitrag von Elisabeth Décultot: Wie Kunst zum Gegenstand von Geschichte wird. Winckelmanns Arbeit an organischen Entwicklungsmodellen. In: Der Körper der Kunst. Konstruktionen der Totalität im Kunstdiskurs um 1800, hg. v. Johannes Grave, Hubert Locher u. Reinhard Wegner. Göttingen 2007, S. 13–30.

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für die Blüte der Kunst in einem Land.7 In seiner Sammlung antiquarischer Aufsätze betont Heyne dabei ausdrücklich, dass [d]ie Freyheit der Griechen [...] ein so unbestimmtes, und nach verschiedenen Gegenden und Zeiten Griechenlands so vielartiges Ding [ist], daß alles schwankend wird, was man darauf bauet.8

Es ist interessant festzustellen, dass Fea in den dritten Band der römischen Ausgabe der Geschichte der Kunst andere, empirisch-archäologisch angelegte Schriften Winckelmanns aufnimmt, und so den Umfang des Werkes entscheidend erweitert. Den Winckelmann’schen Osservazioni sull’Architettura degli Antichi (1760), den Osservazioni sull’Architettura dell’antico tempio di Girgenti in Sicilia, der Lettera a Fea sull’Origine ed Antichità dell’Architettura [gesendet vom Padre Paoli, E. A.] und den Lettere di Winckelmann sulle scoperte di Ercolano fügt Fea unter dem Titel Dissertazione sulle rovine di Roma9 zudem noch einen eigenen Aufsatz bei. Dieser rundet gewissermaßen eine Art italienische Tour innnerhalb des dritten Bandes ab, die auf der Topographie jüngerer Ausgrabungen und den von Winckelmann in Latium und Süditalien erforschten Ruinen basiert. Der „Indice di molti Monumenti antichi citati, o illustrati nell’opera, sì dall’Autore, che dagli Annotatori“ (Verzeichnis der antiken Monumente, die von Winckelmann oder den Kommentatoren angeführt werden), der „Indice degli scrittori lodati, spiegati, criticati e difesi“ (Verzeichnis der gelobten, erklärten, kritisierten und verteidigten Schriftsteller) und der „Indice delle edizioni di alcuni autori di cui si è fatto uso nell’opera“ (Verzeichnis der Editionen einiger Autoren, die im Werk gebraucht werden) sowie schließlich der „Indice delle materie“ (Sachregister) sind allesamt Teil eines ambitionierten Programms, das auf die Erforschung ‚neuer‘ künstlerischer Artefakte abzielt. Auch sollen dem modernen Leser dadurch aktuelle Quellen zur Verfügung gestellt werden anstelle der von Winckelmann gebrauchten älteren Editionen, die Heyne in seiner Lobschrift im Übrigen für untauglich erklärt hatte. Schließlich empfiehlt Fea, die Beschäftigung mit den Manuskripten, „mit denen die Gelehrten sich schon so sehr abgemüht haben“ („intorno ai quali già tanto si è faticato dagli eruditi“)10 durch die Kenntnisnahme erst kürzlich wiederentdeckter antiker Monumente zu ersetzten, die er als „fast noch intakte Provinz“ („provincia quasi ancora intatta“) bezeichnet.

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Man beachte, dass der sehr breitgefächerte Inhalt des den Griechen gewidmeten IV. Kapitels, dessen dritter Abschnitt die Paragrafen 1. Der ältere Stil, 2. Der hohe Stil, 3. Der schöne Stil und 4. Der Stil der Nachahmer enthält, schon von Amoretti auf verschiedene Bücher, nummeriert von IV bis VIII, verteilt wurde, fast so, als wollte er dessen zentrale Bedeutung entkräften. Christian Gottlob Heyne: Sammlung antiquarischer Aufsätze. 1. Stück. Leipzig 1778, S. 171. Carlo Fea: Dissertazione sulle rovine di Roma. In: Winckelmann: Storia delle arti del disegno (wie Anm. 4), S. 267–416. Carlo Fea: Fußnote B zum Elogio di Winkelmann del Sig. Christ. Gottl. Heyne. In: [Winckelmann]: Storia (wie Anm. 4), Bd. 1, S. lxi–lxxxii, hier S. lxxx.

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II. Hintergründe und Entwicklungen: Die Lobschrift Heynes zwischen Lobrede und Kritik an Winckelmann Als Heyne nach Göttingen kommt, hat die dort 1734 gegründete Universität bereits ein internationales Renommee. Sie war als Reaktion auf die 1694 gegründete Universität Halle, akademischer Vorposten Preußens mit starker pietistischer Ausprägung, sowie auf die Universität Leipzig, Sachsens wissenschaftliches Vorzeigeprojekt, ins Leben gerufen worden. Heyne übernimmt die Leitung des von Johann Matthias Gesner gegründeten philologischen Seminars und erneuert es als Institut für Altertumswissenschaften mit dem klaren Ziel, die formale Philologie zugunsten der realia zu überwinden und die Widersprüchlichkeit und Zersplitterung der polyhistorischen Vision aufzulösen, die das Interesse für eine präzisere historische Untersuchung der Vergangenheit unterminiert hatte. Das Hauptziel Heynes ist, mittels der Gründung einer ‚Altertumswissenschaft‘ und einer diese ergänzenden ‚Sachphilologie‘ die ‚Bildung‘ der neuen Generation zu fördern. 1759 kommt auch Johann Christoph Gatterer nach Göttingen und gründet dort im Jahr 1764 die Historische Akademie, die ab 1766 Historisches Institut heißt, und übernimmt die Lehre in den sogenannten Historischen Hilfswissenschaften (Chronologie, Diplomatik, Genealogie, Geographie, Heraldik und Numismatik). Gatterer schlägt vor, von einer „Universalhistorie“, die sich mit weit zurückliegenden vorchristlichen Epochen auseinandersetzen muss, über die man nur sehr wenig weiß, zu einer „Völkergeschichte“ überzugehen, die die Nationalcharaktere der Völker aufwertet und sich entsprechend mit der griechischen und römischen Geschichte und deren Kulturen beschäftigt.11 Etwa zehn Jahre später findet man in Heynes Sammlung antiquarischer Aufsätze (1778–1779) konsternierte Hinweise auf die Geschichte der Kunst des Alterthums.12 Kritisiert wird beispielsweise Winckelmanns irrtümliche Berechnung der Kriegs- und Friedenszeiten in Bezug auf die Olympiaden13 sowie viele weitere ‚Fehleinschätzungen‘. Wir gehen jedoch ein Jahr zurück, und zwar in das Jahr 1777, und wenden uns jener Schrift zu, die der Göttinger Philologe als Antwort auf die bekannte Preisfrage der vom Landgrafen Friedrich II. von Hessen-Kassel gegründeten Fürstlichen Akademie der Alterthümer einreichte: „Eloge de Winkelmann dans lequel on fera entrer le point où il a trouvé la science des Antiquités et à quel point il l’a laissé“. Gleich zu Beginn seiner Lobschrift hält Heyne fest, dass es ihm von Anfang an nicht um einen Panegyrikus auf Winckelmann gegangen sei, sondern vielmehr darum, den Stand des von Winckelmann Erreichten zu bilanzieren sowie um die 11

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Johann Christoph von Gatterer: Vom historischen Plan, und der darauf sich gründenden Zusammenfügung der Erzählungen. In: Allgemeine historische Bibliothek von Mitgliedern des königlichen Instituts der historischen Wissenschaften zu Göttingen. Halle 1767, S. 15–89, hier S. 17f. Heyne: Sammlung (wie Anm. 8), S. 170. Ebd., S. 187f.

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Frage nach der Qualität seiner Arbeit.14 Zuerst werden die Kompetenzen und Anstrengungen aufgezählt, die ganz allgemein mit der Erforschung der Reste der Vergangenheit verbunden sind, darunter die Kenntnis Roms und Griechenlands, wie auch der Ideen und Bräuche der Heldenzeiten und der Fabellehre in ihren verschiedenen Stadien.15 Dann folgt ein kurzer Exkurs zum Bildungsweg des Autors der Geschichte der Kunst. Winckelmanns Einbildungskraft sei durch die Bilder Homers und Platons genährt worden, die den Boden für sein Verständnis der Mythologie bereitet hätten. Anschließend beleuchtet Heyne den Zustand, in dem sich die antiquarische Forschung befand, als Winckelmann überhaupt begann, sich näher mit ihr zu beschäftigen. So sei diese hauptsächlich auf die Epigrafik und die Numismatik ausgerichtet gewesen. In diesem ersten Teil des Textes legt Heyne sein programmatisches Manifest dar: Die erste Regel bey der Hermeneutik der Antike sollte doch wohl diese seyn: Jedes alte Kunstwerk muß mit den Begriffen und in dem Geiste betrachtet und beurtheilt werden, mit welchen Begriffen und in welchem Geiste der alte Künstler es verfertigte. Man muß sich also in sein Zeitalter, unter seine Zeitverwandte versetzen, diejenigen Kenntnisse und Begriffe zu erreichen suchen, von denen der Künstler ausging [...].16

Winckelmanns Verdienst, die eigenen antiquarischen Studien in die richtige Richtung gelenkt zu haben, nämlich in die der Kunstgeschichte, fällt im Weiteren mit der zusammenfassenden Beschreibung seines Einlebens in Rom zusammen.17 Hier habe er seine besondere Sensibilität für die antike Kunst gewonnen, die von den Forschern bislang noch nicht ausreichend untersucht und verstanden worden war. Winckelmann erscheint so glücklich in seine klassischen Studien versunken, dass er es unterlässt, die eigene Vision der Kunst in ein Korpus von Künstlerbiografien zu übertragen; er beschäftigt sich so entschieden mit der bildenden Kunst, dass er sich nicht bei trockenen Erörterungen aufhält, die keinen Bezug zu künstlerischen Artefakten haben. Gleichwohl ist bemerkenswert, dass Heyne unterstreicht, Winckelmann habe seinen Sinn für das Schöne und für die Kunst „aus Deutschland“ mitgebracht, zusammen mit einer großen Kenntnis der klassischen Quellen. Der direkte Kontakt aber mit einer großen Anzahl antiker Kunstwerke in Rom, sein Verlangen, die privaten Sammlungen der Stadt zu besichtigen, die einzelnen Statuen des Belvedere zu beschreiben, den Verlauf des Niedergangs der Künste in 14 15 16

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Heyne: Lobschrift (wie Anm. 2), S. 3f. Ebd., S. 5. Ebd., S. 13f. Man bemerke, wie viel programmatischer der von Heyne benutzte Ausdruck „Hermeneutik der Antike“ gegenüber der weniger prägnanten Definition „kritische Regel für den Altertumsforscher“ („regola di critica per un Antiquario“) ist, die von Amoretti gebraucht wird. Vgl. Elogio di Winkelmann del Sig. Christ. Gottl. Heyne. In: [Winckelmann:] Storia (wie Anm. 3), S. xliv und Elogio di Winkelmann del Sig. Christ. Gottl. Heyne. In: [Winckelmann:] Storia (wie Anm. 4), S. lxvii. Heyne: Lobschrift (wie Anm. 2), S. 16f.

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verschiedenen Epochen zu kommentieren, das Thema der Restaurierungen zu behandeln und die dunklen Passagen der antiken Mythologie zu interpretieren, hätten jedoch zu einer ‚Konfusion‘ der Inhalte der Geschichte der Kunst und der Monumenti antichi inediti geführt. Die These liegt nahe, dass Heynes Klage darüber, dass Winckelmanns Kunstgeschichte, „in dem Plan und in der Stellung der Theile und der Sachen, eine vollkommene Helle und Licht“18 vermissen lasse, von Amoretti und Fea als Lizenz gewertet wurde, den Aufbau der Geschichte der Kunst umzustrukturieren und mit einem großen Apparat kritischer Anmerkungen auszustatten.19 In Feas Fall kann man auf eine der Ausgabe von 1783–1784 in den Fussnoten beigefügte Bibliographie zurückgreifen, die auf der Basis von Reiseberichten über Länder und Völker erstellt wurde, die sogar den Blick bis auf die asiatischen Kulturen von China und jenen von Südamerika ausdehnen. Ein zentraler Bezugspunkt für Fea ist dabei das von ihm wiederholt in den Anmerkungen zitierte Werk von Antoine-Yves Goguet De l’origine des loix, des arts, et des sciences; et de leurs progrès chez les anciens peuples, das dieser 1758 in Zusammenarbeit mit Alexandre-Conrad Fugère veröffentlicht hatte.20 Dazu später. Neben der Kritik an Winckelmann findet sich in Heynes Lobschrift auch die Anerkennung seiner Verdienste, etwa wenn Heyne anmerkt, dass der gebürtige Stendaler im Besitz allen zur Erforschung der Antike erforderlichen Wissens gewesen sei, und er eine richtige Rangordnung zwischen bedeutsamen Artefakten und weniger wichtigen Werken, je nach ihrem Gebrauch und Zweck, erstellt ha-

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Ebd., S. 19. Stefano Ferrari erinnert daran, dass Amoretti erst im letzten Moment entschied, die Lobschrift auf Winkelmann in der von ihm herausgegebenen mailändischen Ausgabe zu veröffentlichen. Zuvor hatte er 1778 in einer Rezension, die in den Opuscoli scelti sulle scienze e sulle arti (Nr. 1 [1778], S. 43f.) erschienen und den historisch-philologischen Ideen von Heyne in der Sammlung antiquarischer Aufsätze gewidmet war, erklärt, dass er sowohl die in dessen Abhandlungen enthaltenen Informationen als auch die in der Lobschrift ausgedrückten Kritiken an dem Autor der Geschichte der Kunst beherzigen würde. Vgl. Stefano Ferrari: Carlo Amoretti e la Storia delle Arti del Disegno (1779) di Winckelmann. In: Paesaggi europei del Neoclassicismo, hg. v. Giulia Cantarutti u. Stefano Ferrari. Bologna 2007, S. 191–212, hier S. 206f. Antoine-Yves Goguet: De l’origine des loix, des arts, et des sciences, et de leurs progrès chez les anciens peuples. 3 Bde. Paris 1758; die italienische Ausgabe erschien 1761 in Lucca mit einer Übersetzung von Giovanni Riccomini, die deutsche zwischen 1760 und 1762 in Göttingen. Zwischen 2001 und 2007 wurden einige sehr interessante Beiträge über das Werk von Goguet veröffentlicht, die hier angeführt werden: Hans Holzkamp: Ursprungsgeschichte und Tradition bei Antoine-Yves Goguet. In: Kritik der Tradition. Hella Tiedemann-Bartels zum 65. Geburtstag, hg. v. Achim Geisenhanslüke u. Eckart Goebel. Würzburg 2001, S. 147– 167; Johannes Rohbeck: La philosophie de l’histoire chez Antoine-Yves Goguet: Chronologie biblique et progès historique. In: Dix-Huitième Siècle 34 (2002), S. 257–266; John Greville Agard Pocock: Barbarism and Religion. Bd. 4: Barbarians, Savages and Empires. Cambridge 2005, S. 37–64 u. passim; Nathaniel Wolloch: „Facts, or Conjectures“: Antoine-Yves Goguet’s Historiography. In: Journal of the History of Ideas 68 (2007), H. 3 (Juli), S. 429–449.

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be.21 In seiner Eigenschaft als Historiker, der anlässlich der Einweihung des Göttinger Instituts den Satz „historicis argumentis fidem faciunt“ formulierte,22 hält Heyne Winckelmann außerdem zugute, dass seine Monumenti antichi inediti mit Informationen aus erster Hand angereichert seien, also direkt von Ausgrabungen in Rom und Umgebung stammten, ganz so, wie zu Zeiten des Malers und Kupferstechers Pietro Sante Bartoli, der unter anderem die Istoria universale von Bianchini illustriert hatte.23 Zusammenfassend lässt sich sagen: Heynes Insistieren auf der Notwendigkeit, die verschiedenen Entwicklungsstufen der mit Kunstwerken verbundenen Erzählung (Fabula oder Mythos) zu rekonstruieren, ist mit seinem Interesse an der Historisierung der Gräzität in ‚komparativer‘ Perspektive verbunden, die einen anderen Weg eröffnet als Winckelmanns ‚probabilistische‘ Methode. Dieser hatte in der Tat dadurch, dass er das künstlerische Vermögen der Griechen von klimatisch und politisch günstigen Bedingungen abhängig machte, die enge Verbindung zwischen Altertumskunde und Geschichte, und damit zugleich auch die Möglichkeit, die klassische Philologie ‚materiell‘ werden zu lassen, gelockert, und sie stattdessen mit ideellen Vorstellungen eines platonisierenden Geschmackes umhüllt. Fea erfasst die Gesamtheit dieser Desiderate, reagiert jedoch mit einer doppelten Operation: Einerseits antwortet er kohärent auf Heynes Appell, die moderne Erforschung der antiken Kulturen wieder auf eine historische Ebene zurückzuführen, indem er die Kunst als eine von vielen Ausdrucksformen dessen begreift, was er in einer Anmerkung immer noch als „universelle Geschichte“ bezeichnet. Gleichzeitig und in relevanter Weise zitiert er Goguet, der die Geschichte der Menschheit in drei Hauptepochen eingeteilt hatte, die der „unbekannten Zeiten“, der „fabelhaften und heldenhaften Zeiten“ und der „historischen Zeiten“. Andererseits nutzt Fea die Gelegenheit dazu, die in Rom und Umgebung rege durchgeführten Ausgrabungen publik zu machen. Dabei ist es sein Ziel, „das Ansehen des Museo Pio-Clementino zu erhöhen, das man dem Bemühen des gloriosen Mäzens [gemeint ist Papst Pius VI., E. A.]“24 verdanke, und damit auf den intensiven wissenschaftlichen Austausch aufmerksam zu machen, der sich, nicht zuletzt dank des wichtigen archäologischen Beitrages von Giovanni Ludovico Bianconi, um die Antologia Romana entwickelt hatte.

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Heyne: Lobschrift (wie Anm. 2), S. 20. Vgl. den grundlegenden und immer noch aktuellen Beitrag von Arnaldo Momigliano: Ancient History and the Antiquarian. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 13 (1950), H. 3/4, S. 285–315, hier S. 302. Heyne: Lobschrift (wie Anm. 2), S. 22. Siehe Feas Anmerkung zu Heynes Elogio in: [Winckelmann:] Storia (wie Anm. 4), S. lxxviii, Anm. B („il pregio del Museo Pio-Clementino, che [si deve] alle premure dello stesso glorioso Regnante“).

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III. Zwischen biblischer Chronologie und historischem Fortschritt. Von der Istoria Universale Bianchinis zu Goguets De l’origine des loix, des arts, et des sciences Folgt man den Ausführungen Arnoldo Momiglianos in seinem Essay Preludio settecentesco a Gibbon, so war das Vorhandensein von Büchern über die antike Welt im 18. Jahrhundert eine „Neuheit“ („novità“). Gemeinhin habe man sich damit begnügt, die antiken Quellen zu lesen, dabei geringfügige Korrekturen anzubringen und über ihre Lehren nachzusinnen.25 Andererseits gab es ‚Universalgeschichten‘, unter denen die von Francesco Bianchini deutlich heraussticht. Sie wird nicht nur mehrfach von Winckelmann zitiert,26 sondern aufgrund ihres Bezugs auf die Heilige Schrift insbesondere auch von Amoretti und Fea als Exponenten katholischer Kultur geschätzt.27 In der Istoria Universale von Francesco Bianchini aus dem Jahr 169728 konnte Winckelmann, wenn schon keine konkrete Grundlage historiografischer Art, so doch zumindest eine solide Rechtfertigung für seine Bezugnahme auf die ältesten Völker finden, über die man nur wenig wusste, insbesondere die Ägypter, Perser und Etrusker.29 Auch wenn eine chronologische Darstellung der Geschehnisse wie diejenige Bianchinis in der Mitte des 18. Jahrhunderts aufgrund ihres komplexen Aufbaus überholt zu sein schien, konnte sie dennoch mit dem Fortschrittsbegriff more geometrico illustrato verbunden werden, wie er von Fontenelle in seinem Entretiens sur la pluralité des mondes (1686) eingeführt worden war – und dies zu einem Zeitpunkt, als die Querelle des Anciens et des Modernes, aus der Winckelmann breite Passagen exzerpiert, gerade ihren Höhepunkt erreicht hatte.30 Darüber hinaus verschaffte die Istoria Universale Winckelmann, der als Gelehrter Zugang zu den römischen Kreisen um Bianchini hatte,31 ein kulturelles Alibi und ein Vor25

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Arnaldo Momigliano: Preludio settecentesco a Gibbon. In: Ders.: Sui fondamenti (wie Anm. 1), S. 312–327, hier S. 317 („ci si accontentava di leggere le fonti antiche, apportandovi correzioni marginali e meditando sui loro insegnamenti“). Im Versuch einer Allegorie besonders für die Kunst (1766), in den Monumenti antichi inediti (1767), sowie in den Editionen von 1764 und 1776 der Geschichte der Kunst des Alterthums. Salvatore Rotta: Francesco Bianchini. In: Dizionario Biografico degli Italiani (Treccani). Bd. 10 (1968), S. 187–194; konsultierbar unter URL: http://www.treccani.it/enciclopedia/ francesco-bianchini_(Dizionario-Biografico)/ [10. September 2019]. Ein Zeugnis dafür, wie Bianchini immer versuchte, seine Behauptungen diesbezüglich zu belegen, findet sich in Kapitel IV der Einleitung. Siehe Francesco Bianchini: La Istoria Universale provata con monumenti, e figurata con simboli de gli antichi. Rom 1697, S. 36. Vgl. z.B. Winckelmann: Geschichte der Kunst (= SN 4,1, S. 118f.). Vgl. Benjamin Steiner: Die Ordnung der Geschichte. Historische Tabellenwerke in der Frühen Neuzeit. Köln, Weimar u. Wien 2008, S. 296–302. Vgl. die Kap. I und II des zweiten Teils der Monografie von Elisabeth Décultot: Johann Joachim Winckelmann. Enquête sur la genèse de l’histoire de l’art. Paris 2000, S. 81–117. Bianchini war Wissenschaftler im Dienst beim Onkel seines Mentors Alessandro Albani (1692–1779), d.h. bei Kardinal Giovanni Francesco (1649–1721), der mit dem Namen Clemens XI. zum Papst ernannt wurde.

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bild, mit dem er eine Unternehmung rechtfertigen konnte, die in ihrer Gesamtheit auf die heidnische Welt fokussiert war. Schon das unvollendete Werk Bianchinis aber war vor der Zeit Christi stehen geblieben, obwohl es ursprünglich als „Kirchengeschichte“ angelegt war. Die zahlreichen Anmerkungen, mit denen Amoretti sich dann auf die antiquarischen Untersuchungen Bianchinis bezieht, um sie mit deskriptiven Passagen über römische Artefakte aus archäologischen Schriften zu vergleichen, wie etwa der Nachlassschrift Del palazzo de’ Cesari (1723) oder Camera ed Inscrizioni Sepulcrali de’ Liberti, Servi, ed Ufficiali della Casa di Augusto scoperte nella Via Appia [...] (1727),32 bieten Fea wiederum einen Ansatzpunkt, um in seiner eigenen Ausgabe mit der Aufwertung der antiken römischen Kunstkultur fortzufahren. Diese hält dem Vergleich mit Winckelmanns griechischer Kunstkultur stand,33 wie schon weiter oben bezüglich seiner im dritten Band der römischen Ausgabe von Winckelmanns Geschichte der Kunst enthaltenen Abhandlung angedeutet wurde.34 Der entscheidende Wendepunkt in seinem Dialog mit Heyne findet sich in einer Anmerkung Feas zu dessen Lobschrift:35 Si dovrebbe questo metodo adattare in certo modo [...] che potesse giovare ad illustrare la storia universale, e particolare delle nazioni, i loro costumi, scienze, ed arti, religione, governo ec. Il signor Goguet tra gli altri, se avesse chiamata in ajuto l’antiquaria avrebbe potuto scifrare molte difficoltà, e illustrare di più la sua celebratissima, e insigne opera della Origine delle leggi, delle arti, e delle scienze, e dei loro progressi presso gli antichi popoli [...] che noi daremo, dopo la pubblicazione di questa, egualmente corredata di annotazioni, e diligentemente riveduta col rincontro anche delle citazioni.36

Feas – nie ausgeführtes – Vorhaben war es also, eine kommentierte italienische Ausgabe des Werks von Goguet herauszugeben, die auch jenen Teil berücksichtigen würde, der, wie er in der Anmerkung ausführt, im Werk des Franzosen fehle, und zwar eine gründliche Analyse der Kunstwerke der verschiedenen Völker. Eine solche Ausgabe hätte, wie auch Winckelmann selbst zu Beginn seines Vorwortes 32 33

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Vgl. Rotta: Francesco Bianchini (wie Anm. 27), S. 187–194. Ein Blick auf die Inhaltsverzeichnisse der beiden italienischen Ausgaben zeigt eine umgekehrte Reihenfolge im Vergleich zur deutschen. Der Behandlung des „meccanismo della scultura“/„Von dem Mechanischen Theile der Griechischen Bildhauerey“ folgt in Buch VII des Indexes der Editionen von Amoretti und von Fea die Behandlung der „Progressi e decadenza dell’arte presso i Greci“/„Von dem Wachstume und dem Falle der Griechischen Kunst“ (Capo I–III), aber auch „presso i Romani“ (Capo IV)/ „Fortschritte und Verfall der Kunst bei den Griechen“ (Capo I–III), aber auch „bei den Römern“ (Capo IV). Siehe oben, S. 196. Heyne: Elogio. In: [Winckelmann:] Storia (wie Anm. 4), Bd. 1, S. lxxx. Ebd., Anm. B („Man müsste diese Methode auf eine Weise [...] anpassen, dass sie dabei helfen könnte, die Universalgeschichte, im Besonderen die der Nationen, ihrer Bräuche, Wissenschaften, Künste, Religionen, Regierungen usw. zu illustrieren. Herr Goguet unter anderen hätte, wenn er die antiquarische Forschung um Hilfe gebeten hätte, viele Schwierigkeiten lösen und sein berühmtes und gefeiertes Werk Origine delle leggi, delle arti, e delle scienze, e dei loro progetti presso gli antichi popoli [...], das wir, nach dieser Veröffentlichung, herausgeben werden gleichermaßen ausgestattet mit Anmerkungen und genauer Überprüfung auch der Zitate.“).

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(„Prefazione“) zu den Monumenti antichi inediti nahelegt, dabei helfen können, „einen Großteil von Passagen der altertümlichen Autoren zu korrigieren und zu illustrieren“.37 Der entscheidende Punkt dabei ist, dass Fea beabsichtigt, auf diese Weise die Rangordnung zwischen Philologie und Kunstgeschichte umzukehren und dabei zur Geltung kommen zu lassen, was Heyne meinte, als er schrieb, dass Winckelmann in Rom „gewahr [wurde], daß Alterthumskunde für die Kunstkenntnis das Kostume ist.“38 Das Beispiel eines Historikers der Zivilgesellschaft wie Goguet, der die menschlichen Fortschrittsprozesse aufmerksam beobachtete, dient dazu, eine Verbindung zwischen dem Modell der vergangenen „Universalgeschichten“, dem der ihm bekannte und geschätzte Bianchini zum Teil angehörte,39 und der Völkergeschichte herzustellen, die wiederum von der Göttinger Schule angestrebt wurde. In der von Fea herausgegebenen dreibändigen Storia delle arti del disegno presso gli antichi wird Goguet insgesamt 34 Mal zitiert, wobei auch die vorherigen Erwähnungen durch Amoretti berücksichtigt sind, der sein Werk auf eine eher ‚technische‘ Weise gut kannte und schätzte. Im ersten Band bezieht sich Fea besonders häufig auf Goguet, im zweiten Band dann nur noch einmal und im dritten Band viermal. Nachdem er in den Fußnoten auf das Werk von Goguet verwiesen hat, indem er seine Meinung bezüglich der Entstehung der Künste mit Winckelmanns Darstellung der Ursprünge ägyptischer und griechischer Kunst konfrontiert, widmet sich Fea einem der heikelsten theoretischen Punkte der Geschichte der Kunst des Alterthums. Winckelmann vertritt hier nämlich die Ansicht, dass viele griechische Gelehrte sich nach der Eroberung ihrer Territorien durch die Perser nach Ägypten begeben hätten, um sich dort lediglich auf philosophisch-juristischem Gebiet weiterzubilden, und eben gerade nicht, um die Geheimnisse der bildenden Künste zu erlernen.40 Der gegenseitige Austausch zwischen den Kulturen ist aber die Grundlage für eine potenzielle künstlerische Weiterentwicklung und Fea fühlt sich in der

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Winckelmann: Monumenti Antichi Inediti. Spiegati ed illustrati da Giovanni Winckelmann Prefetto delle Antichità di Roma. Rom 1767, S. XV/XVI (= SN 6.1, S. 15: „a correggere ed illustrare un gran numero di passi degli antichi scrittori”). Heyne: Lobschrift (wie Anm. 2), S. 16. Vgl. Helmut Zedelmaier: Der Anfang der Geschichte. Studien zur Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert. Hamburg 2003, S. 193: „Goguet verfaßte die erste umfassende Synthese zur Kultur- und Zivilisationsgeschichte antiker Völker. Er verarbeitete dazu eine große Fülle frühneuzeitlicher Forschungen, besonders jene kleinen und kleinsten gelehrten Spezialstudien, die in gelehrten Zeitschriften wie dem Journal des Savants, dem Journal de Trévoux oder der Bibliothèque universelle et historique seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erschienen waren […]. Universalhistorische Synthesen benutzte Goguet dagegen kaum. Eine Ausnahme ist nur Francesco Bianchinis („einer der scharfsinnigsten Kunstrichter unseres Jahrhunderts“) Storia universale.“ [Winckelmann:] Storia (wie Anm. 4), S. 12. Die Hauptquelle für seine Betrachtungen ist das Buch I der Bibliotheca historica von Diodorus Siculus, der zwischen 60 und 56 v. Chr., d.h. während der 180. Olympiade, eine Reise nach Ägypten unternahm.

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Pflicht, Winckelmann etwas indigniert daran zu erinnern, dass viele Künstler nach Ägypten gereist seien, um auch die bildenden Künste zu erlernen und um ein konkretes Zeugnis ihrer Reise zu hinterlassen, wie auch, dass Griechenland einige ägyptische Kolonien aufnahm. Fea beruft sich dabei auf Goguet, aber auch auf die Lezioni di storia von Aurelio de’ Giorgi Bertola sowie auf Carlo Deninas Istoria politica e letteraria della Grecia (1781–1782) und Paolo Antonio Paolis Della religione de’ gentili (1771).41 Der Lektüre von Goguets Werk kann man entnehmen, dass er den Ursprung der griechischen Kultur in dem ägyptischen und phönizischen Imperalismus sah, und ihn als Frucht einer ersten, von Saturn, Jupiter, Neptun und Pluton dominierten afro-asiatischen Welle betrachtete, die alle auch von den Griechen vergöttert wurden. Diesem folgte eine zweite Welle von Ägyptern, die die Wurzeln der Zivilisationen von Athen und Argo gebildet hätten. Im Gegenzug dazu sei die Eroberung Persiens und Ägyptens durch Alexander eine Vergeltung für diese territoriale Inbesitznahme gewesen. Hier findet man den Keim der ersten großen indirekten Widerlegung der Theorie Winckelmanns bezüglich der Entstehung der höchsten Formen von Zivilisation und Kunst aus Freiheit und Demokratie: Goguet stellt sich in die gleiche Linie wie Bossuet und Voltaire, die in der schützenden Monarchie die beste Grundlage für die kulturelle und künstlerische Blüte eines Volkes sahen.42 Goguet erklärt in seinem Vorwort, dass er anfänglich die Absicht gehabt hätte, sein Werk in drei Bücher einzuteilen, von denen eines dem Gesetz, eines den Künsten und ein anderes den Wissenschaften gewidmet sein sollte.43 Dann aber zog er einen transversalen Vergleich zwischen den Geschichten der antiken Völker vor und fügte seinem Werk „une Table Chronologique qui présente d’un seul coup d’œil & sur la même ligne, les principaux événements arrivés dans les mêmes siécles chez les differens Peuple“ hinzu.44 Die intellektuelle Redlichkeit, mit der Goguet erklärt, Anmerkungen angebracht zu haben, die einerseits „à l’éclaicissement du texte de l’Ouvrage“ dienen und andererseits „à discuter & à rèsoudre [...] les difficultés & contradictions qui se rencontrent souvent dans l’Histoire des Anciens Peuples“45 (wobei mit einem Exkurs vom Turmbau zu Babel bis zur Rückkehr der Juden aus der babylonischen Gefangenschaft auch die biblische Chronologie berücksichtigt wird), hat Fea in seiner Anstrengung bestärkt, die 41 42 43 44

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Ebd., S. 12, Anm. A von Fea. Pocock: Barbarism (wie Anm. 20), S. 61. [Antoine-Yves Goguet]: Preface. In: Ders.: De l’origine des loix, des arts et des sciences; et de leurs progrès chez les anciens peuples. 6 Bde. 2. Aufl. Paris 1759, hier Bd. 1, S. v–xxxviii. Ebd., S. xxvjjj-xxjx („eine chronologische Tafel, die die wichtigsten, bei verschiedenen Völkern im selben Zeitalter vorgekommenen Ereignisse überblicksartig & auf der selben Linie darstellen“). Ebd., S. xxjx („zur Erhellung des Textes des Werkes [dienen]“; „die Schwierigkeiten & Widersprüche, denen man oft in der Geschichte der alten Völker begegnet, besprechen und überwinden“).

Historiografische Grundlagen

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Epoche der Mutmaßungen und die Bedingtheit des Winckelmann’schen Lehrgebäudes, das den Vorrang der griechischen Kunst voraussetzt, zu überwinden und eine Neueinschätzung der römischen Künste und Handwerke gegenüber den griechischen zu finden. Die den Athenern und Griechen im Allgemeinen gewidmeten Abschnitte enthalten Goguets schärfste Äußerungen. Das Primat der Kenntnisse und kulturellen Überlegenheit besäßen mitnichten die Griechen, die sich nur sehr spät in einer Gesellschaft organisiert hätten und die „ont vécu dans les premiers tems d’une maniere si brutale & si sauvage, que l’Histoire n’a pas daigné y faire attention, & nous conserver des détails dont l’humanité auroit tant à rougir“.46 Nicht das formale künstlerische Ideal in klimatisch günstigen Bedingungen, oder die Unabhängigkeit von einer Herrschaftsgewalt sind für den Franzosen die erste Quelle der Kunst eines Volkes, sondern vielmehr die „Notwendigkeiten“ („besoin“, „necessité“), die von der Wirtschaft des Territoriums, den Gesetzen und der Politik diktiert werden. Goguet musste sich aber seinerseits von den eigenen Widersprüchlichkeiten befreien, hatte er doch den Beginn der Geschichte zeitgleich mit der Sintflut datiert, und konnte somit keine theoretische Erkenntnis der effektiven „Nicht-Simultanität“ der Kulturen beweisen.47 Fea versucht also die Tradition der römischen Altertumswissenschaft gegen das Primat der griechischen zu verteidigen, wie es in Winckelmanns Geschichte der Kunst propagiert wird. Er bedient sich dabei Heynes Lobschrift, um die Zeitwende von den traditionellen philologischen Studien über die Antike zum neuen Konzept einer archäologischen Altertumswissenschaft, die auf einer näheren Analyse der Denkmäler basiert, hervorzuheben, wie auch, um die römischen Ausgrabungen in den Mittelpunkt des internationalen wissenschaftlichen Interesses zu stellen. Die Ausgabe von Winckelmanns Werken in zwölf Bänden, die zwischen 1830 und 1834 in Italien beim Verlag Giachetti publiziert wurde, bezeugt die spätere Absicht, das Werk des berühmten Antiquars nun in seiner Gesamtheit bekannt zu machen. Dieses Unterfangen wurde durch die zuvor von Eiselein zwischen 1825 und 1829 herausgegebene Ausgabe der Sämtlichen Werke ermöglicht. Anders jedoch als bei Eiselein, der die Schriften Winckelmanns in chronologischer Reihenfolge abdruckt, rückt die italienische Werkausgabe die Geschichte der Kunst des Alterthums wieder ins Zentrum und unterstreicht damit die besondere Bedeutung des Beitrages von Amoretti und Fea zur Geschichte der altertumswissenschafltlichen Studien.48

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Ebd., Bd. 4, Livre VI, cap. III, S. 369–395, hier S. 369 („haben in den ersten Zeiten auf so brutale & wilde Weise gelebt, das die Geschichte es nicht einmal für nötig erachtet hat, darauf aufmerksam zu werden und Einzelheiten für uns aufzubewahren, über die die Menschheit sich so sehr schämen würde“). Rohbeck: La philosophie (wie Anm. 20), S. 259. Stefano Ferrari: Publikationsgeschichte, Übersetzungen und Editionsgeschichte (1755–1834). In: Winckelmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Martin Disselkamp u. Fausto Testa. Stuttgart 2017, S. 330–339, hier S. 337.

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„Winkelmanns Historismus“ Zu einer Formel Friedrich Schlegels und ihrer (Nicht-)Rezeption in Deutschland und Italien, zugleich ein Plädoyer für einen komplexeren Historismusbegriff Ein Thema und zugleich ein Paradigma, bei dem sich die Geisteswissenschaften in Deutschland und Italien traditionell vergleichsweise nahestehen, ist der Historismus, italienisch storicismo. Gleich vorweggeschickt sei, dass die beiden Begriffe keineswegs ganz dasselbe bezeichnen, so wie auch jeder für sich nicht einheitlich gebraucht wird. Wir haben es nicht mit einer integralen, teils auf Deutsch, teils auf Italienisch geführten Diskussion zu tun, wohl aber mit Interferenzen und vor allem mit einer starken Rezeption deutscher Geschichtstheorie und Philosophie in Italien. Historisch zu denken, also alles Soziale und Kulturelle als wesentlich von den jeweiligen Umständen bedingt und geprägt zu begreifen, das ist in den deutschen wie italienischen Geisteswissenschaften traditionell und bis heute wichtiger als in Frankreich oder im anglophonen Bereich.1 Bezeichnenderweise hat sich der englische Parallelbegriff historicism vor allem durch seine scharf kritische Verwendung in Karl Poppers Poverty of Historicism (Aufsatz 1944/45, Buch 1957) etabliert, wo er geschichtsphilosophisch begründete, antipluralistische Welterklärungen mit Überlegenheitsanspruch bezeichnet,2 also etwas ganz anderes als das Denken, das die Protagonisten der deutschen und italienischen Diskussion, Friedrich Meinecke und Benedetto Croce, meinen, das kontextualisierend und dadurch relativierend verfährt und idealerweise höchst selbstreflexiv ist. Was hat das mit Winckelmann und der nationale Grenzen überschreitenden Wirkung seines Werks zu tun, die das Tagungsthema bilden? Ursprünglich sehr viel. Denn der Begriff ‚Historismus‘ findet sich zum ersten Mal in einigen von Winckelmann ausgehenden Notizen, die sich Friedrich Schlegel 1797 in Vorbereitung eines geplanten Aufsatzes über die Philologie und deren Aufgabe und Prinzipien gemacht hat.3 Die wiederholte Berufung auf den Verfasser der Geschichte der 1

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Vgl. Pietro Rossi: „Storicismo“ und Historismus. In: Arnold Esch u. Jens Petersen (Hg.): Geschichte und Geschichtswissenschaft in der Kultur Italiens und Deutschlands. Wissenschaftliches Kolloquium zum 100jährigen Bestehen des Deutschen Historischen Instituts in Rom (24.–25. Mai 1988). Tübingen 1989, S. 39–69, hier S. 69. Vgl. das Lemma „historicism, n.“ im Oxford English Dictionary (OED Online), URL: http://www.oed.com/view/Entry/87304 [30.10.2018]. Vgl. Friedrich Schlegel: Zur Philologie I. In: Ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe [im Folgenden als KFSA zitiert]. 35 Bde. Hg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung v. Jean-Jacques Anstett u. Hans Eichner. München 1958ff. Bd. 16: Fragmente zur Poesie und Literatur I. Hg. v. Hans Eichner. Paderborn 1989, S. 33–56, hier S. 35 (Nr. 9), 37 (34), 38 (36) u. 41 (73).

https://doi.org/10.1515/9783110710373-012

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Kunst des Alterthums (1764) und der ebenfalls wiederkehrende Neologismus Historismus erklären sich dort gegenseitig, so meine These, mit der ich mich gegen die herrschende Ansicht wende, Schlegel gebrauche seinen neuen Begriff „zu sporadisch [...], als daß man ihn definitorisch nachvollziehen könnte“, wie Stefan Matuschek schreibt.4 So erhellend Matuschek den Einfluss Winckelmanns auf Herders und Schlegels Literaturgeschichtsschreibung darlegt – die gerade zitierte Einschätzung von Schlegels Historismusbegriff scheint korrekturbedürftig. Was Schlegel mit ‚Historismus‘ meint, können wir nicht zuletzt aus dem erschließen, was er an Winckelmann lobt, während sich seine Begeisterung für Winckelmann als in dessen zugleich normativ und genealogisch interessierter Behandlung der Geschichte gegründet darstellt. Konsequenterweise fließen Name und Neologismus an einer Stelle in der für Schlegel nicht weiter erläuterungsbedürftigen Formel „Winkelmanns Historismus“ zusammen.5 Zunächst sei das von Winckelmann ausgehende Historismus-Verständnis Friedrich Schlegels rekonstruiert. Es handelt sich um einen Musterfall produktiver Rezeption – die in der lebhaften Diskussion über den Historismus bzw. storicismo, die im 20. Jahrhundert geführt wurde, aber so gut wie keine Rolle gespielt hat, wie in einem zweiten Schritt gezeigt werden soll. ‚Winckelmanns Historismus‘ wiederzuentdecken, so wie ihn Schlegel gesehen hat, lohnt sich nicht nur im Interesse begriffsgeschichtlicher Genauigkeit. Vielmehr ist die von Schlegel im Anschluss an Winckelmann formulierte Position geeignet, eine konzeptionell komplexere sowie geistes- und kulturgeschichtlich treffendere Vorstellung von den Ambivalenzen zu gewinnen, die der im 18. Jahrhundert einsetzenden „Historisierung alles unseres Denkens über den Menschen, seine Kultur und seine Werte“ – so die berühmte Historismusdefinition von Ernst Troeltsch6 – eigen sind.

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So Stefan Matuschek: Winckelmänner der Poesie. Herders und Friedrich Schlegels Anknüpfung an die Geschichte der Kunst des Altertums. In: DVjs 77 (2003), S. 548–563, hier S. 557. Ähnlich Michael Schlott: Historismus. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Gemeinsam mit Harald Fricke u.a. hg. v. Klaus Weimar. Bd. 2. Berlin u. New York 2000, S. 58–62, hier S. 59: „Diesen Wortbildungen [bei Schlegel und Novalis, D. F.] liegt vermutlich keine festumrissene Konzeption zugrunde [...]. Der Beginn eines terminologischen und konzeptionellen Begriffseinsatzes ist erst für das Ende der 1830er Jahre nachweisbar.“ Schlegel: Zur Philologie I. In: KFSA (wie Anm. 3), Bd. 16: Fragmente zur Poesie und Literatur I, S. 35 (Nr. 9). Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie [1922]. In: Ders.: Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Friedrich Wilhelm Graf u. Gangolf Hübinger. Bd. 16.1–2. Hg. v. Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarb. mit Matthias Schloßberger. Berlin u. New York 2008, S. 159–1100, hier S. 281 (1. Teilbd.).

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I. Die Ursprünge des Historismusbegriffs in Schlegels Winckelmann-Fragmenten Schauen wir uns Schlegels Gedankengang genauer an. Der erste Eintrag in seinen Notizheften zur Philologie lautet: Der Unterschied des Klassischen und Progressiven ist historischen Ursprungs. Darum fehlt er den meisten Philologen. Mit Winkelmann fängt auch in dieser Rücksicht eine ganz neue Epoche an. Er hat den unermeßlichen Unterschied eingesehen, die ganz eigene Natur des Alterthums.7

Ganz klar ist das nicht. Ist mit dem „Klassischen“ und dem „Progressiven“ die Kunst oder Literatur einerseits der Antike, andererseits der Moderne charakterisiert und angesprochen? So verstand es der erste Herausgeber der Hefte zur Philologie, und so versteht es Stefan Matuschek.8 Dafür spricht Schlegels bekannte Charakterisierung der romantischen Dichtung als „progressive Universalpoesie“ in den Athenäums-Fragmenten von 1798,9 die sich ähnlich, wenngleich allgemeiner, auch schon in seinem unveröffentlichten Aufsatz „Vom Wert des Studiums der Griechen und Römer“ von 1795 findet, wo die Moderne als „System der unendlichen Fortschreitung“ bestimmt wird.10 In der zitierten Notiz scheint dafür auch die kurz darauf folgende, anscheinend parallele Betonung des „unermeßlichen Unterschied[s]“ und der „ganz eigene[n] Natur des Alterthums“ zu sprechen. Trotzdem sehe ich darin weder die einzig mögliche noch die quellentreueste Lesart. Es wäre, so meine These, kurzschlüssig, Schlegels Auffassung des Verhältnisses von Klassischem und Progressiven parallel zu seiner (scheinbar) klaren Disjunktion von Antike und Moderne zu erklären.11 7 8

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Schlegel: Zur Philologie I. In: KSFA (wie Anm. 3), Bd. 16: Fragmente zur Poesie und Literatur I, S. 35 (Nr. 1). Den Text in spitzen Klammern hat Schlegel nachträglich eingefügt. Vgl. Josef Körner: Friedrich Schlegels „Philosophie der Philologie“. Mit einer Einleitung. In: Logos 17 (1928), S. 1–72, hier S. 66; Matuschek: Winckelmänner der Poesie (wie Anm. 4), S. 557. Friedrich Schlegel: [Athenäums-]Fragmente. In: KFSA (wie Anm. 3), Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I [1796–1801]. Hg. v. Hans Eichner. Paderborn u.a. 1967, S. 165–255, hier S. 182 (Nr. 116). Friedrich Schlegel: Vom Wert des Studiums der Griechen und Römer. In: KFSA (wie Anm. 3), Bd. 1: Studien des klassischen Altertums. Hg. v. Ernst Behler. Paderborn u.a. 1979, S. 621– 642, hier S. 631. Klar disjunktiv ist die Stelle in Friedrich Schlegel: Fragmente zur Litteratur und Poesie [1797/98]. In: KFSA (wie Anm. 3), Bd. 16: Fragmente zur Poesie und Literatur I, S. 83–190, hier S. 104 (Nr. 336): „Die Antinomie der Antik[e] und d[er] Moderne hat Winkelmann zuerst gefühlt.“ Als einseitig und ergänzungsbedürftig stellt Schlegel die Trennung von Antike und Moderne dagegen im Athenäumsfragment Nr. 149 dar (KFSA [wie Anm. 3], Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I [1796–1801], S. 188f.): „Der systematische Winckelmann, der alle Alten gleichsam wie Einen Autor las, alles im ganzen sah, und seine gesamte Kraft auf die Griechen konzentrierte, legte durch die Wahrnehmung der absoluten Verschiedenheit des Antiken und des Modernen, den ersten Grund zu einer materialen Altertumslehre. Erst wenn der Standpunkt und die Bedingungen der absoluten Identität des Antiken und Modernen, die

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Tatsächlich erkennt Schlegel der Antike eine zyklische Entwicklungsstruktur („System des Kreislaufes“), der Moderne hingegen ein unendliches Fortschreiten zu.12 Die in der eben zitierten Notiz Nr. 1 angesprochenen Qualitäten des Klassischen und des Progressiven sind aber nicht deckungsgleich damit, sondern in beiden Großepochen möglich, so Schlegel. Die „Liebe für die Alten“ kann sich, wie er etwas später mit Bezug auf Herder bemerkt, sowohl auf deren „klassisch[e]“ als auch auf die „progressiv[en]“ Momente beziehen.13 Den Ehrentitel „Klassiker“ wiederum verleiht Schlegel durchaus auch deutschen Autoren seiner Zeit, und er vermerkt: „Die Alten können künftig einmahl in d[em] Classischen selbst übertroffen werden.“14 „Klassisch“ zu sein ist für ihn nicht den Alten vorbehalten, sondern „ist jedes Kunstwerk, welches ein vollständiges Beispiel für einen reinen ästhetischen Begriff enthält. Klassisch ist ein Gedicht schon, wenn es nur für irgendeine entschiedne Stufe der natürlichen Bildung in irgendeinem bestimmten Stil das vollkommenste seiner echten Art ist.“15 Als eigenes Arbeitsprinzip vermerkt er: „Studium des Classischen als Grundlage. (Damit nothwendig vereint das Studium des Progressiven.)“16 Das Klassische und das Progressive sind demnach nicht in der Weise „historisch[]“ unterschieden, dass sie sich auf Antike und Moderne verteilen. Mit dem „historischen Ursprung“ ihrer Unterscheidung – so die erste (Winckelmann-)Notiz – muss etwas anderes gemeint sein. Schlegel bewunderte Winckelmann als Historiographen der antiken Kunst, der die von beiden am höchsten geschätzte Epoche der Griechen als ihrerseits einer geschichtlichen Entwicklung unterworfen und deswegen als weitestgehende Annäherung an das Ideal des Schönen beschrieben hatte. Seinen 1797 erschienenen

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war, ist oder sein wird, gefunden ist, darf man sagen, daß wenigstens der Kontur der Wissenschaft fertig sei, und nun an die methodische Ausführung gedacht werden könne.“ Klarer als in seinen Notizen markiert Schlegel in diesem publizierten Fragment seinen Anspruch, über seinen „Meister“ hinauszugehen – auf welche Weise, erläutert er nicht. Hier anschlussfähig ist einerseits die Suche nach dem Vollkommenen oder Klassischen auch in der Moderne, so die Interpretation von Nobuyuki Kobayashi: Die Winckelmann-Fragmente Friedrich Schlegels. In: Leben und Geschichte. Studien zur deutschen Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. von dems., Lothar Knatz u. Takao Tsunekawa. Würzburg 2008, S. 69–97, hier S. 78–80, anderseits eine dialektische Überbietung, die Geschichte als in sich unendlich differenten, trotzdem aber zusammenhängenden Prozess entwirft – so meine unten weiter ausgeführte These. Zu Recht weist darauf hin Matuschek: Winckelmänner der Poesie (wie Anm. 4), S. 557. Das Zitat in der Klammer steht bei Schlegel: Vom Wert des Studiums der Griechen und Römer (wie Anm. 10), S. 631. Friedrich Schlegel: Zur Philologie II. In: KFSA (wie Anm. 3), Bd. 16: Fragmente zur Poesie und Literatur I, S. 57–81, hier S. 71 (Nr. 112). Vgl. Friedrich Schlegel: Georg Forster. Fragment einer Charakteristik der deutschen Klassiker [1797]. In: KFSA (wie Anm. 3), Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), S. 78– 100; Bd. 16: Fragmente zur Poesie und Literatur I, S. 94 (Nr. 111). Friedrich Schlegel: Über die Homerische Poesie [1796]. In: KFSA (wie Anm. 3), Bd. 1: Studien des klassischen Altertums, S. 116–132, hier S. 130. Schlegel: Zur Philologie I. In: KFSA (wie Anm. 3), Bd. 16: Fragmente zur Poesie und Literatur I, S. 37 (Nr. 23).

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Aufsatz „Über das Studium der Griechischen Poesie“ ergänzte er für die zweite Auflage um ein hymnisches Lob auf den Autor der Geschichte der Kunst des Alterthums. Winckelmann habe einerseits die schrittweise Entwicklung der antiken Kunst nachverfolgt („die ersten Anfänge und Keime, die höhern Stufen der Entfaltung, die Glieder und Teile des Ganzen, die Arten, Richtungen und Schulen, alles dieses treu beachtend und sorgsam würdigend“) und andererseits „den reinen Blick des Geistes stets auf die Idee des höchsten Schönen gerichtet“.17 Damit sind wir an einem entscheidenden Punkt: Die dauerhafte Normativität des Vollendeten – also das Klassische – lässt sich bei Winckelmann und nachfolgend auch bei Schlegel nicht von dessen Historizität ablösen, sondern hat eben darin ihr paradoxes Fundament, auch wenn beide Autoren parallel ihre platonische Schönheitsmetaphysik pflegten.18 Im Klassischen steckt mithin immer schon das Progressive, verstanden als unablässige Veränderung aller Verhältnisse in der Geschichte, als ein Fortschreiten, das im Fall des höchsten Fortschritts das Klassische hervorbringt. Schlegels ersten Satz darf man daher so auslegen, dass es darauf ankommt, das ‚Klassische‘ und das ‚Progressive‘ analytisch auseinanderzuhalten, obwohl es im Geschichtsprozess zusammenhängt. Es handelt sich primär um einen „Unterschied“ der Betrachtung oder Methode. Allein diese Lesart erklärt die unmittelbar folgende Kritik an „den meisten Philologen“, die ihn nicht machen. Die „meisten Philologen“ machen den „Unterschied des Klassischen und Progressiven“ nicht, weil sie nicht historisch denken (sagt Schlegel); würde es sich um einen Unterschied in der Sache – nämlich zwischen Antike und Moderne – handeln, so würde er nicht so häufig übersehen. „[H]istorischen Ursprungs“, wie Schlegel schreibt, ist der „Unterschied des Klassischen und Progressiven“ insofern, als er sich erst bei einer bestimmten Geschichtsauffassung des Betrachters zeigt: wie sie nämlich Winckelmann als erster vorgetragen habe. Den Begriff des Historismus führt Schlegel dann in seiner nächsten längeren, der achten Notiz ein:

Es fällt in die Augen, wie lächerlich es seyn würde, wenn ein eigentl.[icher] Kantianer s.[ich] über die Philolog.[ie] hermachen wollte. – Weit mehr muß insistirt werden auf den Historismus, der zur Philol.[ogie] nothwendig. Auf Geist, gegen den Buchstaben. Das gehört mit zum

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Friedrich Schlegel: Über das Studium der Griechischen Poesie. In: KFSA (wie Anm. 3), Bd. 1: Studien des klassischen Altertums, S. 217–367, hier S. 364f., Anm. (dort stehen die Ergänzungen der 2. Auflage von 1823). Ein der griechischen Kunstgeschichte, wie sie Winckelmann als ideale historische Entfaltung des Schönen beschrieben hatte, vergleichbares Lob der griechischen Poesiegeschichte findet sich bereits in der 1. Auflage, vgl. ebd., S. 307f. Letzteres betont Matuschek: Winckelmänner der Poesie (wie Anm. 4), S. 556 u. 558 zu Recht. Detaillierter zu Winckelmann: Fausto Testa: Winckelmann, die Ursprungsmythen der Aufklärung und die Begründung der Kunst. In: Winckelmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von dems. u. Martin Disselkamp. Stuttgart 2017, S. 88–99, hier S. 95f.

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Historismus, so wie auch Gesetze, Arten, Stufen, Gränzen, Verhältnisse pp Ganzheit pp .19

Der vergleichsweise eingeführte „Kantianer“ dient hier offenbar dazu, ein negatives Gegenbild von apriorischer Konstruktion statt spezifizierender historischer Kontextualisierung zu entwerfen. Die Betonung des Geistes statt des Buchstabens folgt dann allerdings etwas überraschend, jedenfalls wenn man dem Geist die freiere Interpretation zuschreibt im Unterschied zu Auslegungen, die beim Wörtlichen eines überlieferten Textes stehenbleiben. (Fichte bestimmte den Geist, in Absetzung vom Buchstaben, zur gleichen Zeit als „produktive Einbildungskraft“ und „freie[s] Schöpfungsvermögen“.20) Verfährt der Historismus, den Schlegel beschwört, also doch nicht so akkurat und im Rahmen des historisch Plausiblen bleibend? Das wohl kaum. Warum Schlegel den „Geist“ ins Spiel bringt, ist eher von der klassischen Stelle jenes Wortpaares her zu verstehen, dem 2. Korintherbrief. Dort heißt es in Luthers Übersetzung: „Denn der Buchstaben tödtet / Aber der Geist machet lebendig.“ (2 Kor 3,6). Das ist gegen die wortwörtliche Treue zum Mosaischen Gesetz gerichtet (vgl. Röm 7,6). „Lebendig“ macht der Geist, den der durch Jesus vermittelte Glaube an Gott verleiht, denn er überwindet Tod und Verdammnis, so Paulus. Was aber meint diese Anspielung in Bezug auf die Geschichte? Eine zur eben diskutierten historischen, nämlich das ‚Klassische‘ und das ‚Progressive‘ sehenden Betrachtungsweise passende Lesart wäre, dass Schlegel hier fordert, besonders auf das Lebendige in der Geschichte zu achten, d.h. auf die historischen Werke, Ereignisse, Akteure und Kräfte, die nicht ‚tot‘ sind, obwohl sie einer mehr oder weniger fernen Vergangenheit angehören – weil sie nämlich über ihre eigene Zeit hinaus gewirkt haben und womöglich noch wirken. Der Historiker oder Philologe, der zu zeigen vermag, wie das Spätere nicht nur auf das Frühere folgte, sondern aus diesem hervorging, ja von diesem hervorgetrieben wurde, der weist die Geschichte als einen dynamischen Prozess aus. Diesen dynamischen Prozess belegt Schlegel in seiner ersten Notiz mit dem Begriff des „Progressiven“. Soweit zum Lebendigen der Geschichte in der Abfolge der Zeiten. Hinzu kommt eine Lebendigkeit über die Zeiten hinweg, soll heißen in Fällen, in denen z.B. Kunstwerke der Vergangenheit noch in der Gegenwart als vollendet und maßstabsetzend wahrgenommen werden. Das ist die Situation des „Klassischen“, das 19 20

Schlegel: Zur Philologie I. In: KSFA (wie Anm. 3), Bd. 16: Fragmente zur Poesie und Literatur I, S. 35 (Nr. 8). Zitate nach O[do] Marquard: Art. Geist VII. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. 13 Bde. Hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer u. Gottfried Gabriel. Bd. 3. Basel 1974, Sp. 182–191, hier Sp. 184. Zur christlichen Tradition und insbesondere zum Vorzug, den Luther dem Geist vor dem Buchstaben gab, vgl. G[erhard] Ebeling: Geist und Buchstabe. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 3. Aufl. Hg. v. Kurt Galling. Bd. 2. Tübingen 1958, Sp. 1290–1295, hier Sp. 1293f.

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Schlegel in der ersten Notiz gleichfalls ansprach. In beiden Varianten, beim Progressiven wie beim Klassischen, stellt der Geist, der aufgedeckt und/oder vom Interpreten ins Spiel gebracht werden soll (Genaueres sagt Schlegel nicht), das Verbindende dar: entweder durch die Zeiten hindurch oder immediat zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Der Geist erschafft aus den Unmengen der Einzeldaten (einer „Totalität von Notizen“ heißt es weiter unten)21 ein geschichtliches Ganzes, das „Arten, Stufen, Gränzen“ (so die achte Notiz) überschreitet und auch seine Interpreten einschließt. Der in der Geschichte wirkende und der interpretatorische Geist beleben sich in diesem Modell einer „historisch reflektierte[n] Hermeneutik“ gegenseitig.22 Offensichtlich in semantischer Entsprechung zu ‚Historismus‘ benutzte Schlegel gelegentlich auch das Verb ‚historisieren‘. Es bedeutet, nicht bei den bloßen Tatsachen stehenzubleiben, sondern den ‚Geist‘ des Historischen zu erfassen und ebenso die Geschichte ‚mit Geist zu betrachten‘. In den zur selben Zeit notierten „Philosophischen Fragmenten“ heißt es, die rein „faktisch[e]“ sei eine unzureichende Auffassung; ihr setzt er das Prinzip entgegen, die „Materialien zur Geschichte“ müssten „historisirt d.h. philosophirt und auch poetisirt“ werden.23 Schlegels lose und eher tentative Notizen sind, so möchte ich argumentieren, Splitter eines durchaus konsistenten Konzepts. Zu seinem Historismus gehört die Einsicht in die „unermeßliche“ Ferne des Altertums ebenso wie dessen fortwährende Vorbildlichkeit. Und es handelt sich nicht um ein bloßes Nebeneinander widersprechender Prinzipien, eine auf ungeklärte Weise ‚friedliche Koexistenz‘, sondern um ein Verhältnis wechselseitiger Ermöglichung. Denn erst die als fern erkannte Antike verdient die normative Präsenz des Klassischen – diese Dialektik ließ und lässt sich an Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums so klar wie wohl an keinem anderen kunstgeschichtlichen Werk des 18. Jahrhunderts beobachten.24 Und erst die in ihrer historisch bedingten Spezifik und damit Unwiederholbarkeit erkannte Kunstblüte der Antike und besonders der Griechen lenkt den Blick auf die Dynamiken der Geschichte, von denen neue klassische Werke und eine neue Blütezeit erwartet werden dürfen. 21 22

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Schlegel: Zur Philologie I. In: KFSA (wie Anm. 3), Bd. 16: Fragmente zur Poesie und Literatur I, S. 43 (Nr. 103). Willy Michel: Ästhetische Hermeneutik und frühromantische Kritik. Friedrich Schlegels fragmentarische Entwürfe, Rezensionen, Charakteristiken und Kritiken (1795–1801). Göttingen 1982, S. 43. Friedrich Schlegel: Philosophische Fragmente. Erste Epoche. In: KFSA (wie Anm. 3), Bd. 18: Philosophische Lehrjahre [1796–1806]. Hg. v. Ernst Behler. Paderborn u.a. 1963, S. 17–30, hier S. 30 (Nr. 125). Vgl. Heinrich Dilly: Kunstgeschichte als Institution. Studien zur Geschichte einer Disziplin. Frankfurt a.M. 1979, S. 104 über die griechische Antike in der Geschichte der Kunst des Alterthums: „Eindeutig waren diese Epoche und ihre Kunst vergangen. Geschichte war irreversibel geworden. Nur wenn man den Vergangenheitscharakter erkannt hatte, konnte sie vorbildlich werden: sie war ein Prozeß, dessen sich die Urheber selbst nicht bewußt waren und der nur historisch erfahren werden konnte.“

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Vor allem mit dieser Umkehrung des Bedingungsverhältnisses ging Schlegel über seinen „Meister“25 hinaus: In seinem Historismus steckt eine Zukunftshoffnung, die über die Verlustklage am Ende der Geschichte der Kunst des Alterthums hinausführt, wo sich der Autor in einem weinenden Mädchen spiegelt, das ihrem abfahrenden Geliebten ohne Wiedersehenshoffnung hinterherblickt und nichts anderes mehr wahrzunehmen vermag, so dass sie „selbst in dem entfernten Segel das Bild des Geliebten zu sehen glaubt“.26 Denn obwohl Winckelmann für seine Zeit die Hoffnung artikulierte, „groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden“,27 richtete sich seine imaginative Energie auf die künstlerischen Höchstleistungen der Vergangenheit, während Schlegel sich nach 1795 von seiner einseitigen Gräkophilie zu lösen beginnt und in der deutschen Literatur seiner Zeit neue Höchstleistungen wahrnimmt (namentlich nennt er Lessing, Herder, Klopstock, Wieland, Schiller, Bürger und Goethe), und dies ausgerechnet am Ende seines Aufsatzes „Über das Studium der Griechischen Poesie“.28

II. Abwehr und Ausblendung des Winckelmann-Schlegel’schen Historismus in der Historismusforschung Erstaunlicherweise hat das historistische Programm, das Schlegel mit Berufung auf Winckelmann skizziert, in der Forschung sehr wenig Beachtung gefunden.29 Bekannt ist, dass Schlegel, neben Goethe, um 1800 einer der größten Lobredner

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Schlegel: Zur Philologie I. In KFSA (wie Anm. 3), Bd. 16: Fragmente zur Poesie und Literatur I, S. 35 (Nr. 1). Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums. 1. Auflage. Dresden 1764, S. 430 (= SN 4.1, S. 838). Ders.: Gedancken über die Nachahmung [...]. [Dresden] 1755, S. 2 (= SN 9.1, S. 51–78, hier S. 56). Schlegel: Über das Studium der Griechischen Poesie. In: KFSA (wie Anm. 3), Bd. 1: Studien des klassischen Altertums, S. 356–367. Winckelmann wird unter diese Namen erst in der Ausgabe von 1823 eingereiht, vgl. ebd., S. 365. Vgl. Michel: Ästhetische Hermeneutik (wie Anm. 22), S. 43, wo der Begriff Historismus fällt, aber nicht weiter diskutiert wird. Auch Matuschek: Winckelmänner der Poesie (wie Anm. 4), S. 550 fragt in seiner Analyse von Schlegels argumentativem Rückgriff auf Winckelmann ausdrücklich „nicht nach der Genese des Historismus in der Kunst- und Literaturwissenschaft“. Christoph König: Philologie der Poesie. Von Goethe bis Peter Szondi. Berlin u. Boston 2014, S. 39 nennt die oben zitierte Notiz Nr. 9 (KFSA [wie Anm. 3], Bd. 16, S. 35) „den Grundstein seiner [d.h. von Schlegels, D. F.] Überlegungen ‚Zur Philologie‘“, stellt zu Schlegels Historismusbegriff aber nur fest, er bedeute „die Anerkennung des Unterschieds zwischen dem Klassischen und dem Progressiven“. Giulia Valpione: La frammentazione dell’ordine. Comunità e critica in Friedrich Schlegel. Phil. Diss. Padua u. Jena 2014, S. 25–32 hebt die Vorbildlichkeit Winckelmanns für den Philologen Schlegel heraus, nimmt den Historismusbegriff jedoch weder auf, noch legt sie ihn aus (URL: http://paduaresearch.cab.unipd. it/6993/1/valpione_giulia_tesi.pdf [30.10.2018]). Dasselbe gilt für Kobayashi: Die Winckelmann-Fragmente Friedrich Schlegels (wie Anm. 11), der die genaueste Analyse von Schlegels Winckelmann-Bezügen vorgelegt hat.

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Winckelmanns war,30 ebenso dass er sein Antikeideal wie auch seine Vorstellung von Literaturgeschichtsschreibung wesentlich von ihm ableitete.31 Sein eng damit zusammenhängender Historismusbegriff blieb dagegen dunkel und lange Zeit sogar unbekannt, auch und gerade in der Historismus-Forschung bzw. -Diskussion. Schlegels Historismus-Notizen wurden 1928, also vor vielen anderen Manuskripten der Frühromantiker und mitten im lebhaftesten Streit um den Historismus – in dem man das Symptom oder gar die Ursache einer tiefen Weltanschauungskrise sah32 – in einer kommentierten Edition des Prager Germanisten Josef Körner publiziert.33 Bis Mitte der 1990er Jahre scheint man jene Notizen gleichwohl entweder schlicht übersehen oder praktisch ignoriert zu haben. Kurios, aber leider folgenreich war ein kurzer Artikel von Erich Rothacker, einem der Begründer der Begriffsgeschichte, von 1960. Hier heißt es: „Nach einer leider unvollständigen Notiz kommt es [das Wort Historismus, D. F.] sogar schon 1797 bei Friedrich Schlegel vor.“34 Die vom jungen Schlegel wie von keinem anderen gepflegte Form des Fragments steht bei Rothacker als etwas Defizitäres da, und er gibt weder ein Zitat noch einen Nachweis der gemeinten Stelle. Einen etwas jüngeren singulären Beleg bei Schlegels Freund Novalis aus dessen Blüthenstaub-Notizen von 1798/9935 zitiert Rothacker dagegen in extenso und stellt ihn sogar vor die Erwähnung Schlegels. Die Novalis-Stelle kommentiert er nicht zu Unrecht so: „Natürlich ist das Wort hier schwer interpretierbar.“36 Die deutlich weniger elliptische, aussagekräftigere Stelle bei Schlegel nimmt er dagegen nicht einmal richtig zur Kenntnis. Damit hat Rothacker die Verhältnisse am Ursprung des Historismusbegriffs auf den Kopf gestellt, von der Chronologie wie vom konzeptionellen Gehalt her. Mehr 30 31

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Zu Goethe, den Weimarer Kunstfreunden, Schelling u.a. vgl. Thomas Franke: WinckelmannApologien um 1800. In: Aufklärung 27 (2015), S. 75–101. Wie Matuschek: Winckelmänner der Poesie (wie Anm. 4), S. 560f. überzeugend ausführt, verfuhr Schlegel in seiner eigenen Geschichte der alten und neuen Literatur (Wiener Vorlesungen von 1812), die in der späteren germanistischen Literaturgeschichtsschreibung als Modell fungierte, jedoch ganz anders. Vgl. Reinhard Laube: Karl Mannheim und die Krise des Historismus: Historismus als wissenssoziologischer Perspektivismus. Göttingen 2004. Vgl. Körner: Friedrich Schlegels „Philosophie der Philologie“ (wie Anm. 8). Als Jude hatte Körner (1888–1950) in der Germanistik der 1920er mit massiven Behinderungen zu kämpfen, seine 1930 endlich erfolgte Habilitation war wiederholt zurückgewiesen worden. Erich Rothacker: Das Wort „Historismus“. In: Zeitschrift für deutsche Wortforschung 16 (1960), S. 3–6, hier S. 4. Vgl. Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Historisch-kritische Ausgabe. Begründet v. Paul Kluckhohn u. Richard Samuel. 2., nach den Hss. ergänzte, erw. u. verbesserte Aufl. 4 Bde., ein Materialienbd. u. ein Ergänzungsbd. Hg. v. Richard Samuel in Zusammenarb. mit Hans-Joachim Mähl u. Gerhard Schulz. Bd. 3: Das philosophische Werk 2. Stuttgart 1968, S. 446: „Fichtes System. Kants System. Chymische Methode – Physicalische – mechanische – mathem[atische] Methode etc. System d[er] Anarchie – Demokratie – Aristokratie – Monarchie. Artistische Methode – art[istisches] System. D[as] ConfusionsSystem. Mystizism. Historism. etc.“ Rothacker: Das Wort „Historismus“ (wie Anm. 34), S. 4.

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als drei Jahrzehnte lang sind ihm nahezu alle gefolgt, die sich zur Herkunft des Begriffs äußerten.37 Das Historische Wörterbuch der Philosophie und auch noch das Historische Wörterbuch der Rhetorik kennen Schlegels Begriffsverwendung ebenso wenig wie Otto Gerhard Oexle, der die deutsche Historismus-Diskussion seit Mitte der 1980er Jahre dominiert hat.38 An allen diesen prominenten Stellen kann man lesen, der älteste bekannte Beleg stehe bei Novalis. Selbst für das Deutsche Fremdwörterbuch, dessen Band mit den Lemmata „habilitieren – hysterisch“ 2010 erschien, gilt noch, dass die Novalis-Stelle als die ursprüngliche erscheint, denn das – sogar zitierte – Schlegel-Fragment Nr. 8 „Zur Philologie I“ wird dort auf „vor 1828“ datiert.39 Überdies werden beide Belege als „unklare[] Verwendung“ abgetan. Italienische Lexika verweisen beim Stichwort storicismo gleichfalls auf die Novalis-Stelle als Erstbeleg (La piccola Treccani von 1995 und, wortgleich: Dizionario di Storia, 2011: „Il termine compare già saltuariamente in Novalis“ = Der Begriff tritt vorübergehend bereits bei Novalis auf, Übers. D. F.]);40 ebenso Eugenio Garin in einem langen Artikel in der Enciclopedia del Novecento (1984) mit Verweis auf Rothacker.41 Dasselbe gilt für die Introduzione a lo storicismo (1991) von Fulvio Tessitore, einem zweifellos herausragenden Kenner des Historismus.42

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Auf eine weniger aufschlussreiche Notiz aus den 1963 edierten Schriften aus Schlegels Philosophischen Lehrjahren von 1797 (vgl. KFSA [wie Anm. 3], Bd. 18: Philosophische Lehrjahre [1796–1806], S. 91, Nr. 747) verweist George G. Iggers: Art. Historicism. In: Dictionary of the History of Ideas. Hg. v. Philip P. Wiener. Bd. 2. New York 1973, S. 456–464, hier S. 456 u. 464. Diese Stelle zitiert wiederum Annette Wittkau: Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems. Göttingen 1992, S. 198f., Anm. 27 und erläutert: „‚Historismus‘ ist für Schlegel also eine philosophische Konzeption, die das Schwergewicht auf die Historie legt. Wie dieser Historismus genau aussehen soll, bleibt jedoch offen.“ Der Verweis, den Iggers im o.g. Artikel auf die KFSA (wie Anm. 3), Bd. 18, S. 481 gibt, enthält vermutlich einen Zahlenfehler, denn von „Historismus“ ist erst auf S. 484 die Rede. Vgl. G[unter] Scholtz: Art. Historismus, Historizismus. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie (wie Anm. 20), Bd. 3, Sp. 1141–1147, hier Sp. 1141; D[irk] Niefanger: Art. Historismus. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gerd Ueding. Bd. 3. Tübingen 1996, Sp. 1410–20, hier Sp. 1415; Otto Gerhard Oexle: Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne. Göttingen 1996, S. 47. Deutsches Fremdwörterbuch. Begonnen v. Hans Schulz, fortgeführt v. Otto Basler. 2. Aufl., völlig neu erarb. im Institut für Deutsche Sprache. Berlin u. New York 1995ff., Bd. 7: habilitieren–hysterisch. Berlin u. New York 2010, S. 318, s.v. „Historismus“. Das folgende Zitat ebd., S. 316. La piccola Treccani. Dizionario Enciclopedia. 12 Bde. Hg. v. Paolo Zippel. Rom 1995–1997, Bd. 11, S. 700, s.v. „storicismo“. Der Treccani-Verlag hat die Texte verschiedener Lexika ins Netz gestellt; s.v. „storicismo“ enthalten sie Artikel mit starken Textüberschneidungen mit dem vorgenannten, einschließlich des oben zitierten Satzes über Novalis, vgl. Enciclopedie on line (URL: http://www.treccani.it/enciclopedia/storicismo/ [28.10.2018]) sowie den Dizionario di Storia (URL: http://www.treccani.it/enciclopedia/storicismo_%28Dizionario-di-Storia%29/ [28.10.2018]). Vgl. URL: http://www.treccani.it/enciclopedia/storicismo_%28Enciclopedia-del-Novecento %29/[28.10.2018]. Vgl. Fulvio Tessitore: Introduzione a lo storicismo. Rom u. Bari 1991, S. 4.

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Dass damit nicht der tatsächlich erste Beleg getroffen ist, stellt wohlgemerkt nicht das Hauptproblem dieser verbreiteten Ansicht dar. Weit misslicher ist, dass wir bei Novalis nicht mehr als die Notiz „Historism“ finden, neben „Mystizism“, der „artistische[n] Methode“ und dergleichen.43 Was damit über irgendeine besondere Wichtigkeit des Geschichtlichen hinaus gemeint ist, lässt sich nicht sagen – während Schlegel ein differenziertes, anspruchsvolles Konzept zumindest skizziert hat. Erst Mitte der 1990er Jahre beginnt sich in der deutschen, amerikanischen und italienischen Literatur zum Historismus die Kenntnis der frühen Begriffsbelege bei Schlegel zu verbreiten.44 Eine einlässliche Rekonstruktion ihrer Bedeutung fehlt jedoch bisher. Dieser blinde Fleck eines großen Teils der Historismusforschung hat gravierende Folgen. Zunächst: Schlegel und Winckelmann gelten wenig bis gar nichts in der Genese des Historismus.45 In diesem Punkt hat sich seit Friedrich Meineckes großem Buch über Die Entstehung des Historismus von 1936 nichts geändert. Dort hat Winckelmann den Status eines partiellen Vorbereiters. Mit seiner, so Meinecke, „seelischen Einfühlung in die griechische Kunst“ habe er wohl einer Geschichtsschreibung vorgearbeitet, die mehr als die bloßen Tatsachen erfassen möchte.46 Sein „normativer Klassizismus“ habe ihn jedoch außer Stande gesetzt, der Eigenart aller historischen Kunstformen gerecht zu werden. In diesem für Meinecke entscheidenden Punkt stand er, so wörtlich, im „Widerspruch zu den 43

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Novalis: Schriften (wie Anm. 35), Bd. 3, S. 446. Die Opponierung von (Winckelmann’schem) Historismus und „Mystizismus“ finden wir auch schon bei Schlegel (KFSA (wie Anm. 3), Bd. 16: Fragmente zur Poesie und Literatur I, S. 37, Nr. 35). Gunter Scholtz: Das Historismusproblem und die Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert. In: Archiv für Kulturgeschichte 71 (1989), S. 463–486, hier S. 465 verweist auf eine ganze Reihe von Stellen bei Schlegel, zitiert aber keine davon und geht auch auf keine ein. Unterschiedliche Zitate bringen dann George G. Iggers: Historicism. The History and Meaning of the Term. In: Journal of the History of Ideas 56 (1995), S. 129–152, hier S. 130 und Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860. Berlin u. New York 1996, S. 269. Die erste italienische Diskussion von Schlegels an Winckelmann entwickeltem Historismusbegriff findet sich, soweit ich sehe, bei Fulvio Tessitore: Historismus e filologia [2000]. In: Ders.: Nuovi contributi alla storia e alla teoria dello storicismo. Rom 2002, S. 145–157, hier S. 145–147. Was Schlegel betrifft, liest sich eine Fußnote bei Mark-Georg Dehrmann: Studierte Dichter. Zum Spannungsverhältnis von Dichtung und philologisch-historischen Wissenschaften im 19. Jahrhundert. Berlin u. Boston 2015, S. 63 zunächst anders, denn Dehrmann nennt Schlegel mit einem Zitat von Denis Thouard „le véritable père de l’historisme“. Thouard bezeichnet Schlegel allerdings gar nicht als den ‚wahren Vater des Historismus‘, sondern schreibt ihm die Einschätzung zu, „que [Friedrich August, D. F.] Wolf était le véritable père de l’historisme“. Siehe Denis Thouard: Le Centaure philologue: Nietzsche entre critique et mythe. In: Marc Crépon (Hg.): Nietzsche. Paris 2000, S. 155–174, hier S. 160. Auch das scheint mir nicht ganz treffend, denn Schlegel schätzte Wolf nicht im selben Maße wie Winckelmann (vgl. KFSA [wie Anm. 3], Bd. 16: Fragmente zur Poesie und Literatur I, S. 37, Nr. 26); mit dem neuen Begriff „Historismus“ brachte er Wolf nicht in Verbindung. Friedrich Meinecke: Werke. 9 Bde. Hg. v. Hans Herzfeld u.a. München u.a. 1957–1979. Bd. 3: Die Entstehung des Historismus. Hg. und eingel. v. Carl Hinrichs. München 1959, S. 300 und wiederholt auf S. 301. Das folgende Zitat ebd., S. 302.

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Tendenzen des werdenden Historismus“ und „noch jenseits, nicht diesseits der Grenze [...], die das normative Denken vom Historismus schied“.47 Schlegel erwähnt Meinecke überhaupt nicht, was wohl nicht nur darauf zurückzuführen ist, dass er für die Zeit um 1800 nur die seines Erachtens wichtigsten Autoren behandelt (das sind Herder und Goethe). Als spekulativer und nicht selten ironischer Denker passte Schlegel prinzipiell nicht zu Meineckes Vorstellung vom Historismus als einem respektvollen Sicheinlassen auf alles Historische qua Sensibilität für Individualitäten. Die großen Studien, die dem Historismus in den letzten Jahren gewidmet wurden, berücksichtigen Schlegel immerhin am Rande, während sie die Bedeutung Winckelmanns für ihr Thema minimieren. In Frederick Beisers The German Historicist Tradition, dem umfassendsten Historismus-Buch der Gegenwart, findet Winckelmann knappe Erwähnung als Anlass für Herders Kritik an dem Versuch, historische Darstellung und „Lehrgebäude“ zu verbinden, sowie als herausragender Anwalt griechischer Vorbildlichkeit.48 Winckelmann wird von Beiser also noch entschiedener als Gegenfigur zum Historismus präsentiert, als Meinecke dies getan hatte. Schlegel wiederum wird wegen seiner Idealisierung des Mittelalters sowie seines „religious humanism“ und Individualitätskults erwähnt,49 nicht aber als Geschichtstheoretiker. Die französische Historismus-Studie Servanne Jollivets von 2013 nennt Schlegel zwar als, soweit bekannt, Erstverwender des Begriffs, geht auf seinen Begriffsgebrauch aber nicht weiter ein, weil er „loin d’être fixé[]“ sei.50 In der vielbenutzten Geschichte des Historismus von Friedrich Jaeger und Jörn Rüsen, die 1991 erschien,51 kommen weder Winckelmann noch Schlegel vor.

III. Historismus ohne versus mit transhistorischen Widerparten Der Nichtbeachtung Schlegels und seiner Winckelmann-Deutung korrespondiert in der nun seit hundert Jahren geführten Diskussion über den Historismus, dass dieser meist einseitig als historisch relativierendes Verfahren verstanden wird, das, konsequent durchgeführt, keinerlei transhistorische Normativität gelten lässt.52 Der Historismus löse, so das trotz allen Streits um ihn ziemlich konsensuelle Verständ47 48 49 50

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Ebd., S. 301 u. 291. Vgl. Frederic C. Beiser: The German Historicist Tradition. Oxford 2011, S. 117; S. 184, 186 u. 196. Vgl. ebd., S. 223 u. 226, das Zitat S. 222. Vgl. Servanne Jollivet: L’Historisme en question. Généalogie, débats et réception (1800– 1930). Avec une préface de Gunter Scholtz. Paris 2013, S. 28 u. 31. Winckelmann liegt außerhalb des von Jollivet gewählten Untersuchungszeitraums und wird nicht erwähnt. Vgl. Friedrich Jaeger u. Jörn Rüsen: Geschichte des Historismus. Eine Einführung. München 1992. Aus neuerer Zeit vgl. z.B. Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland. 1831–1933. Frankfurt a.M. 1983, S. 51f.; Moritz Baßler u.a.: Historismus und literarische Moderne. Mit einem Beitr. v. Friedrich Dethlefs. Tübingen 1996, S. 19–32.

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nis, „alles im Flusse des Werdens, in der endlosen und immer neuen Individualisierung, in der Bestimmtheit durch Vergangenes und in der Richtung auf unerkanntes Zukünftiges“ auf.53 Wie wir gesehen haben, ist das aber nur die eine Seite. Schlegels ursprüngliche Prägung des Historismusbegriffs ist ebenso auf die geschichtsüberwindende Gültigkeit eines Klassischen gemünzt. Zu seinem Historismusbegriff gehört auch jene Erhebung einer bestimmten Kunstepoche zum Ideal, die Meinecke dazu bestimmt hatte, Winckelmann einen Platz bloß im Vorhof des Historismus zuzuweisen. So sehr es mir geboten erscheint, Winckelmann und vor allem dem ‚Begriffserfinder‘ Schlegel eine prominentere Position im Historismus zuzuerkennen: Mehr noch geht es mir um eine grundsätzliche Erweiterung des Historismusverständnisses. Denn das Operieren mit gegenläufigen Orientierungen – wie historischer Relativierung auf der einen und der Suche nach transhistorischen Idealen auf der anderen Seite – kommt bei den Autoren, die man gemeinhin dem Historismus zurechnet, häufig vor. Als sich die Europäer um 1800 angewöhnten, geschichtlich zu denken, minderte dies nach gängiger Ansicht die Maßgeblichkeit religiöser Transzendenz- und universeller Vernunftpostulate ebenso wie naturbezogene Argumentationsweisen, untergrub die Autorität der Offenbarung und der Tradition und relativierte die Vorbildlichkeit klassischer Kunstwerke. Was der ‚historische Sinn‘ an kultureller Relevanz gewann, das schienen die genannten Instanzen verlieren zu müssen. Gegen ein solches Reziprozitätsmodell lassen sich jedoch Einwände geltend machen, wie gehabt von den Quellen her, aber auch prinzipiell: Historisierung bindet die Phänomene, die als Gewordene begriffen werden sollen, nicht nur an die jeweiligen Zeitumstände zurück, sondern kann sie auch herausstellen als singuläre Gipfelleistungen. Oder sie kann sie als Konsequenz natürlicher Bedingungen oder einer transzendenten Ordnung, als Marksteine der Durchsetzung der Vernunft bzw. eines göttlichen Schöpfungswillens interpretieren, kurzum: sie kann Vor, Über- und Transhistorisches im Historisierten ausmachen. Nicht zuletzt am Beispiel Winckelmanns lässt sich beispielsweise beobachten, dass mit der Verabschiedung der explizit religiösen Geschichtsinterpretation in der Aufklärung keineswegs im gleichen Maße ein Verzicht auf teleologische Geschichtskonstruktionen einherging. Vielmehr bediente sich eine intendiert säkularisierende, gegen christliche Providenzbehauptungen gerichtete Geschichtsschreibung durchaus ähnlicher Darstellungsstrategien, die eine Art naturaler Providenz unterstellten, und eine Zuversicht in die Zukunft unterstützen, die zu einem neuen

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Ernst Troeltsch: Die Krisis des Historismus. In: Ders.: Kritische Gesamtausgabe (wie Anm. 6), Bd. 15: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918–1923). Hg. v. Gangolf Hübinger in Zusammenarb. mit Johannes Mikuteit. Berlin u. New York 2002, S. 437–455, hier S. 437. Dem Historismusverständnis Troeltschs schließt sich Beiser: The German Historicist Tradition (wie Anm. 48), S. 2 ausdrücklich an.

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Glauben wurde.54 Paradoxerweise kann Historisierung ihr Gegenteil einschließen oder sogar hervortreiben, sowohl intendiertermaßen als auch unfreiwillig. Wer historisiert, relativiert keineswegs immer auch die eigenen Geltungsansprüche – gerade in diesem Punkt ist das von Troeltsch etablierte Verständnis von Historisierung entschieden zu eng. Denn häufig dient die Kritik überkommener Ordnungsmuster durch Historisierung dazu, Platz für neue Geltungsansprüche zu schaffen, etwa für das moderne Autonomieprinzip oder Menschenrechtskonzept. Historisierung kann Säkularisierung bedeuten, muss dies aber nicht; mit naturalisierenden Denkfiguren kann sie sowohl in Konflikt stehen als auch einhergehen. Im Bewusstsein oder Erleben des Subjekts kann sie sich mit Nicht-Historisiertem amalgamieren oder unverbunden danebenstehen. Zum Historisieren im Allgemeinen – und ebenso zum Historismus als dessen raum-zeitlich begrenzterer Ausprägung – gehören daher immer auch ‚Widerparte‘, die (noch) nicht historisiert sind oder gar nicht historisiert werden sollen.55 Winckelmanns Versuch, eine Kunstgeschichte der Antike zugleich als Lehrbuch überzeitlich gültiger Gesetze der Kunst anzulegen, sowie die postulierte Vorbildlichkeit einer bestimmten Phase der griechischen Kunstgeschichte lassen sich als solche ‚Widerparte‘ seines neuartig historisierenden Ansatzes charakterisieren: Ersteres als einen methodischen, Letzteres als einen normativen Widerpart.56 Im Gegen- und Miteinander von Geschichte als Wandel und als „Lehrgebäude“, das die Geschichte der Kunst des Alterthums prägt,57 kommt diese Ambivalenz des Historisierens so deutlich zum Ausdruck und so mächtig zum Tragen wie in wenig anderen Meilensteinen der Historiographiegeschichte. Selbst Meinecke erwog am Ende seiner Ausführungen über Winckelmann kurz, ob dessen idealisierender Klassizismus nicht doch ein beachtenswerter „Einschlag im Gewebe des werdenden Historismus“ sei, im Sinne einer „Lebenseinheit von Gegensätzen“, verfolgte

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Vgl. Marc-André Bernier: Lumières et histoire ou les métamorphoses de l’exemplarité. In: Lumières et histoire. Enlightenment and History. Hg. v. Tristan Coignard. Paris 2010, S. 7–21, hier S. 8: „[L]es Lumières auraient imaginé une sorte d’eschatologie de la raison qui, en apercevant dans le passé et le présent la promesse d’un futur meilleur, conçoit l’histoire comme un processus fondé sur la perfectibilité continue et indéfinie du savoir et de l’homme.“ Vgl. Daniel Fulda: Historisierung und ihre Widerparte. Zwei Begriffsangebote samt einer Beispielanalyse zur Konstruktion des Klassischen im 18. Jahrhundert. In: Historisierung. Begriff – Methode – Praxis. Hg. v. Moritz Baumstark u. Robert Forkel unter Mitarb. v. Stefan Kühnen u. Marc Weiland. Stuttgart u. Weimar 2016, S. 17–35. Ausführlicher dazu Elisabeth Décultot u. Daniel Fulda: Historisierung mit Widersprüchen. Zu Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums. In: Winckelmann. Moderne Antike. Ausstellungskatalog Neues Museum Weimar 2017. Hg. v. Elisabeth Décultot u.a. München 2017, S. 41–51. Dieses Programm formuliert gleich der erste Satz der Vorrede von Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums (= SN 4.1, S. XVI): „Die Geschichte der Kunst des Alterthums, welche ich zu schreiben unternommen habe, ist keine bloße Erzählung der Zeitfolge und der Veränderungen in derselben, sondern [...] meine Absicht ist, einen Versuch eines Lehrgebäudes zu liefern.“

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diesen Gedanken jedoch nicht weiter.58 Friedrich Schlegel dagegen hatte gerade auf jene Ambivalenz und die aus ihr resultierende Dialektik abgehoben, und dies nicht nur, als er mit ausdrücklicher Berufung auf Winckelmann für die Poesie das Programm formulierte, „die Theorie derselben durch die Geschichte zu begründen“,59 sondern auch bei seiner Arbeit am und mit dem Historismusbegriff. Darüber sollte die Forschung nicht länger hinweggehen.

IV. Zur Rehabilitation von Winckelmanns Historismus im italienischen storicismo Nachdem bisher die deutschsprachige Winckelmann-Rezeption im Vordergrund stand, sei abschließend noch kurz auf die Rezeption seiner zugleich historisierenden und idealisierenden Kunstgeschichtsschreibung im italienischen storicismo eingegangen. Zu betonen ist, dass der storicismo viel weniger mit dem Historismus zu hat, als es der am Deutschen orientierte Name sowie die intensive Rezeption deutscher Autoren vermuten lassen. Denn der storicismo verfolgt gutenteils andere Erkenntnisinteressen und beschäftigt sich häufig auch mit anderen Autoren: Philosophen wie Hegel sowie Theoretikern der Geisteswissenschaften wie Wilhelm Dilthey oder Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert.60 Italienisch storicismo bezeichnet keine Epoche der Historiographiegeschichte und auch keine kulturelle oder künstlerische Praxis (wie Historismus in der Architektur oder bildenden Kunst, Literatur und Musik). Nicht einmal um Geschichte geht es unbedingt: Für Benedetto Croce (1866–1952), der die italienische Historismus-Diskussion des mittleren 20. Jahrhunderts noch stärker geprägt hat als der nahezu gleichaltrige Friedrich Meinecke (1862–1954) die deutsche, ist storicismo vielmehr eine Philosophie, deren Charakteristikum die mit Hegel geteilte Vorausaussetzung der Vernünftigkeit des Wirklichen und der Wirklichkeit der Vernunft ist. Wie Existenz und Essenz oder Faktum und Norm zueinanderstehen, ist das Hauptproblem dieser Philosophie, nicht unbedingt der Umgang mit historischem Differenzbewusstsein. Debatten um den storicismo sind daher viel stärker gegenwartsorientiert als die deutsche Historismusdebatte, die seit langem fast ausschließlich als Rückschau auf historisch gewordene Formen der Beschäftigung mit Geschichte betrieben wird. Wer über storicismo diskutiert, tut dies häufig als Protagonist einer seiner Varianten, was in Deutschland seit Mitte des 20. Jahrhunderts auch bei solchen Erfor58 59

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Meinecke: Werke (wie Anm. 46), Bd. 3: Die Entstehung des Historismus, S. 302. Friedrich Schlegel: I. Ankündigung der geplanten Übersetzung des Platon. In: KFSA (wie Anm. 3), Bd. 3: Charakteristiken und Kritiken II [1802–1829]. Hg. v. Hans Eichner. Paderborn u.a. 1975, S. 334 (1800). Als Gegenüberstellungen vgl. Rossi: „Storicismo“ und Historismus (wie Anm. 1), sowie Giuseppe Cacciatore: Storicismo e Historismus a confronto nella seconda metà del novecento. In: Ders.: Dallo storicismo allo storicismo. Introduzione di Fulvio Tessitore. Hg. v. Giovanni Ciriello, Giuseppe D’Anna u. Antonello Guigliani. Pisa 2015, S. 91–115.

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schern des Historismus nicht üblich ist, die ihm mit Sympathie begegnen. Sei es trotz, sei es wegen dieser eigenständigen italienischen Tradition wurden Winckelmann und Friedrich Schlegel von Croce sehr positiv gewürdigt und als Wegbereiter der modernen Geschichtsauffassung und -schreibung präsentiert. Winckelmanns Kunstgeschichte belege, dass die Synthese von philosophischer und historischer Betrachtung möglich ist – also die Synthese, die Croce selbst erstrebte: eine „Geschichte idealer Werte“.61 Tatsächlich entsprechen die nur begrenzt empirischen und stattdessen auf die Konstruktion von idealen Verläufen und Konstellationen zielenden Zugänge der beiden Deutschen zur Geschichte eher Croces Philosophie in idealistischer Tradition als dem fachwissenschaftlich domestizierten Historismus, wie er in Deutschland seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts praktiziert wurde und wird.62 Allerdings hat sich der skizzierte Gegensatz zwischen storicismo und Historismus mittlerweile abgeschwächt, denn der von Croce vertretene storicismo assoluto hat weitgehend einem storicismo problematico-critico Platz gemacht, mit dem bereits genannten Fulvio Tessitore (*1937) sowie Giuseppe Cacciatore (*1945) als prominentesten Vertretern.63 Philosophie- und wissenschaftsgeschichtliche Untersuchungen spielen nun eine zentrale Rolle, auch wenn weiterhin der Anspruch auf ein der Gegenwartsorientierung dienendes Wissen erhoben wird. Kurz, aber prägnant hat sich Tessitore auch einmal über die Geschichte der Kunst des Alterthums geäußert. Winckelmanns emphatischer „esaltazione“ (Erhebung) der antiken Kunst zum wirklich gewordenen Ideal schreibt er dabei „una duplice conseguenza“ zu.64 Genau genommen handelt es sich sogar um zwei diametral auseinanderstrebende Konsequenzen: Può l’antichità normativamente utilizzata – quale unico per divenire grandi e inimitabili [hier spielt Tessitore unüberhörbar auf die berühmte, oben bereits zitierte Formulierung aus Winckelmanns Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst an, D. F.], attraverso la sua imitazione – essere la via per saltare sopra e fuori la 61

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Benedetto Croce: Gesammelte philosophische Schriften. Hg. v. Hans Feist. Reihe 1: Philosophie des Geistes. Bd. 4: Theorie und Geschichte der Historiographie und Betrachtungen zur Philosophie der Politik. Nach der 3., verm. Aufl. bearb. u. übers. v. dems. Tübingen 1930, S. 228, vgl. ebd., S. 149. An Schlegel lobt Croce die Tendenz zur Universalgeschichte (ebd., S. 309); auf die ihm nicht bekannten Historismus-Fragmente Schlegels bezieht er sich nicht. Zur deutschen Tradition einer Kritik an Winckelmann vom Standpunkt einer empiristisch konzipierten Geschichtsschreibung aus vgl. (seinerseits kritisch) Hinrich C. Seeba: Johann Joachim Winckelmann. Zur Wirkungsgeschichte eines ‚unhistorischen‘ Historikers zwischen Ästhetik und Geschichte. In: DVjs 56 (1982), Sonderheft, S. 168*–201*. Vgl. Giuseppe Cacciatore: Die Tradition des problematisch-kritischen Historismus im Rahmen der italienischen philosophischen Kultur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Historismus in den Kulturwissenschaften. Geschichtskonzepte, historische Einschätzungen, Grundlagenprobleme. Hg. v. Otto Gerhard Oexle u. Jörn Rüsen. Köln, Weimar u. Wien 1996, S. 331–339. Fulvio Tessitore: Humboldt, Niebuhr e la ‚Dekadenzidee‘. In: Ders.: Comprensione storica e cultura. Revisioni storicistiche. Napoli 1979, S. 113–165, hier S. 129 (als Zeitschriftenaufsatz ist der Text zuerst 1977 erschienen).

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storia [...]. Può, egualmente, l’antichità in quanto realizzazione dell’idea nella natura suggerire la storicizzazione dell’idea e della natura [...].65

Das ist eine ambivalente Deutung, wie wir sie im Prinzip ganz ähnlich bei Schlegel gefunden haben. Und ähnlich wie Schlegel bei seinem Griechenlob zugleich die Frage nach den kommenden Klassikern der eigenen Kunstform und der eigenen Nation, also die Frage nach den klassischen Dichtern der Deutschen stellte, sieht Tessitore aus der Historisierung der Kunst eine Zukunftsperspektive resultieren: Höchstleistungen, die sich einmal geschichtlich ergeben haben, können, so die gedankliche Fortführung der zweiten Konsequenz, „realizzarsi secondo il perché e il come di tempi novi e diversi.“66 Silvia Caianiello (*1959), eine Ideen- und Wissenschaftshistorikerin aus dem Schülerkreis Tessitores, hat die traditionelle italienische Wertschätzung Winckelmanns vor einigen Jahren zu einer Eingemeindung des Wahl-Römers in die Vorgeschichte des Historismus (im deutschen Sinne) weiter ausgebaut. Ihr Buch Scienza e tempo alle origini dello storicismo tedesco widmet ihm ein umfangreiches Kapitel ebenso wie Christian Gottlob Heyne, Herder und Droysen (weitere Philologen wie Wolf und Boeckh sowie Niebuhr werden ebenfalls behandelt). Begrifflich ist es eine geschickte Lösung, dass sie Winckelmann trotz des Buchtitels nicht dem storicismo zurechnet, sondern vornehmlich mit dem bereits von Tessitore verwandten Begriff storicizzazione – dem Äquivalent zur deutschen Historisierung – arbeitet: „Il progetto di una storia stilistica inaugurato da Winckelmann appare dunque decisivo per la storicizzazione dell’arte“.67 Der Vorteil der weniger besetzten Begriffe der storicizzazione oder eben Historisierung ist: Eine Diskussion darüber, ob das Verständnis von ‚Historismus‘ so grundlegend erweitert werden soll, dass auch ein Klassizismus wie der Winckelmann’sche noch hineinpasst, erübrigt sich. Beschäftigt man sich dann eingehender damit, was ‚Historisierung‘ ist, so lautet mein Plädoyer, sie von vornherein nicht ohne ihre Widerparte in den Blick zu nehmen.

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66 67

Ebd., S. 130 (dt.: „Die Antike kann, als Norm verwendet – als das einzige Mittel, um, durch ihre Nachahmung, groß und unnachahmlich zu werden – der Weg sein, um über die Geschichte und aus ihr heraus zu springen. [...] Ebenso kann die Antike als Realisierung der Idee in der Natur die Historisierung der Idee und der Natur nahelegen.“). Die Übersetzungen hier und im Folgenden stammen vom Verf. Ebd. (dt.: „sich gemäß dem Warum und dem Wie neuer und anderer Zeiten realisieren“, d.h. sich neu ereignen je nach den kausalen und modalen Bedingungen). Silvia Caianiello: Scienza e tempo alle origini dello storicismo tedesco. Neapel 2005, S. 52 (dt.: „Das von Winckelmann begründete Projekt einer Stilgeschichte erscheint daher entscheidend für die Historisierung der Kunst“).

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V. Adaption und Transposition am Ursprung des Historismusbegriffs und dessen (lange Zeit gebremste) Zirkulation 1. Bei Friedrich Schlegel finden wir eine ebenso begeisterte wie produktive Adaption Winckelmann’scher Prinzipien der Geschichts(re)konstruktion im Spannungsfeld von Genetisierung und Idealisierung (als zwei Verfahren, die sich laut Schlegel gegenseitig bedingen). Die aus Winckelmanns Werken herausgelesene Art und Weise des historischen Denkens und der Geschichtsschreibung schärft er mit Hilfe einer Reihe von begrifflichen Dualismen: dem Klassischen und dem Progressiven; Geist und Buchstaben; Philosophie und Philologie, rein faktischer versus historisierender Ansicht. Das Produkt dieser Adaption liegt nicht in einem abgeschlossenen Text, sondern in einer Vielzahl von Fragmenten vor. Die Kohärenz, die Schlegels Konzept gleichwohl aufweist, kristallisiert sich im augenscheinlich von ihm geprägten Begriff ‚Historismus‘. 2. Schlegel transponiert Verfahren von Winckelmanns Kunstgeschichtsschreibung in den Zuständigkeitsbereich der Philologie und der Literaturgeschichtsschreibung; dabei umreißt er überdies das Modell eines konstruktiven Umgangs mit Geschichte im Allgemeinen. Als konstruktiv kann die von Schlegel entworfene Historisierung aus doppeltem Grund bezeichnet werden: weil sie sich nicht mit der Tatsachenfeststellung begnügt und weil sie letztlich den Blick auf zukünftig zu erreichende künstlerische Höchstleistungen lenken soll: auf neue Klassiker, die den klassischen Werken der Antike an die Seite treten. Diese Transposition stellt, wie gesagt, eine produktive Adaption dar, aber sie bewegt sich weitgehend auf der Linie von Winckelmanns Intentionen – auslegend und anreichernd, nicht verzerrend. 3. Zirkuliert hat Schlegels Winckelmann-Adaption kaum, insbesondere nicht in Verbindung mit dem neugeprägten Begriff ‚Historismus‘. In der seit einem Jahrhundert andauernden Diskussion um den Historismus hat Schlegels Konzept nahezu keine Rolle gespielt. Zwar ist das Quellenmaterial seit über 90 Jahren publiziert, doch hat dessen Rezeption erst mit großer Verzögerung begonnen und wird nach wie vor durch ein engeres Historismusverständnis gehemmt, das in Deutschland noch stärker vorherrscht als in Italien. Der von einer intensiven Hegel-Rezeption geprägte storicismo war für die bis heute übliche Verengung, der Historismus sei ein letztlich jegliche Norm auflösender Relativismus, weniger anfällig als die in Deutschland übliche Gegenüberstellung von historistischem Geschichtsdenken und Hegel’scher Geschichtsphilosophie. Insofern stellt es sich nicht als Zufall dar, dass es mit Silvia Caianiello eine italienische Wissenschaftlerin aus der storicismoTradition ist, die bislang am entschiedensten zur Integration Winckelmanns in die Entstehungsgeschichte des Historismus beigetragen hat. Tatsächlich lohnt es sich – wie hier gezeigt werden sollte –, an den Historismusbegriff anzuknüpfen, den Schlegel aus seiner Winckelmann-Lektüre entwickelte. Die Historisierung, die für die westliche Moderne charakteristisch ist, lässt

„Winkelmanns Historismus“

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sich damit einschließlich ihrer Widerparte fokussieren. Eine solche Aufmerksamkeit für das Wechselspiel von Historisierungen und Überzeitlichkeitspostulaten – wie sie beispielsweise in Schlegels Interesse für das Progressive ebenso wie für das Klassische zum Ausdruck kommt – könnte nicht zuletzt die immanente (Krisen-)Teleologie des herkömmlichen eindimensionalen Historismusbegriffs aufbrechen.

THOMAS FRANKE

Fiktionalität in der Geschichte der Kunst des Alterthums: Zur Bedeutung der Hypothesenbildung für Winckelmanns Kunstgeschichtssystem und ihre wissenschaftshistorischen Voraussetzungen Die Geschichte der Kunst des Alterthums kann in die historiographische Bewegung des 18. Jahrhunderts eingeordnet werden, Geschichtsschreibung durch Konzeption von allgemeiner Geschichte aus sinnhaften historischen Zusammenhängen aufzuwerten.1 Dabei ist Winckelmanns Geschichtswerk sowohl ein ganz frühes Beispiel für die Verwendung des Kollektivsingulars ‚Geschichte‘ als auch der erste Versuch überhaupt, durch Bildung des Kollektivsingulars ‚Kunst‘ von der einen KunstGeschichte zu handeln.2 Wichtige Voraussetzungen von Winckelmanns kunsthistorischem Begründungszusammenhang liegen in Voltaires Konzeption einer Kulturgeschichte im Allgemeinen3 und Montesquieus Begriffen von Natur- und Kulturfaktoren im Besonderen.4 Deutlich herausgearbeitet wurde in diesem Kontext auch die Bedeutung von Winckelmanns besonderer historischer Konstruktion, mit welcher die antiken Überreste zu der einen Kunstgeschichte sinnvoll vereinigt werden. Es ist das Stil-System, das im Rahmen seines jeweiligen historischen Zusammenhanges von Natur, Nation und Kultur eine idealtypische Epochalisierung der Kunstgeschichte ermöglicht.5 Durch diese historiographische SystemKonstruktion wird Winckelmann zum Patriarchen der modernen Kunstgeschichtsschreibung, wie Alex Potts sich einmal ausdrückte.6 – Nun ist allerdings dieses Lehrgebäude von der ganzen antiken Kunstgeschichte nicht unproblematisch. Vielmehr reflektiert Winckelmann dort bemerkenswerter Weise selber darauf, wenn er angesichts des Denkmälermangels antiker Kunst davon spricht, dass ohne Hypothesen sein Lehrgebäude gar nicht haltbar sei.7 Winckelmanns offensiv verteidigte systematische Anwendung von Hypothesen, mithin seine spekulative Rekonstruktion der Antike wird daher denn auch für eine kühne Methodik seiner 1 2 3 4 5

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Elisabeth Décultot: Untersuchungen zu Winckelmanns Exzerptheften. Ein Beitrag zur Genealogie der Kunstgeschichte im 18. Jahrhundert. Stendal 2005, S. 151. Gabriele Bickendorf: Die Historisierung der italienischen Kunstbetrachtung im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin 1998, S. 275. Décultot: Untersuchungen (wie Anm. 1), S. 160f. Ebd., S. 156. Ulrich Muhlack: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus. München 1991, S. 251; Hubert Locher: Kunstgeschichte als historische Theorie der Kunst 1750–1950. 2. Aufl. München 2010, S. 113–117. Alex Potts: Winckelmann and the Origins of Art History. New Haven u. London 1994, S. 47. Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums. 1. Aufl. Dresden 1764, S. XXIV u. 430f. (= SN 4.1, S. XXXII, S. 836 u. 838).

https://doi.org/10.1515/9783110710373-013

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Kunstgeschichtsschreibung angesehen,8 die gleichwohl überhaupt erst den Zusammenhang des Ganzen seiner Geschichte konstituiert. Dieses besondere Vorgehen wird im Vergleich mit seinem antiquarischen Konkurrenten Comte de Caylus deutlich. Im Vorwort zum ersten Band des Recueil d’Antiquités (1752) erläutert er seine methodischen Voraussetzungen in Anlehnung an die Erfahrungswissenschaft par excellence, die Physik: Es komme primär auf die Erfahrung an und „die beste Weise, den Irrtum eines Antiquars und eines Physikers nachzuweisen, besteht darin, Ersteren mit neuen Denkmälern und Letzteren mit neuen Experimenten zu konfrontieren“.9 Von seinem strikten Paradigma der Erfahrung aus lehnt Caylus vehement alle Konjekturen ab. Im dritten Buch des Recueil (1759) warnt er ausdrücklich vor dem krankhaften Systemgeist10 und plädiert für das Wagnis, nicht zu wissen, wenn Wissenslücken vorliegen.11 Ein erster direkter Vergleich mit Winckelmanns Vorrede der Geschichte der Kunst des Alterthums, wonach „Muthmaßungen [...] aus einer Schrift dieser Art eben so wenig, als die Hypotheses aus der Naturlehre [zu] verbannen“12 seien, verdeutlicht, dass die beiden Altertumsforscher im Grundsatz weit auseinanderliegen. Bislang wurde dieser Einsatz von mutmaßender Spekulation für die Wissenschaft wissenschaftshistorisch noch nicht eingehender untersucht, es soll hier daher die Leitfrage verfolgt werden: Woher stammt Winckelmanns demonstrativer Mut zur systematischen Verwendung von Hypothesen innerhalb seines kunsthistorischen Lehrgebäudes?13 In der berühmten Schlusspassage der Geschichte der Kunst des Alterthums leistet Winckelmann noch einmal Rechenschaft über sein Vorgehen bei der Rekonstruktion der antiken Kunstgeschichte als Ganzes. Angesichts der gründlichen Vernichtung eines Großteils der antiken Werke haben wir, schreibt er, „gleichsam nur einen Schattenriß von dem Vorwurfe unsrer Wünsche übrig“.14 Nun führt Winckelmann diese Projektion durchaus nicht auf eine Art platonisches Höhlengleichnis zurück, sondern auf die imaginative Produktivität des Altertumsforschers selbst. Er schreibt: „Es geht uns hier vielmals, wie Leuten, die Gespenster kennen

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Heinrich C. Seeba: Johann Joachim Winckelmann. Zur Wirkungsgeschichte eines „unhistorischen Historikers“ zwischen Ästhetik und Geschichte. In: DVjs 56 (1982), S. 168– 201, hier S. 182–185; Décultot: Untersuchungen (wie Anm. 1), S. 165–167; Mathias Hofter: Die Sinnlichkeit des Ideals. Zur Begründung von Johann Joachim Winckelmanns Archäologie. Stendal 2008, S. 278; Katherine Harloe: Winckelmann and the Invention of Antiquity. Oxford 2013, S. 126f. Anne Claude Philippe Comte de Caylus: Recueil d’Antiquités égyptiennes, étrusques, grecques et romaines [ab Bd. 3: et gauloises]. 7 Bde. Paris 1752–1767, hier Bd. 1 (1752), S. IIIf. Ebd., Bd. 3 (1759), S. XIf. Ebd., Bd. 3, S. III. Winckelmann: Geschichte der Kunst (wie Anm. 7), S. XXIV (= SN 4.1, S. XXXII). Über die Bedeutung des Mutes zur Hypothese für die Entwicklung der Historiographie überhaupt vgl. Reinhart Koselleck: Art. Geschichte, Historie. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 8 Bde. Hg. v. Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck. Stuttgart 1972–1997, hier Bd. 2 (1975), S. 670. Winckelmann: Geschichte der Kunst (wie Anm. 7), S. 430 (= SN 4.1, S. 838).

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wollen, und zu sehen glauben, wo nichts ist: der Name des Alterthums ist zum Vorurtheil geworden“.15 Festzuhalten ist zunächst Winckelmanns eigene Skepsis gegenüber solcher Rekonstruktionsarbeit an der Antike, sie kann irren. Nun aber fährt er fort: „[A]ber auch dieses Vorurtheil ist nicht ohne Nutzen.“16 Daraufhin beschreibt er die von ihm konstruierte wissenschaftliche Projektion: „[A]ber wir kehren jeden Stein um, und durch Schlüsse von vielen einzelnen, gelangen wir wenigstens zu einer muthmaßlichen Versicherung [...].“17 Offenbar hilft die Projektion von einem Ganzen bei der Verknüpfung eines vernünftigen Zusammenhanges aus einzelnen Teilen, dessen Wahrheitswert freilich im Rahmen des bloß Wahrscheinlichen fragwürdig bleibt. Ich erinnere in dieser Hinsicht an Winckelmanns Darstellung der Erkenntnisproblematik menschlichen Wissens überhaupt: Im Abschnitt über den bejahenden Begriff des Schönen im vierten Kapitel der Geschichte der Kunst beschreibt er die prinzipielle Beschränktheit menschlicher Erkenntnis folgendermaßen: Wahres Wissen erfordere, so Winckelmann, die Kenntniß des Wesens selbst, in welches wir in wenigen Dingen hineinzuschauen vermögend sind. Denn wir können hier, wie in den mehresten Philosophischen Betrachtungen, nicht nach Art der Geometrie verfahren, welche vom allgemeinen auf das besondere und einzelne, und von dem Wesen der Dinge auf ihre Eigenschaften gehet und schließet, sondern wir müßen uns begnügen, aus lauter einzelnen Stücken wahrscheinliche Schlüsse zu ziehen.18

Wahre Erkenntnis ist abgesehen von der Mathematik stets bloß wahrscheinlich, sie beruht letztlich nur auf Erfahrungswissen von den Erscheinungen, verfehlt so zwangsläufig das Wesen der Dinge und kann sich nicht etwa auf platonische Ideen berufen.19 Zurück zur Funktion der Projektion: In der Vorrede zur Geschichte der Kunst des Alterthums gibt Winckelmann einen Überblick über sein Vorhaben: Im ersten Teil solle es um die Geschichte im engeren Sinn gehen, nämlich den „Versuch eines Lehrgebäudes“, so Winckelmann, in welchem das Wesen der Kunst der „vornehmste Entzweck“ ist.20 Er präzisiert: „Die Geschichte der Kunst soll den Ursprung, das Wachsthum, die Veränderung und den Fall derselben, nebst dem verschiedenen Stile der Völker, Zeiten und Künstler, lehren, und dieses aus den übrig gebliebenen Werken des Alterthums, so viel möglich ist, beweisen.“21 Zum Schluss der Vorrede kommt er nochmals auf sein Projekt des Lehrgebäudes zurück: 15 16 17 18 19

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Ebd. Ebd. Ebd., S. 431 (= SN 4.1, S. 838). Ebd., S. 148f. (= SN 4.1, S. 250). Thomas Franke: Ideale Natur aus kontingenter Erfahrung. Johann Joachim Winckelmanns normative Kunstlehre und die empirische Naturwissenschaft. Würzburg 2006. S. 15f. u. 35f.; Ders.: Winckelmann-Apologien um 1800. In: Aufklärung 27 (2015): Winckelmann. Hg. v. Elisabeth Décultot u. Friedrich Vollhardt, S. 75–101, hier S. 77. Winckelmann: Geschichte der Kunst (wie Anm. 7), S. X (= SN 4.1, S. XVI). Ebd.

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Ich habe mich mit einigen Gedanken gewaget, welche nicht genug erwiesen scheinen können: vielleicht aber können sie andern, die in der Kunst der Alten forschen wollen, dienen, weiter zu gehen; und wie oft ist durch eine spätere Entdeckung eine Muthmaßung zur Wahrheit geworden. Muthmaßungen, aber solche, die sich wenigstens durch einen Faden an etwas Festen [!] halten, sind aus einer Schrift dieser Art eben so wenig, als die Hypotheses aus der Naturlehre zu verbannen; sie sind wie das Gerüste zu einem Gebäude, ja sie werden unentbehrlich, wenn man, bey dem Mangel der Kenntniße von der Kunst der Alten, nicht große Sprünge über viel leere Plätze machen will. Unter einigen Gründen, welche ich von Dingen, die nicht klar wie die Sonne sind, angebracht habe, geben sie einzeln genommen, nur Wahrscheinlichkeit, aber gesammelt und einer mit dem andern verbunden, einen Beweis.22

Seinen selber so genannten „Versuch“ eines Lehrgebäudes rahmt Winckelmann also durch zwei grundsätzliche Methodenreflexionen ein, die zu dem Ergebnis führen, dass die Aufstellung eines Lehrgebäudes von der ganzen antiken Kunst angesichts des Mangels an Denkmalzeugnissen erst durch die Errichtung eines Hypothesen-Gerüstes überhaupt möglich wird. Die Hypothesen bzw. Mutmaßungen projektieren ein kunsthistorisches Ganzes, in welchem die zufällig auf uns gekommenen Überreste sinnvoll eingeordnet werden. Das Sammeln und vernünftige Verknüpfen der antiken Bruchstücke kann wiederum die Hypothesen wahrscheinlicher machen und so genugsam bestätigen, „beweisen“, wie der Fachausdruck dafür zu Winckelmanns Zeit lautet; darauf wird unten noch näher einzugehen sein. Bereits Herder beschreibt dieses Verfahren in seinem Denkmal Johann Winkelmanns (1777): Und wie fing ers denn an? Er schrieb statt Geschichte, die nicht geschrieben werden kann, ein historisches Lehrgebäude: d.i. er setzte aus den Nachrichten oder Denkmälern, die ihm bekannt waren, nur zuerst Unterscheidungszeichen zwischen Völkern, hernach in ihnen zwischen Zeiten und Klassen, oder Arten des Styls fest und so fing er an zu ordnen und zu schreiben. Unvollständig mag das allerdings sein, es ist mehr als unvollständig, Idealisch: so viel ich aber einsehe, ists bei dem großen Mangel von Namen, Nachrichten und würcklicher Geschichte, das einzige Mittel zu einem Ganzen [...].23

Winckelmanns Versuch eines Lehrgebäudes gründet demnach insbesondere auf der Errichtung der Hypothese von dem Verlauf einer je eigentümlichen Stilentwicklung der Kunst in den verschiedenen antiken Völkern. Beispielsweise in seiner Darstellung der etruskischen und griechischen Kunstgeschichte: So resümiert er am Schluss des dritten Kapitels „Von der Kunst unter den Hetruriern“:

Von der Kunst der Aegypter können wir mit mehr Gewißheit reden, die uns von jenen Völkern, deren Länder wir bereisen und umgraben, fehlet. Wir haben eine Menge kleiner Hetrurischer Figuren, aber nicht Statuen genug, zu einem völlig richtigen Systema ihrer Kunst zu gelangen, 22 23

Ebd., S. XXIV (= SN 4.1, S. XXXII). Johann Gottfried Herder: Denkmal Johann Winkelmanns [1777]. In: Ders.: Werke. Hg. v. Günter Arnold u.a. Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767–1781. Hg. v. Gunter E. Grimm. Frankfurt a.M. 1993, S. 656f.

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und nach einem Schiffbruche läßt sich aus wenig Bretern kein sicheres Fahrzeug bauen. Das mehreste bestehet in geschnittenen Steinen [...].24

Aus solchen Überresten extrapoliert Winckelmann nichtsdestotrotz eine Entwicklung der etruskischen Kunst über drei Stilstufen, die eine zunehmende Verfeinerung markieren, aber eben nicht zu einer Reifestufe führen können. – Auch seine Stilgeschichte der griechischen Kunst baut, abgesehen von den Epochen des schönen Stils und des Niedergangs der Kunst hauptsächlich auf Mutmaßungen. Den älteren Stil konstruiert er allein aufgrund von Münzen und geschnittenen Steinen und folgert: Wenn wir aber wie von dem Nachdrucke in Angebung der Theile an ihren kleinen Figuren auf Münzen, auf größere, auch auf den nachdrücklichen Ausdruck der Handlungen schließen dürfen, so würden die Künstler dieses Stils ihren Figuren heftige Handlungen und Stellungen gegeben haben; so wie die Menschen aus der Heldenzeit [...].25

Und in Bezug auf die Vorbereitung dieses Stils zum hohen Stil: Was insbesondere die Ausarbeitung der Werke der Bildhauerey aus dieser Zeit betrifft, von welchen sich in Rom nichts erhalten hat, so sind dieselben vermuthlich mit dem mühsamsten Fleiße geendiget gewesen, wie sich aus einigen angeführten Hetrurischen Werken, und aus sehr vielen der ältesten geschnittenen Steine, schließen läßt. Man könnte dieses auch aus den Stuffen des Wachsthums der Kunst in neuern Zeiten muthmaßen.26

Winckelmann mutmaßt also eine Analogie zur neuzeitlichen Kunstgeschichte und konstruiert dementsprechend eine ähnliche Entwicklung bei den Griechen bis zum Beginn des hohen Stils: „Ueber dieses angenommene Systema“, so Winckelmann, „erhoben sich die Verbesserer der Kunst, und näherten sich der Wahrheit der Natur.“27 Doch auch diese Eigenschaften des hohen Stils muss Winckelmann erst konstruieren, denn: „Die vorzüglichsten, und man kann sagen, die einzigen Werke in Rom aus der Zeit dieses hohen Stils sind, so viel ich es einsehen kann, die oft angeführte Pallas von neun Palme hoch, in der Villa Albani, und die Niobe und ihre Töchter in der Villa Medicis.“28 Das Grundgerüst von Winckelmanns Versuch eines Lehrgebäudes der antiken Kunstgeschichte, die jeweilige Stilcharakterisierung und -epochalisierung nationaler Kunstentwicklungen, besteht weitgehend aus Hypothesen und Winckelmann gibt selber stets ganz freimütig Rechenschaft über den hypothetischen Status seines Systems im Allgemeinen und seiner systematisch ergänzenden Bauteile im Besonderen.

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Winckelmann: Geschichte der Kunst (wie Anm. 7), S. 125f. (= SN 4.1, S. 208). Ebd., S. 221 (= SN 4.1, S. 436). Ebd., S. 223 (= SN 4.1, S. 444). Ebd., S. 224 (= SN 4.1, S. 464). Ebd., S. 226 (= SN 4.1, S. 448).

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Dass menschliche Erkenntnis überhaupt weitgehend bloß wahrscheinliches Wissen sein kann, setzt Winckelmann selbstverständlich auch bei seinem Versuch eines historischen Lehrgebäudes voraus. Zu seiner Zeit war die erkenntnistheoretische Einordnung der Historie in die empirische und damit ausschließlich wahrscheinliche Erkenntnis hervorbringenden wissenschaftlichen Disziplinen weitgehend akzeptiert. Descartes und Hobbes hatten der Geschichtsschreibung prinzipiell sogar den Charakter einer wahren Wissenschaft ganz abgesprochen, da sie zur Methode more geometrico und damit zur demonstrativ gewissen Wahrheit unfähig ist.29 Diese grundsätzliche Problematisierung der Leistungsfähigkeit der Geschichtsschreibung in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts führte seit dem frühen 18. Jahrhundert zu Neubegründungs-Überlegungen für die Geschichte als ernst zu nehmende Wissenschaft.30 Aufklärungshistoriker wie etwa Winckelmanns hallescher Lehrer Siegmund Jacob Baumgarten 174431 oder später Johann Christoph Gatterer 176732 ersannen Modelle zu einem historiographischen Kausalsystem aus eng verknüpften, quellengestützten historischen Zusammenhängen, die eine neue, spezifische Objektivität der Geschichtsschreibung garantieren sollten.33 Der grundlegende Einsatz von Hypothesen stand dabei nicht auf dem Programm. Systematische Überlegungen zur Verwendung von Hypothesen in der Geschichtsschreibung sind vielmehr in der besonders erkenntnisskeptischen empiristischen Denktradition, zumal im deutschen Frühempirismus zu finden: Die sogenannte Thomasius-Schule entwickelt seit Beginn des 18. Jahrhunderts eine empiristische Wahrscheinlichkeitstheorie, die insbesondere auch die nicht gewissheitsfähigen Wissensformen einschließlich der Historie umfasst.34 Vor allem Andreas Rüdigers einflussreiches Werk De sensu et 29

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Muhlack: Geschichtswissenschaft (wie Anm. 5), S. 68f.; Johannes Süssmann: Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstitutionslogik von Geschichtserzählungen zwischen Schiller und Ranke (1780–1824). Stuttgart 2000, S. 48–52. Muhlack: Geschichtswissenschaft (wie Anm. 5), S. 71; Ursula Goldenbaum: Die philosophische Methodendiskussion des 17. Jahrhunderts in ihrer Bedeutung für den Modernisierungsschub in der Historiographie. In: Wolfgang Küttler, Jörn Rüsen u. Ernst Schulin (Hg): Geschichtsdiskurs. Bd. 2: Anfänge modernen historischen Denkens. Frankfurt a.M. 1994, S. 148–161, hier S. 150. Siegmund Jacob Baumgarten: Über die eigentliche Beschaffenheit und Nutzbarkeit der Historie. In: Ders. (Hg.): Übersetzung der Allgemeinen Welthistorie [...]. Vorrede. Halle 1744, hier S. 4–38. Vgl. Br. 1, S. 87 u. Br. 4, S. 376. Johann Christoph Gatterer: Vom historischen Plan und der darauf sich gründenden Zusammenfügung der Erzählungen. In: Ders. (Hg.): Allgemeine historische Bibliothek 1 (1767), S. 15–89; Ders.: Die Allgemeine Welthistorie [...]. Bd. 1: Vorrede von der Evidenz in der Geschichtkunde. Halle 1767, S. 15–89. Zu Gatterer vgl. Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860. Berlin u. New York 1996, S. 61–64; zu Baumgarten vgl. Markus Völkl: „Pyrrhonismus historicus“ und „fides historica“. Die Entwicklung der historischen Methodologie unter dem Gesichtspunkt der historischen Skepsis. Frankfurt a.M. u. New York 1987, S. 233–235. Carlos Spoerhase: Die „mittelstrasse“ zwischen Skeptizismus und Dogmatismus. Konzeptionen hermeneutischer Wahrscheinlichkeit um 1750. In: Ders., Dirk Werle u. Markus Wild

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falsi (1709) ist hier zu nennen. Johann Georg Walch fasst die Ergebnisse dieser Schule 1726 in seinem Philosophischen Lexikon im Artikel „Wahrscheinlichkeit“ zusammen, aus dem sich noch 1747 der gleichnamige Artikel in Zedlers Universal-Lexicon weitgehend speist.35 So beruft sich auch der Zedler-Artikel ausdrücklich auf die empiristische Erkenntnistheorie Rüdigers, der noch ausführlicher als John Locke von der Wahrscheinlichkeit gehandelt habe. In enger Anlehnung an Lockes Empirismus unterzieht Rüdiger den Anspruch der rationalistischen Philosophie, ein objektiv wahres Wissen von der Natur metaphysisch deduzieren zu können, einer scharfen Kritik. Der Artikel setzt mit Rüdiger voraus, dass die ursächlichen Gesetzmäßigkeiten der realen Dinge weder durch Erfahrungen und erst recht nicht durch Metaphysik demonstrativ gewiss erkannt, sondern bloß gemutmaßt werden können.36 In der Konsequenz handelt er unter dem Abschnitt „Lehre von der Wahrscheinlichkeit überhaupt“ nun ausführlich die Anwendung von Hypothesen im Allgemeinen ab: Das Unvermögen des menschlichen Verstandes werde nämlich durch die ihm verliehene „Krafft des Ingenii, nothdürfftig ersetzet[.] [...] Es ist also solchenfals kein anderes Mittel übrig, zu der gesuchten Erkänntniß, wenigstens so gut es möglich, zu gelangen, als daß man, durch Hülffe des Ingenii, herum dencken, was, in Ermangelung der Gewißheit, vielleicht möglich sey [...].“37 Laut Zedlers Zusammenfassung nach Walch werden solche erdachten Möglichkeiten wahrscheinlicher und gewisser durch Abstimmung mit den zur Verfügung stehenden empirischen Daten, wobei die wahrscheinliche Gewissheit wächst, je mehr Daten mit der ersonnenen Gesetzmäßigkeit übereinstimmen. Der Zedler definiert: „Und wird eine solche glaubliche Möglichkeit eine vernünfftige Vermuthung, oder Hypothesis, genennet.“38 Wichtig im Zusammenhang mit Winckelmann ist, dass dieser Text über den Gebrauch der Hypothesen sich nicht allein auf die wahrscheinliche Erkenntnis in den Naturwissenschaften bezieht, sondern gleichermaßen auch auf die „Historische, Hermeneutische, Physische, Politische und Practische Wahrscheinlichkeit“.39 Hypothesen sind aus der Naturwissenschaft wie der Historie nicht wegzudenken, hierin stimmt Winckelmann in seiner Vorrede mit dieser empiristischen Hypothesenmethodik überein. Im Abschnitt über die historische Wahrscheinlichkeit argumentiert Zedlers Text typisch empiristisch mit der fehlenden Autopsie des Historiographen, der, zu bloßem „Treu und Glauben“40 gegenüber den historischen

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(Hg.): Unsicheres Wissen. Skeptizismus und Wahrscheinlichkeit 1550–1850. Berlin u. New York 2009, S. 269–300, hier S. 277f. Franke: Ideale Natur (wie Anm. 19), S. 38–40. Johann Heinrich Zedler: Art. Wahrscheinlichkeit. In: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste [...]. Bd. 52. Leipzig u. Halle 1747, Sp. 1020–1063, hier Sp. 1035. Ebd., Sp. 1022f. Ebd., Sp. 1024. Ebd., Sp. 1034f. Siehe ebd., Sp. 1036.

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Quellen gezwungen, nur wahrscheinliches historisches Wissen erlangen kann. Mit Rüdiger wird hier im Weiteren die historische Gewissheit als Gradation der historischen Beweisführung beschrieben, die von der übereinstimmenden Dokumentation der Vielzahl von Quellen abhängt. Aus der Menge ihrer Übereinstimmungen kann sich dann ein historischer, sogenannter „Beweiß“41 ergeben, der nichtsdestoweniger bloß wahrscheinliche Geltung hat. Es ist diese wissenschaftliche Methodik, mit der Winckelmann seine historischen Mutmaßungen als beweisfähig verteidigen wird. – Doch in einer Hinsicht unterscheidet sich Winckelmanns Methodik der historischen Hypothese immer noch grundlegend: Die Errichtung eines ganzen historischen Lehrgebäudes aufgrund eines Hypothesen-Gerüstes wird im ZedlerArtikel noch gar nicht in Betracht gezogen. Lediglich der Validierung einzelner historischer Begebenheiten sollen dort die vernünftigen Vermutungen dienen, nicht einem umfassenden Systemzusammenhang. Eine allgemeine Geschichte nämlich, wie sie Winckelmann mit Voltaire bereits 1754 in seinen Gedanken vom mündlichen Vortrag der neueren allgemeinen Geschichte gegen die Spezialgeschichte fordert,42 ist hier noch nicht vorgesehen. Winckelmanns Mut zur Hypothese ist folglich wissenschaftshistorisch noch näher zu bestimmen. Dazu soll zunächst ein weiterer Aspekt seiner Hypothesenmethodik herausgestellt werden. Ein altertumskundliches Vorurteil sei nicht ohne Nutzen, behauptete Winckelmann in der Schlusspassage der Geschichte der Kunst des Alterthums, die er mit den Worten enden lässt: „Man muß sich nicht scheuen, die Wahrheit auch zum Nachtheile seiner Achtung zu suchen, und einige müssen irren, damit viele richtig gehen.“ Und in der Vorrede hatte er bereits vorausgeschickt: „Ich habe mich mit einigen Gedanken gewaget, welche nicht genug erwiesen scheinen können: vielleicht aber können sie andern, die in der Kunst der Alten forschen wollen, dienen, weiter zu gehen.“43 Offenbar versteht Winckelmann sein eigenes Lehrgebäude als ein Forschungsprojekt, das grundsätzlich mit seiner Fallibilität und der kritischen Fortsetzung durch anschließende Forschung rechnet. Dabei hat er genaue Vorstellungen davon, was solch ein wissenschaftliches System zu leisten hat. Ein Beispiel davon gibt er anlässlich der Beschreibung des älteren Stils der etruskischen Kunst: „Die Kunst war damals wie ein schlechtes Lehrgebäude, welches blinde Nachfolger macht, und nicht zweifeln, noch untersuchen läßt.“44 Winckelmanns Projekt eines Lehrgebäudes geht von seiner Berichtigungs- und Erweiterungsfähigkeit aus. Genau das ist auch von Winckelmanns unmittelbaren Nachfolgern wahrgenommen worden: So hält Christian Gottlob Heyne beispielsweise in der Sammlung antiqua41 42

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Ebd., Sp. 1041. KS, S. 17–26, hier S. 21. Vgl. Elisabeth Décultot: Zwischen Kunst und Geschichte. Zur Ausbildung von Winckelmanns Geschichtsbegriff und seine europäischen Quellen. In: Dies. u. Daniel Fulda (Hg.): Sattelzeit. Historiographiegeschichtliche Revisionen. Berlin u. Boston 2016, S. 102–124, hier S. 112f. Winckelmann: Geschichte der Kunst (wie Anm. 7), S. XXIV (= SN 4.1, S. XXXII). Ebd., S. 107 (= SN 4.1, S. 168).

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rischer Aufsätze (1778) Winckelmann recht polemisch „unzähliche Unrichtigkeiten“ gerade auch bei der Bestimmung von Stilen, Epochen und Perioden vor, da dieser mit feuriger Einbildungskraft mehr Hypothesen gebildet habe als er auf gesicherten Fakten habe gründen können, baut dann aber selber ausdrücklich weiter darauf, um darin systematisch Berichtigungen und Ergänzungen vorzunehmen.45 Herder stellt im Denkmal Johann Winkelmanns deutlich das idealisch Fiktive in Winckelmanns Lehrgebäude heraus, insistiert zugleich auf der Unverzichtbarkeit seiner Methode und plädiert dafür, „auf seiner Bahn, mit seinem Geist und Feuereifer für Altertum und Künste fort[zu]gehen und zuvörderst die Mängel [zu]ersetzen“, wobei er ausdrücklich Heynes Vorgehen lobt.46 Als Goethe sich Anfang 1787 daran machte, mit Winckelmanns Kunstgeschichte die antiken Denkmäler Roms zu studieren schreibt er am 13. Januar an Herder: „[...] ach Winckelmann! wie viel hat er gethan und wieviel hat er uns zu wünschen übrig gelaßen. Du kennst mich Hypothesen-Auflößer und Hypothesen-Macher. Er hat mit denen Materialien die er hatte geschwinde gebaut[.] [...] Was hätte er nicht noch beobachtet, was berichtigt [...].“47 Ein undatierter Aphorismus aus dem Goethe-Nachlass zeigt ebenfalls Spuren von Winckelmanns besonderer Diktion: „Hypothesen sind Gerüste die man vor dem Gebäude aufführt und die man abträgt wenn das Gebäude fertig ist, sie sind den Arbeitern unentbehrlich [...].“48 Goethe hielt kritisch, aber ein Leben lang an dem „dauerhaften Winkelmannischen Faden“ der Stilepocheneinteilung fest.49 Gleichermaßen sein Weimarer Kunstfreund Johann Heinrich Meyer, der, auf Winckelmanns System aufbauend, es dahingehend verbesserte, dass er zwischen dem älteren und hohen Stil der griechischen Kunst den neuen Begriff des „gewaltigen und strengen Stils“ einschaltete.50 Einen Hinweis auf das wissenschaftshistorische Umfeld von Winckelmanns Methodik der Experimental-Hypothese, als welche sie hier bezeichnet werden soll, kann man in Heynes Berichtigung und Ergänzung der Winkelmannischen Geschichte der Kunst des Alterthums (1771) finden: Zur recht kritischen Würdigung von Winckelmanns hypothetischem Kunstgeschichtssystem hebt er dessen Ge45 46 47

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Christian Gottlob Heyne: Sammlung antiquarischer Aufsätze. 1. Stück. Leipzig 1778, S. VIII; Ders: Ueber die Künstlerepochen beim Plinius. In: Ebd., S. 165-235, hier S. 166f. Herder: Denkmal (wie Anm. 23), S. 672. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hg. v. Hendrik Birus u.a. Abt. 2. Bd. 3: Italien – Im Schatten der Revolution: Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 3. September 1786 bis 12. Juni 1794. Hg. v. Karl Eibl. Frankfurt a.M. 1991, S. 221. Ebd., Abt. 1, Bd. 13: Sprüche in Prosa [...]. Hg. v. Harald Fricke. Frankfurt a.M 1994, S. 97, *1.667. Vgl. ebd. den Stellenkommentar, S. 639. Vgl. Martin Dönike: Altertumskundliches Wissen in Weimar. Berlin u. Boston 2013, S. 5. Heinrich Meyer’s Geschichte der bildenden Künste bei den Griechen. Von ihrem Ursprunge bis zum höchsten Flor. Dresden 1824, S. 46–57. Vgl. Martin Dönike: Zwischen Kunst und Wissenschaft. Meyer und die zeitgenössische Archäologie. In: Alexander Rosenbaum, Johannes Rößler u. Harald Tausch (Hg.): Johann Heinrich Meyer – Kunst und Wissen im klassischen Weimar. Göttingen 2013, S. 73–90, hier S. 87f.

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samtplan zu einer Kunstgeschichte heraus, der mit „Meisterhand“ erfunden ein Lehrgebäude aufrichtete und darin Stilepochen festlegte, wo noch gar kein gesichertes Wissen vorlag. Heyne urteilt: Es ist dieß das Schicksal aller Schriftsteller, welche ein Ganzes schaffen wollen, wo noch nicht das Einzelne vollständig bearbeitet ist; welche Systeme bauen, ehe noch Beobachtungen und Erfahrungen genug gemacht sind. [...] Daß der eine ein gründliches Gebäude aufführt, der andere Hypothesen oder Träumereien aufthürmte, war nicht eben ein Beweiß grösserer oder schwächerer Geisteskräfte. Nein, den einen war gehörig vorgearbeitet, die anderen fanden noch nichts oder weniges[.] [...] Es mußten viele seltsame Lehrgebäude vorausgehen, ehe das nur weniger seltsame System eines Buffon zum Vorschein kommen konnte. Auch Winkelmanns Erfindungs- oder Einbildungskraft hat die Lücken mit Voraussetzungen und Möglichkeiten ausgefüllt, wo kritische Nachforschungen noch nicht den Stoff zu etwas Gründlichern darboten.51

Heyne hält es offensichtlich für angemessen, die Geschichte der Kunst des Alterthums neben Buffons berühmte Naturgeschichte auf gleiche wissenschaftsmethodologische Ebene zu stellen! Buffons weit angelegte Enzyklopädie von insgesamt 44 Bänden, 1749–1803 publiziert,52 bietet im ersten Band zuerst eine wissenschaftstheoretische Abhandlung, um darauf die allgemeinen Zusammenhänge des Lebens mittels auch kühner Hypothesen in umfassenden Lehrgebäuden zu präsentieren: Zunächst eine kosmound geologische Erdgeschichte, darauf im dritten Band eine Theorie der Entstehung des Lebens überhaupt. Dann folgt eine Klassifikation der Naturgeschichte in eine des Menschen und eine der Tiere, die ab dem vierten Band 1754 mit den Quadrupeden anhebt und in zwölf Bänden fortgesetzt wird. Zwischen 1750 und 1755 hat Winckelmann umfangreiche Exzerpte aus den ersten vier Bänden der Histoire Naturelle angefertigt und das Werk auch noch später in Italien zu Rate gezogen.53 Am Anfang dieses wissenschaftlichen Großunternehmens proklamiert Buffon seine empiristische Wissenschaftskonzeption:54 Er verwirft ein für alle Mal den damaligen Königsweg der kausalen Ursachen-Erkenntnis durch mathematische Deduktion, da er für die meisten Forschungsdisziplinen, die sich mit realen Dingen beschäftigen, nicht gangbar sei. Mittels Geometrie und Mathematik ließen sich die vermischt zusammengesetzten Dinge nicht logisch herleiten, schon gar nicht Le51

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Christian Gottlob Heyne: Berichtigung und Ergänzung der Winkelmannischen Geschichte der Kunst des Alterthums. In: Deutsche Schriften von der königlichen Societät der Wissenschaften zu Göttingen herausgegeben. Bd. 1. Göttingen u. Gotha 1771, S. 204–266, hier S. 207f. – In der frühen italienischen und französischen Winckelmann-Rezeption scheinen Nachwirkungen seines Hypothesenkonzeptes nicht vorzuliegen. Hierbei ist anzumerken, dass die diversen Editionen von Carlo Fea seit 1783 und Michael Huber seit 1781 auf der postumen Wiener Ausgabe der Geschichte der Kunst des Alterthums von 1776 gründen, welche Winckelmanns Vorrede von 1764 nur bis S. XX (= SN 4.1, S. XXVIf.) aufnimmt. Georges-Louis Leclerc Comte de Buffon: Histoire naturelle générale & particulière avec la déscription du Cabinet du Roy. Bd. 1–3. Paris 1749; Bd. 4. Paris 1753. Franke: Ideale Natur (wie Anm. 19), S. 158f., Anm. 24. Zu Buffons Empirismus vgl. Jacques Roger: Buffon. A Life in Natural History. Ithaca u. London 1997, S. 84–89.

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bendiges. Vielmehr bahnen nach Buffon auch hier primär auf Erfahrung gestützte Wahrscheinlichkeitserwägungen den einzig praktikablen Weg. Von daher teilt er zwei Hauptklassen solcher Wissenschaft ein: „Die erste ist die bürgerliche Historie, die andere ist die Historie der Natur.“55 Buffon behauptet gegenüber den Vorgängersystemen allerdings, dass seine hypothetischen Lehrgebäude durch zahlreiche neue Beobachtungen einen höheren Wahrscheinlichkeitsgrad haben.56 In diesen typisch empiristischen Auffassungen kommen also Buffon und beispielsweise der behandelte Zedler-Artikel überein und mit beiden später Winckelmann auf dem Gebiet der Historie. Buffon aber realisierte als Erster umfassende wissenschaftliche Lehrgebäude aufgrund systematischen, wissenschaftlich ausgewiesenen Gebrauchs von Hypothesen.57 Die von Winckelmann besonders frequentierte Buffon-Ausgabe ist die erste deutsche Edition von Buffons ersten vier Bänden, übertitelt: Allgemeine Historie der Natur nach allen besonderen Theilen abgehandelt; nebst einer Beschreibung der Naturaliensammlung Sr. Majestät des Königs von Frankreich. Mit einer Vorrede Herrn Doctor Albrecht von Haller.58 Sie erschien in vier Bänden in Hamburg und Leipzig 1750–1754, herausgegeben von Barthold Joachim Zinck, übersetzt von dem bekannten Göttinger Mathematiker Abraham Gotthelf Kästner, der zusammen mit Haller auch die kritischen Annotationen anfertigte. Albrecht von Haller, zu dieser Zeit bereits berühmter Naturforscher an der Universität Göttingen, übrigens auch der einzige deutschsprachige Dichter, den Winckelmann in seinen Schriften zitiert,59 vertrat seit seinem Studium in Leiden 1725–1727 bei Boerhaave und Boyle das empiristische Wissenschaftsmodell.60 Um 1750 war in Göttingen wie überall das Wissenschaftsparadigma für die Naturkunde noch nicht entschieden und die Wolffsche Metaphysik galt als starke Alternative. Haller dagegen war mit Buffons Wissenschaftsmodell und seiner Auffassung vom Stellenwert der Hypothese im Wesentlichen einverstanden.61 Doch während die Hypothese bei Buffon noch schlicht praktische Konsequenz aus der empiristischen Erkenntnis-Problematik ist, stellt Haller sie in seiner methodologischen Vorrede 55 56 57

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Buffon: Histoire Naturelle (wie Anm. 52), Bd. 1, S. 29. Ebd., S. 67f. Vgl. Peter Hanns Reill: Science and the Science of History in the Spätaufklärung. In: Hans Erich Bödeker u.a. (Hg.): Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert. Göttingen 1986, S. 430–451, hier S. 434–436. Zur Bedeutung dieser Edition und der Vorrede Hallers für die Wissenschaftsgeschichte in Deutschland vgl. ebd., S. 434. Vgl. KS, S. 376. Cornelia Rémi: Religion und Theologie. In: Hubert Steinke, Urs Boschung u. Wolfgang Proß (Hg.): Albrecht von Haller. Leben – Werk – Epoche. Göttingen 2008, S. 199–225, hier S. 199; Otto Sonntag u. Hubert Steinke: Der Forscher und Gelehrte. In: Ebd., S. 317–346, hier S. 326– 329. Simone de Angelis: Von Newton zu Haller. Studien zum Naturbegriff zwischen Empirismus und deduktiver Methode in der Schweizer Frühaufklärung. Tübingen 2003, S. 193–195 u. 198; zur Provenienz von Hallers Hypothesen-Begriff ebd., S. 424–429.

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ungewöhnlicher Weise ganz in den Mittelpunkt der Betrachtung und propagiert ihren hohen Wert für die Wissenschaft. Winckelmanns Hypothesengebrauch stimmt nun mit Hallers Buffon-Vorrede sowohl inhaltlich als auch in der Metaphorik, bis hin zur eigentümlichen Wortwahl, so weit überein, dass es naheliegend ist, hier Winckelmanns Vorbild zu identifizieren. Natürlich teilen beide zunächst den Grundsatz, dass mathematische Gewissheit „in den mehresten Philosophischen Betrachtungen“, wie Winckelmann sich ausdrückt, nicht zu haben ist.62 Beide kommen zu dem Schluss, dass man sich folglich mit der Wahrscheinlichkeit begnügen und kausale Gesetzmäßigkeiten behelfsweise durch Hypothesen ersinnen müsse. Sie können aus der Naturlehre nicht „verbannet“ werden, wie beide formulieren.63 Jenem merkwürdigen, einprägsamen Gleichnis Winckelmanns, das auch Goethe verwendet hatte, „Hypotheses [...] sind wie das Gerüste zu einem Gebäude“, geht die Formulierung Hallers voraus: „Aber die Hypothesen sind, wie wir schon gesaget haben, ein Gerüste, sich zur Wahrheit zu nähern [...].“64 Dabei bezeichnet Haller die umfassenden Konstruktionen der Hypothesen stets mit dem Begriff „Lehrgebäude“65, etwa: „Die angenommenen Hypothesen [...] haben uns noch nicht ganz zur Wahrheit, aber doch viel näher, geführet: jedes neue Lehrgebäude leitet uns etwas näher, und ohne dieselben hätten wir keinen Schritt gethan.“66 Denn, so wiederum Winckelmann, Hypothesen sind „unentbehrlich, wenn man, bey dem Mangel der Kenntniße von der Kunst der Alten, nicht große Sprünge über viele leere Plätze machen will.“67 Haller drückt das etwas dramatischer so aus: „Niemand wird betrogen werden, wann wir zwar mit dem Wahrscheinlichen die Lücken des Wahren ergänzen, wenn wir aus demselben über den Abgrund der Unwissenheit Brücken bauen [...]“.68 Winckelmann vergleicht Hypothesen mit „Muthmaßungen, aber solche, die sich wenigstens durch einen Faden an etwas Festen halten“.69 Haller schreibt: „Sie sind der Leitfaden, der zum Neuen und zum Wahren führt [...].“70 Winckelmann will mit Hilfe von Hypothesen aus den spärlichen Bruchstücken der Antike ein ganzes Lehrgebäude der antiken Kunst errichten, Haller sagt: „[...] sollten wir nicht diese mangelnden Theile mit dem Wahrscheinlichen ergänzen, und an statt einer Ruine 62

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Albrecht von Haller: Vorrede. In: Georges Louis Le Clerc de Buffon: Allgemeine Historie der Natur [...]. Erster Theil. Hamburg u. Leipzig 1750, S. IX–XXI, hier S. X–XIII. – Dasselbe, leicht verändert, unter dem Titel Vorrede zum Ersten Theile der allgemeinen Historie der Natur auch in Albrecht von Haller (Hg.): Sammlung kleiner Hallerischer Schriften. Erster Theil. 2. Aufl. Bern 1772, S. 47–77, hier S. 52–57. Haller: Vorrede [1750] (wie Anm. 62), S. XII. Ebd., S. XVI. Zum Desiderat der Provenienzforschung über diesen Begriff bei Winckelmann vgl. Harloe: Winckelmann (wie Anm. 8), S. 116. Haller: Vorrede [1750] (wie Anm. 62), S. XV. Winckelmann: Geschichte der Kunst (wie Anm. 7), S. XXIV (= SN 4.1, S. XXXII). Haller: Vorrede [1750] (wie Anm. 62), S. XIX. Winckelmann: Geschichte der Kunst (wie Anm. 7), S. XXIV (= SN 4.1, S. XXXII). Haller: Vorrede [1750] (wie Anm. 62), S. S. XIV.

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ein Gebäude aufrichten.“71 Dabei vergleicht Winckelmann in seiner Schlusspassage solche Konstruktionen merkwürdigerweise mit „Gespenstern“, die dennoch zu nützlichen Wahrheiten führen könnten,72 worin ihm aber in dieser Metapher Haller ebenfalls vorangeht.73 Insbesondere teilt Winckelmann mit Haller den Grundgedanken der Experimental-Hypothese, dass anschließende Forschungen ein hypothetisches Lehrgebäude korrigieren und ergänzen helfen. Haller illustriert dies bis hin zur Ablösung eines alten Lehrgebäudes durch ein Besseres am Beispiel des botanischen Systems Linnés und der Überholung des ptolemäischen durch das kopernikanische Weltsystem.74 Und schließlich endigt bereits Haller seine Abhandlung, wie nach ihm Winckelmann, mit dem persönlichen Forscherrisiko des Irrtums zugunsten des allgemeinen Erkenntnisfortschritts: „[E]ine irrige Lehre ist für einen Erfinder ein Schiffbruch [...]. Aber wäre kein Columbus, kein Magellan aus Spanien abgesegelt, so wären viele Schiffbrüche vermieden, aber auch keine neue Welt entdecket worden.“75

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Ebd. Winckelmann: Geschichte der Kunst (wie Anm. 7), S. 430 (= SN 4.1, S. 838). Haller: Vorrede [1750] (wie Anm. 62), S. XIV. Ebd., S. XVII–XIX. Ebd., S. XIX.

Zitierte Ausgaben der Werke Winckelmanns Br. – Johann Joachim Winckelmann: Briefe. 4 Bde. In Verbindung mit Hans Diepolder hg. v. Walther Rehm. Berlin 1952–1957. “Eiselein“ – Johann Winckelmanns sämtliche Werke. Einzige vollständige Ausgabe. 12 Bde. Hg. v. Joseph Eiselein. Donauöschingen 1825–1829. KS – Johann Joachim Winckelmann: Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe. Hg. v. Walther Rehm. Mit einer Einleitung von Hellmut Sichtermann. Berlin 1968 [2. Aufl. mit einem Geleitwort von Max Kunze. Berlin/New York 2002]. SN – Johann Joachim Winckelmann: Schriften und Nachlaß. Hg. v. der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt und der Winckelmann-Gesellschaft Stendal. Mainz 1996ff. WA – Winckelmanns Werke. 11 Bde. Hg. v. Carl Ludwig Fernow (Bd. 1–2), Johann Heinrich Meyer und Johannes Schulze (Bd. 3–7), Carl Gottfried Siebelis (Bd. 8) sowie Friedrich Christoph Förster (Bd. 10–11). Dresden 1808–1825 [Weimarer Ausgabe].

https://doi.org/10.1515/9783110710373-014

Abbildungsnachweis Beitrag Dönike / Kurbjuhn Abb. 1 (S. 27): Freie Universität Berlin, Kunsthistorisches Institut, fu-khi-lab SS18-392

Beitrag Pfotenhauer Abb. 1 (S. 48): © Photo: Royal Academy of Arts, London. Photographer: Prudence Cuming Associates Limited. (https://www.royalacademy.org.uk/art-artists/book/ compositions-from-the-tragedies-of-aeschylus-designed-by-iohn-flaxman-1) Abb. 2 (S. 51): Photo: Creative Commons (CC) nach CC BY-NC-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0) (https://www.britishmuseum.org/collection/object/P_1855-0609-1228)

Beitrag Schmälzle Abb. 1 (S. 80): Accademia di Belle Arti, Bologna / MiBAC – Archivio Fotografico, Soprintendenza BSAE, Bologna Abb. 2 (S. 85): Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Weimar Abb. 3 (S. 87): Bildzitat nach: Maria Teresa Binaghi Olivari (Hg.), Come conservare un patrimonio. Gli oggetti antichi nelle chiese, Mailand 2001, S. 63 Abb. 4 (S. 89): Bildzitat nach: Fernando Mazzocca (Hg.): Francesco Hayez. Ausst.-Kat. Mailand 2015, S. 79 Abb. 5 (S. 92): Raphaël Aracil de Dauksza u. Damien Dumarquez: Galerie la Nouvelle Athènes. Peintures et œuvres préparatoires du XIXe siècle. Paris 2017, Kat.Nr. 4 (Auktionskatalog – mit freundlicher Genehmigung) Abb. 6 (S. 93): Privatbesitz

Beitrag Cambiaghi Abb. 1 (S. 102): Bibliothèque Nationale de France, Paris https://gallica.bnf.fr/ark:/ 12148/bpt6k15130863/f20.image Abb. 2 (S. 103): https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k15130863/f55.image Abb. 3 (S. 110): Mit freundlicher Genehmigung des ‚Museo–Biblioteca dell’Attore di Genova‘, Genua

https://doi.org/10.1515/9783110710373-015