Geschichte und Dichtung: Die Ästhetisierung historischen Denkens von Winckelmann bis Fontane 9783110679878, 9783110676259

In the age of “fake news,” the contrasting truth claims of history and poetry have gained new importance. Winckelmann, L

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German Pages 406 Year 2020

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung: Die Problematisierung des Wahrheitsanspruchs
1. Johann Joachim Winckelmann – Geschichte als Vorlauf des Todes
2. Gotthold Ephraim Lessing – Geschichte als Parabel der Wahrheit
3. Johann Gottfried Herder – Geschichte als Sprachbild des Dramas
4. Friedrich Schiller – Geschichte als tragische Analysis
5. Johann Wolfgang von Goethe – Geschichte als Spiegelbild der Zeiten
6. Novalis – Geschichte als Roman des Lebens
7. Heinrich von Kleist – Geschichte als Gerichtsspiel mit dem historischen Faktum
8. Heinrich Heine – Geschichte als Interesse der Zukunft
9. Franz Grillparzer – Geschichte als narrative Selbstvergewisserung
10. Theodor Fontane – Geschichte als Roman einer Vorgeschichte
Schluß: Fragen statt Antworten
Anhang
Bibliographie
Personenregister
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Geschichte und Dichtung: Die Ästhetisierung historischen Denkens von Winckelmann bis Fontane
 9783110679878, 9783110676259

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Hinrich C. Seeba Geschichte und Dichtung

Hinrich C. Seeba

Geschichte und Dichtung

Die Ästhetisierung historischen Denkens von Winckelmann bis Fontane

ISBN 978-3-11-067625-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-067987-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-067991-5 Library of Congress Control Number: 2019956326 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Kupferstich von Simon Fokke (1712−1784), Overdragt der ­Nederlanden door Keizer Karel den V. aan zynen zoon Filips, in’t jaar 1555, aus: Jan Wagenaar, Vaderlandsche Historie (Amsterdam 1749−59) Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Vorwort

VII

Einleitung: Die Problematisierung des Wahrheitsanspruchs

1



Johann Joachim Winckelmann – Geschichte als Vorlauf des 33 Todes



Gotthold Ephraim Lessing – Geschichte als Parabel der Wahrheit 65



Johann Gottfried Herder – Geschichte als Sprachbild des Dramas 97



Friedrich Schiller – Geschichte als tragische Analysis



Johann Wolfgang von Goethe – Geschichte als Spiegelbild der Zeiten 159



Novalis – Geschichte als Roman des Lebens



Heinrich von Kleist – Geschichte als Gerichtsspiel mit dem historischen Faktum 224



Heinrich Heine – Geschichte als Interesse der Zukunft



Franz Grillparzer – Geschichte als narrative Selbstvergewisserung 291



Theodor Fontane – Geschichte als Roman einer Vorgeschichte 325

Schluß: Fragen statt Antworten

192

Personenregister

364 393

257

358

Zeittafel: Stationen in der Ästhetisierung historischen Denkens Bibliographie

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Vorwort Das vorliegende, durch die politische Diskussion von fake news aktualisierte Projekt geht auf Vorarbeiten – Vorträge, Aufsätze und in Berkeley unterrichtete Kurse – zurück, die mir geholfen haben, die Institutionalisierung interdisziplinärer German Studies konzeptionell zu begründen und für die Vermittlung geschichts- und literaturwissenschaftlicher Ansätze historisches und theoretisches Denken zu verbinden. Mit dem Zusammenspiel von Geschichte und Dichtung wollte ich das einst vorherrschende Methodenmodell werkimmanenter Interpretation aufbrechen und die angestrebte Historisierung der Literaturkritik einerseits gegen den politischen Messianismus engagierter Gesellschaftskritik und andererseits gegen die radikale Fiktionalisierung der postmodernen Wirklichkeit absetzen. Die kritische Praxis des historischen Bewußtseins, das der Geschichte wie der Literatur als Alternative zur Gegenwart eine korrigierende Funktion zuweist, ist ein politisch immer wieder angefeindetes Erbe der Aufklärung, das es vor allem gegen die Ideologie von alternative facts zu verteidigen gilt. Angesichts der populären Zweifel an der historischen Eindeutigkeit von Wahrheitsaussagen mag die Erinnerung an die poetische Mehrdeutigkeit etwas von der Komplexität des Problems bewahren, die in der Reduktion auf die Alternative ‚richtig oder falsch‘ verlorenzugehen droht. Ein Leitthema des Projekts – der Begriff des Zusammenhangs, der nicht vorgegeben, sondern aufgegeben ist – gilt auch für den intellektuellen und existentiellen Lebenszusammenhang, aus dem Konzeptionen wie diese hervorgehen. Allen, die mich auf dem langen Weg gefördert und herausgefordert, angeregt und begleitet haben, sei hiermit herzlich gedankt. Berkeley/Berlin, im September 2019

https://doi.org/10.1515/9783110679878-001

Hinrich C. Seeba

Einleitung: Die Problematisierung des Wahrheitsanspruchs Daß die Weltgeschichte von Zeit zu Zeit umgeschrieben werden müsse, darüber ist in unsern Tagen wohl kein Zweifel übriggeblieben. Das hat Goethe so, wortwörtlich, bereits 1810 geschrieben.¹ Es scheint so, als behielten, allem Wandel zum Trotz, Aussagen über geschichtlichen Wandel ihre unwandelbare Gültigkeit, als blieben historische Wahrheiten wie diese vom zunehmenden Zweifel an der Richtigkeit vorgeblicher Tatsachenaussagen ausgenommen. Daß die Geschichte tatsächlich immer wieder umgeschrieben wird, daran kann es fast 200 Jahre später, nach einer langen Reihe von deutschen Systemwechseln und entsprechenden Umschreibungen, noch weniger Zweifel als damals geben. Die politischen Zäsuren von 1789, 1806, 1815, 1848, 1871, 1918, 1933, 1945, 1949, 1961, 1989 hatten immer auch Folgen für die Funktionalisierung von Dichtung im Wandel der Geschichte. Jede Epoche der deutschen Geschichte hatte ihr eigenes Geschichtsbild, jedes weltanschaulich geprägte System seine Lieblingsthemen und seinen zeitgebundenen Zugriff auf die Vergangenheit. Goethes Klassik orientierte sich bekanntlich vor allem an der griechischen Antike, die Romantik am Mittelalter, der Vormärz an progressiven Ideen, der Realismus am Alltag des aufstrebenden Bürgertums, das Kaiserreich an nationalstaatlicher Selbstdarstellung, die Weimarer Republik am demokratischen Aufbruch sozialer Bewegungen, das Dritte Reich an rassistischen Versionen des Germanischen, die DDR an marxistischer Aufwertung des Proletariats, die Bundesrepublik an restaurativer Bewältigung der Vergangenheit. Im Interesse historischer Legitimation wurde Geschichte immer wieder umgeschrieben, weil, ganz abgesehen vom Wechsel politischer Ziele, sozialer Schranken, institutioneller Vorgaben und ökonomischer Bedingungen, sogar die Definition einer wissenschaftlichen Tatsache davon abhängt, wie Thomas S. Kuhn 1962 und vor ihm Ludwik Fleck schon 1935 gezeigt haben, welchem vorherrschenden Denkkollektiv, welcher gerade angesagten Methodenschule, welchem wissenschaftlichen Paradigmenwechsel man folgt.²

 Johann Wolfgang von Goethe, Geschichte der Farbenlehre, in: Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Erich Trunz, Bd. 14, Hamburg: Wegner 21962, 7– 269, S. 93: „Daß die Weltgeschichte von Zeit zu Zeit umgeschrieben werden müsse, darüber ist in unsern Tagen wohl kein Zweifel übriggeblieben.“  Vgl. Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Basel: Schwabe 1935; Neuausgabe mit einer Einleitung hrsg. v. Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980 (= stw 312); und, mit Verweis auf Fleck im Vorwort, Thomas S. Kuhn, The Structure of Scientific Revohttps://doi.org/10.1515/9783110679878-002

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Einleitung: Die Problematisierung des Wahrheitsanspruchs

Die umgangssprachliche Formel „Fakt ist, daß“ erfreut sich neuerdings einiger Beliebtheit, weil die Verunsicherung darüber, was als Tatsache vorausgesetzt werden darf, offenbar nach solcher Bekräftigung verlangt. Sich darüber zu einigen, was „Fakt ist“ und „wie es eigentlich gewesen“, ist nicht mehr so einfach wie zu Zeiten Leopold von Rankes, als er sich 1824 mit dieser berühmt gewordenen Gründungsformel des Historismus zur unparteiischen Objektivität bekannte: Der Geschichtsschreiber solle, so hat er gefordert, „zeigen, wie es eigentlich gewesen“.³ Außerhalb wissenschaftlicher Diskurse ist der Umgang mit der historischen Wahrheit heutzutage viel unbekümmerter geworden. Der vielzitierte Spruch, jeder habe „das Recht auf seine eigene Meinung, aber nicht das Recht auf seine eigenen Fakten“,⁴ gilt nicht mehr. In den sozialen Medien fühlen sich Millionen Teilnehmer ermutigt, als ihre eigenen Meinungsmacher aufzutreten und die Fakten nicht mehr für sich, sondern für ihre Meinungen sprechen zu lassen. Unkontrolliert können sie ihre Behauptungen als Tatsachenaussagen ausgeben und ihre Voreingenommenheiten zur Wahrheit erklären. In der öffentlichen Diskussion verlangen sogar offenkundige Tatsachenverdrehungen und Geschichtsfälschungen Akzeptanz als alternative facts. ⁵ Historische Wahrheitsfindung ist deshalb oft reduziert auf fact checking. ⁶ Korrekturen werden immer notwendiger, weil Geschichtsrevisionisten ein gesteigertes Interesse daran haben, die Geschichte ‚alternativ‘ so darzustellen, daß sie ihren, wie sie meinen, unterdrückten ideologischen Positionen entspricht. Zu befürchten ist, daß im information age, im willkürlichen Umgang mit der überwältigenden und deshalb

lutions, Chicago: University of Chicago Press 1962; dt. Ausgabe: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978 (= stw 25).  Leopold von Ranke, Vorrede, in: Ranke, Sämmtliche Werke, Bd. 33: Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514, Leipzig: Duncker & Humblot 21874, I–VIII, S. VII: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: so hoher Aemter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will blos zeigen wie es eigentlich gewesen.“  Der meistens dem amerikanischen Politiker Daniel Moynihan zugeschriebene Spruch stammt eigentlich von Bernard Mannes Baruch, einem Berater des Präsidenten Franklin D. Roosevelt: „Every man has a right to his own opinion, but no man has a right to be wrong in his facts.“ Zitiert nach https://en.wikiquote.org/wiki/Bernard_Baruch (abgerufen am 20. August 2019).  Das Wort wurde von einer Donald-Trump-Beraterin im White House, Kellyanne Conway, in einem Interview der Fernsehsendung „Meet the Press“ am 22. Januar 2017 geprägt, als sie sich gegen den Vorwurf wehren mußte, daß Trump wahrheitswidrig von seiner Inauguration im Januar 2017 behauptete und behaupten ließ, noch nie hätten so viele Zuschauer daran teilgenommen.  Die Zeitung The New York Times, deren Titelmotto „All the News That’s Fit to Print“ verspricht, sah sich gezwungen, eine eigene Rubrik „Fact-Checking Trump“ einzurichten – z. B. in der Ausgabe vom 7. Oktober 2018, S. 16.

Einleitung: Die Problematisierung des Wahrheitsanspruchs

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unsortierten Datenfülle, die Wahrheit oft so sehr verzerrt wird, daß schließlich die demokratischen Institutionen nicht mehr funktionieren. Mit dem Funktionsverlust einer kritischen Öffentlichkeit, so meinen manche Skeptiker, könnte die Demokratie selbst in Gefahr geraten. Wo Meinungen anonym und unkontrolliert in Sekundenschnelle um die Welt gehen, durchdringen sich immer wieder Fakten und Fiktionen. Dichtung und Wahrheit – umgangssprachlicher verstanden, als es Goethe im Titel seiner Autobiographie (1811– 1814) gemeint hat – rücken oft ununterscheidbar zusammen, als wäre Wahrheit nichts anderes als eine erdichtete, also frei erfundene, zur Manipulation freigegebene Wahrheit. Der leichtfertig ausgestoßene Verdacht von fake news beherrscht wie der tatsächliche Nachweis von Falschmeldungen immer mehr die politischen Meinungsforen. Die Unterscheidung zwischen Dichtung und Wahrheit, zwischen fake news und Fakten, zwischen Nachricht und Tatsache scheint desto schwieriger zu werden, je mehr kritisches Verstehen durch bloßes Wissen sowie geordnetes Wissen durch beliebig zusammengewürfelte Daten ersetzt wird. Die vom kommerziellen Niedergang bedrohte und gelegentlich als „Lügenpresse“ verunglimpfte kritische Presse kann der Willkür anonymer Meinungen kaum noch Einhalt gebieten. Wahrheitsansprüche haben in der öffentlichen Diskussion eine bislang unbekannte Aufmerksamkeit erlangt, seitdem der amerikanische Präsident Donald Trump, vorbei an den demokratischen Institutionen, mehrfach täglich weltpolitische Entscheidungen ebenso wie persönliche Invektiven einfach ‚twittert‘, die freie Presse als enemy of the people dämonisiert und auch erwiesene Tatsachen, die nicht seinem Weltbild entsprechen, als fake news verwirft.⁷ In einem kurzen Aufsatz von 2019, „Was mit der Wahrheit noch verloren geht“, hat der an der Humboldt-Universität Berlin lehrende Philosoph Volker Gerhardt darauf aufmerksam gemacht, daß sich „mit dem erklärten und tagtäglich vollzogenen Wahrheitsverzicht eines amerikanischen Präsidenten“ auch die Wissenschaft, die

 Der amerikanische Rundfunksender NPR hat ein Diagramm veröffentlicht, in dem Trumps inflationärer Gebrauch der Wörter fake news, fake und phony für jeden Monat seiner Präsidentschaft statistisch aufgezeichnet ist. Die Diffamierung der freien Presse als „enemy of the people“ findet sich in einem der im August 2018 verschickten 46 Tweets, in denen wenigstens eins der drei Schimpfwörter vorkommt; vgl. Tamara Keith, President Trump’s Description of What’s ‚Fake‘ Is Expanding, in: National Public Radio, 2. September 2018, https://www.npr.org/ 2018/09/02/643761979/president-trumps-description-of-whats-fake-is-expanding (abgerufen am 20. August 2019). Am 30. April 2019 begann ein Artikel der New York Times mit der Feststellung: „Last week, The Washington Post’s tally of Donald Trump’s false and misleading claims hit a milestone, topping 10,000. His untruths, which lately average almost two dozen a day, have long since stopped being news, becoming instead irritating background noise“; Michelle Goldberg, Trump’s Anti-Abortion Incitement, in: The New York Times, 30. April 2019, S. A20.

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lange mit der postmodernen Beliebigkeit geliebäugelt hatte, wieder auf die Allgemeingültigkeit der Wahrheit zu besinnen beginnt: Offenbar musste erst ein Mächtiger kommen, der die Wissenschaft pauschal der Lüge bezichtigte, um die Wissenschaftler daran zu erinnern, woran ihnen selbst gelegen sein muss, wenn sie ernst genommen werden wollen.⁸

Zur Diskussion steht also nicht weniger als der auch politisch relevante Objektivitätsanspruch von Wahrheitsaussagen und deren wissenschaftliche Absicherung. Wenn man die Diskussion nicht den populären Medien überlassen will, sind hier vor allem geisteswissenschaftliche Fächer gefragt, die für das Problem der Wahrheitsfindung historische und theoretische Modelle anbieten können. Das scheint umso notwendiger, als die Erprobung rein technologischer Lösungsversuche noch recht hilflos wirkt. Während sich der Chef von Facebook, Mark Zuckerberg, am 11. April 2018 vor dem amerikanischen Congress zuversichtlich gab, daß Maschinen künstlicher Intelligenz innerhalb von fünf bis zehn Jahren imstande sein würden, fake news von gesicherten Tatsachen zu unterscheiden, wird nach einer Zeitungsmeldung vom Oktober desselben Jahres an der Technischen Universität Darmstadt ein Konzept des maschinellen Lernens mit neuronalen Netzen entwickelt, damit Algorithmen lernen, Behauptungen nach ihrem Wahrheitswert zu gewichten, um menschlichen Fakten-Checkern wenigstens zu assistieren.⁹ Viel skeptischer sind zwei Wissenschaftler an der New York University, ein Psychologe und ein Computerexperte, die am Beispiel falsch geschlossener Kausalzusammenhänge in einer rechtsextremen Meinungsmache behaupten, daß die maschinelle Erfassung von Fehlschlüssen, wenn überhaupt, erst in Jahrzehnten möglich sein werde, weil Algorithmen Perspektive, Kontext und Kausalität kaum sinnvoll beherrschen können.¹⁰ Techno-Skeptiker können sich bestätigt fühlen und fordern, daß der kritische Verstand, dem Menschen einen wesentlichen Teil ihrer Autonomie verdanken, vielleicht nicht so leichthin an Maschinen delegiert werden sollte. Die maschinelle Beschränkung auf die Unterscheidung ‚richtiger‘ und ‚falscher‘

 Volker Gerhardt, Was mit der Wahrheit noch verloren geht, in: Forschung & Lehre 26/1 (2019), (Jubiläumsausgabe), S. 18.  Vgl. Wolfgang Krischke, Wahrheitsliebende Maschinen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 229, 2. Oktober 2018, S. N 4.  Gary Marcus und Ernest Davis, A.I. Won’t Fix Fake News, in: The New York Times, 21. Oktober 2018, Sunday Review, S. SR 6: „Existing A.I. systems lack a robust mechanism for drawing inferences as well as a way of connecting a body of broader knowledge. As Eduardo Ari de la Rubia, a data scientist at Facebook, told us, for now‚ A.I. cannot fundamentally tell what’s true or false – this is a skill much better suited to humans.‘“

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Aussagen würde – wie das digitale Daumenurteil Like und Dislike – nur eine unzulässige Reduktion von Komplexität bedeuten. Umso wichtiger wird, wenn man die Sensibilität für die genannten drei Aspekte der Vieldeutigkeit steigern will, die Problematisierung der Wahrheitsfindung als Aufgabe der historischen Wissenschaften. Aber der Wissenschaftsglaube ist nicht erst, wie Volker Gerhardt behauptet, durch die Postmoderne ins Schwanken geraten.¹¹ Lange bevor Jean-François Lyotard 1979 dem allgemein verbindlichen und totalisierenden Wahrheitsbegriff den Kampf angesagt hat,¹² war die Diskussion seiner Problematik, wie wir in den folgenden Kapiteln an vielen Schriftstellern sehen werden, kennzeichnend für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, als sich die akademischen Disziplinen auch methodologisch erst zu begründen begannen und einen allgemeinverständlichen Zugang (im griechischen Wortsinn der ‚Methode‘: μεθοδος = Zugang) zu verläßlicher Wahrheitsfindung suchten. Charakteristisch für das 18. Jahrhundert, das sich in der Nachfolge der berühmten Querelle des anciens et des modernes über den Modellcharakter der Antike stritt, reicht die Problematisierung des Wahrheitsanspruchs zurück bis zu den Griechen. Ein knapper Überblick über einige Stationen in der langen Geschichte historischer Wahrheitsfindung wird die Aktualität der theoretischen Implikationen anschaulicher machen und den historiographischen Hintergrund skizzieren, vor dem der Beitrag der in den nächsten zehn Kapiteln behandelten Schriftsteller zum Verhältnis von Geschichte und Dichtung verständlicher wird. So hat der Gründungsvater der Geschichte Thukydides (ca. 460 – ca. 399 v. Chr.) die „Erforschung der Wahrheit“ als Historía (ιστορια = Forschung) gegen die Mythen (μυθοι = Geschichten) seines Vorgängers Herodot abgesetzt und dafür zum erstenmal in der Geschichte der Geschichtsschreibung methodologische Grundsätze festgelegt. Die theoretische Klärung historiographischer Prinzipien war sogar so folgenreich, daß Leopold von Ranke, der 1817 in Leipzig über den griechischen Geschichtsschreiber (auf Latein) promoviert hat, für seine Forderung, Historiker sollten „zeigen, wie es eigentlich gewesen“, ein „apokryphes Zitat

 In der Onlineausgabe der Neuen Zürcher Zeitung hat Karl-Heinz Ott am 19. April 2017, also nur drei Monate nach Donald Trumps Inauguration, unter dem Titel „Die schöne postmoderne Beliebigkeit hat den Härtetest nicht bestanden“ geschrieben: „Die Postmoderne mit ihrer Auflösung des Wahrheitsbegriffs hat dem neuen Chef im Weissen Haus den Boden bereitet. Nun reagieren die einstigen Apologeten der Beliebigkeit empört und wollen die schöne alte Wahrheit zurück“; https://www.nzz.ch/feuilleton/wahrheit-und-luege-die-schoene-postmoderne-beliebig keit-hat-den-haertetest-nicht-bestanden-ld.1085978 (abgerufen am 20. August 2019).  Jean-François Lyotard, La condition postmoderne, Paris: Édition Minuit 1979; dt. Ausgabe: Das postmoderne Wissen, Wien: Passagen 2009.

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Einleitung: Die Problematisierung des Wahrheitsanspruchs

des Thukydides“ gebraucht hat.¹³ Thukydides geht in dem berühmten MethodenKapitel seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges (I, 20 – 22) mit verbreiteten Fehldeutungen der Geschichte ins Gericht, weil sich die meisten, anstatt die Wahrheit zu erforschen, lieber mit herkömmlichen Meinungen zufriedengeben: Wer sich aber nach den genannten Zeichen die Dinge doch etwa so vorstellt, wie ich sie geschildert habe, wird nicht fehlgehen, unverführt von den Dichtern, die sie in hymnischer Aufhöhung aufgeschmückt haben, noch von den Geschichtenschreibern, die alles bieten, was die Hörlust lockt, nur keine Wahrheit – meistenteils unglaubhafte, durch die Zeit sagenartig eingewurzelte Unbeweisbarkeiten.¹⁴

Weil die Sanktionierung halbwahrer Berichte zu Sagen, Legenden und Mythen, die für historische Wahrheit genommen werden, einer gewissenhaften Erforschung der Wahrheit am meisten im Wege steht, hat Thukydides die richtige Methode ex negativo begründet durch die Absetzung sowohl gegen die poetische Überhöhung durch die Dichter als auch gegen die leserfreundliche Aufbereitung durch die Geschichtsschreiber. Der Verzicht auf alle Gefälligkeitsrhetorik soll die angestrebte Wahrheit glaubhaft machen, zugleich aber auch, wenn die Autopsie und die Zeugnisse anderer nicht ausreichen, durch Erfindung passender Reden, wie sie bestenfalls gehalten worden sein könnten, eine höhere Glaubwürdigkeit erzielen: Was nun in Reden hüben und drüben vorgebracht wurde, während sie (d.i. Athener und Spartaner) sich zum Kriege anschickten, und als sie schon drin waren, davon die wörtliche Genauigkeit wiederzugeben war schwierig sowohl für mich, wo ich selber zuhörte, wie auch für meine Gewährsleute von anderwärts; nur wie meiner Meinung nach ein jeder in seiner Lage etwa sprechen mußte, so stehen die Reden da, in möglichst engem Anschluß an den Gesamtsinn des in Wirklichkeit Gesagten.¹⁵

Hier kommt das Prinzip der historischen Wahrheit, auf das Thukydides so viel Wert legt, bei aller Abgrenzung gegen die Dichter, der poetischen Wahrheit doch sehr nahe. Weil die tatsächlichen Reden in den meisten Fällen nicht wortgetreu rekonstruiert werden können, werden Reden erdacht, die den besten „Anschluß an den Gesamtsinn des in Wirklichkeit Gesagten“ versprechen. Der gewissenhafte

 Ralf Konersmann, Erstarrte Unruhe. Walter Benjamins Begriff der Geschichte, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1991, S. 194, Anm. 1. Vgl. Ronald S. Stroud, „Wie es eigentlich gewesen“ and Thucydides 2.48.3, in: Hermes 115 (1987), 379 – 382.  Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, übers. und mit einem Essay „Zum Verständnis des Werkes“, Anmerkungen und Register hrsg. v. Georg Peter Landmann, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1964, S. 14.  Ebd.

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Historiker verrät sich damit als Interpret eines übergeordneten Zusammenhangs, den er zum besseren Verständnis des Geschehens suggeriert. Aber während er sich bei den Reden, die einen großen Raum einnehmen, auch poetische Freiheiten erlaubt, muß er für eine wahrheitsgetreue Darstellung des Geschehens zugestehen, daß selbst die rigorose Auswahl der zuverlässigsten Zeugen an ihre Grenze stößt, wenn die Aussagen über dasselbe Ereignis „nach Gunst und Gedächtnis“ einander widersprechen: Was aber tatsächlich geschah in dem Kriege, erlaubte ich mir nicht nach Auskünften des ersten besten aufzuschreiben, auch nicht ‚nach meinem Dafürhalten‘, sondern bin Selbsterlebtem und Nachrichten von andern mit aller erreichbaren Genauigkeit bis ins einzelne nachgegangen. Mühsam war diese Forschung, weil die Zeugen der einzelnen Ereignisse nicht dasselbe über dasselbe aussagten, sondern je nach Gunst und Gedächtnis.¹⁶

Die Mühe historischer Forschung bestand schon für Thukydides in der Abwägung einander widersprechender Zeugnisse, zumal es sich bei diesen Quellen um mehr oder minder voreingenommene Deutungen handelt, die sich auf unterschiedlich gewichtete Erinnerungen stützen. Festzuhalten ist für den vorliegenden Gedankengang, daß schon in der Antike das Methodenbewußtsein mit der Unterscheidung von Geschichte (als Erforschung der Wahrheit) und Dichtung (als Erfindung von „Gesamtsinn“) begonnen hat. Kein Wunder, daß Thukydides mit seinem Konzept historischer Wahrheitsfindung auch für Ranke ein maßgebliches Vorbild wurde. Ranke hat noch 1867, anläßlich seines 50-jährigen Doktorjubiläums, bekräftigt, Thukydides sei der „erste große Geschichtschreiber, durch den ich in der Tiefe ergriffen worden bin“, er sei einer der „Geister, denen ich die Grundelemente verdanke, aus denen sich meine späteren historischen Studien auferbaut haben“.¹⁷ Gleichzeitig mit Thukydides hat Sokrates (469 – 399 v.Chr.), ohne auch nur einen einzigen Vortrag zu halten oder gar ein Buch zu schreiben, nur im lebendigen Dialog die Erforschung der Wahrheit durch die Art des ironischen Nachfragens und mit der überlegenen Geste der Bescheidenheit vorangetrieben: oida ouk oida (οιδα ουκ οιδα = ich weiß, daß ich nichts weiß).¹⁸ Wer aber selber nichts

 Ebd.  Leopold von Ranke, Sämmtliche Werke, Bd. 51/52: Abhandlungen und Versuche. Neue Sammlung, hrsg. v. Alfred Dove und Theodor Wiedemann, Leipzig: Duncker & Humblot 1888, S. 588 f. Vgl. Ulrich Muhlack, Ranke und die politische Schule der deutschen Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert. Zum Verhältnis von Geschichte und Politik, in: Comparativ 6 (1993), 92– 113, S. 92.  Dieses verkürzte Zitat wurde, in Anlehnung an Platon, Apologie 4b, Sokrates in mehreren Varianten zugeschrieben.

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zu wissen glaubt oder sich zumindest vermeintliches Wissen nicht erlaubt, hält sich mit Wahrheitsaussagen zurück und stellt auf der immer unbefriedigten Suche nach Wahrheit nur den Wahrheitsanspruch anderer immer wieder in Frage. So kam es, daß Sokrates für die noch junge, ihrer selbst noch nicht sichere Demokratie des antiken Athen einige Fragen zu viel gestellt hat. Weil er von dem Erkenntniszweifel auch den traditionellen Götterglauben nicht ausnahm, wurde er schließlich im Jahr 399 v.Chr. angeklagt, verurteilt und hingerichtet. In der von Platon bezeugten sokratischen Wahrheitssuche, in der die Fragen wichtiger sind als die Antworten, spielt das Verhältnis von Logik und Rhetorik eine wichtige Rolle. Weil die Erkenntnis an die Sprache ihrer Formulierung gebunden ist, dringt Sokrates bei seinen Gesprächspartnern immer wieder auf eine Klärung ihrer Aussage. Von der Wahrheit überzeugen kann nur, wer überzeugend argumentiert. Überzeugend argumentieren kann aber nur, wer anders als die von Sokrates verachteten Sophisten der Wahrheit verpflichtet ist. So bezeichnet auch heutzutage die spöttische Alltagsformel „Du hast gut reden“, als scheinbares Lob rhetorischer Fähigkeiten verkleidet, eigentlich nur den Zweifel am Wahrheitsgehalt nicht durchdachter Rede – als Aufforderung, den Gedanken noch einmal zu überdenken und klarer zu formulieren. Bei Sokrates läuft die Unterscheidung zwischen erkenntniskritischer Bestimmung der Wahrheit und sprachkritischer Darstellung des Wahrheitsanspruchs letzten Endes auf die ethische Frage hinaus, wie ehrlich – nach heutigem Wortgebrauch: wie authentisch – wir uns zu unserer Welt verhalten sollen, damit wir verantwortlich sprechen und handeln.¹⁹ Sokrates hat, laut Romano Guardini, der Philosophie Platons ein menschliches Gesicht und eine ethisch-existentielle Verbindlichkeit gegeben: „Ebenso dringlich wie die Suche nach der philosophischen Wahrheit ist ihm die Frage, welcher Mensch Aussicht habe,Wahrheit zu finden.“²⁰ Insofern hat die sokratische Art des Fragens, laut Karl Jaspers, bis heute Maßstäbe gesetzt:

 Angesichts eines neuen Dramas von Tim Blake Nelson, Socrates, das im April 2019 im Public Theater in New York aufgeführt wurde, hat der Philosoph Kwame Anthony Appiah, der an der New York University lehrende Autor von Cosmopolitanism: Ethics in a World of Strangers (2006), in einem Interview mit Peter Libby gesagt: „Socrates thinks that the search of truth is the search for how to live. […] For him, the search for truth is an ethical thing“ (Peter Libby, Answering Questions of Socrates. The Father of Philosophy Would Surely Be ‚Widely Blocked on Social Media‘ Today, in: The New York Times, 12. April 2019, S. C 2). – Nelsons antipopulistischer Socrates wurde, so von Mark Singer in The New Yorker vom 15. April 2019, als Kritik an Donald Trump verstanden.  Romano Guardini, Der Tod des Sokrates. Eine Interpretation der Platonischen Schriften Eutyphron, Apologie, Kriton und Phaidon, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1956, S. 9.

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„Sokrates vor Augen zu haben ist eine der unerlässlichen Voraussetzungen unseres Philosophierens.“²¹ Seit Sokrates gehört die Problematisierung des Wahrheitsanspruchs zum besten Erbe der klassischen Bildung und der akademischen Tradition. Aber weil die kritische Verunsicherung des Glaubens an eine allgemeingültige Wahrheit auch zur bewußten Verfälschung verführen kann, bietet sich das Falsifikationsprinzip aus Karl Poppers Wissenschaftstheorie auch für die Korrektur politischer Irreführung an:²² Wenn nur eine Ausnahme die Behauptung widerlegt, ist diese nicht mehr verallgemeinerbar; denn falsche Generalisierungen sind das probate Mittel politischer Meinungsmache, wenn aus ungeprüften Behauptungen allgemeine Schlüsse gezogen werden, nur um bestehende Ressentiments zu bedienen. Als im Frühjahr 2019 eine rechtskonservative Politikerin ausdrücklich im Namen des Geschichtsrevisionismus von der Geschichtswissenschaft forderte, daß sie „eigentlich Geschichte darstellen solle, ‚wie es wirklich gewesen ist‘“,²³ meinte sie, daß die deutsche Geschichte gefälscht worden sei, weil die einstigen Alliierten weiterhin Dokumente aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs unter Verschluß hielten, damit sich Deutsche kein ‚objektives‘ (d. h. positiveres) Bild von der Zeit im Dritten Reich machen können. Das zwischen „eigentlich“ und „wirklich“ schillernde Wortspiel zeigt, daß damit auf Ranke angespielt wird, der mit einer solchen Forderung die Historische Schule begründet hat. Hinter der Forderung nach ‚faktisch richtiger‘ historischer Darstellung steckte schon damals der Verdacht, daß, wie es „eigentlich“ gewesen ist, eine Frage der historischen Interpretation ist und daß die Deutungshoheit über historische Wahrheit abhängig ist von der Macht, sie auch durchzusetzen. Deshalb ist der Streit um die richtige Wahrheit immer auch ein Machtspiel, dessen Verlierer hinter dem Sieg der anderen gerne eine heimliche Verschwörung wittern. Der Glaube an die Möglichkeit einer richtigen und deshalb ein für allemal gültigen Darstellung historischen Geschehens, wie es eigentlich gewesen ist, wurde immer wieder als erkenntnistheoretisch naiv hingestellt, weil es grundsätzlich unmöglich ist, unabhängig von historischen, gesellschaftlichen und

 Karl Jaspers, Die großen Philosophen, Bd. 1, München/Zürich: Piper 31981, S. 124.  Vgl. Karl Popper, Logik der Forschung. Zur Erkenntnistheorie der modernen Naturwissenschaft, Wien: Julius Springer 1935.  Die (damalige) schleswig-holsteinische Vorsitzende der AfD, der rechtskonservativen Alternative für Deutschland, Doris von Sayn-Wittgenstein, hat, laut einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, diese Forderung in einem Vortrag unter dem Titel „Wie frei ist die Meinungsfreiheit?“ am 3. Mai 2019 im nordrhein-westfälischen Arnsberg gestellt; vgl. Justus Bender, Sayn-Wittgenstein verteidigt Geschichtsrevisionismus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 175, 31. Juli 2019, S. 4.

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persönlichen Bedingungen zu eindeutigen und endgültigen Aussagen darüber zu kommen, was wirklich geschehen ist und wie es, mit einem Modewort, ‚vollumfänglich‘ dargestellt werden kann. Eine vollständige und abschließende Erfassung der Vergangenheit gibt es nicht und kann es nicht geben. Während in den meisten Fällen schon die unsichere Quellenlage kein endgültiges Urteil erlaubt, wirken bei der Erschließung und Beurteilung des Materials und erst recht bei der Schlußfolgerung so viele und immer wechselnde Faktoren mit, daß jeder Anspruch auf eindeutige und endgültige historische Wahrheit vermessen wäre. Die Unabschließbarkeit auch der historischen Interpretation war, lange bevor sie ein Grundsatz der Literaturtheorie wurde (indeterminacy),²⁴ eine hermeneutische Tatsache. Auf eine Kritik der wissenschaftsgläubigen Objektivität lief, schon 1775 in Goethes Urfaust, auch Fausts Zurechtweisung des neunmalklugen Studenten Wagner hinaus, wenn er dessen Berufung auf den Zeitgeist in Frage stellt: „Was ihr den Geist der Zeiten heißt, / Das ist im Grund der Herren eigner Geist, / In dem die Zeiten sich bespiegeln.“²⁵ Die Herrschenden drücken den ‚Zeitgeist‘ genannten Tendenzen der Geschichte ihren eigenen Geist auf und bestimmen damit, was als historische Wahrheit zu gelten hat und wohin es mit ihr gehen soll. Damit wurde an klassischer Stelle, wenn auch noch verschlüsselt, darauf aufmerksam gemacht, daß die Bestimmung und Deutung der Geschichte auch eine Frage der Macht ist. Von Goethes Wagner bis zu Winston Smith ist es zwar ein langer, aber auch ein erschreckend konsequenter Weg, den die Illusion historischer Objektivität in zwei Jahrhunderten zurücklegen mußte. Er reicht von der sanften Meinungssteuerung bis zur totalitären mind control. George Orwell hat in seinem dystopischen Zukunftsroman 1984 (1949) das Paradox systematischer Willkür vorgeführt und gezeigt, wie die offiziell gewünschte Version der historischen Wahrheit eingebläut werden kann. Die Hauptfigur Winston Smith, der im sogenannten ‚Wahrheitsministerium‘ arbeitet, um die Geschichte im Interesse der Regierung umzuschreiben und Propaganda für die ‚richtige‘, d. h. die staatlich gebilligte Deutung historischer Fakten zu schaffen, muß auf der Folter seine bisherige Überzeugung widerrufen „that the past has real existence“, „that reality is something objective, external, existing in its own right“. Nur die Partei, die seit

 Vgl. Charles Altieri, The Hermeneutics of Literary Indeterminacy, in: New Literary History 10 (1978), 71– 99.  Johann Wolfgang von Goethe, Urfaust, in: Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Erich Trunz, Bd. 3, Hamburg: Wegner 71964, 365 – 420, S. 373 (V. 578 – 580).

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Louis Fürnbergs Lied der Partei (1949) bekanntlich „immer recht“ hat,²⁶ darf bestimmen, was Realität und was Wahrheit ist: Reality exists in the human mind, and nowhere else. Not in the individual mind, which can make mistakes, and in any case soon perishes; only in the mind of the Party, which is collective and immortal. Whatever the Party holds to be truth is truth.²⁷

Nicht die individuelle Perspektive, deren Entdeckung in der Renaissance zur Säkularisierung und im 18. Jahrhundert zur Emanzipation des autonomen Subjekts beigetragen hat, sondern umgekehrt die kollektive Entmündigung des Individuums, wie sie autoritäre Systeme im 20. Jahrhundert praktiziert haben, ist für die willkürliche Definition historischer Wahrheit verantwortlich. Die gewalttätige Lektion in der Folterkammer des totalitären Staats, die dem rudimentär noch individualistisch denkendem Winston erteilt wird, praktiziert nur das zynische Credo, das zu den beliebtesten Zitaten der amerikanischen Literatur gehört: „Who controls the past controls the future; who controls the present controls the past.“²⁸ Wer die Vergangenheit kontrolliert, d. h. wer die Deutungshoheit für die Vergangenheit hat, kontrolliert die Zukunft, weil künftige Entwicklungen – so das Zugeständnis an das historische Bewußtsein – undenkbar sind ohne vergangene Weichenstellungen. Aber um die (Deutung der) Vergangenheit kontrollieren zu können, muß man zuerst die Kontrolle über die Gegenwart gewinnen, also die Macht ergreifen, die man braucht, ein bestimmtes Bild der Geschichte festzulegen. Die Relativierung des Realitätsbegriffs dient nur noch der Verabsolutierung des eigenen Machtanspruchs, der gegenüber renitenten Individuen mit Gehirnwäsche und notfalls mit Folterinstrumenten bekräftigt wird. Dem ganzen Unterdrückungsapparat liegt noch die vom Historismus geprägte Zuversicht zugrunde, daß in der Realität der Gegenwart die Geschichte ein alles bestimmender Faktor ist, dessen man sich bemächtigen muß, wenn man die Zukunft bestimmen will. Mit Bezug auf die Sprachregelung bei Orwell heißt das im newsspeak von heute: Wer Herr des historischen ‚Narrativs‘ ist, also bestimmt, wie Geschichte erzählt wird, beherrscht die öffentliche Meinung im Interesse des eigenen Machterhalts. Inzwischen ist allerdings der – schon von Nietzsche scharf kritisierte – Glaube an die überwältigende Macht der Geschichte so weit zurückgegangen, daß im  In der (von Ernst Busch mit Inbrunst gesungenen) Parteihymne von Louis Fürnberg heißt es u. a.: „Die Partei, / die Partei, die hat immer recht! / […] / So, aus leninschem Geist, / Wächst, von Stalin geschweißt, / Die Partei, die Partei, die Partei“; zitiert nach http://erinnerungsort.de/ lied/lied-von-der-partei-die-partei-hat-immer-recht/ (abgerufen am 20. August 2019).  George Orwell, 1984 [1949]. With a special Preface by Walter Cronkite and an Afterword by Erich Fromm, New York: The New American Library 1983, S. 205.  Ebd., S. 204.

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anderen Extrem gerade der Geschichtsverlust für den willkürlichen Umgang mit der historischen Wahrheit verantwortlich gemacht werden kann. Wo historisches Bewußtsein seine Funktion als Korrektiv allgegenwärtigen Meinungsterrors verloren hat, kann jeder den eigenen Standpunkt zum einzig wahren erklären und alle anderen als Lügner hinstellen. George Orwell hat nur die politischen Folgen willkürlicher Relativierung von Wahrheit bezeichnet und damit die Kehrseite der Verabsolutierung der widerspruchsfreien eigenen Wahrheit erschreckend sichtbar gemacht. In beiden Fällen handelt es sich um die politische Konsequenz der Standortgebundenheit jedes Wahrheitsanspruchs, wie sie sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als fortschrittlicher Wert durchgesetzt hat, weil die freie Entfaltung des Individuums im Sinne Kantscher Aufklärung nur als „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ denkbar war.²⁹ Der Widerstand des freigesetzten Individuums gegen staatliche und kirchliche Autoritäten, die den Menschen vorschreiben wollten, welche Wahrheiten sie als absolute Wahrheit zu akzeptieren hatten, erfolgte über die historische und soziale Perspektivierung des Wahrheitsanspruchs, wie sie, schon eine Generation vor Kant, Johann Martin Chladenius in seiner Schrift von 1742, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünfftiger Reden und Schrifften, hermeneutisch begründet hat: Historien sind Erzehlungen desjenigen, was in der Welt geschehen ist. Es ist klar, daß man eine geschehene Sache, wenn man die Wahrheit reden will, wie wir solches voraussetzen, nicht anders erzehlen kann als wie man sich dieselbe vorgestellet hat; daher wir auch durch eine Erzehlung unmittelbar auf den Begriff kommen, den der Verfasser von der Geschichte hat, mittelbar aber, und durch eine kurtze Folge, auch dadurch zur Erkänntniß der Geschichte selbst gelangen.³⁰

Weil die Erkenntnis historischer Wahrheit also abhängig ist von der jeweiligen Vorstellung des Historikers, bestimmt sein – auch „Sehe-Punkt“ genannter – Geschichtsbegriff die je andere „Erzählung“, durch die allein historische Wahrheit zugänglich ist:

 Immanuel Kant, Was ist Aufklärung? [1784], in: Kant, Werkausgabe, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. XI: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, 53 – 61, S. 53.  Johann Martin Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünfftiger Reden und Schrifften [photomech. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1742], Düsseldorf: Stern-Verlag Janssen 1969, S. 183.

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Aus dem Begriff des Sehe-Puncts folget, daß Personen, die eine Sache aus verschiedenen Sehe-Puncten ansehen, auch verschiedene Vorstellungen von der Sache haben müssen.³¹

Die Multiplizierung der ‚Sehepunkte‘ im historischen Perspektivismus hat von der Tyrannei der Eindeutigkeit befreit und damit einer Mehrdeutigkeit Vorschub geleistet, die das Prärogativ poetischer Darstellung ist. Weil die Wahrheit allemal das Ergebnis eines variablen Standpunkts ist, könnte man eine bekannte Aussage über die Relativität von Schönheit variieren und sagen: Truth is in the eye of the beholder. ³² Was Wahrheit ist, hängt davon ab, wer darüber spricht – und wie darüber gesprochen wird. Notwendig ist also eine sprachkritische Sensibilität für die Art der Darstellung von Wahrheitsansprüchen. Damit verweist die Analogie von Schönheit und Wahrheit auf die ästhetische Dimension der Fragestellung, die im Historismus sehr umstritten war. Der Historismus ist, im Sinne von Thomas S. Kuhn, ein wissenschaftliches Paradigma,³³ das immer wieder in Frage gestellt und dennoch bis weit ins 20. Jahrhundert seine Gültigkeit als Maßstab historischer Wahrheitsfindung behalten hat. Der Historismus hat immer wieder und meistens erfolgreich versucht, den Glauben an die quellenkritisch akribische Sicherung historischer Tatsachen auch gegen seine phantasievolleren Kritiker zu behaupten. Als 1824 Leopold von Ranke mit verblüffender Bescheidenheit konstatierte, der Historiker wolle „blos zeigen, wie es eigentlich gewesen“,³⁴ hat er diese meistens isoliert rezipierte und zur Norm erhobene Gründungsformel der Historischen Schule mit zwei Prinzipien erläutert: Strenge Darstellung der Thatsache, wie bedingt und unschön sie auch sei, ist ohne Zweifel das oberste Gesetz. Ein zweites war mir die Entwickelung der Einheit und des Fortgangs der Begebenheiten.³⁵

Der Begriff der „Darstellung“, der hier noch auf die „strenge“, unparteiische Wiedergabe von Tatsachen bezogen ist, gilt erst recht für das zweite „Gesetz“, die „Entwicklung“ des Zusammenhangs, in dem die einzelnen Begebenheiten ihre

 Ebd., S. 189.  Der Spruch „Beauty is in the eye of the beholder“ soll auf Margaret Wolfe Hungerford zurückgehen, die ihn erstmals geprägt hat in ihrem Roman Molly Bawn (1878).  Vgl. Horst Walter Blanke, Historismus als Wissenschaftsparadigma. Einheit und Mannigfaltigkeit, in: Wissenschaft und Nation. Studien zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft, hrsg. v. Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp, München: Wilhelm Fink Verlag 1991, 217– 231.  Ranke, Vorrede, S. VII.  Ebd.

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von der „Einheit“ abgeleitete Bedeutung erlangen. Damit zielt die Aufgabe der Historiker weit hinaus über den bloßen Tatsachenbericht, auf den die meisten Kritiker das Objektivitätspostulat des Historismus reduziert sehen. Die doppelte Aufgabenstellung suggeriert schon die narrative Konstruktion eines Bedeutungszusammenhangs, in dem die Tatsachen den ihnen angewiesenen Platz einnehmen. Ranke erwartet von den Historikern offenbar nicht nur analytische, sondern auch synthetisch-kreative Fähigkeiten. Vor Ranke hatte schon der seit 1810 in Berlin lehrende dänische Historiker Barthold Georg Niebuhr mit der Quellenkritik seiner Römischen Geschichte (ab 1811) die Geschichtswissenschaft auf eine neue methodologische Grundlage gestellt und, wie viele meinen, überhaupt erst zur eigenständigen Wissenschaft erhoben. So schreibt er, eingedenk der an Goethe erinnernden Annahme, daß jede Zeit ihren eigenen Livius braucht, er wolle eine ganz andre Arbeit unternehmen als eine, nothwendig mißlingende, Nacherzählung dessen, was der römische Historiker zum Glauben der Geschichte erhob. Wir müssen uns bemühen Gedicht und Verfälschung zu scheiden, und den Blick anstrengen um die Züge der Wahrheit, befreit von jenen Uebertünchungen, zu erkennen.³⁶

Die Unterscheidung zwischen geglaubter und im Sinne Rankes ‚eigentlicher‘ Wahrheit kann offenbar nicht ohne einen Seitenhieb auf „Gedicht und Verfälschung“ auskommen, wenn die Mühe um strenge Untersuchung von offenbar dichterischen „Übertünchungen“ freigehalten werden soll. Aber während bei Ranke die objektivistische Forderung nach Unvoreingenommenheit so weit ging, daß er „wünschte mein Selbst gleichsam auszulöschen und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen“,³⁷ bestand Niebuhr ganz selbstbewußt auf seiner subjektiven Verfügungsgewalt: „Ich bin Historiker, denn ich kann aus dem einzeln erhaltenen ein vollständiges Gemälde bilden und weiß, wo Gruppen fehlen, wie sie zu ergänzen sind.“³⁸ Die Ergänzung eines Bildes, in dem ganze Gruppen fehlen, ist offenbar auf eine Phantasie angewiesen, die die Historiker in die Nähe der Dichter rückt. Wenn ein Historiker, der bei aller Beteuerung strenger Quellenuntersuchung für sich die Freiheit beansprucht, das Geschichtsbild nach  Barthold Georg Niebuhr, Vorrede, in: Niebuhr, Römische Geschichte. Neue Ausgabe von M. Isler, Berlin: S. Calvary 1873 – 1874, Bd. 1, 1873, S. XXI f.  Leopold von Ranke, Sämmtliche Werke, Bd. 15: Englische Geschichte, vornehmlich im siebzehnten Jahrhundert. Zweiter Band, Leipzig: Duncker & Humblot 31870, S. 103. Zur Diskussion dieser umstrittenen Selbstauslöschung vgl. Hellmut Diwald, Das historische Erkennen. Untersuchungen zum Geschichtsrealismus im 19. Jahrhundert, Leiden: Brill 1955, S. 102 f.  Ohne Beleg zitiert von Franz X. von Wegele, Geschichte der Deutschen Historiographie seit dem Auftreten des Humanismus, München/Leipzig: Oldenbourg 1885, S. 1005.

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eigenem Gutdünken auszumalen und zurechtzurücken, ist die Skepsis gegenüber jedem angeblich unvoreingenommenen Wahrheitsanspruch überaus berechtigt. Sie äußert sich nicht nur als Kritik an der unmöglichen Selbstverleugnung einerseits und an der selbstbewußten Ausmalung andererseits, sondern auch als Zugeständnis der Faktoren, die jedes Geschichtsbild zwischen Objektivität und Subjektivität vieldeutig schillern lassen. Dabei konnten die Historiker, die das Bild ihrer immer perspektivischen Beobachtungen und nie endgültigen Erkenntnisse mit dem Anspruch historischer Wahrheit ausmalen, sogar von Ranke selbst lernen, daß historische Wahrheitsfindung eine durchaus ästhetische Aufgabe ist: Die Aufgabe des Historikers dagegen ist zugleich literarisch und gelehrt; die Historie ist zugleich Kunst und Wissenschaft. Sie hat alle Forderungen der Kritik und der Gelehrsamkeit so gut zu erfüllen wie etwa eine philologische Arbeit; aber zugleich soll sie dem gebildeten Geiste denselben Genuß gewähren wie die gelungenste literarische Hervorbringung.³⁹

Der literarische Kunstcharakter der Geschichtswissenschaft, wie ihn Ranke hier sogar als „Aufgabe des Historikers“ postuliert, scheint so gar nicht passen zu wollen zum vorherrschenden Bild des Gründungsvaters des Historismus. Tatsächlich hat Rankes wechselhafte Wirkungsgeschichte, laut Wolfgang Hardtwig, den „Gewährsmann einer in die Postmoderne führenden Theorie der historischen Erzählung“ erst in den 1980er Jahren entdeckt.⁴⁰ Nachdem lange Zeit Rankes Abgrenzung gegen Hegels Geschichtsphilosophie im Sinne positivistischer Tatsachengläubigkeit verstanden wurde, ist neuerdings, oft mit Bezug auf Hayden Whites bahnbrechendes Buch Metahistory (1973),⁴¹ die Nähe der histo-

 Ranke in den Analekten zur Franzö sischen Geschichte, vornehmlich im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert, in: Ranke, Sämtliche Werke, Bd. 12 (3. Gesamtausgabe), S. 3 f., zitiert nach Rudolf Vierhaus, Leopold von Ranke. Geschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Kunst, in: Leopold von Ranke. Vorträge anläßlich seines 100. Todestages, hrsg. v. der Stiftung Historisches Kolleg, München: Oldenbourg 1987, 31– 44, S. 31; zugleich in: Historische Zeitschrift 244 (1987), 285 – 298, S. 285.  Wolfgang Hardtwig, Historismus als ästhetische Geschichtsschreibung: Leopold von Ranke, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), 99 – 114, S. 99. Vgl. Philipp Müller, Erkenntnis und Erzählung. Ästhetische Geschichtsdeutung in der Historiographie von Ranke, Burckhardt und Taine, Köln (u. a.): Böhlau 2008.  Hayden White, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore/London: The Johns Hopkins University Press 1973. Dabei ist Whites Theorie des emplotment, wie sich in den folgenden Kapiteln wiederholt zeigen wird, für die Poetik der Geschichtsschreibung wichtiger als die gattungsgeschichtliche Zuordnung. Vgl. Hayden White, The Historical Text as Literary Artifact, in: The Writing of History. Literary Form and Historical Understanding, hrsg. v. Robert H. Canary und Henry Kozicki, Madison/London: The University of

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riographischen Darstellungsprinzipien zur literarischen Poetik entdeckt worden. So hat Rudolf Vierhaus schon 1987 betont, man müsse Rankes historiographische Werke „stets auch als literarische Darstellungen lesen, um ihren Rang voll wü rdigen zu kö nnen“,⁴² nicht nur wegen des anschaulichen Stils der Darstellung, sondern weil, gewissermaßen metahistorisch, die Darstellung selbst ein Medium historischer Wahrheitsfindung ist. „Rankes Grenzgängertum zwischen Geschichtswissenschaft und Literatur“ markiert, laut Hardtwig „den Paradigmawechsel vom aufklärerischen zum historistischen Geschichtsverständnis – oder, anders formuliert, von der enzyklopädischen zur ästhetischen Organisation des historischen Wissens“.⁴³ Daß die Ästhetisierung historischen Denkens, der das vorliegende Projekt gewidmet ist, ausgerechnet mit dem Gründungsvater des Historismus in Verbindung gebracht wurde, muß auch angesichts der heftigen Kritik an Rankes historischem Objektivismus überraschen. So hat sich Johann Gustav Droysen in seinen Berliner Vorlesungen zur Historik (ab 1857), die „am wenigsten eine Poetik der Geschichtschreibung“ sein wollte,⁴⁴ entschieden gegen „die immer wiederholten Phrasen von Objektivität der Darstellung“ gewandt⁴⁵ und gleichzeitig jede Affinität zur Literatur abgelehnt: Ich wüßte nicht, was uns ferner liegen müßte, als in der Historik, wie Gervinus getan, eine Theorie der künstlerischen Behandlung der Geschichte, eine Untersuchung über den Kunstcharakter der Geschichtschreibung zu geben. Es würde das ungefähr so sein, als wenn die Logik die Kunst, philosophische Bücher zu schreiben, lehren wollte. Und nichts ist für unsere Wissenschaft verhängnisvoller geworden, als daß man sich gewöhnt hat, sie als einen Teil der schönen Literatur und ihr Wertmaß in dem Beifall des sog. gebildeten Publikums zu sehen.⁴⁶

Die Abgrenzung gegen den Lesegeschmack des gebildeten Publikums ist ein Topos der Verwissenschaftlichung einer Disziplin, die sich ihrer akademischen Autonomie noch nicht ganz sicher ist. Sie scheint umso nötiger, je mehr die von Droysen ebenfalls betonte Medialität historischer Darstellung an literarische

Wisconsin Press 1978, 41– 62; zugleich in: Hayden White, Tropics of Discourse: Essays in Cultural Criticism, Baltimore/London: The Johns Hopkins University Press, 1978, 81– 100.  Vierhaus, Leopold von Ranke. Geschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Kunst, S. 43.  Hardtwig, Historismus als ästhetische Geschichtsschreibung, S. 103 und 112.  Johann Gustav Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hrsg. v. Rudolf Hübner, 7. Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1972, S. 331.  Ebd., S. 273.  Ebd.

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Verfahren erinnert, die die fiktionale Wirklichkeit nicht einfach nachbildet, sondern durch kreative Veranschaulichung überhaupt erst entstehen läßt: Diese kritische Ansicht, daß uns die Vergangenheiten nicht mehr unmittelbar, sondern nur in vermittelter Weise vorliegen, daß wir nicht „objektiv“ die Vergangenheiten, sondern nur aus den „Quellen“ eine Auffassung, eine Anschauung, ein Gegenbild von ihnen herstellen können, daß die so gewonnenen Auffassungen und Anschauungen alles sind, was uns von der Vergangenheit zu wissen möglich ist, daß also „die Geschichte“ nicht äußerlich und realistisch, sondern nur so vermittelt, so erforscht und so gewußt da ist, – das muß, so scheint es, der Ausgangspunkt sein, wenn man aufhören will, in der Historie zu naturalisieren.⁴⁷

Wer sich so ausdrücklich der ‚Naturalisierung‘ der Geschichte widersetzt, weil, „wie es eigentlich gewesen“, nicht unmittelbar zugänglich ist, bekennt sich, noch sehr indirekt und fast gegen die erklärte Absicht, zur Ästhetisierung historischen Verstehens, indem er die Aufmerksamkeit auf das sprachbedingte Verfahren der Vermittlung lenkt. So hat Droysen die Nähe zur schönen Literatur, die er vordergründig abhorresziert, durch die Hintertür wieder zugelassen. Passend zu dieser Doppelstrategie, hat Droysen mit dem Grundsatz „Das Wesen der historischen Methode ist forschend zu verstehen“⁴⁸ eine Brücke zu Wilhelm Dilthey geschlagen, der zur selben Zeit, 1865 mit einem Aufsatz über Novalis, begonnen hat, im ausdrücklichen Rückgriff auf poetische Verfahren die ‚verstehenden‘ Geisteswissenschaften gegen den Positivismus der ‚erklärenden‘ Naturwissenschaften abzusetzen. Dilthey hat die von Chladenius begründete historische Hermeneutik zu einer Kritik der historischen Vernunft ausbauen wollen. Die wichtigste Vorarbeit zu dem Fragment gebliebenen Projekt, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910), hat den Wahrheitsbegriff, der am Anfang dieser Überlegungen stand, aufgegriffen und durch die Historische Schule neu definiert gesehen: Indem nun die historische Schule die Ableitung der allgemeinen Wahrheiten in den Geisteswissenschaften durch abstraktes konstruktives Denken verwarf, wurde für sie die vergleichende Methode das einzige Verfahren, zu Wahrheiten von größerer Allgemeinheit aufzusteigen.⁴⁹

 Ebd., S. 420 (zuerst im Anhang zum Grundriß der Historik 1868 erschienen).  Ebd., S. 328 (zuerst im Grundriß der Historik von 1857).  Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. VII: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Stuttgart: Teubner / Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 21958, 79 – 188, S. 99.

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Die quellengestützte vergleichende Methode, die schließlich alle Wissenschaften erfaßte, verwarf den abstrakten Wahrheitsbegriff der Geschichtsphilosophie und ersetzte ihn mit einem konkret-empirischen Wahrheitsbegriff. Davon unterschied sich Dilthey insofern, als er die historische Erkenntnis vom Erlebnis des Zusammenhangs hergeleitet hat. Als „eine durch Beziehungen, die alle Teile verbinden, konstituierte Einheit“⁵⁰ erfüllt Diltheys ästhetisch konstruierter Begriff des Lebenszusammenhangs die Kriterien der Wahrheit, wie sie bereits im 18. Jahrhundert formuliert worden sind. Nachdem Heinrich von Sybel im Vorwort der von ihm 1859 gegründeten Historischen Zeitschrift „die wahre Methode der historischen Forschung“ gleich zweimal ausdrücklich abgesetzt hat gegen eine „antiquarische“ Geschichtsauffassung, um mit der neuen Zeitschrift den Nachweis zu erbringen, „daß das Vergangene noch gegenwärtig ist und in uns selbst bestimmend fortwirkt“,⁵¹ hat er Friedrich Nietzsche das Stichwort für seine Kritik an einem bloß antiquarischen Historismus gegeben. Nietzsche, der überzeugt war, daß wir „alle durch die Historie verdorben“ sind,⁵² hat im zweiten Stück seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen. Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874) sowohl gegen die ‚monumentalische‘ (Vergangenheit als Modell der Gegenwart) als auch besonders gegen die ‚antiquarische‘ Geschichtsauffassung (Vergangenheit um der Vergangenheit willen) polemisiert. Er hat „das widrige Schauspiel einer blinden Sammelwut, eines rastlosen Zusammenscharrens alles einmal Dagewesenen“⁵³ verurteilt und gegen die lebensfeindliche Archivierung alles Vergangenen sein lebensphilosophisches Prinzip des lebendigen Austauschs zwischen Vergangenheit und Gegenwart konzipiert. Zu diesem Zweck plädiert Nietzsche für eine – in der Dichtung von Schillers „tragischer Analysis“ zu Kleists „stationärer Prozeßform“ (Goethe) praktizierte – Gerichtsstruktur: Der Mensch müsse, um von der überbordenden Geschichte nicht erstickt zu werden, die Kraft haben, „eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können: dies erreicht er dadurch, daß er sie vor Gericht zieht, peinlich inquiriert und endlich verurteilt; jede Vergangenheit aber ist wert, verurteilt zu werden.“⁵⁴ Erst dieser juridischkritische Rückblick, der das Vereinzelte in einen Bedeutungszusammenhang

 Ebd., S. 140.  Heinrich von Sybel, Vorwort zur „Historischen Zeitschrift“, in: Geschichte und Geschichtsschreibung. Möglichkeiten, Aufgaben, Methoden. Texte von Voltaire bis zur Gegenwart, hrsg. v. Fritz Stern, München: Piper 1966, S. 175 f.  Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta, Bd. 1, München: Hanser 51966, 209 – 285, S. 236.  Ebd., S. 228.  Ebd.

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rückt, erlaubt den Historikern eine höhere, von dem Objektivitätspostulat des Historismus abgehobene Objektivität, eine höhere, wesentlich künstlerische Wahrheit: In dieser Weise die Geschichte objektiv denken ist die stille Arbeit des Dramatikers; nämlich alles aneinander denken, das Vereinzelte zum Ganzen weben: überall mit der Voraussetzung, daß eine Einheit des Planes in die Dinge gelegt werden müsse, wenn sie nicht darinnen sei. So überspinnt der Mensch die Vergangenheit und bändigt sie, so äußert sich sein Kunsttrieb – nicht aber sein Wahrheits-, sein Gerechtigkeitstrieb.⁵⁵

Die damit suggerierte Ästhetisierung des historischen Denkens braucht einen neuen Wahrheitsbegriff, für den Nietzsche unmittelbar zuvor schon in einer anderen Schrift gesorgt hat, in der Abhandlung Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn (1873). Sein metaphorisches Verständnis des Wahrheitsbegriffs zielt auf das sprachkritische Verständnis der historischen Wahrheit, die erst als poetische Wahrheit zum Tragen kommt: Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen und geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.⁵⁶

Schon die Pluralisierung der Wahrheit zu standortgebundenen „Wahrheiten“ hebt den konventionellen, einst religiös sanktionierten Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit bestimmter Wahrheitsansprüche auf. Noch provokanter, über die negative Aufhebung des Begriffs hinaus, ist allerdings die positiv gemeinte implizite Aufforderung, das verlorene Bild auf den abgegriffenen Münzen, mit denen die Wahrheit immer wieder verglichen worden ist, wiederherzustellen, den sprachbedingten Bildcharakter der Wahrheit wiederzuentdecken und durch die (Re‐)Metaphorisierung der Wahrheit eine poetische Wahrheit zu erkennen, die eine höhere Erkenntnis erlaubt als jedes Objektivitätspostulat des antiquarischen Historismus. Eine solche sprachkritische Sensibilität für die Bildlichkeit der Wahrheit konnte Nietzsche nicht von Historikern erwarten, sondern nur von Dichtern.

 Ebd., S. 247.  Friedrich Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, in: Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta, Bd. 3, München: Hanser 51966, 309 – 322, S. 314.

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Damit haben wir den historischen Punkt erreicht, auf den dieses Einleitungskapitel zusteuerte: Von hier an haben die in den nächsten zehn Kapiteln behandelten Schriftsteller, die im historiographischen Theoriediskurs kaum noch eine Rolle spielen, ein Wörtchen mitzureden, wenn es um das problematische Verhältnis von Geschichte und Dichtung und um die sprachbewußte und bildbetonte Erörterung historischer Wahrheitsansprüche geht. Auf der poetischen Seite erinnert man sich nur ungern daran, daß Platon in der Politeia (374 v. Chr.) die Dichter als Lügner aus dem idealen Staat verbannt und damit für viele Historiker das klassische Vorurteil gegen poetische Schönfärberei geprägt hat: Wir dürfen also als ausgemacht annehmen, daß alle Künstler in der Nachahmungspoesie, von Homer an gerechnet, in bezug auf geistige Tüchtigkeit und die anderen Gegenstände ihrer Darstellung nur nachahmende Schattenbildkünstler sind und die eigentliche Wahrheit nicht erfassen. (601 a)⁵⁷

Mit deutlichem Bezug auf das Höhlengleichnis, in dem die Wahrheit der Sonne nur indirekt über die an die Felsenwand geworfenen Schatten erschlossen werden kann, sind die Dichter nichts als „Schattenbildkünstler“, denen „die eigentliche Wahrheit“ verborgen bleibt, auch weil sie Affekte sogar zugunsten moralisch fragwürdiger Helden erzeugen. Auf der historischen Seite erinnert man sich nur ungern daran, daß Aristoteles in seiner – von Historikern weniger beachteten – Poetik (um 330 v. Chr.) die Dichtung über die Geschichtsschreibung gestellt hat, weil sie nicht das Wirkliche, sondern das Mögliche wiedergibt und gerade darum eine philosophisch zu verstehende Allgemeingültigkeit ausdrückt: Es ergibt sich aus dem Gesagten, daß es nicht die Aufgabe des Dichters ist zu berichten, was geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte und was möglich wäre nach Angemessenheit oder Notwendigkeit. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch, daß der eine Verse schreibt und der andere nicht (denn man könnte ja die Geschichte Herodots in Verse setzen und doch bliebe es gleich gut Geschichte, mit oder ohne Verse); sie unterscheiden sich vielmehr darin, daß der eine erzählt, was geschehen ist, der andere, was geschehen könnte. Darum ist die Dichtung auch philosophischer und bedeutender als die Geschichtsschreibung. Denn die Dichtung redet vom Allgemeinen, die Geschichtsschreibung vom Besonderen. (1451 b, 9. Kap.)⁵⁸

 Platon, Der Staat, übers. v. Wilhelm Siegmund Teuffel (Bücher I-V) und Wilhelm Wiegand (Bücher VI-X), in: Platon, Sämtliche Werke, 3 Bde., Bd. 2, Berlin: Lambert Schneider o. J., 5 – 407, S. 375.  Aristoteles, Poetik, übers. v. Olof Gigon, Stuttgart: Reclam 1961, S. 39.

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Was, zugespitzt formuliert, dem einen als verdammenswerte Lüge erscheint, die von der Moral staatspolitischer Verantwortung ablenkt, ist für den anderen eine Fiktion, die Alternativen durchspielt und mit der Verallgemeinerung des Möglichen eine höhere Wahrheit suggeriert. Die Fiktionalisierung des Wirklichen ist in beiden Fällen ein poetischer Akt, dessen Ergebnis negativ als Lüge und positiv als Wahrheit verstanden wird. Sowohl das antike Modell gegensätzlicher Positionen zu Wahrheit und Lüge als auch der aktuelle Meinungsstreit um Tatsachen und fake news unterstreicht noch einmal die Notwendigkeit der Problematisierung des Wahrheitsbegriffs zwischen historischer und poetischer Wahrheit. Man muß nicht unbedingt Goethes Ratschlag in den Maximen und Reflexionen begrüßen, daß Vertreter der historischen Wahrheit „nicht so griesgrämig, wie es würdige Historiker neuerer Zeit getan haben, auf Dichter und Chronikenschreiber herabsehen“,⁵⁹ um nach dem Überblick über verschiedene, durchaus nicht nur griesgrämige Positionen des Historismus, nun die folgenden zehn Autoren zu Wort kommen zu lassen, die eher auf der Seite der Dichter einzuordnen sind. Ihr Beitrag dient nicht der Korrektur historiographischer Positionen, die ihnen vielleicht weniger gewogen sind, sondern soll vor allem zeigen, daß diese ‚Dichter‘ erst in der Auseinandersetzung mit geschichtstheoretischen Fragen ihre eigene Position auch poetologisch geklärt haben. *** 1 Johann Joachim Winckelmann (1717– 1768) Der Schock, den Winckelmanns Ermordung 1768 in ganz Europa auslöste, ist ein Lieblingsthema poetischer Auseinandersetzungen mit dem Tod und seiner erzähltheoretischen Vorhersage geworden. Die poetische Faszination mit seinem Ende hat Winckelmanns wissenschaftlichen Werdegang vom angehenden Reichshistoriker zum ersten Kunsthistoriker lange überschattet. Maßgeblich für seine Zeit, hat Winckelmann in der Vorrede zur Geschichte der Kunst des Altertums (1764) erklärt, er wolle „keine bloße Erzählung der Zeitfolge und der Veränderungen in derselben“, sondern, „das Wort Geschichte in der weiteren Bedeutung“ genommen, den „Versuch eines Lehrgebäudes“ liefern, dessen Zweck „das Wesen der Kunst“ und nicht bloß „die Geschichte der Künstler“ ist. Ausgerechnet der Autor einer Kunstgeschichte, die statt der Künstler die (meist anonym überlie-

 Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen, in: Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Erich Trunz, Bd. 12, Hamburg: Wegner 51963, 365 – 547, S. 394 (Nr. 209).

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ferten) Kunstwerke in den Mittelpunkt gerückt hat, wurde durch seinen Tod als Autor wichtiger als sein Werk; sein Tod wurde erzählenswerter als sein Leben und sein Leben interessanter als seine Ideen. Die Verwandlung einer historischen Person wie Winckelmann in eine todgeweihte Figur der Dichtung gab der Phantasie seiner poetischen Biographen Anlaß, über die Zukünftigkeit des todgeweihten Historikers wie auch grundsätzlicher über den prognostischen, wenn nicht gar teleologischen Charakter historischen Erzählens nachzudenken. Die fatalistische Narrativierung der Geschichte vom Ende her ist nur die literarische Variante eines historiographischen Verfahrens, das das Mehrwissen der Gegenwart zum Ausgangs- und Zielpunkt der historischen Aufarbeitung macht. Dabei ist die biographische Verschiebung, wie sie Winckelmann vollzogen hat, von der Geschichte zur Kunstgeschichte und von der Archivierung deutscher Geschichte in Halle zur Verklärung der griechischen Schönheit in Rom exemplarisch für die Ästhetisierung historischen Denkens. Als Gründer einer historischen Ästhetik war Winckelmanns Blick für das theoretische Potential der Geschichte so vorbildlich, daß eine Generation später Friedrich Schlegel eine entsprechende Geschichte der griechischen Literatur entworfen hat, um wie Winckelmann „die Theorie derselben durch die Geschichte zu begründen“. Während sich die Geschichte als Fachwissenschaft zu institutionalisieren begann, hat Winckelmann umgekehrt den Wandel vom historisch-philologischen Geschichtsbegriff der Gelehrten zum ästhetisch-philosophischen Geschichtsbild der Gebildeten vollzogen. Die in der Antikensammlung Roms ganz konkrete Visualisierung der Geschichte in der Kunst beförderte die Bildlichkeit historischen Denkens und das Verständnis für den poetischen Aufbau historischer Darstellung. 2 Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781) Lessing hat das Konzept der historischen Kritik in die Literaturbetrachtung eingeführt und mit der Temporalisierung des Perspektive-Begriffs eine auch für die Geschichtsschreibung relevante Dramaturgie der Darstellung entwickelt. Er hat im Anschluß an Aristoteles die Dichtung über die Geschichtsschreibung gestellt, weil sie erlaubt, in der Fiktion die Dinge allgemeiner und philosophischer darzustellen. Weil ihm daran lag, geschichtsphilosophische und theologische Fragen nicht abstrakt, sondern in der anschaulichen Bildlichkeit des poetischen Verfahrens zu erfassen, hat er einen theologischen Disput, in den er verwickelt war, mit den Mitteln exemplarischen Erzählens fortgesetzt – in der Ringparabel seines Dramas Nathan der Weise (1779). Nathans Klugheit erweist sich daran, daß er auf die Frage nach der wahren Religion keine eindeutige Antwort gibt, sondern eine mehrdeutige Geschichte erzählt, deren Moral er seinem Gegenüber überläßt. Seine Weisheit erweist sich daran, daß er die historische Wahrheit nur als poe-

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tische Wahrheit ihrer Darstellung vermittelt. Das Bild der Geschichte erschließt sich erst durch die Analyse der Erzählung, in der sie uns überliefert wird. Die Menschen erreichen Vollkommenheit „nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit“. Der Mühe der Wahrheitsfindung wird eindeutig der Vorzug gegeben vor einem selbstgerechten Besitzanspruch auf Wahrheit, der oft nur religiös verbrämte Machtansprüche sanktionieren soll. Die Perspektivierung der Wahrheit aus verschiedenen „Sehepunkten“ hat, wie Chladenius schon 1742 festgestellt hat, Widersprüche unter den Wahrheitsaussagen zur Folge, für deren Auflösung eine historische Hermeneutik nötig ist. Weil der neue Kollektivsingular der „Geschichte an sich“ zurücktritt hinter den unterschiedlichen Vorstellungen und den Geschichten, die davon immer anders erzählt werden, bedarf es einer darstellungskritischen Auslegung. Deshalb ist der Glaube an die Faktizität historischer (wie religiöser) Wahrheitsaussagen eine Illusion. Nachdem sich Lessing davon hat überzeugen lassen, daß die Perspektive der Malerei nicht schon eine Entdeckung der Griechen war, hat er vom Nebeneinander der räumlich orientierten Malerei das Nacheinander der zeitlich orientierten Dichtung abgesetzt und in der perspektivischen Sequenzierung des Geschehens das (mit der Geschichtsschreibung vergleichbare) Formprinzip des Dramas gesehen. 3 Johann Gottfried Herder (1744– 1803) Der Theologe Herder hat mit dem Kunsthistoriker Winckelmann und dem Literaturkritiker Lessing das Interesse an der Ästhetisierung historischen Denkens geteilt und ihm eine sprachphilosophische Wendung gegeben, die ihn schließlich in scharfen Gegensatz zu Kants Erkenntnistheorie gebracht hat. Er hat sich einerseits für die Konzeptionalisierung der Literaturgeschichte einen „Winkelmann in Absicht der Dichter“ gewünscht und andererseits wie Lessing für ein sprachkritisches Verständnis historischer Darstellung plädiert. Ausgehend von der von Lessing diskutierten räumlichen Vorstellung eines zeitlichen Vorgangs hat Herder die Bildlichkeit und die Sprachlichkeit des historischen Denkens hervorgehoben, weil der Mensch, laut Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772), „ohne Sprache […] keine Vernunft und ohne Vernunft keine Sprache“ hat und „spricht, indem er denket“. Die metaphorische Sprache bildet die historischen Zusammenhänge nicht nur ab, sondern stellt sie sogar erst her. Herders historische Metaphorik, d. h. sein Gebrauch poetischer Bilder, mit denen er die Vieldeutigkeit der Geschichte zu fassen versucht, und seine historische Dramaturgie, d. h. sein Rückgriff auf dramatische Konstruktionsprinzipien, mit denen er die Geschichte aus der ihr unterlegten Entwicklungsstruktur zu deuten versucht, sind eng aufeinander bezogen. Weil die sprachliche Verkürzung in der Darstellung von Verlaufstrukturen immer zu einer Monokausalisierung komplexer Begründungszu-

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sammenhänge führt, kommt der Geschichtsschreiber nie an Gott als den eigentlichen Dramaturgen der Geschichte heran. Aber die auf Gott verweisende religiöse Scheinlösung des historiographischen Problems impliziert die Ästhetisierung nicht nur der Geschichte, sondern auch der sie noch tragenden Theologie. Nur einem Dichter wie dem in einem Aufsatz von 1773 geradezu vergöttlichten Shakespeare, der im Geniekult des 18. Jahrhunderts als Muster des alter deus gilt, kann die Inszenierung der Weltgeschichte als dramaturgisch verknüpftes Bühnengeschehen gelingen. Nur er schafft, mit Hilfe der von Herder oft verwendeten Metaphern Faden, Knoten und Kette, die „Unter- und Zusammenordnung“ des komplexen Geschehens. Herder hat in einem öffentlich ausgetragenen Disput, in dem seine Metakritik (1799) eine besondere Rolle spielt, dem Erkenntnistheoretiker Kant, der ‚das Ding an sich‘ unsprachlich konzipiert hat, vorgeworfen, er suche „den Strom außer dem Strom, ‚das Ding an sich‘, den wahren Wald, hinter den Bäumen“. Die sprachbewußte Selbstreflexion der Dichtung, die von Kleists Aufsatz über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden (1806) über Grillparzers Drama Weh, dem der lügt! (1838) bis zu Hofmannsthals Drama Der Schwierige (1919) reicht, wäre ohne Herders sprachphilosophische Wendung der Kantschen Erkenntnistheorie kaum vorzustellen. 4 Friedrich Schiller (1759 – 1805) Als Schillers Jenaer Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (1789) angekündigt wurde, kam es zu einem kleinen Skandal, weil Schiller, der für die Philosophie berufen wurde, fälschlich als Professor der Geschichte vorgestellt wurde. Darüber war ein Historiker-Kollege in Jena, selber übergewechselt von der Philosophie, so empört, daß er die Ankündigungszettel abreißen ließ. Der Vorfall ist symptomatisch für die noch fließenden Übergänge zwischen den Disziplinen und für das empfindliche Abgrenzungsbedürfnis einer sich erst etablierenden Geschichtswissenschaft. Außerdem mußte der provokative Titel der Vorlesung alle erschrecken, die irgendwie an dem internationalen Unternehmen einer kollektiven Universalgeschichte beteiligt waren, von Voltaire über Gatterer und Schlözer zu Wegelin. Dabei profitierte das schließlich in Nationalgeschichten zerfallende Riesenprojekt von Organisationsprinzipien, die – wie Zusammenstellung, Ordnung, Reihenbildung, Fügung, Verkettung, Verwandlung des Aggregats in ein einheitliches System – im zeitgenössischen historischen Diskurs verbreitet waren und ihre Herkunft aus der Poetik nicht verleugnen konnten. Aber der Übergriff eines so bekannten Dichters wie Schiller, der sich immerhin mit historischen Themen befaßt hatte, löste umso mehr Unbehagen aus, als er kurz vorher in der Vorrede zur Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande (1788) zugestanden hatte, „daß die Geschichte von

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einer verwandten Kunst etwas borgen kann, ohne deswegen notwendig zum Roman zu werden“. Weil er gleichzeitig brieflich versichert hat, die Geschichte sei für ihn „überhaupt nur ein Magazin für meine Phantasie“, haben frühe Vertreter des Historismus wie Niebuhr „einmal über das andere die Hände erneut zusammengeschlagen“ und Schillers Geschichtswerk entschieden abgelehnt. Immer wieder hat Schiller, auch in Übereinstimmung mit Aristoteles, die „Kunstwahrheit“ über die historische Richtigkeit gestellt, weil es ihm auch am Beispiel bestimmter Menschen der Geschichte stets um das wesentlich Allgemein-Menschliche ging. Dabei diente ihm der teleologische Gedanke nicht als metaphysisches Prinzip der Geschichte, sondern als ästhetisches Prinzip der Geschichtsschreibung. Ebenso half ihm die Metapher der Geschichte als Weltgericht bei der Strukturierung der Urteilsfindung über die abgeschlossen vorliegende Vergangenheit („tragische Analysis“). Aus der ursprünglich historisch gemeinten Gerichtsmetapher wurde ein dramaturgisches Programm, das Schiller wirkungspsychologisch am Verbrecher aus verlorener Ehre (1786) ausprobiert und als Prozessform historischer Wahrheitsfindung vor allem an Kleist weitergereicht hat. 5 Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832) Goethe war für die geschichtsphilosophisch-historiographischen Belange der Aufklärung – vor allem in Hinblick auf Chladenius, der die historische Hermeneutik sieben Jahre vor Goethes Geburt gegründet hat – eigentlich ein Nachgeborener. Er hat an den geschichtstheoretischen Diskussionen der Aufklärung kaum teilgenommen und ist meistens nur als Geschichtsskeptiker wahrgenommen worden. Als entschiedener Gegner der Französischen Revolution hat Goethe in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) mitten im Krieg die literarische Form höfischer Geselligkeit um den Preis politischer Abstinenz und damit den geschichtsfernen Kult autonomer Kunst begründet. Goethe sah in der Übermacht der Vergangenheit, sofern sie nicht für die Gegenwart produktiv gemacht wird, einen gespenstischen Albtraum, der den Menschen die Kraft zum gegenwärtigen Leben raubt. Geschichtsschreibung war für ihn deshalb vor allem eine therapeutische „Art, sich das Vergangene vom Halse zu schaffen“. Wenn man Faust (1808, Urfaust 1775) als Abgesang auf die Aufklärung und als Kritik des aufgeklärten Fortschrittsoptimismus liest, dann zielt Fausts am Famulus Wagner geübte Geschichtslektion darauf, daß der neue Begriff „Geist der Zeiten“ als historische Legitimation der Herrschenden in Frage gestellt wird. Nicht durch antiquarische Rekonstruktion der Vergangenheit, in die man sich einfach „versetzen“ könnte, sondern nur im poetischen Spiegelbild der Zeiten ist die als Dichtung interpretierbare Konstruktion einer „zweiten Gegenwart“ möglich, in der die scheinbar unwiederbringlich an die Vergangenheit verlorene ‚erste‘ Ge-

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genwart erst verständlich wird. Um Goethes Ruf als Gegner der Geschichte zu korrigieren, hat Friedrich Meinecke in der Entstehung des Historismus (1936) mit Bezug auf den Individualitäts- und Entwicklungsgedanken Goethe umgekehrt gleich zum Vater des Historismus ernannt und Winckelmann, Lessing und Schiller, weil sie einem ‚idealisierenden‘ Geschichtsbegriff anhingen, in den Hintergrund der Geschichte historischen Denkens gedrängt. Aber Goethes metakritische Reflexionen zum Verhältnis von Geschichte und Dichtung sind, wie seine Korrespondenz mit Niebuhr zeigt, viel komplexer als solche typologischen Zuordnungen. Während sich Niebuhrs kritische Methode mehr auf einen objektivistischen Geschichtsbegriff stützte, der vorwiegend rekonstruktiv war, war Goethes wirkungsgeschichtlicher Geschichtsbegriff, fern von allem mythisierenden Subjektivismus, wesentlich produktiv, weil die Anordnung der aus der Vergangenheit überlieferten Bruchstücke in einem nur zu ahnenden Bedeutungszusammenhang der interpretierenden Phantasie Eintritt in die „zweite Welt“ der ästhetischen Konstruktion erlaubt. Aus dem Konzept einer produktiven Geschichtsschreibung folgt die Forderung einer ständigen Umschreibung der Geschichte, die am Anfang dieser Einleitung stand. Zur Relativierung des Objektivitätspostulats hat Goethe 1806 in einem Gespräch mit dem Historiker Heinrich Luden, das dem von Faust mit Wagner entspricht, den entscheidenden Satz gesagt: „nicht alles ist wirklich geschehen, was uns als Geschichte dargeboten wird, und was wirklich geschehen, das ist nicht so geschehen, wie es dargeboten wird, und was so geschehen ist, das ist nur ein Geringes von dem, was überhaupt geschehen ist.“ Schließlich von der poetischen Struktur historischer Wahrheit überzeugt, muß auch der Historiker zugeben, „daß niemand ein Historiker sein könne im schönsten Sinne des Wortes, dem die schöpferische oder dichterische Kraft fehlt“. 6 Novalis (Friedrich von Hardenberg, 1772– 1801) Unter poststrukturalistischem Vorzeichen wurde die deutsche Romantik vor allem wegen ihrer Theorie des Fragmentarischen wiederentdeckt. Aber wie Friedrich Schlegel dem Kritik-Begriff Lessings viel mehr schuldet, als das konventionelle Epochenschema Aufklärung vs. Romantik erlaubt, ist das romantische Fragment immer auch im Spannungsverhältnis zum Begriff des Zusammenhangs zu sehen, der in der historischen Ästhetik der Aufklärung eine so große Rolle gespielt hat. Weil in der wirkungstheoretischen Transzendentalpoesie der Romantik ein literarisches Werk, laut Schlegel, selbstreflexiv „auch das Produzierende mit dem Produkt“ darstellen soll, werden auch die Leser an der poetischen Produktion von Bedeutung beteiligt, wenn es in dem Roman Heinrich von Ofterdingen von Novalis (1801) darum geht, wie der mittelalterliche Minnesänger den Zusammenhang

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seines Lebens entdecken und verstehen muß. Weil für Novalis das Ziel aller Geschichte die „Poetisierung der Welt“ ist, wird in dieser totalen Ästhetisierung, in dieser angestrebten Aufhebung der Wirklichkeit in der Fiktion, in der Verklärung der Geschichte als Mythos und Dichtung auch das einzelne Leben zum Buch metaphorisiert: „Ein Roman ist ein Leben, als Buch.“ So findet Heinrich in einer unterirdischen Bibliothek ein Buch, in dem nicht nur sein vergangenes, sondern auch sein künftiges Leben dargestellt ist. Das fragmentarische Buch, das das Leben sowohl resümiert als auch präfiguriert, ist ein transzendentalpoetischer Spiegel des Fragment gebliebenen Romans. Der Teil des Lebensbuchs, der über das ausgeführte Programm des Romans hinausweist, kann also als Entwurf seiner unausgeführten Fortsetzung gelesen werden. Diese extreme Literarisierung des Lebens hat einen deutlich hermeneutischen Zweck, der in Form einer zum Dichterberuf führenden Geschichtslektion formuliert wird. Wenn sich Heinrich, vor die Wahl gestellt, gegen die mühselige Erkundung aller Einzelheiten und für die unmittelbar-intuitive Anschauung des Ganzen entscheidet, wird die „Wissenschaft der menschlichen Geschichte“ nicht der historischen Forschung, sondern der künstlerischen Phantasie anvertraut. Als angehender Dichter erkennt Heinrich „den zauberischen Faden“, durch den scheinbar isolierte Erinnerungen in einem größeren Zusammenhang miteinander verknüpft sind: „die geheime Verkettung des Ehemaligen und Künftigen“. Die Geschichtslektion gipfelt in der Einsicht, daß die Geschichtsschreiber Dichter sein müssen, weil nur diese die Kunst verstehen, „Begebenheiten schicklich zu verknüpfen“: „Es ist mehr Wahrheit in ihren Märchen, als in gelehrten Chroniken.“ Kein Wunder, daß sich Wilhelm Dilthey bei der methodologischen Begründung der historischen Geisteswissenschaften von dem bei Novalis gefundenen Bild des Zusammenhangs hat leiten lassen. 7 Heinrich von Kleist (1777– 1811) Wer wenig von Kleist kennt, hat doch zumindest von der sogenannten Kant-Krise gehört, von den existentiellen Folgen einer radikalen Infragestellung der Wahrheit: „Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint“. Weil die Wahrheit, wie schon Herder gegen Kant behauptet hatte, eine Frage der Benennung ist, hat diese sprachphilosophische Wendung der Erkenntnistheorie für Kleist einen Ausweg aus der Krise gewiesen. Das sprachbewußte Spiel mit der Mehrdeutigkeit der poetischen Wahrheit ist für nicht einmal zehn Jahre seines Schaffens zum rettenden Lebensanker geworden. Von seinem ersten Drama Die Familie Schroffenstein (1803), einer vermeintlichen Schicksalstragödie, die von Mißtrauen und tödlicher Verblendung voreingenommener Menschen handelt („so sag’s mir einmal noch. Ist’s

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wahr, / Ist’s wirklich wahr?“), bis zu seiner Selbstmordnotiz (1811) geht es um die Grenze sprachlichen Vertrauens: „HvK man sagt hier d 21t Nov; wir wissen aber nicht ob es wahr ist.“ Die Infragestellung aller Wahrheitsansprüche betrifft auch die Wahrheitsfindung im historischen Denken. Wer einer Sache auf den Grund kommen will, um zu erkennen, was wirklich geschehen ist, endet womöglich wie der Marchese im Bettelweib von Locarno (1810) im Wahnsinn. Kleists Komödie Der zerbrochne Krug (1806) zeigt, wie sich die Sprache der Wahrheit gegen die Verlogenheit ihrer Sprecher durchsetzt. Diese kognitive Funktion der Sprache, die Kleist in der Abhandlung Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden (1806) erörtert hat, erweist sich am besten in der dramatischen Struktur einer Gerichtssache, wenn die Wahrheit eines vergangenen Geschehens nur als szenisches Sprachgeschehen gegenwärtig wird. Weil in der weltgeschichtlichen Ausweitung des Vor-Falls Adams Sündenfall am Anfang der Menschheitsgeschichte steht, ist alle Geschichte Gegenstand eines juridischen Verfahrens. Als komische Variante des Oidipus muß der Richter Adam über eine Geschichte zu Gericht sitzen, deren Wahrheit er, weil er wie alle Historiker von vornherein in sie verwickelt ist, zu entkommen sucht. Parabelhaft geht es um die sprachliche Veranschaulichung der historischen Wahrheit in Frau Marthes Krugbeschreibung weil das mit dem Krug zerbrochene Bild eines Höhepunkts der europäischen Geschichte, der Gründung der Niederlande im Jahr 1555, nur durch eine historische Erzählung wieder re-präsentiert werden kann. Von Kleist, der seine existentielle Verzweiflung an der Wahrheit als Dichter kompensiert hat, kann man lernen, daß auch historische Wahrheitsaussagen immer metaphorisch sind und daß es deshalb einer besonderen sprachkritischen Sensibilität bedarf, um zu erkennen, daß sich historische Wahrheit grundsätzlich hinter dem Fiktionsspiel der poetischen Wahrheit verbirgt. 8 Heinrich Heine (1797– 1856) Während für Friedrich Schlegel der Historiker „ein rückwärts gewandter Prophet“ war, hat Heine den Dichter einen in die Zukunft vorausschauenden Geschichtsschreiber genannt. Anstatt die Gegenwart teleologisch als erfüllte Prophezeiung der Vergangenheit zu sehen, sah er sie prophetisch als einzulösendes Versprechen einer besseren Zukunft. Der engagierte Dichter soll die Geschichte so umschreiben, daß ihr aktueller, mit ironischer Tageskritik verfolgter Verlauf eine Wendung zum Besseren nimmt. Im Gegensatz zum Objektivitätsideal von Ranke, dem er heimliche Kollaboration mit den Mächtigen vorwarf, hat Heine eine unverblümte Parteilichkeit vertreten. Er polemisiert gegen die Zeitlosigkeit von Goethes Kunstideal und kämpft stattdessen für die im Sinne des aufgeklärten Fortschritts verstandenen „Interessen der Zeit“. Vor dem Hintergrund der Metternichschen

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Restauration, vor der er ins Pariser Exil geflohen ist, hat Heine einen Epochenbruch gefordert, der mit „Insurrektion gegen Goethe“ beginnen und mit der bürgerlichen Revolution enden sollte. Weil der offene Kampf für die Freiheitsideale von Zensur und Polizei verfolgt wurde, diente das ironische Sprachspiel, als dessen Meister Heine gilt, als poetische Charade, mit der er die Autoritäten provozieren wollte. Die poetische Wahrheit diente der historischen Wahrheit nun als politisches Versteckspiel. Dabei wendet er sich, in der kleinen Schrift Verschiedenartige Geschichtsauffassung (1833) ebenso entschieden gegen die „Schwärmerei der Zukunftbeglücker“ wie gegen den „elegischen Indifferentismus der Historiker und Poeten“. In der Romantischen Schule (1835) findet sich Heines politisch gemeinte Kritik an der romantischen Enthistorisierung der Geschichte, weil die Verklärung des Mittelalters zum Märchen der Gegenwart zur Entpolitisierung des öffentlichen Interesses beigetragen habe. Aber als sich mit der Revolution von 1848 seine politischen Träume realisierten, an denen er gerne als Hauptakteur teilgenommen hätte, wandte sich Heine, nun als Kranker an die Matratzengruft gefesselt, gegen das „Weltrevolutionsgepolter“, um, wie er in der Vorrede zu Lutetia (1855) mitteilt, seine künstlerische Freiheit gegen die kommunistischen Bilderstürmer zu verteidigen. Weil der poetische Geschichtsschreiber der Zukunft einsehen mußte, daß ihn die Revolution überholt hat, ist Heine – nun im Namen der bedrohten Kunstautonomie – sogar vom linear-progressiven zum zyklischen Geschichtsbild zurückgekehrt. Wie ein unverbesserlicher Romantiker verläßt er in dem Gedicht Bimini (1853 – 1854) die Wirklichkeit auf dem „Zauberschiff“ der Poesie, um eine neue Jugend zu finden. Bei allem politischen Wechsel hat Heine immer am Primat des Ästhetischen festgehalten. So war er auch davon überzeugt, daß historische Veränderung nur durch einen Sprechakt zustandekommt, weil der Gedanke Tat und das Wort Fleisch werden will: „Der Gedanke geht der Tat voraus, wie der Blitz dem Donner.“ Weil Geschichte für Heine keine antiquarische Archivierung des Vergangenen, sondern zukunftsträchtigen politischen Wandel bedeutet, ist das Verhältnis von Geschichte und Dichtung durch die ästhetische Antizipation der Alternative zur Gegenwart bestimmt, im kritischen Rückgriff auf die Vergangenheit wie im revolutionären Vorgriff auf die Zukunft. 9 Franz Grillparzer (1791– 1872) Für Nietzsche waren Grillparzers Aussagen zum historischen Perspektivismus und zum Verhältnis von Geschichte und Dichtung so wichtig, daß er daraus ausführlich zitiert hat. In einer Tagebucheintragung von 1822, also zwei Jahre vor Rankes berühmt gewordener Gründungsformel des Historismus, hatte Grillparzer Hegels Weltgeist ersetzt durch den „Geist des Menschen“, der die Geschichte erst

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schafft, indem er den Begebenheiten, um sie verständlich zu machen, einen Zusammenhang unterlegt. Der Geschichtsschreiber teilt mit dem Dichter das poetische Verfahren von „Verbindung und Begründung“, das dem zweiten historiographischen Prinzip Rankes, der „Entwickelung der Einheit und des Fortgangs der Begebenheiten“, so sehr entspricht, daß Grillparzers Gegensatz zu Rankes erstem Prinzip, der „strengen Darstellung der Tatsachen“, weniger grundsätzlich klingt. Denn Grillparzer ging es, als er sich gegen die geschichtsphilosophische Spekulation wie gegen die historistische Überschätzung der Fakten wehrte, immer um die anschauliche Darstellung. Deshalb waren Verstöße gegen den grundsätzlich ästhetischen Charakter der Geschichtsschreibung der Haupteinwand Grillparzers gegen Georg Gottfried Gervinus, der ab 1835 die maßgebliche Literaturgeschichte der ersten Jahrhunderthälfte geschrieben hat. Weil der Historiker Gervinus, einer der entlassenen ‚Göttinger Sieben‘, von der politischen Geschichte auf das unverfänglichere Gebiet der Literaturgeschichte ausgewichen war, gebrauchte Grillparzer den Gegensatz ästhetischer und politischer Ausrichtung, um zwischen der Bildlichkeit der österreichischen und der Begrifflichkeit der deutschen Literatur zu unterscheiden und seine eigene Identität als führender österreichischer Dichter gerade in der Ästhetisierung historischen Denkens zu bekräftigen. Dieser nationalliterarischen Selbststilisierung diente auch Grillparzers zwischen Respekt und Ablehnung schwankendes Verhältnis zu Heine, weil der eine dem resignierten Biedermeier der Österreicher und der andere dem rebellischen Vormärz der Deutschen zuzuordnen war. Grillparzer hat die eigentlich geschichtstheoretische Frage, wie sich Geschehen in Geschichte verwandelt und wie Geschichte erst durch ihre Darstellung verständlich wird, anschaulich ausgeführt in seiner Erzählung Der arme Spielmann (1847). Mit dieser biographischen Selbstvergewisserung eines Individuums, das erst im Erzählvorgang bemerkt, daß es eine erzählenswerte Geschichte hat, hat Grillparzer im Prozeß narrativer Vergegenwärtigung die Entstehung des historischen Bewußtseins vorgeführt. Die Entdeckung, „wie es sich fügte“, verweist auf einen nicht vorgegebenen, sondern erst poetisch hergestellten Lebenszusammenhang. Historische Wahrheit ist immer nur die Wahrheit ihrer konkret bildlichen Darstellung. 10 Theodor Fontane (1819 – 1898) Zu Fontanes Zeit war der Vorrang des naturwissenschaftlichen Positivismus unbestritten. Aber selbst an der Berliner Universität, die seit der Reichsgründung 1871 das Zentrum dichtungsferner Faktenforschung war, gab es überraschende Ausnahmen. Der seit 1882 in Berlin lehrende Philosoph Wilhelm Dilthey, der 1883 mit der Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und ihrer Geschichte in die wichtigste Methodendiskus-

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sion eingestiegen ist, hat mit der Abhandlung über Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik (1887) die ästhetische Richtung vorgegeben, in der er zu den ‚erklärenden‘ Naturwissenschaften das bevorzugte Gegenmodell der ‚verstehenden‘ Geisteswissenschaften geschaffen hat, wobei der poetischen Phantasie eine strukturierende Rolle zufiel. Zu den Ausnahmen gehört auch 1894 die vor allem von dem Historiker Theodor Mommsen betriebene Verleihung der Ehrendoktorwürde an den eher universitätsfernen Dichter Fontane. Nicht einer der beiden populären Berliner Gesellschaftsromane, Effi Briest (1895) oder Frau Jenny Treibel (1892), sondern Vor dem Sturm (1878) war der Lieblingsroman des Historikers Theodor Mommsen, der in seiner Rektoratsrede Über das Geschichtsstudium (1874) die Geschichtsschreiber mehr zu den Künstlern als zu den Gelehrten zählte. Tatsächlich hat der Historiker Mommsen, der liberale Gegenspieler seines nationalistisch-antisemitischen Kollegen Treitschke, später als erster ausgerechnet den Nobelpreis für Literatur erhalten. Nachdem der positivistische Germanist an der Berliner Universität, Wilhelm Scherer, auch sein Fach naturwissenschaftlich durch Tatsachenwissen und Ursachenforschung bestimmt sah, hat Fontane umgekehrt den scheinbar analogen Realismus von der restlosen Abbildung der Realität gerade zu befreien versucht und der kreativen Phantasie die „Verklärung“ der Wirklichkeit aufgetragen. Mit seinem ersten Roman Vor dem Sturm hat Fontane die Journalistenrolle des Reporters, der er noch in den Wanderungen durch die Mark Brandenburg (1861– 1862) war, hinter sich gelassen und sich immer mehr der poetischen Komposition und Gruppierung des historischen Materials gewidmet. Gegen alle nationalgeschichtlichen Erwartungen an eine heroische Darstellung des in der Völkerschlacht zu Leipzig (1813) gipfelnden Befreiungskampfes hat Fontane ausdrücklich nur die schon im Titel markierte Vorgeschichte behandelt, weil er nur so die psychologische Charakterisierung der Figuren, die an dem künftigen Geschehen beteiligt sein würden, mit dem Recht auf Widerstand verbinden konnte. Schon in einer Rezension von 1855 hat er, mit Bezug auf den (von Novalis behaupteten) ästhetischen Charakter der Geschichtsschreibung im Umkehrschluß festgestellt: „Wenn mit Recht gesagt worden ist, der große Historiker müsse immer auch Poet sein, so ist es ebenso wahr, daß jeder echte Poet ein Verständnis für das Historische mitbringt. Wem sich das Leben erschließt, dem erschließen sich auch die Zeiten.“ Dieses Selbstbewußtsein hat auch den betont auktorialen Erzähler des historischen Romans geleitet, wenn er sich – im Gegensatz zur Selbstverleugnung des Rankeschen Geschichtsschreibers – gegen die historische Faktizität Freiheiten erlaubt, um die Bedeutung der Geschichte für die Gegenwart zu veranschaulichen. Noch die lockerste Plauderei, wie sie bei Fontane so häufig vorkommt, ist nur ein Moment straff gesteuerter Konstruktion von Wirklichkeit. Dahinter steht die von Aristoteles, Les-

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sing und Novalis vorbereitete Einsicht, daß selbst die objektivste Rekonstruktion der Vergangenheit immer eine literarische Gestaltung ist. *** Für die folgenden Kapitel ist zu fragen, ob der von Wolfgang Hardtwig für Ranke konstatierte „Paradigmawechsel vom aufklärerischen zum historistischen Geschichtsverständnis – oder, anders formuliert, von der enzyklopädischen zur ästhetischen Organisation des historischen Wissens“ nicht schon viel früher stattgefunden hat. Wenn man nicht nur die Historiker, sondern auch die von ihnen marginalisierten Geschichtsdenker unter den Schriftstellern im Blick behält, gibt es schon mitten in der Aufklärung selbst Anzeichen für das anhaltende Paradigma der ästhetischen Organisation und Darstellung von historischem Wissen. Der Wechselbezug von Geschichte und Dichtung, der in der Disziplingeschichte der Geschichtswissenschaft oft zurückgedrängt wurde, hat sich auf der literarischen Seite dennoch unvermindert behauptet und brauchte nicht erst durch die neuere historiographische Erzähltheorie wiederentdeckt zu werden. Auf der Seite der ‚Dichter‘ gibt es für das 18. und 19. Jahrhundert eine klare Kontinuität in der Ästhetisierung historischen Denkens, weil diese für das poetologische Selbstverständnis grundlegend war und von der unsteten Skepsis auf der Seite der ‚Historiker‘ unberührt blieb.

1 Johann Joachim Winckelmann – Geschichte als Vorlauf des Todes „Der Tod ist die Sanktion von allem, was der Erzähler berichten kann.“¹ Mit diesem Bonmot hat Walter Benjamin in seinen Betrachtungen zum Werk Nikolai Leskows, Der Erzähler (1936), ein Grundproblem der Erzähltheorie angeschnitten, das auch für das historiographische Projekt gilt. Wenn der Tod, wie auch Nietzsche meinte, „nicht der Feind des Lebens überhaupt, sondern das Mittel [ist], durch welches die Bedeutung des Lebens offenbar gemacht wird“,² dann rechtfertigt auch das Ende einer Erzählung seine daraufhin strukturierte Vorgeschichte. Wenn erst in der Erinnerung an einen Menschen sich der Sinn seines Lebens von seinem Tod her erschließt, erfahren die Leser, so meint Benjamin, diese tröstliche Sinngebung stellvertretend an Romanfiguren, deren Tod – wie das Ende der Erzählung – von vornherein gewiß ist. Aber wie können die Helden ihr eigenes Ende so antizipieren, daß sich die Leser von der Allgegenwart des Todes fesseln und zugleich trösten lassen? „Wie geben sie ihm zu erkennen, daß der Tod schon auf sie wartet, und ein ganz bestimmter, und das an einer ganz bestimmten Stelle? Das ist die Frage, welche das verzehrende Interesse des Lesers am Romangeschehen nä hrt.“³ Für Personen der Geschichte, die sowohl historiographisch als auch literarisch erinnert werden, gilt Frank Kermodes ähnlich zugespitzt formulierte These seiner Fiktionstheorie „that the end is immanent rather than imminent“.⁴ Der

 Walter Benjamin, Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk von Nikolai Lesskow, in: Benjamin, Erzä hlen. Schriften zur Theorie der Narration und zur literarischen Prosa, ausgew. und mit einem Nachwort v. Alexander Honold, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, 103 – 128, S. 114.  Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe (KSA), hrsg. v. Giorgio Collo und Mazzino Montinari, Bd. 8: Nachgelassene Fragmente 1875 – 1879, München: dtv / Berlin/New York: De Gruyter 21988, S. 161.  Benjamin, Der Erzähler, S. 120. Für die Aktualität der Fragestellung angesichts nicht enden wollender Fernsehserien und sequels genannter Film-Fortsetzungen vgl. Amanda Hess, Curse of the Never-Ending Story, in: The New York Times, 18. November 2018, Arts & Leisure, S. 1 und S. 14: „Didn’t endings used to mean something? They imbued everything that came before them with significance, and then they gave us the space to reflect on it all. More than that: They made us feel alive. The story ended, but we did not. […] We needed stories to end so we could make sense of them. We needed characters to die so we could make sense of ourselves.“ Auch online unter https://www.nytimes.com/2018/11/15/arts/the-end-of-endings.html (abgerufen am 20. August 2019).  Frank Kermode, The Sense of an Ending: Studies in the Theory of Fiction, New York u. a.: Oxford University Press 1967; 22000, zit. nach der Rezension von Leo Bersani, Variations on a https://doi.org/10.1515/9783110679878-003

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ihrem Leben immanente Tod zeigt an, daß sich ihr Leben zugleich auf ihr Ende und auf den Zeitpunkt ihrer narrativen Erinnerung zubewegt. Die an fiktiven Figuren erfahrene Immanenz des Todes verspricht einen Aufschub des eigenen Todes. Schon Benjamin hätte an Johann Joachim Winckelmann denken können, den an der Grenze zwischen Geschichte und Dichtung berühmtesten Fall eines gewaltsamen Todes, der die Erinnerung an den deutschen Begründer der Kunstgeschichte so sehr geprägt hat, daß seine historiographische Leistung in den Hintergrund des existentiellen Trostschemas getreten ist. „Hat er Ahnungen eines nahen Todes gehabt?“ So fragt Gerhart Hauptmann in der ‚Fragment‘ genannten ersten Fassung seiner Winckelmann-Erzählung von 1939.⁵ Die meisten, die den Namen Winckelmann gehört haben, wissen, daß er (am 8. Juni 1768 in Triest) ermordet wurde. Aber hat Winckelmann selbst ‚gewußt‘, was auf ihn zukam, als er seine Deutschlandreise in Wien abbrach, um möglichst schnell nach Rom zurückzukehren, das seine eigentliche Heimat geworden war, und als er in Triest tagelang auf eine Schiffsverbindung nach Ancona warten mußte? Läßt die überhastete Umkehr darauf schließen, daß er seine Ermordung geahnt hat, um deretwillen er vielen Lesern bekannter geworden ist als durch sein Leben und seine Werke? Konnte er ahnen, daß er die Bedingung des Tragischen erfüllte, als er das gefürchtete Unheil, indem er es zu vermeiden trachtete, gerade dadurch selbst herbeigeführt hat? Warum hat der gewaltsame Tod Winckelmanns, der immerhin schon 50 Jahre alt war, als er starb, die Gemüter seiner Zeitgenossen und vieler Leser nachfolgender Generationen so viel mehr erregt als der Tod junger Genies wie Novalis (28), Büchner (23), Trakl (27) und Kafka (40) oder sogar wie Kleist, der sich mit 34 Jahren selbst das Leben genommen hat? Nicht die Neugier auf geniale Werke, die die Frühvollendeten noch hätten schreiben können, bestimmt dieses Interesse an Winckelmanns Tod, sondern die Frage, ob dem ganz anders unerwartet abrupten Tod durch Mord (oder Unfall), ob seiner vermuteten Zufälligkeit und Sinnlosigkeit doch noch ein Sinn dadurch unterstellt werden kann, daß das Ende einen Vorlauf erhält, der den abrupten Tod Paradigm, in: The New York Times, 11. Juni 1967 (https://archive.nytimes.com/www.nytimes.com/ books/00/06/25/specials/kermode-ending1.html, abgerufen am 18. November .2018)  Gerhart Hauptmann, Winckelmann, in: Hauptmann, Sämtliche Werke, hrsg. v. Hans-Egon Hass, fortgeführt von Martin Machatzke und Wolfgang Bungie, Centenar-Ausgabe, Bd. X: Nachgelassene Werke, Fragmente, Frankfurt am Main/Berlin: Propyläen 1970, 445 – 509 (1. Fassung), 511– 617 (2. Fassung), S. 472. Frank Thiess hat Hauptmanns Fragmente kombiniert und vollendet, vgl. Gerhart Hauptmann: Winckelmann. Das Verhängnis. Roman, vollendet und hrsg. v. Frank Thiess, Gütersloh: Bertelsmann 1954. In seiner Rezension nennt Karl Ludwig Schneider diese Bearbeitung „ein neues Beispiel für die grundsätzliche Fragwürdigkeit, die solchen Versuchen der Vollendung unvollendeter Dichtungen anhaftet“; Schneider, Frank Thiess war anderer Meinung, in: Die Zeit, 45/1954, 11. November 1954.

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als Konsequenz einer Entwicklung akzeptabler macht. In diesem Sinn ist es vielleicht ein uneingestandenes Wunschdenken, das danach fragen läßt, ob der Betroffene wohl „Ahnungen“ (im Sinne Gerhart Hauptmanns) als Vorgriff auf sein gewaltsames Ende gehabt haben könnte. Der unerwartete Tod weckt, wenn er denn vorausgeahnt würde, die Hoffnung, daß der Begründer der Kunstgeschichte seinen Sinn nicht nur auf die Vergangenheit, sondern vielleicht auch auf die eigene Zukunft, richtiger: auf deren Ende gerichtet haben könnte. Kommt mit dem historischen Verständnis dessen, was war, auch eine Ahnung dessen, was sein wird, also ein Verständnis für den womöglich zwangsläufigen Zusammenhang von Vergangenheit und Zukunft? Hauptmann hat auf die beiläufig eingeworfene Frage in der ersten Fassung seines Winckelmann erst in dessen zweiter Fassung eine ausführliche Antwort gegeben, indem er solche „Ahnungen“ zum bestimmenden Leitmotiv der ganzen Erzählung machte, als würde erst die geahnte Zukunft den Historiker legitimieren. Die über seinen Tod hinausweisende Zukünftigkeit der Rolle Winckelmanns in der deutschen Geistesgeschichte nimmt eine wichtige Stelle in Hauptmanns nicht uneitler Selbststilisierung ein („Winckelmann, Goethe und meine Geringfügigkeit“),⁶ weil sie direkt auf Hauptmann zuzulaufen scheint: „‚Winckelmann‘ muß meine Art faustisches Finale werden.“⁷ Hauptmann mißt sich mit Goethe (dem er im Alter auch äußerlich immer ähnlicher zu werden trachtete), indem er Winckelmann zu seinem Faust macht. Er bewundert in Winckelmann den Dichter, der er selbst zu sein beansprucht: „Es ist in Winckelmann ein dichterischer Zug. In ihm aber liegt seine Fähigkeit, das Griechentum in Schönheit zu erneuern. In dieser Beziehung basieren alle Späteren auf ihm.“⁸ Damit das ‚faustische Finale‘ auch für den „Späteren“, eben Hauptmann, der bis zu seinem Tod 1946 noch an dem Fragment gebliebenen Der neue Christopherus arbeiten sollte, kein endgültiges Ende ist, bemüht sich Hauptmann um eine narrative Transzendenz, die das Mehrwissen des Erzählers in die „Ahnungen“ seines Spiegelbilds projiziert. Eine solche Prognostik, die den Vorausdeutungen einen falschen mystischen Zug verleiht, wird von vornherein mythisch überhöht, wenn Hauptmann seinem Helden einen ‚Inkubus‘ in den Nacken setzt, wie ihn der Schweizer Maler Johann Heinrich Füssli in vielen Bildern dargestellt und Franz Grillparzer, Freud vorwegnehmend, in seinem bekannten Gedicht Incubus (1821) beschrieben hat.⁹

 Hauptmann, Winckelmann, S. 651.  Ebd., S. 665.  Ebd., S. 674.  Franz Grillparzer, Incubus [1821], in: Grillparzer, Sämtliche Werke, hrsg. v. Peter Frank und Karl Pörnbacher, Bd. 1, München: Hanser 1960, 139 – 141, erste und letzte Strophe: „Fragst du mich, wie er heißt, / Jener finstere Geist, / Der meine Brust hat zum Reich, / Davon ich so Düster und

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Zugleich erinnert der Incubus, der als albtraumartiger Nachtmahr den Schlafenden überfällt, an Goethes Faust, der den als Pudel erscheinenden Teufel mit dem Ruf „Incubus! Incubus“ (V. 1290) wegzuscheuchen versucht. Während sich Hauptmanns erste Fassung auf eine unbestimmte Warnung des Malers Raphael Mengs beschränkt, daß ihn „der Tod holen“ könne, wenn er „in den nordischen Nebel, das nordische Schneetreiben, die nordische Nacht“ zurückkehrt,¹⁰ geht die zweite Fassung über Mengs’ klimatische Bedenken weit hinaus, wenn ihm nun Winckelmann selbst die „hauptsächlichste“ Vision des drohenden Schicksals vorträgt: Mir im Rücken fühle ich dann eine Stele. Obendrauf den widerwärtigsten Marmorkopf einer Frauenperson. Sie hat unzweifelhaft mit einer Erinnys Ähnlichkeit. Der Stein ist mit einer leichenhaften Farbe getönt. Die Augen ohne Pupillen scheinen aus Elfenbein. Damit glotzt das Bild gleichsam blind und sehend und dringt mit seinem Blick von rückwärts gnadenlos in mich ein. Um Sie das Gruseln völlig zu lehren, lieber Mengs, ergänze ich noch, daß diese liebenswürdige Dame gelb, grün und blau am Halse ist, als ob sie jemand gewürgt hätte, und daß ihr ein blutiger Faden über die linke Wange rinnt.¹¹

Die Erinye mit dem unheimlichen Medusenblick verkündet bereits auf den ersten Seiten der viel längeren zweiten Fassung der Winckelmann-Erzählung das wie in der griechischen Tragödie verhängte Fatum des blutigen Würgetods – vielleicht als Rache für einen ungenannten Frevel, Winckelmanns griechische Liebe für Epheben, die als „Unnatur“¹² allerdings nur angedeutet und zugleich ausdrücklich nicht verurteilt wird: „Dem unserer Moral durchaus nicht Natürlichen steht es wie einer naturgegebenen, im Ganzen der Menschheitsgeschichte untilgbaren Anlage gegenüber.“¹³ Weil sich der Erzähler einer moralischen Kausalisierung des gewaltsamen Endes verweigert, wird dessen Funktion als unverdientes und deshalb unberechenbares Schicksal umso deutlicher. Die Bedrohung durch das unheimliche Zeichen war Hauptmann so wichtig, daß er sich an dieser Stelle notiert hat: „Am Schluß Motiv wiederholen.“¹⁴ Das Motiv erscheint aber schon lange vor dem Schluß immer wieder, bevor es schließlich in Gestalt des Mörders Francesco Arcangeli auftritt, um Winckelmann

bleich? / […] / Und schaudernd seh ichs, entsetzenbetört, / Wie mein eigenes Selbst gen mich sich empört, / Verwünsche mein Werk und mich selber ins Grab / Dann folgt er auch dahin wohl quälend hinab?“  Hauptmann, Winckelmann, S. 449.  Ebd., S. 515.  Ebd., S. 567.  Ebd., S. 547.  Ebd.

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mit einem Strick zu würgen und mit einem Messer zu erstechen. Hauptmann personifiziert für Winckelmann „die dumme Vision, die ihn während des Schreibens im Rücken beunruhigte“,¹⁵ zum sokratischen Daimonion und verbindet es mit den zwei Seelen, ach, die wie in Goethes Faust auch in seiner Brust miteinander kämpfen: „Sokrates hat seinen Dämon gehabt. Ich habe zwei: einen guten und einen bösen. Mir schien, der böse stand hinter mir.“¹⁶ Winckelmann sieht „einen bösen Dämon hinter sich“,¹⁷ „als stiege wieder der Schatten herauf, der ihn schon öfter beängstigt hatte“,¹⁸ bis der Erzähler, sein Mehrwissen schlecht verbergend, meint: „Man könnte sagen, daß es der von der Gegenseite ins Feld geschickte, Winckelmann feindliche Dämon war, der sich des Bildhauers bediente, ihn doch noch ins Verderben zu peitschen.“¹⁹ So wird sogar der Bildhauer und Kunsthändler Bartolo Cavaceppi, der die Deutschland-Reise mit Winckelmann erzwingt, um mit dessen Reputation an deutschen Höfen seine Geschäftsinteressen zu fördern, zum bloßen Werkzeug eines Schicksals, das unausweichlich auf das bekannte Ende zuläuft. Um die Zwangsläufigkeit der Motivwiederholung zu unterstreichen, läßt Hauptmann, gegen alle historische Überlieferung, Winckelmann schon lange vorher, als er den ‚begehrenswerten‘ Epheben ‚Desiderio‘ Arcangeli kennenlernt, an einen Koch namens Francesco Arcangeli in Florenz denken, den sein Freund Stosch in Verona einst mit der unheilschwangeren Bemerkung abgewiesen habe: „Man müsse mit Köchen vorsichtig sein, sie hantierten zuviel mit Messern.“²⁰ Der Erzähler spekuliert auf das Mehrwissen der Leser, die die Bedeutung des historischen Namens Arcangeli kennen, und nutzt das literarische Namensspiel, um zwischen dem hinreißend schönen Desiderio Arcangeli, der Winckelmann auf den Vesuv begleitet, und dem eher abstoßenden Francesco Arcangeli, der ihn ermorden wird, eine fatale Korrespondenz von Eros und Thanatos, in Freudscher Terminologie (in Jenseits des Lustprinzips, 1920): zwischen ‚Lebenstrieb‘ und ‚Todestrieb‘ anzudeuten. Den todgeweihten Winckelmann selbst plagt „eine Art Beängstigung. Bestand am Ende ein Schicksalsspruch, der ihn bestimmte, nun abzutreten?“²¹ Die Antwort auf die in der ersten Fassung der Erzählung gestellte Frage wird nun in die harmloseste Situation hineingetragen und selbst eine unerwartete Heiterkeit

      

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 527. S. 535. S. 567. S. 577. S. 602. S. 522. S. 526.

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„als Ausdruck einer schlimmen Ahnung gedeutet“,²² als wäre jedes Glück nur die Kehrseite eines Unheils. Aber nicht nur Winckelmanns Ahnungen, sondern sein ganzer Lebenslauf, der unglaubliche Aufstieg des Schustersohns aus Stendal zum Adlatus des Kirchenfürsten Albani in Rom, erscheint dem Erzähler auch objektiv als fataler Plan mit tragischem Ende: „Wie seltsam der Ratschluß der Schicksalsgöttin.“²³ Winckelmanns „Verfolgungswahn“²⁴ versteift sich auf den „Neid der Götter“,²⁵ den er fürchten muß, und folgt „der fürchterlichen Magie des Schreckauges, das ihn, allem Sträuben zum Trotz, in sich sog“.²⁶ Was das gefürchtete Fatum vorhat, verrät sich in nicht gerade subtiler Symbolik auch darin, daß sich ein Totenkopf-Schmetterling auf der Perücke Winckelmanns und auf seinem Bettkissen einfindet.²⁷ Schon vorher hat Winckelmann, von Genien, Faunen und seinem künftigen Mörder träumend, noch im Halbschlaf gerufen: „[I]ch komme von den Pforten des Todes“ und „Assassino, ladro, laß mich in Ruhe.“²⁸ Im antizipatorischen Traum ist Winckelmann seinem ‚diebischen Mörder‘ bereits begegnet, lange bevor er ihn überhaupt kennengelernt hat. Hauptmann setzt also alle literarischen Mittel ein, um an der von ihm konstruierten Schicksalstragödie keinen Zweifel zu lassen: „In der Tat: er, der sich dem Fatum entronnen fühlt, läuft ihm nun gerade blindlings in die Falle.“²⁹ Bis zur letzten Seite wird der prognostische Charakter der Erzählung ausgekostet, als Arcangeli, während Winckelmann noch seine Geschichte der Kunst für eine Neuauflage revidiert, „diese scheußliche Schlinge, welcher er blind entgegengelaufen ist“,³⁰ um seinen Hals zusammenzieht. Zugleich wird die Schicksalsblindheit durch Winckelmanns letzte Notizen („Erinnerungen für den künftigen Herausgeber der Geschichte der Kunst“) wieder mit der scheinheilig wirkenden Frage des Erzählers eingeschränkt: „Ist dies ein Wissen von der Nähe des unabänderlich Waltenden und die Ergebung in seinen Beschluß?“³¹ Winckelmanns „Ahnungen“, nach denen in der ersten Fassung nur gefragt wurde, haben am Schluß der zweiten Fassung ihre Antwort in einem „Wissen“ gefunden, das

         

Ebd., S. 545. Ebd., S. 586. Ebd., S. 595. Ebd., S. 596. Ebd., S. 597. Vgl. ebd., S. 589. Ebd., S. 572. Ebd., S. 608. Ebd., S. 616. Ebd.

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Winckelmann, als wäre er selbst der Autor seiner verhängnisvollen Geschichte, zum Mitwisser seines im Wortsinn end-gültigen Schicksals macht. Es ist ein zynisch anmutendes Spiel mit der Freiheit der unfreien Figur, wenn ihr als Ahnung in den Kopf gelegt wird, was der Erzähler weiß, und wenn dieser Erzähler, der über Tod und Leben seiner Figuren bestimmt, den Helden einerseits zum Objekt des über ihn verhängten Fatums und andererseits zum Mitverschworenen dieses angeblichen Fatums macht, als erhielte der seinem Tod in die Arme laufende Held die Freiheit eines mitbestimmenden Subjekts, wenn er das ihm vorgeschriebene Ende als über ihn verhängtes Schicksal ahnt und ahnend mitvollzieht. Hauptmann bedient mit allen Mitteln das von Benjamin angesprochene „verzehrende Interesse des Lesers am Romangeschehen“, wenn er den todgeweihten Winckelmann selbst die Leser wissen läßt, daß der Tod auf ihn wartet. Solche Psychologisierung vom Ende her ist eine verbreitete Crux biographischer Geschichtsschreibung und nicht nur ein Problem literarischer Überzeichnung. Es ist nicht ohne Ironie, wenn der Autor einer Kunstgeschichte, die statt der Künstler wirklich die von ihrem Schöpfer abgelösten Kunstwerke in den Mittelpunkt gerückt hat, ausgerechnet durch seinen Tod als Autor wichtiger wird als sein Werk, daß sein Tod erzählenswerter ist als sein Leben – und sein Leben wichtiger als seine Ideen. An der Geschichte seines vorzeitig beendeten Lebens exemplifiziert sich ein problematischer Grundsatz aller Historiographie: daß Geschichte immer vom Ende her erzählt wird, als Vorgeschichte ihrer Folgen, aus dem Wissen ex post und vom Standpunkt einer Gegenwart, die die Erfüllung einer einst offenen Zukunft ist. Der Historiker weiß, wie das Geschehen ausgegangen ist, und kann deshalb die Erzählung des historischen Verlaufs nicht entfalten, als wäre er nicht der Besserwisser, der die Handlungsfäden in der Hand hält und sie so verknüpft, daß das Ende wahrgenommen wird als zwangsläufig erscheinendes Ziel des vergangenen Geschehens. Hauptmanns Winckelmann-Erzählung ist ein extremes Beispiel dafür, wie ein Erzähler den teleologischen Charakter historischer Darstellung in einen fatalistischen Plan ummünzt, als gäbe es kein Entrinnen, keine Alternative zum vorbestimmten Geschehen, weil es nur ein vorgegebenes, unabdingbares Telos gibt, die Erfüllung der Vergangenheit in der Gegenwart. Solche fatalistische Narrativierung der Geschichte vom Ende her ist nur die literarische Variante eines historiographischen Prozesses, der das Mehrwissen der Gegenwart zum Ausgangs- und Zielpunkt der historischen Aufarbeitung macht. Umso wichtiger ist es, den implizit teleologischen Charakter aller Geschichtsschreibung gegen den deterministischen Geschichtsglauben abzusetzen. Während letzterer ‚prophetisch‘ überzeugt ist, daß das Geschehen genau nach (für geheim gehaltenem) Plan abläuft und sich die Wahrsagung im vorbestimmten Ende erfüllt, ohne daß Al-

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ternativen denkbar erscheinen, sieht erstere ‚prognostisch‘ die Vergangenheit auf ein bereits eingetretenes Ergebnis zulaufen, weil durchaus vorhandene Alternativen nicht wahrgenommen wurden. Weil sich Strukturzusammenhänge, wie schon Wilhelm Dilthey gewußt hat, erst vom Ende her konstruieren und verstehen lassen, ist das Rückwärtslesen, vom Ende her, der angemessene Modus zur Erfassung eines gegliederten Ganzen und seines strukturellen Sinns. Der hermeneutische Zirkel, den Friedrich Schleiermacher aus Anlaß seiner Platon-Übersetzung entwickelt hat, besagt nichts anderes: Erst nach einem vorläufigen Gesamteindruck (Vorverständnis des Ganzen) erlaubt die Liebe zum sprachlichen Detail (Kenntnis der Teile) die Herstellung eines zwischen Teilen und Ganzem vermittelnden Gesamtverständnisses. In der Biographie spielt deshalb der Tod eine größere Rolle als die Geburt, weil erst in der Zielgeraden die vielfältigen Fäden der verschiedenen Lebensphasen so zusammenlaufen, daß sie im Überblick über das abgeschlossene Ganze gebündelt werden können. Das gilt besonders für Autoren, deren vorzeitiger Tod das Verständnis der vollendeten Werke mit der Vorstellung der ungeschriebenen Werke belastet. „Und eben darum bedauern wir“, so hat Goethe für Winckelmann festgehalten, „höchlich seinen frühzeitigen Tod, weil er sich immer wieder umgeschrieben und immer sein ferneres und neustes Leben in seine Schriften eingearbeitet hätte.“³² Ein vorzeitiger Tod setzt, gerade im Gegensatz zum deterministischen Weltbild, die Möglichkeiten frei, die nicht realisiert werden konnten. Deshalb äußert sich die Verlusterfahrung als „Bedauern“ eher bei einem ‚prognostischen‘ Tod, der im Rückblick abzusehen ist, als bei einem ‚prophetischen‘ Tod, der im Vorausblick unvermeidlich ist. Wie problematisch die Ästhetisierung historischen Denkens ist, wenn es an so existentielle Grundfesten rührt, läßt sich kaum anschaulicher zeigen als an der Verwandlung einer historischen Person wie Winckelmann in eine todgeweihte Figur der Dichtung. Vor und nach Gerhart Hauptmann hat es eine lange Reihe von Autoren gegeben, die mit Winckelmanns Tod, ganz im Sinne Benjamins, ihre Erzählungen ‚sanktioniert‘ haben, weil sie mit Recht darauf spekuliert haben, daß jeder für die Leser nachvollziehbare Vorlauf auf ein vorgegebenes Ende besonders spannend ist.³³ Begonnen hat es mit Domenico Rossetti, der Johann Winckelmann’s letzte Lebenswoche (1818) ausführlichst zunächst auf Deutsch geschildert hat, bevor die

 Johann Wolfgang von Goethe, Winckelmann [1805], in: Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Erich Trunz, Bd. 12, Hamburg: Wegner 51963, 96 – 129, S. 118.  Vgl. zur Wirkungsgeschichte Glen A. Dolberg, The Reception of Johann Joachim Winckelmann in Modern German Prose, Stuttgart: Heinz 1976 (= Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 31).

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biographische Skizze auch ins Italienische übersetzt wurde: L’ultima settimana della vita de Giovanni Winckelmann (1832). Nachdem Willibald Alexis den Mordfall für den 12. Band seines Neuen Pitaval (1847) aufgearbeitet hat,³⁴ folgten Romane von Alexander von Ungern-Sternberg (Winckelmann, 1861) und Amalie Bölte (Winckelmann oder Von Stendal nach Rom, 1862). Aber die eigentliche Rezeption der Mordgeschichte begann erst in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als, nach dem demütigenden Ende des Ersten Weltkriegs,Winckelmann zum Geisteshelden deutscher Erneuerung stilisiert wurde. Gestützt auf die 1923 erschienene dritte Auflage von Carl Justis immer noch maßgeblicher Winckelmann-Biographie (1866 – 1872),³⁵ setzte eine Flut von Erzählungen ein, die in der Ermordung Winckelmanns den biographischen Anlaß für ihre nicht mehr durch historische Forschung beschränkte Belletristik fanden. Nachdem schon Carl Justi das Leben Winckelmanns, dem Muster von Goethes Wilhelm-MeisterRoman folgend, in „Römische Lehrjahre“ (2. Band) und „Römische Meisterjahre“ (3. Band) unterteilt hatte, war es verlockend,Winckelmanns Leben als klassischen Bildungsroman mit tragischem Ausgang zu inszenieren. Weil im Deutschen das Homonym ‚Geschichte‘ immer wieder zur Verwechslung der beiden Bedeutungen geführt hat, ist die Grenze zwischen Geschichte als Geschehenszusammenhang (auf Englisch history) und Geschichte als Darstellungszusammenhang (auf Englisch story) so transparent geworden, daß sich die literarische Phantasie für die Ausgestaltung historischer Abläufe gerne und ungestraft dichterische Freiheiten erlaubt. Im Namen der Geschichte ist die Dichtung oft an ihre Stelle getreten. ‚Geschichten, die das Leben schreibt‘ sind eine so allgemeine Alltagserfahrung, daß Novalis sie auf die Formel gebracht hat: „Wir leben in einem colossalen (im

 [Willibald Alexis], Winckelmann’s Ermordung. 1768, in: Der neue Pitaval. Eine Sammlung der interessantesten Criminalgeschichten aller Länder aus älterer und neuerer Zeit, hrsg. v. Dr. J. E. Hitzing und Dr. W. Häring (W. Alexis), Bd. 12, Leipzig: Brockhaus 1847, 422– 444.  Carl Justi, Winckelmann und seine Zeitgenossen, 3 Bde., Leipzig: Vogel 31923. Der auf das 18. Jahrhundert bezogene erste Satz der Einleitung gewann nach dem Weltkrieg vor allem für nationalistische Leser eine programmatische Aktualität: „Winckelmanns Gestalt erscheint dem Deutschen im Schein jenes ersten Morgenlichts, als nach tiefer Verfinsterung und langer zweifelhafter Dämmerung, die nur wenige Sterne erhellten oder noch trüber erscheinen ließen, der deutsche Genius, in Berührung mit dem hellenischen und dem biblischen, endlich sich selbst wiederzufinden begann, dann aber um auch alsbald sein Licht in weitem Umkreis auszustrahlen. Seine Werke und ihre Aufnahme waren eins der Anzeichen, daß endlich auch Deutschland eine leitende Rolle in der geistigen Bewegung des Abendlandes beschieden sein sollte.“ (Bd. 1, S. 1)

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Großen und Kleinen) Roman.“³⁶ Die in der Romantik totalisierte Literarisierung des Lebens kündigt sich schon in früheren Epochen an, auf die die Alltagserfahrung projiziert wurde. Das, wie Benjamin sagte, „verzehrende Interesse des Lesers am Romangeschehen“, das die öffentliche Anteilnahme an Winckelmanns Tod bis heute prägt, hat das zeitgenössische Bild des Gelehrten zum modernen Bild eines schwulen ‚Popstars‘ verschoben,³⁷ weil seine Ermordung, die das gelehrte Europa seiner Zeit erschüttert hat, „zynischerweise“, wie es anläßlich einer Winckelmann-Ausstellung im Sommer 2018 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hieß, „ein wesentlicher Katalysator seines Ruhms“ wurde: Wie Thomas Manns Erzählung Tod in Venedig (1911) bedient das Paradigma ‚Winckelmanns Tod in Triest‘, als wäre es eine poetische Fiktion, „das Klischee der stets schuldbehafteten und potentiell todbringenden homosexuellen Lust – ein Narrativ, dessen Kontinuität nicht zuletzt der wiederholt mit Winckelmanns Tod verglichene Mord an dem Filmregisseur Pier Paolo Pasolini belegt“.³⁸ Auch Winckelmanns Tod hätte als Vorlage für Skandalgeschichten der Boulevardpresse gedient, wenn es sie denn schon gegeben hätte. Abgesehen von Max Kommerells homoerotischem Gedicht Winckelmann in Triest (1929), das in 88 Zeilen den Anspruch des George-Kreises auf Winckelmann als ‚Führer‘ zur deutschen Wiedergeburt erhebt,³⁹ bezeugen die Erzählungen von Werner Bergengruen (Winckelmann in Triest, 1924, 1933 als Die letzte Reise ge-

 Novalis, Das Allgemeine Brouillon [1798/1799], in: Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hrsg. v. Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Bd. 3: Das philosophische Werk II, Stuttgart: Kohlhammer 21968, 205 – 478, S. 434 (Nr. 853).  Joachim Bartholomae (Hrsg.), Das Wunder Winckelmann: Ein Popstar im 18. Jahrhundert, Hamburg: Männerschwarm Verlag 2016.  Christoph Schmälzle, Moderne Kunst nach Winckelmanns Antike, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 130, 8. Juni 2018, S. 12. Der italienische Filmregisseur Pier Paolo Pasolini, der ab 1963 mit einem 16-jährigen Jüngling liiert war, wurde am 2. November 1975 in Ostia unter ungeklärten Umständen brutal ermordet; der damals 17-jährige Giuseppe (Pino) Pelosi, der 1976 für die Tat verurteilt wurde, hat 2005 sein Geständnis widerrufen und die Mafia impliziert.  Vgl. Wolfgang Adam, „Winckelmann in Triest“. Max Kommerells Winckelmann-Mythos in den „Gesprächen aus der Zeit der deutschen Wiedergeburt“, in: Geschichte der Germanistik 31– 32 (2007), 51– 63. Zu Winckelmanns Homosexualität vgl. schon Friedrich Wilhelm Basilius von Ramdohr, Venus Urania. Über die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung, Bd. 2, Leipzig: Göschen 1798, S. 134: „Es ist schon oft gesagt, daß der verewigte Winckelmann bey seiner enthusiastischen Anhänglichkeit von zarten männlichen Schönheiten den Einfluß der körperlichen Geschlechtssympathie dunkel empfunden habe.“ Vgl. auch Wolfgang von Wangenheim, Der verworfene Stein. Winckelmanns Leben, Berlin: Matthes & Seitz 2005.

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druckt),⁴⁰ Wilhelm Schäfer (Winckelmanns Ende, 1925),Victor Meyer-Eckhardt (Die Gemme, 1926), Richard Friedenthal (Arcangeli, 1927), Ernst Penzoldt (Winckelmann, 1930), Gerhart Hauptmann (Winckelmann, 1939), Jutta Hecker (Traum der ewigen Schönheit, 1965), Heinrich Alexander Stoll (Tod in Triest, 1968), Joachim Lindner (Mordfall W., 1978), Wolfgang Eschker (Tod in Triest, 1999) und zuletzt Hans Joachim Schädlich (Torniamo a Roma, 2015)⁴¹ den ästhetischen Gruselreiz, der sich aus der beispiellosen Verknüpfung von Eros und Thanatos ergibt. Der todgeweihte Liebhaber griechischer Schönheit ist ein so eingängiges Paradigma, daß der Tod auch eine pikantest erfundene Vorgeschichte im Sinne Benjamins ‚sanktioniert‘. So wird der gar nicht mehr junge Raubmörder Francesco Arcangeli, der in den erstmals 1964 (1965 in deutscher Übersetzung durch Heinrich Alexander Stoll) veröffentlichten Gerichtsakten als dick und pockennarbig erscheint,⁴² mehrfach als betörend schöner Jüngling dargestellt, den der homosexuelle Winckelmann mit der Vorführung seiner Preziosen womöglich verführen wollte – so durchweg von Ungern-Sternberg⁴³ bis Wolfgang Leppmann.⁴⁴ Vor allem Victor Meyer-Eckhardt hat den unattraktiven 38-jährigen Arcangeli in einen begehrenswerten 20-jährigen Jüngling namens Angelo verwandelt, als wäre die-

 Im Werbetext zu einer Neuausgabe der Erzählung (Coesfeld: Elsinor 2012) heißt es: „Geschildert werden die letzten Tage im Leben des Gelehrten; daß der Ausgang feststeht, tut der Spannung dabei keinen Abbruch“; zitiert nach https://www.amazon.de/Die-letzte-Reise-EineNovelle/dp/3942788055 (abgerufen am 20. August 2019).  Hans Joachim Schädlich, Torniamo a Roma, in: Schädlich, Gib ihm Sprache. Vorbei. Erzählungen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2015, 131– 170.  Vgl. Cesare Pagnini (Hrsg.), Mordakte Winckelmann: die Originalakten des Kriminalprozesses gegen den Mörder Johann Joachim Winckelmanns (Triest 1768), aufgefunden und im Wortlaut des Originals in Triest 1964, übers. und kommentiert v. Heinrich Alexander Stoll, Berlin: AkademieVerlag 1965; ital. Ausgabe: Gli atti originali del processo criminale per l’uccisione di Giovanni Winckelmann 1768, Triest: Editrice La Societa` di Minerva 1964.  A. von Sternberg, Künstlerbilder, Bd. 2: Winckelmann, Leipzig: Hermann Costenoble 1861, S. 278: Winckelmann „schien an seinem Aeußern Wohlgefallen zu haben. Er war schlank gewachsen, hatte glänzende, braune Augen, frische Wangen und Lippen.“  Wolfgang Leppmann, Winckelmann. Ein Leben für Apoll, Frankfurt am Main: Fischer 1986, darin das Kapitel „Tod in Triest“. Wolfgang Leppmann (1922– 2002), dessen WinckelmannBiographie schon früher erschienen ist (Winckelmann. Eine Biographie, Berlin: Propyläen 1971; vgl. hierzu die Rez. von Eberhard Schulz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Nr. 42, 19. Februar 1972), war übrigens der Sohn von Ida Orloff, mit der Gerhart Hauptmann 1905/1906 eine stürmische Affäre hatte – eine biographische Pointe der Verbindung Winckelmann – Hauptmann.

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ser ‚Engel‘ ein mit der schönen Galathee konkurrierendes Geschöpf des Pygmalion: „Hatte er je ein Kunstbild gesehen schöner als dieses Geschöpf […]?“⁴⁵ „Death is the condition of historical writing“, so hat, in einem der besten Beiträge zum Thema und mit ähnlicher Prägnanz wie Walter Benjamin und Frank Kermode, Lionel Gossman verfügt, als er 1992 die auf den Mord fixierte Rezeption Winckelmanns unter dem Aspekt ihrer historiographischen Implikationen resümierte.⁴⁶ Für den Versuch, „a plausible chain of causation“ zu finden,⁴⁷ unterscheidet Gossman analytische Historiker (wie Domenico Rossetti), die den Ablauf des Geschehens detailgetreu zu rekonstruieren suchen, und synthetische Interpreten (wie Gerhart Hauptmann), die die Bedeutung des Geschehens konstruieren, um beide Modi – einerseits „sequence or causation“ und andererseits „meaning“ – für die Winckelmann-Erzählungen in Anspruch zu nehmen.⁴⁸ Der an der Aktenlage orientierte objektive, ‚forensische‘ Zugriff der Historiker hat keine Klärung des Motivs für Winckelmanns Ermordung bringen können; denn erstens konnte der vorbestrafte Dieb Arcangeli – trotz der kaiserlichen Schaumünzen von nur relativem Wert – in Winckelmanns Reisegepäck keine Reichtümer erwarten, für die sich der vorher geplante Mord gelohnt hätte (tatsächlich hat er nichts gestohlen), zweitens war Arcangeli für ein erotisches Interesse Winckelmanns viel zu alt und viel zu häßlich (tatsächlich hatte Winckelmann einen Widerwillen gegen Pockennarben) und drittens gibt es für eine jesuitische Palastintrige gegen Kardinal Albani und seinen deutschen Schützling keinerlei Belege (tatsächlich ist der Jesuit Antonio Bosizio, der Arcangeli schon vor dem Mord und bis zu seiner Hinrichtung auf dem Rad betreut und unterstützt hat, nie einem Verhör unterzogen worden). Weil die analytische Untersuchung keine überzeugenden Motive für den Mord vorlegen konnte, hat sich der ‚forensische‘ zum ‚hermeneutischen‘ Zugriff verschoben und die Geschichte auf die Dichtung verlegt. Nun wird mit Hilfe literarischer Phantasie ein synthetisches Verständnis des sinnlosen Endes versucht – „an attempt to contain the absurd horror of Winckelmann’s murder in a larger, comprehensive narrative, to which it might be seen as connected not  Victor Meyer-Eckhardt, Die Gemme, in: Meyer-Eckhardt, Die Gemme. Novellen, Jena: Eugen Diederichs 1926, 61– 157, S. 78.  Lionel Gossman, Death in Trieste, in: Journal of European Studies 22 (1992), 207– 240, S. 216; online unter http://citeseerx.ist.psu.edu/viewdoc/download?doi=10.1.1.893.7907&rep=rep1&type =pdf (abgerufen am 20. August 2019).  Ebd., S. 218.  Ebd., S. 216: „The scholar tries to discover and account for what exactly happened and to explain how, in terms of causation and motivation – in terms, in short, of sequence; his is an essentially analytical approach. The interpreter tries to understand why something happened, what it means, how it reflects and contributes to a larger pattern of events – in terms, in short, of the relation of part to whole; his is an essentially synthetic approach.“

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causally or purely sequentially but as the part is related to the whole“.⁴⁹ Solche Einordnung in größere, subjektiv nachvollziehbare Zusammenhänge entspringt also einer Notlösung, weil sie, wie an Gerhart Hauptmann zu sehen war, Motivationsketten erfinden und ausschmücken mußte, wo die historische Forschung sie im Stich ließ. Die oft schwärmerisch ausufernde Loslösung von der historisch gesicherten Realität hat denn auch die Ideologisierung des Winckelmann-Bildes erleichtert, als – etwa bei Walther Rehm 1936 – „die Wiedergeburt der griechischen Antike aus deutschem Geist“ gefeiert wurde:⁵⁰ Dies angeborne, innere Griechentum, die Tiefe und Wahrheit eines leidenschaftlich verlangten Bildes sind allein wesentlich, denn von ihnen geht die fortzeugende Kraft, geht der von Winckelmann so erstrebte „Unterricht“ des deutschen Geistes und des deutschen Menschen aus. Nicht auf die Richtigkeit des wissenschaftlich Erforschten, auch nicht auf Breite und Umfang der Denkmälerkenntnis kommt es an, sondern einzig darauf, ob der Sinn des Griechentums erfaßt ist oder nicht.⁵¹

Wo es um die – wohlgemerkt „angeborne“ – „Tiefe und Wahrheit eines leidenschaftlichen Bildes“ geht, kommt es, laut Rehm, nicht auf analytische Forschung, sondern auf synthetische Sinnerfassung an, in der Terminologie von Lionel Gossman nicht auf causation, sondern auf meaning, nicht auf historische „Richtigkeit“, sondern auf poetische „Wahrheit“. Wenn auf dem Altar deutschtümelnder Instrumentalisierung „die Richtigkeit des wissenschaftlich Erforschten“ so bedenkenlos geopfert wird, hat in der poetisch ausgemalten Fiktion eines deutschen Griechentums die Geschichtswissenschaft nichts mehr zu suchen.⁵² Kein Wunder, daß angesichts solcher Entintellektualisierung des Winckelmann-

 Ebd., S. 223.  Walther Rehm, Griechentum und Goethezeit. Geschichte eines Glaubens, Leipzig: Dieterich 1936, S. 24.  Ebd., S. 55. Nur unter der Voraussetzung solcher Abwertung wissenschaftlicher Forschung kommt es auch bei Rehm zur Mystifizierung von Winckelmanns Tod. So heißt es ebd., S. 33: „[D]ie […] Urmacht des Eros hat ihm wahrscheinlich den Tod gebracht: sie heischte das Opfer; Griechenland heischte diesen Tod, der wie die Buße altertümlicher Natur erscheint.“  Zum faschistischen Interesse am deutschen Griechenkult vgl. Eliza Marian Butler, The Tyranny of Greece Over Germany: A Study of the Influence Exercised by Greek Art and Poetry Over the Great German Writers of the Eighteenth, Nineteenth and Twentieth Centuries, Boston: Beacon Press 21958 [zuerst Cambridge: Cambridge University Press 1935]. Selbst hier unterliegt Winckelmanns Tod dem fatalistischen Schema: „Winckelmann’s death has that symbolical significance more often found in art than life. It was Nemesis, and he brought it upon himself; a retribution for denying his gods and refusing to accomplish the task they had set him. He was killed by Arcangeli; but he had annihilated his own future first“ (S. 43).

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Bildes die historiographischen und geschichtstheoretischen Fragen, die seine wissenschaftliche Leistung aufgeworfen hat, für Jahrzehnte verschüttet wurden. Erst als in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts, vor allem unter dem Einfluß der Studien von Hayden White, Probleme der narrativen Konstruktion von Geschichte in den theoretisch motivierten Blickpunkt gerieten, fand Winckelmanns Werk wieder das Interesse der ‚gelehrten‘ Kritiker, von denen sich die Fiktionalisierung seines Todes lange ausdrücklich distanziert hatte. Nachdem schon die geistesgeschichtliche Methode der zwanziger Jahre den biographischen Positivismus bekämpft hat, weil er seine Forschungsgegenstände nur am ‚äußeren‘ Leben der Autoren zu orientieren versuchte, konnte, nun unter erzähltheoretischen Vorgaben, die erneute Problematisierung des Biographismus den Blick auch für die ästhetische Konstruktion des ‚inneren‘ Lebens schärfen und damit die narrative Struktur und den poetischen Charakter von Geschichtsschreibung überhaupt in Frage stellen. „It can be argued“, sagte Hayden White schon 1972, „that interpretation in history consists of the provisions of a plot-structure for a sequence of events so that their nature as a comprehensible process is revealed by their figuration as a story of a particular kind“.⁵³ Der von Hayden White eingeführte Begriff des emplotment bezeichnet die Strukturierung des historischen Geschehens nach dem Muster einer gut erzählten Geschichte und trifft damit genau den Prozeß, den wir vorher die Verwandlung der Geschichte als Ereigniszusammenhang (history) in Geschichte als Darstellungszusammenhang (story) genannt haben. Für solches emplotment bot Winckelmanns ‚Leben zum Tode‘ den idealen Stoff. Die Ästhetisierung der Lebensumstände hat mit ihrer frei erfundenen Sequenzierung des Vorlaufs auf das tödliche Ende der Geschichte in der Rezeptionsgeschichte Winckelmanns ein solches Übergewicht der Dichtung über die Geschichte geschaffen, daß darüber Winckelmanns Beitrag zur Geschichte historischen Denkens in der öffentlichen Wahrnehmung fast in Vergessenheit geraten ist. Winckelmann ist gerade vor dem Hintergrund seiner grausamen Ermordung so sehr zum ästhetischen Propheten griechischer Schönheit und der an ihr geschulten humanistischen Bildung stilisiert worden, daß selbst Kritikern dieser unhistorischen

 Hayden White, Interpretation in History, in: New Literary History 4 (1972/1973), 281– 314, S. 291. Diese These wurde ausgeführt in: Hayden White, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore/London: The Johns Hopkins University Press 1973. Vgl. auch Hayden White, The Historical Text as Literary Artifact, in: The Writing of History. Literary Form and Historical Understanding, hrsg. v. Robert H. Canary und Henry Kozicki, Madison/ London: The University of Wisconsin Press 1978, 41– 62, S. 52: „The historical narrative thus mediates between the events reported in it and the generic plot-structures conventionally used in our culture to endow unfamiliar events and situations with meanings.“

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Verzeichnung die Ironie entgangen ist, die darin liegt, daß der Ästhetisierung seines Lebensendes ausgerechnet Winckelmanns Lebensleistung, die Ästhetisierung historischen Denkens, zum Opfer gefallen ist. Gehalten hat sich nur die „These vom unhistorischen Historiker“,⁵⁴ der mit der inzwischen abgegriffenen Formel von der „edlen Einfalt und stillen Größe“ das Bildungsideal der griechischen Antike propagiert hat. Die Nachzeichnung seiner Entwicklung vom Gelehrten zum Kunstapostel ist, noch ganz ohne Würgeschlinge und Mordmesser, aber auch ohne hübsche Epheben, die sich (und Winckelmann) in der Pose des Genius des Todes gefallen, wenig dazu angetan, „das verzehrende Interesse des Lesers“ zu erregen, das den Erzählungen seiner Ermordung entgegengebracht wurde. Mit der literarischen Dramatisierung seines Endes kann die biographische Darstellung seiner Anfänge, vor allem seines Durchbruchs zum Ästheten der Kunstgeschichte, nicht konkurrieren, so konkret die theoretischen Implikationen seiner persönlichen Entwicklung auch verankert sein mögen. Wie sich literarische Phantasien wie Hauptmanns Winckelmann vor dessen brutales Ende geschoben haben, sind auch seine wissenschaftlichen Anfänge verstellt durch Rezeptionsmuster, die lange Zeit stärker waren als die Zeugnisse seiner Entwicklung. Winckelmann steht noch immer in dem Ruf, zwar „der Begründer der Kunstwissenschaft in Deutschland“ zu sein, der „aus Stoffsammlung Geschichtsschreibung“ machte (Waetzoldt),⁵⁵ aber kein eigentlicher Historiker. Winckelmann gilt nicht als Fachmann der sich nach 1750 als eigene Universitätsdisziplin etablierenden Geschichtswissenschaft, sondern als Schöpfer einer historischen Ästhetik, der für die bildende Kunst geleistet hat, was ihm Friedrich Schlegel im Jahr 1800, als er die Fortsetzung seiner Geschichte der Poesie der Griechen und der Römer ankündigte, für die Literatur nachmachen wollte, „nämlich die Theorie derselben durch die Geschichte zu begründen“.⁵⁶ Dieser im Namen Winckelmanns erhobene Anspruch auf den Begründungszusammenhang von ästhetischer Theorie und Geschichte ist eine Konsequenz der Pionierleistung

 Hans Mayer, Winckelmanns Tod und die Enthüllung des Doppellebens, in: Mayer, Außenseiter, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975, 198 – 206, S. 204, Anm. Vgl. Hinrich C. Seeba, Johann Joachim Winckelmann. Zur Wirkungsgeschichte eines ‚unhistorischen‘ Historikers, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 56 (1982), Sonderheft „Kultur. Geschichte und Verstehen“, 168 – 201.  Wilhelm Waetzoldt, Deutsche Kunsthistoriker. Von Sandrart bis Rumohr, Leipzig: Seemann 1921, 45 – 73 (zu Winckelmann), S. 51.  Friedrich Schlegel, Ankündigung der geplanten Platon-Übersetzung, in: Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe, Bd. 3: Charakteristiken und Kritiken II (1802 – 1829), hrsg. v. Hans Eichner, Paderborn: Schöningh 1975, S. 334.

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Winckelmanns, die viele seiner Nachfolger nicht nachvollziehen konnten, weil für sie eine historiographische Erfassung des Ästhetischen keine Geschichtsschreibung war und Theorie wegen ihrer vermeintlichen Ungeschichtlichkeit immer bedenklich blieb. Der Widerspruch, der das Wirkungsbild des ‚unhistorischen Historikers‘ Winckelmann geprägt hat, hängt zum größten Teil mit dem sowohl historiographisch als auch theoretisch lange ungeklärten Verhältnis von Ästhetik und Geschichte zusammen. Er verweist theoretisch auf den „Selbstwiderspruch des Historismus“ (Rüsen),⁵⁷ der die Ästhetisierung der Geschichte implizit begünstigt und explizit verworfen hat, und historisch auf einen Schulgegensatz in der Geschichte der Geschichtsschreibung, der auf das 19. Jahrhundert zurückgeht; denn wenn einerseits Friedrich Meinecke Winckelmanns „Widerspruch zu den Tendenzen des werdenden Historismus“ betont⁵⁸ und andererseits Hans-Georg Gadamer ihn umgekehrt gerade zu „den Anfängen des Historismus“ rechnet,⁵⁹ so scheint die gegensätzliche Zuordnung Winckelmanns davon abzuhängen, ob der Aufbruch des historischen Denkens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, gedeutet als Interesse an der antiquarischen Rekonstruktion der Vergangenheit, den Historismus Rankes oder, gedeutet als perspektivische Vermittlung der Vergangenheit, die Hermeneutik Friedrich Schleiermachers vorbereiten helfen soll. Die historische Legitimation der beiden Geschichtsbilder mußte Winckelmann so unterschiedlich beurteilen, weil die von ihm ausgehende Ästhetisierung der Geschichte von der einen Partei als Gefährdung der historischen Disziplin und von der anderen als Voraussetzung des historischen Verstehens betrachtet wurde. Vor dem Hintergrund dieser typologischen Entgegensetzung kann der Rückgriff auf das 18. Jahrhundert, um den im 19. Jahrhundert entwickelten Positionen des 20. Jahrhunderts die gewünschte Vorgeschichte bereitzustellen, auf zwei frühe Zeugen der Winckelmann-Rezeption verweisen, deren gegensätzliche Urteile paradigmatischen Charakter haben. Zehn Jahre nach Winckelmanns Tod sind, als Antwort auf die Preisfrage der Fürstlichen Akademie der Altertümer in

 Jörn Rüsen, Historismus und Ästhetik. Geschichtstheoretische Voraussetzungen der Kunstgeschichte, in: Rüsen, Ästhetik und Geschichte. Geschichtstheoretische Untersuchungen zum Begründungszusammenhang von Kunst, Gesellschaft und Wissenschaft, Stuttgart: Metzler 1976, 88 – 95, S. 91; vgl. auch ebd., S. 71: „Die Kunst ist für diese Wissenschaften nichts anderes als eine innergeschichtliche Veranschaulichung des geistigen Prinzips von Geschichte überhaupt. Sie artikuliert das Prinzip, das den geschichtlichen Charakter zeitlich ablaufenden menschlichen Handelns und Leidens ausmacht. Die Kunst ist sozusagen die Geschichte, die sich selbst erzählt.“  Friedrich Meinecke, Werke, hrsg. v. Hans Herzfeld, Carl Hinrichs und Walther Hofer, Bd. 3: Die Entstehung des Historismus [1936], München: Oldenbourg 21965, S. 301.  Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: Mohr (Siebeck) 21965, S. 270.

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Kassel: „Wo, auf welcher Stufe fand Winckelmann das Studium des Alterthums? und wo ließ er es?“, zwei bedeutende Schriften erschienen, die sich mit Winckelmanns Beitrag zum historisch-kritischen Denken auseinandersetzen: Johann Gottfried Herders Denkmahl Johann Winkelmanns (1777) und Christian Gottlob Heynes Lobschrift auf Winkelmann (1777). Abgesehen von den vorherrschenden Stilzügen schwärmerischer Verehrung und kleinlicher Abrechnung, sind beide Schriften vor allem grundsätzliche Stellungnahmen für und gegen Winckelmanns in der Vorrede zur Geschichte der Kunst des Altertums (1764) erhobenen Anspruch, er wolle „keine bloße Erzählung der Zeitfolge und der Veränderungen in derselben“, sondern, „das Wort Geschichte in der weiteren Bedeutung“ genommen, den „Versuch eines Lehrgebäudes“ liefern, dessen Zweck „das Wesen der Kunst“ und nicht bloß „die Geschichte der Künstler“ ist.⁶⁰ Die ausdrückliche Erweiterung des Geschichtsbegriffs als Bedingung der Möglichkeit eines historischen Systems, das die Chronik der Daten und Fakten durch eine Erfassung des ihnen zugrundeliegenden Prinzips vertieft, ist der theoretische Wendepunkt, an dem sich die Nachfolger Winckelmanns scheiden. Während Heyne, der 1763 nach Göttingen berufene Nestor der Altertumskunde, der hier das erste Institut für Altertumswissenschaften gründete, den engen Wissenschaftsbegriff seiner noch jungen Disziplin anlegt, um am Beispiel von Winckelmanns philologischen Ungenauigkeiten grundsätzlich zu klären, „wohin es mit der ganzen Wissenschaft des Alterthums abgesehen ist“,⁶¹ hat Herder seine früheren Einwände zugunsten der von Winckelmann vernachlässigten ‚eigentlichen‘ Geschichte überwunden, um den erweiterten, nicht mehr ‚pragmatischen‘, sondern ‚idealischen‘ Geschichtsbegriff gegen die philologischen „Kleinigkeitskrämer“ unter den Altertumsforschern zu verteidigen.⁶² Heyne plädiert für eine „Hermeneutik der Antike“,⁶³ die, vom Glauben an die Tatsächlichkeit des überlieferten Wortgeschehens ausgehend, die quellenkritische Herstellung verderbter Texte zum philologischen Modell für die Rekonstruktion der Geschichte erhebt. Deshalb kann er dem ungenügenden Gebrauch wissenschaftlicher Hilfsmittel und, da Winckelmann vorzog, „nicht mehr zu erklären, sondern zu rathen, nicht ein Ausleger des Alterthums, sondern ein Seher zu

 Johann Joachim Winckelmann, Geschichte der Kunst des Altertums, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1972, S. 9.  Christian Gottlob Heyne, Lobschrift auf Winkelmann, Leipzig: Weygandsche Buchhandlung 1778, S. 3 f.  Johann Gottfried Herder, Denkmahl Johann Winkelmanns, in: Herder, Sämtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd. 8 [reprogr. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1892], Hildesheim: Olms 1967, 437– 483, S. 463.  Heyne, Lobschrift auf Winkelmann, S. 13.

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seyn“,⁶⁴ vor allem seiner „erhizten Einbildungskraft“⁶⁵ die Tatsache zuschreiben, daß besonders der historische Teil der Kunstgeschichte „voller Fehler wider die Zeitrechnung, die Geschichtsfolge und den wahren Verlauf der Geschichte“ ist.⁶⁶ Herder hingegen war seit seiner Winckelmann-Kritik in den Kritischen Wäldern (1769) viel großzügiger geworden gegenüber solchen Verstößen gegen die ‚eigentliche‘ Geschichte und ihre antiquarische Aufarbeitung. Er gesteht Winckelmann zu, daß er „statt Geschichte, die nicht geschrieben werden kann, ein historisches Lehrgebäude“ schrieb.⁶⁷ In den unveröffentlichten Notizen zu der Akademieschrift ist Herder sogar noch einen Schritt weiter gegangen, indem er betonte, daß „eine andre eigentlichere Geschichte“ unmöglich sei,⁶⁸ weil Geschichtsschreibung – ganz im Sinne der historischen Hermeneutik, die geschichtliches Verständnis aus der Geschichte des Verstehens deutet – bei aller Bemühung um die Klärung und Sicherung des vergangenen Sachverhalts immer nur perspektivisch sein kann; sie sei gebunden an die jeweils leitenden Prinzipien der Auswahl und Anordnung der Informationen und ihrer Zuordnung zu einem vorverstandenen Ganzen: Ich sehe doch immer schon von diesem Ganzen aus meinem Gesichtspunkt nach meinem Augen nur eine Fläche und Seite und in solcher zeichne ich den an sich vielseitigen Körper projektirt hin: d.i. ich schreibe Geschichte, wie sie mir erscheinet, wie ich sie weiß.⁶⁹

Herder will Winckelmanns erweiterten, d. h. subjektiv relativierten Geschichtsbegriff gegen seine Kritiker verteidigen und stützt sich dazu auf die neue hermeneutische Theorie des Sehe- und Gesichtspunkts, wie sie 1742 von Johann Martin Chladenius in seiner Einleitung zur richtigen Auslegung vernünfftiger Reden und Schrifften entworfen und 1768 von Heynes Göttinger Kollegen Johann Christoph Gatterer in seiner Abhandlung vom Standort und Gesichtspunct des Geschichtschreibers oder der deutsche Livius auf das Studium der Geschichte angewandt wurde.⁷⁰

 Ebd., S. 24.  Ebd., S. 25.  Ebd., S. 26 f.  Herder, Denkmahl Johann Winkelmanns, S. 469.  Ebd., S. 466.  Ebd.  Johann Martin Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünfftiger Reden und Schrifften [photomech. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1742], Düsseldorf: Stern-Verlag Janssen 1969, bes. S. 187 ff., und Johann Christoph Gatterer, Abhandlung vom Standort und Gesichtspunct des Geschichtschreibers oder der teutsche Livius, in: Allgemeine historische Bibliothek, hrsg. v. Johann Christoph Gatterer, Bd. 5, Halle: Johann Justinus Gebauer 1768, 3 – 29.

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So stehen sich in Heyne und Herder einerseits der auf Wissen und Erklärung gegründete Anspruch auf „eigentliche absolute Geschichte“⁷¹ und andererseits der von Augenschein und Verständnis geleitete Rückzug auf die perspektivische Geschichtsschreibung gegenüber. Die aufs allgemeine ‚Ganze‘ zielende (philosophische) Spekulation und die vom besonderen ‚Ganzen‘ herkommende (literarische) Phantasie sind die beiden Elemente historiographischer Subjektivierung, die in den Akademieschriften, negativ von Heyne und positiv von Herder, mit Winckelmann verbunden werden. Nicht Herders Plädoyer für den erweiterten Geschichtsbegriff, sondern Heynes Programmschrift der auf den ‚eigentlichen‘ Geschichtsbegriff festgelegten Altertumskunde hat den Preis der Akademie davongetragen. Dieser Entscheid ist symptomatisch für die Spezialisierung der um strenge Wissenschaftlichkeit bemühten, sich an den Universitäten institutionalisierenden Einzeldisziplinen und zeigt, daß eine fachwissenschaftliche Gelehrsamkeit für Winckelmann, bei allem Respekt vor der von ihm ausgehenden Anregung, bald keinen Platz mehr hatte. Eine Generation später hat sich diese rezeptionsgeschichtliche Konstellation verschärft wiederholt, als in dem von Goethe herausgegebenen Sammelband Winckelmann und sein Jahrhundert (1805) einerseits Goethe, wie Herder der historischen Phantasie vertrauend, geradezu hymnisch und andererseits Friedrich August Wolf, wie sein Lehrer Heyne auf philologischer Genauigkeit insistierend, kritisch zu Winckelmann Stellung nahmen. Während Goethe in seinem Beitrag Winckelmann diesen dafür feierte, daß er, „als ein neuer Kolumbus, ein lange geahndetes, gedeutetes und besprochenes Land“ entdeckt habe,⁷² hat Wolf in einem Brief an Goethe seinen nüchtern kritischen Beitrag Winckelmanns Studienzeit mit dem abschließenden Urteil seiner inzwischen noch selbstbewußter gewordenen Disziplin gerechtfertigt: „Palmariae emendationes, wie meine Leute sagen, oder auch Aufklärungen einzelner Stellen, die den wahren Philologen verrathen, sind überaus selten bei W., und in historischer Kritik ist er gar nicht gewandt und nicht gewißenhaft genug.“⁷³ Winckelmanns ungewöhnlich früh festgelegtes Wirkungsbild ist also dadurch bestimmt, daß er zwar die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Altertum in Gang gebracht hat, daß ihn aber das Prinzip dieser Anregung, der um Spekulation und Phantasie erweiterte Geschichtsbegriff seines ‚historischen Lehrgebäudes‘, von der weiteren fachwissenschaftlichen Entwicklung seiner Nachfolger gerade ausgeschlossen hat. Aber dieser Geschichtsbegriff, den die Verwissenschaftli Herder, Denkmahl Johann Winkelmanns, S. 469.  Goethe, Winckelmann, S. 110.  Friedrich August Wolf, Brief an Goethe, 18. März 1805, in: Wolf, Ein Leben in Briefen, besorgt und erläutert v. Siegfried Reiter, 3 Bde., Stuttgart: Metzler 1935, Bd. 1, S. 377 f.

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chung der historischen Disziplin nur zehn Jahre nach seinem Tod schon überholt hat, konnte erst zweihundert Jahre später, im Rahmen der geschichts- und erzähltheoretischen Überlegungen zum ästhetischen Charakter der Geschichtsschreibung von Arthur C. Danto (1974) über Jörn Rüsen (1976) und Hayden White (1978) zu Werner Schiffer (1980), wieder angemessen gewürdigt werden.⁷⁴ Dem synchronen Modell entgegengesetzter Wirkung (Heyne und Herder, F. A. Wolf und Goethe) entspricht das diachrone Modell der Entwicklung Winckelmanns von der historisch-philologischen zur ästhetisch-philosophischen Geschichtsauffassung. Um die von Goethe gepriesene Kolumbus-Tat, die Entdeckung der Kunst als Gegenstand der Geschichtsschreibung, leisten zu können, mußte er zunächst einen Wandel vollziehen vom Ideal des beamteten Gelehrten, der sein enzyklopädisches Wissen in den Dienst einer zunehmend spezialisierten Universitätsdisziplin stellt und dafür den gesellschaftlichen Status des Professorenberufs genießt, zum Ideal des ungebundenen Gebildeten, der, von der ästhetischen Anschauung ausgehend, seine historischen Kenntnisse mit philosophischer Spekulation und literarischer Phantasie verbindet und in der Freiheit der Kunst die ständische Gesellschaft suspendiert glaubt. Der für die Bildungsgeschichte des 18. Jahrhunderts charakteristische Paradigmenwechsel mußte den einen als Verrat am Ethos des akribischen Gelehrten und den anderen als Gewinn des schöngeistigen Gebildeten erscheinen; tatsächlich markierte er, vor dem Hintergrund der wiederentdeckten griechischen Antike, den Übergang vom Humanismus der Renaissance zum Neuhumanismus der deutschen Klassik. Winckelmann war in die Geschichte der entstehenden Geschichtswissenschaft viel stärker verwickelt, als, auf der einen Seite, die Kritiker seiner späteren Entwicklung anzuerkennen bereit waren. Deshalb müssen hier die frühen Stadien seiner akademischen Biographie ausführlicher festgehalten werden, als, auf der

 Rüsen, Historismus und Ästhetik; White, The Historical Text as Literary Artifact; Werner Schiffer, Theorien der Geschichtsschreibung und ihre erzähltheoretische Relevanz (Danto, Habermas, Baumgartner, Droysen), Stuttgart: Metzler 1980. Den Anstoß hatte Arthur C. Danto 1965 gegeben, als er in seinem Buch Analytical Philosophy of History (Cambridge: Cambridge University Press 1965; dt. Analytische Philosophie der Geschichte, übers. v. Jürgen Behrens, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974) die folgenreiche These vertrat: „[A] narrative is already a form of explanation“ (S. 140). Das vorliegende Winckelmann-Kapitel wurde konzeptionell vorbereitet und teilweise ausgeführt in: Hinrich C. Seeba, Literatur und Geschichte. Hermeneutische Ansätze zu einer Poetik der Geschichtsschreibung, in: Akten des VI. Internationalen GermanistenKongresses Basel 1980, Teil 3, Bern: Peter Lang 1980, 201– 208; sowie Hinrich C. Seeba, Winckelmann: Zwischen Reichshistorik und Kunstgeschichte. Zur Geschichte eines Paradigmawechsels in der Geschichtsschreibung, in: Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, hrsg. v. Hans Erich Bödeker, Georg G. Iggers, Jonathan B. Knudsen und Peter H. Reill, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1986, 299 – 323.

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anderen Seite, die Anhänger seiner kunstgeschichtlichen Kolumbus-Tat erlauben würden. Als Winckelmann im August 1746 kategorisch erklärte: „Mein Hauptwerk muß die Geschichte sein…“,⁷⁵ da spielte er noch mit dem Gedanken einer Universitätslaufbahn als Historiker. Um seinen Schulmeisterpflichten in Seehausen zu entkommen, wollte er „nach Halle oder Jena gehen, um dort facultatem et licentiam legendi zu erlangen zu suchen oder wenigstens anfänglich auf der Stube in der Historie oder Jure publico und einigen anderen Dingen zu lesen“.⁷⁶ Noch war für den Schustersohn aus dem altmärkischen Stendal der Professorenstand, den er später gerne verspottet hat, das Traumziel sozialen Aufstiegs, dem er sich durch unermüdliches Kompendienstudium und enzyklopädisches Bücherwissen zu nähern hoffte. Noch war die „Historie“ als Hilfswissenschaft des ius publicum vor allem deutsche Reichshistorie, die meistens von Staatsrechtlern zur historischen Legitimation des geschwächten Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und der staatstragenden Dynastien betrieben wurde. Zu dieser im 18. Jahrhundert vorherrschenden Art des Geschichtsstudiums hatte Winkelmann einen privilegierten Zugang; denn er hatte seine historischen Kenntnisse vor allem in den Privatbibliotheken von zwei berühmten Reichshistorikern erwerben können, bei Johann Peter Ludewig und bei Heinrich Graf von Bünau. Die erste Position hatte Winckelmann – nach Abschluß seines theologischen Studiums in Halle – ab Sommer 1740 in der Bibliothek des einflußreichen Historikers Johann Peter Ludewig (1668 – 1743) inne, der, seit 1721 Kanzler der Universität Halle, von König Friedrich Wilhelm I. zum königlichen Historiographen und von Friedrich dem Großen, zum Dank für seine historische Rechtfertigung preußischer Territorialansprüche vor allem in Schlesien, zum Kanzler des Herzogtums Magdeburg ernannt worden war.⁷⁷ Symptomatisch für die auch institutionell anerkannte Politisierung der sich von der theologischen Dominanz befreienden Geschichte, war Ludewig, nachdem er 1703 den Lehrstuhl für Geschichte und Beredsamkeit von Christoph Cellarius übernommen hatte, 1705 in die juristische Fakultät übergewechselt, um die Geschichte mit dem Lehrstuhl für Staatsrecht zu verbinden. 1729 wurde er, ebenfalls in Halle, Nachfolger des berühmten Christian Thomasius. Seine wissenschaftlichen Sporen hatte sich Ludewig mit einer 1695 publizierten Erläuterung zu Samuel von Pufendorfs Ein-

 Johann Joachim Winckelmann, Brief an Unbekannt, August 1746, in: Winckelmann, Kleine Schriften und Briefe, hrsg. v. Wilhelm Senff, Weimar: Böhlau 1960, S. 267.  Johann Joachim Winckelmann, Brief an Genzmer, 16. November 1746, in: Winckelmann, Ausgewählte Schriften und Briefe, hrsg. v. Walther Rehm, Wiesbaden: Dieterich 1948, S. 189.  Zu Ludewig vgl. Notker Hammerstein, Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und 18. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1972, S. 169 ff.

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leitung zu der Historie der vornehmsten Staaten und Reiche so jetziger Zeit sich in Europa finden (1682), dem ersten bedeutenden Geschichtswerk in deutscher Sprache, verdient, bevor er mit seinem Entwurf einer Reichshistorie (1707), dem sein Hallenser Kontrahent Nikolaus Hieronymus Gundling (1670 – 1729) sofort einen eigenen Abriß zu einer rechten Reichshistorie (1708) entgegensetzte, zum eigentlichen Begründer der Reichshistorie auf staatsrechtlicher Grundlage wurde. Über diesen Ludewig, von dem 1733 – 1741 die zweite Ausgabe der von 1720 bis 1731 in zwölf Teilen veröffentlichten Urkundensammlung Reliquiae manuscriptorum omnis aevi diplomatum erschien, gerade also, als Winckelmann in seine Dienste trat, ist dieser auch mit der Diplomatik bekannt geworden, die, von Jean Mabillon (De re diplomatica, 1681) zur Wissenschaft erhoben, über Leibniz’ diplomatischen Kodex mittelalterlicher Akten zur Grundlage der staatsrechtlichen Reichshistorie wurde. Zu den historischen Exzerpten dieser Zeit gehört auch Winckelmanns ausführlicher Auszug aus der Vollständigen Einleitung zu der teutschen Staats-, Reichs- und Kaiserhistorie und dem daraus fließenden jure publico (1721) des Helmstädter Historikers Simon Friedrich Hahn (1692– 1729). Obwohl nicht als Historiker ausgebildet, war Winckelmann von der Halleschen historisch-staatsrechtlichen Schule offensichtlich so stark geprägt, daß er sich, politisch und akademisch zentral platziert, Hoffnungen auf eine akademische Laufbahn „in der Historie oder Jure publico“ machen konnte. Die zweite Position hatte Winckelmann in der (mit 42.000 Bänden) besten Privatbibliothek Deutschlands, bei Heinrich von Bünau (1697– 1762) inne, der nicht wie Ludewig von der Universität in die Politik, sondern umgekehrt vom Staatsdienst unter den sächsischen und bairischen Kurfürsten in den Status des Privatgelehrten (auf seinem Schloß Nöthnitz bei Dresden) gewechselt hatte.⁷⁸ Von ihm stammte eine der wichtigsten Reichshistorien, die in vier Quartanten veröffentlichte Genaue und umständliche Teutsche Kayser- und Reichshistorie (1728 – 1743), die Winckelmann in Berlin für 16 Taler, die Hälfte seiner Quartalbesoldung,⁷⁹ erstanden hatte. Er hatte dieses Werk bereits durchgearbeitet, als er im Sommer 1748 die dann sechs Jahre dauernde Anstellung antrat, um Bünau zu helfen, wie dieser am 1. Juli 1748 schrieb, „à faire des extraits et ramasser les pièces nécessaires pour la continuation de mon histoire de l’Empire, à laquelle, je mettrai à l’avenir toutes mes soins“.⁸⁰ Diese für die geplante Fortsetzung der

 Die von Bünaus Sohn 1769 an den Kurfürsten verkaufte Bibliothek bildete später den Grundstock der heutigen Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden.  Vgl. Justi, Winckelmann und seine Zeitgenossen, Bd. 1, S. 184.  Winckelmann, Sämtliche Werke, hrsg. v. Joseph Eiselein, Bd. 10: Freundschaftliche Briefe 1747 – 1768, Donaueschingen: Verlag deutscher Classiker 1825, S. 20.

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Kaiser- und Reichshistorie nötige Sammlung von Auszügen und Daten war eine Kärrnerarbeit, für die Winckelmann gut vorbereitet war, seitdem er in Halle die gewaltigen Kompendien seiner Zeit exzerpiert, kompiliert und registriert hatte, von Pierre Bayles quellenkritischem Dictionnaire historique et critique (1695 – 1697), das gerade auch in einer deutschen, von Gottsched besorgten Ausgabe erschien (1741– 1744), bis zu Zedlers Großem Universal-Lexikon (1732– 1754), das mit 68 Folianten die größte Fundgrube des 18. Jahrhunderts war. Winckelmann, der erst in den späteren Jahren von wachsendem Zweifel am Sinn enzyklopädischen Buchwissens erfaßt wurde, hat die ihm gestellte Aufgabe mit großem Eifer erfüllt und für die geplante, in großen Teilen auch fertiggestellte, aber wegen des Siebenjährigen Krieges nie veröffentlichte Fortsetzung vor allem die Geschichte Chlodwigs und der letzten beiden Ottonen bearbeitet, d. h. die Allegate und Diplome überprüft, die Quellen angemerkt und den Text revidiert. Da sein schon im Jahre 1740 angestellter Bibliothekskollege Johann Michael Francke (1717– 1775) vor allem mit der Vorbereitung und Veröffentlichung des Catalogus Bibliothecae Bunavianae (1750 – 1756) beschäftigt war, genoß Winckelmann, begünstigt auch durch das besondere Wohlwollen seines Dienstherrn, eine gewisse Unabhängigkeit, die nicht nur seiner mikrologischen Sammeltätigkeit, sondern auch seinen eigenen historischen und literarischen Studien zugutekam.⁸¹ Winckelmann war also auf dem besten Wege, die von Ludewig und Bünau vertretene pragmatische Geschichte wirklich, wie er sich 1740 vorgenommen hatte, zu seinem „Hauptwerk“ zu machen, auch wenn der Gedanke an die Universität Halle allmählich verdrängt wurde von den Verlockungen der nahen Kunststadt Dresden. Aus den Aufzeichnungen für den Privatunterricht, den er der Tochter Bünaus in der neueren Geschichte erteilte, sollte immer noch ein eigenes Geschichtswerk hervorgehen. Das Unterrichtskonzept, „welches ich mir ordentlich entwerfe, um es künftig, wenn ich lebe, bei einer andern Gelegenheit zu gebrauchen“,⁸² war im Jahr 1749, als er es niederschrieb, sicher noch als Vorübung für die angestrebte akademische Laufbahn als staatsrechtlich orientierter Reichshistoriker gedacht. Als er aber im Jahr 1754 seine Erfahrungen als Privatlehrer der Geschichte in der kleinen Abhandlung Gedanken vom mündlichen Vortrag der neuern allgemeinen Geschichte, seinem ersten und einzigen Aufsatz zur Geschichte, verarbeiten konnte, war der Anlaß nicht eine Lehrveranstaltung der Universität, sondern die „Hoffnung zu einer historischen Vorlesung vor einer gewissen

 Den besten Aufschluß über Inhalt und Verteilung der Bibliotheksarbeit gibt Winckelmanns Brief vom 7. Dezember 1749, in: Winckelmann, Kleine Schriften, S. 272 f.  Ebd., S. 273.

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Gesellschaft“,⁸³ einem geschlossenen Kreis von Dresdner Gebildeten, deren Identität von Winckelmann nie preisgegeben wurde. Er war zwar „willens, ein würdiges Werk daraus zu machen“,⁸⁴ aus ungeklärten Gründen aber gezwungen, die Hoffnung auf das illustre Privatkolleg in Geschichte aufzugeben. Damit wurde die einzige eigentlich historische Abhandlung, die er geschrieben hat, zugleich auch sein Abschied von der akademischen Geschichte, wie er sie 15 Jahre lang betrieben hatte. Die Zäsur in Winckelmanns Biographie – äußerlich markiert durch den opportunistischen Übertritt zum Katholizismus, der ihm Zugang zum sächsischen Hof versprach und bald den Weg nach Rom ebnen sollte, am 8. Juli 1754 und die Übersiedlung von Nöthnitz nach Dresden im Oktober 1754 – kennzeichnet auch die Schwelle, die er von der Reichshistorie zur Kunstgeschichte überschreiten mußte. Winckelmann hatte seine Stelle als Bünaus Bibliothekar und Sekretär schon aufgegeben, als er sich in dem Aufsatz über den mündlichen Geschichtsvortrag von den methodologischen und politischen Voraussetzungen der Reichshistorie distanziert hat. Er plädiert nun für die Freiheit, die offizielle Version dynastischer Geschichte durch charakterisierende Erzählungen zu unterlaufen und, wo nötig, „Helden und Prinzen die Larve abzuziehen“.⁸⁵ Noch würde nur der mündliche Vortrag, in dem sich die Vorstellungen von öffentlichem Universitätskolleg und privatem Tutorium treffen, die Freiheit erlauben, dem „strengen und tyrannischen Gesetz“ bloßer Daten und Fakten, auf das „unsere meisten heutigen Geschichtsschreiber“ der ausdrücklich genannten Reichshistorie verpflichtet sind, den Gehorsam zu verweigern und Nachsicht zu fordern, „wenn man sich über Kleinigkeiten erhebt und nicht mit einem Kalender in der Hand seinem Helden von Tag zu Tag, von Schritt zu Schritt folgt“.⁸⁶ Noch im Rahmen des mündlichen Vortrags probiert Winckelmann die literarische Freiheit im Umgang mit der Chronologie aus, jene Freiheit, die später das Prinzip seiner kunsthistorischen Hauptschrift werden sollte. In der Geschichte der Kunst des Altertums (1764) will er „das Wort Geschichte in der weiteren Bedeutung“ verstanden wissen, weil sein revolutionäres Projekt „keine bloße Erzählung der Zeitfolge und der Veränderungen in derselben“ und keine ‚eigentliche‘ Geschichte mehr, auch keine Geschichte der Künstler als Variante der Kaiserhistorie,

 Brief an Berendis, 10. März 1755, in: Winckelmann, Kleine Schriften, S. 288.  Ebd.  Johann Joachim Winckelmann, Gedanken vom mündlichen Vortrag der neuern allgemeinen Geschichte, in: Winckelmann, Kleine Schriften, 17– 26, S. 20. Vgl. Horst Rüdiger, Winckelmanns Geschichtsauffassung. Ein Dresdner Entwurf als Keimzelle seines historischen Denkens, in: Euphorion 62 (1968), 99 – 116.  Winckelmann, Gedanken vom mündlichen Vortrag, S. 18.

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sondern ein historisches System der Kunst ist.⁸⁷ Winckelmanns frühe, noch mit der Zensurfreiheit des mündlichen Vortrags gerechtfertigte Forderung der literarischen Freiheit, die Heyne später mit seiner „erhitzten Einbildungskraft“ verwechselt hat, um sie ihm als „Fehler wider die Zeitrechnung, die Geschichtfolge und den wahren Verlauf der Geschichte“ ankreiden zu können,⁸⁸ verschiebt schon die Akzente von der eigentlichen Geschichtsforschung zum Problem historiographischer Darstellung, die „den Geist und die Beredsamkeit eines Geschichtsschreibers“⁸⁹ zum wesentlichen Aspekt historischer Wahrheit erhebt. Auf dem Weg zur Ästhetisierung historischen Denkens beginnt sich die Einsicht durchzusetzen, daß erst die rhetorische Struktur der Darstellung als Form ihrer Logik das historische Verständnis vermittelt. Im Zuge solcher Autonomisierung der Geschichtsschreibung, die ihren Gegenstand, anstatt ihn passiv nur abzubilden, aktiv mitgestaltet, sollen ihr „nur Erfinder, nicht Kopisten; nur Originale, keine Sammler“ dienen.⁹⁰ Damit gibt Winckelmann jener kreativen Ausrichtung den Vorrang, die seiner eigenen langjährigen Kopier- und Sammeltätigkeit („faire des extraits et ramasser les pièces“) völlig entgegengesetzt ist. Schon fünf Jahre vor Edward Youngs Conjectures on Original Composition (1759), deren deutsche Fassung die kultische Verehrung des schöpferischen Originalgenies auslösen sollte,⁹¹ markiert Winckelmanns Gedanke ‚erfinderischer‘ Originalität sowohl den Abschied vom Ideal des Buchgelehrten, der erst als Universitätsprofessor gesellschaftliche Anerkennung findet, als auch die Abkehr vom vorherrschenden Reihenprinzip der Reichshistorie. Wenn Winckelmann „die Betrachtung über den wunderbaren Wechsel in den Reichen“ in den Mittelpunkt des Geschichtsvortrags stellen will,⁹² so lenkt er damit den Blick von der penibel registrierten Abfolge der Herrscher auf das Prinzip des historischen Wandels selbst: Die Kenntnis der großen Schicksale der Reiche und Staaten, ihre Aufnahme,Wachstum, Flor und Fall, sind nicht weniger wesentliche Eigenschaften einer allgemeinen Geschichte als die Kenntnis großer Prinzen, kluger Helden und starker Geister.⁹³

 Winckelmann, Geschichte der Kunst des Altertums, S. 9.  Heyne, Lobschrift auf Winkelmann, S. 25 und 26 f.  Winckelmann, Gedanken vom mündlichen Vortrag, S. 20.  Ebd.  Edward Young, Gedanken über die Original-Werke. In einem Schreiben des D. Youngs an dem [sic!] Verfasser des Grandison. Leipzig: Johann Samuel Heinsii Erben 1760.  Winckelmann, Gedanken vom mündlichen Vortrag, S. 23.  Ebd., S. 21.

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Schon zwanzig Jahre bevor Edward Gibbon in seiner History of the Decline and Fall of the Roman Empire (1779 – 1789) den Entwicklungsgedanken auf den Aufstieg und Niedergang ganzer Reiche angewandt hat, hat Winckelmann den morphologischen Gedanken von „Wachstum, Flor und Fall“ konzipiert und dann in seinem Hauptwerk von 1764 ausgeführt: Die Geschichte der Kunst soll den Ursprung, das Wachstum, die Veränderung und den Fall derselben nebst dem verschiedenen Stil der Völker, Zeiten und Künstler lehren, und dieses aus den übriggebliebenen Werken des Altertums, so viel möglich ist, beweisen.⁹⁴

Diese Absichtserklärung der Kunstgeschichte geht über den ihr zugrundeliegenden Entwurf einer neuen Geschichtsschreibung noch dadurch hinaus, daß sie deren Gegenstandsbereich auf die Kunst einschränkt, weil die Formen organischer und naturhafter Verwandlung (Blüte, Reife und Verfall) ganz im Sinne der Naturnachahmungslehre nur in der Kunst anschaulich erfaßt werden können. Winckelmanns einziger Aufsatz zur Geschichte handelt schon weniger von der ‚eigentlichen‘ Geschichte als von den Problemen ihrer Darstellung; er ist, an der persönlichen Schwelle Winckelmanns von der Reichshistorie zur Kunstgeschichte, ein Plädoyer für die Lebendigkeit und Anschaulichkeit der Geschichtsschreibung, ein persönlich motivierter und den persönlichen Anteil aufwertender Aufruf, die Geschichte so zu erzählen, daß sie „den Geist und die Beredsamkeit des Geschichtsschreibers“ erkennen läßt, weil es nur so gelingt, „eine Erzählung angenehm zu machen“.⁹⁵ Dabei wird die ästhetische Perspektivierung der Geschichtsschreibung gewissermaßen rezeptionstheoretisch mit den anspruchsvoller gewordenen Erwartungen des historisch interessierten Publikums außerhalb der Universität gerechtfertigt: Man bilde sich ein, man rede gegen Personen, die der Geschichte nicht unkundig sind und nicht sowohl Unterricht als vielmehr eine Erinnerung ihrer Kenntnisse wünschen: diese Vorstellung wird die Anwendung des vorigen geben.⁹⁶

Die Vorstellung eines gebildeten Publikums, das nicht belehrt, sondern erinnert werden will und deshalb die Qualität der Darstellung höher schätzt als die Quantität der Informationen, reflektiert einen sozialgeschichtlichen Wandel, der auch Winckelmann selbst erfaßt hat: An die Stelle des polyhistorisch Gelehrten, der seine Wissensfülle durch den öffentlichen Status des Universitätsprofessors

 Ebd., S. 9.  Ebd., S. 25.  Ebd.

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honoriert sehen möchte, tritt der ästhetisch Gebildete, der sich in privaten Zirkeln des aufstrebenden Bürgertums um ein besseres Verständnis des Gelernten bemüht, indem er die wissenschaftlichen mit künstlerischen Interessen verbindet. Wo aber die Geschichte zur ästhetisch angenehmen und gesellschaftlich relevanten „Erinnerung“ bereits früher erworbener Kenntnisse studiert und dargestellt wird, also Funktionen eines Bildungsinstruments übernimmt, ist sie nicht mehr allein durch die abgeschlossene, nur antiquarisch zu rekonstruierende Vergangenheit ihres Gegenstands definiert, sondern vor allem durch die immer gegenwärtige Geschichte seiner Vermittlung. In der zunehmenden Reflexion auf die Kunst der Vermittlung werden Geschichtsstudien und Geschichtsschreibung immer selbstreflexiver, bis es schließlich nur noch ein kleiner Schritt bis zu dem Wendepunkt ist, wo die Kunst selbst, als geschichtliche Form anschaulicher Erinnerung und Bewahrung von Vergangenheit, ihr neuer Inhalt werden kann. Diesen Wendepunkt personifiziert Winckelmann, der Begründer der Kunstgeschichte aus dem Geist eines gewandelten Geschichtsbegriffs, wie keiner der anderen Geschichtsdenker des 18. Jahrhunderts, die für die Ästhetisierung historischen Denkens mitverantwortlich sind. Seine Gedanken vom mündlichen Vortrag haben, mit ihren sozialgeschichtlichen Implikationen der Bildungsgeschichte, den Weg bereitet für seine erste kunsthistorische Schrift, die mit den früheren historiographischen Überlegungen korrespondierenden Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755): „Meine Absicht war“, so bekennt Winckelmann am 3. Juni 1755 gegenüber seinem Freund Konrad Friedrich Uden, nicht zu schreiben, was schon geschrieben ist; ferner etwas zu machen (da ich so lange gewartet, und alles gelesen, was an das Licht getreten ist in alten Sprachen über die beiden Künste), das einem Original ähnlich werden möchte; und drittens, nichts zu schreiben, als wodurch die Künste verbreitet werden möchten.⁹⁷

Die Absichtserklärung bestätigt den vorher auf die Geschichtsschreibung projizierten Wandel vom Kopisten historischer Enzyklopädien zum Originalschriftsteller antiker Kunstgeschichte. Sie gilt sowohl für die Gedanken zur Geschichte als auch für die Gedanken zur Kunst, wobei der vorrangigen Ästhetisierung der Geschichte in der ersten Schrift die ihr folgende Historisierung der Kunst in der zweiten Schrift entspricht, die „den Vorzug der Nachahmung der Alten vor der

 Winckelmann, Brief an Konrad Friedrich Uden, 3. Juni 1755, in: Winckelmann, Kleine Schriften, S. 290.

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Nachahmung der Natur“ propagiert.⁹⁸ Die Fixierung der neuhumanistischen Schultradition auf das Diktum der zweiten Schrift, das Kriterium der Nachahmung sei „die edle Einfalt und stille Größe der griechischen Statuen“,⁹⁹ hat den Blick auf den Zusammenhang mit der ersten, erst spät und als Fragment überlieferten Schrift verstellt. So ist der von Winckelmann exemplarisch vollzogene Paradigmenwechsel vom historischen zum ästhetischen Erklärungsmodell nur selten angemessen gewürdigt worden. Der sozial- und ideengeschichtliche Bewußtseinswandel, der nötig war, den Übergang von der antiquarischen Rekonstruktion der deutschen Reichsgeschichte zur hermeneutischen Vergegenwärtigung der griechischen Kunstgeschichte auch methodologisch zu begründen, wurde äußerlich ermöglicht durch Winckelmanns Umzug aus der Gelehrtenbibliothek in Nöthnitz, wo er in herrschaftlicher Umgebung dem Grafen Bünau diente, in die Kunststadt Dresden, wo er, um Geld zu sparen, „eine Stube ohne Kammer […] in der Frauengasse in Rietschels Hause, bei dem Herrn Maler Oeser, 4 Treppen hoch“, also ein bescheidenes Künstlerquartier bei Adam Friedrich Oeser (1717– 1799), bezog.¹⁰⁰ Die Freundschaft mit Oeser, dem späteren kursächsischen Hofmaler, bei dem Winckelmann wie später Goethe Zeichenunterricht nahm, hat in Dresden eine ähnliche Rolle gespielt wie später in Rom die Freundschaft mit dem Maler Anton Raphael Mengs (1728 – 1779), der wie Winckelmann zum Katholizismus konvertiert und von Dresden nach Rom übergesiedelt ist. Mit der Entdeckung der Kunstschätze in Dresden kam auch innerlich die Verwandlung des fleißigen Adepten des Buchwissens, der sich Hoffnungen auf eine Geschichtsprofessur in Halle machte und dafür „allen Pläsirs abgesagt, und […] allein Wahrheit und Wissenschaft gesucht“ hat,¹⁰¹ in einen begeisterten Prediger der Kunstanschauung zustande, der sich Hoffnungen auf eine Bildungsreise nach Rom macht. Von Anfang an, auch als er noch von Nöthnitz aus „alle 8 oder 14 Tage“ angereist war, um den unbegrenzten Zutritt zur Königlichen Bilder-Galerie wahrzunehmen, gingen ihm in Dresden die Augen auf: „Enfin, wer Dresden nicht sieht, hat nichts Schönes gesehen.“¹⁰² Unter dem Eindruck der Bilderfülle, des Umgangs mit Künstlern und des allgemeinen Kunstenthusiasmus, der das bürgerliche wie das höfische Leben in

 Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, in: Winckelmann, Kleine Schriften, 29 – 61, S. 39.  Ebd., S. 46.  Winckelmann, Brief an Berendis, 29. Dezember 1754, in: Winckelmann, Kleine Schriften, S. 285 f.  Winckelmann, Brief an Berendis, 6. Januar 1753, in: Winckelmann: Kleine Schriften, S. 278.  Winckelmann, Brief an Uden, 31. August 1749, in: Winckelmann, Kleine Schriften, S. 272.

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Dresden beherrschte, bereitete der zum Augenmenschen bekehrte Bibliothekar schon 1752 seinen Abschied vom Ideal der Gelehrsamkeit und die Hoffnung auf eine Rom-Reise vor: Wer hier in Dresden gedenkt, an seinem Glücke zu arbeiten, muß, wo nicht Italien, doch wenigstens Frankreich gesehen haben: Präsupponiert, daß er plaudern kann, und ein Air hat. Das andere hilft nichts. Die übrigen, welche hier Gelehrte heißen, kennen nichts als Titel und Indexe der Bücher, und das ist auch hier für einen Gelehrten genug. Ich habe also keinen Appetit, Bekanntschaft mit hiesigen sogenannten Gelehrten zu machen: außer daß ich dann und wann die beiden Bibliotheken in Dresden besuche. Hingegen bin ich unter die Maler geraten, und dieses unter Leute, die auch sagen können: Romam vidi. Ein einziger solcher Maler ist mir lieber als 10 Titel Stutzer.¹⁰³

An die Stelle des professoralen Gelehrtenideals ist das Bild eines durch ästhetische Bildung, künstlerisches Urteil und charmante Geselligkeit geprägten Weltmannes getreten, das dem armen Schustersohn aus der Provinz Anschluß an die große weite Welt verspricht: Du weißt, wie sauer es mir geworden: durch Mangel und Armut, durch Mühe und Not habe ich mir müssen Bahn machen. […] Es ist mein Unglück, daß ich nicht an einem großen Ort geboren bin, wo ich Erziehung und Gelegenheit haben können, meiner Neigung zu folgen und mich zu formieren. Dieses letzte fehlte mir, nebst der Fertigkeit, mich in ein paar fremden Sprachen gut auszudrücken. […] Hätte ich noch das Feuer oder vielmehr die Munterkeit, die ich durch ein heftiges Studium verloren, ich würde weiter in der Kunst gehen. Nunmehr habe ich nichts vor mir, worinnen ich mich hervortun könnte, als die griechische Literatur. Ich finde keinen Ort als Rom geschickter, dieselbe weiter, und wenn es sein könnte, aufs Höchste zu treiben.¹⁰⁴

Die akademische Kompensation für die unterprivilegierte Herkunft wird durch ihre ästhetische Kompensation ersetzt. Die typologische Entgegensetzung von Gelehrten und Gebildeten, Professoren und Malern, Wissen und Sehen, Wissenschaft und „Pläsir“ dient nur als Folie für die Klärung des eigenen Durchbruchs: einerseits, auf der persönlichen Ebene, von der Askese des Bücherwurms zur Sinnlichkeit der Kunstanschauung, die dem sonst geächteten Homosexuellen den Zwang zur Idealisierung seiner an griechischen Epheben orientierten Wünsche erleichtert,¹⁰⁵ und andererseits, auf der sachlichen Ebene, von der ‚pragmatischen‘ Reichshistorie zur ‚idealischen‘ Kunstgeschichte, die dem verhinderten Künstler erlaubt, seine früher erworbenen historiographischen Fähigkeiten auf  Winckelmann, Brief an Uden, 3. März 1752, in Winckelmann, Kleine Schriften, S. 275.  Winckelmann, Brief an Berendis, 6. Januar 1753, in: Winckelmann, Kleine Schriften, S. 278 f.  Zur sozialgeschichtlichen Situation des Homosexuellen im 18. Jahrhundert vgl. Hans Mayer, Außenseiter, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975, bes. S. 205.

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dem neuen Gebiet der Ästhetik auszuprobieren. Das neue Kriterium der Wahrheitsfindung ist der persönliche Augenschein, an dem es die auch in der Vorrede zur Geschichte der Kunst des Altertums angegriffenen Stubengelehrten haben fehlen lassen: „Wo aber wird gelehrt, worinnen die Schönheit einer Statue besteht? Welcher Skribent hat dieselbe mit Augen eines weisen Künstlers angesehen?“¹⁰⁶ Er, Winckelmann, habe sich bemüht, „die Wahrheit zu entdecken“, und zu diesem Zweck „alles, was ich zum Beweis angeführt habe, selbst und vielmal gesehen und betrachten können“.¹⁰⁷ Die immer wieder betonte Autopsie ist die Voraussetzung für die ästhetische Evidenz historischer Wahrheit, damit aber auch eine anschaulich gegenwärtige Darstellung des Vergangenen, wie sie nicht in der nun ganz ferngerückten antiquarischen Reichshistorie, wohl aber in Dresdens Kunstsammlungen und erst recht in Rom, auf das sich Winckelmanns Hoffnungen richten, möglich war. Winckelmanns Faszination mit der Schönheit junger Männer, in seinem Leben wie zunehmend auch in der griechischen Kunst, schien lange Zeit, solange sein Tod die Phantasie mehr beflügelte als sein Werk, nahtlos in das Eros-Thanatos-Schema vieler Winckelmann-Erzählungen zu passen, als wäre die grausame Ermordung nur die gerechte Strafe für eine moralische Verfehlung. Der biographische Zugang findet aber auch noch andere Wege als den skandalöser Normverletzung und selbstgerechter Genugtuung. Inzwischen kann man mit W. Daniel Wilson daran erinnern, daß Goethe in seinem Winckelmann-Essay von 1805, überraschend für seine Zeit, sogar die sexuelle Dimension der in manchen Briefen Winckelmanns direkt angesprochenen gleichgeschlechtlichen Liebe gewürdigt hat, um gerade in dem bewunderten Liebhaber griechischer Schönheit den Begründer kunstgeschichtlicher Ästhetik zu entdecken.¹⁰⁸ Nachdem er sich öffentlich schon für den homosexuellen Schweizer Historiker Johannes von Müller eingesetzt hatte, als dieser 1802 aufgrund einer Erpressungsaffäre in moralischen Verruf zu geraten drohte, lief Goethes Plädoyer für Winckelmanns Männerliebe darauf hinaus, daß das Kunstwerk die vergängliche (und biologisch zweckfreie) Schönheit der männlichen Adoleszenz in eine zeitlose Schönheit verwandelt. Damit wird die Homoerotik, anstatt von Winckelmanns Beitrag zur Ästhetisierung historischen Denkens abzulenken, als dessen Voraussetzung anerkannt.

 Winckelmann, Geschichte der Kunst des Altertums, S. 10.  Ebd., S. 14.  Vgl. W. Daniel Wilson, Liberale Gesinnungen: Das Winckelmann-Buch und Verwandtes, in: Wilson, Goethe Männer Knaben. Ansichten zur ,Homosexualität‘, Berlin: Insel 2012, 135– 203. Zur erkenntnistheoretischen Bedeutung der Homoerotik vgl. auch Wangenheim, Der verworfene Stein.

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Winckelmann, der den für das 18. Jahrhundert so wichtigen Paradigmenwechsel biographisch (von Halle nach Dresden/Rom), sozialgeschichtlich (vom Gelehrten zum Gebildeten) und methodologisch (von der antiquarischen Reichsgeschichte zur hermeneutischen Kunstgeschichte) repräsentiert, hat ganz konsequent gehandelt, als er den Zugang zur Geschichte des Altertums über die Kunst eröffnete und sich für deren Darstellung künstlerische Freiheiten erlaubte, die ihm Heyne, als Vertreter der Historikerzunft, als unseriöse Schönfärberei vorgehalten hat, während für Herder „Winckelmanns Styl […] wie ein Kunstwerk der Alten“ erschien.¹⁰⁹ Ebenso hat Friedrich Schlegel befunden, daß Winckelmann „Werke über die Kunst hervorgebracht hat, welche selbst als Kunstwerke der geschichtlichen Wissenschaft, in gediegener Bildung, das Gepräge unsterblicher Dauer an sich tragen“.¹¹⁰ Mit dieser Anerkennung des künstlerischen Charakters der von Winckelmann begründeten Kunstgeschichte schließt sich der Kreis der Ästhetisierung historischen Denkens. Erst nachdem Winckelmanns stilistisches Vorbild geholfen hat, die Anforderungen an die literarische Qualität historischer Darstellung anzuheben, konnten auch Schillers historiographische Studien, als wären sie Dichtungen, in den Kanon der Literaturgeschichte aufgenommen werden und konnte, in letzter Konsequenz, der Historiker Theodor Mommsen, als wäre er in erster Linie Schriftsteller, 1902 den ersten Nobelpreis für Literatur gewinnen. Die offizielle Anerkennung der Geschichtsschreibung als Literatur, die für ihren literarischen Charakter gewürdigt wird, geht auf die von Winckelmann gelegten Anfänge zurück. Vor allem in den berühmten Beschreibungen des Torso und des Apollo im Belvedere (1756) hat er nachhaltig wirkende Stil- und Interpretationsmuster aufgestellt, nach eigenen Worten „eine Probe von dem, was über ein so vollkommenes Werk der Kunst zu denken und zu sagen wäre, und als eine Anzeige von Untersuchung in der Kunst. Denn es ist nicht genug, zu sagen, daß etwas schön ist: man soll auch wissen, in welchem Grade und warum es schön sei.“¹¹¹ Die auch grammatisch pointierte Verschiebung von der Tatsachenaussage, „daß etwas schön ist“, zur subjektiven Begründung, „warum es schön sei“, unterstreicht in dieser mustergültigen Kunstbeschreibung jene ästhetische Per-

 Johann Gottfried Herder, Kritische Wälder: Erstes Wäldchen, in: Herder, Sämtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd. 3 [reprogr. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1878], Hildesheim: Olms 1967, 1– 188, S. 11.  Friedrich Schlegel, Über das Studium der griechischen Poesie [1797], in: Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe, Bd. 1: Studien des Klassischen Altertums, hrsg. v. Ernst Behler, Paderborn: Schöningh 1979, 217– 367, S. 365.  Winckelmann, Beschreibung des Torso im Belvedere in Rom, in: Winckelmann, Kleine Schriften, 143 – 147, S. 143.

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spektivierung der Geschichtsschreibung, die Herder meinte, als er Winckelmanns erweiterten Geschichtsbegriff gegen seine Kritiker verteidigte und die Verschiebung von der „Begebenheit […] wie sie da ist“ zur „Geschichte, wie sie mir erscheinet, wie ich sie weiß“, zur einzig möglichen Form der Geschichtsschreibung erklärte.¹¹² Wenn Gerhart Hauptmann in seiner Erzählung Winckelmann von 1939 an die Stelle der Geschichte, von deren Konzeptionalisierung nie die Rede ist, den Begriff der Schönheit setzt, hat er, fixiert auf den grausamen Tod, in dem der Schönheitskult sein blutiges Ende findet, genau den historischen Wandel des Geschichtsbegriffs verfehlt, der die Voraussetzung dieser Zuwendung zur Schönheit war. Für Hauptmann und andere Schriftsteller, denen es weniger um Geschichte (history) als um eine gute Geschichte (story) ging, hat Winckelmann nur als todgeweihter Liebhaber griechischer Schönheit überlebt, nicht aber als Begründer eines ästhetischen Geschichtsbegriffs, in dem die Schönheit der Darstellung mit der ihres Gegenstands konkurriert.

 Herder, Denkmahl Johann Winkelmanns, S. 466.

2 Gotthold Ephraim Lessing – Geschichte als Parabel der Wahrheit Geschichten, die man sich erzählen kann, dienen oft der Verbildlichung und damit der Verdeutlichung von komplexen Zusammenhängen, die, auf eine eingängige Weise erzählt, eine anders schwer vermittelbare Wahrheit enthalten. Deshalb eignet diesen Geschichten oft eine gleichermaßen didaktische und moralische Tendenz. Wenige Geschichten der deutschen Literatur sind, vor allem aus pädagogischen Gründen, so bekannt wie Lessings Ringparabel. Als Zeugnis und Programm der aufgeklärten Toleranz ist die Ringparabel so verbreitet, daß sie oft aus ihrem dramatischen Kontext herausgelöst erscheint und, als handelte es sich um einen autonomen Text, separat rezipiert wurde. Damit geht aber der funktionale Zusammenhang verloren, in dem die Parabel, als Beispielerzählung, ein Argument bebildern soll – wie schon Lessings Drama Nathan der Weise (1779) insgesamt nur die bildliche Fortsetzung eines theologischen Disputs mit poetischen Mitteln war, in dem es um den Wahrheitsanspruch orthodoxer Rechtgläubigkeit ging. Als der jüdische Kaufmann Nathan, der eigentlich nur Geschäfte machen will, von seinem muslimischen Gastgeber, dem mächtigen Sultan Saladin, bedrängt wird, sich zwischen Judentum, Christentum und Islam zu entscheiden („Von diesen drei / Religionen kann doch eine nur / Die wahre sein“; III/5, V. 1843 – 1845),¹ entzieht er sich der heiklen Situation, indem er eine Parabel erzählt, die zu deuten er, so klug wie weise, dem Fragesteller überläßt: Ein Vater vermacht jedem seiner drei Söhne einen Ring, aber nur einer der drei Ringe hat, so heißt es, die „Wunderkraft beliebt zu machen“ (V. 2017). Darüber zerstritten, wer den echten Ring hat, gehen die drei Söhne zu einem Richter, der sie belehrt, daß derjenige den echten Ring hat, der im Glauben an die Wunderkraft seines Rings, durch sein Verhalten, durch Sanftmut, Verträglichkeit, Wohltun und Ergebenheit in Gott, der beliebteste wird. Im Streben aller drei um diesen Vorzug ist es schließlich gleichgültig, ob es je einen echten Ring gegeben hat. Saladin versteht gerührt die Moral der Parabel: daß die Wahrheit der Religion sich darin erweist, wie deren Anhänger ihren Glauben im Umgang mit anderen Menschen praktizieren. Gelebte Religion ist verantwortliches Sozialverhalten. Weil es dabei um die Konkurrenz der drei monotheistischen Religionen geht, lag es nahe, aus ihrer ethischen Anthropologisierung nur den im Text gar nicht ge-

 Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise, in: Lessing, Werke, hrsg. v. Herbert G. Göpfert, Bd. 2, München: Hanser 1971, 204– 347. https://doi.org/10.1515/9783110679878-004

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nannten Begriff der Toleranz abzuleiten. Aber die Einbettung der Parabel, die auf einen tätigen Humanismus zielt, nennt ausdrücklich zwei andere, miteinander korrespondierende Begriffe, den der Erzählung in der Einleitung und den der Geschichte in der Schlußfolgerung. Auf den Zusammenhang dieser Begriffe zielt der hermeneutische Subtext der Parabel, der uns hier vor allem interessiert. Nathan beginnt mit einer Reflexion über die Erzählung. Als ihn die Frage des Sultans nach der wahren Religion in die Enge treibt, bringt Nathan die Gattungsfrage einer möglichen Antwort ins Spiel: Wie vieldeutig darf er sein, ohne den Wunsch des mächtigen Sultans nach Eindeutigkeit zu verletzen? Welche Form der Antwort wird der Komplexität der Wahrheit, die der Sultan zu hören verlangt, am besten gerecht? „Nicht die Kinder bloß, speist man / Mit Märchen ab.“ (III/6,V. 1889 f.) Nathan wählt das Märchen, verstanden als didaktische Gattung, weil es – wie das Gleichnis (Christus), die Fabel (von Äsop bis La Fontaine) oder eben die Parabel (z. B. Bertolt Brechts von Lessings Ringparabel inspirierter Kaukasischer Kreidekreis) – der intendierten Lehrmeinung die Anschaulichkeit einer überzeugenden Geschichte verleiht: „Erlaubst du wohl, dir ein Geschichtchen zu / Erzählen?“ (III/7, V. 1905 f.) Märchen aber sind, wie Nathans Zuhörer weiß, so sehr der Inbegriff unwahrer Geschichten, daß sie im Namen der Wahrheit auch umgangssprachlich einfach abgeschüttelt werden können: ‚Erzähl mir doch keine Märchen!‘ Und doch erzählt Nathan ein Märchen, nicht um eine vielleicht unbequeme Wahrheit gefällig einzukleiden, sondern um viel grundsätzlicher die Wahrheit selbst zu definieren durch die Mehrdeutigkeit einer Erzählung. Die angemessene Gattung für die Bestimmung der Wahrheit ist die „Geschichtchen“ genannte ‚kleine Form‘ der Erzählung, mit der der Sultan nicht nur abgespeist, aber auch nicht nur unterhalten werden soll.² Hier will einer, anstatt seine Position nur zu illustrieren, eine Geschichte erzählen, um die Wahrheit selbst in eine literarisch einprägsame Form zu binden, die ihrer Aussage, der Vieldeutigkeit der Wahrheit, besser entspricht als ein eindeutiger Traktat. Die Ringparabel ist also ein Paradoxon, ein ‚Märchen‘ der Wahrheit, allerdings ausdrücklich keiner durch rhetorisches Beiwerk aufgeputzten Wahrheit; denn Nathan ist kein Rhetoriker, der mit schönen Worten blenden könnte. Als sich Saladin leutselig als Freund gut erzählter Geschichten ausgibt, wie sie schon dem historischen Sultan Salah ad-Din (1138 – 1193) aus Tausendundeiner Nacht bekannt gewesen sein dürften,³ schränkt Nathan ausdrücklich ein: „Ja, gut erzählen,  Vgl. André Jolles, Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, Halle (Saale): Niemeyer 1930.  Der arabische Titel der aus dem Persischen übersetzten Sammlung Alf layla wa-layla (Tausendundeine Nacht) wurde erstmals 1154 erwähnt, war also wie die Sammlung selbst zur Regierungszeit Saladins allgemein bekannt. Zur mittelalterlichen Erzähltradition der Ringparabel

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das ist nun / Wohl eben meine Sache nicht.“ (III/7, V. 1908 f.) So heikel die Situation des Juden in der Macht des muslimischen Sultans sein mag, er muß nicht wie Scheherazade Zeit gewinnen, um durch eine endlose Reihe gut erzählter, d. h. schön ausgeschmückter und dadurch in die Länge gezogener Geschichten sein Leben zu retten. Nathan spricht hier weniger aus Bescheidenheit, wie ihm Saladin unterstellt, als um klarzustellen, daß die Wahrheit seiner Geschichte nicht im rhetorischen Schmuck, sondern im Wesen der Erzählung liegt. Die Mehrdeutigkeit, auf die die Parabel hinausläuft, ergibt sich also nicht aus dem stilistischen Zierrat, durch den zur selben Zeit Kant Herders Sprachkritik an der Erkenntnistheorie entkräftet glaubt, sondern aus dem Erzählvorgang, aus der narratologischen Tatsache, daß wer ‚ein Geschichtchen erzählt‘, nur einen perspektivischen Blick auf die Wahrheit wirft, ohne diese selbst ein für allemal festlegen, ja ohne sie überhaupt je endgültig einholen zu können. Im Bild der Ringparabel heißt das: „Der echte Ring / Vermutlich ging verloren.“ (III/7, V. 2025 f.) Die Wahrheit ist nur denkbar im jeweiligen Glauben an die Wahrheit; die wahre Religion besteht in dem tätigen Humanismus, der diesem Glauben verpflichtet ist. Welche Religion dieser Verpflichtung am besten nachkommt, wird erst, wenn überhaupt jemals, in tausend Jahren entschieden werden können; das bedeutet, vom 12. Jahrhundert aus gesehen, am Ende der Geschichte. Solche Relativierung religiöser Alleinvertretungsansprüche erfolgt in der Schlußfolgerung der Ringparabel, wenn Nathan über den – mit der Erzählung korrespondierenden – Begriff der Geschichte reflektiert: „Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte? / Geschrieben oder überliefert!“ (III/7, V. 1975 f.) Sind nicht alle Religionen, so suggeriert Nathans rhetorische Frage, historisch begründet, sowohl in der Geschichte verankert als auch von ihr bedingt? Sind sie nicht historische Phänomene und damit geschichtlichem Wandel unterworfen? Sind Religionen, die sich auf schriftliche Überlieferungen gründen (Altes Testament, Neues Testament, Koran), nicht auch Gegenstand historischer Untersuchung und philologischer Auslegung? „Geschichte muß doch wohl allein auf Treu / Und Glauben angenommen werden? – Nicht?“ (III/7, V. 1977 f.) Lessing betreibt die historische Relativierung religiöser Wahrheit bis in die Wortwahl, wenn er den absoluten „Glauben“ durch die „allein“ gültige relative Glaubwürdigkeit „auf Treu und Glauben“ ersetzt und damit, in Übereinstimmung mit der mit Spinoza be-

vgl. Achim Aurnhammer, Giulia Cantarutti und Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Die drei Ringe. Entstehung, Wandel und Wirkung der Ringparabel in der europäischen Literatur und Kultur, Berlin/ Boston: De Gruyter 2016.

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ginnenden Bibelkritik,⁴ das epistemologische Problem der Wahrheitsfindung anschneidet. Historische Tatsachenaussagen und religiöse Glaubensaussagen sind gleichermaßen auf dieselbe Überprüfung der Zeugen angewiesen. Auch die Quintessenz der mit einander korrespondierenden Begriffe, die die Ringparabel rahmen, „versteht sich ja von selbst“ (III/7, V. 1958): Das Bild der Geschichte erschließt sich erst durch die Analyse der Erzählung, in der sie uns überliefert wird. Historische Wahrheit ist abhängig von der poetischen Wahrheit ihrer Darstellung. Dieser ins Bild der Ringparabel gehobenen Aussage liegt ein theologischer Disput zugrunde, dessen anthropologische Auflösung durch Lessing den gläubigen Menschen ins Zentrum rückt. Geht es vordergründig um die Religion, deren Relativierung dem Programm des tätigen Humanismus dient, ist auf der metasprachlichen Ebene von der Ersetzung der (göttlichen) Offenbarung von Wahrheit durch (menschliche) Wahrheitsfindung die Rede. Lessing hat das im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit dem orthodoxen Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze in der kleinen Schrift Eine Duplik (1778) wie folgt ausgedrückt: Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist, oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet.⁵

Der unendlichen Mühe der Wahrheitsfindung wird eindeutig der Vorzug gegeben vor einem selbstgerechten Besitzanspruch auf Wahrheit, der nur religiös verbrämte Machtansprüche sanktionieren soll. In Nathan der Weise ist die Figur des Patriarchen, der gegen alle Einwände an seiner mörderischen Doktrin festhält („Tut nichts, der Jude wird verbrannt“; IV/2, V. 2546, 2553, 2558 f.), die erschreckende Karikatur solcher dogmatischen Fixierung, wenn er mit allen Mitteln historische Kritik zu unterbinden sucht. Die Stoßrichtung dieser polemischen Dramaturgie ist deutlich genug, wenn man das ganze Drama als Parabel einer historisierenden Wahrheitsfindung versteht. Die Frage der Evidenz historischer Wahrheit ist für das Drama so zentral wie für den theologischen Disput mit Goeze, in den sich der hannoversche Schuldirektor Johann Daniel Schumann (1714– 1787) mit seiner Schrift Über die Evidenz der Beweise für die Wahrheit der christ-

 Vgl. Baruch de Spinoza, Sämtliche Werke, Bd. 5/1: Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes / Tractatus de intellectus emendatione et de via qua optime in veram cognitionem dirigitur [1677], lat./dt., hrsg. v. Wolfgang Bartuschat, Hamburg: Meiner 22003.  Lessing, Eine Duplik, in: Lessing, Werke, hrsg. v. Herbert G. Göpfert, Bd. 8, München: Hanser 1979, 30 – 101, S. 32 f.

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lichen Religion eingeschaltet hat. Noch vor der Ringparabel hat Lessing darauf mit seiner noch theologisch motivierten Schrift Über den Beweis des Geistes und der Kraft (1777) geantwortet und damit auch Konsequenzen für die Geschichtsschreibung vorgezeichnet. Tatsächlich interessiert hier die theologische Diskussion vor allem deshalb, weil Lessing darin die Frage der Evidenz historischer Wahrheit aufgegriffen und in Nathan der Weise poetisch ausgeführt hat.⁶ Er unterscheidet „demonstrierte Wahrheiten“ und „historische Wahrheiten“, wobei erstere durch eigenen Augenschein und letztere durch Berichte anderer bezeugt sind, und betont, „daß Nachrichten von erfüllten Weissagungen nicht erfüllte Weissagungen, daß Nachrichten von Wundern nicht Wunder sind“.⁷ Und er exemplifiziert (und kompliziert) die Frage nach der historischen Wahrheit mit dem Hinweis auf poetische Zeugen: Wir alle glauben, daß ein Alexander gelebt hat, welcher in kurzer Zeit fast ganz Asien besiegte. […] Ich habe itzt gegen den Alexander und seine Siege nichts einzuwenden: aber es wäre doch möglich, daß sie sich eben so wohl auf ein bloßes Gedicht des Cherilus, welcher den Alexander überall begleitete, gründeten, als die zehnjährige Belagerung von Troja sich auf weiter nichts, als auf die Gedichte des Homers gründet.⁸

Vordergründig geht es um den Wahrheitsgehalt des Wunderglaubens, tatsächlich aber um die erkenntnistheoretische Frage, ob nicht sogar die historische Wahrheit, von der wir ausgehen, oft eigentlich nur eine poetische Fiktion ist, an deren Wahrheitsgehalt wir „glauben“. Erst hundert Jahre nach Lessing hat Heinrich Schliemann seinen Glauben an die Tatsächlichkeit der homerischen Überlieferung zu beweisen versucht und Troja ausgegraben – ein positivistischer Beweis dafür, daß die poetische Wahrheit einen historischen Kern enthalten kann. Aber

 Vgl. Hinrich C. Seeba, Lessings Geschichtsbild. Zur ästhetischen Evidenz historischer Wahrheit, in: Humanität und Dialog: Lessing und Mendelssohn in neuer Sicht, hrsg. v. Ehrhard Bahr, Edward P. Harris und Laurence G. Lyon, Detroit: Wayne State University Press / München: edition text + kritik 1982, 289 – 303.  Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, in: Lessing, Werke, Bd. 8, 9 – 14, S. 10.  Lessing, Über den Beweis, S. 12. Für eine kurze Erwähnung von Choirilos von Iasos (4. Jh. v. Chr.), der Alexander auf den Heerzügen begleitet haben soll und der schon in der Antike als Spottbild eines unbegabten Schmeicheldichters galt, vgl. Auszug der Historie alter Zeiten und Völker des Herrn Rollin. Aus dem Französischen des Herrn Abbts Tailhie übersetzet. Vierter und letzter Teil, Zürich: Heidegger und Compagnie 1753, S. 263 (25. Buch). Gemeint ist der als Jansenist ins Abseits gestellte französische Historiker Charles Rollin (1661– 1741), der trotz seines Briefwechsels mit dem jungen Friedrich dem Großen immer im Schatten Voltaires blieb und schnell vergessen wurde, und sein frühes Hauptwerk in zwölf Bänden, Historie Ancienne (Paris 1730 – 1738), von dem Lessing die Bände 4 bis 6 übersetzt hat.

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ohne solche gründliche Beweisführung wäre der bloße Glaube an die Wahrheit der Dichter (wie der Geschichtsschreiber) eine unverantwortliche Leichtgläubigkeit, wenn er nicht einer strengen Gewissenserforschung unterzogen würde: was heißt einen historischen Satz für wahr halten? eine historische Wahrheit glauben? Heißt es im geringsten etwas anders: als diesen Satz, diese Wahrheit gelten lassen? nichts darwider einzuwenden haben? sich gefallen lassen, daß ein andrer einen andern historischen Satz darauf bauet, eine andre historische Wahrheit daraus folgert? sich selbst vorbehalten, andere historische Dinge darnach zu schätzen? Heißt es im geringsten etwas anders? etwas mehr? Man prüfe sich genau!⁹

Die Gültigkeit einer Wahrheitsaussage, die als „Satz“ ausdrücklich als Sprechakt verstanden wird, hängt also von der Anerkennung der Tatsache ab, daß „ein andrer einen andern historischen Satz darauf bauet, eine andre historische Wahrheit daraus folgert“, daß er also die Perspektivität der Wahrheitsfindung anerkennt, weil sich aus der unterschiedlichen Überlieferung und deren unterschiedlicher Deutung jeweils „eine andre historische Wahrheit“ ableiten läßt. Die logische Forderung der Widerspruchsfreiheit findet also ihre Grenze in den Unterschieden und vielleicht auch Widersprüchen verschiedener Ansätze, die Wahrheit zu bestimmen. Die Komplexität der unterschiedlichen, einander teils ergänzenden und teils widersprechenden Ansichten verlangt einen reflektierten ‚Zugang‘ zur Wahrheit (im wörtlichen Sinn des griechischen Wortes μεθοδος, methodos) und läßt ein wissenschaftliches Interesse an der ‚methodischen‘ Wahrheitsfindung erwarten, wie es die Entwicklung der Geschichtsschreibung zur Universitätsdisziplin begleitet hat. Mit dieser Erwartung hat sich eine Generation früher schon Johann Martin Chladenius (ab 1748 Professor der Theologie, Beredsamkeit und Dichtkunst in Erlangen) auseinandergesetzt, als er in seiner Einleitung zur richtigen Auslegung vernünfftiger Reden und Schrifften (1742) zum Zweck der Auflösung vermeintlicher Widersprüche die historische Hermeneutik begründete: „Das, was in der Welt geschiehet, wird von verschiedenen Leuten auch auf verschiedene Art angesehen: daß, wenn viele eine Beschreibung von einer Geschichte machen solten, in ieder etwas besonderes würde angetroffen werden, wenn sie sich gleich insgesamt die Sache, so viel an ihnen gelegen, richtig vorgestellt hätten.“¹⁰ Die Richtigkeit einer Ansicht, eines, wie Chladenius sagt, „Sehe-Puncts“, wird nicht notwendig falsi-

 Lessing, Über den Beweis, S. 12.  Johann Martin Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünfftiger Reden und Schrifften [photomech. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1742], Düsseldorf: Stern-Verlag Janssen 1969, S. 185 (§ 308).

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fiziert durch die Richtigkeit einer anderen, mit der ersten nicht übereinstimmenden Perspektive: Nun kan in der Erzehlung des andern verschiedenes vorkommen, welches mit unserer Erzehlung, weil wir die Natur der Vorstellungen nicht genau genug erkennen, zu streiten scheinet: und daher kommt es uns vor, als wenn in der Historie selber einiger Widerspruch, und einige ungereimte Dinge enthalten wären. […] Nun kan die Geschichte freylich nichts widersprechendes in sich enthalten, allein sie kan denen Zuschauern so verschieden vorgestellt werden, daß die Berichte davon etwas widersprechendes in sich enthalten.“¹¹

Der scheinbare Widerspruch läßt sich dadurch auflösen, daß die verschiedenen Erzählungen derselben Geschichte durch interpretierende Abwägung ihrer Unterschiede, wie wir heute sagen würden, miteinander abgeglichen werden: Man hält gemeiniglich die Geschichte, und die Vorstellung der Geschichte, vor einerley, und bey vielen Gelegenheiten kan man sie auch vor einerley halten. Allein wo man von Auslegung der Geschichte handeln soll, muß man den Unterscheid anzeigen, und genau bemercken. Denn nicht die Geschichte an sich, sondern die Vorstellung der Geschichte, welche einem andern nicht einleuchten will, brauchet einer Auslegung.¹²

Die „Auslegung“ genannte hermeneutische Aufgabe besteht also in der methodologisch gemeinten Unterscheidung von „Geschichte an sich“ und „Vorstellung der Geschichte“, von „Geschichte“ und „Erzählung“, von Geschehen und Nachricht und in der Ausräumung von Ungereimtheiten im Vergleich mehrerer Interpretationen desselben Tatbestands, also in der sprachbewußten Kritik der Überlieferungsgeschichte. Eine ganze Generation früher, als Reinhart Koselleck angenommen hat,¹³ hat schon Chladenius den Kollektivsingular „Geschichte an sich“ als Abstraktion der Geschichten, die man sich von ihr erzählen kann, eingeführt und auf die Begriffsverwirrung aufmerksam gemacht, zu der das deutsche Homonym ‚Geschichte‘ verleitet – als Begriff sowohl für den Ereigniszusammenhang (im Sinne des englischen Worts history) als auch für den Darstellungszusammenhang (im Sinne des englischen Worts story).¹⁴ Geschichte erschließt sich durch Geschichten.

 Ebd., S. 192 (§ 313).  Ebd., S. 195 (§ 318).  Vgl. Reinhart Koselleck, Wozu noch Historie?, in: Seminar: Geschichte und Theorie. Umrisse einer Historik, hrsg. v. Hans Michael Baumgartner und Jörn Rüsen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, 17– 35, S. 23: „Erst seit 1770 kann man den früher unaussprechbaren Gedanken formulieren: die Geschichte an sich.“  Wie unabgeschlossen der Prozeß der Abstraktion ist, zeigt folgende Aussage, in der Singular und Plural der ‚Geschichte‘ noch nicht klar getrennt sind: „Wenn wir Sachen, die nicht ge-

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Lessing hat, als er history als story relativierte und dafür zwischen Tatsache und Nachricht, Geschehen und Auslegung unterschied, den Blick auf die Medialisierung unseres Wissens von der Welt gelenkt. Wie Nachrichten von Wundern „durch ein Medium wirken, das ihnen alle Kraft benimmt“,¹⁵ sind alle Aussagen mit Wahrheitsanspruch an das Medium der Sprache und an die Perspektive des Sprechers gebunden, in der sie suggeriert werden. Deshalb legt Lessing, in der poetischen Fortsetzung seines theologischen Disputs, so viel Wert auf die sprachliche Form und sogar auf die literarische Gattung, in der sich die Wahrheit am besten erzählen läßt: „Erlaubst du wohl, dir ein Geschichtchen zu / Erzählen?“ Solche eher persönlichen, vom Sprecher gewählten Geschichten kommen, wie gesagt, in verschiedenen Gattungsformen des Märchens, des Gleichnisses, der Fabel, der Parabel oder auch, wie im Fall von Nathan der Weise, in Form eines „dramatischen Gedichts“ (so die Gattungsbezeichnung im Untertitel des Dramas) vor. Wenn Dichtung das angemessene literarische Medium der Darstellung von „Vernunftwahrheiten“ werden kann, die von historischer Wahrheit zu unterscheiden sind, dann ist poetische Wahrheit nicht an der Tatsächlichkeit ihres als Geschichte ausgegebenen Inhalts zu messen. Entsprechend sprachkritisch hat sich Lessing in der kurzen Notiz Über das Wörtlein Tatsache (1778) mit diesem neuen Modewort auseinandergesetzt, weil damit neuerdings auch Theologen den Wahrheitsanspruch der Religion zu untermauern suchten. Es sei bei Männern im Gebrauch, „die an der Grundfeste des Christentums flicken, daß es ganz unwandelbar gegründet sei, weil es auf Facta, sur des Faits, beruhe, die kein Mensch in Zweifel ziehen könne“.¹⁶ Lessing geht mit solchen ahistorischen Positionen ins Gericht, weil sie etwas für eine Tatsache ausgeben, was in sprachkritischer Sicht nicht mehr als ein ungesicherter Bericht ist: „Nun heißen Facta und des Faits weiter nichts, als geschehene Dinge, Begebenheiten, Taten, Ereignisse, Vorfälle, deren historische Gewißheit so groß ist, als historische Gewißheit nur sein kann.“¹⁷ Was ‚geschehen‘ ist, wird als Gegenstand der Erkenntnis zur geschichtlichen Tatsache und damit den Einschränkungen des Erkenntnisprozesses ausgesetzt, so daß die „historische Gewißheit“, die Halt-

schehen sind, erdichten, so ist es nicht möglich, alle Umstände auszusinnen, daß nicht etwas solte angenommen werden, davon kein weiterer Grund weder in dem Gedichte, noch in den wahren Geschichten zu finden ist; folglich sind erdichtete Geschichte nichts anders als Fabeln“; Chladenius, Einleitung, S. 33 (§ 66).  Lessing, Über den Beweis, S. 10.  Lessing, Über das Wörtlein Tatsache, in: Lessing, Werke, hrsg. v. Herbert G. Göpfert, Bd. 5, München: Hanser 1973, S. 699.  Ebd.

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barkeit einer historisch bezeugten Tatsachenaussage, nur das Ideal unendlicher Wahrheitsfindung sein kann. Mit solcher epistemologischen Skepsis hat sich Lessing in ein philosophisches Gebiet vorgewagt, in dem Immanuel Kant erst wenig später, 1787 in der zweiten Auflage seiner Kritik der reinen Vernunft (1781), für mehr Klarheit sorgen sollte, als er zwischen Glauben, Wissen und Meinen unterschied.¹⁸ Was Lessing aber von Kant grundsätzlich unterscheidet, ist die Rolle der Sprache als Medium der Wahrheitsfindung. Während für Kant die reine Vernunft unabhängig von der Sprache wirkt, steht Lessing der Position Herders näher, weil dieser von der Sprachlichkeit des Gedankens ausgeht und deshalb, angefangen mit der Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772), der Sprache als „natürliches Organ des Verstandes“ eine zentrale erkenntnistheoretische Rolle zugewiesen hat.¹⁹ Deshalb kann Lessing darauf aufmerksam machen, daß die Annahme von Fakten und Tatsachen nur eine Frage der Benennung („heißen“) ist, die in Frage gestellt werden muß, sofern damit die Behauptung ‚unwandelbarer‘, d. h. der Geschichtlichkeit entzogener Gewißheit verbunden ist. So wirken bei Lessing die historische und die sprachliche Relativierung des absoluten Wahrheitsanspruchs zusammen, um der Aufwertung der poetischen Wahrheit gegenüber der historischen Wahrheit zuzuarbeiten. Wer eine Geschichte erzählen, vielleicht sogar, ganz ohne Schnörkel, „gut erzählen“ kann, erfaßt die Bedeutung des Geschehens vielleicht besser als ein Geschichtsschreiber, der nur die vermeintlichen Fakten aufzählt. Mit dieser schon in der Hamburgischen Dramaturgie (1767) vorbereiteten kühnen Behauptung konnte sich Lessing immerhin auf Aristoteles berufen, der den „Irrtum“ der begrifflichen Vermengung von Geschichte und Dichtung „schon vor zweitausend Jahren widerlegt“ und „den wesentlichen Unterschied zwischen der Geschichte und Poesie“ bewiesen habe. Dazu zitiert Lessing Aristoteles aus dem 9. Kapitel seiner Poetik (um 335 v. Chr.): darin unterscheiden sie sich, daß jener [der Geschichtsschreiber] erzählet, was geschehen; dieser aber [der Dichter], von welcher Beschaffenheit das Geschehene gewesen. Daher ist

 Das entsprechende Kapitel „Vom Meinen, Wissen und Glauben“ bildet den 3. Abschnitt im 2. Hauptstück der Transcendentalen Methodenlehre in der 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft von 1787.  Johann Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, in: Herder, Werke, Bd. 1: Frühe Schriften 1764/1772, hrsg. v. Ulrich Gaier, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1985, 695 – 810, S. 733.

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denn auch die Poesie philosophischer und nützlicher als die Geschichte. Denn die Poesie geht viel mehr auf das Allgemeine, und die Geschichte auf das Besondere.²⁰

Lessing stimmt mit Aristoteles darin überein, daß Geschichtsschreibung sich um spezifische Details, also Tatsachen, Dichtung aber um allgemeine Bedeutung, also Wahrheit, kümmere. So geht der Zweifel an der Tatsächlichkeit von Tatsachenaussagen der späteren Kritik an dem Modewort ‚Tatsache‘ voraus: sind es die bloßen Facta, die Umstände der Zeit und des Ortes, oder sind es die Charaktere der Personen, durch welche die Facta wirklich geworden, warum der Dichter lieber diese als eine andere Begebenheit wählet? Wenn es die Charaktere sind, so ist die Frage gleich entschieden, wie weit der Dichter von der historischen Wahrheit abgehen könne? In allem, was die Charaktere nicht betrifft, so weit er will.²¹

Nicht die bloßen Fakten, sondern die glaubwürdige Ausgestaltung der Charaktere, die die Fakten schaffen, und die Motivierung ihres Handelns machen die poetische Wahrheit einer historischen Darstellung aus. Der Dichter braucht sich, so betont Lessing mit Aristoteles, um die historische Wahrheit nicht so sehr zu kümmern wie um die „innere Wahrscheinlichkeit“: Er braucht eine Geschichte nicht darum, weil sie geschehen ist, sondern darum, weil sie so geschehen ist, daß er sie schwerlich zu seinem gegenwärtigen Zwecke besser erdichten könnte. Findet er diese Schicklichkeit von ohngefähr an einem wahren Falle, so ist ihm der wahre Fall willkommen; aber die Geschichtbücher erst lange darum nachzuschlagen, lohnt der Mühe nicht. Und wie viele wissen denn, was geschehen ist? […] Was ist das erste, was uns eine Historie glaubwürdig macht? Ist es nicht ihre innere Wahrscheinlichkeit? Und ist es nicht einerlei, ob diese Wahrscheinlichkeit von gar keinen Zeugnissen und Überlieferungen bestätiget wird, oder von solchen, die zu unserer Wissenschaft noch nie gelangt sind?²²

Der wahre Fall dient dem Dichter also nur insofern, als er ihm den Stoff gibt, in dem er seine, die poetische Wahrheit anschaulich darstellen kann. Maßstab dieser Auswahl ist die Glaubwürdigkeit („innere Wahrscheinlichkeit“) der erfundenen Charaktere. Es kann nicht überraschen, daß Lessing mit dieser Relativierung des Anspruchs auf die objektive Allgemeingültigkeit historischer Wahrheit wenig An-

 Lessing, Hamburgische Dramaturgie, in: Lessing, Werke, hrsg. v. Herbert G. Göpfert, Bd. 4, München: Hanser 1973, 229 – 707, S. 641 f. (89. Stück). Zu Aristoteles vgl. G. E. M. De Sainte Croix, Aristotle on History and Poetry (Poetics, 9, 1451a36-b11), in: Essays on Aristotle’s Poetics, hrsg. v. Amélie Rorty, Princeton: Princeton University Press 1992, 23 – 32.  Lessing, Hamburgische Dramaturgie, S. 338 (23. Stück).  Ebd., S. 317 (19. Stück).

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klang gefunden hat im Historismus, dieser um absolute Objektivität bemühten ‚historischen Schule‘, die ihr wissenschaftliches Ethos darauf stützen konnte, daß seit Chladenius „die Geschichte an sich“, dieser von subjektiven Einfärbungen befreite Kollektivsingular, als Abstraktion von konkreten Geschichten und damit als Inbegriff kritischer Auseinandersetzung mit dem Prinzip der Geschichtlichkeit gedacht werden konnte. Dabei war nicht zu übersehen, daß Lessing mit seiner wiederholten Infragestellung der historischen Wahrheit und vor allem mit der Erziehung des Menschengeschlechts (1780) – zusammen mit Wielands Beiträgen zur geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes (1770), August Ludwig Schlözers Vorstellung der Universal-Historie (1772), Herders Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) sowie Herders Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784– 1791), Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), Schillers Rede Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (1789) – zur Entwicklung des historischen Denkens in Deutschland entscheidend beigetragen hat. Aber bevor sich der philosophische Idealismus auch der Geschichte angenommen hat, blieben die Anfänge der eigentlichen Aufarbeitung der deutschen Geschichte immer noch im Mittelalter stecken. Lessing hat den Zustand der deutschen Geschichtsschreibung schon 1759, im 52. Literaturbrief, beklagt, weil Historiker und Dichter jeweils die Talente des anderen entbehrten: Unsere schönen Geister sind selten Gelehrte, und unsere Gelehrte selten schöne Geister. Jene wollen gar nicht lesen, gar nicht nachschlagen, gar nicht sammeln; kurz, gar nicht arbeiten: und diese wollen nichts, als das. Jenen mangelt es am Stoffe, und diesen an der Geschicklichkeit ihrem Stoffe eine Gestalt zu erteilen.²³

Doch kann die Kunst der Gestaltung, laut Lessing, auch zum Nachteil der Geschichtsschreibung ausschlagen, wenn sich verdienstvolle Historiker wie Heinrich Graf von Bünau (1697– 1762), dessen Teutsche Kayser- und Reichshistorie in vier Bänden von 1728 bis 1743, und Johann Jacob Mascou (1698 – 1765), dessen zweibändige Geschichte der Teutschen (1726/1737) 1750 in vierter Auflage erschienen ist, so dunklen Epochen der Geschichte widmen, daß die unsichere Quellenlage nur zu zweifelhaften Konjekturen führen konnte: wo man erst hundert Widersprüche zu heben und hundert Dunkelheiten aufzuklären hat, ehe man sich nur des kahlen, trockenen Faktums vergewissern kann; hier, wo man mehr eine Geschichte der streitigen Meinungen und Erzählungen von dieser oder jener Begebenheit, als

 Lessing, Briefe, die neueste Literatur betreffend [1759 – 1765], in: Lessing, Werke, Bd. 5, 30 – 329, 52. Brief, 185 – 198, S. 185.

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die Begebenheit selbst vortragen zu können, hoffen darf: wem kann hier auch die größte Kunst zu erzählen, zu schildern, zu beurteilen, wohl viel helfen?²⁴

Die Vertauschung von Meinungen und Erzählungen einerseits und historischen Fakten andererseits könnte den Versuch eines unzuverlässigen Historikers charakterisieren, „uns seine Vermutungen für Wahrheiten zu verkaufen, und die Lücken der Zeugnisse aus einer Erfindung zu ergänzen. Wollen Sie ihm das wohl erlauben? O weg mit diesem poetischen Geschichtschreiber!“²⁵ Dieser gern zitierte Aufruf zur Vertreibung des skrupellosen Historikers aus dem Tempel der Wahrheit betrifft also nicht, wie man auf den ersten Blick annehmen könnte, die notwendig ‚poetische‘ Gestaltung einer gut geschriebenen Geschichte, sondern die Täuschungsabsicht eines unwissenschaftlichen Geschichtsschreibers, der „die Lükken der Zeugnisse aus seiner Erfindung zu ergänzen“ sucht. Aber wie sehr es geradezu ein Topos der captatio benevolentiae geworden ist, die eigene Geschichtsschreibung gegen den Roman abzugrenzen, hat gerade der von Lessing genannte Mascou schon 1728 gezeigt: Ich habe mich um so viel sorgfältiger gehütet, nicht etwan an statt der Historie einen Roman zu machen, ie unvermerckter es hätte geschehen können. Es haben sich nicht allein, viel Neuere dergleichen Freyheit genommen, sondern es findet sich schon in den alten Historien der Sachsen und Francken viel Abendtheuer. Man sahe in den unwissenden Zeiten dergleichen Schreib-Art, als eine Kunst den Leser durch Verwunderung aufmercksam zu machen, an; und es dorffte einer erzehlen, was er nur wolte, so fanden Leute, die, weil sie noch weniger Fähigkeit nachzudencken hatten, es willig glaubeten.²⁶

Historiker einer jeden Generation scheinen beteuern zu müssen, daß sie sich von den poetischen Machenschaften ihrer Vorgänger unterscheiden: Immer war der Publikumserfolg der wie ein Roman geschriebenen Historie in der Vergangenheit nur der Leichtgläubigkeit einer ungeschulten Leserschaft zuzuschreiben, als ein Historiker noch erfinden und erzählen konnte, „was er nur wollte“, solange er mit seiner kunstvollen „Schreib-Art“ nur das Bedürfnis nach romanhaften Abenteuern befriedigen konnte. Vor dem Hintergrund solcher fahrlässig-willkürlichen Praxis mußte die strenge Quellenkritik, die die historisch-kritische Methode des Historismus kennzeichnen sollte, vor möglichen Übergriffen poetischer Gestaltung, die den wissenschaftlichen Anspruch unterminieren könnte, besonders auf der Hut sein.  Ebd.  Ebd., S. 186.  Johann Jacob Mascou, Geschichte der Teutschen bis zu Anfang der Fränckischen Monarchie. In Zehen Büchern, Leipzig: Jacob Schuster 1726, unpag. [S. 9 der Vorrede].

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Solcher Abschottung war vor allem Schiller ausgesetzt, als er sich mit seiner Jenaer Antrittsvorlesung Was ist und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (1789) in die benachbarte Disziplin vorwagte und schon im Titel sogar deren Zweck wortwörtlich in Frage stellte. Deshalb ist auch der ab 1810 an der neugegründeten Berliner Universität lehrende dänische Historiker Barthold Georg Niebuhr, der mit seiner Römischen Geschichte (1811) den Grundstein zur Historischen Schule gelegt und dafür die Quellenkritik methodologisch begründet hat, mit Schiller besonders scharf ins Gericht gegangen. Die Ironie der Polemik liegt nun darin, daß Niebuhr, der ebensogut Lessing hätte angreifen können, seine Skepsis gegen poetische Geschichtsschreiber ausgerechnet von Lessing hätte entlehnt haben können, als er in der Vorrede seines Hauptwerks begründet, warum der römische Historiker Titus Livius (59 v. Chr. – 17 n. Chr.), dessen ursprünglich wohl 7.000 Seiten umfassendes Monumentalwerk Ab urbe condita bis in die Moderne der Maßstab aller römischen Geschichte war, historisch überholt ist: Wir aber haben eine andre Ansicht der Historie, andre Forderungen; und wir müssen es entweder nicht unternehmen die älteste Geschichte Roms zu schreiben, oder eine ganz andre Arbeit unternehmen als eine, nothwendig mißlingende, Nacherzählung dessen, was der römische Historiker zum Glauben der Geschichte erhob. Wir müssen uns bemühen Gedicht und Verfälschung zu scheiden, und den Blick anstrengen um die Züge der Wahrheit, befreit von jenen Uebertünchungen, zu erkennen.²⁷

Jede Zeit schreibt ihre eigene Geschichte, und jeder Historiker schreibt sie aus einer anderen Perspektive, auch wenn er die Wahrheit historischer Fakten von der Verfälschung ihrer „Nacherzählung“ abzusondern suchen muß. Historiker wie Niebuhr sind Vorgängern verpflichtet, auch wenn sie es nicht ausdrücklich anerkennen, sei es Lessing, wie wir gesehen haben, oder Johann Christoph Gatterer, der mit seiner Abhandlung vom Standort und Gesichtspunct des Geschichtschreibers oder der teutsche Livius (1768) die argumentative Brücke bildet zwischen Chladenius’ Lehre vom Sehe-Punkt im Jahr 1742 und Niebuhrs ‚deutscher‘ Ersetzung des Livius im Jahr 1811. Auch den Göttinger Historiker hat die „Wahrheit der Geschichte“ umgetrieben, als er sich fragen mußte, ob sie „im wesentlichen dieselbe“ bleiben kann, wenn die Geschichtlichkeit ihrer standortgebundenen Auswahl und Behandlung die Beschreibung bestimmt: Wie würde so ein historisches Genie, wie Livius war, nicht ein Römer, sondern ein Teutscher, nicht ein Zeitgenosse des Cäsarz und Augusts, ein Unterthan des römischen Reichs in einem

 Barthold Georg Niebuhr, Römische Geschichte. Neue Ausgabe von M. Isler, Berlin: S. Calvary 1873 – 1874, Bd. 1, 1873, S. XXI f.

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schon ziemlich verderbten Zeitalter, sondern ein Zeitgenosse Franzens I. und Josephs II., nicht ein Heide, sondern ein Christ, nicht ein Staatsmann, sondern ein Gelehrter: wie würde so ein livianisches Genie under den Teutschen in unsern Tagen die Geschichte der Römer, die der römische Livius beschrieben hat, beschreiben? Dieß ist die Frage, worauf es hier ankommt.²⁸

Mit seiner ‚Beschreibung‘ der römischen Geschichte tritt der „teutsche Livius“ Niebuhr als „Gelehrter“ auf, der dem neuen Ideal einer objektiven Geschichtsschreibung durch rigorose Quellenkritik einen wissenschaftlichen Anspruch verliehen hat. Aber das neue Selbstbewußtsein des Historikers, der sich selbst „eine fast nicht zu täuschende Leichtigkeit in Entdeckung des Falschen, Unrichtigen, Unwahren“ zuschreibt, verfängt sich schnell in den Fallstricken einer kreativen Kritik, die im Streben nach einem „vollständigen Gemälde“ nicht vor eigenen Ergänzungen zurückschreckt: „Ich bin Historiker, denn ich kann aus dem einzeln erhaltenen ein vollständiges Gemälde bilden und weiß, wo Gruppen fehlen, wie sie zu ergänzen sind.“²⁹ Deutlicher kann der Begriff des von selbstherrlichen Historikern gemalten ‚Geschichtsbildes‘ kaum formuliert und zugleich durch die Kategorie des Perspektivenwechsels in Frage gestellt werden. Spätere Vertreter der Historischen Schule, die sich dem Objektivitätsideal verschrieben und deshalb jede Grenzverletzung zwischen Geschichte und Dichtung geahndet haben, hätten eine solche Aussage, käme sie von Schiller oder Lessing, sicher verurteilt. Aber Franz Xaver von Wegele, der historistische Historiker der Geschichtsschreibung, der Niebuhr über alle Maßen bewundert, konnte darin „nicht den Ausbruch eitler Selbstgefälligkeit, sondern die Äußerung des sich der Souveränität seines Geistes bewußten Genies“ sehen.³⁰ Mit gleichem Recht hat sich Lessing den Ruf genialer Souveränität verdient, als er auf so vielen Gebieten der Bahnbrecher neuer Bewegungen war: Er hat lange vor Kants Kritiken (Kritik der reinen Vernunft, 1787; Kritik der praktischen Vernunft, 1788; Kritik der Urteilskraft, 1790) den Begriff und das Genre der philosophisch-literarischen Kritik eingeführt. Er hat mit Miss Sara Sampson (1755) das erste bürgerliche Trauerspiel und mit Minna von Barnhelm (1764) laut Goethe das erste deutsche Nationaldrama geschrieben. Er hat mit dem 17. Brief, die neueste Literatur betreffend (1759) im Namen Shakespeares das französische durch das englische

 Johann Christoph Gatterer, Abhandlung vom Standort und Gesichtspunct des Geschichtschreibers oder der teutsche Livius, in: Allgemeine historische Bibliothek, hrsg. v. Johann Christoph Gatterer, Bd. 5, Halle: Johann Justinus Gebauer 1768, 3 – 29, S. 13.  Zitiert nach Franz X. von Wegele, Geschichte der Deutschen Historiographie seit dem Auftreten des Humanismus, München/Leipzig: Oldenbourg 1885, S. 1004 f.  Ebd., S. 1005.

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Kulturmodell abgelöst. Er hat im Laokoon (1766) mit dem horazischen Prinzip ut pictura poesis gebrochen und die Dichtung als Medium der Zeit (im Nacheinander) unabhängig von der Malerei als Medium des Raums (im Nebeneinander) etabliert. Und er hat, wie wir gesehen haben, in seinen theologischen Schriften (1777– 1780) und in Nathan der Weise (1779) den Toleranzgedanken der Aufklärung auf den Begriff perspektivischer Wahrheitsfindung gegründet. Und dennoch ist Lessings Rolle bei der Ausbildung des Geschichtsdenkens, weil er sich in den Augen der Puristen zu stark der Ästhetisierung verschrieben hat, nicht unumstritten. In Eduard Fueters Geschichte der neueren Historiographie (1911), einem Standardwerk des späten Historismus, in dem – wie schon bei Niebuhr – Schiller verächtlich abgetan wird, weil er „lieber poetisch ergreifen als belehren will“ und deshalb die „pseudopoetische Form der humanistischen Historiographie“ nur als Künstler beherrscht,³¹ kommt Lessing, dem ein ähnlicher Vorwurf gemacht werden könnte, abgesehen von einem knappen Hinweis auf die Erziehungsschrift, gar nicht vor. Während Ernst Schaumkell in seiner Geschichte der deutschen Kulturgeschichtsschreibung (1905) Lessing sogar den „Begründer der historischen Weltanschauung“ genannt hat,³² befand Matthijs Jolles in einem der wenigen Aufsätze zum vorliegenden Thema, das sei angesichts der von Lessing zwischen Dichtung und Geschichte gezogenen Grenzen „difficult indeed to understand“.³³ Wenn für Friedrich Meinecke „die eigentlichen Bahnbrecher des Historismus“ auch Lessing einschließen,³⁴ so lehnte einer ihrer Hauptvertreter, Johann Gustav Droysen, Lessings „ziemlich platten Skeptizismus“ gegenüber dem von Ranke und Droysen erhobenen Anspruch auf historische Wahrheit entschieden ab.³⁵ Wilhelm Dilthey, der aus der Historischen Schule hervorgegangene Begründer der Geisteswissenschaften, hat in einem frühen Lessing-Artikel von 1867 nur den Fortschrittsdenker, aber nicht den Historiker anerkennen wollen:

 Eduard Fueter, Geschichte der Neueren Historiographie [reprograph. Nachdruck der Ausgabe München 31936, mit einem Vorwort von Hans Conrad Peyer], Zürich/Schwäbisch-Hall: Orell Füssli 1985, S. 402.  Ernst Schaumkell, Geschichte der deutschen Kulturgeschichtsschreibung von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Romantik im Zusammenhang mit der allgemeinen geistigen Entwicklung, Leipzig: Teubner 1905, S. 117.  Matthijs Jolles, Lessing’s Conception of History, in: Modern Philology 43 (1946), 175 – 191, S. 182.  Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus, 2 Bde., München/Berlin: Oldenbourg 1936, Bd. 2, S. 307.  Johann Gustav Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hrsg. v. Rudolf Hübner, 7. Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1972, S. 70.

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Niemand vielleicht in Deutschland, auch Goethe nicht, hatte diesen Geierblick, Welt und Menschen zu durchschauen, der Lessing eigen war. Aber sein geschichtliches Studium und seine Analyse der moralischen Begriffe blieben eingeschränkt. […] Erst unserer Generation kann es gelingen, die moralischen Untersuchungen über Kant hinauszuführen: denn wir sind zugleich der Geschichte mächtig.³⁶

Aber wenn Dilthey Lessings mangelnde Geschichtsmächtigkeit damit entschuldigt, daß „das Geschichtliche […] dem Sohn der Aufklärung nur wechselndes Gewand der überall und immer gleichen Menschennatur“ war,³⁷ so hat auch er verkannt, wie entschieden Lessing das vermeintlich unhistorische Humanitätsideal im Fragmenten-Streit und in Nathan der Weise gerade an die Historisierung von Wahrheitsansprüchen gebunden hat. Darum wollen wir uns Lessings Beitrag zur historischen Perspektivierung der Wahrheitsfindung noch einmal genauer ansehen und zu klären versuchen, warum dieser zwischen Chladenius, dem heute so gut wie vergessenen Begründer des historischen Perspektivismus, und Nietzsche, dem heute wie zu seiner Zeit umstrittenen Begründer des philosophischen Perspektivismus, anzusiedelnde Beitrag eine bessere Resonanz verdient. Im Sinne der wirkungsgeschichtlichen Implikationen beginnen wir mit Nietzsche, weil er, unter früher Berufung auf Lessings Wahrheitsbegriff, in Jenseits von Gut und Böse (1886) „das Perspektivische die Grundbedingung des Lebens“ genannt³⁸ und sich schon in der Fröhlichen Wissenschaft (1882) gefragt hat, „wie weit der perspektivische Charakter des Daseins reicht oder ob es irgendeinen andren Charakter noch hat, ob nicht ein Dasein ohne Auslegung, ohne ‚Sinn‘ eben zum ‚Unsinn‘ wird, ob, andrerseits, nicht alles Dasein essentiell ein auslegendes Dasein ist“.³⁹ Wie schon der Frühaufklärer Chladenius in seiner Einleitung zur richtigen Auslegung vernünfftiger Reden und Schrifften (1742) die Notwendigkeit der „Auslegung“ zur Auflösung von Widersprüchen zwischen verschiedenen „SehePuncten“ begründet hatte,⁴⁰ zielt auch die „Auslegung“ in Nietzsches herme-

 Wilhelm Dilthey, Gotthold Ephraim Lessing, in: Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 141965, 18 – 123, S. 104 f.  Ebd., S. 123.  Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta, Bd. 2, München: Hanser 51966, 563 – 759, S. 566.  Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta, Bd. 2, München: Hanser 51966, 7– 274, S. 249.  Vgl. Chladenius, Einleitung, S. 195: „Denn nicht die Geschichte an sich, sondern die Vorstellung der Geschichte, welche einem andern nicht einleuchten will, brauchet einer Auslegung.“

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neutischem Perspektivismus auf die Kritik allgemeingültiger Wahrheitsansprüche: [W]ir sind zum mindesten ferne von der lächerlichen Unbescheidenheit, von unsrer Ecke aus zu dekretieren, daß man nur von dieser Ecke aus Perspektiven haben dürfe. Die Welt ist uns vielmehr noch einmal „unendlich“ geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, daß sie unendliche Interpretationen in sich schließt. ⁴¹

Weil die Multiplizierung der Perspektiven die Wahrheit in die Zone der Unbestimmbarkeit rückt, erfolgt die ‚unendliche‘ Wahrheitssuche, der Nietzsche mit Lessing das Wort redet, im Zeichen einer Idee, die in der neueren Theorie der Interpretation zum häufig gebrauchten Schlagwort wurde: literary indeterminacy. ⁴² Die Unabschließbarkeit der Auslegung ist für Nietzsche nur das Symptom der perspektivischen Ausrichtung des Lebens selbst. Es hat der Lessing-Rezeption sicher nicht geholfen, daß sich Nietzsche gerade zu einer Zeit, als der vom Historismus begünstigte Positivismus die akademische Welt beherrschte, gleich an mehreren Fronten damit kritisch auseinandersetzte. Nietzsche hat schon in der frühen Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik (1871), die von der etablierten Wissenschaft, allen voran von dem bedeutenden Altphilologen Ulrich Wilamowitz-Moellendorff, entschieden abgelehnt wurde,⁴³ Lessing vor allem dafür gepriesen, daß „ihm mehr am Suchen der Wahrheit als an ihr selbst gelegen“ sei und daß er damit „das Grundgeheimnis der Wissenschaft, zum Erstaunen, ja Ärger der Wissenschaftlichen, aufgedeckt“ habe.⁴⁴ Tatsächlich hatte Lessing in der Duplik (1778) betont, daß sich der Mensch „nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit“ vervollkommne. Eine solche Infragestellung der unverbrüchlichen Wahrheit, auf die

 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, S. 250.  Vgl. Charles Altieri, The Hermeneutics of Literary Indeterminacy, in: New Literary History 10 (1978), 71– 99.  Ulrich Wilamowitz-Moellendorff, der in einer scharfen Polemik unter dem Titel Zukunftsphilologie! Eine Erwidrung auf Friedrich Nietzsches „Geburt der Tragödie“ (Berlin: Gebr. Borntraeger 1872) Nietzsche die Vergewaltigung historischer Fakten und der wissenschaftlichen Methode vorgeworfen hat, war übrigens Jahrzehnte später geneigt, der aristotelischen Aufwertung der Dichtung gegenüber der historischen Forschung zuzustimmen, allerdings mit einem angesichts von Thukydides überraschenden Urteil: „[E]ine wirklich historische Forschung hat es bei den Hellenen nicht gegeben“; Ulrich Wilamowitz-Moellendorff, Geschichtschreibung. Vortrag gehalten zum Besten des Akademischen Hilfsbundes 16.XII.17, in: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 12 (1918), 353 – 376, Sp. 365.  Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik [1871], in: Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta, Bd. 1, München: Hanser 51966, 19 – 134, S. 84.

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die positivistische Tatsachen-Wissenschaft eingeschworen war, konnte weder Lessing noch Nietzsche unter den „Wissenschaftlichen“ neue Freunde gewinnen. Hinzu kam, daß Nietzsches Kampfschrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874) schon im Titel die lebensphilosophische Warnung vor einer Überfrachtung des ‚Lebens‘ mit dem Ballast der Vergangenheit enthält: „wir sind alle durch die Historie verdorben.“⁴⁵ Statt einer für den Positivismus charakteristischen ‚antiquarischen‘ Geschichtsbetrachtung, die „das widrige Schauspiel einer blinden Sammelwut, eines rastlosen Zusammenscharrens alles einmal Dagewesenen“ bietet,⁴⁶ und einer ‚monumentalischen‘ Geschichtsbetrachtung, die die Vergangenheit nur zum Zweck ihrer quasi-mythischen Vorbildlichkeit für die Gegenwart idealisiert (und ideologisiert), plädiert Nietzsche, in Anlehnung an Lessings Kritik-Begriff, für eine ‚kritische‘ Ansicht der Geschichte, die über die Vergangenheit zu Gericht sitzt, um ihr die produktive Energie für die Gestaltung der Gegenwart zu entlocken. Der in diesem Sinne kritische Historiker müsse wagen, „eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können: dies erreicht er dadurch, daß er sie vor Gericht zieht, peinlich inquiriert und endlich verurteilt“.⁴⁷ Im Namen der historischen Kritik fordert Nietzsche sogar, jene vermeintliche Objektivität zu opfern, die der wissenschaftliche Positivismus zum obersten Prinzip der Forschung erklärt hat, und stattdessen eine neue Objektivität zu pflegen, die „ein künstlerisch wahres, nicht ein historisch wahres Gemälde“ schafft: In dieser Weise die Geschichte objektiv denken ist die stille Arbeit des Dramatikers; nämlich alles aneinander denken, das Vereinzelte zum Ganzen weben: überall mit der Voraussetzung, daß eine Einheit des Planes in die Dinge gelegt werden müsse, wenn sie nicht darinnen sei. So überspinnt der Mensch die Vergangenheit und bändigt sie, so äußert sich sein Kunsttrieb – nicht aber sein Wahrheits-, sein Gerechtigkeitstrieb.⁴⁸

Wird hier der (traditionell objektivistische) Wahrheitsbegriff noch im Gegensatz zum „Kunsttrieb“ gesehen, dessen poetische Wahrheit in der Verknüpfung zu einem Ganzen liegt, weil die „Einheit des Planes“, die nicht mehr als gegeben vorausgesetzt werden kann, erst „in die Dinge gelegt werden müsse“, paßt Nietzsche diesem Anliegen auch den Wahrheitsbegriff an. Weil die „Verzweiflung

 Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta, Bd. 1, München: Hanser 51966, 209 – 285, S. 236.  Ebd., S. 228.  Ebd., S. 229.  Ebd., S. 247.

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an der Wahrheit“, wie er in seiner Schrift Schopenhauer als Erzieher (1874) sagt, alle nachkantischen Philosophen umtreibt,⁴⁹ hat Nietzsche die Wahrheit schließlich, in seiner erst posthum veröffentlichten Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn (1873), nicht nur wie Chladenius perspektivisch, sondern wie Herder auch sprachphilosophisch neu definiert: Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen und geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.⁵⁰

Was als kanonische Wahrheit angenommen wird, ist nur das Ergebnis einer langen Übereinkunft, die meistens kaum noch in Frage gestellt wird. Deshalb muß die Einmaligkeit der ein für allemal fixierten Wahrheit aufgelöst werden in eine Vielzahl von „Wahrheiten“, die das Ergebnis eines multiperspektivischen Zugriffs auf die Wahrheit im Medium ihrer sprachlichen Antizipation ist. ‚Die‘ Wahrheit gibt es nur in der Illusion, daß die sprachlichen Metaphern, semiotisch gesprochen, nicht nur Zeichen, sondern das Bezeichnete selbst sind. Wenn wir uns von dieser Illusion befreien wollen, müssen wir – im dafür heuristisch genutzten Sprachbild – dem Metall der abgegriffenen Münzen das Bild zurückgeben, das einst ihren Wert ausgemacht hat. Die verlorengegangene Bildlichkeit kann nur wiederhergestellt werden, wenn die Sprache wieder wörtlich genommen wird und wenn die Bildlichkeit der Sprache ihre Vieldeutigkeit zurückgewinnt. Diese Aufgabe aber kann nicht der wissenschaftliche Wahrheitstrieb, der auf Eindeutigkeit zielt, sondern nur der poetische Kunsttrieb leisten, der seinen Gegenstand in mehreren Ansichten schillern läßt. Nur so wird die Wahrheitsfindung, wie Nietzsche an Lessing hervorgehoben hat, wichtiger als die Wahrheit selbst. Mit dieser von Lessing übernommenen Ansicht befindet sich Nietzsche in Übereinstimmung auch mit Aristoteles. Die Dichtung ist nicht nur philosophischer als die Geschichtsschreibung, weil sie das Allgemeingültige statt der spezifischen Ausprägungen behandelt, sondern auch σπουδαιοτερον, nicht ‚nützlicher‘ (wie Lessing übersetzt), ‚bedeutender‘ (wie Olof Gigon übersetzt) oder ‚ernsthafter‘ (wie Manfred Fuhrmann  Friedrich Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher [1874], in: Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta, Bd. 1, München: Hanser 51966, 287– 365, S. 302.  Friedrich Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, in: Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta, Bd. 3, München: Carl Hanser 51966, 309 – 322, S. 314.

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übersetzt), sondern eigentlich ‚bemühter‘, ‚eifriger‘ – ganz im Sinne der eifrigen Mühe aktiver Wahrheitsfindung, die Nietzsche an Lessing bewunderte. Über ein Jahrhundert lang konnte sich die von Chladenius, Lessing und Nietzsche geforderte Perspektivierung historischer Erkenntnis nur schwer durchsetzen, weil sie allzu leicht dem Verdikt poetischer Subjektivierung verfiel und deshalb an dem historistischen Anspruch auf ‚antiquarische‘ Rekonstruktion des Geschehenen, „wie es eigentlich gewesen“ (Ranke),⁵¹ scheitern mußte. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich das Interesse an der Ästhetisierung der Geschichte und ihrer narrativen Struktur Gehör verschaffen können, als Erzähl-, Fiktions-, Kommunikations- und Medientheorien auch die Darstellungsformen der Vermittlung von historischer Forschung entdeckten. Der Titel des 1982 erschienenen Sammelbandes Historisches Erzählen. Formen und Funktionen ist symptomatisch für eine Fülle von Büchern und Aufsätzen, die sich dem neuen bzw. wiederentdeckten Thema gewidmet haben.⁵² In dem genannten Band hat Kurt Röttgers betont, „daß die eigentliche Leistung der Präsentation von vergangenem Geschehen in der Form einer Geschichtserzählung ist, Kontinuität zu konstruieren, und zwar perspektivisch“,⁵³ und Rudolf Vierhaus hat unter dem Titel „Wie erzählt man Geschichte? Die Perspektive des Historiographen“ ergänzt, „daß die Vielfalt der gleichzeitigen und ineinandergreifenden geschichtlichen Vorgänge, das Nebeneinander von verursachenden, konditionierenden Wirkungszusammenhängen im erzählerischen Nacheinander dargestellt werden müs-

 Leopold von Ranke, Vorrede, in: Ranke, Sämmtliche Werke, Bd. 33: Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514, 2. Aufl., Leipzig: Duncker & Humblot 1874, I– VIII, S. VII: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: so hoher Aemter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will blos zeigen wie es eigentlich gewesen.“  Siegfried Quandt und Hans Süssmuth (Hrsg.), Historisches Erzählen. Formen und Funktionen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1982. Vgl. außerdem Hans Michael Baumgartner, Kontinuität und Geschichte. Zur Kritik und Metakritik der historischen Vernunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972; Jörn Rüsen, Ästhetik und Geschichte. Geschichtstheoretische Untersuchungen zum Begründungszusammenhang von Kunst, Gesellschaft und Wissenschaft, Stuttgart: Metzler 1976; Hayden White, The Historical Text as Literary Artifact, in: The Writing of History. Literary Form and Historical Understanding, hrsg. v. Robert H. Canary und Henry Kozicki, Madison/London: The University of Wisconsin Press 1978, 41– 62; Werner Schiffer, Theorien der Geschichtsschreibung und ihre erzähltheoretische Relevanz (Danto, Habermas, Baumgartner, Droysen), Stuttgart: Metzler 1980.  Kurt Röttgers, Geschichtserzählung als kommunikativer Text, in: Historisches Erzählen. Formen und Funktionen, hrsg. v. Siegfried Quandt und Hans Süssmuth, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1982, 29 – 48, S. 40.

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sen“.⁵⁴ Damit hat Vierhaus auf ein, wie er meint, unaufhebbares und, was er nicht sagt, deutlich an Lessings Argument in Laokoon erinnerndes Problem hingewiesen, das uns noch intensiver beschäftigen wird. Es geht um die – an die Zeitstruktur der Erzählung gebundene – monokausale Verkürzung eines multikausalen Ereigniszusammenhangs in einer einsträngigen Darstellung. Die an die Perspektive des Historiographen gebundene Darstellung ist, weil sie Informationen und Daten in einen deutenden Zusammenhang bringt, so Vierhaus, „ein wesentliches Mittel, der „Wahrheit“ der Geschichte als Vergangenheit nahe zu kommen“.⁵⁵ Genau dieses erst neuerdings auch von Historikern anerkannte, aber kaum mit Lessing belegte Bemühen steht im Zentrum von Lessings Beitrag zur Visualisierung der Wahrheitssuche im historischen Perspektivismus. Schon in seinem frühen Drama Der Freygeist (1749) hat er die dogmatische Befangenheit des Rationalisten aufgedeckt, der vor lauter „vorgefaßten Meinungen“ das Offensichtliche verkennt: „Adrast würde sein Glück in ihren [Julianes] Augen längst wahr geworden sein“, so sagt Theophan, der auch in seiner Wortwahl den Augenschein der Wahrheit offensichtlich über den „Wahn“ des Bewußtseins stellt, „wenn Adrast gelassen genug wäre, richtige Blicke zu tun. Er betrachtet alles durch das gefärbte Glas seiner vorgefaßten Meinungen, und alles oben hin; und würde wohl oft lieber seine Sinne verleugnen, als seinen Wahn aufgeben.“⁵⁶ Der abstrakte Rationalist weiß zu viel und sieht zu wenig. Die sensualistische Aufforderung, seine eigenen Sinne zu gebrauchen, „richtige Blicke zu tun“ und dem unvoreingenommenen Augenschein mehr als dem gefärbten Glas des Vorurteils zu vertrauen, beruht zwar, verglichen mit den grünen Gläsern in Heinrich von Kleists sogenannter Kant-Krise fünfzig Jahre später,⁵⁷ noch auf dem Glauben der frühen

 Rudolf Vierhaus, Wie erzählt man Geschichte? Die Perspektive des Historiographen, in: Historisches Erzählen. Formen und Funktionen, hrsg. v. Siegfried Quandt und Hans Süssmuth, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1982, 49 – 56, S. 51.  Ebd., S. 55.  Lessing, Der Freigeist, in: Lessing, Werke, hrsg. v. Herbert G. Göpfert, Bd. 1, München: Hanser 1970, 473 – 555, S. 546 (V. 3).  Heinrich von Kleist, Brief an Wilhelmine von Zenge, 22. März 1801, in: Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. v. Ilse-Marie-Barth, Klaus Müller Salget, Stefan Ormanns und Hinrich C. Seeba, 4 Bde., Bd. 4: Briefe von und an Heinrich von Kleist 1793 – 1811, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1997, S. 205: „Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urtheilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzuthut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.“

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Aufklärer an die Möglichkeit ‚ungefärbter‘ Wahrheit, der die ‚Richtigkeit‘ des Augenscheins entspricht; aber in der deutlichen Verschiebung des erkenntnistheoretischen Arguments vom noumenon (dem Wißbaren) zum phainomenon (dem Sehbaren) läuft sie doch schon auf eine Einengung des Blickfeldes auf den jeweiligen, vom Standort des Betrachters abhängigen Augenschein hinaus. Solche Perspektivierung der Erkenntnis, der das in allen Farben schillernde Glas schließlich nicht mehr als Bild für eine unzulässige Verfälschung, sondern für das Wesen des Sehens überhaupt dient, vervielfältigt die eindeutige Wahrheit zu jener Fülle unendlicher Ansichten und Auslegungen, auf die Lessing seinen historischen Perspektivismus gegründet hat. Obwohl Lessing in der mit optischen Bildern so reichlich ausgestatteten Vorgeschichte des modernen Perspektivismus eine besondere Rolle gespielt hat, ist der europäische Zusammenhang der Diskussion, zu der er beigetragen hat, bis heute weder in theoretischer noch in historischer Hinsicht genügend gewürdigt worden. In der heftigen, zwischen Frankreich, England und Deutschland hin- und herwogenden Diskussion der Bild-Perspektive war Lessings im Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) getroffene anthropologische Unterscheidung räumlicher Bildkunst im „Nebeneinander“ und zeitlicher Dichtkunst im „Nacheinander“ besonders wichtig. Den dafür nötigen „Kunstgriff“ der „Perspektiv“ hat er im nachgelassenen Entwurf des Laokoon eingeführt, um das Problem der Darstellung von Geschehensabläufen so zu klären, daß gelegentlich auch der an den Raum gebundene Maler sukzessive Augenblicke und der an die Zeitfolge gebundene Dichter simultane Vorgänge darstellen kann, ohne unzulässiger Übergriffe in das Medium des anderen schuldig zu werden: Der Maler bei seinem Kunstgriffe nimmt gleichsam mehrere Räume, mehrere Flächen an; wir sehen seine Figuren zwar alle auf einer Fläche, aber sie stehen nicht alle auf einer Fläche; mit einem Worte sein Kunstgriff liegt in der Perspektiv. Was ist also die Perspektiv des Dichters? Sie besteht darin, daß er die Zeitfolge, in welcher seine Nachahmung fortschreitet dann und wann unterbricht, und in andere Zeitfolgen übergehet, in welchen sich die Gegenstände, die er schildern will, ehedem befunden, bis er den Faden seiner eignen Zeitfolge wieder ergreift. Und in diesem Kunstgriffe ist Homer Meister. Alle seine Einschaltungen sind perspektivisch, und besonders sind seine Gleichnisse alle perspektivisch ausgeführet, welches ihnen eben das Leben gibet [sic!], das so sehr rühret, und den Kunstrichtern so schwer zu erklären ist.⁵⁸

Aber Lessing spricht hier von der Perspektive des Malers eher nur beiläufig und, hinsichtlich der Flächenprojektion, sogar ganz unpräzise, weil ihn die übertra Lessing, Aus dem Nachlaß zu Laokoon, in: Lessing, Werke, hrsg. v. Herbert G. Göpfert, Bd. 6, München: Hanser 1974, 553 – 660, S. 574 f.

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gene Bedeutung der Perspektive für die dichterische Darstellung komplexer Zeitfolgen, also für das von Rudolf Vierhaus hervorgehobene Problem historiographischer Verkürzung vielfältiger Begründungszusammenhänge in ihrer erzählten Kontinuität, viel mehr interessiert. Es bedarf kaum einer Erläuterung, warum diese Akzentverschiebung von der Malerei zum sprachlichen Kunstwerk, die Übertragung des perspektivischen Sehens vom Gemälde auf Dichtung und Geschichtsschreibung, so grundlegend für das vorliegende Projekt ist, das sich die Ästhetisierung historischen Denkens unter dem Aspekt des metaphorischen ‚Geschichtsbildes‘ vorgenommen hat. Weil sich das Geschichtsbild von der Dominanz der Malerei – seit Horaz bekannt unter dem poetologischen Prinzip ut pictura poesis ⁵⁹ – befreien mußte, kann Lessings Versuch, die „Grenzen der Malerei und Dichtung“ durch die Verzeitlichung sprachlicher Darstellung zu bestimmen, wegen seiner Folgen für das historische Denken gar nicht genug gewürdigt werden. Tatsächlich war Lessings Begriffs- und Funktionsbestimmung der Perspektive zu diesem Zeitpunkt noch so unklar, daß Moses Mendelssohn, dem er einen Entwurf des Laokoon vorlegte, nichts damit anfangen konnte (sekundiert von Friedrich Nicolai: „ich auch nicht“): „Diese ganze Betrachtung über die Perspektive will mir nicht so recht in den Sinn“, merkte Mendelssohn an, um dem Freund mit einer genaueren Definition des eigentlichen Begriffs weiterzuhelfen: Die Perspektive ist eine Nachahmung der Natur in Ansehung der Distanzen. Die Natur drückt die Distanzen aus durch die relative 1) Größe, 2) Deutlichkeit und Lauterkeit der Farben. Der Maler malet seine Gegenstände kleiner, undeutlicher und mit geschwächten Farben, und wir glauben sie seien entfernter. Endlich bedienet er sich dieser Entfernungen um seine stehenden Bilder etwas beweglicher zu machen. Dieses ist ein Nutzen, den der Virtuose von der Perspektive ziehet, sie machet aber keinesweges das Wesen der Perspektive aus.⁶⁰

Mendelssohns Belehrung, deren Präzision auf einen Tadel unklarer Begrifflichkeit hinausläuft, unterstreicht die Vermutung, daß Lessing die ihm bis dahin vielleicht wirklich unklare Maltechnik der Linien- und Luftperspektive einfach überspringen wollte, um sein eigentliches Anliegen vorzubringen: die perspektivierte Darstellung historischer Zeitfolge im Medium der Sprache. Weil sich dieser Sprung in den historischen Perspektivismus als voreilig erwiesen hat, fehlt er in der Druckfassung des Laokoon von 1766.

 Quintus Horatius Flaccus, De arte poetica liber / Die Dichtkunst [17/16 v.Chr.], lat./dt., Einführung, Übersetzung und Erläuterung von Horst Rüdiger, Zürich: Artemis 1961, S. 36 (V. 361).  Moses Mendelssohn, zit. Lessing, Aus dem Nachlaß zu Laokoon, S. 575.

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Wie gut Lessing die Lektion gelernt hat, die ihm Mendelssohn erteilte, zeigt sich indes im 19. Kapitel des Laokoon, das sich mit den homerischen Darstellungen auf dem Schild des Achilleus (Ilias 18, 478 – 608) befaßt. Weil Alexander Pope in der Abhandlung Observations on the Shield of Achilles, die im fünften Band seiner Ilias-Übersetzung (1715 – 1720) erschien, von Homer bemerkt hatte, „[t]hat he was no stranger to aerial perspective, appears in his expresly marking the distance of object from object“,⁶¹ fühlte sich Lessing berechtigt, das gerade Gelernte – schulmeisterlicher noch als Mendelssohn, der es ihm beibringen mußte – gegen Pope zu wenden: Ich sage, hier hat Pope den Ausdruck aerial Perspective, die Luftperspektiv (Perspective aerienne) ganz unrichtig gebraucht, als welche mit den nach Maßgebung der Entfernung verminderten Größen gar nichts zu tun hat, sondern unter der man lediglich die Schwächung und Abänderung der Farben nach Beschaffenheit der Luft oder des Medii, durch welches wir sie sehen, verstehet. Wer diesen Fehler machen konnte, dem war es erlaubt, von der ganzen Sache nichts zu wissen.⁶²

Überraschend an dieser Abfertigung ist, abgesehen von ihrem anmaßenden Ton, vor allem die Tatsache, daß Lessing mit dem Nachweis eines Fehlers, den er kurz zuvor noch selbst begangen hat, ausgerechnet jenes Argument für die Perspektive Homers zu entkräften versucht, das er damals selbst vorgebracht hat; denn während er im Entwurf zum Laokoon betont hatte, Homer sei ein „Meister“ der Perspektive, weil seine Exkurse und besonders seine „Gleichnisse alle perspektivisch ausgeführet“ seien, wobei er in einem weiteren Entwurf ausdrücklich den Schild des Achilleus zu „den perspektivischsten Gleichnissen“ rechnete, hat er sich in der Druckfassung ganz entschieden auf die Gegenseite geschlagen und keinen Zweifel daran lassen wollen, daß die Malerei der Griechen „offenbar ohne alle Perspektiv“ gewesen sei: „Dieser Teil ist den Alten gänzlich abzusprechen“.⁶³ Offenbar hat sich Lessing mit diesem Zugeständnis, das er den Experten, darunter auch Winckelmann,⁶⁴ machte, den nötigen Freiraum schaffen wollen, um sein  Alexander Pope, Observations on the Shield of Achilles, in: The Iliad of Homer, übers. v. Alexander Pope, London: Henry Lintot 1750, Bd. 5, 104– 125, S. 116.  Lessing, Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, in: Lessing, Werke, Bd. 6, 7– 187, S. 127, Anm.  Ebd., S. 127.  Vgl. Johann Joachim Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst: Sendschreiben. Erläuterung, hrsg. v. Ludwig Uhlig, Stuttgart: Reclam 1969, S. 98: „Die geringe Wissenschaft der Alten in der Perspektiv, welche ich daselbst angezeiget habe, ist der Grund zu dem Vorwurf, den man den Alten in diesem Teile der Kunst machet: ich behalte mir eine ausführliche Abhandlung über demselben vor.“ Diese Ankündigung ist nie ausgeführt worden.

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eigentliches Interesse an der Perspektive in der poetischen Darstellung der „Zeitfolge“ ungestört weiter zu verfolgen. Nur so läßt sich die Unbekümmertheit erklären, mit der Lessing seine revidierte Meinung über die Perspektive der Griechen vorgetragen hat, ohne Rücksicht darauf, ob er sich damit die Gegnerschaft all derer zuziehen würde, die an der unbedingten Vorbildlichkeit der Antike auch in der Perspektivenfrage festhielten, allen voran der ab 1765 in Halle als Professor für Philosophie und Beredsamkeit lehrende Christian Adolph Klotz, der sich bemüßigt fühlte, „die Alten“ gegen Lessing zu verteidigen.⁶⁵ Ohne den fraglich gewordenen, nach Mendelssohns Belehrung nur noch für die Bildkunst reservierten Terminus zu gebrauchen, hat Lessing in mehreren Stücken der Hamburgischen Dramaturgie (1767) sein späteres Kriterium perspektivischer Darstellung, die Einheitlichkeit des Standpunkts, noch ganz untheoretisch zugrundegelegt, wo es ihm bereits um die Durchsetzung des historischen Perspektivismus geht. Gleich im 1. Stück der Hamburgischen Dramaturgie vom 1. Mai 1767 wird deutlich, daß Lessing an dem dynamischen Prinzip, das Mendelssohn vom „Wesen der Perspektive“ grundsätzlich ausschloß, weiterhin festhält, wenn er für eine bewegliche Perspektivierung dramatischer Handlung plädiert. Dabei wird die Frage „Was also ist die Perspektiv des Dichters?“ wieder als Übertragungsproblem gefaßt, das inzwischen allerdings nicht mehr an der Grenze von Malerei und Dichtung, sondern, innerhalb der Dichtung, zwischen Epik und Dramatik auszuhandeln ist. Zur Lösung der schwierigen Aufgabe, eine „kleine rührende Erzählung in ein rührendes Drama umzuschaffen“, bespricht Lessing die Probleme des Gattungswechsels am Beispiel von Johann Friedrich von Cronegks Tragödie Olint und Sophronia (1757), die auf einer Passage von Torquato Tasso beruht: [S]ich aus dem Gesichtspunkte des Erzählers in den wahren Standort einer jeden Person versetzen können; die Leidenschaften, nicht beschreiben, sondern vor den Augen des Zuschauers entstehen, und ohne Sprung, in einer so illusorischen Stetigkeit wachsen zu lassen, daß dieser sympathisieren muß, er mag wollen oder nicht, das ist es, was dazu nötig ist; was das Genie, ohne es zu wissen, ohne es sich langweilig zu erklären, tut, und was der bloß witzige Kopf nachzumachen, vergebens sich martert.⁶⁶

Während die Perspektive des Erzählers, wie die des Malers, auf einen einzigen „Gesichtspunkt“ fixiert scheint, dem sich der ganze epische Kosmos unterordnen  Christian Adolph Klotz, dessen Rezension zu Laokoon 1766 in den von ihm herausgegebenen Acta Litteraria erschien, hat sich damit auch in seinen Schriften Beytrag zur Geschichte des Geschmacks und der Kunst aus Münzen (1767) und Ueber den Nutzen und Gebrauch der alten geschnittenen Steine und ihrer Abdrücke (1768) kritisch auseinandergesetzt.  Lessing, Hamburgische Dramaturgie, S. 235 (1. Stück).

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muß, wird die flexible Identifizierung des dramatischen Dichters mit dem „wahren Standort einer jeden Person“ auf der Bühne die Voraussetzung dafür, daß auch der Zuschauer jede einzelne Person „in einer illusorischen Stetigkeit wachsen“ sehen, d. h. ihre individuelle ‚Wahrheit‘ aus der dramatischen ‚Illusion‘ ihrer kontinuierlichen Entwicklung verstehen kann. „Zur Handlungsillusion gehört“ – laut Paul Böckmann, der 1949 als erster auf Lessings dramatische Perspektivierung aufmerksam gemacht hat – „eine Zeitillusion, die nur wieder erkennbar macht, wie sehr Lessing darum bemüht ist, den handelnden Charakter in eine räumlich und zeitlich gebundene Wirklichkeit zu stellen und dadurch dem perspektivischen Illusionsprinzip eine dichterische Bedeutung zu geben. Indem er die Einheit der Zeit und des Ortes der Einheit der Handlung unterordnet, überträgt er das Perspektivprinzip auf den Handlungszusammenhang.“⁶⁷ Weil die perspektivische Wahrheit im Medium dramatischer Zeit verstanden wird, ist die Fiktionalität der Zeitfolge, in der der Dramatiker jeden Charakter aus dem jeweiligen Gesichtspunkt „vor den Augen des Zuschauers entstehen“ läßt, für Lessings Dramaturgie im weitesten Sinn ‚historischer‘ Perspektivität konstitutiv. Der von Rudolf Vierhaus als historiographisches Perspektivproblem definierten narrativen Monokausalisierung vielfältig verflochtener Vorgänge entspricht hier, wo die vielen individualisierten Standorte der handelnden Charaktere bezogen werden auf einen, vereinheitlichenden Standort des Zuschauers in der Einheit des Raumes, „wie ihn das Auge aus einem und demselben Standort zu übersehen fähig ist“,⁶⁸ die dramatische Perspektivierung des raum-zeitlichen Handlungszusammenhangs in der Fiktion historischer Kontinuität. In beiden Fällen ist die Perspektivierung ein ans Medium der Darstellung gebundenes Konstruktionsprinzip, wobei das Subjekt der Konstruktion in der Geschichtsschreibung und Epik der Erzähler und im Drama der Zuschauer ist. Der Standort perspektivischer Anschauung wird also aus der Fiktion des Bühnengeschehens hinausverlegt auf den realen Zuschauer, richtiger: auf die vielen und immer wieder anderen Zuschauer, die ihr Augenmerk auf die Bühnenhandlung richten. Lessings Bemerkung, daß nur „das Genie“ und nicht „der bloß witzige Kopf“ zu solcher perspektivischen Darstellungskunst imstande sei, ist sicher mehr als eine beiläufige Reverenz vor der gerade in Mode kommenden Denkfigur. Im Rahmen des mit der deutschen Edward-Young-Rezeption einsetzenden Genie-

 Paul Böckmann, Der dramatische Perspektivismus in der deutschen Shakespeare-Deutung des 18. Jahrhunderts, in: Böckmann, Formensprache. Studien zur Literarästhetik und Dichtungsinterpretation, Hamburg: Hoffmann & Campe 1966, 45 – 97, S. 59.  Lessing, Hamburgische Dramaturgie, S. 437 (44. Stück).

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kults⁶⁹ begann sich die Vorstellung durchzusetzen, daß die Originalität ‚der Neuen‘ neben und schließlich vor der Nachahmung ‚der Alten‘ ihr eigenes, mit dem Wandel der menschlichen Natur begründetes Recht hat. Vor dem Hintergrund der historischen Differenz zwischen Antike und Moderne gewinnt auch Lessings geänderte Meinung über den Schild des Achilleus eine neue Bedeutung. Während er zunächst (1763), solange er von der technischen Perspektive der Malerei wenig verstand, Homer zum Meister perspektivischer Gleichnisse erklärt hatte, identifizierte Lessing jetzt (1768), nachdem er Alexander Pope wegen der gleichen Unkenntnis gescholten hat (1766), die Genialität perspektivischer Dramaturgie mit Shakespeare, der nach Wielands Übersetzung (1762– 66) nun auch bei den deutschen Modernisten die vorbildliche Rolle Homers übernehmen konnte.⁷⁰ Nachdem Lessing schon im 17. Literaturbrief (1759) gemeint hatte, „nur ein Shakepearesches Genie“ könne ein deutsches Faust-Drama schreiben,⁷¹ bekennt er sich im 73. Stück der Hamburgischen Dramaturgie zu Shakespeare als vorbildlichem Genie perspektivischer Darstellung, weil man von ihm lernen könne, „wie sich die Natur in allen Fällen auf eine Fläche projektieret“ – „so muß uns Shakespeare das sein, was dem Landschaftsmaler die Camera obscura ist.“⁷² Das Verfahren der Flächenprojektion wird, in einem beliebten Topos der Aufklärung, an einer Camera obscura erläutert, die, dem Fotoapparat vergleichbar, in einem Guckkasten die dreidimensionale Wirklichkeit auf eine zweidimensionale Fläche einspiegelt, von der mühelos abgezeichnet werden kann.⁷³ Der Vergleich bestätigt den technischen und metaphorischen Okularismus rationalistischer Weltauslegung und unterstreicht noch einmal Lessings trotz inhaltlicher Schwankungen anhaltendes Interesse an der Übertragung von Maltechniken auf die literarische Darstellung von Verlaufsstrukturen, deren dramaturgische Per-

 Die deutsche Fassung von Edward Youngs Conjectures on Original Composition in a Letter to the Author of Sir Charles Grandison (London 1759) ist bereits 1760 unter dem Titel Gedanken über die Original-Werke. In einem Schreiben des D. Youngs an dem [sic!] Verfasser des Grandison (Leipzig: Johann Samuel Heinsii Erben) erschienen.  Vgl. drei Jahre später die entsprechende Würdigung Shakespeares durch Goethe, Zum Shakepeares-Tag [1771], in: Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Erich Trunz, Bd. 12, Hamburg: Wegner 51963, 224– 227, S. 225: „Dank sei meinem erkenntlichen Genius, ich fühle noch immer lebhaft, was ich gewonnen habe. Ich zweifelte keinen Augenblick, dem regelmäßigen Theater zu entsagen. Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unserer Einbildungskraft.“  Lessing, Briefe, die neueste Literatur betreffend, 17. Brief (16. Februar 1759), 70 – 73, S. 73.  Lessing, Hamburgische Dramaturgie, S. 571 f. (73. Stück).  Vgl. August Langen, Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts. Rahmenschau und Rationalismus [reprograph. Nachdruck der Ausgabe Jena 1934], Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1965, bes. S. 36 ff.

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spektivierung er nicht anders als im Bild der – inzwischen nur technischer verstandenen – Perspektive ausdrücken kann. Lessing wurde gezwungen, den zuletzt vermiedenen Begriff der Perspektive wieder aufzunehmen, als sich Christian Adolph Klotz gleich in zwei Schriften, zuerst in seinen Beiträgen zur Geschichte des Geschmackes und der Kunst aus Münzen (1767) und dann noch einmal in Über den Nutzen und Gebrauch der alten geschnittenen Steine (1768), mit der in Laokoon XIX vorgetragenen Meinung auseinandersetzte, die Perspektive sei „den Alten gänzlich abzusprechen“. Dieser Frage, die nur einen kleinen Teil der Polemik ausmacht, hat Lessing immerhin fünf seiner Briefe, antiquarischen Inhalts (1768 – 1769) gewidmet – als Antwort auf die zu Beginn des 9. Briefs konstatierte Ansicht des Gegners: „Er will durchaus nicht leiden, daß man den alten Artisten die Perspektiv abspricht.“⁷⁴ Die polemische, oft in beleidigendem Ton geführte Fehde um philologische und antiquarische Details interessiert hier nur insofern, als Lessing zur Klärung seines Standpunkts zwei Arten der Perspektive unterschieden hat, die noch zwei Jahrhunderte später auch für Erwin Panofskys kunstgeschichtliche Untersuchung des Perspektive-Problems bestimmend gewesen sind:⁷⁵ Die Perspektive im weiteren Sinne, wie sie auch schon der Antike bekannt war, ist „die Wissenschaft, Gegenstände auf einer Fläche so vorzustellen, wie sie sich in einem gewissen Abstande unserem Auge zeigen“, und die Perspektive „in dem engern Verstande, in welchem die Künstler dieses Wort nehmen“: Die Künstler aber verstehen darunter die Wissenschaft, mehrere Gegenstände mit einem Teile des Raums, in welchem sie sich befinden, so vorzustellen, wie diese Gegenstände, auf verschiedne Plane des Raums verstreuet, mit samt dem Raume, dem Auge aus einem und eben demselben Standorte erscheinen würden.⁷⁶

Nachdem Lessing inzwischen auch die wichtigsten Zeugnisse antiker PerspektiveKenntnis, das 8. Theorem in Euklids Optika (300 v. Chr.) und das Prooemium zum 7. Buch von Vitruvs De architectura (30 – 15 v. Chr.), kennengelernt hat, erlaubt ihm die grundsätzliche Unterscheidung der beiden Perspektive-Begriffe, seinen Standpunkt so weit zu differenzieren, daß er der antiken Malerei die perspektivische Verkleinerung entfernter Gegenstände zugesteht, ohne ihr die zu diesem Zweck eingeführte Bedingung der Perspektive im engeren Sinne, nämlich die

 Lessing, Briefe, antiquarischen Inhalts, in: Lessing, Werke, Bd. 6, 189 – 399, S. 213.  Erwin Panofsky, Die Perspektive als „symbolische Form“, in: Panofsky, Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, hrsg. v. Hariolf Oberer und Egon Verheyen, Berlin: Spiess 31980, 99 – 168, S. 127, Anm. 5.  Lessing, Briefe, antiquarischen Inhalts, S. 215.

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„Einheit des Gesichtspunkts“, einräumen zu müssen, auf die es ihm nun vorrangig ankommt.⁷⁷ Lessing wiederholt noch einmal auch im 10. Brief, antiquarischen Inhalts den Gedanken, „daß ein Gemälde die verhältnismäßige Verkleinerung der Figuren und die Verminderung der Tinten gut genug haben, und dennoch nicht perspektivisch sein könne; falls ihm die Einheit des Gesichtspunkts fehlt“.⁷⁸ Über dieses zentrale Argument der Standortgebundenheit kritischer Aussagen hat sich das Funktionsverhältnis von Malerei und Dichtung umgekehrt: Sollte ursprünglich, im ersten Entwurf des Laokoon, die Perspektive der Malkunst als analoges Bild für perspektivische Dichtkunst dienen („Was ist also die Perspektiv des Dichters?“), so erweist sich nun der dramatische Perspektivismus, der vom vereinheitlichenden Standort des Zuschauers ausgeht, als Vorbild für die Begriffsbestimmung der Perspektive in der Malerei. Diese folgenreiche Umkehrung des horazischen Prinzips ut pictura poesis, die so wichtig ist für die metaphorische Rede vom Geschichtsbild, hat Lessing auch über seinen Lehrmeister Mendelssohn hinausgeführt. Während dieser seine Definition der Perspektive als „Nachahmung der Natur in Ansehung der Distanzen“ nur auf die beiden seit der Renaissance anerkannten Prinzipien der Linear- und Luftperspektive beschränkt hatte, hat Lessing sein neues, im dramaturgischen Zusammenhang entwickeltes Hauptkriterium zur Bedingung der beiden anderen gemacht: „Ein vielfacher Gesichtspunkt hebt nicht allein die Einheit in der Erscheinung der Formen, sondern auch die Einheit der Beleuchtung schlechterdings auf.“⁷⁹ Wenn Lessing der perspektivischen Malerei die Befolgung von drei Einheiten vorschreibt, sie also im Bild dramaturgischer Regeln definiert, als wäre sie nur eine Variante des auf den einen Gesichtspunkt des Zuschauers zugeschnittenen Bühnengeschehens, so hat dieser Grundsatz ein überraschendes Vorbild ausgerechnet in Alexander Pope, dem Lessing in dieser Frage Ignoranz vorgeworfen hatte; denn es war Pope, der in seinen Observations on the Shield of Achilles die Übertragung der drei Einheiten auf die Malerei gefordert und damit die Einheit des Gesichtspunkts für die Bestimmung der Perspektive etabliert hatte: „What the criticks call the three unities, ought in reason as much to be observed in a picture as in a play; each should have only one principal action, one instant of time, and one point of view.“⁸⁰ Die Forderung nach „one point of view“ in Form einer dramatischen „unity“ entspricht so sehr Lessings Forderung nach der „Einheit des Gesichtspunkts“, daß man sich über die polemische Zurückweisung angesichts der möglichen Übereinstimmung nur wundern kann. Es sieht so aus, als bean   

Ebd., S. 216. Ebd., S. 221. Ebd. Pope, Observations on the Shield of Achilles, S. 116.

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spruchte Lessing für sich das Alleinvertretungsrecht, wenn er seine zentrale These, die er gegen Klotz und andere polemisch abzusichern versuchte, immer wiederholt, so auch in Laokoon XIX: „Die bloße Beobachtung der optischen Erfahrung, daß ein Ding in der Ferne kleiner erscheinet, als in der Nähe, macht ein Gemälde noch lange nicht perspektivisch. Die Perspektiv erfordert einen einzigen Augenpunkt, einen bestimmten natürlichen Gesichtskreis, und dieses war es was den alten Gemälden fehlte.“⁸¹ Aber selbst der selbstbewußte Lessing suchte für seine These den Beifall eines der bekanntesten Experten der Perspektive dieser Jahre: Johann Heinrich Lambert, dessen Handbuch Freye Perspective, oder Anweisung, jeden perspektivischen Aufriß von freyen Stücken und ohne Grundriß zu verfertigen (1759) das mit Brook Taylors New Principles of Linear Perspective (1719) konkurrierende Standardwerk zur Anweisung perspektivischer Zeichnung war. Nachdem er in einem Brief vom 28. September 1768 Friedrich Nicolai gebeten hatte, bei Lambert vorzufühlen, was dieser von Lessings Erörterungen zum Thema der Perspektive halte („Allerdings ist mir sein Beifall nicht gleichgültig“),⁸² hat ihn sogar die beiläufig auf einen Zettel geschriebene lapidare Antwort Lamberts offenbar so erfreut, daß er sie als Zitat in seine Kollektaneen aufgenommen hat: „Die Probebogen sind ihres Verfassers und des Lesens würdig. Die Untersuchung von der Perspektiv, ihrem ersten Erfinder etc. könnte lehrreich und wichtig erscheinen. H. L. [Herr Lessing] hat unstreitig Recht.“⁸³ Begeisterter Beifall klingt freilich anders. Allerdings hat Lambert daraufhin in die zweite Auflage (1774) seines Hauptwerks einen knappen Abriß über „die Geschichte der Perspektive“ aufgenommen, der in Johann Georg Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste (1774) sofort als einzige gültige historische Darstellung empfohlen – und gleichwohl in der nächsten Auflage von 1786 durch eine eigene Geschichte der Perspektive ersetzt – wurde.⁸⁴ Damit war die Anerkennung der Perspektive in der öffentlichen Diskussion inzwischen so weit fortgeschritten, daß die Beiträge von Wieland (Über eine Stelle des Cicero, die Perspektiv in den Werken der Griechischen Mahler betreffend, 1774) und Karl

 Lessing, Laokoon, S. 128.  Lessing, Brief an Friedrich Nicolai, 28. September 1768, zitiert im Kommentar zu den Kollektaneen, in: Lessing, Werke, Bd. 6, S. 1025.  Lessing, Aus den Kollektaneen, in: Lessing, Werke, Bd. 6, 756 – 818, S. 809 (Perspectiv).  Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln. Neue vermehrte zweyte Auflage. Dritter Theil, Leipzig: Weidmannsche Buchandlung 1793, S. 683. Sulzers Abriß der Geschichte der Perspektive findet sich ebd. auf S. 670 – 686.

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Philipp Moritz (Grundlinien zu einer Gedankenperspektive, 1789) nur noch den Platz von Nachzüglern einnahmen.⁸⁵ Die nach der Mitte des 18. Jahrhunderts schnell ausufernde Streitfrage, ob die Griechen schon die Perspektive gekannt haben, ist exemplarisch für das der Diskussion implizite Prinzip der Geschichtlichkeit. Wer an der, im Sinne Nietzsches, ‚monumentalischen‘ Ansicht der zeitlos gültigen Antike und ihrer Vorbildfunktion festhalten wollte, mußte ihr auch die Kenntnis der Perspektive zugestehen, also ausgerechnet das Prinzip der Historizität, das ihren Untergang besiegeln würde. Wer andererseits, im Bewußtsein solcher Paradoxie, den Perspektivismus als Folge der Renaissance und der säkularen Individualisierung versteht, mußte in dem daraus abgeleiteten historischen Bewußtsein die Bedingung der Möglichkeit von Moderne erkennen. Wie erregt das Scharmützel von Philologen, Philosophen, Historikern, Kunsthistorikern, Altertumsforschern und Literaturkritikern auch geführt wurde und wie ‚antiquarisch‘ im Sinne Nietzsches auch dessen Nachzeichnung heute wirken muß, die Streitfrage, ob die Griechen die Perspektive gekannt und angewandt haben oder nicht, fand auf einem Nebenschauplatz des eigentlichen Problems statt. Lessings Betonung der Zeitstruktur perspektivischer Darstellung und der daraus resultierenden Sequenzierung gleichzeitiger Vorgänge wirft für die Entwicklung historischen Denkens und die historiographische Darstellung der Vergangenheit grundlegende Fragen auf, von denen hier nur einige angedeutet werden können: Wie reflektiert historisches Denken die Übertragung des Perspektive-Modells von der Malerei auf Dichtung und Geschichtsschreibung? Wie geht die historische Erzählung, die die Zeitfolge als ihr eigenstes Medium sprachlicher Darstellung entdeckt hat, mit der Analogie der Malkunst (ut pictura) um, der sie so lange nachgeordnet war? Wie ‚malt‘ sie historische ‚Szenen‘ aus, wenn sie die räumliche Vorstellung zeitlicher Umbrüche bedient? Wie bewußt ist sie sich der Metaphorisierung des ‚Bildes‘, das sie von der Geschichte ‚gemalt‘ hat, bevor sie das räumliche Bild zeitlich aufbrechen mußte? Wie ‚malt‘ sie historische ‚Szenen‘ aus, die sie für die räumliche Vorstellung zeitlicher Umbrüche aufbereitet? Wie ‚inszeniert‘ sie Geschichte in simulierten Handlungsabläufen und Dialogen, um die Erwartung der Zuschauer und Leser zu bedienen? Wie reflektiert die historische Erzählung vor dem Hintergrund der Linien- und der Luftper-

 Für eine noch ausführlichere Darstellung vgl. Hinrich C. Seeba, „Der wahre Standort einer jeden Person“. Lessings Beitrag zum historischen Perspektivismus, in: Nation und Gelehrtenrepublik. Lessing im europäischen Zusammenhang, Sonderband zum Lessing Yearbook, hrsg. v. Wilfried Barner und Albert M. Reh, Detroit: Wayne State University Press / München: edition text + kritik 1984, 193 – 214. Der letzte Teil des vorliegenden Kapitels folgt großenteils dem Argument und bisweilen auch dem Wortlaut des genannten Aufsatzes.

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spektive die Nachordnung der entfernteren und darum entsprechend verkleinert und verschwommen dargestellten Gegenstände der Geschichte? Wie selbstkritisch geht die historische Erzählung mit der Aufwertung des ‚Gesichtspunkts‘ um, der die Vergrößerung und Verkleinerung der Gegenstände steuert? Welche Interessen sind am Werk, wenn die Akzente zwischen Vordergrund- und Hintergrundgeschehen neu gesetzt, die Unterschiede von nah und fern, groß und klein, wichtig und nebensächlich neu geordnet werden? Was geschieht mit der ‚Ansicht‘ der Gegenstände, wenn sich der Gesichtspunkt horizontal vervielfältigt, weil die auf der Bühne der Historiographie inszenierte Geschichte nicht für alle Zuschauer derselben Zeit auch dieselbe ist, und wenn sich der Gesichtspunkt auch vertikal verschiebt, weil jede Zeit das Schauspiel anders inszeniert und anders betrachtet? Wie vertrauenswürdig ist der Anspruch auf eine sachgerechte Behandlung des historischen Gegenstands, wenn dieser in verschiedenen und einander widersprechenden ‚Bildern‘ gegenwärtig ist? Wie rückt die angestrebte historische Wahrheit in die Ferne der Unerreichbarkeit, wenn das neue Ethos der Wissenschaft in der Wahrheitssuche liegt? Wie wird die perspektivisch relativierte und dadurch fraglich gewordene historische Wahrheit durch eine poetische Wahrheit ersetzt, die mehr Einsicht in die Bedeutung eines Geschehens beansprucht, als ein bloßer Tatsachenbericht leisten könnte? Alle diese Fragen zielen auf eine Ästhetisierung historischen Denkens, für die Chladenius mit dem Sehe-Punkt und, in einem unvergleichlich umfangreicheren Projekt, Lessing mit dem Gesichtspunkt die Grundlage geschaffen haben. Zwischen dem hermeneutischen Ansatz von Chladenius und dem dramaturgischen Ansatz von Lessing spannt sich ein großes Spektrum letztlich epistemologischer Fragen. Wenn die Frage des Sultans (in Nathan der Weise) nach der wahren Religion eigentlich eine Frage nach der Wahrheit überhaupt ist, dann besteht die Weisheit der Antwort darin, daß sie in das Bild einer Geschichte gekleidet wird. Die epistemologische Moral der als Ringparabel exemplifizierten Geschichte liegt in der Parabelhaftigkeit sowohl des perspektivischen Darstellungszusammenhangs (story) als auch des Ereigniszusammenhangs selbst (history).

3 Johann Gottfried Herder – Geschichte als Sprachbild des Dramas Noch bevor Lessing seinen epistemologischen Beitrag zur Ästhetisierung historischen Denkens, der aus einem theologischen Disput hervorging, 1779 mit der Ringparabel in Nathan der Weise abgeschlossen hat, ist ihm Herder 1774 mit einer Schrift vorausgegangen, deren Titel Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit zu denken gibt. Für das Bildungsprojekt, um das es eigentlich geht, wird so ganz nebenbei „auch“ eine Philosophie der Geschichte beansprucht, in der es „auch“ um die Ästhetik der Geschichtsschreibung geht. Diese Philosophie ist, was der Titel nicht verrät, eine sprachphilosophische Begründung desselben historischen Denkens, das in diesen Jahren, ein ganzes Jahrzehnt vor Schiller, sowohl den Theologen Herder als auch den Kunsthistoriker Winckelmann und den Literaturkritiker Lessing beschäftigt hat.¹ Winckelmann hatte 1764 die Leser seiner Geschichte der Kunst des Altertums damit überrascht, daß er die im Titel angekündigte Geschichte als „Versuch eines Lehrgebäudes“ auch in theoretischer Absicht konzipiert hat.² Herder hat diesen Anspruch im Älteren kritischen Wäldchen (1767) aufgegriffen, um zu bestimmen, wann eine Geschichte zugleich ein Lehrgebäude ist: der „Zusammenordner vieler Begebenheiten zu einem Plan, zu einer Absicht“ sei „der wahre historische Künstler, Maler eines großen Gemäldes von der trefflichsten Komposition: der ist historisches Genie, der ist der wahre Schöpfer einer Geschichte! Und ist das, so ist Geschichte und Lehrgebäude eins!“³ Geschichte wird also ein Lehrgebäude nur

 Das vorliegende Kapitel ist die revidierte und wesentlich erweiterte Fassung eines Aufsatzes, vgl. Hinrich C. Seeba, Geschichte als Dichtung. Herders Beitrag zur Ästhetisierung der Geschichtsschreibung, in: Storia della Storiografia. Rivista Internazionale 8 (1985), 50 – 72. Vgl. auch Hinrich C. Seeba, Word and Thought: Herder’s Language Model in Modern Hermeneutics, in: Johann Gottfried Herder, Innovator Through the Ages, hrsg. v. Wulf Koepke in Zusammenarbeit mit Samson B. Knoll, Bonn: Bouvier 1982 (= Modern German Studies 10), 35 – 40; Hinrich C. Seeba, Das geheime Wort: Zur heilsgeschichtlichen Kodierung eines Risikos, in: Konterbande und Camouflage: Szenen aus der Vor- und Nachgeschichte von Heinrich Heines marranischer Schreibweise. Festschrift für Klaus Briegleb, hrsg. v. Stephan Braese und Werner Irro, Berlin: Verlag Vorwerk 8 2002, 75 – 93; Hinrich C. Seeba, Der Turmbau zu Babel. Zur Konstruktion sprachlicher Differenz, in: Seeba, Denkbilder. Detmolder Vorträge zur Kulturgeschichte der Literatur, Bielefeld: Aisthesis 2011, 229 – 242.  Johann Joachim Winckelmann, Geschichte der Kunst des Altertums, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1972, S. 9.  Johann Gottfried Herder, Älteres kritisches Wäldchen [1767], in: Herder, Werke in zehn Bänden, Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767 – 1781, hrsg. v. Gunter E. Grimm, Frankfurt am https://doi.org/10.1515/9783110679878-005

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dann, wenn der Historiker, im Unterschied zum bloßen Annalisten und historischen Raisonneur ein wahrer Künstler, die Begebenheiten ordnet und ihnen eine „Absicht“ und einen „Plan“ unterlegt. Die Genialität des Historikers besteht also darin, daß er die Geschichte, indem er sie komponiert, überhaupt erst schafft und mit der Thematisierung der Komposition ein Lehrgebäude errichtet, das auch das theoretische Verständnis der Geschichte befördert. Im selben Jahr 1767 hat Herder, nun im ausdrücklichen Anschluß an Winckelmanns Kunstgeschichte, schon sehr früh eine analoge Literatur- und Philosophiegeschichte gefordert, die als literarisches Modell für „den Ursprung, das Wachstum, die Veränderungen und den Fall“ auch der allgemeinen Geschichte dienen könnte: Wo ist aber noch ein Deutscher Winkelmann, der uns den Tempel der Griechischen Weisheit und Dichtkunst so eröfne, als er den Künstlern das Geheimniß der Griechen von ferne gezeigt? Ein Winkelmann in Absicht auf die Kunst konnte blos in Rom aufblühen; aber ein Winkelmann in Absicht der Dichter kann in Deutschland auch hervortreten, mit seinem Römischen Vorgänger einen großen Weg zusammen thun. Diese Geschichte der Griechischen Dichtkunst und Weisheit, zwei Schwestern, die nie bei ihnen getrennt gewesen, soll den Ursprung, das Wachstum, die Veränderungen und den Fall derselben nebst dem verschiedenen Stil der Gegenden, Zeiten und Dichter lehren, und dieses aus den übrig gebliebnen Werken des Alterthums durch Proben und Zeugnisse beweisen. Sie sei keine bloße Erzälung der Zeitfolge und der Veränderung in derselben, sondern das Wort Geschichte behalte seine weitere Griechische Bedeutung, um einen Versuch eines Lehrgebäudes liefern zu wollen.⁴

Mit dem letzten Satz zitiert Herder fast wörtlich Winckelmanns Absichtserklärung im ersten Satz der Vorrede zu seiner Geschichte der Kunst des Altertums: „Die Geschichte der Kunst des Altertums, welche ich zu schreiben unternommen habe, ist keine bloße Erzählung der Zeitfolge und der Veränderungen in derselben, sondern ich nehme das Wort Geschichte in der weiteren Bedeutung, welche dasselbe in der griechischen Sprache hat, und meine Absicht ist, einen Versuch

Main: Deutscher Klassiker Verlag 1993, 11– 55, S. 15. Dieser in der Suphan-Ausgabe fehlende Text aus dem Vorläufer der Kritischen Wälder, aus dem Rudolf Haym schon 1880 zitiert hat (Herder nach seinem Leben und seinen Werken dargestellt, Bd. 1, Berlin: Rudolph Gaertner 1880, S. 226), wurde erst von Hans Dietrich Irmscher mitgeteilt; vgl. Irmscher, Probleme der Herder-Forschung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 37 (1963), 266 – 317, S. 291.  Herder, Ueber die neuere Deutsche Literatur. Zwote Sammlung von Fragmenten [1767], in: Herder, Sämtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd. 1 [reprogr. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1877], Hildesheim: Olms 1967, 241– 356, S. 294.

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eines Lehrgebäudes zu liefern.“⁵ Wie Winckelmann spielt Herder auf die Einführung des Geschichtsbegriffs durch Thukydides an, der Geschichte als Erforschung des Vergangenen verstanden hat (griech. ιστορειν/historein = forschen), um aus dieser erweiterten Bedeutung des Begriffs das „Lehrgebäude“ abzuleiten: Geschichte als Lehre der erforschten und planvoll komponierten Begebenheiten der Vergangenheit. Obwohl Lessing in seiner Schrift Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) bereits eine poetologisch-epistemologische Grenze zwischen der Räumlichkeit der Malerei im Nebeneinander und der Zeitlichkeit der Dichtung im Nacheinander gezogen hat, hält Herder zunächst noch, entsprechend dem horazischen Prinzip ut pictura poesis, an der malenden Poesie des Historikers fest, wenn er, geleitet von der Analogie zur Kunst in Winckelmanns Konzept, den Historiker als Darsteller zeitlicher Abläufe „Maler eines großen Gemäldes von der trefflichsten Komposition“ nennt. Dieselbe Metapher klingt auch später, in einem Abschnitt der Bückeburger Abhandlung Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit an, wenn er die Mittel der historischen Darstellung in Frage stellt: Niemand in der Welt fühlt die Schwäche des allgemeinen Charakterisierens mehr als ich. Man malet ein ganzes Volk, Zeitalter, Erdstrich – wen hat man gemalt? Man fasset auf einander folgende Völker und Zeitläufte, in einer ewigen Abwechslung, wie Wogen des Meeres zusammen – wen hat man gemalt? wen hat das schildernde Wort getroffen? – Endlich man faßt sie doch in nichts als ein allgemeines Wort zusammen, wo jeder vielleicht denkt und fühlt, was er will – unvollkommenes Mittel der Schilderung! wie kann man mißverstanden werden!⁶

Nun ist die Wirkung von Lessings Unterscheidung unverkennbar: Der Historiker ‚malt‘ und fixiert die ‚ewige Abwechslung‘ in einem Sprachbild, das ganz willkürlich gedeutet werden kann, weil es „auf einander folgende Völker und Zeitläufte“ in den Schein gemalter Gleichzeitigkeit zwingt. Die früher gepriesene Komposition historischer Begebenheiten ist nun nicht mehr unzweifelhaft. Mißverständnisse entstehen, wenn „die Schwäche des allgemeinen Charakterisierens“ nicht reflektiert und wenn die sprachliche Zusammenfassung der vielfältigsten Entwicklungen nicht als interpretierende Vereinheitlichung erkannt wird, d. h. wenn verkannt wird, wie unvollkommen „die Mittel der Schilderung“ sind und wie stark die grundsätzlich perspektivische Darstellung den Gegenstand

 Winckelmann, Geschichte der Kunst des Altertums, S. 9.  Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit [1774], Nachwort von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967, S. 36.

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prägt. Im Rahmen des von Herder favorisierten Entwicklungsgedankens ist solche Relativierung vermeintlich unmißverständlicher Darstellung die Folge der von Lessing angestoßenen Temporalisierung von Geschichte.⁷ Die Entwicklung im Nacheinander der Zeitfolge ist Gegenstand und, weil sie planvoll vorgeht, Aufgabe einer Geschichtsschreibung, die sich der Mittel ihrer Darstellung bewußt werden muß. Herder, der zuerst von Dilthey als „der Begründer unserer historischen Schule“ gefeiert wurde,⁸ hat, um Mißverständnissen vorzubeugen, beunruhigende Fragen aufgeworfen, die auf eine Hermeneutik der Geschichte hinauslaufen. Er hat Gewißheiten der späteren Historischen Schule in Frage gestellt, lange bevor Herder als ihr Gründungsvater vereinnahmt werden konnte. In Herders Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, diesem „großartigen Grundbuch des Historismus“ (Rudolf Stadelmann)⁹ und „Grunddokument des werdenden Historismus“ (Theodor Litt),¹⁰ sah der maßgebliche Historiker des Historismus, Friedrich Meinecke, „das Höchste, was er als historischer Denker und Bahnbrecher des Historismus geleistet hat“.¹¹ Gerade hier aber weicht Herder von Rankes Grundformel des späteren Historismus, der Historiker solle „blos zeigen, wie es eigentlich gewesen“, entschieden ab.¹² In der Nachfolge Winckelmanns, der unter Geschichtsschreibung ausdrücklich „keine bloße Erzählung der Zeitfolge“ versteht, hätte sich Herder nicht damit begnügen können, nur in der bloßen Erzählung des Gewesenen ein neues Wissenschaftsideal anzuerkennen. Wie Lessing, der mit seiner Ringparabel den Begriffszusammenhang von ‚Erzählung‘ und ‚Geschichte‘ problematisiert hat, geht es auch Herder um ein sprachbewußtes Verständnis der historischen Erzählung. Er hat das am Ende der zitierten Passage befürchtete Mißverständnis daraus abgeleitet, daß die allgemeine Sprache einen besonderen Gegenstand zu treffen und treffend zu schildern

 Vgl. Stephan Jaeger, Performative Geschichtsschreibung. Forster, Herder, Schiller, Archenholz und die Brüder Schlegel, Berlin/Boston: De Gruyter 2011 (= Hermaea 125), bes. S. 141– 148 (Unterkap. „Herders Temporalisierung von Geschichte“).  Wilhelm Dilthey, Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik [1887], in: Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. VI, Stuttgart: Teubner / Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 41962, 103 – 241, S. 120.  Rudolf Stadelmann, Der historische Sinn bei Herder, Halle (Saale): Niemeyer 1928, S. 28.  Theodor Litt, Die Befreiung des geschichtlichen Bewußtseins durch J. G. Herder, Leipzig: Seemann 1942, S. 82.  Friedrich Meinecke, Werke, hrsg. v. Hans Herzfeld, Carl Hinrichs und Walther Hofer, Bd. 3: Die Entstehung des Historismus [1936], München: Oldenbourg 21965, S. 358.  Leopold von Ranke, Vorrede, in: Ranke, Sämmtliche Werke, Bd. 33: Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514, Leipzig: Duncker & Humblot 21874, I–VIII, S. VII.

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versucht und daß sie vorgibt, ganze Völker und ganze Zeitalter in ihrer Folge zu erfassen, tatsächlich aber immer nur Aspekte der Zeitläufte, beschränkte Ansichten der Geschichte geben kann, über die man sich erst verständigen muß, damit der Anspruch auf Vollständigkeit nicht mißverstanden wird. Herder ist es also schon bei der Begründung des erweiterten Geschichtsbegriffs darum zu tun, die in der Sprache, diesem „unvollkommenen Mittel der Schilderung“, angelegte Willkür bildlicher Interpretation von Geschichte bloßzustellen. Weil uns immer nur Bilder der Geschichte vorliegen, interpretationsbedürftige Interpretationen, müssen wir uns immer wieder die Frage nach dem intendierten, aber nur perspektivisch erfaßten Gegenstand der Geschichtsschreibung vorhalten: „wen hat man gemalt? wen hat das schildernde Wort getroffen?“ Von wem und wovon sprechen wir also, wenn wir von ‚Geschichte‘ reden? Inwiefern sind die Zeitläufte, die wir für Geschichte ausgeben, weniger vorgegebene Zusammenhänge, die nur nachgezeichnet zu werden brauchen, als vielmehr, wie Herder gleich zweimal in der kurzen Passage nahelegt, ‚Zusammenfassungen‘, historische Synthesen also zu einem Bild, das den Maler ebenso charakterisiert wie den gemalten Gegenstand? Und welche Rolle spielen – grundsätzlich und spezifisch in Herders eigenen dithyrambischen Wortkaskaden – die sprachlichen Bilder, die für die Verbildlichung der Geschichte unentbehrlichen Metaphern? Während auf amerikanischer Seite Hayden White („The Historical Text as Literary Artifact“, 1978) mit seiner Theorie des emplotment hervortrat, um die literarische Konstruktion der historiographischen Erzählung zu unterstreichen,¹³ wurde zur selben Zeit auf deutscher Seite die Rolle der Metaphern in der Geschichtsschreibung von Alexander Demandt (Metaphern für Geschichte, 1978) hervorgehoben. Beide haben das Bewußtsein für die Ästhetik der Geschichtsschreibung geschärft und damit auch für eine Neubewertung Herders den Weg bereitet: „Nachdem Leibniz 1707 die goldene Kette Homers als Sinnbild des universalen Kausalzusammenhangs aufgenommen hat, erscheint die antike Metaphorik von Faden, Kette und Geflecht in ihrer ganzen Bandbreite wieder bei Herder.“¹⁴ Die dem antiken Mythos entlehnten Bilder der Schicksalskette (Parzen) und des Lebensfadens (Ariadne) sind in Herders Zeit gebräuchliche Topoi, die auch dem Bild der historischen ‚Entwicklung‘ zugrundeliegen; sie suggerieren einen Zusammenhang, den nachzuzeichnen oder herzustellen die Aufgabe des Historikers ist: „Metaphern für Geschichte stillen ein Sinnbedürfnis, das aus dem  Hayden White, The Historical Text as Literary Artifact, in: The Writing of History. Literary Form and Historical Understanding, hrsg. v. Robert H. Canary und Henry Kozicki, Madison/ London: The University of Wisconsin Press 1978, 41– 62.  Alexander Demandt, Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historischpolitischen Denken, München: Beck 1978, S. 315.

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Wunsch nach Einheit der Welt erwächst.“¹⁵ Die Diachronisierung der als sinnvoll gedachten Einheit erfolgt im Bildbegriff der ‚Entwicklung‘, den nur ein so sprachbewußter Geschichtsdenker wie Herder wörtlich nehmen konnte – als Metapher, die vor allem für das organologische Geschichtsdenken so wichtig werden sollte und die schließlich als Darwins Begriff der Evolution das moderne Weltbild revolutioniert hat.¹⁶ Da Herder von der frühen Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) bis zur Auseinandersetzung mit Kant in der Metakritik (1799) immer wieder die Sprachlichkeit des Denkens betont hat,¹⁷ kann es nicht verwundern, wenn er auch an der eher unauffälligen Stelle seiner Bückeburger Schrift mehr von den Problemen historischer Darstellung und der Verständigung darüber als von der Geschichte selbst spricht. Bemerkenswert daran ist, daß sich hier bereits vor Kant die Reflexion auf die Vorstellungsweise vor die Vorstellungsinhalte schiebt und daß Herder, gewissermaßen über Kant hinausgehend, der impliziten Erkenntniskritik schon eine hermeneutische Wendung gibt; denn erst wenn die Sprache als allgemeingültiges und untrügliches System, das für jeden Gebrauch einfach abgerufen werden kann, fraglich wird, erhält die Erkenntniskritik Kants ihre notwendige Ergänzung in der von Herder vertretenen, auf der Sprachlichkeit und Geschichtlichkeit des Verstehens beruhenden Hermeneutik. Herders erkenntnisskeptische Fragen verweisen auf das Spannungsverhältnis von philosophischer Abstraktion und ästhetischer Anschaulichkeit, das den Geschichtsbegriff, wie er seit der Mitte des 18. Jahrhunderts geläufig ist, von Anfang an bestimmt hat. Einerseits entstand der Begriff der ‚Geschichte‘, als sich der Plural von Einzelgeschichten (stories im Sinn der Erzählung von Geschehenem) zum Kollektivsingular ‚Geschichte an sich‘ (history im Sinn prinzipieller Geschehensstrukturen) verdichtete und damit die beginnende Geschichtsphilosophie erst ihren spekulativen Gegenstand erhielt.¹⁸ Und andererseits war die spekulative

 Ebd., S. 450.  Tatsächlich verweist die Metapher ‚Entwicklung‘, übersetzt aus dem lat. evolutio, auf das Auseinanderrollen der antiken Buchrolle (lat. volumen) zum Zweck der Lektüre; vgl. ebd., S. 391 f.  Vgl. Seeba, Word and Thought; Siegfried J. Schmidt, Sprache und Denken als sprachphilosophisches Problem von Locke bis Wittgenstein, Den Haag: Nijhoff 1968, bes. S. 36 – 66; Stephan Jaeger und Stefan Willer (Hrsg.), Das Denken der Sprache und die Performanz des Literarischen um 1800, Würzburg: Königshausen & Neumann 2000.  Vgl. Reinhart Koselleck, Wozu noch Historie?, in: Seminar: Geschichte und Theorie. Umrisse einer Historik, hrsg. v. Hans Michael Baumgartner und Jörn Rüsen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, 17– 35, S. 23. Vgl. im selben Sammelband auch Jürgen Habermas, Über das Subjekt der Geschichte. Diskussionsbemerkung zu falsch gestellten Alternativen, in: ebd., 388 – 396, S. 392: „Der Kollektivsingular ‚die Geschichte‘ verdankt sich der Bezugnahme auf ein fiktives

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Ansicht der Geschichte von vornherein auf die Perspektivität ihres Ansatzes verwiesen, wobei der ästhetischen Perspektivierung historischen Denkens nicht nur die Begründung der Kunstgeschichte durch Winckelmann (1755/1764) und die Erneuerung der Dramaturgie durch Lessing (1766/1768) zu verdanken sind, sondern – in der Auseinandersetzung mit Winckelmann und Lessing – auch die Grundlegung des modernen Geschichtsbewußtseins durch Herder. Schon 1742, im wohl frühesten Wortbeleg für den abstrakten Geschichtsbegriff, hatte Johann Martin Chladenius in seiner Einleitung zur richtigen Auslegung vernünfftiger Reden und Schrifften, dem Grundbuch der historischen Hermeneutik, gemeint, „nicht die Geschichte an sich, sondern die Vorstellung der Geschichte, welche einem andern nicht einleuchten will, brauchet einer Auslegung“,¹⁹ und zugleich mit seiner Theorie des „Sehepunkts“ zu erklären versucht, daß „wir ein solch Bild, und kein anderes von der Sache bekommen“,²⁰ weil „Personen, die eine Sache aus verschiedenen Sehe-Puncten ansehen, auch verschiedene Vorstellungen von der Sache haben müssen.“²¹ In der Auseinandersetzung mit Winckelmanns Geschichtsbegriff hat sich Herder, wie er im Denkmahl Johann Winkelmanns (1777) zu erkennen gibt, davon überzeugt, daß es keine andere als perspektivische Vorstellung und Darstellung der Geschichte geben kann: Ich sehe doch schon immer von diesem Ganzen aus meinem Gesichtspunkt nach meinem Auge nur Eine Fläche und Seite und in solcher zeichne ich den an sich vielseitigen Körper projektirt hin: d.i. ich schreibe nur Geschichte, wie sie mir erscheinet, wie ich sie weiß.²²

Die Flächenprojektion eines mehrdimensionalen Gegenstands („Körper“) ist, kompliziert durch die – in Lessings Laokoon (1766) diskutierte – räumliche Verbildlichung eines zeitlichen Vorgangs („Geschichte“), das Modell des PerspektiIndividuum in überlebensgroßem Format, als dessen Bildungsprozeß die Geschichte vorgestellt wird. Diese projektive Erzeugung höherstufiger Subjektivitäten erklärt sich wohl aus der Übertragung des in der Philosophie fortlebenden naturmythischen Einheitsdenkens auf die Sphäre der Geschichte.“  Johann Martin Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünfftiger Reden und Schrifften [photomech. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1742], Düsseldorf: Stern-Verlag Janssen 1969, S. 195. Angesichts dieses frühen Wortbelegs von 1742 muß Kosellecks vielzitierte Aussage „Erst seit 1770 kann man den früher unaussprechbaren Gedanken formulieren: die Geschichte an sich“ (Koselleck, Wozu noch Historie?, S. 23) korrigiert werden.  Chladenius, Einleitung, S. 188.  Ebd., S. 189.  Herder, Denkmahl Johann Winkelmanns [1777], in: Herder, Sämtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd. 8 [reprogr. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1892], Hildesheim: Olms 1967, 437– 483, S. 466.

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vismus, das der bildlichen Rede vom ‚Geschichtsbild‘ und seiner ästhetischen Konstruktion zugrundeliegt: „Kanns ein allgemeines Bild ohne Untereinanderund ohne Zusammenordnung? kanns eine weite Aussicht geben ohne Höhe?“ So fragt Herder in der Bückeburger Abhandlung, die gerade diesen ‚Höhepunkt‘ geschichtsphilosophischer Betrachtung zu bestimmen versucht: „Wenn du das Angesicht dicht an dem Bilde hältst, an diesem Spane schnitzelst, an jenem Farbklümpchen klaubest: nie siehest du das ganze Bild – siehest nichts weniger als Bild!“²³ Die an den Geschichtsschreiber gerichtete Frage „wen hat man gemalt?“ kann also, so scheint es, nur wie folgt beantwortet werden: Gemalt hat man nicht den Gegenstand, sondern nur seine eigene Ansicht, eine Vorstellung davon, nicht die Geschichte, sondern nur ein, das eigene Bild der Geschichte. Anders als noch für Chladenius ist für Herder die perspektivische Beschränkung des Geschichtsbildes vornehmlich ein Sprachproblem; denn alle Aussagen sind, da die Sprache insgesamt nur als Bild der Inhalte gesehen wird, die sie evoziert, nur vorläufige und einseitige Andeutungen der Bildvorstellung, die sich der Sprecher von den intendierten Inhalten macht. Deshalb scheint unter der sprachphilosophischen Voraussetzung, daß der Mensch „ohne Sprache […] keine Vernunft und ohne Vernunft keine Sprache“ hat²⁴ und daß er „spricht, indem er denket“,²⁵ die metaphorische Rede die einzig mögliche Denkform zu sein. Die oft verwirrende Metaphernfülle, die Herders Argumentation charakterisiert, ist deshalb viel mehr als nur eine Stilfrage,²⁶ sie ist Ausdruck und Kern des Sprachproblems, von dem nicht abstrahiert werden kann. Im Zuge der Verschiebung vom rhetorischen (Gottsched) zum eher hermeneutischen (Hamann) Metaphernverständnis ist auch für Herder die Metapher kein entbehrlicher Schmuck der Rede, sondern ein notwendiges Medium des Gedankens.²⁷ Deshalb kann auch die Antwort auf die Frage nach dem Gegenstand

 Herder, Auch eine Philosophie, S. 39.  Herder, Abhandlung vom Ursprung der Sprache, in: Herder, Sämtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd. 5 [reprogr. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1891], Hildesheim: Olms 1967, 1– 147, S. 40.  Ebd., S. 100.  Zu Herders Argumentationsstil vgl. Erdmann Waniek, Circle, Analogy and Contrast: On Herder’s Style of Thought in His ‚Journal‘, in: Johann Gottfried Herder, Innovator Through the Ages, hrsg. v. Wulf Koepke in Zusammenarbeit mit Samson B. Knoll, Bonn: Bouvier 1982 (= Modern German Studies 10), 64– 84.  Vgl. Leland Phelps, Gottsched to Herder: The Changing Conception of Metaphor in Eighteenth Century Germany, in: Monatshefte 44/3 (1952), 129 – 134. Ein sehr früher Hinweis auf die konstitutive Rolle der Bildsprache findet sich bei Bruno Markwardt, Herders Kritische Wälder, Leipzig: Quelle & Meyer 1925, S. 308: „Ein Bild ist für Herder nicht eine bloße, schmückende Redewendung, sondern eine wirkliche Erläuterung.“

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der Rede („wen hat man gemalt?“) wie diese selbst nur metaphorisch sein: Das Geschichts-‚Bild‘, das man ‚malt‘, ist nur eine von vielen ‚Ansichten‘, in denen sich der perspektivische Charakter historischen Denkens manifestiert. Schon 1768, in der Schrift Über Thomas Abbts Schriften, hatte sich Herder über die für ihn grundsätzliche Notwendigkeit bildlicher Redeweise geäußert: „Ich rede durch Bilder, die wie ein übel zusammengeordnetes Gemüt vorkommen müssen: wenn ich aber offenbar spräche, so hätte ich über meine Obliegenheit mir selbst zu viel zu verantworten.“²⁸ Hier kommt eine überraschende Moral des sprachbewußten Sprechens ins Spiel: Herder würde sich der Verantwortung für die Begriffsklärung gerade entziehen, wenn er nur auf die Eindeutigkeit der Abstraktion zielte. Er strebt mit der womöglich verwirrenden Bilderfülle assoziativen Sprechens eine poetische Wahrheit an, die mit der Vieldeutigkeit des Begriffs spielt. Mehr als metaphorisches Sprechen zu erwarten, als gäbe es einen von der sprachlichen Vorstellung abstrahierbaren, eindeutig und ein für allemal definierten Gegenstand, würde – so darf man Herders Warnung am Ende der einleitend zitierten Passage wohl verstehen – nur der interpretatorischen Willkür des Geschichtsschreibers und dem Mißverständnis seiner Leser zuarbeiten. Das Sprechen in Bildern, im philosophisch theoretischen wie im literarischen Kontext, bedeutet laut Bertold Heizmann, „daß Herders Frühschriften auch dann als virtuell poetische Texte gedeutet werden müßten, wenn sie im Titel (z. B. ‚Abhandlung über…‘) einen systematischen Text vermuten lassen“.²⁹ Herders sprachbewußter Beitrag zur Erkenntnistheorie hat die Form einer poetischen Ästhetik. Als Medium geschichtlichen Denkens verweist seine metaphorische Sprache auf die ästhetische Dimension des historiographischen Problems; sie besteht einerseits in der erkenntnistheoretisch relevanten Bildlichkeit der Geschichte, „wie sie mir erscheinet, wie ich sie weiß“, und andererseits in der kunsttheoretisch relevanten „Untereinander- und Zusammenordnung“ der Bildelemente, wie ich sie „malend“, nur von meinem Gesichtspunkt aus, „zusammenfasse“. Die Geschichte, die sich mir als Bild darstellt, und die Geschichte, die ich im Bild herstelle, sind für Herder so eng aufeinander bezogen, daß weder orthodoxer Objektivismus, der rekonstruieren will, „wie es eigentlich gewesen“, noch willkürlicher Subjektivismus, der sich der Phantasie überläßt, „wo jeder vielleicht denkt und fühlt, was er will“, die Bildlichkeit der Geschichte für sich

 Herder, Über Thomas Abbts Schriften. Der Torso von einem Denkmaal, an seinem Grabe errichtet, in: Herder, Sämtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd. 2 [reprogr. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1877], Hildesheim: Olms 1967, 249 – 294, S. 265.  Bertold Heizmann, Ursprünglichkeit und Reflexion. Die poetische Ästhetik des jungen Herder im Zusammenhang der Geschichtsphilosophie und Anthropologie des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main/Bern: Peter Lang 1981, S. 20.

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allein in Anspruch nehmen kann. Die Darstellung und Herstellung historischer Zusammenhänge sind einander so spiegelbildlich zugeordnet, daß Herders historische Metaphorik, d. h. sein Gebrauch poetischer Bilder, mit denen er die Vieldeutigkeit der Geschichte zu fassen versucht, und Herders historische Dramaturgie, d. h. sein Rückgriff auf dramatische Konstruktionsprinzipien, mit denen er die Geschichte aus der ihr unterlegten Entwicklungsstruktur zu deuten versucht, nicht unabhängig voneinander betrachtet werden sollten. Die Herder-Forschung hat sich lange auf Herders organologische Ablösung des materialistischen Weltbildes, das in La Mettries L’Homme machine (1748) seinen Höhepunkt gefunden hatte, und deshalb auf Herders Gebrauch von Naturbildern konzentriert.³⁰ Erst unter dem Einfluß von Hans Blumenbergs Metaphorologie³¹ und Alexander Demandts Metaphern für Geschichte (1978) hat sich ein konzeptionelles Interesse an der metaphorischen Konstruktion von Geschichte entwickelt, das über die Wachstumsbilder und den Entwicklungsgedanken hinausführte. Besonders Heinz Meyers Aufsatz „Überlegungen zu Herders Metaphern für die Geschichte“ von 1982 hat die grundsätzliche „Notwendigkeit metaphorischer Grundstrukturen des Sprechens von Zeit und Geschichte“ betont³² und für Herders Bückeburger Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit einen ganzen Katalog von Geschichtsmetaphern zusammengestellt, deren ständige Selbstkorrektur geprägt ist von „Spannungsverhältnissen bei der Beurteilung von Verlauf und Sinnzusammenhang der Geschichte: Identität und Wandel, Mittel und Zweck, Gewinn und Verlust, Fortschritt und Stehenbleiben, Ordnung und Chaos, Einsehbarkeit und Verschlossenheit des Sinns und Gesamtzusammenhangs“.³³ Die Vieldeutigkeit der Metapher entspricht der Dialektik einer nicht mehr auf das lineare Fortschrittsmodell reduzierbaren Geschichte, die sich dem sprachlichen Zugriff immer mehr entzieht, bis schließlich das Bild vom Bild der Geschichte selbst fragwürdig wird: „Mattes halbes Schattenbild von Worten!“³⁴

 Vgl. Marcel Janssens, Das Bild der Pflanze und der Organismusgedanke im Schrifttum des jungen Herder, in: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins NF 67 (1963), 30 – 39; Edgar B. Schick, Art and Science: Herder’s Imagery and Eighteenth Century Biology, in: The German Quarterly 41 (1968), 356– 368; Edgar B. Schick, Metaphorical Organicism in Herder’s Early Works. A Study of the Relation of Herder’s Literary Idiom to His Worldview, The Hague/Paris: Mouton 1971.  Vgl. Hans Blumenberg, Beobachtungen an Metaphern, in: Archiv für Begriffsgeschichte 15 (1971), 161– 214; Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981.  Heinz Meyer, Überlegungen zu Herders Metaphern für die Geschichte, in: Archiv für Begriffsgeschichte 25/1 (1982), 88 – 114, S. 91.  Ebd., S. 105.  Herder, Auch eine Philosophie, S. 36.

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Zum besseren Verständnis des Geschichtsschreibers, das dem hermeneutischen Sinn Herders so wichtig war, ist es notwendig, nicht nur die Metaphern aufzuhellen, in denen er die Geschichte darstellt, sondern vor allem jene, in denen er einen strukturierten Geschehenszusammenhang überhaupt erst herstellt. Unter diesem spezifisch historiographischen Aspekt sind die bekannten Geschichtsmetaphern aus dem Naturbereich, z. B. Lebensalter, Pflanze, Baum, Quelle, Fluß, Strom und Meer, weniger wichtig als jene aus dem Kunstbereich, z. B. Bühne, Buch und Bild, die eine perspektivische Konstruktion der Geschichte implizieren, als wäre sie ein der Auslegung bedürftiges, möglicherweise von ihren Interpreten mitgeschaffenes Kunstwerk. Hier müssen wenige, auf Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit beschränkte Hinweise genügen, den ästhetischen Charakter der Geschichtsschreibung auch dort zu erweisen, wo dem Menschen in dieser zunehmend theologisch ausgerichteten Schrift nur die Rolle des einseitigen, wesentlich uneinsichtigen Beobachters zuerkannt wird. Wenn Herder die Geschichte „schönes Gemälde, Ordnung und Fortgang der Natur“ nennt,³⁵ dann kündigt sich darin die allgemeine Richtung der metaphorischen Denkweise an: Die Temporalisierung der Bildordnung zu einer gegliederten Zeitfolge muß die statische Struktur des Gemäldes auflösen. Die „Geschichte aller Völker und Zeiten, dies große lebendige Werke Gottes auch in seiner Folge“, ³⁶ verlangt die Struktur eines „Folgeganzen“,³⁷ so wie auch die dem Gemälde verwandte Baumetapher eine Zeitdimension gewinnen muß: als „Fortgebäude“, zu dessen Errichtung sich Herder einen neuen Typ von Geschichtsschreiber wünscht: „Wer, der uns den Tempel Gottes herstelle, wie er in seinem Fortgebäude ist, durch alle Jahrhunderte hindurch!“³⁸ Die Aufgabe dieses gläubigen Geschichtsschreibers besteht für Herder also ausdrücklich in der Herstellung des Tempels Gottes, zu dem der „Ruinenhaufen“³⁹ der Geschichte, als wäre sie der Steinbruch eines Bildhauers, nur die „Materialien“⁴⁰ liefert. Nicht Darstellung des schon Gebauten, sondern Aufbauarbeit, Konstruktion des Bauwerks „auch in seiner Folge“, Errichtung des Nacheinander im Bild des Nebeneinander ist gemeint, wenn Herder dem Geschichtsschreiber mit einem bedeutsamen Neologismus, der sich nicht durchgesetzt hat, den Bau am „Fortgebäude“ aufträgt.

     

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 66. S. 112. S. 104. S. 113. S. 112. S. 113.

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Wie also kann man, angesichts der von Herder beschworenen Sprachproblematik historischer Synthese, „auf einander folgende Völker und Zeitläufte, in einer ewigen Abwechslung“⁴¹ anders als in einer szenischen Bilderfolge und zwar so zusammenfassen, daß trotz der perspektivischen Beschränkung des Zuschauers wenigstens der Schein eines Ganzen entsteht? Tatsächlich hat Herder in der Auseinandersetzung mit der fiktionalen Konstruktion geschichtlicher Ganzheit die Bild-Metapher immer wieder durchbrechen und in die Bühnen-Metapher überführen müssen: [N]ie siehest du das ganze Bild – siehest nichts weniger als Bild! Und wenn dein Kopf von einer Gruppe, in die du dich vernarrt hast, voll ist, kann dein Blick wohl ein Ganzes so abwechselnder Zeitläufte umfassen? ordnen? sanft verfolgen? bei jeder Scene nur Hauptwürkung absondern? die Verflößungen still begleiten? und nun – nennen! Kannst du aber nichts von all dem: die Geschichte flimmert und fackelt dir vor den Augen! Ein Gewirre von Scenen,Völkern, Zeitläuften – lies erst und lerne sehen! Übrigens weiß ich wie du, daß jedes allgemeine Bild, jeder allgemeine Begriff nur Abstraktion sei – Schöpfer allein ists, der die ganze Einheit einer, aller Nationen in alle ihrer Mannigfaltigkeit denkt, ohne daß ihm dadurch die Einheit schwinde.⁴²

Das Sprachproblem, das diese bilderreiche Passage nur indirekt berührt, betrifft auch den Versuch ihrer begrifflichen Paraphrase. Die Hauptzüge des Gedankengangs zu ‚benennen‘, nämlich die uns hier interessierende Temporalisierung der historischen Synthese zwischen ‚Bild‘ und ‚Bühne‘, ist unmöglich ohne Rückgriff auf die Metaphern, die die für Herders Geschichtsbegriff entscheidende Akzentverschiebung evozieren. Wer – so ließe sich der Gedankengang umschreiben – ein umfassendes Bild von der Geschichte, und zwar als Folge abwechselnder Zeitläufte, malen will, muß das Geschehen so anordnen, daß er in der Inszenierung von Haupt- und Nebenaktionen wie im Schauspiel den Eindruck eines als Wirkungszusammenhang geordneten und begründbaren Handlungsganzen vermittelt, wohlwissend, daß die sprachbedingten Verallgemeinerungen die historische Szenenfolge um ihre konkrete Vielfalt bringen. Die Aufgabe des Geschichtsschreibers ist also die perspektivische Konstruktion von Verlaufsstrukturen, die für die Sinndeutung historischer Zusammenhänge unentbehrlich sind, auch wenn – mit den Kategorien moderner Geschichtstheorie gesprochen – eine Mo-

 Ebd., S. 36.  Ebd., S. 39 f.

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nokausalisierung komplexer Wirkungszusammenhänge die zwangsläufige Folge ihrer narrativen Fiktionalisierung ist.⁴³ Angesichts der ungenügenden Sprachleistung, die dem Menschen nur ästhetische Fiktionen erlaubt, wo er nach historischer Wahrheit strebt, ist der wahre Dramaturg, der das Szenengewirr wirklich entwirren und die Einheit des Mannigfaltigen ebenso wie die Vielfalt des Ganzen bewahren kann, der göttliche „Schöpfer“, jener Demiurg also, als dessen alter deus sich zu Herders Zeit der geniale Künstler zu sehen beginnt.⁴⁴ Solange die Unentrinnbarkeit perspektivischer Einseitigkeit noch ein religiös begründetes Dogma ist, muß der Geschichtsphilosoph die Fähigkeit zu allseitiger historischer Synthese, die er nicht für sich in Anspruch zu nehmen wagt, auf einen Gott projizieren, den er sich schon nur im Bild des Künstlers, als deus artifex, denken kann. So kündigt sich in der theologischen Scheinlösung eines historiographischen Problems die Ästhetisierung nicht nur der Geschichte, sondern auch der sie noch tragenden Theologie an.⁴⁵ Gott als Dramaturg der Geschichte – das ist im Rahmen der historiographischen Grundsatzdiskussion und auf der Ebene ihrer bildlichen Durchführung keine Glaubenswahrheit, sondern eine Metapher. Für eine metaphorische Deutung spricht auch die Tatsache, daß auf der Ebene der theologischen Scheinlösung dieselbe Verschiebung vom ‚Bild‘ zur ‚Bühne‘ stattfindet wie auf der Ebene des historiographischen Problems. Wenn Herder der Geschichte der Menschheit einen „Bauplan allmächtiger Weisheit“⁴⁶ unterlegt, verschiebt sich das Bild göttlicher Vorsehung, um das „lebendige Werk Gottes auch in seiner Folge“, eben als zeitlich ausgedehntes „Fortgebäude“ zu erfassen, von der Architekturskizze zur dramaturgischen Konzeption:

 Vgl. hierzu Rudolf Vierhaus, Wie erzählt man Geschichte? Die Perspektive des Historiographen, in: Historisches Erzählen. Formen und Funktionen, hrsg. v. Siegfried Quandt und Hans Süssmuth, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1982, 49 – 56, bes. S. 51.  Als erster hat Leon Battista Alberti, der in seiner Schrift De pictura (1436) die theoretische Grundlage für den Perspektivismus der Renaissance gelegt hat, den Begriff alter deus für den Architekten gebraucht, um in ihm den besseren Weltbaumeister vorzustellen. Vgl. Gerd Blum, Das Kunstwerk als Modell für Gott. Die Umkehrung der Analogie von Gott und Künstler bei Leon Battista Alberti, Anton Francesco Do und Giorgio Vasari, in: Gegenwelten. Ausstellungskatalog, hrsg. v. Christoph Bertsch und Viola Vahrson, Innsbruck/Wien: Universität Innsbruck, Institut für Kunstgeschichte 2014, 304– 315.  Zur Ästhetisierung von Herders Bibelverständnis vgl. Hans W. Frei, The Eclipse of Biblical Narrative. A Study in Eighteenth and Nineteenth Century Hermeneutics, New Haven/London: Yale University Press 1974, bes. S. 187.  Herder, Auch eine Philosophie, S. 104.

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Wenn das Wohnhaus bis aufs kleinste Behör ‚Gottesgemälde‘ zeiget – wie nicht die Geschichte seines Bewohners? Jenes nur Dekoration! Gemälde in einem Auftritte, Ansicht! Dies ein ‚unendliches Drama von Scenen! Epopee Gottes durch alle Jahrtausende, Weltteile und Menschengeschlechte, tausendgestaltige Fabel voll eines großen Sinns!‘⁴⁷

Ist die Welt, als Raum des Menschen, zwar immer noch – in der Tradition der mittelalterlichen ordo-Vorstellung – „Gottesgemälde“, aber eben nur ein gerahmtes „Gemälde in einem Auftritte“, allenfalls ein szenisches Tableau also, so ist die Geschichte, als Zeit des Menschen, eine unendliche dramatische Szenenfolge, die sich durch alle Zeiten erstreckt und die in ihrer Mannigfaltigkeit durch einen Sinn zusammengehalten wird, als wäre die Geschichte (history) ein von Gott geschriebener Roman („Epopee“), eine „Fabel“ (story), die ihren Sinn von den Konstruktionsprinzipien der Poetik gewinnt: Wo kleine Verbindungen schon großen Sinn geben und doch Jahrhunderte nur Silben, Nationen nur Buchstaben und vielleicht Interpunktionen sind, die an sich nichts, zum leichtern Sinne des Ganzen aber so viel bedeuten!⁴⁸

Unversehens, auf dem Umweg über den göttlichen Dramaturgen und hinter dem Rücken seines geistlichen Inspizienten, scheint aus dem vorgegebenen Sinn der Geschichte der inszenierte Sinn der Dichtung geworden zu sein, der jenem als Muster dient. Trotz ihrer scheinbaren Fatalisierung zum zunehmend beschworenen ‚Schicksal‘⁴⁹ sind ‚Faden‘,⁵⁰ ‚Knoten‘⁵¹ und ‚Kette‘⁵² die herausragenden Metaphern der ‚Verknüpfung‘, jener vom Geschichtsschreiber geforderten „Untereinander- und Zusammenordnung“ einzelner Begebenheiten zu einem sinnvollen Text, der der ganzen Weltgeschichte als „unendliches Drama von Scenen“ unterlegt wird. Mit der Literarisierung der Welt im „Buch Gottes, der großen Weltgeschichte“, wie es später im 17. Humanitätsbrief (1793) heißt,⁵³ greift Herder auf die seit Platon gebräuchliche Metapher des Lebensbuchs zurück, um seinen noch theologisch legitimierten Anspruch auf universale Weltdeutung anzumelden.⁵⁴  Ebd., S. 104 f.  Ebd., S. 135 f.  Ebd., S. 64, 65, 70 f., 81, 99, 102, 109.  Ebd., S. 18, 50, 114.  Ebd., S. 65, 135.  Ebd., S. 99, 104, 137.  Herder hat den Teil des 17. Briefs zur Beförderung der Humanität, in dem sich das Zitat findet (Sämtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd. 18 [reprogr. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1883], Hildesheim: Olms 1967, 314– 317, S. 314), nicht zum Druck gegeben.  Zur Geschichte der Buch-Metapher vgl. das Kapitel „Das Buch als Symbol“ in: Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern und München: Francke 41963,

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So erweist sich theologische Sinndeutung, jedenfalls im Bereich ihrer metaphorischen Rechtfertigung, als poetische Sinngebung. Was als Offenbarung von Gott gelenkter Entwicklung ausgegeben wurde, verrät sich in der Analyse ihrer bildlichen Bekundung als eine der Geschichte unterlegte Textstruktur, die ganz im Sinne von Herders universaler Buch-Metapher ‚gelesen‘ werden kann, als wäre Gott und nicht nur der Geschichtsschreiber ihr poetischer Verfasser.⁵⁵ Ist die Geschichte „Schauplatz einer leitenden Absicht auf Erden! wenn wir gleich nicht die letzte Absicht sehen sollten, Schauplatz der Gottheit, wenn gleich nur durch Öffnungen und Trümmer einzelner Scenen“,⁵⁶ so fällt dem Geschichtskünstler die Aufgabe zu, die verborgene Dramaturgie sichtbar zu machen, indem er selber die Inszenierung der Geschichte übernimmt: Wenns mir gelänge, die disparatsten Scenen zu binden, ohne sie zu verwirren – zu zeigen, wie sie sich auf einander beziehen, aus einander erwachsen, sich in einander verlieren, alle im Einzelnen nur Momente, durch den Fortgang allein Mittel zu Zwecken – welch ein Anblick! welch edle Anwendung der menschlichen Geschichte! Welche Aufmunterung zu hoffen, zu handeln, zu glauben, selbst wo man nichts oder nicht alles sieht!⁵⁷

Die perspektivische Beschränktheit des Menschen dient hier, am Ende des noch nicht theologisch ausgerichteten Teils der Bückeburger Schrift, noch als Herausforderung an die künstlerische Phantasie, durch Verbindung der auseinanderstrebenden Einzelszenen ein dramatisches Beziehungsgefüge zu schaffen, das den Handlungsablauf der Geschichte als Begründungs- und Wirkungszusammenhang auch für die geschichtliche Praxis seiner Zuschauer erstellt, damit sie besser hoffen, handeln und glauben können. Die damit, gewissermaßen noch in Stellvertretung des göttlichen Dramaturgen, vom Geschichtsschreiber vollzogene Temporalisierung des ‚Bildes‘ zum ‚Drama‘ der Geschichte ist – wieder modern gesprochen – Herders Modell für eine handlungsorientierte Geschichtstheorie, wie sie – in überraschender Übereinstimmung mit Herders Implikationen – Jürgen Habermas vorgestellt hat: 306 – 352; Sigmund von Lempicki, Bücherwelt und wirkliche Welt. Ein Beitrag zur Wesenserfassung der Romantik, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 3 (1925), 339 – 386; Erich Rothacker, Das ‚Buch der Natur‘. Materialien und Grundsätzliches zur Metapherngeschichte, hrsg. v. Wilhelm Perpeet, Bonn: Bouvier 1979; Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt. Zur narrativen Inszenierung der Buch-Metapher im Heinrich von Ofterdingen (1802) vgl. hier das Novalis-Kapitel.  Die Aufforderung, die Geschichte wie einen geschriebenen Text zu „lesen“, findet sich in Herders Auch eine Philosophie immer wieder (bes. S. 65), so auch an der zitierten Stelle, ebd., S. 40: „Lies erst und lerne sehen!“  Herder, Auch eine Philosophie, S. 49.  Ebd., S. 49.

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Eine Folge von Ereignissen gewinnt die Einheit einer Geschichte nur unter einem Gesichtspunkt, der jenen Ereignissen selbst nicht entnommen sein kann. Die Handelnden sind in ihre Geschichte verstrickt; auch ihnen geht, wenn sie ihre eigenen Geschichten erzählen, erst nachträglich der Gesichtspunkt auf, unter dem die Ereignisse den Zusammenhang einer Geschichte annehmen können. […] Nur weil wir aus dem Horizont der Lebenspraxis den vorläufigen Abschluß eines Bezugssystems entwerfen, können die Interpretationen von Ereignissen, die sich vom projizierten Ende her zu einer Geschichte organisieren lassen, ebenso wie die Interpretation der Teile, die sich aus einer vorweggenommenen Totalität der Bruchstücke dechiffrieren lassen, für jene Lebenspraxis überhaupt einen Informationsgehalt haben.⁵⁸

Die von Herder als „Anwendung der menschlichen Geschichte“ gefeierte Handlungsorientierung, die sich bei ihm aus der Konstruktion eines fiktionalen Geschehenszusammenhangs ergibt, beruht auch nach Hans Michael Baumgartners Ansicht auf dem Interesse an der historischen Kontinuität, die als „Implikat der narrativen Konstruktion solcher temporaler Strukturen“ zum Sinnträger wird;⁵⁹ „denn nur unter dem Gesichtspunkt der Idee der Totalität kann der Rückgriff auf Vergangenes im Sinne einer Orientierung menschlichen Lebens und Handelns als orientierend und legitimierend, weil schon im voraus als bedeutungsvoll und sinnvermittelnd, konzipiert werden.“⁶⁰ Bevor wir aber der Versuchung zur Aktualisierung der theoretischen Implikationen Herders weiter nachgeben, sollte die angedeutete Dramaturgie der Geschichte aus seiner Poetik hergeleitet und an seinen Überlegungen zum Zusammenhang von Dichtung, Geschichte und Philosophie überprüft werden. Für den ersten Schritt muß es ausreichen, auf Herders in den Blättern von deutscher Art und Kunst (1773) gedruckten Shakespeare-Aufsatz zurückzugreifen, um zu zeigen, daß der nur wenig späteren Deutung der Geschichte im Bild des Dramas hier die Deutung des Geschichtsdramas im Bild der Weltgeschichte und – in der theologischen Variante – der späteren Deutung Gottes im Bild des Dichters hier die Deutung des Dichters im Bilde Gottes entspricht. Weil Shakespeare den „Göttergriff“ fand, „eine ganze Welt der Disparatesten Auftritte zu Einer Begebenheit zu erfaßen“,⁶¹ ist ihm schon gelungen, was Herder mit fast denselben Worten bald darauf seiner Geschichtsschreibung abverlangt: „die disparatsten Scenen zu binden, ohne sie zu verwirren“. Shakespeare hat die übermenschliche  Jürgen Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften. Materialien, Frankfurt am Main: Suhrkamp 31973, S. 271 und 275.  Hans Michael Baumgartner, Kontinuität und Geschichte. Zur Kritik und Metakritik der historischen Vernunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, S. 295.  Ebd., S. 328.  Herder, Shakespear, in: Herder, Sämtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd. 5 [reprogr. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1891], Hildesheim: Olms 1967, 208 – 231, S. 222.

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Bedingung historischer Synthese erfüllt, jene Einheit des Dramas in der Mannigfaltigkeit der Szenen, die dem Geschichtsschreiber zwar aufgegeben ist, aber letztlich doch Gott vorbehalten bleibt. Weil er „Eine Welt Dramatischer Geschichte, so groß und tief wie die Natur“ geschaffen hat,⁶² weniger nur Drama als „History im weitsten Verstande“,⁶³ ist Shakespeare „Schöpfer! Dichter! Dramatischer Gott!“⁶⁴ Shakespeare ist Schöpfer der Geschichte im Sinne der vorher zitierten Definition in Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit: „Schöpfer allein ists, der die ganze Einheit einer, aller Nationen in alle ihrer Mannigfaltigkeit denkt, ohne daß ihm dadurch die Einheit schwinde.“ Im Bild des Schöpfers erscheint Shakespeare als jener alter deus, der der Geschichtsschreiber zu sein wünschte, wenn er nicht, im Rahmen seiner theologischen Voraussetzungen, das Sakrileg solcher Anmaßung fürchten müßte: wer bin ich, daß ich urteile, da ich eben nur den großen Saal quer durchgehe und einen Seitenwinkel des großen verdeckten Gemäldes im dunkelsten Schimmer beäuge? (…) was soll ich zu dem großen Buche Gottes sagen, das über Welten und Zeiten geht! von dem ich kaum eine Letter bin, kaum drei Letter um mich sehe.⁶⁵

Der aporetischen Zerknirschung des auf seine menschliche Perspektive eingeschränkten Geschichtsschreibers am Ende der Bückeburger Schrift entspricht im Shakespeare-Aufsatz die gewissermaßen kompensatorische Vergöttlichung des Dramatikers, dem das scheinbar Unmögliche gelungen ist. Nur im „Trug der Wahrheit“,⁶⁶ in der Fiktion der Theaterwelt, die die Welt(‐Geschichte) nur bedeutet und nicht wirklich ist, darf der Dramatiker wie Gott selbst, ja sogar als „Dramatischer Gott“ das „Fortgebäude“ der Weltgeschichte errichten, an dem in der Wirklichkeit der Geschichtsschreiber noch scheitern muß. Nur in der fiktionalen Zeitfolge des Dramas gibt die Inszenierung der Haupt- und Nebenhandlung als „Untereinander- und Zusammenordnung“ der Begebenheiten die Konstruktionsprinzipien preis, die der Geschichtsphilosoph dem Dramatiker abguckt, um sie für die Dramaturgie der Weltgeschichte letztlich Gott zuschreiben zu können: Aus Scenen und Zeitläuften aller Welt findet sich, wie durch ein Gesetz der Fatalität, eben die hieher, die dem Gefühl der Handlung, die kräftigste, die idealste ist; wo die sonderbarsten, kühnsten Umstände am meisten den Trug der Wahrheit unterstützen, wo Zeit- und Ort-

    

Ebd., S. 221. Ebd., S. 230. Ebd., S. 227. Herder, Auch eine Philosophie, S. 137. Herder, Shakespear, S. 222 f.

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wechsel, über die der Dichter schaltet, am lautesten rufen: ‚Hier ist kein Dichter! ist Schöpfer! ist Geschichte der Welt!‘⁶⁷

Was Herder 1773 von Shakespeare sagt, münzt er 1774 auf Gott; aber in beiden Fällen geht es um eine Poetik der Geschichtsschreibung. Noch in der theologischen Scheinlösung verrät sich die auf Shakespeare projizierte und von ihm auf Gott übertragene eigentlich poetologische Lösung des historiographischen Problems. Geschichte und Dichtung sind hier so eng zusammengerückt, in ihren Konstruktionsprinzipien einander so zum Verwechseln ähnlich, daß Herders metaphorische Denkweise eigentlich unentschieden läßt, welche von beiden der intendierte Gegenstand der bildlichen Rede ist. Diese unentschiedene Interdependenz der historischen und der poetischen Handlungsstruktur war für Paul Böckmann, der 1949 in seiner wegweisenden Studie zum dramatischen Perspektivismus im 18. Jahrhundert für Herder betont hat, „daß seine Geschichtsdeutung sich an Shakespeare entwickelt hat“,⁶⁸ ein hermeneutisches Modell historischer Interpretation: „Herder kann also vom Drama aus auf die Geschichte hindeuten, weil seine Geschichtskonzeption selbst dramatisch ist. Drama als Geschichte und Geschichte als Drama erläutern sich gegenseitig.“⁶⁹ Um solche wechselseitige Erhellung der Künste geht es, wenn Herder, um dem befürchteten Mißverständnis einer unkritischen, einseitigen Gegenstandserfassung vorzubeugen, seine bohrende Frage „wen hat man gemalt? wen hat das schildernde Wort getroffen?“ im Rahmen des ihr zugrundeliegenden Sprachproblems zu beantworten versucht. Seine vorläufige Antwort: „nichts als Bild“, die den vorkritischen Sprachkonventionalismus unterläuft, verweist als Grund für die Gleichsetzung von Geschichte und Dichtung auf die beiden gemeinsame Sprachlichkeit. Damit kommen wir zum zweiten Argumentationsschritt, der Herleitung der Dramaturgie der Geschichte aus dem sprachphilosophischen Zusammenhang von Geschichte und Dichtung. Als Sprachkunst sind beide auf das als „unvollkommenes Mittel der Schilderung“ beschworene „allgemeine Wort“ und damit auf eine prinzipielle ‚Allgemeinheit‘ angewiesen, die Aristoteles nur der Dichtung, nicht aber der Geschichtsschreibung zuerkannt hatte:

 Ebd., S. 223.  Paul Böckmann, Der dramatische Perspektivismus in der deutschen Shakespeare-Deutung des 18. Jahrhunderts, in: Böckmann, Formensprache. Studien zur Literarästhetik und Dichtungsinterpretation, Hamburg: Hoffmann & Campe 1966, 45 – 97, S. 68.  Ebd., S. 70.

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[D]er Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch, daß der eine Verse schreibt und der andere nicht (denn man könnte ja die Geschichte Herodots in Verse setzen und doch bliebe es gleich gut Geschichte, mit oder ohne Verse); sie unterscheiden sich vielmehr darin, daß der eine erzählt, was geschehen ist, der andere, was geschehen könnte. Darum ist die Dichtung auch philosophischer und bedeutender als die Geschichtsschreibung. Denn die Dichtung redet vom Allgemeinen, die Geschichtsschreibung vom Besonderen.⁷⁰

Um zu verstehen, warum Herder im Gegensatz zu Aristoteles, laut Berthold Emrich, „in Poesie und Geschichte die gleiche innere Notwendigkeit walten sieht“,⁷¹ muß das Formprinzip, in dem sie bisher einander zugeordnet schienen, gewissermaßen substantialisiert werden. In Herders energetischer Ästhetik ist die Sprachkunst nicht mehr allein, wie noch in Lessings Laokoon, durch ihre Zeitfolge, sondern auch durch die Kraft ihres Zusammenhalts bestimmt. In charakteristischer Absetzung von Lessing hat Herder im ersten Kritischen Wäldchen (1769) den Begriff der Handlung, diese ästhetische Variante des ‚Geschichte‘ genannten Geschehenszusammenhangs, erweitert: Der Begriff des Successiven ist zu einer Handlung nur die halbe Idee: es muß ein Successives durch Kraft seyn: so wird Handlung. Ich denke mir ein in der Zeitfolge wirkendes Wesen, ich denke mir Veränderungen, die durch die Kraft einer Substanz aufeinander folgen: so wird Handlung.⁷²

Dieser Begriff der zur Entwicklung der ‚Zeitläufte‘ drängenden Kraft hat der Dynamisierung der Metaphorik vom ‚Bild‘ zur dramatischen ‚Handlung‘ erst ihren eigentlichen Grund und der Geschichtsschreibung ihr eigentliches Leitmotiv gegeben: „nur erklären möchte ich sie [die Geschichte]: wie in allem doch Geist hauchet! Gärung menschlicher Kräfte.“⁷³ Die Gleichstellung von Geist und Kraft erklärt ihren für Herder charakteristischen synonymen Gebrauch. Die Kraft des geschichtlichen Fortschritts ist der „Geist der Zeit“,⁷⁴ jener zum erstenmal im dritten Kritischen Wäldchen belegte und auch in der Bückeburger Schrift ange-

 Aristoteles, Poetik, übers. v. Olof Gigon, Stuttgart: Reclam 1961, S. 39 (1451 b; 9. Kap.).  Berthold Emrich, Literatur und Geschichte, in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, hrsg. v. Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr, Bd. 2, Berlin: De Gruyter 1965, 111– 143, S. 132.  Herder, Kritische Wälder: Erstes Wäldchen, in: Herder, Sämtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd. 3 [reprogr. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1878], Hildesheim: Olms 1967, 1– 188, S. 139.  Herder, Auch eine Philosophie, S. 64.  Ebd., S. 59, 109.

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rufene „Zeitgeist“,⁷⁵ der, als immanentes Entwicklungsprinzip dem von Shaftesbury eingeführten Begriff der inward form verwandt,⁷⁶ den einzelnen Epochen ihre eigentümliche Form gibt. Vor dem Hintergrund der ästhetischen Zuordnung von Geschichte und Dichtung wäre zu überlegen, inwiefern der Geist der Zeit, als treibende Kraft der Geschichte und ihrer Strukturierung, dem künstlerischen Genius verwandt ist, der als Anwalt der Totalität die vollendete Form aus sich heraustreibt, um, wie Wendelin Schmidt-Dengler zu Herders Genius-Konzeption angemerkt hat, „den Zugang zur Ganzheit der Welt“ zu vermitteln.⁷⁷ Für die Annahme, daß der Genius des Dichters für Herder wirklich zum Hermes Psychopompos der Geschichtsdeutung wird, spricht ein für unsere Fragestellung zentraler Aspekt der durch Shaftesbury und Hamann vermittelten Aristoteles-Rezeption. Herder konnte die Idee des göttlichen Genius, des keiner normativen Poetik und auch den aristotelischen Regeln nicht mehr unterworfenen Formschöpfers, den er in Shakespeare verkörpert sah, eben nicht nur in Hamanns Sokratischen Denkwürdigkeiten (1759), sondern auch schon bei Shaftesbury finden, der für die Beschreibung der kosmischen Harmonie eine universale Ästhetik begründet und darin, wegweisend für seine deutschen Nachfolger, die Natur als vollkommenes Kunstwerk Gottes dargestellt hat. Herder war diesem englischen Philosophen, dessen Ideen er schon ab 1762 in Königsberg bei Kant kennengelernt und im Journal meiner Reise (1769) bezeugt hatte, mehr verpflich-

 Herder, Kritische Wälder: Drittes Wäldchen, in: Herder, Sämtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd. 3 [reprogr. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1878], Hildesheim: Olms 1967, 365 – 480, S. 424, 463 und 470; Auch eine Philosophie, S. 66 und 123. Zum Begriff des Zeitgeistes vgl. Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Frankfurt am Main: Fischer 1969, 221– 253 (Kap. „Der Geist der Zeit und die Frage nach der Ewigkeit“); Dietrich Walter Jöns, Begriff und Problem der historischen Zeit bei Johann Gottfried Herder, Göteborg: Elander 1956, 55 – 66 (Kap. „Der Zeitgeist“); Hinrich C. Seeba, ‚Zeitgeist‘ und ‚deutscher Geist‘: Zur Nationalisierung der Epochentendenz um 1800, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Sonderheft 1987: „Von der gelehrten zur disziplinären Gemeinschaft“, hrsg. v. Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp, Stuttgart: Metzler 1987, 188 – 215.  Vgl. Frederick M. Barnard, Zwischen Aufklärung und politischer Romantik. Eine Studie über Herders soziologisch-politisches Denken, Berlin: Erich Schmidt 1964, S. 71 f.: „Denn ebenso wie Shaftesbury sieht Herder in der inneren Form eines Dinges den Ursprung seiner Stärke und bleibenden Kraft.“ Zum Begriff der ‚inneren Form‘ vgl. Reinhold Schwinger, Innere Form. Ein Beitrag zur Definition des Begriffes auf Grund seiner Geschichte von Shaftesbury bis W. v. Humboldt, München: Beck 1934.  Wendelin Schmidt-Dengler, Genius. Zur Wirkungsgeschichte antiker Mythologeme in der Goethezeit, München: Beck 1978, S. 49.

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tet, als man lange angenommen hatte.⁷⁸ Herder konnte schon in Shaftesburys (1768 auch ins Deutsche übersetzten) Hauptwerk Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times (1711) die Gegenüberstellung des Historikers („copys what he sees“)⁷⁹ und des (vor Lessings Laokoon noch als Maler verstandenen) Dichters finden: A Painter, if he has any Genius, understands the Truth and Unity of Design; and knows he is even then unnatural, when he follows Nature too close, and strictly copys Life. For his art allows him not to bring All Nature into his Piece, but a Part only. However, his Piece, if it is beautiful, and carrys Truth, must be a Whole, by it-self, compleat, independent, and withal as great and comprehensive as he can make it. So that Particulars, on this occasion, must yield to the general Design; and all things be subservient to that which is principal: in order to form a certain Easineß of sight, a simple, clear, and united View, which wou’d be broken and disturb’d by the Expression of any thing peculiar or distinct.⁸⁰

Wie Herder ging es auch Shaftesbury um historische Wahrheitsfindung. Die imaginative Totalisierung der perspektivischen Teilansicht, wie sie nur der Malerdichter, aber nicht der Chronist schaffen kann, findet in der malerisch-poetischen Komposition („Unity of Design“) nur dann die Wahrheit, wenn – entsprechend der Vorgabe von Aristoteles – das Besondere („Particulars“) dem Allgemeinen („general Design“) untergeordnet wird. Der Genius des Künstlers ist der Schöpfer einer perspektivischen Ganzheit, die, weil sie Wahrheit beansprucht, anders als eine bloße Kopie der Wirklichkeit auf das Allgemeine zielt. Der Bildcharakter der Dichtung wird noch im Bild des – vom Historiker unterschiedenen – Malers erfaßt, weil von ihm die perspektivische Konstruktion des Ganzen ausgeliehen werden kann. Obgleich Shaftesbury, ein halbes Jahrhundert vor Lessing, noch keine Einsicht in die Zeitstruktur der sprachlichen Bildkunst und damit in die grundsätzliche Abhebung der Dichtung von der Malerei hatte, hat er doch

 Als erster hat Wilhelm Dilthey vorgeführt, daß Herders und Goethes pantheistischer Naturbegriff weniger mit Spinoza als mit Shaftesbury übereinstimmt; vgl. Dilthey, Aus der Zeit der Spinozastudien Goethes, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 7 (1894), 317– 341; vgl. ferner Oskar Walzel, Shaftesbury und das deutsche Geistesleben im 18. Jahrhundert, in: GRM 1 (1909), 416 – 437, bes. S. 422 f. Dem Einfluß Shaftesburys auf Herder ist 1901 ein Aufsatz gewidmet, dem eine Dissertation an der Stanford University 1899 zugrundelag: Irvin Clifton Hatch, Der Einfluß Shaftesburys auf Herder, in: Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte, hrsg. v. Max Koch, Bd. 1, Berlin: Alexander Duncker 1901, 68 – 119; vgl. ferner Christian Friedrich Weiser, Shaftesbury und das deutsche Geistesleben, Leipzig/Berlin: Teubner 1916.  Anthony Ashley-Cooper Shaftesbury, Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times, 3 Bde., Birmingham: John Barkerville 51773, Bd. 1, S. 144 (im „Essay on the Freedom of Wit and Humor“).  Ebd., Bd. 1, S. 142 f.

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schon die ästhetischen Kompositionsprinzipien vorgebildet, die Herder später mit Hilfe seines Shakespeare-Modells von der Dichtung auf die Geschichtsschreibung übertragen sollte. Wenn Shaftesbury Schönheit definiert als „the Beautifying, not the Beautify’d“,⁸¹ könnte man solche Dynamisierung des Ästhetischen, die die Schönheit im Prozeß der Herstellung von Schönheit findet, weil sie „never in the Body it-self, but in the Form of forming Power“ liegt,⁸² als Vorläufer der organisierenden Kraft sehen, die bei Herder geschichtlichen Epochen ihre charakteristische Gestalt gibt. Von Shaftesbury „inward form“ und von Herder „Geist der Zeit“ genannt, ist „the Form of forming Power“ für beide ein wirkungsgeschichtliches Prinzip historischer Energie, das, um sichtbar und nachvollziehbar zu werden, auf die Kompositionsmittel des Dichters angewiesen ist. Die von Shaftesbury, von Lessing noch in der Hamburgischen Dramaturgie und, wie sich abzeichnet, zunächst auch von Herder übernommene aristotelische Unterscheidung zwischen ‚allgemeiner‘ Dichtung und ‚besonderer‘ Geschichtsschreibung wird erst in Frage gestellt, als die mit Lessings Laokoon einsetzende Temporalisierung die damit von der ‚räumlichen‘ Malerei abgesonderte , aber wie die weiterhin perspektivischer Bildgestaltung folgende Dichtung an die ‚zeitliche‘ Geschichtsschreibung heranrückt und dieser eine aufs Allgemeine zielende philosophische Ausrichtung erlaubt.⁸³ „Wüste man nun den Dichter mit dem Philosophen zu verbinden, und was beide liefern, in Geschichte zu verwandeln“, dann wäre, wie Herder schon in den Fragmenten über die neuere Deutsche Literatur (1768) einmal angedeutet hat,⁸⁴ eine geradezu nicht-aristotelische Bedingung der Geschichtsphilosophie erfüllt, weil eine so verstandene Geschichte das Allgemeingültige des Besonderen erkennen läßt. Die für die Korrektur der Gattungsgrenzen notwendige Begriffserweiterung der Geschichte konnte aber nur gelingen, wenn die Geschichtsschreibung nicht mehr als faktischer Bericht dessen, „was geschehen ist“, definiert würde, sondern wie die Dichtung als fiktionale Erzählung dessen, „was geschehen könnte“.⁸⁵ Der Anspruch auf historische Faktizität mußte erst durch die Einsicht in die Fiktionalität der Auswahl, Zusammenstellung und Deutung der Begebenheiten ergänzt und korrigiert, der ihm zugrundeliegende vorkritische Gegenstandsbegriff erst sprachphilosophisch un-

 Ebd., Bd. 2, S. 404 (im Essay „The Moralist“).  Ebd., Bd. 2, S. 405.  Zu Lessings Auseinandersetzung mit Aristoteles vgl. hier das Lessing-Kapitel.  Herder, Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Fragmente. Erste Sammlung, in: Herder, Sämmtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd. 2 [reprogr. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1877], Hildesheim: Olms 1967, 1– 108, S. 62.  Aristoteles, Poetik, S. 39 (1451 b, 9. Kap.).

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terlaufen werden, damit die Geschichtsschreibung trotz Aristoteles so „philosophisch und bedeutend“ werden konnte wie die Dichtung. Die Überwindung der aristotelischen Gattungsgrenze war eine wesentliche Voraussetzung für die Ästhetisierung der Geschichtsschreibung. Herder hat seinen Beitrag dazu in der wiederholten Auseinandersetzung mit Winckelmanns Begründung der Kunstgeschichte geleistet, wobei seine Stellungnahmen immer wieder auf den ersten Satz in der programmatischen Vorrede zur Geschichte der Kunst des Altertums (1764) zurückkommen: Die Geschichte der Kunst des Altertums, welche ich zu schreiben unternommen habe, ist keine bloße Erzählung der Zeitfolge und der Veränderungen in derselben, sondern ich nehme das Wort Geschichte in der weiteren Bedeutung, welche dasselbe in der griechischen Sprache hat, und meine Absicht ist, einen Versuch eines Lehrgebäudes zu liefern.⁸⁶

Während der engere Geschichtsbegriff, von dem sich Winckelmann hier absetzt, nur die äußere Zeitfolge zum Reihenprinzip der historischen Chronik bestimmen würde, zielt das philosophische System der Kunstgeschichte auf ihren inneren, ästhetisch zu bestimmenden Zusammenhang. Solche „Geschichte in der weiteren Bedeutung“ war Herder zunächst, als er sich noch der aristotelischen Begriffstrennung verpflichtet fühlte, äußerst suspekt. Er hielt Winckelmann deshalb im ersten Kritischen Wäldchen (1769) vor, daß dieser „mehr darauf bedacht ist, eine Historische Metaphysik des Schönen aus den Alten, absonderlich Griechen, zu liefern, als selbst auf eigentliche Geschichte“.⁸⁷ Herder hat in seiner Winckelmann-Kritik richtig erkannt, aber noch nicht akzeptieren können, daß die Geschichtsschreibung nach den Regeln künstlerischer Komposition philosophisch werden müßte und daß der traditionelle Anspruch auf vollständige historische Wahrheit im ästhetischen Perspektivismus aufgehoben würde. Das geht jedenfalls aus einem älteren, zum erstenmal 1963 veröffentlichten Kritischen Wäldchen von 1767 hervor, in dem Herder die Grenzen historischer Erkenntnis im Bild perspektivischer Flächenprojektion faßt: So (wenig) unmöglich ein ganzer Körper ohne Projektion (auf einer Fläche) aus einem Gesichtspunkt wahrgenommen, auf einer Fläche (ganz) vorgestellt werden (könnte) kann, wie er ist, so unmöglich für den Annalisten und Memoirschreiber, aus seiner Sache […] ein historisches Lehrgebäude machen zu können. […] Hier hört das historische Sehen auf, und das Weißagen gehet an. Da ich Ursache als Ursache (nie sehen) und Würkung als Würkung nie sehen; sondern immer nur schließen, muthmaaßen, errathen muß: da (zu) in dieser Schlußkunst nichts als die Ähnlichkeit der Fälle meine Zeugin, und also mein Scharfsinn,

 Winckelmann, Geschichte der Kunst des Altertums, S. 9.  Herder, Kritische Wälder: Erstes Wäldchen, S. 10.

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oder mein Witz, diese Ähnlichkeit zwischen einander, diese Folge durch einander zu finden, (mein) (der) (Gewährsma) mein einziger Gewährsmann (ist; da die) der Wahrheit ist: da (aber) dieser Gewährsmann aber nichts als mein Scharfsinn, mein Witz, folglich ein trüglicher Zeuge, und ein Prophet der Wahrheit (höchstens) vielleicht nur für mich, und einige meiner Brüder seyn kann: so siehet man, daß der Geschichtschreiber und der Philosoph nicht völlig auf einem Boden stehen.⁸⁸

Was Herder hier zur Bewahrung des engeren Geschichtsbegriffs vorbringt, dient ausgerechnet seiner weiteren Unterminierung. Wenn er, um Winckelmann zu kritisieren, die vom Historiker zu unterscheidende Aufgabe des Philosophen in der Herstellung von mutmaßlichen Begründungs- und Wirkungszusammenhängen der Geschichte sieht, schreibt er, über den Kunsthistoriker Winckelmann sogar noch hinausgehend, schon dem allgemeinen Geschichtsschreiber „in der weiteren Bedeutung“ seine einleitend zitierte wesentlich ästhetische Aufgabe vor: Als „Maler eines großen Gemäldes von der trefflichsten Komposition“ ist „der wahre historische Künstler“, der die vielen Begebenheiten zu einem Gesamtplan koordiniert und damit den zu deutenden Zusammenhang der Geschichte überhaupt erst herstellt, nicht nur sein „Schöpfer“, sondern, wie Herder sogleich nachgebessert hat, „der wahre Schöpfer einer Geschichte“.⁸⁹ Offensichtlich ist in dieser Konzentration der für die Ästhetisierung historischen Denkens wesentlichen Schlüsselwörter schon die neue, von Herder selbst so genannte „Theorie der Geschichte“ angelegt.⁹⁰ Dabei läßt die letzte Formulierung, der Geschichtsschreiber sei „der wahre Schöpfer einer Geschichte“, aufmerken: Der sprachbewußte Herder scheint die Geschichte (die nur im Singular und deshalb mit bestimmtem Artikel erscheint, im Sinne von history) zu meinen, sagt aber eine Geschichte (als gäbe es viele Geschichten im Plural, im Sinne von story). Der an dieser Stelle überraschende unbestimmte Artikel kann nur bedeuten, daß der Geschichtskünstler nur insofern der Schöpfer der Geschichte im Bilde Gottes, also ein alter deus ist, als er von ihr poetische Geschichten entwirft. Das Mittel dieser göttlichen Schöpfungsmacht aber ist die Sprache: Nur weil Gott die Welt mit einem Sprachakt geschaffen hat, kann sich ihm der Künstler, dieser im 18. Jahrhundert verehrte alter deus, als sprachmächtiger Mensch gleichstellen. Der Mensch ist einerseits, laut Herders erstem Naturgesetz der Sprachbildung, „das Geschöpf der Sprache“ und andererseits, weil

 Herder, Älteres kritisches Wäldchen; bei Irmscher, Probleme der Herder-Forschung, S. 290 f.  Ebd.  Ebd.

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Herder Condillacs These vom göttlichen Ursprung der Sprache durch ihren menschlichen Ursprung ersetzt,⁹¹ selber Sprachschöpfer. Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) ist ein frühes Dokument für die sprachphilosophische Wendung der Erkenntnistheorie, die ihn später in entschiedenen Gegensatz zu Kant bringen sollte: Wenn der Mensch das Schaf als „das Blökende“ erst im Akt der Benennung erkennt („Ha! du bist das Blökende!“),⁹² erweist sich die für Herder wesentliche Interdependenz von Denken und Sprechen: „Ohne Sprache hat der Mensch keine Vernunft und ohne Vernunft keine Sprache.“⁹³ Und noch einmal: „Der Mensch empfindet mit dem Verstande und spricht, indem er denkt.“⁹⁴ Die These von der Sprachlichkeit des Denkens wird zugespitzt in der Abhandlung Vom Erkennen und Empfinden in der menschlichen Seele (1774), wo die Sprache, wie Wilhelm von Humboldt später sagen wird, „das bildende Organ der Gedanken“ wird.⁹⁵ Die (Sprach‐)Bildlichkeit prägt unser ganzes, scheinbar abstraktes, vorgeblich theoretisches Denken: Wie unsre ganze Psychologie aus Bildwörtern bestehet, so wars meistens Ein neues Bild, Eine Analogie, Ein auffallendes Gleichnis, das die größten und kühnsten Theorien gebohren. Die Weltweisen, die gegen die Bildersprache deklamiren, und selbst lauter alten, oft unverstandnen Bildgötzen dienen, sind wenigstens mit sich selbst sehr uneinig.⁹⁶

Die polemische Spitze gegen Philosophen, die gegen die Bildlichkeit des Denkens argumentieren und ihr gleichwohl, unreflektiert, verfallen sind, zielt schon in die Richtung von Kant, noch bevor Kants Kritiken dem einstigen Schüler Herder den eigentlichen Anlaß zur offenen Auseinandersetzung geben. Nach dem Erscheinen von Kants Kritik der reinen Vernunft (1781) hat Herder seine frühere These in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

 Vgl. Hans Arsleff, The Tradition of Condillac: The Problem of the Origin of Language in the Eighteenth Century and the Debate in the Berlin Academy before Herder, in: Arsleff, From Locke to Saussure: Essays on the Study of Language and Intellectual History, Minneapolis: University of Minnesota Press 1982, 146 – 209.  Herder, Abhandlung vom Ursprung der Sprache, S. 33.  Ebd., S. 37.  Ebd., S. 86.  Wilhelm von Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts [1830 – 1835], in: Humboldt, Werke in fünf Bänden, hrsg. v. Andreas Flitner, Bd. 3, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 5 1979, 368 – 756, S. 426.  Herder, Vom Erkennen und Empfinden in der menschlichen Seele [1778], in: Herder, Sämtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd. 8 [reprogr. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1892], Hildesheim: Olms 1967, 165 – 235, S. 170.

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(1784/1785) so zugespitzt, daß die Sprache immer noch das Medium der Vernunft („zu ihr [der Vernunft] kommt er [der Mensch] allein durch Sprache“)⁹⁷, aber nicht mehr umgekehrt die Vernunft auch das Medium der Sprache ist: Ein Volk hat keine Idee, zu der es kein Wort hat: die lebhafteste Anschauung bleibt dunkles Gefühl, bis die Seele ein Merkmal findet und es durchs Wort dem Gedächtniß, der Rückerinnerung, dem Verstande, ja endlich dem Verstande der Menschen, der Tradition, einverleibet: eine reine Vernunft ohne Sprache ist auf Erden ein utopisches Land. Mit den Leidenschaften des Herzens, mit allen Neigungen der Gesellschaft ist es nicht anders. Nur die Sprache hat den Menschen menschlich gemacht, indem sie die ungeheure Fluth seiner Affecten in Dämme einschloß und ihr durch Worte vernünftige Denkmale setzte. Nicht die Leier Amphions hat Städte errichtet, keine Zauberruthe hat Wüsten in Gärten verwandelt; die Sprache hat es gethan, sie, die große Gesellerin der Menschen. […] Was je der Geist der Menschen aussann, was die Weisen der Vorzeit dachten, kommt, wenn es mir die Vorsehung gegönnt hat, allein durch Sprache zu mir. Durch sie ist meine denkende Seele an die Seele des ersten und vielleicht des letzten denkenden Menschen geknüpfet: kurz Sprache ist der Charakter unsrer Vernunft, durch welchen sie allein Gestalt gewinnet und sich fortpflanzet.⁹⁸

In der Nachfolge der früheren Vorstellung, daß der Geschichtskünstler „der wahre Schöpfer einer Geschichte“ ist, erscheint nun die Sprache, „die große Gesellerin der Menschen“, selbst als gottgleiche Schöpfungsmacht, die unsere soziale Welt geschaffen hat. Mittels der von ihr geprägten Vernunft ist die Sprache der eigentliche Wegbereiter der „Bildung der Menschheit“ genannten Aufklärung. Dabei ist das wiederholt erwähnte Wort ‚Vernunft‘ inzwischen so sehr zum Reizwort geworden, daß sich Herder den nicht zwingend notwendigen Seitenhieb auf Kant nicht verkneifen konnte. Daß es keine Ideen ohne Sprache gibt, mag ja noch angehen, aber der Vorwurf – „eine reine Vernunft ohne Sprache ist auf Erden ein utopisches Land“ – ist eine offene, von den Lesern auch so verstandene Kriegserklärung an den Königsberger Philosophen der reinen Vernunft. In dem sich anbahnenden Disput zwischen Herder und Kant geht es nicht um den Befreiungsschlag eines ehemaligen Schülers gegen seinen übermächtig gewordenen Lehrer, sondern um nicht weniger als die sprachphilosophische Begründung der Erkenntnistheorie. Hatten sich die Zunfthistoriker der beginnenden Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert der Übergriffe durch die Dichtung, von der sie sich unbedingt abzusetzen versuchten, erwehrt, bedeutet Herders Vorstoß gegen eine nicht sprachlich reflektierte Erkenntnistheorie, deren scheinbar unsprachlicher Logik sich auch manche historische Denker bedienen, eine philo Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit [1784/1785], in: Herder, Sämtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd. 13 – 14 [reprogr. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1887 und 1909], Hildesheim: Olms 1967, Bd. 13, S. 355.  Ebd., S. 357 f.

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sophische Aufwertung der nicht nur poetisch gebrauchten Bildsprache und zugleich eine Rettung der davon geprägten Dichtung. In seiner Antwort, einer 1785 erschienenen Rezension von Herders Ideen, ist Kant tatsächlich in die Sprachfalle getreten, die ihm Herder gestellt hat. Er wehrt sich gegen die sprachliche Reduktion der Vernunft, indem er sich genau der Metaphern bedient, gegen die er argumentiert: Es gehört auch hier nicht zu unserer Absicht, so manche schöne Stellen voll dichterischer Beredsamkeit auszuheben, oder zu zergliedern, die jedem Leser von Empfindung sich selbst anpreisen werden. Aber eben so wenig wollen wir hier untersuchen, ob nicht der poetische Geist, der den Ausdruck belebt, auch zuweilen in die Philosophie des Vf. eingedrungen; ob nicht hier und da Synonymen für Erklärungen, und Allegorien für Wahrheiten gelten; ob nicht, statt nachbarlicher Übergänge aus dem Gebiete der philosophischen in den Bezirk der poetischen Sprache, zuweilen die Grenzen und Besitzungen von beiden völlig verrückt sein; und ob an manchen Orten das Gewebe von kühnen Metaphern, poetischen Bildern, mythologischen Anspielungen nicht eher dazu diene, den Körper der Gedanken wie unter einer Vertügade zu verstecken, als ihn wie unter einem durchscheinenden Gewande angenehm hervorschimmern zu lassen.⁹⁹

In ironischer Abgrenzung gegen literaturkritische Würdigungen eines schönen Stils, die für ihn nicht in den philosophischen Disput gehören, wirft Kant Herder vor, was dieser gerade zu bedenken gibt, daß „der poetische Geist, der den Ausdruck belebt, auch zuweilen in die Philosophie des Vf. eingedrungen“ sei und damit die Ideen geprägt habe. Der aus der historischen Diskussion bekannte Vorwurf des (eigentlich umgekehrt gemeinten) Übergriffs „aus dem Gebiete der philosophischen in den Bezirk der poetischen Sprache“ beklagt „das Gewebe von kühnen Metaphern, poetischen Bildern, mythologischen Anspielungen“, um die Attacke mit einem der kühnsten, für den asketischen Königsberger geradezu schlüpfrigen Sprachbild zu beenden: Kant wünscht sich den nackten Körper der Gedanken nicht sprachlich verhüllt, sondern möchte ihn „unter einem durchscheinenden Gewande angenehm hervorschimmern“ lassen, als wäre die reine Vernunft eine nackte Gestalt, an deren Anblick er sich erfreuen könnte.¹⁰⁰

 Immanuel Kant, [Rez. zu] Johann Gottfried Herders Ideen [1785], in: Kant, Werke, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. XII, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964, S. 799 f.; Hervorhebung im Orig. als Unterstreichung.  Kants Metapher war nicht so originell, wie sie klingt. Friedrich von Blanckenburg hat den Gebrauch der Bildsprache 1774 mit dem gleichen Bild gerechtfertigt: „Meine Absicht bey diesen Vergleichungen und Beyspielen, ist keine andre gewesen, als die Vorzüge des individuellen Ausdrucks der Sache, und derjenigen Vorstellung, die uns durch das Kleid, um mich so auszudrücken, alle Züge und die besondre Gestalt des Körpers hindurch erblicken läßt, – anzupreisen“ (Blanckenburg, Versuch über den Roman [Faksimiledruck der Originalausgabe Leipzig/

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Herder fühlte sich durch das ex cathedra verfügte Urteil ungebührlich zurechtgewiesen. Er reagierte entsprechend empfindlich in einem ausdrücklich vertraulichen Brief an Hamann: Ich laße dem Hrn. Apollonius den metaphysischen kritischen Richtstuhl, auf dem er sich blähet: denn für mich ist dieser voller Dunst und gacklichen Wolken. […] Seine letzten Präceptorlichen Lehren an mich sind ganz unanständig: ich bin 40. Jahr alt u. sitze nicht mehr auf seinen metaphysischen Schulbänken.¹⁰¹

Zugleich fühlte sich Herder herausgefordert, auch öffentlich, mit einer selbstbewußt Metakritik genannten Polemik, auf Kants Kritik der reinen Vernunft, zu reagieren: [W]ie sollte der Vernunftrichter das Mittel übersehen, durch welches die Vernunft eben ihr Werk hervorbringt, festhält, vollendet? Ein großer Teil der Mißverständnisse, Widersprüche und Ungereimtheiten also, die man der Vernunft zuschreibt, wird wahrscheinlich nicht an ihr, sondern an dem mangelhaften oder von ihr schlecht gebrauchten Werkzeuge der Sprache liegen, wie das Wort Widersprüche selbst sagt. […] Laßt uns alles, was unser Verfasser (Kant) in seinen oft blendend glücklichen Ausdrücken vorträgt, sobald uns der Grund ihrer Behauptung entgeht, in unsre Sprache übersetzen. Denn jeder Mensch kann und muß allein in seiner Sprache denken. Wer das Eigentum dieser verloren hat und fremde Worte sinnlos nachlallt oder herbetet, hat für sich und andre den Grund aller Philosophie, das eigne Denken, zerstört.¹⁰²

Charakteristisch für seinen sprachbewußten Umgang mit der Wortwahl, nimmt Herder das Wort ‚Widerspruch‘ wörtlich, um zu zeigen, daß es sich bei jemandem, der „fremde Worte sinnlos nachlallt oder herbetet“, weniger um ein logisches als um ein sprachliches Manko handelt. In einer Geste ähnlicher Herablassung bietet Herder Kant seine Sprachhilfe an, als müßte er Kants Ideen, „sobald uns der Grund ihrer Behauptung entgeht, in unsre Sprache übersetzen“.

Liegnitz 1774, mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert], Stuttgart: Metzler 1965, S. 507). Zur Verkleidung der ‚nackten Wahrheit‘ (erster Beleg 1485 in einem Brief von Giovanni Pico della Mirandola an Ermolao Barbaro, in: Pico della Mirandola, Ausgewählte Schriften, übers. v. A. Liebert, Jena: Eugen Diederichs 1905, 96 – 110) vgl. Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie [zuerst in: Archiv für Begriffsgeschichte 1960], Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998 (= stw 1301), S. 72.  Herder, Brief an Johann Georg Hamann, Weimar, 14. Februar 1785, in: Herder, Briefe, Bd. 5: September 1783 – August 1788, bearb. v. Wilhelm Dobbek und Günter Arnold, Weimar: Hermann Böhlaus Nachf. 1986, 104– 107, S. 106.  Herder, Aus „Verstand und Erfahrung“. Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft [1799], in: Herder, Sprachphilosophie. Ausgewählte Schriften, hrsg. v. Erich Heintel, Hamburg: Meiner 1980, 181– 227, S. 183 f.

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Zum Beweis, daß Denken ein „Innerlich Sprechen“ ist, beharrt Herder auf der sprachlichen Individualisierung des je ‚eigenen‘, also perspektivierten Denkens: Was heißt Denken? Innerlich Sprechen, d.i. die inne gewordenen Merkmale sich selbst aussprechen, sprechen heißt laut denken. […] Denken hat mit Dünken, Däuchen einen Ursprung, daher es mehrmals etwas Ungewisses, ein Nachdenken, Hin- und Her-Denken, ein Suchen in Gedanken oder gar ein Zweifeln, z. B. Bedenken, Bedenklichkeit u. f., ausdrückt. Aus dieser Dämmrung muß man das Wort ziehen, sobald man es dem klaren Verstande zueignet, der Verstand muß wissen, woran und was er denkt, d.i. was er im Innern sich selbst ausspricht.¹⁰³

Wieder nimmt Herder die Sprache wörtlich, um nun sogar sprachgeschichtlich zu begründen, daß das Wort ‚denken‘ (als Faktitivum zu ‚dünken‘ = scheinen) ursprünglich – laut Etymologischem Wörterbuch – bedeutet: „machen, daß etw. einleuchtet“;¹⁰⁴ ‚denken‘ bedeutet also: etwas kritisch abwägen, um es verständlich zu machen. Der Verstand muß lernen, „was er im Innern sich selbst ausspricht“, also die Sprache, in der er denkt, kritisch in Frage zu stellen, weil sonst die schönsten Ideen nur Worthülsen sind: „Da ohne ein Verständliches kein Verstand denkbar ist, so sind innere Denkformen ohne Gegenstände schon ihrem Namen nach leere Schemen“.¹⁰⁵ Herder gibt sich überrascht, daß jemand die Wahrheit „schöpfen“ will, ohne die Metaphern der Wahrheitsfindung zu reflektieren: [W]ill ich den Sinn der Schöpfung ohne Buchstaben, d.i. Objekte, selbst als Buchstaben im Raum und in der Zeit erfassen, mithin ohne Krug und Hand und Mund und Zunge das Wasser schöpfen, so weiß ich nicht, was ich will. Überfüllt mit Weisheit, suche ich den Strom außer dem Strom, ‚das Ding an sich‘, den wahren Wald, hinter den Bäumen.¹⁰⁶

Der Urheber des ‚Dings an sich‘, d. h. des von der Beobachtung unabhängigen Objekts, sieht, laut Herder, vor lauter Bäumen nicht „den wahren Wald“. Seine um Wahrheit bemühte Erkenntnistheorie verfehlt sogar die Wahrheit selbst, weil er nicht weiß, wovon er redet, wenn er die sprachliche Verfaßtheit selbst abstraktester Gegenstände nicht erkennt. Damit fällt Kant in Herders Augen sogar noch hinter den Geschichtsschreiber zurück, der als „der wahre historische Künstler“ bewußt die Bildsprache einsetzt, um mit seinem „großen Gemälde von der treff-

  zka,  

Ebd., S. 189. Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearb. v. Walther MitBerlin: De Gruyter 191963, S. 127. Herder, Aus „Verstand und Erfahrung“, S. 204. Ebd., S. 217.

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lichsten Komposition“ analog zur Dichtung eine poetische Wahrheit zu schaffen, die die Erkenntnis der Welt offenbar mehr befördert als Kants Philosophie. Die Bedeutung dieses sprachphilosophischen Programms geht weit hinaus über den polemischen Anlaß, weil sich Herder in dem Disput mit Kant gezwungen sah, die erkenntnistheoretische Funktion der Sprache viel grundsätzlicher zu klären, als er es vielleicht sonst unternommen hätte. Erst im entschiedenen Gegensatz zu Kant, für den – wie für John Locke hundert Jahre früher¹⁰⁷ – die Vorgängigkeit der Vernunft vor der Sprache noch selbstverständlich war, hat Herder eine für die deutsche Literatur folgenreiche Position durchgesetzt: die von Kleists Aufsatz über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden (1806) über Grillparzers Drama Weh, dem der lügt! (1838) bis zu Hofmannsthals Drama Der Schwierige (1919) reichende sprachbewußte Selbstreflexion der Dichtung, die aus der immer wieder thematisierten Sprachlichkeit des Denkens die Bildkraft poetischer Sprache gewinnt. Herders sprachphilosophische Wende wäre wohl unmöglich gewesen, ohne daß er, nach anfänglichem Zögern, die von Winckelmann eingeleitete Begriffserweiterung der Geschichte schließlich nachvollzogen hätte. Anders wäre der im Journal meiner Reise (1769) entworfene Plan zu einer „Universalgeschichte der Bildung der Welt“ kaum denkbar¹⁰⁸ und noch viel weniger in Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) zu verwirklichen gewesen. Im Denkmahl Johann Winkelmanns (1778) hat Herder denn auch Winckelmanns neuen Geschichtsbegriff, der ihm selbst über die Kunstgeschichte hinaus den Weg

 Vgl. John Locke, An Essay Concerning Human Understanding [1690], 2 Bde., hrsg. v. John W. Yolton, London: Dent /New York: Dutton 1961, Bd. 2 (Buch III: „Of Words“, Kap. 10), S. 105 f.: „Since wit and fancy finds easier entertainment in the world than dry truth and real knowledge, figurative speech and allusions in language will hardly be admitted as an imperfection or abuse of it. I confess, in discourses where we seek rather pleasure and delight than information and improvement, such ornaments as are borrowed from them scarce pass for faults. But yet, if we would speak of things as they are, we must allow that all the art of rhetoric, besides order and clearness, all the artificial and figurative application of words eloquence hath invented, are for nothing else but to insinuate wrong ideas, move the passions, and thereby mislead the judgment, and so indeed are perfect cheat; and therefore however laudable or allowable oratory may render them in harangues and popular addresses, they are certainly, in all discourses that pretend to inform or instruct, wholly to be avoided and, where truth and knowledge are concerned, cannot but be thought a great fault either of the language or person that makes use of them.“  Herder, Journal meiner Reise im Jahr 1769, in: Herder, Sämtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd. 4 [reprogr. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1878], Hildesheim: Olms 1967, 343 – 461, S. 353.

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in die Geschichts- und Sprachphilosophie gewiesen hat, rückhaltlos als den einzig möglichen anerkannt: Er schrieb statt Geschichte, die nicht geschrieben werden kann, ein historisches Lehrgebäude. […] So wie schon Aristoteles gesagt hat, daß die Poesie Philosophischer sei, als die Geschichte; so ist ein solches Idealgebäude, wenns nur für sich selbst auf guten Gründen beruhet, lehrreicher, als Namen und Jahreszahlen seyn würden.¹⁰⁹

Nachdem die geschichtsphilosophische Konzeption, Geschichte also in der weiteren, d. h. ästhetischen Bedeutung, an die Stelle der Chroniken und Annalen getreten ist, kann Herder nun endlich – wenn auch immer noch unter Berufung auf Aristoteles, dem er damit interpretatorische Gewalt antun muß – das Vorrecht der Dichtung auch für die Geschichtsschreibung reklamieren. Im Gegensatz zur Chronik der äußeren Daten und Fakten ist die ästhetisch konzipierte Geschichte das „Idealgebäude“ der inneren Entwicklung. Herder hat in der Bückeburger Schrift das vom schöpferischen Genius – sei es Shakespeare, Gott oder „der wahre historische Künstler“ – errichtete „Fortgebäude“ entworfen, um dem bloßen ‚Bild‘ der Vergangenheit in der Szenenfolge der dramatischen ‚Handlung‘ zeitliche Kontinuität zu geben. Damit entsteht ein aus der Vergangenheit in die Zukunft vorgreifender Sinnzusammenhang, der – auch als „größerer Plan Gottes im Ganzen“¹¹⁰ – in den Metaphern historischer Dramaturgie seine poetische Herkunft verrät. An der Bildstruktur der neuen Geschichtsauffassung und ihrer sprachkritischen Auslegung konnte, so steht zu hoffen, „Herders Begründung einer nichtaristotelischen Historie“, die Hannelore Schlaffer in ihren Studien zum ästhetischen Historismus (1975) nur behauptet hat,¹¹¹ in einigen wichtigen Punkten erwiesen werden. Die Übereinstimmung der Implikationen von Herders Geschichtsdenken mit einigen Positionen neuerer Geschichtstheorie ist dabei ebenso deutlich geworden wie die Kluft, die Herders Beitrag zur Ästhetisierung der Geschichtsschreibung vom Historismus des 19. Jahrhunderts trennt. Der Gegensatz zwischen dem historistischen Anspruch auf Rekonstruktion des Vergangenen, „wie es eigentlich gewesen“, und der hermeneutischen Einsicht in die perspektivische Konstruktion der Geschichte, „wie sie mir erscheinet“, ist so groß wie der Gegensatz zwischen der „eigentlichen Geschichte, die nicht geschrieben

 Herder, Denkmahl Johann Winkelmanns, S. 469.  Herder, Auch eine Philosophie, S. 103 f.  Hannelore Schlaffer, Der Ursprung des ästhetischen Historismus in der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, in: Hannelore Schlaffer und Heinz Schlaffer, Studien zum ästhetischen Historismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975, 23 – 71, S. 27.

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werden kann“, und der „Geschichte in der weiteren Bedeutung“, die der Geschichtsschreiber als sein Bild ihres Bedeutungszusammenhangs entwirft. Man kann sich dem seit Dilthey immer wiederholten Versuch, den Verfasser von Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, diesem bilderreichen Bekenntnis zur Bildlichkeit der Geschichte, zum Ahnherrn des Historismus Rankescher Prägung zu erheben, wie Claus Träger durch Nachweis des sozialrevolutionären Engagements¹¹² oder mit Jörn Rüsens grundsätzlichem Hinweis widersetzen, „daß der Historismus eine Ästhetisierung der Geschichte impliziert“.¹¹³ Oder man kann mit Habermas und Baumgartner den Blick darauf lenken, daß sich in der Handlungsorientierung der narrativen Konstruktion von historischer Kontinuität ästhetische Theorie und soziale Praxis begegnen. In keinem dieser Fälle gehört Herders Beitrag zur Ästhetisierung der Geschichtsschreibung einer – im Sinne von Nietzsches Historismus-Kritik – ‚antiquarischen‘ und deshalb antiquierten Geschichte an.

 Claus Träger, Die Herder-Legende des deutschen Historismus, Frankfurt am Main: Verlag Marxistische Blätter 1979 (= Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie 93).  Jörn Rüsen, Historismus und Ästhetik. Geschichtstheoretische Voraussetzungen der Kunstgeschichte, in: Rüsen, Ästhetik und Geschichte. Geschichtstheoretische Untersuchungen zum Begründungszusammenhang von Kunst, Gesellschaft und Wissenschaft, Stuttgart: Metzler 1976, 88 – 95, S. 89.

4 Friedrich Schiller – Geschichte als tragische Analysis Als der Präsident der Friedrich-Schiller-Universität Jena am 21. Juni 2019 das gerade erworbene Exemplar der 1789 im Separatdruck erschienenen Jenaer Antrittsvorlesung von Friedrich Schiller Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? vorstellen konnte, wurde die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf eine akademische Kontroverse gelenkt, die für den hier diskutierten Zusammenhang von Geschichte und Dichtung eine besondere Pointe hat. Der nur in wenigen Exemplaren erhaltene Druck wurde schon bald nach Erscheinen eingezogen, weil Schiller auf dem Titel der Schrift fälschlich „Professor der Geschichte in Jena“ genannt wurde.¹ Tatsächlich aber trat der als Dichter berühmt gewordene Schiller sein Lehramt als „Professor der Philosophie in Jena“ an, wie es dann auch richtig auf dem Titel des korrigierten Nachdrucks von 1790 heißt. In dem universitären Zuständigkeitsstreit von 1789, dessen historischer Kontext eine wichtige Phase der Wissenschaftsgeschichte erhellt, ging es um viel mehr als eine nur institutionelle Abgrenzung zwischen Geschichte und Dichtung. Der methodologische Streit um die Deutungshoheit der Geschichtswissenschaft, wie sie sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts etablierte, berührt das grundsätzliche Problem historischer Wahrheitsfindung, wie es schon über zwei Jahrtausende vorher erörtert wurde. Im sogenannten Methodenkapitel (I, 20 – 22) seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges hat der griechische Historiker Thukydides (um 460 – um 400 v. Chr.) als erster methodologische Prinzipien aufgestellt, die für die Geschichte der Geschichtsschreibung und ihre Abgrenzung gegen poetische Darstellungen historischer Ereignisse maßgeblich wurden. Vor allem ging es ihm, im Unterschied zur unterhaltsamen Darstellung historischer Erfahrung, um die nüchterne „Erforschung der Wahrheit“ (ζητησις της αληθειας), die nicht auf die Wirkung unter den Zuhörern berechnet ist. Wenn man aletheia mit Heidegger als ‚Unverborgenheit‘ übersetzt, zielt solche Wahrheit auf den verborgenen und deshalb aufzudeckenden Zusammenhang der Dinge, die essentielle Bedeutung historischen Geschehens. Der ausdrücklich ins Zentrum gerückte Wahrheitsbegriff soll die Geschichtsforscher gegen „herkömmliche Meinungen“ immunisieren, damit sie – „unverführt von den Dichtern, die sie in hymnischer Aufhöhung aufge-

 Vgl. die Pressemitteilung der Universität Jena vom 21. Juni 2019, https://idw-online.de/de/ news717927 (abgerufen am 20. August 2019). https://doi.org/10.1515/9783110679878-006

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schmückt haben, noch von den Geschichtenschreibern, die alles bieten, was die Hörlust lockt, nur keine Wahrheit“ – Quellen der Überlieferung auf ihren überprüfbaren Wahrheitsgehalt hin genauestens untersuchen, nicht zur Kurzweil des Publikums, sondern „zum dauernden Besitz“ (κτημα ες αιει, ktema es aiei).² Um diesen Anspruch auf den zeitüberdauernden Erkenntniswert historischer Forschung zu untermauern, hat Thukydides Wert auf die Feststellung gelegt, „daß meine Darstellung frei ist von Mythen und Geschichtchen“.³ Er hat seinen Vorgänger Herodot dafür kritisiert, daß er, anstatt Geschichte zu analysieren, nur Geschichten erzähle, und damit den Begriff der Historía, die Erforschung der Geschichte als Ereigniszusammenhang, gegen den Begriff des Mythos, die Erzählung der Geschichte als Darstellungszusammenhang, abgegrenzt.⁴ Weil in der deutschen Sprache, wie wir uns immer wieder erinnern müssen, der Begriff der ‚Geschichte‘ ein Homonym ist, der den semantischen Unterschied verwischt, werden wir im folgenden auch hier auf die englische Unterscheidung zwischen history als Ereigniszusammenhang und story als Darstellungszusammenhang zurückgreifen, um genauer zu markieren, wann von der einen Geschichte (history), die wissenschaftlich erforscht wird, und wann von der anderen Geschichte (story), die unterhaltsam erzählt wird, die Rede ist. In beiden Fällen, die unauflösbar miteinander verbunden sind, geht es um die Erschließung eines Zusammenhangs: Im ersten Fall impliziert die Suche nach dem oft kausal verstandenen Zusammenhang ein ästhetisches Ordnungsprinzip, weil der Ablauf des Geschehens einer Logik des als zusammengehörig Gedachten folgt, und im zweiten Fall bleibt die Struktur narrativer Anordnung an die Erfahrung und Erkenntnis von tatsächlichen Geschehensabläufen gebunden. Im historischen Denken sind Erfahrungs- und Darstellungszusammenhang so untrennbar aufeinander bezogen, daß bei zunehmender Differenzierung der beiden Systeme der wechselseitige Verdacht unangemessener methodologischer Übergriffe unvermeidlich ist. Die manchmal als ‚Stoffhuber‘ verdächtigten Historiker müssen sich von Dichtern Verstöße gegen die poetische Wahrheit und die

 Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, eingel. und übers. v. Georg Peter Landmann, Zürich/Stuttgart: Artemis 1960, S. 34– 36. Vgl. Arnaldo Momigliano, The Classical Foundations of Modern Historiography, Berkeley: University of California Press 1990.  Thukydides in der Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt, in: Schadewaldt, Die Anfänge der Geschichtsschreibung bei den Griechen. Tübinger Vorlesungen Band 2. Unter Mitwirkung von Maria Schadewaldt hrsg. v. Ingeborg Schudoma, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982 (= stw 389), S. 287.  Einen ähnlichen Vorwurf hatte seinerseits schon Herodot auch gegen seinen Vorgänger Hekataios erhoben, daß er „nicht scheidet zwischen Mythos und Geschichte“ (Schadewaldt, Die Anfänge der Geschichtsschreibung, S. 109).

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manchmal als ‚Sinnhuber‘ verdächtigten Dichter von Historikern Verstöße gegen die historische Wahrheit vorhalten lassen. Mit dieser typologischen Unterscheidung hatte Friedrich Theodor Vischer, der Linkshegelianer, der einerseits eine große Ästhetik (Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen, 1846) und andererseits einen vielgelesenen Roman (Auch Einer, 1879) verfaßt hat, in seiner Satire Faust. Der Tragödie dritter Teil (1862) zeitgenössische Goethe-Philologen aufs Korn genommen, die sich schon wie spätere Positivisten und Wesensdeuter um die historisch richtige Auslegung streiten – einerseits: „War’s um sechs Uhr oder sieben, / Wann er diesen Vers geschrieben? / War’s vielleicht präzis halb achte, // Als er zu Papiere brachte / Diesen Einfall, diesen Witz?“; und andererseits: „Lebe hoch die tiefre Deutung, / Blos Exactes ist vom Uebel! / Hoch die philosoph’sche Häutung, / Schälung dichterischer Zwiebel!“⁵ Weder auf die akribischen Stoffhuber noch auf die philosophierenden Sinnhuber ist Verlaß, wenn sie der Wahrheit ihres Gegenstands allein, ohne Berücksichtigung der anderen Methode, nachjagen. Aber sobald sie vor der Haustür des jeweils anderen wildern, kann sich das schleichende Mißtrauen in offene Aggression verwandeln. Der implizit methodologische Konflikt zwischen den Kontrahenten wird akut, wenn sich ein Dichter in den Bereich der Geschichtsforschung vorwagt und seinen akademischen Kollegen das Alleinvertretungsrecht streitig macht. Ein solcher Übergriff wirkt umso gravierender, als er meistens nur in einer Richtung erfolgt; denn es gibt eine Vielzahl von Dichtern, die sich mit historischen Stoffen auch kritisch auseinandergesetzt und oft das öffentliche Bild einer Periode oder einer historischen Figur nachdrücklicher als Fachhistoriker geprägt haben, und nur wenige Historiker, die sich im Bereich der Dichtung versucht haben. Das Paradebeispiel für einen solchen mißverständlichen Übergriff war umso wichtiger und umso folgenreicher, als er noch am Anfang der akademischen Disziplingeschichte stand. Friedrich Schiller, der seit den Räubern (1781) als Dichter der Freiheit gefeiert wurde, hat an der Universität Jena seine (am 26. Mai 1789 gehaltene) Antrittsvorlesung unter dem provozierenden Titel Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? angekündigt und damit für einige Empörung gesorgt. Selbst wenn die Vorlesung nicht unter falscher Flagge angekündigt worden wäre, enthielt die freche Frage des Titels schon genügend Zündstoff. Da hat ein akademisch nicht ausgewiesener Außenseiter gleich eine ganze Disziplin, gerade als sie sich anschickte, ein methodologisches Selbstverständnis zu entwickeln, grundsätzlich in Frage gestellt, indem er recht salopp

 Friedrich Theodor Vischer, Faust. Der Tragödie dritter Theil [1862], zitiert nach der 4. Auflage der anonym erschienenen Satire („gedichtet von Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinsky“) Tübingen: H. Laupp’sche Buchhandlung 41889, S. 161 f. und 164.

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nach dem quem ad finem fragt: wozu das alles und was soll es überhaupt heißen, wenn man das Studium der Universalgeschichte für sich in Anspruch nimmt? Aber weil Schiller obendrein seine Antrittsvorlesung nicht als Professor der Philosophie, als der er berufen wurde, sondern als Professor der Geschichte angekündigt hatte, mußten sich Fachkollegen wie der 1782 nach Jena berufene Historiker Christoph Gottlob Heinrich, der sich beim Akademischen Senat darüber beschwert hat, so sehr provoziert fühlen, „daß sich der Academiediener erlaubt hat“, wie sich seinerseits Schiller in einem Brief beschwert, „den Titel meiner Rede, von dem Buchladen, wo er angeschlagen war, wegzureissen“.⁶ Für solche gewaltsame Ahndung der Grenzverletzung gab es, abgesehen von verletzter Eitelkeit, auch ernste wissenschaftsgeschichtliche Gründe, die es grundsätzlich zu bedenken gibt. Während das Fach der Geschichtswissenschaft an den Universitäten zunehmend institutionalisiert wurde, waren die Zunfthistoriker dieser Zeit, wie sich immer wieder beobachten läßt, ängstlich besorgt um die Abgrenzung ihres Faches gegen Dichtung und Philosophie. Nicht nur im öffentlichen Diskurs war die Entwicklung historischen Denkens stärker interdisziplinär ausgerichtet, als der zunehmenden akademischen Differenzierung recht sein konnte. Ursprünglich waren es Juristen, die über die Gattung der Reichsgeschichte zu Historikern wurden. So hat Johann Jacob Mascou, der ab 1718 Professor der Rechte an der Universität Leipzig war, als einer der ersten eine Teutsche Geschichte (1726) geschrieben. Oder es waren Philosophen, die die Geschichte übernahmen. So war Schillers empörter Kollege Christoph Gottlob Heinrich zuerst Professor der Philosophie in Leipzig, bevor er als Historiker nach Jena berufen wurde. Und später waren es vor allem Historiker, die dem Fach der Literaturgeschichte zu universitärer Anerkennung verhalfen. So hat Georg Gottfried Gervinus, der bis zu seiner Entlassung als einer der ‚Göttinger Sieben‘ 1837 Professor für Geschichte in Göttingen war, mit der umfangreichen Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen (1835 – 1842) die wichtigste Literaturgeschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschrieben. Angesichts einer disziplinären Entwicklung, die sich von den Juristen zu den Historikern (oder Philosophen) und von diesen zu den Germanisten verschob, kann das Mißverständnis gar nicht so sehr überraschen, wenn sich auch der als Philosoph berufene Schiller, wie sein Kollege Heinrich, der wirklich von der Philosophie zur Geschichte gewechselt hatte, umgekehrt zugleich als Historiker

 Schiller, Brief an Lotte von Lengefeld und Caroline von Beulwitz, 10. November 1789, in: Schillers Briefe. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. Fritz Jonas, 7 Bde., Stuttgart u. a.: Deutsche Verlags-Anstalt 1892– 1896, Bd. 2, S. 365.

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fühlte: „Ich bin (das ist wahr aber ich hab es jetzt erst erfahren)“, so beteuert Schiller in dem genannten Brief, „ich bin nicht als Professor der Geschichte sondern der Philosophie berufen, aber das lächerliche ist daß die Geschichte nur ein Theil der Philosophie ist und daß ich also, wenn ich das Eine bin, das andre nothwendig sein muß.“⁷ Die fließenden Übergänge einerseits zwischen Geschichte und Dichtung und andererseits zwischen Geschichte und Philosophie mögen sowohl die Empfindlichkeit mancher Fachvertreter (wie Heinrich) als auch die Ausflüge in verwandte Disziplinen (wie von Schiller) erklären. Schließlich hatte schon Aristoteles in seiner Poetik (330 v. Chr.) verfügt, daß „die Dichtung auch philosophischer und bedeutender als die Geschichtsschreibung“ sei, weil Dichtung das Allgemeine und Geschichte hingegen nur das Besondere anspreche.⁸ Deshalb mußte sich eine Wissenschaft der ‚Allgemeinen Geschichte‘ – im Bedürfnis nach methodologischer Selbstbesinnung auf das eigene Fach – umso mehr gegen Übergriffe philosophierender Dichter zur Wehr setzen, die sich wie Schiller vor dem Hintergrund so autoritativer Verfügung und im Anschluß an Kant einem historiographischen Idealismus verschrieben hatten.⁹ Immanuel Kant – auch er ein Philosoph, der in historischen Gefilden wilderte – hatte in seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) die Grenze zwischen Geschichte und Dichtung damit markiert, daß einerseits „ein philosophischer Versuch, die allgemeine Weltgeschichte nach einem Plane der Natur, der auf die vollkommene bürgerliche Vereinigung in der Menschengattung abziele, zu bearbeiten“, der Idee der Geschichte selbst folgt und daß andererseits bei einem dichterischen Versuch, der Geschichte einen solchen idealen Plan nur zu unterlegen und sie nach einem poetischen Muster zu idealisieren, „nur ein Roman zu Stande kommen“ könne.¹⁰ Die damit aufgeworfene Frage nach dem Unterschied eines historischen und eines poetischen Idealismus hat auch Schiller so bewegt, daß der provokante Zweifel am Zweck der Universalgeschichte nicht nur die Forschung seines Jenaer Kollegen, sondern die ganze Zunft der Geschichtswissenschaft, wie sie sich seit der Mitte des Jahrhunderts an den Universitäten zu entwickeln begann, in Frage gestellt hat. Deshalb soll der folgende Überblick einerseits das von Schiller angegriffene Projekt der Univer-

 Ebd.  Aristoteles, Poetik, übers. v. Olof Gigon, Stuttgart: Reclam 1961, S. 39 (1451 b, 9. Kap.).  Vgl. Hinrich C. Seeba, Historiographischer Idealismus? Fragen zu Schillers Geschichtsbild, in: Friedrich Schiller: Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung, hrsg. v. Wolfgang Wittkowski, Tübingen: Niemeyer 1982, 229 – 251.  Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Kant, Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie, Ethik und Politik, hrsg. v. Karl Vorländer, Hamburg: Meiner 1959, 3 – 20, S. 18 (Neunter Satz).

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salgeschichte und andererseits die von Schiller verletzte Abgrenzung der Geschichte gegen Dichtung skizzieren. Christoph Gottlob Heinrich (1748 – 1810), der bis zu seiner Berufung nach Jena selber Professor der Philosophie in Leipzig war und sich nun als Historiker beweisen mußte, war mit seiner zwischen 1788 und 1805 in neun Bänden erscheinenden Teutschen Reichsgeschichte an dem größten universalhistorischen Forschungsprojekt des 18. Jahrhunderts beteiligt, das – in Übereinstimmung mit dem Interesse der Aufklärung an einer, trotz Aristoteles, „allgemeinen Geschichte“ – die gesamte Weltgeschichte aufzuarbeiten versuchte. Die erste Phase dieses ursprünglich englischen Unternehmens, die ab 1744 auch in deutscher Fassung erscheinende Universal History from the Earliest Account of Time to the Present (1736 – 1765), erwies sich als so umfangreich und unhandlich, daß John Gray und William Guthrie ab 1764 einen Auszug in zwölf Bänden, A General History of the World from the Creation to the Present Time, zusammenstellten. Aber auch die deutsche Bearbeitung dieser Kurzfassung erlangte wieder einen solchen Umfang, daß sich die Konzeption der Weltgeschichte in einzelne Völker- und Staatengeschichten, unter ihnen auch Heinrichs vielbändige Teutsche Reichsgeschichte und sein Handbuch der deutschen Reichsgeschichte (1800), auflöste.¹¹ Wie das von vielen englischen und deutschen Gelehrten getragene Gemeinschaftsunternehmen war erst recht der Versuch eines Einzelforschers, des in Göttingen lehrenden Historikers Johann Christoph Gatterer (1727– 1799), die gesamte Weltgeschichte in einem Handbuch der Universalhistorie (1761, mit mehrfachem Neuansatz bis 1792) zusammenzutragen, so lange zum Scheitern verurteilt, wie ein philosophisch begründetes und methodologisch abgesichertes Ordnungsprinzip fehlte. Darum haben sich vor Kant und Schiller bereits der seit 1750 am Hof Friedrichs des Großen wirkende Aufklärer Voltaire (Essai sur l’histoire universelle, 1754), der seit 1765 an der Berliner Ritterakademie lehrende Jakob Daniel Wegelin (Histoire universelle et diplomatique, 1776 – 1780) und der ab 1770 in Göttingen lehrende

 Vgl. allgemein zur Universalgeschichte im 18. Jahrhundert Franz X. von Wegele, Geschichte der Deutschen Historiographie seit dem Auftreten des Humanismus, München/Leipzig: Oldenbourg 1885, besonders im Zusammenhang der „deutschen Geschichtschreibung im Zeitalter der klassischen Nationalliteratur“, 745 – 974; Eduard Fueter, Geschichte der Neueren Historiographie [reprograph. Nachdruck der Ausgabe München 31936, mit einem Vorwort von Hans Conrad Peyer], Zürich/Schwäbisch-Hall: Orell Füssli 1985, bes. 372– 375; Harry Elmer Barnes, A History of Historical Writing, New York: Dover Publications 21962, S. 171 f. Wegele hat auch das Porträt Christoph Gottlob Heinrichs für den 11. Band der Allgemeinen Deutschen Biographie (ADB) geschrieben (Leipzig: Duncker & Humblot 1880, 643 f.). Vgl. auch Fueter, Geschichte der Neueren Historiographie, S. 402: „Aber die pseudopoetische Form der humanistischen Historiographie wurde unter seinen Händen in etwas Höheres verwandelt. Ein wirklicher Künstler, nicht bloß ein Rhetor nahm sich der Historie an“.

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August Ludwig Schlözer (Vorstellung der Universal-Historie mit der methodologischen Erörterung Ideal der Weltgeschichte, 1772) bemüht. Voltaire (1694– 1778), der 1750 vom Pariser Hof an den Hof von Potsdam übergewechselt war, wandte sich in seinem Essay zur Universalgeschichte entschieden gegen höfische Gefälligkeitsgeschichte und bestand ähnlich wie Thukydides darauf, daß der im Sinne der Aufklärung kritische Historiker keine Rücksicht auf den Publikumserfolg nehmen dürfe. Weil der königliche Dienstherr solche Verweigerung historiographischer Schmeichelei mit Ungnade bestrafen könnte, vermutete Voltaire, daß Friedrich der Große 1753 eine von Voltaire nicht autorisierte Version seines Abrégé de l’histoire universelle bei seinem Hofbuchhändler Jean Neaulme in Den Haag hat drucken lassen, um damit Voltaires Rückkehr nach Paris zu verhindern. Deshalb sah sich Voltaire gezwungen, 1754 eine erweiterte und korrigierte Fassung seines Essays (der 1756 ein Teil des vierbändigen Essai sur les moeurs et l’ésprit des nations et sur les principaux faits de l’histoire depuis Charlemagne jusqu’au Louis XIII wurde) bei Cramer in Genf herauszubringen. Die Forderung historiographischer Objektivität hatte also durchaus auch politische Implikationen, die sonst – bis zu Heinrich Heines spöttischer Kritik an Rankes Historismus – meistens im Hintergrund blieben. Jakob Daniel Wegelin (1721– 1791), der neben seiner Lehrtätigkeit an der Ritterakademie gleichzeitig Archivar der Akademie der Wissenschaften war, hat in der ersten seiner fünf Memoires sur la philosophie de l’histoire (1770), in der es um die enchaînure des faits geht, das erstaunliche Zugeständnis gemacht, daß man sich die Abfolge historischer Begebenheiten nach dem Muster narrativer Reihenbildung vorstellen muß, „wie sie der Faden der Erzählung bestimmt“.¹² Dabei spielt das formale „Princip“ der Anordnung des historischen Materials eine wichtige, mit der Erzählstruktur vergleichbare Rolle: Die historischen Beziehungen sind nur dann erst gut geordnet, wenn man die Begebenheiten in Reihen gestellt hat. Eine historische Reihe ist eine Folge von Begebenheiten, welche durch ein Princip, das ihnen zum Quellpunct und zur Grundlage dient, zur Aneinanderfolge bestimmt waren.¹³

Unter dem von Wegelin geforderten Prinzip, das Ausgangspunkt und Grundlage der narrativen Anordnung ist, muß man sich einen leitenden Gedanken, vielleicht gar eine Idee vorstellen, die das Material so organisieren hilft, daß die Bedeutung

 Jakob Daniel Wegelin, Sur la philosophie de l’histoire, Berlin: Chrétien Fréderic Voss 1772, 361– 414; die deutsche Übersetzung erschien als Beilage in Karl Rosenkranz, Das Verdienst der Deutschen um die Philosophie der Geschichte, Königsberg: Unzer 1835, 31– 60, S. 35 = 363.  Ebd., S. 38 = 364 f.

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eines historischen Zusammenhangs erst aus der Zusammenstellung seiner Elemente verständlich wird. Eine solche hermeneutisch gemeinte Integration von Ereigniszusammenhang und Darstellungszusammenhang erinnert an den Begründer der historischen Hermeneutik, Chladenius. Wiewohl Johann Martin Chladenius (1710 – 1759) in seiner hermeneutischen Gründungsschrift Einleitung zur richtigen Auslegung vernünfftiger Reden und Schrifften (1742) noch klarstellt, daß „erdichtete Geschichte nichts anders als Fabeln“ seien – wobei er für die Abstraktion der „Geschichten“ (stories) den Kollektivsingular „Geschichte“ (history) mal wie hier im ursprünglichen Plural und mal im abstrahierenden Singular gebraucht –, betont er, daß jede Darstellung der Geschichte nur eine perspektivische Vorstellung repräsentiert, die mit anderen solchen Vorstellungen abgeglichen werden muß, wenn wir, durch kritische Interpretation der unterschiedlichen Vorstellungen, zur historischen Wahrheitsfindung vordringen wollen: Historien sind Erzehlungen desjenigen, was in der Welt geschehen ist. Es ist klar, daß man eine geschehene Sache, wenn man die Wahrheit reden will, wie wir solches voraussetzen, nicht anders erzehlen kann als wie man sich dieselbe vorgestellet hat; daher wir auch durch eine Erzehlung unmittelbar auf den Begriff kommen, den der Verfasser von der Geschichte hat, mittelbar aber, und durch eine kurtze Folge, auch dadurch zur Erkänntniß der Geschichte selbst gelangen.¹⁴

Nach Chladenius’ Theorie des „Sehepunkts“ muß man sich bei der auf Allgemeinverbindlichkeit zielenden Begriffsbildung der Geschichtswissenschaft immer daran erinnern, daß die Darstellung der Geschichte auf der je anderen, weil perspektivierten Vorstellung der Geschichtsschreiber beruht, die im Widerspruch zu anderen Vorstellungen desselben Vorgangs stehen kann.¹⁵ Was wir also für

 Johann Martin Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünfftiger Reden und Schrifften [photomech. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1742], Düsseldorf: Stern-Verlag Janssen 1969, S. 183 (§ 307).  Ein früher Vorläufer des historischen Perspektivismus findet sich in Johann Jacob Mascous Geschichte der Teutschen bis zu Anfang der Fränckischen Monarchie (Leipzig: Jacob Schuster 1726), in deren (unpaginierter) Vorrede es zum Unterschied von Geschichte und Dichtung heißt: „Ich habe mich um so viel sorgfältiger gehütet, nicht etwan an statt der Historie einen Roman zu machen, ie unvermerckter es hätte geschehen können. Es haben sich nicht allein, viel Neuere dergleichen Freyheit genommen, sondern es findet sich schon in den alten Historien der Sachsen und Francken viel Abendtheuer. Man sahe in den unwissenden Zeiten dergleichen Schreib-Art, als eine Kunst den Leser durch Verwunderung aufmercksam zu machen, an; und es dorffte einer erzehlen, was er nur wolte, so fanden Leute, die, weil sie noch weniger Fähigkeit nachzudencken hatten, es willig glaubeten. Wenn die Connexion sich nich von selbst ergeben, habe [ich] lieber in der Ersehlung die Ecken etwas herfür ragen lassen, als die Umstände, in

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Geschichte halten, ist ein Interpretandum, für das Regeln des Verstehens in der dafür gegründeten Hermeneutik gelten. Zu diesem Zweck hat Chladenius am Anfang seines Methodenwerks Allgemeine Geschichtswissenschaft (1752) schon zwanzig Jahre vor Wegelin die Begriffe ‚Geschichte‘, ‚Reihe‘ und ‚Zusammenhang‘ zu klären versucht: „Eine Reyhe von Begebenheiten wird eine Geschichte genennet.“¹⁶ Wenn er dabei den unbestimmten Artikel gebraucht, meint er mit Geschichte noch die erzählte Geschichte (story), aus der die im Kollektivsingular abstrahierte Geschichte (history) hervorgeht, auch wenn sie über die narrative Struktur mit ihr verbunden bleibt; denn „das Wort Reyhe bedeutet“, so fährt er fort, „nicht bloß eine Vielfalt oder Menge; sondern zeigt auch die Verbindung derselben unter einander, und ihren Zusammenhang an.“¹⁷ Der Begriff ‚Zusammenhang‘ ist aber, weil er sowohl den Ereignisals auch den Darstellungszusammenhang bezeichnet, so mißverständlich, daß Chladenius schließlich noch einmal auf die terminologische Klärung zu sprechen kommt, indem er für den „Zusammenhang der Begebenheiten“, „um ihn nicht mit der Verbindung der Sätze in denen Schlüssen, zu vermengen“, „das Wort Fügung“ einführt: Nehmlich bey zwey Sachen, die sich zusammen fügen, wie zwey Kerbhöltzer, oder die Glieder an einem Gelencke, sind dieselben zwar würcklich ausser einander, und von einander unterschieden, unterdessen wird doch jeder urtheilen, wie diese Sache eine Verbindung mit einander haben. Zwey Begebenheyten fügen sich also zusammen (congruunt).¹⁸

Auch wenn wir heute mit dem Begriff der Fügung eher eine quasi-religiöse Vorstellung wie Vorsehung und Schicksal assoziieren, so ist doch festzuhalten, daß Chladenius mit seiner Begriffsklärung zwischen der Verbindung der Begebenheiten (Geschichte als Ereigniskette: history) und der Verbindung der Sätze (Geschichte als Sprachgebilde: story) nur unterscheidet, um ihre strukturelle Analogie bewußt zu machen; denn, wie er schon früher betont hatte, erst die Darstellung ist das Medium („mittelbar“) der „Erkenntnis der Geschichte“.

welchen sie sich gleichsam verliehren möchten, erdencken wollen. Man muß gar vieles hier eben so ansehen, wie in der Mahlerey die entferneten Sachen vorgestellt werden.“ Mascou hat hier, noch dem horazischen Ut-pictura-poesis-Gebot folgend, die Darstellung der weiter zurückliegenden und deshalb weniger bezeugten Geschichte mit der Malperspektive verglichen, die das Ferne kleiner, unschärfer und in blauer Atmosphäre verschimmern läßt.  Johann Martin Chladenius, Allgemeine Geschichtswissenschaft, worinnen der Grund zu einer neuen Einsicht in allen Arten der Gelahrtheit geleget wird, Leipzig: Friedrich Lanckischens Erben 1752, S. 7.  Ebd., S. 7.  Ebd., S. 274 (§ 51).

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August Ludwig Schlözer (1735 – 1809) hat sich schon im Titel seiner Vorstellung einer Universal-Historie (1772) der von Chladenius übernommenen Begriffsbildung bedient und versucht, seine ‚Vorstellung‘ von Universalgeschichte dadurch auf den ‚Begriff‘ zu bringen, daß er sie als Entwicklungsgeschichte konzipiert, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart vermittelt: Die Universalhistorie muß uns zeigen, wie sie das im Ganzen und in ihren Theilen ward, was sie vordem war und itzo ist: sie soll die vergangene Welt an die heutige anschliessen, und das Verhältniß beider gegen einander lehren.¹⁹

Weiterhin verbindet er Chladenius’ historischen Perspektivismus („Sehepunkt“) mit Wegelins Forderung eines erkenntnisleitenden Prinzips, das das Material in einen systematischen Zusammenhang rückt: Man kann sich die Weltgeschichte aus einem doppelten Gesichtspunct vorstellen: entweder als ein Aggregat aller Specialhistorien, deren Sammlung, falls sie nur vollständig ist, deren blosse Nebeneinanderstellung, auch schon in seiner Art ein Ganzes ausmacht; oder als ein System, in welchem Welt und Menschheit die Einheit ist, und aus allen Theilen des Aggregats einige, in Beziehung auf diesen Gegenstand, vorzüglich ausgewählt, und zweckmäßig geordnet werden.²⁰

Die „Aggregat“ genannte „Vielfalt oder Menge“ (Chladenius) des Datenmaterials muß in eine „System“ genannte „Verbindung derselben unter einander“ (Chladenius) gebracht werden, in einen selektiven Zusammenhang, dessen „Einheit“ sich aus der thematischen Orientierung an „Welt und Menschheit“ ergibt. Wenn Schlözer in der Herstellung dieses anthropologischen Zusammenhangs die eigentliche Aufgabe des Geschichtsschreibers sieht, geht er sogar so weit, daß er die Analogie zur Dichtung, gegen die sich die meisten Historiker abzugrenzen versuchen, zum Kriterium der wissenschaftlichen Anerkennung erhebt: die Zusammenstellung ist das Werk des Geschichtschreibers. Wenn Einheit in dem ganzen Plane der Zusammenstellung herrscht, so gewinnt die Universalhistorie ein wissenschaftliches Ansehen, so wird sie zur Würde der Epopee erhoben. Die besondere Art dieser Zusammenstellung macht die Methode der Universalhistorie aus.“²¹

Wenn der „Zusammenhang“ der Begebenheiten erst das Werk ihrer historiographischen „Zusammenstellung“ nach dem Muster der Dichtung („Epopoee“ als  August Ludwig Schlözer, Vorstellung seiner Universal-Historie, Göttingen/Gotha: Johann Christian Dieterich 1772, S. 4.  Ebd., S. 14.  Ebd., S. 45.

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historisches Epos) ist, dann beginnt mit diesem ausdrücklich methodologischen Hinweis eine Ästhetisierung historischer Forschung, die auch einem philosophisch denkenden Dichter wie Schiller ein Mitspracherecht bei der Zweckbestimmung der Universalgeschichte einräumt. Hatten die meisten Historiker in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als sich die Geschichtswissenschaft eine methodologische Grundlage zu geben versuchte, wie Lessing im 52. Literaturbrief (1759) gegen Historiker plädiert, die zur Ergänzung und Ausschmückung einer ungenügenden Quellenlage Zuflucht bei der poetischen Phantasie suchten („O weg mit diesem poetischen Geschichtschreiber!“),²² betrat nun ausgerechnet der bekannteste poetische Geschichtsschreiber der Zeit, Friedrich Schiller, mit einer Antrittsvorlesung, die das vornehmste Projekt der Gelehrten in Frage stellte, die Bühne der Geschichtswissenschaft. Zwar hatte Schiller bereits die Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande (1788) vorgelegt, aber er war zu bekannt als Dichter auch historischer Themen, um von den neuen Universitätskollegen nicht mit einiger Skepsis begrüßt zu werden, zumal er in der Vorrede zu seinem historischen Hauptwerk – nicht ganz ohne Spitze gegen den üblichen Historiographenstil – für eine der Dichtung analoge Darstellungsform plädiert hatte: Meine Absicht bei diesem Versuche ist mehr als erreicht, wenn er einen Teil des lesenden Publikums von der Möglichkeit überführt, daß eine Geschichte historisch treu geschrieben sein kann, ohne darum eine Geduldprobe für den Leser zu sein, und wenn er einem andern das Geständnis abgewinnt, daß die Geschichte von einer verwandten Kunst etwas borgen kann, ohne deswegen notwendig zum Roman zu werden.²³

Nachdem sich einige der hier vorgeführten Historiker darüber Gedanken gemacht hatten, welche formalen Prinzipien die Geschichte von der verwandten Dichtkunst „borgen“ könnte, „ohne deswegen notwendig zum Roman zu werden“, greift Schiller in seiner Antrittsvorlesung nur die von ihnen diskutierte „lange Kette von Begebenheiten“ auf,²⁴ ohne zur Theorie ihrer Verknüpfung wirklich Neues hinzuzufügen. Vielmehr borgt sich Schiller ohne Quellenangabe von

 Gotthold Ephraim Lessing, Briefe, die neueste Literatur betreffend [1759 – 1765], in: Lessing, Werke, hrsg. v. Herbert G. Göpfert, Bd. 5, München: Hanser 1973, 30 – 329, 52. Brief (23. August 1759), 185 – 191, S. 186.  Schiller, Vorrede zu Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung [1788], in: Schiller, dtv-Gesamtausgabe, hrsg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, 20 Bde., München: dtv 1965 – 1966, Bd. 13, 25 – 27, S. 27.  Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? [Jenaer Antrittsvorlesung am 26. Mai 1789], in: Schiller, dtv-Gesamtausgabe, hrsg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, 20 Bde., München: dtv 1965 – 1966, Bd. 15, 7– 24, S. 18.

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Schlözer dessen zentralen methodologischen Gedanken, das Verhältnis von „Aggregat“ und „System“, um die Rolle des Philosophen in der Geschichtsschreibung zu rechtfertigen: So würde denn unsre Weltgeschichte nie etwas anders als ein Aggregat von Bruchstücken werden und nie den Namen einer Wissenschaft verdienen. Jetzt also kommt ihr der philosophische Verstand zu Hülfe, und indem er diese Bruchstücke durch künstliche Bindungsglieder verkettet, erhebt er das Aggregat zum System, zu einem vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen.²⁵

Nun ist es also nicht primär der Dichter, sondern der Philosoph, der die „Bruchstücke durch künstliche Bindungsglieder verkettet“ und in ihrer künstlerischen Zusammenstellung den vernunftmäßigen Zusammenhang des Ganzen erst anschaulich macht. Während es Schiller bei der Unterscheidung historischer Forschungsansätze eigentlich um den „philosophischen Kopf“ geht, der in seiner unermüdlichen Wißbegier begriffen hat, „daß im Gebiete des Verstandes, wie in der Sinnenwelt, alles ineinander greife“, und dabei „die Wahrheit immer mehr geliebt [hat] als sein System“,²⁶ richtet sich seine einleitende Polemik, die seine Historiker-Kollegen treffen sollte, gegen die „Brotgelehrten“, die aus geistloser Angst vor neuen Herausforderungen ihre Wissenschaft „von allen übrigen, die den Geist nur als Geist vergnügen, auf das sorgfältigste abzusondern“ versuchen und nichts Besseres zu tun haben, als „die zusammengehäuften Gedächtnisschätze zur Schau zu tragen und ja zu verhüten, daß sie in ihrem Werte nicht sinken“.²⁷ Weil Wissen für den Brotgelehrten nur Ware ist, für die er seinen Lohn „von fremder Anerkennung, von Ehrenstellen, von Versorgung“ erwartet, fühlt er sich „abgeschnitten, herausgerissen aus dem Zusammenhang der Dinge, weil er unterlassen hat, seine Tätigkeit an das große Ganze der Welt anzuschließen“. ²⁸ Der Brotgelehrte unter den Historikern ist nur der unterbezahlte Verwalter eines historischen Archivs, ohne Sinn für den Zusammenhang und die Bedeutung der darin gesammelten Tatsachen. Im Gegensatz dazu kann der Zusammenhang der Dinge, das große Ganze der Welt, nur dem philosophischen Kopf aufgehen, weil nur er die Universalgeschichte als Bildungsgeschichte verstehen und betreiben kann, in der wir uns als „Schuldner vergangener Jahrhunderte“ sehen sollen:

   

Schiller, Universalgeschichte, S. 20. Ebd., S. 10. Ebd., S. 8. Ebd., S. 9.

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Welche Zustände durchwanderte der Mensch, bis er […] vom ungeselligen Höhlenbewohner – zum geistreichen Denker zum gebildeten Weltmann hinaufstieg? – Die allgemeine Weltgeschichte gibt Antwort auf diese Frage.²⁹

Wenn, um ein aktuelles Beispiel zu geben, selbst der gegenwärtige Augenblick, die Reflexion auf Gegenstand und Zweck der Universalgeschichte im Hörsaal zu Jena, „das Resultat vielleicht aller vorhergegangenen Weltbegebenheiten“ ist,³⁰ dann verrät sich Schillers Antrittsvorlesung als moralisch-didaktisches Plädoyer für das Bewußtsein der eigenen Geschichtlichkeit, dafür, daß wir in einen großen diachronen und synchronen Zusammenhang eingebunden sind, der sich aus dem „Verhältnis eines historischen Datums zu der heutigen Weltverfassung“ ergibt.³¹ Die Geschichtlichkeit des eigenen Standpunkts ist nur die dialektische Kehrseite der Aktualität des Historischen. Weil sich Schiller mehr für die moralische Mission der Universalgeschichte als für ihre theoretischen Voraussetzungen interessiert, ist für ihn das Verhältnis von Geschichte und Dichtung theoretisch nicht so heikel wie für die zeitgenössischen Historiker. Vielmehr praktiziert er die poetische Analogie, indem er den Philosophen der Geschichte den poetischen Ordnungssinn auf den historischen Vorgang projizieren läßt: Er nimmt also die Harmonie aus sich selbst heraus und verpflanzt sie außer sich in die Ordnung der Dinge, d.i. er bringt einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt und ein teleologisches Prinzip in die Weltgeschichte.³²

Die „Harmonie“ der Welt ist also nur noch eine heuristische Projektion zum Zweck der besseren Verständigung. Diese Aussage unterscheidet Schillers poetischen Idealismus von dem historischen Idealismus, den Kant im Sinn hatte, als er einen solchen Versuch, der Geschichte einen vernünftigen Plan nur zu unterlegen, anstatt den vernünftigen Plan der Geschichte selbst bloß aufzudecken, in den Bereich des Romans verwies. Mit diesem konstruktivistischen Gedanken, daß der Geschichtsschreiber seinen eigenen Idealismus auf die Geschichte nur überträgt, erweist sich Schiller als der poetische Geschichtsschreiber, wie ihn Lessing wie viele Fachhistoriker abgelehnt hat. Deshalb ist seine umstrittene, sogar durch vernichtende Urteile jüngerer Zeitgenossen wie des (ab 1810 in Berlin lehrenden) dänischen Historikers

   

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 15. S. 16. S. 19. S. 21.

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Barthold Georg Niebuhr³³ markierte Stellung in der Geschichte der Geschichtsschreibung vor allem ein rezeptionshistorisches Phänomen. Schiller ist ein allen Kontrahenten bekanntes Paradebeispiel dafür, daß die Problematik eines historischen Tatbestands, das schwierige Verhältnis zwischen Geschichte und Dichtung, erst durch einen Vergleich der verschiedenen darauf fixierten „Sehepunkte“ verschiedener Schiller-Interpreten ausgeleuchtet wird und erst durch so prominente Thematisierung ins Bewußtsein tritt. Unter den Historikern der Geschichtsschreibung hat sich am entschiedensten Eduard Fueter in seiner Geschichte der Neueren Historiographie (1911) zu Schiller geäußert. Schillers Einleitung in die Geschichte des Abfalls der Niederlande (1788) sei „ein schlimmes Stück phrasenhafter Revolutionsrhetorik“, weil er „lieber poetisch ergreifen als belehren will“.³⁴ Die ins Politische gewendete moralische Absicht bedient sich also vorzugsweise poetischer Mittel, um zu „ergreifen“, anstatt durch historisches Material zu „belehren“. Doch habe sich „die pseudopoetische Form der humanistischen Historiographie […] unter seinen Händen in etwas Höheres verwandelt“,³⁵ auch wenn sein „Meisterwerk“, die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges (1791– 1793), daran leidet, daß er als historischer Dramaturg nur an den Individuen wie Gustav Adolf und Wallenstein interessiert sei und ohne sie, wie Schiller am Ende selbst zugibt, keine „Einheit der Handlung“ mehr habe finden können. In Fueters Urteil ist Schiller als Historiker gescheitert, weil er sich just jener Individualisierung des Geschehens verschrieben hat, die er in den Augen späterer Kritiker verfehlt hat. Eine Generation später, im Jahr 1936, haben gleichzeitig die Historiker R. G. Collingwood (1889 – 1943) und Friedrich Meinecke (1862– 1954) ganz unterschiedliche Urteile über Schillers Stellung in der Geschichte der Historiographie gefällt. Auf der einen Seite hat Meinecke in seinem Buch Die Entstehung des Historismus (1936) Schiller zusammen mit Lessing, Winckelmann und Kant der ‚idealisierenden‘ Richtung des Geschichtsdenkens zugewiesen und damit aus

 Vgl. Lebensnachrichten ü ber Barthold Georg Niebuhr, aus Briefen desselben und aus Erinnerungen einiger seiner nä chsten Freunde, hrsg. v. Madame Hensler, 3 Bde., Hamburg: Perthes 1838 – 1839, Bd. 2, S. 82: Niebuhr erinnert sich hier an seine Lektüre von Schillers Geschichte des Dreißigjährigen Krieges (1791– 1793), er habe „einmal über das andere die Hände erneut zusammengeschlagen, nicht durch das Werk getroffen – o keineswegs, sondern durch Verwunderung über die Möglichkeit, daß eine solche Schrift, die nicht einmal gut geschrieben ist, und deren Erzählung nie fortströmt, sondern holpert und stolpert, zu einem classischen Werke gestempelt ist. Die Zeit wird freilich Recht üben, und das Ding unter die Bank strecken.“ Vgl. allerdings zu Niebuhrs eigenem Stil Fueter, Geschichte der Neueren Historiographie, S. 470: „Er verstand weder zu komponieren noch gefällig zu schreiben.“  Fueter, Geschichte der Neueren Historiographie, S. 401.  Ebd., S. 402.

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seinem eigentlichen Themenkreis, den von Möser, Herder und vor allem Goethe vertretenen ‚individualisierenden‘ Anfängen des Historismus ausgeklammert.³⁶ Auf der anderen Seite hat Collingwood in seinen Oxford-Vorlesungen von 1936, die unter dem bezeichnenden Titel The Idea of History (1946) posthum herausgegeben wurden, Schillers Unterscheidung des ‚philosophischen Kopfes‘ vom ‚Brotgelehrten‘ zum Anlaß seiner wichtigsten These zur Ideengeschichte genommen, „that in itself history is nothing but the re-enactment of past thought in the historian’s mind“.³⁷ Für den philosophisch ausgerichteten Historiker wie Collingwood ist Geschichte nur der Nachvollzug vergangener Ideen. Während es Meinecke vor allem um den Entwicklungsgedanken geht, zu dem „der durch ein normatives Ideal bestimmte Vervollkommnungsgedanke“ der – politisch meistens progressiven – Idealisten im Gegensatz steht,³⁸ urteilt Collingwood von dem Perspektivismus historischer Wahrheitsfindung her. Für ihn ist das subjektive, durch den jeweiligen Standpunkt bestimmte Moment in der Analyse geschichtsbestimmender Ideen die kreative Kraft der historischen Phantasie, die das Geschehen wie einen Roman strukturiert: „As works of imagination, the historian’s work and the novelist’s do not differ. Where they do differ is that the historian’s picture is meant to be true.“³⁹ Nur durch ihre Fiktionalität unterscheidet sich die poetische von der historischen Phantasie. Nachdem Wilhelm Dilthey, dem beide, Meinecke und Collingwood, verpflichtet sind, in seinen Typen der Weltanschauung (1911) den (zweiten) Typus des „subjektiven Idealismus“ am eindrucksvollsten durch Schiller verkörpert sah,⁴⁰ blieb dem weltanschaulichen ‚Realisten‘ (der Diltheys erstem Typus, dem ‚Naturalisten‘, entspricht) unter den Historiographen gar nichts anderes übrig, als Schiller den Zugang zum ‚realistisch‘ interpretierten, auf den Objektivitätsanspruch festgelegten Historismus zu verwehren, während ihn der ‚Idealist‘ unter den Historiographen als Vorläufer der Romantiker sehen mußte: „This is really the historical method of the Romantic school.“⁴¹ Damit lassen sich, in schematischer Verkürzung, zwei Typen des Wirkungsbildes unterscheiden, die so auch schon für den ähnlich umstrittenen Lessing  Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus, 2 Bde., München/Berlin: Oldenbourg 1936, bes. Bd. 2, S. 310 ff.  R. G. Collingwood, The Idea of History, London/Oxford/New York: Oxford University Press 1946, S. 228.  Meinecke, Die Entstehung des Historismus, Bd. 2, S. 312.  Collingwood, The Idea of History, S. 245.  Wilhelm Dilthey, Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen [1911], in: Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 8, Stuttgart: Teubner / Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 31962, 75 – 118, bes. S. 111: „Schiller ist der Dichter dieses Idealismus der Freiheit, wie Carlyle sein Prophet und Historiker ist.“  Collingwood, The Idea of History, S. 105.

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galten:⁴² Anhänger des Historismus neigen zu einem negativen, seine Kritiker zu einem positiven Urteil über den Historiker Schiller. Das schlichte Rezeptionsmodell kann allerdings, im Vorgriff auf aktuelle Fragestellungen, entsprechend differenziert werden. Kritiker und Fürsprecher des Historikers Schiller scheiden sich, vor dem Hintergrund ihres jeweiligen Historismus-Bildes, an der Beurteilung der Idee, die den Ereigniszusammenhang in der Geschichte bestimmt, und der ästhetischen Struktur, die den Darstellungszusammenhang in der Geschichtsschreibung organisiert. Auf diese beiden Aspekte werden sich die folgenden Überlegungen konzentrieren. Vielleicht kann ja der Widerspruch in dem gegensätzlichen Rezeptionsmodell aufgelöst werden, weil einerseits Schiller nicht nur der ‚idealisierenden‘ Richtung angehört und andererseits der Historismus in seiner ‚individualisierenden‘ Ausrichtung zwangsläufig auch ästhetischen Prinzipien folgt. Zu fragen ist also, ob der historiographische Idealismus, weil er nicht nur, in Hinblick auf die Geschichte, philosophisch, sondern, in Hinblick auf die Geschichtsschreibung, auch ästhetisch definiert ist, Schiller schließlich doch mit dem Historismus verbindet. Wer nun nicht gerade, wie Georg Büchner, den Dramatiker Schiller unter „die sogenannten Idealdichter“ zählen will, die „fast nichts als Marionetten mit himmelblauen Nasen und affectirtem Pathos, aber nicht Menschen von Fleisch und Blut gegeben haben“,⁴³ der wird dem idealistischen Darsteller der historischen und poetischen Wahrheit doch jene ‚Individualisierung‘ zugestehen müssen, die Meinecke dem Historiker Schiller abgesprochen hat. So könnte Schiller gerade als Dichter der Geschichte, der dem Historismus so suspekt war, philosophisch zu dessen Vorläufern gehören. In einer Aussage Schillers, die die Kritiker am meisten auf den Plan gerufen hat, könnte jene methodologische Verwandtschaft verborgen sein, die Collingwood angedeutet hat. Es handelt sich um ein Zitat aus dem vielzitierten Brief Schillers an Caroline von Beulwitz, das der ultramontane, als Gymnasialprofessor in Frankfurt am Main lehrende Historiker Johannes Janssen (1829 – 1891) seinem Buch Schiller als Historiker (1863) als Motto vorangestellt hat: „Die Geschichte ist überhaupt nur ein Magazin für meine Phantasie, und die

 Vgl. Hinrich C. Seeba, Lessings Geschichtsbild. Zur ästhetischen Evidenz historischer Wahrheit, in: Humanität und Dialog. Lessing und Mendelssohn in neuer Sicht, hrsg. v. Ehrhard Bahr, Eduard P. Harris und Laurence G. Lyon, Detroit: Wayne State University Press / München: edition text + kritik 1982, 289 – 303.  Georg Büchner, Brief an die Familie, 28. Juni 1835, in: Büchner, Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. v. Werner R. Lehmann, Bd. 2, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1971, S. 444.

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Gegenstände müssen sich gefallen lassen, was sie unter meinen Händen werden.“⁴⁴ Solche selbstherrliche Willkür im Umgang mit dem historischen Material mußte natürlich schockieren; sie reichte aus, Janssens vernichtendes Urteil zu rechtfertigen. Aber schon Richard Fester, der in seinem Buch Rousseau und die deutsche Geschichtsphilosophie (1890) dem bedrängten Schiller gegen Janssen zu Hilfe eilte, fand es „zum mindesten verwegen“, die Briefstelle „als ein Zeichen der unhistorischen Denkweise des Dichters“ zu interpretieren.⁴⁵ Es sollte nicht verwundern, daß Schiller, vor allem bevor ihm die Berufung nach Jena mehr wissenschaftliche Sorgfalt aufnötigte, das Problem der Geschichtsschreibung natürlich aus der Perspektive des Schriftstellers anging. So zielte schon eine frühere, ganz ähnlich lautende Briefstelle auf die Verwandlung des historischen Gegenstands in den Händen des Geschichts-Schreibers: Wenn ich aber auch nicht Historiker werde, so ist dieses gewiß, daß die Historie das Magazin seyn wird woraus ich schöpfe, oder mir die Gegenstände hergeben wird, in denen ich meine Feder und zuweilen auch meinen Geist übe.⁴⁶

Die Geschichte als Magazin abrufbarer Gegenstände, die der Phantasie als Übungsfeld für Feder und Geist dienen – das ist in der Tat eine kaum akzeptable Vorstellung für Historiker, die mit Leopold von Ranke „blos zeigen“ wollen, „wie es eigentlich gewesen“,⁴⁷ und die entsprechend wenig Sinn für die Vermittlungsprobleme ihrer Aufgabe haben. Gerade um solche Vermittlung zwischen historischer und poetischer Wahrheit jedoch war es Schiller zu tun, als er die Rolle des Geschichtsschreibers übernahm und, wie in der bereits zitierten Vorrede zur Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande, sich dazu bekannte, daß eine

 Schiller, Brief an Caroline von Beulwitz, 10. Dezember 1788, in: Schillers Briefe, hrsg. v. Fritz Jonas, Bd. 2, S. 173.  Richard Fester, Rousseau und die deutsche Geschichtsphilosophie. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Idealismus, Stuttgart: Göschen 1890, S. 92. Der 1908 als Professor der Geschichte nach Halle berufene und 1926 emeritierte Historiker hat sich im Dritten Reich als engagierter Mitarbeiter im antisemitischen Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschland und als Verfasser des Buchs Das Judentum als Zersetzungselement der Völker (1941) unrühmlich hervorgetan.  Schiller, Brief an Gottfried Körner, 27. Juli 1788, in: Schillers Briefe, hrsg. v. Fritz Jonas, Bd. 2, S. 93.  Die Gründungsformel des Historismus findet sich bei Leopold von Ranke, Vorrede, in: Ranke, Sämmtliche Werke, Bd. 33: Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514, Leipzig: Duncker & Humblot 21874, I–VIII, S. VII.

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Geschichte einerseits „historisch treu geschrieben“ sein muß und andererseits literarisch ansprechend geschrieben sein kann, „ohne deswegen notwendig zum Roman zu werden“. Wahrung der historischen Wahrheit bei gleichzeitiger Beachtung der poetischen Wahrheit – das ist der Balanceakt, den der Geschichtsschreiber Schiller bei der Verwandlung des Ereigniszusammenhangs in einen Darstellungszusammenhang zu leisten hoffte, ohne jener „Verletzung der Grenzengerechtigkeit“ schuldig zu werden, die er auf der dichterischen Seite seines Werks, in der Einleitung zu der Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786) zu Recht befürchtete;⁴⁸ denn während er theoretisch eine Alternative zwischen „diesen beiden Methoden“ aufstellte und dem „Geschichtsschreiber“, im Gegensatz zum mitfühlenden und mitreißenden „Redner und Dichter“, die nüchterne Darstellung des psychologischen und moralischen Begründungszusammenhangs zur Aufgabe machte,⁴⁹ entledigte er sich dieser bevorzugten Aufgabe des Geschichtsschreibers als Dichter: durch die Erzählung vom Verbrecher aus verlorener Ehre. Insofern ist die Grenzverletzung zwischen Philosophie und Geschichte, gegen die 1789 Schillers Jenaer Kollege Heinrich Beschwerde eingelegt hat, im Grunde genommen ein für die Historiographie jener Zeit charakteristischer Grenzübertritt von der Geschichte zur Dichtung. Während Schiller 1786, im Verbrecher aus verlorener Ehre, „die republikanische Freiheit des lesenden Publikums, dem es zukömmt, selbst zu Gericht zu sitzen“,⁵⁰ noch beim Geschichtsschreiber besser aufgehoben sah als beim Dichter, hat er 1799, als er an der poetischen „Gerichtsform“ von Maria Stuart arbeitete,⁵¹ „den poetischen Kampf mit dem historischen Stoff“ in der schweren Aufgabe gesehen, „der Phantasie eine Freiheit über die Geschichte zu verschaffen“.⁵² Aber die moralische Freiheit des Lesers durch den Geschichtsschreiber und die ästhetische Freiheit des Dichters über die Geschichte hängen ebenso zusammen wie, mit ihnen korrespondierend, die Idee der Geschichte und die vom Dichter geliehene Phantasie des Geschichtsschreibers. Auf die Frage, ob Schiller selbst diesen Zusammenhang zwischen der Philosophie der Geschichte und der Poetik der Geschichtsschreibung erkannt hat, findet sich eine mögliche Antwort in dem bereits zitierten Brief vom 10. Dezember 1788 an Caroline von Beulwitz, in dem Schiller zum Verdruß vieler Kritiker die Geschichte „nur ein Magazin für meine Phantasie“ genannt hat. In diesem Brief

 Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre, in: Schiller, dtv-Gesamtausgabe, hrsg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, Bd. 16, 8 – 28, S. 9.  Ebd.  Ebd.  Schiller, Brief an Goethe, 12. Juli 1799, in: Schillers Briefe, hrsg. v. Fritz Jonas, Bd. 6, S. 56.  Schiller, Brief an Goethe, 19. Juli 1799, in: Schillers Briefe, hrsg. v. Fritz Jonas, Bd. 6, S. 59.

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hat Schiller durchaus nicht, wie man auf den ersten Blick argwöhnen könnte, einer wildgewordenen, aus den Fesseln historischer Tatsachentreue befreiten Phantasie das Wort geredet, sondern vielmehr den Unterschied zwischen historischer und poetischer Wahrheit herausgearbeitet, weil er darin die Bedingung für die Möglichkeit der Verwandlung von Ereignisstrukturen in Erzählstrukturen sieht. Einleitend gesteht Schiller der Adressatin den „Vorzug der Wahrheit, den die Geschichte vor dem Roman voraushat“, nur zu, um sie damit für seine Gegenthese zu gewinnen: Es fragt sich nur ob die innere Wahrheit, die ich die philosophische und Kunstwahrheit nennen will, und welche in ihrer ganzen Fülle im Roman oder in einer andern poetischen Darstellung herrschen muß, nicht eben soviel Werth hat als die historische.⁵³

Die Gleichsetzung der inneren Wahrheit, die als „die philosophische und Kunstwahrheit“ Philosophie und Ästhetik verbindet, mit der historischen Wahrheit eröffnet die Möglichkeit, daß die poetische Wahrheit auch in einer nicht-poetischen, selbst in einer historischen Darstellung ein Mitspracherecht hat. Weil damit die Übertragbarkeit der zugleich philosophisch und ästhetisch definierten inneren Wahrheit auf den Bereich historischer Wahrheit gesichert scheint, sind Schillers weitere Aussagen über den Vorzug der poetischen Wahrheit, nun in direkter Umkehrung des einleitenden Zugeständnisses, so wichtig für das Verständnis ästhetischer Strukturen in der Geschichtsschreibung. Im Gegensatz zur programmatischen Einleitung zum Verbrecher aus verlorener Ehre wird jetzt dem Dichter statt des Geschichtsschreibers die Kunst zugestanden, den einzelnen Menschen mit den Empfindungs-, Handlungs- und Ausdrucksweisen des Menschen schlechthin bekannt zu machen, sogar „ohne daß die Begebenheit wirklich vorgefallen sein muß“: „Man lernt auf diesem Weg den Menschen und nicht den Menschen kennen, die Gattung und nicht das sich so leicht verlierende Individuum. In diesem großen Felde ist der Dichter Herr und Meister.“⁵⁴ Als wollte er selbst den Beweis für Meineckes Charakterisierung antreten, hat Schiller die „Gattung“ dem „Individuum“ und damit, in Übereinstimmung mit Aristoteles, die Allgemeingültigkeit der von den Anhängern des Historismus betonten Tatsächlichkeit vorangestellt. In der Erweiterung des historisch faßbaren Individuums zur philosophisch reflektierten Gattung Mensch, in der die allgemeine oder auch „philosophische und Kunstwahrheit“ sichtbar

 Schiller, Brief an Caroline von Beulwitz, 10. Dezember 1788, in: Schillers Briefe, hrsg. v. Fritz Jonas, Bd. 2, S. 172.  Ebd.

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wird, erweist sich Schiller wirklich als Vertreter der ‚idealisierenden‘ Richtung im frühen Geschichtsdenken. Dabei vertritt Schiller den historiographischen Idealismus nur in dem Maße, wie die von der Dichtung übernommenen Erzählstrukturen die Darstellung des Allgemein-Menschlichen überhaupt erst ermöglichen. War er schon im Verbrecher aus verlorener Ehre skeptisch „gegen die gewöhnliche Behandlung der Geschichte“,⁵⁵ so setzt sich Schiller erst recht in diesem Brief von dem konventionellen Geschichtsschreiber ab, der sich gezwungen fühlt, „diese wichtigere Art von Wahrheit seiner historischen Richtigkeit nachzusetzen“.⁵⁶ Stattdessen sucht Schiller die „philosophische oder Kunstwahrheit“ der Geschichte in ihrer ästhetischen Konstruktion. Nun ist das Konstrukionsprinzip in Schillers Geschichtsbild genauso umstritten wie dieses selbst. Während sich auf der negativen Seite Johannes Janssen, um den Historiker Schiller auf den Dichter zu reduzieren, an „Schiller’s Geschichtsconstructionen, die später in dem philosophischen Idealismus Fichte’s ihr Gegenbild fanden“,⁵⁷ gestoßen hat, mußte auf der positiven Seite Richard Fester, um den Historiker Schiller zu retten, betonen, daß Schiller „als Geschichtsschreiber nicht ins Konstruieren verfällt“.⁵⁸ Beiden gemeinsam ist die Ablehnung der ästhetischen Konstruktion, weil sie im Zeitalter des Positivismus natürlich dem Ideal der objektiven Re-Konstruktion historischer Tatsachen verpflichtet sind und nicht zulassen können, daß Schöpfungen poetischer Phantasie im Schein historischer Tatsachen glänzen. So scheint diesmal Janssen, noch in der Ablehnung, der Wahrheit näher gekommen zu sein als Fester: Schiller hat in der Tat das Konstruktionsprinzip von der Dichtung auf die Geschichtsschreibung übertragen. Während der Vorbereitung für die Jenaer Antrittsvorlesung kommentiert Schiller in einem Brief vom 30. März 1789 an Gottfried Körner unter anderem auch die 17. Strophe seines gerade in Wielands Merkur gedruckten philosophischen Gedichts Die Künstler (1789). Die ordnende Funktion des Dichters lautet im Gedicht: „Was die Natur auf ihrem großen Gange / In weiten Fernen auseinander-

 Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre, S. 8.  Schiller, Brief an Caroline von Beulwitz, 10. Dezember 1788, in: Schillers Briefe, hrsg. v. Fritz Jonas, Bd. 2, S. 172.  Johannes Janssen, Schiller als Historiker, Freiburg: Herder 1863, S. 192. Sehr viel vorsichtiger, in deutlicher Abgrenzung gegen Janssen und Niebuhr, hat Wegele (Geschichte der Deutschen Historiographie, S. 949) geurteilt: „Als Geschichtsforscher im technischen Sinne des Wortes Erhebliches zu leisten, war er allerdings in keiner Weise angethan, gleichwohl möchten wir in den geringschätzenden Ton nicht einstimmen, der über seine betreffenden Leistungen früher und später angestimmt worden ist.“  Fester, Rousseau und die deutsche Geschichtsphilosophie, S. 94.

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zieht, / wird auf dem Schauplatz im Gesange / Der Ordnung leicht gefaßtes Glied.“⁵⁹ Und im brieflichen Kommentar: Die moralischen Erscheinungen, Leidenschaften, Handlungen, Schicksale, deren Verhältnisse der Mensch im großen Laufe der Natur nicht immer verfolgen und übersehen kann, ordnet der Dichter nach künstlichen, d.i. er giebt ihnen künstlich Zusammenhang und Auflösung.⁶⁰

Der künstlich, mit künstlerischen Mitteln hergestellte (nicht etwa nur dargestellte) Zusammenhang dient, indem er die Ordnung faßlich macht, dem verständlicheren Überblick über das Disparate. Selbst ohne Schillers Kommentar ist die Bedeutung der Verse offensichtlich. Die Ästhetik der Geschichtsschreibung dient einem hermeneutischen Auftrag; sie stellt durch poetische Strukturen Verständnishilfen für Menschen bereit, die ohne solche Anleitung und ohne Zusammenstellung des Zusammengehörenden von der verwirrenden Fülle der historischen Daten überwältigt würden. Daraus folgt, daß der „Zusammenhang“ der Geschichte – die in der Antrittsvorlesung genannte „lange Kette der Begebenheiten“, Wegelins „enchaînure des faits“ – uns nur als ‚künstlicher‘, nach den Prinzipien der Kunst geordneter Darstellungszusammenhang zugänglich und verständlich wird. Schließlich ist es den Menschen mit Hilfe der poetischen Verständnishilfe möglich, auch die historische Wahrheit nur nach den ästhetischen Prinzipien der „philosophischen und Kunstwahrheit“ zu sehen: Der Mensch lernt nach und nach diese künstlichen Verhältnisse in den Lauf der Natur übertragen, und wenn er also eine einzelne Leidenschaft oder Handlung in sich oder um sich herum bemerkt, so leiht er ihr – nach einer gewissen Reminiszens aus seinen Dichtern – dieses oder jenes Motiv, dieses oder jenes Ende – d.i. er denkt sie sich als den Theil oder das Glied eines Ganzen, denn sein durch Kunstwerke geübtes Gefühl für Ebenmaaß leidet keine Fragmente mehr. Ueberall sucht er die Symmetrie, die ihn die Kunst kennen gelernt hat. […] [D]a sich aber sein Geist einmal mit dem Ebenmaaße vertraut gemacht, so schenkt er aus dichtender Eigenmacht dem Leben ein zweytes um in diesem zweyten die Disproportionen des jetzigen aufzulösen.⁶¹

Damit ist die Suche nach dem von Schiller selbst aufgewiesenen Zusammenhang zwischen der moralischen Freiheit des Lesers durch den Geschichtsschreiber und  Schiller, Die Künstler, in: Schiller, dtv-Gesamtausgabe, hrsg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, Bd. 1, 151– 163, S. 156 f. (V. 225 – 228).  Schiller, Brief an Gottfried Körner, 30. März 1789, in: Schillers Briefe, hrsg. v. Fritz Jonas, Bd. 2, S. 266 f.  Ebd., S. 267.

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der ästhetischen Freiheit des Dichters über die Geschichte an ihr vorläufiges Ziel gelangt. In der Vorstellung einer „zweiten“, durch „Ordnung, „Ebenmaß“ und „Symmetrie“ bestimmten Wirklichkeit, in der die „Disproportionen“ der „jetzigen“ Wirklichkeit künftig einmal, wie es gleich zweimal heißt: aufgelöst werden, hat der historiographische Idealismus die Ästhetisierung des historischen Denkens ihrer geschichtsphilosophischen Absicht zugeführt: Die „Auflösung“ der Unstimmigkeiten und Widersprüche in der Wirklichkeit, über die der Geschichtsschreiber, konstruierend wie der Dichter, zu Gericht sitzt, ist die Utopie, deren Verwirklichung ästhetisch antizipiert wird. Entsprechend heißt es in dem genannten Gedicht Die Künstler: „Was wir als Schönheit hier empfunden, / Wird einst als Wahrheit uns entgegengehn.“⁶² Die ästhetischen Konstruktionen, die die historische Wahrheit in die poetische Wahrheit überführen, sind als kritisches Bild der Vergangenheit ein utopischer Vorschein auf die Zukunft, in der die „Harmonie“,⁶³ dieses Zielwort der Künstler, nicht mehr nur die Form der Kunst, sondern der Inhalt des Lebens sein wird. Indem er die Wahrnehmung einer harmonischen Weltordnung nur als Projektion einer ästhetischen Anordnung zuläßt, geht Schiller zumindest in seinen Briefen weit über Kant hinaus, während er sich in seiner Antrittsvorlesung als philosophierender Historiker bis in den Wortlaut an Kant angelehnt und die theoretische Differenz nur angedeutet hat. Kant hatte im bereits erwähnten „Neunten Satz“ seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) einerseits eine bloß poetische Konstruktion des vernünftigen Weltlaufs für „ungereimt“ erklärt und andererseits darin ein heuristisches Instrument der richtigen Erkenntnis begrüßt: Es ist zwar ein befremdlicher und dem Anscheine nach ungereimter Anschlag, nach einer Idee, wie der Weltlauf gehen müßte, wenn er gewissen vernünftigen Zwecken angemessen sein sollte, eine Geschichte abfassen zu wollen; es scheint, in einer solchen Absicht könnte nur ein Roman zu Stande kommen. Wenn man indessen annehmen darf: daß die Natur selbst im Spiele der menschlichen Freiheit nicht ohne Plan und Endabsicht verfahre, so könnte diese Idee doch wohl brauchbar werden; und ob wir gleich zu kurzsichtig sind, den geheimen Mechanism ihrer Veranstaltung zu durchschauen, so dürfte diese Idee uns doch zum Leitfaden dienen, ein sonst planloses Aggregat menschlicher Handlungen wenigstens im Großen als ein System darzustellen.⁶⁴

 Schiller, Die Künstler, S. 152 (V. 64 f.).  Vgl. ebd., S. 158 (V. 284– 287): „In selbstgefällger jugendlicher Freude / Leiht er den Sphären seine Harmonie, / Und preist er das Weltgebäude, / So prangt es durch die Symmetrie.“  Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 18.

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Die von Schiller wie von Kant – im Anschluß an Schlözers Vorstellung seiner Universal-Historie (1772) – beschworene Erhebung des „Aggregats“ zum „System“ dient Kant der Darstellung des vernunftmäßigen Ereigniszusammenhangs und Schiller der Herstellung des vernunftmäßigen Darstellungszusammenhangs: So würde denn unsre Weltgeschichte nie etwas anders als ein Aggregat von Bruchstücken werden und nie den Namen einer Wissenschaft verdienen. Jetzt also kommt ihr der philosophische Verstand zu Hülfe, und indem er diese Bruchstücke durch künstliche Bindungsglieder verkettet, erhebt er das Aggregat zum System, zu einem vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen.⁶⁵

Schiller geht sogar so weit zu behaupten, daß überhaupt erst die Kunst integrierender Darstellung, die sich auf „künstliche“, d. h. kunstmäßige Bindungsglieder verlassen kann, die Wissenschaftlichkeit der Historiographie ausmacht. Schiller hat also nicht nur, wie bekannt, Kants Moralphilosophie, sondern schon in der ersten Auseinandersetzung mit Kant auch dessen weniger entwickelte Geschichtsphilosophie ästhetisiert, indem er den historiographischen Idealismus subjektiviert zur Projektion eines ästhetischen Ordnungsprinzips, der Harmonie, auf die Verlaufstruktur der Geschichte: Er [der philosophische Geist] nimmt also diese Harmonie aus sich selbst heraus und verpflanzt sie außer sich in die Ordnung der Dinge, d.i. er bringt einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt und ein teleologisches Prinzip in die Weltgeschichte. ⁶⁶

Gerade weil das teleologische Prinzip in der Historiographie schlimmstenfalls als religiöse Projektion und bestenfalls als „Vervollkommnungsgedanke“ (Meinecke) entschieden abgelehnt wird, ergibt sich als Fazit der bisherigen Überlegungen, daß Schiller die Teleologie nicht als metaphysisches Prinzip der Geschichte, sondern als ästhetisches Prinzip der Geschichtsschreibung eingeführt hat. Schiller hat für das kritische Projekt der Ästhetisierung historischen Denkens, wie es hier vorgelegt wird, die prominenteste Grundlegung im 18. Jahrhundert geleistet. Und dennoch sind Schillers geschichtsphilosophische Überlegungen, wie Karl-Heinz Hahn meinte, „für die Entwicklung der Geschichtswissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert […] wirkungslos geblieben“,⁶⁷ vielleicht weil sich Schiller

 Schiller, Universalgeschichte?, S. 20.  Ebd., S. 21.  Karl-Heinz Hahn, Schillers Beitrag zur Theorie der Geschichtswissenschaft, in: Friedrich Schiller – Angebot und Diskurs. Zugänge, Dichtung, Zeitgenossenschaft, hrsg. v. Helmut Brandt, Berlin/Weimar: Aufbau 1987, 78 – 91, S. 79.

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nach dem mißverstandenen Ausflug in die Geschichtsphilosophie wieder mehr auf die Dichtung konzentriert hat. Die Erfahrung der (entschieden abgelehnten)⁶⁸ Französischen Revolution hat ihn, wie aus seinem Brief vom 13. Juli 1793 an Herzog Friedrich Christian von Augustenburg deutlich wird, offenbar dazu veranlaßt, mit der Betonung der „ästhetischen Kultur“ die Aufklärung hinter sich zu lassen: Das dringendere Bedürfnis unsers Zeitalters scheint mir die Veredlung der Gefühle und die sittliche Reinigung des Willens zu sein, denn für die Aufklärung des Verstandes ist schon sehr viel getan worden. Es fehlt uns […] nicht sowohl an philosophischer als an ästhetischer Kultur.⁶⁹

Fortan hat sich Schiller weniger an der historischen Wirklichkeit als an der ästhetischen Möglichkeit orientiert und, etwa in der Schrift Über das Pathetische (1793), der poetischen Wahrheit den Vorzug vor der historischen gegeben: Die poetische Wahrheit besteht aber nicht darin, daß etwas wirklich geschehen ist, sondern darin, daß es geschehen konnte, also in der inneren Möglichkeit der Sache. Die ästhetische Kraft muß also schon in der vorgestellten Möglichkeit liegen.⁷⁰

Diese deutliche Akzentverschiebung folgte dem Wandel von der linearen Geschichtsvorstellung der fortschrittsgläubigen Aufklärung, für die das Heil als Fortsetzung der Gegenwart in der Zukunft liegt, zu einem zyklischen Geschichtsbild, das der negativ bewerteten Gegenwart durch eine phantasiebetonte Rückkehr in die Vergangenheit entkommen will. Nun sieht Schiller den Weg in die Freiheit nicht mehr durch die Vernunft vorgezeichnet, sondern, wie Helmut Koopmann betont hat, durch den ästhetischen Schein: „[E]r verabschiedet sich

 Schiller hat am 8. Juli 1792, was in der Schiller-Forschung lange unbekannt war, seinen Namen unter ein Gesuch Jenaer Professoren gesetzt, in dem der Herzog von Weimar um militärischen Schutz gegen revoltierende Studenten gebeten wird, und damit auch gegen den Mißbrauch seiner eigenen literarischen Wirkung plädiert: „besonders das bekannte Räuberlied, welches seit einiger Zeit zum Signal der Tumulte angenommen ist“; zitiert nach Goethes Weimar und die Französische Revolution. Dokumente der Krisenjahre, hrsg. v. W. Daniel Wilson, Köln/ Weimar/Wien: Böhlau 2004, S. 208. Gemeint ist das Tumultlied aus Schillers Räubern (1781): „Ein freies Leben führen wir“.  Friedrich Schiller, Über die Französische Revolution (Brief an Herzog Friedrich Christian von Augustenburg, 13. Juli 1793), in: Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse, hrsg. v. Walther Killy, Bd. 5: Sturm und Drang – Klassik – Romantik, hrsg. v. Hans-Egon Hass, München: Beck 1966, Teilbd. 2, 1536 – 1543, S. 1542.  Friedrich Schiller, Über das Pathetische, in: Schiller, dtv Gesamtausgabe, hrsg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, Bd. 18, 76 – 99, S. 96.

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von einer aufgeklärten Geschichtsphilosophie, die unter dem Primat der Vernunft aus dem planlosen ‚Aggregat menschlicher Handlungen‘ das System einer ideell erkennbaren Weltgeschichte gemacht hatte, und schreibt fortan eine andere Geschichte: nicht mehr auf dem Felde der Historiographie, sondern auf dem, wo er nach dieser Erklärung in den Briefen über die ästhetische Erziehung allein das leisten kann, nämlich auf dem Felde der Poesie.“⁷¹ Der Wechsel von der historischen Wahrheit zur poetischen Wahrheit hatte, laut Koopmann, auch Folgen für die Umwertung der Temporalität historischer Vorgänge: „In der poetischen Geschichtsschreibung wird die Geschichte zur Metageschichte: sie ist einer Zeitordnung im traditionellen Sinne nicht mehr unterworfen, sondern kann einer ideellen Ordnung genügen, die jener anderen, der Zeitordnung, sogar widersprechen darf.“⁷² In der poetischen Praxis hat Schiller für diese ideelle Ordnung eine analytische Struktur entwickelt, die es ihm erlaubt, über Vergangenes so zu Gericht zu sitzen, daß daraus Freiheit für die Zukunft entsteht.⁷³ Nachdem er schon im Verbrecher aus verlorener Ehre „die republikanische Freiheit des lesenden Publikums“ betont hatte, weil es ihm „zukömmt, selbst zu Gericht zu sitzen“,⁷⁴ hat Schiller im Rahmen eines universalhistorischen Prozesses, in dem das Jüngste Gericht sein säkulares Äquivalent findet, die ursprünglich historisch gemeinte Gerichtsmetapher zu einem dramaturgischen Programm ausgearbeitet. Die darin vorausgesetzte Universalisierung der Urteilsfindung verstehen wir besser, wenn wir uns daran erinnern, daß Ernst Bloch in seinem Essay „Philosophische Ansicht des Detektivromans“ den Sündenfall, dieses religiöse Urbild vom Anfang der schuldbeladenen Menschheitsgeschichte, zum „casus ante mundum“, zum eigentlichen Vor-Fall der Weltgeschichte erklärt hat, den es als geheimnisvolle Untat aufzuklären und in immer neuen Fiktionen abzuarbeiten gilt.⁷⁵ Die detektivische Aufdeckung dessen, was der Welt zugrundeliegt, weil es ihrer Geschichte vorausliegt, ist als Ergründung ihres Anfangs sowohl eine philosophische als auch eine historiographische, in jedem Fall aber am Modell des juristischen Prozesses orientierte Frage nach dem Grund des Unheils

 Helmut Koopmann, Schiller und die Überwindung der aufgeklärten Geschichtsphilosophie, in: Schiller als Historiker, hrsg. v. Otto Dann, Norbert Oellers und Ernst Osterkamp, Stuttgart: Metzler 1995, 59 – 76, S. 69.  Ebd., S. 70.  Vgl. zum folgenden Hinrich C. Seeba, ‚Tragische Analysis‘ eines Vorfalls. Geschichte als Gerichtsspiel der Literatur, in: Zur Ästhetik der Moderne. Für Richard Brinkmann zum 70. Geburtstag. Mit Beiträgen von Gerhart von Graevenitz u. a., Tübingen: Niemeyer 1992, 33 – 40.  Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre, S. 9.  Ernst Bloch, Philosophische Ansicht des Detektivromans, in: Bloch, Verfremdungen I, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1962, 37– 63, S. 55.

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dieser Welt. Das zu ergründende Unheil ist im Bild der Vertreibung aus dem Paradies, dieses Urverlusts von glückselig zeitloser Heimat, so eindringlich und im Bild des Sündenfalls, dieser zur Erklärung gleichsam nachgeschobenen Urschuld, so moralisch einleuchtend begründet, daß dieser erste „Fall“ zum Fall aller Fälle wurde: der im Gericht zu verhandelnde casus schlechthin. Im Bild dieses mythischen Vorfalls wird dem davon ausgelösten Prozeß (als Verlauf) der Geschichte noch immer der Prozeß (als Verhandlung) gemacht: die Geschichte als Gericht ihrer selbst. „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“: So heißt es gegen Ende von Schillers Gedicht Resignation (1786), in dem die „Hoffnung“ auf jenseitige Belohnung für Entbehrung verzagt, weil sich der freiwillige Verzicht auf diesseitigen „Genuß“ nicht auszahlt.⁷⁶ An die Stelle Gottes als Weltenrichter tritt die Geschichte, in ihrer philosophischen Spielart als Hegels Weltgeist und in der früheren literarischen Variante als analytische Dichtung.⁷⁷ Schon der junge Schiller hat diese Übertragung des Richteramts von der Weltgeschichte auf die Literatur betrieben, als er in seiner Mannheimer Rede Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? (1784) erklärte: „Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt an, wo das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt.“⁷⁸ Die Sequenzierung der beiden Modi der Analyse ist für die Ästhetisierung des historischen Denkens besonders folgenreich. Wenn die ästhetische Auflösung eines Vorfalls an die Stelle seiner juristischen Aufarbeitung tritt, weil diese ihre Möglichkeiten ausgeschöpft hat und somit an ihr Ende gekommen ist, kommt dem als „Gerichtsbarkeit der Bühne“ in Szene gesetzten Prozeß historischer Analyse eine Vorzugsrolle zu. Weil ihr, wie Schiller erläutert, „das ganze Reich der Phantasie und Geschichte, Vergangenheit und Zukunft“ zu Gebote steht,⁷⁹ erzielt die historische Fiktion, die auf der Bühne inszeniert wird, eine größere moralische Wirkung als das weltliche Gericht, an dessen Stelle sie getreten ist. Wie er diese Idee verwirklicht sehen möchte, hat Schiller in der Ballade Die Kraniche des Ibykus (1797) dargestellt, wo der Chor der Erinnyen mit der Macht ihres schaurigen Gesangs den Mörder des Sängers Ibykus überführt. Das Theater

 Schiller, Resignation, in: Schiller, dtv-Gesamtausgabe, hrsg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, Bd. 1, 114.  Hegel spricht in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) vom Weltgeist, „der sein Recht […] in der Weltgeschichte, als dem Weltgerichte, ausübt“; Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michael, Bd. 7, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978, S. 503 [340].  Schiller, Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? [1784], in: Schiller, dtvGesamtausgabe, hrsg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, Bd. 20, 13 – 26, S. 17.  Ebd., S. 18.

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hat, kraft seiner emotionalen Wirkung, die Funktion des rational gedachten Gerichts übernommen: „Die Szene wird zum Tribunal.“⁸⁰ Die Fiktion macht einer Geschichte, von der sie handelt, mit poetischen Mitteln den Prozeß. Diese oft zitierte Denkfigur ist – als szenische, von einem Dichter inszenierte Aufklärung – zum allgemeinen Topos der juridischen Funktion und Struktur von Literatur und so allgemein geworden, daß Heinrich von Kleist sein ganzes Werk in den Dienst dieser szenischen Aufdeckung eines Vorfalls stellen konnte. Das geschah am deutlichsten im Aufsatz Über das Marionettentheater (1810), in dessen Spiegelanekdote der Verlust der Unschuld den entscheidenden „sonderbaren und unglücklichen Vorfall“ der individuellen wie der weltgeschichtlichen Bewußtseinsbildung ausmacht.⁸¹ Schiller hat dieser Denkfigur schon früher sowohl eine bildliche als auch eine begriffliche Form gegeben.⁸² Einerseits verneigt sich die emotionale Inszenierung des literarischen Tribunals in der am 16. August 1797 beendeten Ballade vor „der furchtbarn Macht, / Die richtend im Verborgnen wacht, / Die unerforschlich, unergründet / Des Schicksals dunkeln Knäuel flicht, / Dem tiefen Herzen sich verkündet, / Doch fliehet vor dem Sonnenlicht“. Andererseits wird, in Schillers Brief an Goethe vom 2. Oktober 1797, die analytische Ergründung des ans Licht der Aufklärung zu bringenden Geheimnisses durch das literarische Tribunal auf den Begriff der „tragischen Analysis“ gebracht: Ich habe mich dieser Tage viel damit beschäftigt, einen Stoff zur Tragödie aufzufinden, der von der Art des Oedipus Rex wäre und dem Dichter die nämlichen Vorteile verschaffte. Diese Vorteile sind unermeßlich, wenn ich auch nur des einzigen erwähne, daß man die zusammengesetzteste Handlung, welche der tragischen Form ganz widerstrebt, dabei zum Grunde legen kann, indem diese Handlung ja schon geschehen ist und mithin jenseits der Tragödie fällt. Dazu kommt, daß das Geschehene, als unabänderlich, seiner Natur nach viel fürchterlicher ist, und die Furcht, daß etwas geschehen sein möchte, das Gemüt ganz anders

 Schiller, Die Kraniche des Ibykus, in: Schiller, dtv-Gesamtausgabe, hrsg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, Bd. 2, 119.  Heinrich von Kleist, Über das Marionettentheater, in: Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. v. Ilse-Marie Barth, Klaus Müller-Salget, Stefan Ormanns und Hinrich C. Seeba, Bd. 3, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1990, 555 – 563, S. 560.  Helmut Koopmann hat sich in seinem Aufsatz „Denken in Bildern. Zu Schillers philosophischem Stil“ (in: Koopmann, Nachgefragt: Zur deutschen Literatur aus dem 18. und 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main: Klostermann 2013, 67– 103) entschieden gegen das von Goethe geförderte Bild vom Bilderstürmer Schiller gewandt und die Bildlichkeit auch seines philosophischen Denkens unterstrichen.

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affiziert, als die Furcht, daß etwas geschehen möchte. Der Ödipus ist gleichsam nur eine tragische Analysis. Alles ist schon da, und es wird nur herausgewickelt.⁸³

Wie im Bild des Erinnyen-Chors spielt die Furcht der Betroffenen auch im Begriff der tragischen Analysis eine zentrale Rolle. Aber die Herauswicklung der „zusammengesetztesten“ Handlung – oder im verwandten Faden-Bild der Ballade: die Auflösung des „dunkeln Knäuel“ – entspringt einer Furcht, deren Gegenstand nicht wie im allgemeinen Wortverständnis in der Zukunft liegt, sondern das unabänderlich „Geschehene“, mithin die Geschichte selbst ist, die zum Zweck der dramatischen Exposition auf die nachzuerzählende Vorgeschichte konzentriert („zusammengesetzt“) wurde. Das Muster dieses ästhetischen Konzentrats von Geschichte ist für Schiller die dem Drama des Sophokles vorausliegende, durch den vorgängigen Mythos bereits festgeschriebene und deshalb sowohl ästhetisch als auch historisch „unabänderliche“ Vorgeschichte des Oidipus, seine analytisch im Wortsinn ‚herauszuwickelnde‘ Verwicklung in das Unheil, das durch den Mord am Vater und den Inzest mit der Mutter markiert ist. Diese beiden Normverletzungen, die Freud und seiner (Psycho‐)Analyse als primäre Motive gedient haben, sind für Sophokles (und für Schiller) nur sekundäre Bilder zur moralischen Konkretisierung eines über die individuelle Schuld hinausreichenden, durch sie allerdings notdürftig erklärten Unheils. Im griechischen Mythos ‚Hybris‘ genannt und von Sophokles als ‚Blindheit‘ dargestellt, auf die der blinde Seher Teiresias als Analysator angesetzt wird, ist das überindividuelle Unheil durch die Unangemessenheit menschlicher Erkenntnis- und Verhaltensweisen charakterisiert. Die für die tägliche Orientierung notwendige Annahme, daß die Welt so ist, wie sie dem Menschen erscheint, ist ein Trug, der ihn immer gefährdet und manchmal, in der Tragödie fast immer, in die Katastrophe stürzt. In der sophokleischen Anthropologie bleibt der Mensch in der Unwahrheit verfangen, solange es ihm nicht gelingt, die Asymmetrie zwischen Schein und Sein (in den Begriffen des Sophokles-Interpreten Karl Reinhardt)⁸⁴ bzw. zwischen Zeichen und Bezeichnetem (in der Terminologie moderner Semiotik) aufzudecken. Der Appell zur Aufdeckung dieser Asymmetrie hat in der analytischen Struktur des Dramas, wie Goethe an-

 Schiller, Brief an Goethe, 2. Oktober 1797, in: Goethe – Schiller, Briefwechsel, Frankfurt am Main: Fischer 1961, S. 247.  Vgl. Karl Reinhardt, Sophokles, Frankfurt am Main: Klostermann 1933, 31947, bes. 104– 144 (zu Oedipus Tyrannos). Reinhardt betont „die Tragik des aus seinem Schein Geschleuderten“ (S. 113).

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läßlich von Kleists Der zerbrochne Krug (1806), der komischen Variante des Oidipus Tyrannos,⁸⁵ meinte, seine „stationäre Prozeßform“ gefunden.⁸⁶ Goethe hatte, mit Bezug auf Kleist, bekanntlich keinen Sinn für solche ‚stationäre‘ Handlungsarmut, weil ihm die existentielle Radikalisierung der Dramatik unheimlich war. Aber wenn Aktion ersetzt wird durch Analyse und historische Wahrheitsfindung durch Selbsterkenntnis, ist das Zukünftige nicht mehr durch die Spannung, wie etwas ausgehen könnte, sondern durch die Frage besetzt, wie der von der Aufdeckung der Vergangenheit betroffene Richter, ob er nun Oidipus oder Adam heißt, mit der historischen Wahrheit umgeht, vor allem aber, wie er die Krise der Einsicht in die eigene Verstrickung bewältigt. Entsprechend der dialektischen Bildlichkeit des Dramas von Sophokles reagiert der sehend verblendete Oidipus, sobald er mit Hilfe des blinden Sehers Teiresias sich selbst als das intendierte Ziel der Analyse erkannt hat, mit Selbstblendung. Damit vollzieht er den visionären Chiasmus: Der sehende Oidipus war so blind, wie jetzt der blinde Oidipus sehend ist. Historische Einsicht kann nicht gelingen ohne Selbstreflexion. Auf die Geschichtsschreibung angewandt, bezeichnet das analytische Strukturmodell, das den dramaturgischen Aufbau von Schillers Dramen Wallenstein, Maria Stuart (1801) und Die Braut von Messina (1803) bestimmt hat, den analytischen Rückblick auf ein in der Vergangenheit abgeschlossenes Geschehen, das, wenn das Knäuel aufgedröselt („herausgewickelt“, also im Wortsinn ‚analysiert‘) ist, gleichwohl die Gegenwart des jeweiligen Betrachters, ja ihn selbst so existentiell betrifft, daß er wie Oidipus erkennen muß: tua reas agitur, es geht um dich! Die historische Wahrheitsfindung gipfelt darin, daß die Objektivität des über die Geschichte zu Gericht sitzenden Richters umschlägt in die Betroffenheit des in die Geschichte verwickelten Historikers. Es wäre verblendet, „blos zeigen“ zu wollen, „wie es eigentlich gewesen“ (Ranke), ohne gleichzeitig die eigene Rolle in der Wahrheitsfindung mitzubedenken. So hat Schiller mit dem Rückgriff auf die „tragische Analysis“ des Sophokles auch poetologisch zur Ästhetisierung historischen Denkens beigetragen, die ihn von dem anderen großen Griechen, dem Historiker Thukydides, trennt. Während

 Vgl. Wolfgang Schadewaldt, Der „Zerbrochene Krug“ von Heinrich v. Kleist und Sophokles’ „König Ödipus“, in: Schadewaldt, Hellas und Hesperien, Bd. 2, Zürich/Stuttgart: Artemis 21970, 333 – 340.  Goethe, Brief an Adam Müller, 28. August 1807, zitiert nach Heinrich von Kleists Lebensspuren, Dokumente und Berichte der Zeitgenossen, hrsg. v. Helmut Sembdner, München: dtv 1969, S. 134 (Nr. 185): „Das Talent des Verfassers, so lebendig er auch darzustellen vermag, neigt sich doch mehr gegen das Dialektische hin; wie er es denn selbst in dieser stationären Prozeßform auf das wunderbarste manifestiert hat.“

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dieser eine auch methodologisch gesicherte Geschichtsforschung gerade durch die strikte Abgrenzung gegen die Dichtung begründet hat, hat sich Schiller gerade als Dichter in eine Disziplin vorgewagt, die im 18. Jahrhundert erneut um ein methodologisches Selbstverständnis bemüht war. Dabei hat er, in der Aufwertung des Darstellungs- über den Ereigniszusammenhang, die Geschichtsschreibung nicht nur stilistisch, sondern, in der analytischen Inszenierung der Vorgeschichte, auch strukturell mit literarischen Methoden versöhnt und damit, gegen die antiquarische Rekonstruktion, den Gegenwartsbezug des Vergangenen betont. So zielte Schillers Beitrag zur Ästhetisierung historischen Denkens auf die Selbstreflexion der Historiker und ihre dadurch verbesserte Einsicht in die Aktualität der Geschichte.

5 Johann Wolfgang von Goethe – Geschichte als Spiegelbild der Zeiten Mit dem Fortschrittsglauben ist auch das lineare Geschichtsdenken, das sich seit dem 18. Jahrhundert als sein Geburtshelfer verstanden hat, in die – nur vordergründig ökonomische – Krise geraten. Nicht erst in der Bankenkrise von 2009 wurde die Erwartung unaufhaltsam steigender Wachstumsraten außer Kraft gesetzt, so daß erst recht seine geschichtsphilosophische Legitimation, die Ableitung qualitativer Besserung aus quantitativer Steigerung, ausgedient zu haben schien. Schon vorher, Anfang der 1980er Jahre, meinte die no future generation,¹ die sich um die bessere Zukunft betrogen glaubte, auch keine Vergangenheit mehr zu haben, jedenfalls keine Vergangenheit, von der sie sich als Ergebnis eines schon Geschichte gewordenen Fortschritts herleiten könnte. Deshalb müßte sogar ein Versuch, dieser Skepsis mit literarischen Beispielen aus der Geschichte des Geschichtsdenkens beizuspringen, eigentlich auf taube Ohren fallen; denn eine Einübung in Traditionszusammenhänge, die keine Zukunft haben, käme dem antiquarischen Geschichtsdenken nahe, das schon Nietzsche den positivistischen und historistischen Tendenzen seiner Zeit vorgehalten hat, als der Siegeszug der Wissenschaft und Technik in die Zukunft noch eine unbezweifelte Glaubensgewißheit war.² Aber wenn Geschichtsskepsis, die ihre eigene Geschichtlichkeit verrät, in Geschichtsverlust umzuschlagen droht, ist es gut, sich der Herausforderung zu erinnern, der das lineare Geschichtsdenken schon zur Zeit seiner Institutionalisierung an den Universitäten des 18. Jahrhunderts ausgesetzt war. Die (im vorhergehenden Kapitel behandelte) Kontroverse um Schillers Berufung nach Jena – ob nun als Historiker, wie er glaubte, oder als Philosoph, wie ihm erst klargemacht werden mußte – ist ein beredtes Zeugnis der zwischen Juristen, Geschichtsphilosophen und einer noch rudimentären Historikerzunft angesiedelten Disziplin-

 Schon 1977 wurde die Punk-Gruppe Sex Pistols mit dem Slogan „No future!“ bekannt. Vgl. Matthew Worley, No Future. Punk, Politics and British Youth Culture 1976 – 1984, Cambridge u. a.: Cambridge University Press 2017.  Vgl. Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben [1874], in: Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta, Bd. 1, München: Hanser 51966, 209 – 285, S. 228: „Die antiquarische Historie entartet selbst in dem Augenblicke, in dem das frische Leben der Gegenwart sie nicht mehr beseelt und begeistert. Jetzt dorrt die Pietät ab, die gelehrtenhafte Gewöhnung besteht ohne sie fort und dreht sich egoistisch-selbstgefällig um ihren eignen Mittelpunkt. Dann erblickt man wohl das widrige Schauspiel einer blinden Sammelwut, eines rastlosen Zusammenscharrens alles einmal Dagewesenen.“ https://doi.org/10.1515/9783110679878-007

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geschichte. Noch während sich das Geschichtsbild der Aufklärung als akademische Wissenschaft etablierte, zeichnete sich in der Auseinandersetzung mit seinen Kritikern ein geschichtstheoretischer Horizont ab, der sein Wirkungspotential, gewissermaßen seine kategoriale ‚Zukünftigkeit‘, in neueren Bemühungen um eine Theorie der Literaturkritik und Geschichtsschreibung bewiesen hat. Goethe ist auch in diesem Zusammenhang eine wichtige Anlaufstelle. Weil er in so vielen Bereichen als kanonischer Zeuge der zeitgenössischen Diskussion diente, hat Goethe stets im Ruf eines Vorreiters gestanden, von dem der maßgebliche Kommentar zu Entwicklungen erwartet wurde, selbst wenn er an ihnen nicht selber maßgeblich beteiligt war. Das gilt auch für das Wirkungsbild des vermeintlichen Geschichtsskeptikers Goethe,³ das lange so vorherrschend und für manche Goethe-Anhänger so irritierend war, daß der Historiker Friedrich Meinecke, wie wir später noch genauer sehen werden, Goethe schließlich umgekehrt sogar zum Vater des Historismus erklärt hat, als wäre die wissenschaftliche, d. h. methodologisch begründete Auseinandersetzung mit der Geschichte, wie sie Barthold Georg Niebuhr 1811 begründet und Leopold von Ranke 1824 durchgesetzt hat, ohne Goethe undenkbar gewesen. Dabei geht Rankes berühmte Gründungsformel des Historismus, der Geschichtsschreiber solle „blos zeigen, wie es eigentlich gewesen“,⁴ auf die Erkenntnis des 18. Jahrhunderts zurück, daß die Geschichte, wie sie dargestellt wird, nicht notwendigerweise die Geschichte reflektiert, wie sie sich tatsächlich ereignet hat. Als Geschichtsdenker hatte Goethe an dieser darstellungskritischen Erkenntnis der Aufklärung einen geringeren Anteil, als man dem Olympier aller geistigen Belange gerne zugeschrieben hätte. Weil im wirkungsgeschichtlichen Rückblick Goethes Autorität die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts dominiert, übersieht man leicht, daß er, 1749 geboren, fast 40 Jahre jünger als Chladenius (geb. 1710), gut 30 Jahre jünger als Winckelmann (geb. 1717), 25 Jahre jünger als Kant (geb. 1724) und genau 20 Jahre jünger als Lessing (geb. 1729) war und schon deshalb für die geschichtsphilosophisch-historiographischen Belange der Aufklärung eigentlich ein Nachgeborener war. Der historische Perspektivismus, der

 Man denke nur an Goethes im Gespräch mit Eckermann so leichthin gemachte Aussage am 6. März 1828: „Ich bin nicht so alt geworden, um mich um die Weltgeschichte zu bekümmern, die das Absurdeste ist, was es gibt; ob dieser oder jener stirbt, dieses oder jenes Volk untergeht, ist mir einerlei; ich wäre ein Tor, mich darum zu bekümmern“; Goethe, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hrsg. v. Ernst Beutler, Bd. 23: Goethes Gespräche. Zweiter Teil, Zürich: Artemis 1950, S. 531 f.  Leopold von Ranke, Vorrede, in: Ranke, Sämmtliche Werke, Bd. 33: Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514, Leipzig: Duncker & Humblot 21874, I–VIII, S. VII.

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von Chladenius über Gatterer bis zu Lessing die Konzeptionalisierung historischen Denkens bestimmt hat, war für Goethe kein primäres Anliegen mehr. Deshalb begegnet uns Goethe, in Hinblick auf die Unterscheidung von Geschichte und Dichtung, weniger als Stichwortgeber denn als Nachzügler. Daran ändert auch nichts die Tatsache, daß Goethe schon mit dem Titel seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit (1811– 1814), die das Muster aller (Auto‐)Biographien werden sollte, an das zentrale Darstellungsproblem der Aufklärungshistoriker erinnert hat. Die Frage, wie die historischen Fakten erst dadurch, daß sie in einen bedeutsamen Zusammenhang eingebunden werden, den Kunstcharakter poetischer Wahrheit annehmen, wie also das Material der Geschichte erst in der Form der Dichtung den Anspruch der Wahrheit erfüllt, hat in Goethes Titel seine eingängige Form gefunden. „Ein Faktum unseres Lebens“, so bezeugt Eckermann einen Ausspruch Goethes am 30. Januar 1831, „gilt nicht insofern es wahr ist, sondern insofern es etwas zu bedeuten hatte.“⁵ Bedeutung ergibt sich erst aus der Verwandlung historischer Fakten in poetische Wahrheit. Goethe hat dieses Thema historiographischer Sinngebung erst im hohen Alter aufgegriffen (und auf sein eigenes Leben bezogen), als ihn die Auseinandersetzung mit der Historischen Schule dazu zwang, seine vermutete Neigung zur Geschichtsskepsis zu überdenken. So ist Goethe als Geschichtsdenker, weil allen seinen (auch widersprüchlichen) Aussagen kanonische Gültigkeit zugeschrieben wurde, vor allem ein Problem seiner zwischen Geschichtsskepsis und Historismus schwankenden Wirkungsgeschichte. Als Politiker des Herzogtums Weimar war Goethe selbst ein herausragendes Beispiel dafür, daß die geistesgeschichtliche Ikone, die seinen Namen trägt, wie das politische System, das er ab 1776 als Mitglied des Geheimen Consiliums mitzuverantworten hatte, viel weniger liberal war, als man sich, im Glauben an die Macht des Geistes, von dem „Musenhof“ Weimar gewünscht hätte.⁶ Das ist jedenfalls die Grundthese des Buchs Das Goethe-Tabu, mit dem W. Daniel Wilson 1999 die Wunschbilder der traditionellen Goethe-Forschung durcheinandergewirbelt hat. Ob Goethe nun 1783 die Hinrichtung der Kindsmörderin Anna Catharina Höhne befürwortet, 1786 den Verkauf Weimarer Rekruten nach Amerika oder ob er 1792 die – auch von Schiller geforderte – militärische Unterdrückung

 Goethe im Gespräch mit Eckermann am 30. März 1831, zitiert in Erich Trunz’ Kommentar zu Dichtung und Wahrheit, in: Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Erich Trunz, Bd. 9, Hamburg: Wegner 51964, S. 633.  Ein bekanntes Beispiel für die Verklärung einer Herrschaft ist Wilhelm Bodes Buch Der weimarische Musenhof 1756 – 1781, Berlin: Mittler & Sohn 21916.

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revolutionärer Studenten in Jena organisiert hat,⁷ die aktenmäßig dokumentierten historischen Fakten scheinen der hagiographischen Schönfärbung so sehr zu widersprechen, daß die Asymmetrie von faktischer Geschichte und literarischer Geschichtsschreibung an Goethe selbst ein immer noch überraschendes Beispiel praktischer Relevanz gefunden hat. Für Goethe war das lineare Geschichtsbild der Aufklärung auch deshalb problematisch, weil sein impliziter Fortschrittsgedanke ein revolutionäres Potential entfalten konnte, dem Goethe mit äußerstem Mißtrauen begegnete. Wie Schiller, der „diese elenden Schindersknechte“, zumal sie sich ausgerechnet auf seine Räuber (1781) beriefen, schärfstens verurteilt hat,⁸ war Goethe ein entschiedener Gegner der Französischen Revolution. Ihm waren, wie seine sonst oft gewagt freiheitlichen Venetianischen Epigramme (1790) eben auch bezeugen, die „Freiheitsapostel […] immer zuwider“,⁹ weil „Menge der Menge Tyrann“ geworden war.¹⁰ Im Rückblick auf sein unvollendetes Drama Die Aufgeregten (1793), in dem er die Gräfin sogar auf die Gefahr hin, daß sie „unter dem verhaßten Namen einer Demokratin verschrien“ würde,¹¹ ihren eigenen Stand kritisch sehen läßt, hat sich Goethe 1824 im Gespräch mit Eckermann erinnert: „[I]ch konnte kein Freund der Französischen Revolution sein, denn ihre Greuel standen mir zu nahe und empörten mich täglich und stündlich, während ihre wohltätigen Folgen damals noch nicht zu ersehen waren.“¹² Aber nicht nur die Ablehnung der Französischen Revolution, sondern auch die Praxis der, wie W. Daniel Wilson dokumentiert hat, in Weimar sorgfältig gepflegten und von Goethe auch gegenüber Herder und Fichte nahegelegten Selbstzensur hat zu dem Bild einer deutschen Klassik beigetragen, in der die Autonomie der Kunst nur fern aller politischen Wirklichkeit gefeiert wurde. Goethe hat in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) vorgeführt,

 W. Daniel Wilson, Das Goethe-Tabu. Protest und Menschenrechte im klassischen Weimar, München: dtv 1999, S. 7 f., 67 f., 219 ff. Zur von Wilson ausgelösten Kontroverse vgl. Hans Rudolf Vaget, Who’s Afraid of Daniel Wilson? Stand der Diskussion über den politischen Goethe, in: Monatshefte 98/3 (2006), 333 – 348.  Goethe, Brief an Körner, 8. Februar 1793, in: Schillers Briefe. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. Fritz Jonas, 7 Bde., Stuttgart u. a.: Deutsche Verlags-Anstalt 1892– 1896, Bd. 3, S. 246.  Goethe, Venetianische Epigramme, in: Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Erich Trunz, Bd. 1, Hamburg: Wegner 71964, 174– 184, S. 179 (Nr. 20 bzw. 50).  Ebd., S. 180 (Nr. 22 bzw. 53).  Goethe, Die Aufgeregten. Politisches Drama in fünf Aufzügen, in: Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Erich Trunz, Bd. 5, Hamburg: Wegner 61964, 168 – 214, S. 195 (III/1).  Goethe im Gespräch mit Eckermann am 4. Januar 1824, in: Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hrsg. v. Ernst Merian-Genast, Basel: Birkhäuser 1945, Bd. 2, S. 515.

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wie aus der Entschärfung eines politischen Konflikts Dichtung entsteht: Die 1792 von den französischen Revolutionstruppen aus dem linksrheinischen Gebiet vertriebenen Deutschen sind so aufgebracht, daß der Geheimrat von S., der dem ancien régime anhängt, empört abreist, als er sich durch den politischen Hitzkopf Karl, den Neffen der aristokratischen Gastgeberin, beleidigt glaubt. Daraufhin verfügt die Baronesse – ganz im Sinne des Weimarischen Protokolls – die Ausschließung der Politik aus aller Geselligkeit: „Laßt uns dahin übereinkommen, daß wir, wenn wir beisammen sind, gänzlich alle Unterhaltung über das Interesse des Tages verbannen.“¹³ Für die zu diesem Zweck erfundenen Geschichten, mit denen man sich die Zeit vertreibt, formuliert die Baronesse eine Art Poetik der Novelle, einer an Boccaccio und Cervantes orientierten, aber in Deutschland noch neuen Gattung, deren „hohen und strengen Forderungen“ man gefälligst zu folgen habe: Geben Sie uns zum Anfang eine Geschichte von wenig Personen und Begebenheiten, die gut erfunden und gedacht ist, wahr, natürlich und nicht gemein, soviel Handlung als unentbehrlich und soviel Gesinnung als nötig, die nicht still steht, sich nicht auf einem Flecke zu langsam bewegt, sich aber auch nicht übereilt, in der die Menschen erscheinen, wie man sie gern mag, nicht vollkommen, aber gut, nicht außerordentlich, aber interessant und liebenswürdig. Ihre Geschichte sei unterhaltend, solange wir sie hören, befriedigend, wenn sie zu Ende ist, und hinterlasse uns einen stillen Reiz, weiter nachzudenken.¹⁴

Die Anweisung für unverdächtige Geschichten, die sich aller politischen Geschichte enthalten, hat einen deutlich normativen Charakter, weil ihre Einhaltung darüber entscheidet, ob der Erzähler an der Geselligkeit teilnehmen darf oder nicht. Der eskapistische Anstrich dieser Norm ergibt sich aus der besonders krassen politischen Situation, in der sich die Teilnehmer des geselligen Kreises befinden. Die als „Auswanderer“ verharmlosten Flüchtlinge, die gewaltsam aus ihrer linksrheinisch gelegenen Heimat vertrieben wurden und auch in ihrem noblen Zufluchtsort noch den Kanonendonner hören können, sind besonders empfindlich gegenüber jeder politischen Agitation, ob für oder gegen die Revolution. Sosehr der Schutz ihrer Empfindlichkeit ein sympathisches Anliegen ist, die therapeutische Funktion der Dichtung zielt darauf, daß die sekundäre Flucht aus der Geschichte in die Dichtung den politischen Anlaß der primären Flucht vergessen läßt. So entsteht mitten im Krieg die literarische Form höfischer Geselligkeit um den Preis politischer Abstinenz. In Schillers neuer Zeitschrift Die

 Goethe, Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, in: Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Erich Trunz, Bd. 6, Hamburg: Wegner 51963, 125 – 241, S. 139.  Ebd., S. 167.

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Horen erschienen, sind die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten ein programmatischer Beitrag zum klassischen Programm der ästhetischen Erziehung außerhalb der politischen Wirklichkeit.¹⁵ Der Stil dieser Novellen, wie ihn Erich Trunz charakterisiert hat, könnte ein Vorbild für historiographische Bemühungen um die Darstellung auch historischer Wendepunkte sein: „Alles geschilderte Geschehen ist bildhaft; die optischen Vorstellungen sind von größter Prägnanz und von höchster Leuchtkraft der Farbe.“¹⁶ Aber Goethe hat sich weniger um die Darstellungsprobleme der Geschichtsschreibung gekümmert, wie sie in der Abgrenzung des 18. Jahrhunderts gegen die Bildkraft der Dichtung auftreten, als um das erkenntnistheoretische Problem der Meinungsbildung, weil die zur Wahrheit erklärte eigene Ansicht in Konflikt mit dem Anspruch auf die Darstellung der wahren Geschichte gerät. Seine ganz unhistoristische Ablehnung der Vergangenheit um der Vergangenheit willen, also einer im Sinne Nietzsches ‚antiquarischen‘ Geschichtsauffassung, basiert vor allem auf der existentiellen Erfahrung, daß die als Tatsache ausgegebene Vergangenheit, wenn sie nicht für die Gegenwart produktiv gemacht wird, als gespenstischer Albtraum die Kraft zum gegenwärtigen Leben angreift und auslaugt. Dieses seit dem Sturm und Drang betonte Lebensprinzip, das als Geschichtsskepsis mißverstanden wurde, ist ein Leitmotiv, das Goethes Schaffen von den Anfängen bis ins hohe Alter geprägt hat. Bei diesem vitalistischen Protest gegen die Abtötung gegenwärtigen Lebens durch ein Übermaß an abgelebter Vergangenheit kommt der Dichtung, weil sie von der existentiellen Angst vor der Vergangenheit befreien kann, eine therapeutische Funktion zu: „Geschichte schreiben ist eine Art, sich das Vergangene vom Halse zu schaffen.“¹⁷ Geschichtsschreibung befreit von der Vergangenheit, indem sie das Vergangene überschaubar ordnet und in eine verständliche Form bringt. Insofern spielt auch Goethes vieldeutiges Geschichtsbild eine Rolle in der Klärung des Zusammenhangs von Geschichte und Dichtung, von historischer und poetischer Wahrheit. Goethes Geschichtsbild ist, wie wir angesichts rezeptionstheoretischer Maßgaben heute besser verstehen, vor allem ein Problem seiner Wirkungsge-

 Vgl. Bernd Bräutigam, Die ästhetische Erziehung der deutschen Ausgewanderten, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 96 (1977), 508 – 539; Ulrich Gaier, Soziale Bildung gegen ästhetische Erziehung. Goethes Rahmen der „Unterhaltungen“ zu Schillers „Ästhetischen Briefen“ I–IX, in: Poetische Autonomie? Zur Wechselwirkung von Dichtung und Philosophie in der Epoche Goethes und Hölderlins, hrsg. v. Helmut Bachmaier und Thomas Rentsch, Stuttgart: Klett-Cotta 1987, 207– 272.  Erich Trunz im Kommentar zu den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, in: Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Erich Trunz, Bd. 6, Hamburg: Wegner 51963, S. 608 f.  Goethe, Maximen und Reflexionen, in: Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Erich Trunz, Bd. 12, Hamburg: Wegner 51963, 365 – 547, S. 391 (Nr. 193).

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schichte, weil der Ruf seiner Geschichtsskepsis zu allen möglichen Verrenkungen geführt hat, damit seine Relevanz für die Geschichte historischen Denkens keinen Schaden nahm. An der heftigen Kontroverse um den Geschichtsdenker Goethe, die in Friedrich Meineckes Entstehung des Historismus (1936) einen Höhepunkt fand, zeigt sich das inzwischen als ‚historisch‘ anmutende Bemühen, in der seit dem 18. Jahrhundert geführten Debatte um die Abgrenzung von Geschichte und Dichtung bzw. von Geschichts- und Literaturwissenschaft methodologisch unterschiedene Modelle zu etablieren, wie sie – in der Auseinandersetzung mit der Historischen Schule und unter dem Aspekt der Geschichtlichkeit – Wilhelm Dilthey mit der Ablösung der ‚verstehenden‘ Geisteswissenschaften von den ‚erklärenden‘ Naturwissenschaften vorgeschlagen hat. Als diese duale Typologie schließlich mit der Einführung der Sozialwissenschaften aufgebrochen wurde,¹⁸ hat die nun ernüchterte, von geistesgeschichtlicher Schwärmerei befreite Geschichtswissenschaft eine neue Heimstatt gefunden, in der das Verhältnis von Geschichte und Dichtung und die Rolle der vor allem als Literaten rezipierten Geschichtsdenker wie Winckelmann, Lessing, Herder, Schiller und Goethe kein zentrales Anliegen mehr waren. Mit dem ‚Geist der Goethezeit‘ hat auch die Goethe-Verehrung der geistesgeschichtlichen Methode ihr Ende gefunden.¹⁹ Goethe ist, historisch relativiert, zwar nicht mehr der absolute Maßstab aller Aussagen über seine Zeit, aber die ihm zugeschriebene Rolle dient immer noch als relativer Leitfaden, wenn er einer historischen Kritik unterzogen wird. Goethe war kein Anhänger der Aufklärung, und vor allem Faust I (1808) ist, wie Helmut Koopmann vor einigen Jahren bekräftigte, „ein Abgesang auf die

 Vgl. Wolf Lepenies, Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München: Hanser 1985.  Hermann A. Korff, Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassischromantischen Literaturgeschichte, Leipzig: Koehler & Amelang 41957. Vgl. die Begründung der ‚geistesgeschichtlichen‘ Konzeption im Vorwort zur 1. Aufl. (1923): „[S]eine sachliche Grundidee ist die Darstellung der Zeit von 1770 – 1830 als einer großen, in sich zusammenhängenden geistesgeschichtlichen Einheit und einer aus sich selber folgenden Entwicklung eben jenes Geistes, den es als ‚Geist der Goethezeit‘ bezeichnet“ (S. VIII). Als Namensgeber einer ganzen Epoche mußte Goethe ganz verschiedenen Zwecken dienen. Noch in seiner Klage über den nationalsozialistischen Mißbrauch Goethes hat Ernst Beutler (Besinnung. Ansprache zum 28. August 1945, in: Beutler, Essays um Goethe, hrsg. v. Christian Beutler, 2 Bde., Zürich/München: Artemis 71980, Bd. 2, 801– 824) von Goethe – an seinem Geburtstag 1945 – sogar die Rettung aus „Scham und Grauen“ (S. 804) über den Holocaust erwartet: „Wir, die wir uns hier zusammengefunden, wissen es ja, – darum sind wir ja hier, – daß in jedem Worte Goethes, auch seinem bittersten, eine heilende Kraft lebt“ (S. 822).

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Aufklärung“:²⁰ Die spöttische Darstellung des Famulus Wagner als Aufklärer grenzt an die Karikatur, wenn der altklug beflissene Student, „der trockne Schleicher“ (V. 521) in Schlafrock und Nachtmütze,²¹ anders als Faust, der – wie Sokrates (oida ouk oida = ich weiß, daß ich nichts weiß) – weiß, „daß wir nichts wissen können“ (V. 364), „alles wissen“ (V. 601) möchte und sich mit seinem „kritischen Bestreben“ (V. 560) die Grundhaltung des aufgeklärten Kritikers anmaßt. Wagners historisches Interesse, dieses „groß Ergetzen, / Sich in den Geist der Zeiten zu versetzen“ (V. 570 f.), dient ihm nur zu einem selbstgerechten Vergleich von Vergangenheit und Gegenwart, der beweisen soll, „wie vor uns ein weiser Mann gedacht, / Und wie wir’s dann zuletzt so herrlich weit gebracht“ (V. 572 f.) – woraufhin Faust nur höhnen kann: „O ja, bis an die Sterne weit!“ (V. 574) Faust, der sich unmittelbar vor Wagners Eintritt noch an dem Erdgeist gemessen hat, ist verständlich ungehalten über den vergleichsweise bürokratisch wirkenden Kleingeist großer Worte, dem jede Ironie abgeht. Dem ungebrochenen, vom eigenen Erfolg geblendeten Fortschrittsoptimismus, der später vor allem die technische Revolution ermöglichen und „uns“ schließlich sogar auf den Mond bringen sollte, erteilt Faust nun eine aus dem klassischen Zitatenschatz wohlbekannte Geschichtslektion, die die erkenntnistheoretische Voraussetzung des linearen Fortschrittsglaubens angreift: Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln. Was ihr den Geist der Zeiten heißt, Das ist im Grund der Herren eigner Geist, In dem die Zeiten sich bespiegeln. (V. 575 – 579)

Die Worte dieser so herablassend vorgetragenen Belehrung sind aus Büchmanns Register Geflügelter Worte so bekannt, und ihr Rhythmus ist so geläufig, daß man dieser Warnung vor dem Dünkel der Geschichtsgläubigen, die nicht merken, welchen Machtinteressen sie aufsitzen, die Provokation, die dahinter steckt, erst abtrotzen muß. Vordergründig scheint die flotte These von der Unzugänglichkeit der Geschichte und der Befangenheit ihrer Interpreten den geschichtsmüden

 Helmut Koopmann, Goethe, Faust und die Aufklärung. Zur Klärung einiger zentraler Begriffe, in: Koopmann, Nachgefragt: Zur deutschen Literatur aus dem 18. und 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main: Klostermann 2013, 13 – 35, S. 33. Koopmann setzt sich mit diesem Aufsatz vor allem gegen den vielgepriesenen, aber in diesem Punkt ungenügenden Faust-Kommentar von Albrecht Schöne (1994 im Deutschen Klassiker Verlag, 2003 in zweibändiger Ausgabe als InselTaschenbuch) ab.  Zitiert nach Goethe, Faust. Erster Teil [1808], in: Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Erich Trunz, Bd. 3, Hamburg: Wegner 71964, 7– 145.

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Famuli späterer Zeiten so recht aus dem grünen Herzen gesprochen. Aber es geht hier um etwas anderes als eine schlichte Entgegensetzung von Natur und Geschichte. Wagner, der so leichthin vom „Geist der Zeiten“ spricht, als wäre dieser wie später bei Hegel ein Vernunftprinzip der Geschichte selbst,²² wird von Faust eines besseren belehrt: Was Wagner den „Geist der Zeiten heißt“, ist „im Grund“ nur die willkürliche und obendrein falsche Benennung einer unaufgedeckten Projektion. Hinter dieser griffigen, aber nicht von Goethe erfundenen Formel verbirgt sich für Faust eben kein wirklicher „Geist“ vergangener Zeit, sondern nur der Geist jeweils gegenwärtiger „Herren“, die in der Geschichte isolierter Epochen („Zeiten“) den für charakteristisch ausgegebenen Grundzug nur so benennen und damit einzelnen Epochen ihren Stempel aufdrücken. Damit wird auf die dynastische Epochenbezeichnung angespielt, die vom „Siècle de Louis XIV“ (Titel einer 1751 erschienenen Darstellung von Voltaire) oder vom „Zeitalter Friedrichs des Großen“ spricht.²³ Aber die „Herren“ sind nicht nur die politischen Herrscher, die sich selbst als Höhepunkt einer auf sie zulaufenden Vor-Geschichte deuten, sondern überhaupt alle jeweils vor-herrschenden Interpreten, die für ihre Mit- und Nachwelt verbindliche Gliederungs- und Deutungsmuster entwerfen, indem sie der Vergangenheit den Spiegel ihrer Gegenwart vorhalten, um die Gegenwart teleologisch aus der Vergangenheit abzuleiten. Hellhörigen Zeitgenossen konnte nicht entgehen, daß Goethes Provokation, die in Fausts Korrektur von Wagners Begriffsverständnis liegt, womöglich noch in eine andere Richtung zielt. Es war bekannt, daß der „Geist der Zeit“ ein Schlüsselwort in Herders Geschichtsphilosophie war. Herder hatte, um Voltaires dynastischen Epochenbegriff abzulösen,²⁴ ausdrücklich „génie d’un Siècle“ als „Geist der Zeit“²⁵ übersetzt und damit ein neues Epochenverständnis vorbereitet, wie es sich später in Wilhelm von Humboldts Fragment gebliebener Abhandlung Das achtzehnte Jahrhundert (1798) und in Fichtes Vorlesungen über Die Grundzüge des

 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte [1822/ 1823 – 1830/1831, gedruckt 1840], in: Hegel, Werke in zwanzig Bänden, hrsg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 12, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978, S. 96 f.: „Die Weltgeschichte, wissen wir, ist also überhaupt die Auslegung des Geistes in der Zeit, wie die Idee als Natur sich im Raume auslegt.“  Lange vor Voltaire gab es schon von Charles Perrault Le siècle de Louis le Grand (1687). Zum 18. Jahrhundert vgl. Jacob Burckhardt, Das Zeitalter Friedrichs des Großen, hrsg. v. Ernst Ziegler, mit einem Essay von Hans Pleschinski, München: Beck 2012.  Vgl. Johann Gottfried Herder, Journal meiner Reise im Jahr 1769. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. v. Katharina Mommsen, Stuttgart: Reclam 1976, S. 92: „Frankreich: seine Epoche der Litteratur ist gemacht: das Jahrhundert Ludwichs vorbei“.  .Ebd., S. 106.

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gegenwärtigen Zeitalters (1804/1805) ausdrückt. Zum erstenmal in Herders drittem Kritischen Wäldchen (1769) beschworen und ausgeführt in seiner Bückeburger Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774), bezeichnet die Formel, analog zu Shaftesburys „inward form“, die strukturierende Kraft des historischen Fortschritts, die jeder Epoche ihren bestimmten Charakter aufprägt. Wenn sich die Anspielung, die sich gleichlautend schon im Urfaust (1775) findet, wirklich auf Goethes Kollegen Herder beziehen sollte, der ab 1776 als Vizepräsident des Weimarer Oberkonsistoriums eine ähnliche Machtposition innehatte wie Goethe, dann wäre „Geist der Zeiten“ ein Herder-Zitat, dessen Umdeutung erst nach der Französischen Revolution als versteckte Kritik an dem „Parteigänger der Revolution“ (Wilson)²⁶ verstanden werden konnte.²⁷ Was für Wagner der lineare Fortschritt der Geschichte ist, ist in Wirklichkeit nur ein rationalistisches Interpretationsmodell, das dem zugrundeliegenden Spiegelverhältnis von vergangenem Geschehen und gegenwärtiger Perspektive den Schein unzulässiger Subjektivierung nimmt. Wenn Wagner also vom „Geist der Zeiten“ spricht, ohne ihn als Sprachregelung zu durchschauen, gibt er dem Anspruch der „Herren“ auf den Wahrheitsgehalt ihrer Geschichtsdeutung ganz unkritisch recht. Im Glauben an die Objektivität seines vor-wissenschaftlichen Zugriffs ist er auf eine Strategie hereingefallen, die Macht durch Interpretation gewinnt. Aber selbst Fausts kritische Geschichtslektion kann an der Verblendung nichts mehr ändern. Bevor Faust das ergebnislose Gespräch ungeduldig abbricht, wird der unveränderte Gegensatz der Positionen noch einmal bestätigt: Wagner beharrt auf seinem naiven Erkenntnisprinzip („Allein die Welt! Des Menschen Herz und Geist! / Möchte’ jeglicher doch was davon erkennen“ V. 586 f.) und Faust auf seiner sprachkritischen Relativierung historischer Erkenntnis: „Ja, was man so erkennen heißt!“ (V. 587) So erweist sich Fausts wiederholter Hinweis auf die Sprachlichkeit und Geschichtlichkeit des Spiegelbildes, das wir Geschichte nennen, als eine modern anmutende Lektion in historischer Hermeneutik, der es weniger um die Geschichte als um die Möglichkeit (und den möglichen Mißbrauch) geschichtlichen Verstehens geht. Noch vor Kants erkenntniskritischer Wende zeichnet sich in Fausts Geschichtslehre die Akzentverschiebung von den Vorstellungsinhalten zu

 W. Daniel Wilson, Das Goethe-Tabu, S. 253.  Zur späteren national-‚revolutionären‘ Deutung des Begriffs gehört Ernst Moritz Arndts Geist der Zeit, der als flammender Aufruf gegen Napoleon ab 1806 erschien. Vgl. zum Bedeutungswandel des Begriffs Hinrich C. Seeba, ‚Zeitgeist‘ und ‚deutscher Geist‘: Zur Nationalisierung der Epochentendenz um 1800, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Sonderheft 1987: „Von der gelehrten zur disziplinären Gemeinschaft“, hrsg. v. Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp, Stuttgart: Metzler 1987, 188 – 215.

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den Vorstellungsweisen ab, die für die Gliederung und Deutung der neueren Geistesgeschichte als ‚epochemachend‘ gilt. Noch bevor Kants Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis das moderne Bewußtsein grundlegend erschüttern konnte (wie wir im übernächsten Kapitel an Kleists verzweifelter Reaktion sehen werden), bereitet die von Faust vorgetragene historische Kritik eine Antwort vor, die von Herder – über Kant hinaus – auf die Begründung der modernen Hermeneutik durch Schleiermacher verweist.²⁸ Neuplatonische Voraussetzung des geschichtlichen Verstehens ist, für Goethe wie für Schleiermacher, eine entschiedene Entgegensetzung der Geschichte ‚an sich‘, die uns Nachgeborenen auf immer verschlossen bleibt, und des Bildes der Geschichte, in dem allein sich uns die Vergangenheit erschließen kann. Aber die Entgegensetzung, wie sie aus der Satzstruktur des Faust-Zitats spricht, ist kein ausschließlicher Gegensatz. Im Bild des Spiegelbilds, das Konrad Burdach „die dramatische Achse“ des Faust-Dramas genannt hat,²⁹ sind platonische Ideenlehre und christliche Metaphorik so verschlungen, daß weder der abgebildeten Geschichte der Charakter ontischer Wahrheit noch dem Geschichtsbild der Charakter einer ästhetischen Fiktion eindeutig und ausschließlich zukommt. Einerseits wird die uns verschlossene ‚eigentliche‘ Geschichte als „ein Buch mit sieben Siegeln“ (Offb. 5,1), also auch nur im (biblischen) Bild eines bis zum Jüngsten Gericht verschlüsselten Textes begriffen, den „niemand im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde“ berufen ist, „aufzutun und zu lesen noch hineinzusehen“ (Offb. 5,3): die Weltgeschichte als hermetisches Kunstwerk also, dem auch mit den Regeln der Hermeneutik nicht beizukommen ist. Und andererseits sind auch die hermeneutisch faßbaren Geschichtsbilder keine bloße  Vgl. Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, hrsg. v. Manfred Frank, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, 75 – 306, S. 95: „Der Sprachschatz und die Geschichte des Zeitalters eines Verfassers verhalten sich wie das Ganze, aus welchem seine Schriften als das Einzelne müssen verstanden werden, und jene wieder aus ihm.“  Konrad Burdach, Faust und Moses, in: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1912, 358 – 403, 627– 659 und 736 – 789, hier S. 781. Vgl. allgemein zum Spiegelbild Franz Koch, Goethe und Plotin, Leipzig: J.J. Weber 1925, 83 – 127 (Kap. IV: „Der schaffende Spiegel“); Geno F. Hartlaub, Zauber des Spiegels. Geschichte und Bedeutung des Spiegels in der Kunst, München: Piper 1951; August Langen, Zur Geschichte des Spiegelsymbols in der deutschen Dichtung [1940], in: Langen: Gesammelte Studien zur neueren deutschen Sprache und Literatur, Berlin: Erich Schmidt 1978, 141– 152. Unbrauchbar ist P. Leendertz jr., Der Spiegel in Goethes Faust, in: Zeitschrift für Bücherfreunde 14 (1922), 142– 147; aber auch ältere FaustKommentare haben zur vorliegenden Stelle so gut wie nichts zu sagen, so Reinhard Buchwald, Führer durch Goethes Faustdichtung. Erklärung des Werkes und Geschichte seiner Entstehung, Stuttgart: Kröner 61961, S. 41; Stuart Atkins, Goethe’s Faust. A Literary Analysis, Cambridge, MA: Harvard University Press 1958, S. 29 f.; und Paul Requadt, Goethes Faust I. Leitmotivik und Architektur, München: Fink 1972, S. 76 f.

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Projektion ihrer Interpreten, was bei solcher Perspektivierung der Geschichtsdeutung naheläge, sondern Abbilder der Geschichte selbst. Es ist ja ausdrücklich „der Herren eigener Geist, / In dem die Zeiten sich bespiegeln“, und nicht umgekehrt die Geschichte, in der die „Herren“ sich bespiegeln, um sich ins Recht zu setzen. Im Gegensatz zur historischen Legitimation der eigenen Machtansprüche ist die Geschichtsdeutung also weniger eine nachträgliche Verzerrung als ein der Geschichte selbst schon eingebundener Vollzug der historischen Wahrheit; denn die beiden Metaphern, das Buch der Welt und das Bild der Geschichte,³⁰ stehen in einem dynamischen Spiegelungsverhältnis, in dem die ‚Fiktionalität‘ der ‚wahren‘ Geschichte und die ‚Wirklichkeit‘ der ‚fiktiven‘ Geschichtsbilder einander bedingen. Das Spiegelbild der Zeiten ist also das Medium, in dem der Gegensatz von Geschichte und Geschichtsdeutung aufgehoben ist, weil die Geschichte nur mit Hilfe ihrer Interpreten, in deren Verständnis sie „sich bespiegeln“ kann, gewissermaßen zu sich selbst kommt. So scheint es nur noch ein kleiner Schritt von Fausts Geschichtslektion zu einer von Hegel beeinflußten „Ontologie des Bildes“, wie sie in Gadamers Hermeneutik zur philosophischen Begründung des wirkungsgeschichtlichen Prinzips geführt hat.³¹ Für eine rezeptionstheoretisch motivierte Konzeption, die zwischen Goethe und gegenwärtigen Perspektiven vermittelt, gibt es in Goethes Biographie ein literarhistorisches Zeugnis, das Fausts Spiegelbild der Zeiten von der Geschichte auf die Dichtung überträgt. Als der Nestor der deutschen Altphilologie, Christian Gottlob Heyne, am 17. März 1770 in den Göttinger Anzeigen von gelehrten Sachen den gerade erschienenen Essay On the Original Genius and Writings of Homer (1769) von Robert Wood rezensierte,³² da ging Goethe und seiner Generation ein ganz neues, vom Natur-Enthusiasmus ihrer Zeit geprägtes Homer-Verständnis auf, von dem bald darauf Werther nachhaltig Zeugnis abgelegt hat. Dieser Anlaß einer

 Vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/München: Francke 41963, 306 – 352 (Kap. „Das Buch als Symbol“); Alexander Demandt, Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, München: Beck 1978, 369 – 379 (Kap. „Bild und Spiegel“) und 379 – 393 (Kap. „Das Buch der Geschichte“).  Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: Mohr 21965, S. 137. Vgl. auch die Meditation von Andrew Jaszi, Einige Anmerkungen über die Zeit und Faust, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 56 (1982), 92– 100, in der die vorliegende Textstelle für eine Ontologie der Zeitlichkeit herangezogen wird.  Heynes Rezension von 1770 wurde auch der deutschen Ausgabe von Woods Essay als Einleitung vorangestellt (Versuch über das Originalgenie des Homers, Frankfurt am Main: Andreas 1773). Vgl. Wolf-Hartmut Friedrich, Heyne als Philologe, in: Der Vormann der Georgia Augusta: Christian Gottlob Heyne zum 250. Geburtstag. Sechs akademische Reden, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1980, 15 – 31.

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großen, nur vom Ossian-Fieber noch übertroffenen Wirkung wäre indes wohl nur für die Geschichte der Philologie interessant, besonders im Zusammenhang mit der sogenannten homerischen Frage, die von Friedrich August Wolfs Prolegomena ad Homerum (1795) ausging und ihn mit seinem Lehrer Heyne entzweite, wenn Goethe daran nicht über vierzig Jahre später, im 12. Buch von Dichtung und Wahrheit (1812), einen Grundsatz seiner Geschichtsauffassung exemplifiziert hätte: Glücklich ist immer die Epoche einer Literatur, wenn große Werke der Vergangenheit wieder einmal auftauen und an die Tagesordnung kommen, weil sie alsdann eine vollkommen frische Wirkung hervorbringen.³³

Die allgemeine Regel, die Goethe hier aufstellt, handelt offensichtlich von der wärmenden Kraft der Überlieferung, die ein in der Vergangenheit eingefrorenes Werk immer wieder, gleichsam im Rhythmus der Jahreszeiten, zu neuem Leben ‚auftaut‘. Die Regel zielt, wenn man sie ihrer Naturmetaphorik entkleidet, die für Goethes organologisches Denken so charakteristisch ist, auf die zeitbedingte Aktualisierung einer nur scheinbar ein für allemal festgelegten Bedeutung, auf ein wirkungsgeschichtliches Prinzip also, das vor dem Hintergrund der Rezeptionstheorie selbst wieder „eine vollkommen frische Wirkung“ erlangt hat. Auf den besonderen Fall angewandt, betrifft Goethes Regel denn auch die besonderen Wirkungsbedingungen, die eine neue Perspektive und damit ein neues (Homer‐) Verständnis erlauben: Auch das Homerische Licht ging uns neu wieder auf, und zwar recht im Sinne der Zeit, die ein solches Erscheinen höchst begünstigte: denn das beständige Hinweisen auf Natur bewirkt zuletzt, daß man auch die Werke der Alten von dieser Seite aus betrachten lernte. […] Wir sahen nun [d. h. nach der Göttinger Rezension] nicht mehr in jenen Gedichten ein angespanntes und aufgedunsenes Heldenwesen, sondern die abgespiegelte Wahrheit einer uralten Gegenwart, und suchten uns dieselbe möglichst heranzuziehen.³⁴

Zu einer Zeit, da Natur und Geschichte vorwiegend als Gegensätze gedacht werden, ist ihre Verschränkung auf dem Umweg über die Literatur, in der sie vermittelt erscheinen, ein charakteristisch Goethescher Interpretationsakt, der eine neuartige Perspektivierung des literarhistorischen Verständnisses erlaubt, so daß man „auch die Werke der Alten von dieser Seite betrachten“, ihnen also eine ganz neue Ansicht abgewinnen lernt. Während der Naturaspekt der Gegenwart über die

 Goethe, Dichtung und Wahrheit, 12. Buch, in: Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Erich Trunz, Bd. 9, 51964, S. 537 f.  Ebd., S. 538.

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Geschichte gewordene Literatur, in der sie gespiegelt scheint, eine historische Dimension erhält, gewinnt die Geschichte, als historische Substantialisierung des Naturaspekts, in der Literatur fast eine mythische Qualität, die nicht mehr bestimmten Zeitepochen ausschließlich angehört, sondern als „die abgespiegelte Wahrheit einer uralten Gegenwart“ jederzeit, zu jeder „Zeit, die ein solches Erscheinen höchst begünstigt“, abgerufen werden kann. Das Ergebnis eines solchen Wirkungsprozesses ist wichtig für das bessere Verständnis von Goethes Geschichtsbild: Dichtung als Spiegel der Wahrheit, die nicht vergangen, sondern eine „uralte Gegenwart“ ist, weil das poetische Spiegelbild, wenn es so wirkungskräftig ist wie die Werke Homers, Vergangenheit und Gegenwart so ineinander auflöst, daß die ewige Gegenwärtigkeit des Vergangenen immer wieder und immer neu „an die Tagesordnung“ kommt. Durch solche Wiederkehr des Vergangenen wird das lineare Geschichtsbild aufgebrochen und ein zyklisches Geschichtsdenken möglich, in dem sich frühere Ereignisse und ganze Epochen so zu wiederholen scheinen, daß die Gegenwart als Rückkehr in die Vergangenheit wahrgenommen wird. Im Rückblick auf die Zeit, in der Werther und Urfaust entstanden, hat Goethe im 14. Buch von Dichtung und Wahrheit (1813) zugegeben, daß der wirkungsgeschichtliche Grundsatz, der Geschichte und Dichtung wie Vergangenheit und Gegenwart in eins faßt, sein Schaffen sehr oft bestimmt hat: Ein Gefühl aber, das bei mir gewaltig überhand nahm, und sich nicht wundersam genug äußern konnte, war die Empfindung der Vergangenheit und Gegenwart in Eins: eine Anschauung, die etwas Gespenstermäßiges in die Gegenwart brachte. Sie ist in vielen meiner größern und kleinern Arbeiten ausgedrückt, und wirkt im Gedicht immer wohltätig, ob sie gleich im Augenblick, wo sie sich unmittelbar am Leben und im Leben selbst ausdrückte, jedermann seltsam, unerklärlich, vielleicht unerfreulich scheinen mußte.³⁵

Im Unterschied zu Voltaire und Hegel, die ihrer von Odo Marquard attestierten „Angst vor der Vergangenheit“ im Rahmen linearen Geschichtsdenkens durch eine evolutionäre Geschichtstheorie begegnen, weicht Goethe seiner Angst vor dem „Gespenstermäßigen“ der Vergangenheit nicht geschichtsphilosophisch aus.³⁶ Vielmehr bietet er, an der Grenze zwischen Geschichte und Dichtung, eine

 Goethe, Dichtung und Wahrheit, 14. Buch, in: Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Erich Trunz, Bd. 10, Hamburg: Wegner 31963, S. 32.  Odo Marquard hat in seinem Beitrag zum Mainauer Gespräch im Oktober 1982 (abgedruckt u.d.T. Verspielter Konservatismus. Thesen über einige geistesgeschichtliche Voraussetzungen der grünen Welle, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 262, 11. November 1982) die Geschichtsphilosophie dem „Horror-Genre“ zugerechnet und entsprechend die evolutionäre Fortschrittstheorie von Voltaire und Hegel durch die Angst vor der Vergangenheit im Namen der Gegenwart

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ästhetische Lösung an, bei der die Dichtung – als wirkungsgeschichtlich konzipierte, weniger linear als zyklisch gedachte Vermittlung des Vergangenen – sowohl eine erkenntnistheoretische als auch eine therapeutische Rolle spielt. Als „abgespiegelte Wahrheit einer uralten Gegenwart“ hat die Dichtung einen ausgesprochen „wohltätigen“ Charakter, weil ihre immer wieder erneute, „vollkommen frische Wirkung“ darin besteht, aufzuklären und zu deuten, was an der Vergangenheit sonst, bliebe sie unvermittelt, „seltsam, unerklärlich, vielleicht unerfreulich“ scheinen müßte. Damit gehört die Dichtung zu den „wiederholten Spiegelungen“, die, wie Goethe 1823 in einem kleinen Aufsatz schreibt, „das Vergangene nicht allein lebendig erhalten, sondern sogar zu einem höheren Leben emporsteigern“. Besser noch als die bildliche Erinnerung, von deren gestaffelter Struktur der Aufsatz handelt, repräsentiert die Dichtung „die Möglichkeit, ein Wahrhaftes wiederherzustellen, aus Trümmern von Dasein und Überlieferung sich eine zweite Gegenwart zu verschaffen“.³⁷ Nicht die Rekonstruktion der Vergangenheit, auch nicht Wagners scheinbar selbstvergessener Anspruch, „sich in den Geist der Zeiten zu versetzen“, erlaubt eine Erkenntnis historischer Wahrheit, sondern allein die als Dichtung interpretierbare Konstruktion einer zweiten Gegenwart, in der sich die erste, scheinbar unwiederbringlich an die Vergangenheit verlorene Gegenwart wiederholt und, wechselnden Wirkungsbedingungen entsprechend, immer neu „bespiegelt“. Nur im poetischen Spiegelbild der Zeiten kann das Schreckgespenst der Vergangenheit gebannt und ihr „Geist“ verstanden werden. In den wenigen Spezialuntersuchungen, die es zu unserem Thema gibt, wird natürlich immer wieder darauf hingewiesen, daß Geschichte und Geschichtsbewußtsein, Geschichtsschreibung und Geschichtswissenschaft, Leitthemen der deutschen Geistesgeschichte nach 1750 also, von Goethe durchaus nicht einhellig begrüßt wurden. Der kleine Vorrat immer wieder zitierter Belege schien, weil sie so leicht zur Hand waren, keinen Zweifel mehr an der zu belegenden Geschichtsskepsis zu lassen: Goethe hat ja Faust die Geschichte wirklich „ein Kehrichtfaß und eine Rumpelkammer“ (V. 582) schimpfen lassen. Natürlich hat er „das Inkalkulable, das Inkommensurable der Weltgeschichte“ betont³⁸ und ge-

motiviert gesehen, hingegen die revolutionäre Fortschrittstheorie von Fichte und Marx durch die Angst vor der Gegenwart im Namen der Zukunft und die Verfallstheorie von Rousseau und Nietzsche durch die Angst vor der Zukunft im Namen der Vergangenheit.  Goethe, Wiederholte Spiegelungen, in: Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Erich Trunz, Bd. 12, Hamburg: Wegner 51963, 322 f., S. 323.  Goethe, Maximen und Reflexionen, S. 395 (Nr. 215); so auch schon in der Geschichte der Farbenlehre, in: Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Erich Trunz, Bd. 14, Hamburg: Wegner 21962, 7– 269, S. 49.

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meint, daß sie „das Absurdeste ist, was es gibt“.³⁹ Die Geschichte hatte für ihn tatsächlich „immer etwas Leichenhaftes, den Geruch der Totengruft“,⁴⁰ und Amerika hatte es schon deshalb besser, weil „zu lebendiger Zeit“ „kein unnützes Erinnern“ stört.⁴¹ Und besonders gerne wird der Heftigkeit gedacht, mit der Goethe protestierte, als man 1823 anläßlich eines Konzerts der Pianistin Maria Szymanowska einen Toast auf die Erinnerung ausbrachte: Ich statuiere keine Erinnerung in eurem Sinne, das ist nur eine unbeholfene Art sich auszudrücken. Was uns irgend Großes, Schönes, Bedeutendes begegnet, muß nicht erst von außen her wieder erinnert, gleichsam erjagt werden, es muß sich vielmehr gleich vom Anfang her in unser Inneres verweben, mit ihm eins werden, ein neues besseres Ich in uns erzeugen und so ewig bildend in uns fortleben und schaffen. Es gibt kein Vergangenes, das man zurücksehnen dürfte, es gibt nur ein ewig Neues, das sich aus den erweiterten Elementen des Vergangenen gestaltet, und die echte Sehnsucht muß stets produktiv sein, ein neues Besseres erschaffen.⁴²

Das mag zwar eine entschiedene Ablehnung der äußeren Erinnerung sein, bestätigt aber, wenn man sie nicht mit der geschichtsskeptischen Brille liest, viel eher die Idee einer produktiven Rezeption des Vergangenen. Wie in Fausts sprachkritischer Geschichtslektion betont Goethe auch hier, daß es keine Vergangenheit gibt, die man „zurücksehnen“ oder in die man sich, mit Wagners gleichsam historistischer Wendung, „versetzen“ könnte, sondern „nur ein ewig Neues, das sich aus den erweiterten Elementen des Vergangenen gestaltet“, weil es erst als „zweite Gegenwart“, als poetisches Spiegelbild jene Gestalt findet, in der die als „bedeutend“ erfahrene und gedeutete erste Gegenwart „ewig bildend in uns fortleben und schaffen“, also produktiv werden kann. Was also gemeinhin als Beleg für Goethes Geschichtsskepsis interpretiert wird, ist tatsächlich nur die Zurückweisung eines antiquarischen Geschichtsdenkens, dem die Phantasie fehlt, die abgestorbene Vergangenheit zu immer

 Goethe, Gespräch mit Kanzler von Müller am 6. März 1828, in: Goethe, Gedenkausgabe, Bd. 23, S. 531. Vgl. das frühere Gespräch mit Müller am 1. Oktober 1824: „Die Weltgeschichte sei eigentlich nur ein Gewebe von Unsinn für den höhern Denker und wenig aus ihr zu lernen“; ebd., S. 364.  Goethe, Geplantes Vorwort zum 3. Teil von Dichtung und Wahrheit, zitiert nach Friedrich Meinecke, Werke, hrsg. v. Hans Herzfeld, Carl Hinrichs und Walther Hofer, Bd. 3: Die Entstehung des Historismus [1936], München: Oldenbourg 21965, S. 523 (in der Hamburger Ausgabe, wo das geplante Vorwort in Bd. 9, S. 754, abgedruckt ist, fehlt das Zitat).  Goethe, Sprüche Nr. 173: Den Vereinigten Staaten, in: Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Erich Trunz, Bd. 1, Hamburg: Wegner 71964, S. 333.  Goethe, Gespräch mit Kanzler von Müller am 4. November 1823, in: Goethe, Gedenkausgabe, Bd. 23, S. 315.

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neuem Leben zu erwecken. Aber während Goethe oft im Licht der Geschichtsskepsis erscheint, werden ihm dennoch, im Hinblick auf seine eigene Wirkung in die Zukunft, geschichtsbildende Pioniertaten zugestanden. So braucht man sich eigentlich nur noch darüber zu einigen, ob die Geschichte der Farbenlehre (1810) „das erste Muster einer Geistesgeschichte“ (Gundolf),⁴³ ob Dichtung und Wahrheit (1811– 1814) „der Gipfel Goetheschen Geschichtsdenkens und Geschichtsschreibung“ (Meinecke)⁴⁴ und darin das 7. Buch „die erste deutsche Literaturgeschichte, die mehr gibt als Namen, Buchtitel und Jahreszahlen“ (Beutler),⁴⁵ oder ob die Noten und Abhandlungen zum westöstlichen Divan (1818) „Goethes größte geschichtliche Arbeit neben der Geschichte der Farbenlehre“ (Trunz)⁴⁶ waren. Wo „die größte“ Geschichtsleistung innerhalb von Goethes Gesamtwerk daran gemessen wird, ob sie auch „die erste“ Geistes- oder Literaturgeschichte war, die der Nachwelt als „Muster“ dienen konnte, kommt über den normierenden Klassifizierungen, die für große literaturgeschichtliche Überblicke wohl unentbehrlich sind, gerade die Problematisierung solcher historiographischen Zuordnungen zu kurz, die wir Goethe eben auch zu verdanken haben. Dieser metakritische Grundzug in Goethes Geschichtsdenken hat denn auch in den wenigen Arbeiten zum Thema kaum Beachtung gefunden.⁴⁷ Die Metakritik der Geschichtsschreibung, die in dem Denkbild ‚Spiegelbild der Zeiten‘ angelegt ist, geht aus einer existentiellen, aber aufs Grundsätzliche verallgemeinerten Lebenserfahrung hervor, der uns schon bekannten Angst vor dem Vergangenen, die nur durch produktive Vergegenwärtigung bewältigt werden

 Friedrich Gundolf, Goethe, Berlin: Georg Bondi 111922, S. 410.  Meinecke, Die Entstehung des Historismus, S. 493.  Ernst Beutler in: Goethe, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hrsg. v. Ernst Beutler, Bd. 10: Aus meinem Leben, Zürich: Artemis 1948, S. 923. Vgl. Helmut Schanze, Goethe: Dichtung und Wahrheit, 7. Buch. Prinzipien und Probleme einer Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, in: Euphorion 55 (1974), 44– 56.  Erich Trunz in: Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Erich Trunz, Bd. 2, Hamburg: Wegner 71965, S. 633.  Während Klaus Ziegler in seiner Tübinger Antrittsvorlesung (Zu Goethes Deutung der Geschichte, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 30 [1956], 232– 267) betont hat, daß „Goethes Deutung der Geschichte mit dem Ganzen seiner Natur- und Seinslehre, seines Menschen- und Gottesverständnisses in der Tat unauflöslich zusammenhängt“ (S. 267), war der Aufsatz von Jürgen Kuczynski (Goethe und die Geschichte, in: Jürgen Kuczynski und Wolfgang Heise, Bild und Begriff. Studien über die Beziehungen zwischen Kunst und Wissenschaft, Berlin/Weimar: Aufbau 1975, 42– 61, mit einer thematisch ausweichenden Replik von Wolfgang Heise [Zum Kapitel ‚Goethe und die Geschichte‘, 62– 76]) ein eher bescheidener, DDR-interner Versuch, „den vulgären Fortschrittshistorikern“ (S. 52) die Übereinstimmung von Goethes produktiver und Marx’ revolutionärer Geschichtsauffassung ins marxistische Stammbuch zu schreiben.

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kann. Im Bild (und Prinzip) der Lebensrettung hat Goethe das ihn lebenslang quälende Doppelgesicht der Geschichte auf eine prägnante Formel gebracht: „Wir alle leben vom Vergangenen und gehen am Vergangenen zugrunde.“⁴⁸ Dieser häufig zitierte Spruch aus den Maximen und Reflexionen (1822) ist besonders geeignet, Goethes Unbehagen an der Geschichte, aber auch seine Ambivalenz zwischen positivem und negativem Urteil über ihre Wirkung noch einmal zu illustrieren. Am Leben und, wegen der problematischen Lebenserfahrung, die „wir alle“ machen, vor allem am Überleben orientiert, spricht Goethe vom Vergangenen nur in Hinblick auf die Lebenskraft, die wir von ihm gewinnen oder daran verlieren. Auch diese organologisch verkleidete Maxime zielt auf die entweder wohltätig belebende oder, wenn die Vermittlung durch das poetische Spiegelbild ausbleibt, gespenstermäßig bedrohende Gegenwärtigkeit des Vergangenen. Aber der Ruf nach rettender Vermittlung ergeht nun nicht mehr nur an die Dichtung, sondern, wie wir schon gesehen haben, auch an die ähnlich therapeutische Geschichtsschreibung, die die Aufgabe hat, uns „das Vergangene vom Halse zu schaffen“. Auch in diesem Spruch aus den Maximen und Reflexionen äußert sich ein ursprüngliches Lebensbedürfnis, ein fast schon verzweifelt klingender Versuch, einerseits das Vergangene zu überleben, solange es dem Betrachter wie ein Gespenst aus dem Totenreich im Nacken sitzt, und andererseits vom Vergangenen zu leben, sobald ihm, in der Vermittlung durch den Geschichtsschreiber, frische Lebenskraft abgewonnen werden kann. Die Geschichtsschreibung ist also eine mit der Dichtung vergleichbare Art, das unerklärlich und womöglich bedrohlich Vergangene in eine ästhetische Distanz zu rücken, es überschaubar, verständlich und vielleicht sogar verfügbar zu machen. Diese lebendige Art der Bewältigung ist ein sich immer erneuernder Prozeß der verstehenden und deutenden Aneignung des Vergangenen. Sie setzt eine hermeneutische Funktion der Geschichtsschreibung voraus, die sich nicht in der bloßen Rekonstruktion des Geschehenen erschöpft. Schon in der Zurechtweisung des Famulus Wagner, der gewissermaßen einen historistischen Anspruch auf den „Geist der Zeiten“ erhoben hatte, verweist die Kritik an der historiographischen Redewendung auf den kategorialen Unterschied von Geschichte und Geschichtsdeutung. Die noch vor Kant getroffene erkenntniskritische Unterscheidung ist ein Vorgriff auf die schon über Kant hinausweisende wissenschaftskritische Unterteilung der Geschichte der Farbenlehre, wie Goethe am 17. Februar 1798 an Schiller schreibt, „in die Geschichte der Erfahrungen und in die Geschichte der Meinungen“, wobei er mit Blick auf Kant noch schnell hinzufügt: „und die letztere(n) müssen doch alle unter den Kategorien

 Goethe, Maximen und Reflexionen, S. 377 (Nr. 94).

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stehen.“⁴⁹ Wenn Goethe hier eine kategoriale Abhebung der „Meinungen“ von den „Erfahrungen“ fordert, so läuft die Begründung seiner Forderung, im selben Brief, auf eine Kritik wissenschaftlicher Prädikationen hinaus, die wie die gleichzeitig geschriebene „Metakritik“ Herders an Kants Erkenntnistheorie einem sprachkritischen Impetus folgt:⁵⁰ weil die Natur von so unerschöpflicher unergründlicher Art ist, daß man alle Gegensätze und Widersprüche von ihr prädizieren kann, ohne daß sie sich im mindesten dadurch rühren läßt, doch haben die Forscher von jeher sich dieser Erlaubnis redlich bedient, und auf eine so scharfsinnige Art die Meinungen gegeneinander gestellt, daß die größte Verwirrung daraus entstand, welche nur durch eine allgemeine Übersicht des Prädikabeln zu heben ist.⁵¹

Was als Natur oder, im vorliegenden Zusammenhang, als Geschichte erscheint, sind – wie schon Faust recht belehrend sagt – „im Grunde“ nur ‚Prädikationen‘, unbewiesene Behauptungen. Die Gegensätze und Widersprüche, die ihr zugesprochen werden, sind eben nichts anderes als die ‚Spruchwahrheiten‘ ihrer widerstreitenden Interpreten. Die „Meinungen“ sind mit den „Erfahrungen“ so ununterscheidbar verschlungen, daß man nur durch eine kritische Analyse dessen, was ausgesagt wurde, zur Bestimmung dessen kommen wird, was überhaupt ausgesagt werden kann. Insofern muß sich die von Goethe empfohlene Wissenschaftskritik auf „eine allgemeine Übersicht des Prädikabeln“ stützen, die erlaubt, die Widersprüche wissenschaftlicher Aussagen in Hinblick auf ihre zeitbedingten Zwecksetzungen historisch aufzulösen. Weil sich der „Geist der Zeiten“, wie der mögliche Inhalt historischer „Erfahrung“ von Wagner genannt wurde, nur als Leitspruch einer vorherrschenden „Meinung“ verrät, als „nur der Herren eigner Geist“, der sich zur Durchsetzung eigener Interessen auf den Zeitgeist nur beruft, entstand schon für Goethe die Aufgabe, seine wirkungsgeschichtlich orientierte Wissenschaftskritik durch eine, wie man früher gesagt hätte, ideologiekritisch ausgerichtete Funktionsgeschichte zu ergänzen. Goethe unterscheidet deshalb in einer späteren Disposition zur Geschichte der Farbenlehre nicht nur, schon über Kant hinausgehend, die „Erfahrungen“ und „Meinungen“, sondern „1. die Phänomene, wie sie nach und nach bekannt geworden, 2. die Meinungen, welche man darüber gehegt, 3. den Gebrauch, den man davon gemacht“.⁵² Wissenschaftliche

 Goethe, Brief an Schiller, 17. Februar 1798, in: Goethe – Schiller, Briefwechsel, Frankfurt am Main: Fischer 1961, S. 308.  Vgl. Johann Gottfried Herder, Verstand und Erfahrung. Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft [1799], in: Herder, Sämtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd. 21 [reprogr. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1881], Hildesheim: Olms 1967, 1– 190.  Goethe, Brief an Schiller, 17. Februar 1798, in: Goethe – Schiller, Briefwechsel, S. 309.  Goethe, Geschichte der Farbenlehre, S. 273.

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Erkenntnis ist also in den Prozeß der Meinungsbildung verwickelt, durch den die Phänomene der Geschichte ebenso wie die der Natur historisch, im Verlauf ihrer Wirkungsgeschichte, nach und nach bekannt geworden und praktisch, im Rahmen ihrer Funktionsgeschichte, immer neu bekannt gemacht worden sind. Die Funktionalisierung historischer Wahrheit im Interesse argumentativer (oder auch realer) Zwecke, die als dritter Punkt in die Wissenschaftskritik aufgenommen wird, hat Goethe so sehr beunruhigt, daß er auch in den Maximen und Reflexionen ausdrücklich auf diese Strategie der Meinungsbildung hingewiesen hat: Da nun den Menschen eigentlich nichts interessiert als seine Meinung, so sieht jedermann, der eine Meinung vorträgt, sich rechts und links nach Hülfsmitteln um, damit er sich und andere bestärken möge. Des Wahren bedient man sich, solange es brauchbar ist; aber leidenschaftlich-rhetorisch ergreift man das Falsche, sobald man es für den Augenblick nutzen, damit als einem Halbargumente blenden, als mit einem Lückenbüßer das Zerstückelte scheinbar vereinigen kann.⁵³

Der Argumentationscharakter wissenschaftlicher Aussagen ist so bestimmend, daß auch historische Erkenntnis nur aus der Analyse sowohl der rhetorischen Struktur als auch der praktischen Funktion ihrer Darstellung gefiltert werden kann. Ob nun Goethes „Mißvergnügen an der Geschichte“ (Franz Schnabel)⁵⁴ einer grundsätzlichen Ablehnung der Geschichte gleichkommt, war in der GoetheForschung umstritten, seitdem Friedrich Gundolf Goethes angeblich „unüberwindliche Mißachtung der Geschichte, wenigstens der Geschichtswissenschaft“⁵⁵ zum Anlaß genommen hat, ihm ein – vom Zeitgeist seiner eigenen Zeit gezeichnetes – mythisches Geschichtsbild zu unterstellen („Geschichte war ihm Mythos“)⁵⁶ und ihn nur deshalb „unter die großen deutschen Historiker zu zählen“.⁵⁷

 Goethe, Maximen und Reflexionen, S. 408 (Nr. 313).  Franz Schnabel, Goethe und die geschichtliche Welt [1949], in: Schnabel, Abhandlungen und Vorträge 1914 – 1965, hrsg. v. Heinrich Lutz, Freiburg/Basel/Wien: Herder 1970, 217– 226, S. 217 (in Anspielung auf eine kleine Schrift von Friedrich Meinecke, Goethes Mißvergnügen an der Geschichte, in: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Philosophischhistorische Klasse 1933, 178 – 194).  Gundolf, Goethe, S. 404. Auch später hat Gundolf an der gängigen Auffassung festgehalten, Goethe sei „kein Freund der Geschichte, außer soweit sie Enthusiasmus erweckt“ (Gundolf, Anfänge deutscher Geschichtsschreibung, hrsg. v. Elisabeth Gundolf und Edgar Wind, Amsterdam: Elsevier 1938, S. 48). Gundolf hat sich dabei nur auf einen einzigen, aber nicht zitierten Ausspruch Goethes gestützt, der sich im 2. Buch von Wilhelm Meisters Wanderjahren findet: „Das Beste, was wir von der Geschichte haben, ist der Enthusiasmus, den sie erregt“; Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Erich Trunz, Bd. 8, Hamburg: Wegner 61964, S. 292.  Gundolf, Goethe, S. 404.

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Aber der Streit entzündete sich schließlich nicht an der fragwürdigen Mythologisierung von Goethes Geschichtsbild, sondern an ihrer Datierung. Nur weil Gundolf behauptet hatte, Goethes negative Einstellung zur Geschichte rühre von der italienischen Reise her, kam um 1930 auf einmal die Diskussion um den Geschichtsdenker in Gang. Nachdem 1929 Gustav Würtenberg am schärfsten mit Gundolf ins Gericht gegangen war,⁵⁸ sind ihm 1930 Walter Lehmann,⁵⁹ 1932 Ernst Cassirer⁶⁰ und 1933 Julie Gauß⁶¹ in dem Bemühen gefolgt, ein ausgewogeneres Bild von Goethes Geschichtsbild zu zeichnen. Für die sich anschließende Historismus-Debatte jener Jahre setzte Würtenberg ein umstrittenes Zeichen, als er die Widersprüche in Goethes Aussagen zur Geschichte mit dem typologischen Gegensatz zweier Historiker-Schulen des 19. Jahrhunderts zu erklären versuchte. Auf der einen Seite sah er, im Namen Leopold von Rankes, Geschichte als „unpersönlich-sachliche Berichterstattung“⁶² und auf der anderen, deutlich bevorzugten Seite, im Namen Heinrich von Treitschkes, Geschichte als „eine leidenschaftliche persönliche Anteilnahme an dem zu Berichtenden, höchstgesteigerte Gegenwarts- und Ich-Bezogenheit, Geschichte als Erlebnis, Geschichtsschreibung nicht als Bericht, sondern als Bekenntnis und Willenskundgebung“.⁶³ Aus dieser Gegenüberstellung glaubte Würtenberg die Auflösung der Widersprüche in Goethes antizipierter Überwindung des Rankeschen Historismus folgern zu können: „Es ist der „Rankesche“ Geschichtsbegriff, der den kritischen Äußerungen Goethes zur Geschichte zugrunde liegt, aber es ist cum grano salis eine „Treitschkesche“ Geschichtsauffassung, die das Ziel seiner eigentlichen Geschichtsbemühungen ist („Ranke“ wie „Treitschke“ hier natürlich nur als Typen für die beiden verschiedenen grundsätzlichen Geschichtsbegriffe verstanden).“⁶⁴ Die Unterscheidung, die nur dazu dienen sollte, Goethes Skepsis gegen den Objektivitätsanspruch einiger Historiker zu verteidigen, ohne sie gleichzeitig dem anders motivierten Subjektivismus Gundolfs auszuliefern, hatte wissenschaftsgeschichtlich bedeutsame Folgen, weil sie einen mächtigen Gegner zur Gegendarstellung herausforderte.  Ebd., S. 408.  Gustav Würtenberg, Goethe und der Historismus, Leipzig/Berlin: Teubner 1929, S. 20, Anm. u. ö..  Walter Lehmann, Goethes Geschichtsauffassung in ihren Grundlagen, Langensalza: Hermann Beyer & Söhne 1930 (= Friedrich Mann’s Pädagogisches Magazin 1272).  Ernst Cassirer, Goethe und die geschichtliche Welt, Berlin: Bruno Cassirer 1932.  Julie Gauß, Die methodische Grundlage von Goethes Geschichtsforschung, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1932/1933, 163 – 283.  Würtenberg, Goethe und der Historismus, S. 9.  Ebd., S. 10.  Ebd., S. 10.

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Friedrich Meinecke, seit 1893 der (ab 1914 in Berlin lehrende) Herausgeber der Historischen Zeitschrift, der selber in der Tradition Rankes stand und sich immer wieder genötigt sah, diesen gegen Mißverständnisse zu verteidigen, hatte für den Lösungsvorschlag so wenig Verständnis, daß er in einer Rezension der Bücher von Würtenberg und Lehmann, die 1930 in der Historischen Zeitschrift erschien, nur höhnen konnte: „Also Goethe in Front gegen Ranke und dafür an die Seite Treitschkes. Das sind trotz des Vorbehalts, sie seien cum grano salis gemeint, wunderliche und blamable Leistungen von Wesensschau.“⁶⁵ Dabei hätte sich Meinecke eigentlich darüber freuen müssen, daß Würtenberg und Lehmann die Lösung einer Aufgabe schuldig geblieben sind, die ihm selbst am Herzen lag: „Beide haben dabei eine Aufgabe beiseite gelassen, die auch noch einmal zu lösen sein wird, nämlich die Frage, was Goethe für die Entstehung des Historismus und für das moderne geschichtliche Denken und Forschen überhaupt bedeutet.“⁶⁶ Diese Kontroverse war also der Anlaß für eine der bekanntesten historiographischen Leistungen im 20. Jahrhundert; denn Meinecke hat seine „Frage“ unter dem Titel Die Entstehung des Historismus (1936) selbst beantwortet. Mit ihrer – ebenfalls typologischen – Unterscheidung in eine ‚idealisierende‘ und eine ‚individualisierende‘ Richtung des Geschichtsdenkens läuft diese entstehungsgeschichtlich konzipierte Rettung des Rankeschen Historismus auf eine glühende Würdigung Goethes hinaus. Dafür hat sich Meinecke von Goethe die beiden Kriterien seines Historismus-Begriffs, den Individualitätsgedanken und den Entwicklungsgedanken, ausgeliehen, um dann, in einem merkwürdigen Schlußverfahren, zu folgern, daß Goethe wegen dieser Ideen „der größte Wegbahner des werdenden Historismus“ gewesen sei.⁶⁷ In der einfühlenden Nachzeichnung von Goethes Weltanschauung ist die Entstehungsgeschichte des Historismus unversehens zum Glaubensbekenntnis geraten, wonach „der mit Individualität gesättigte Lebens- und Werdestrom des Ganzen“ für Meinecke wie für Goethe „die für die Natur und Geschichte gemeinsame Grundkonzeption“ ist.⁶⁸ Ob es Meinecke bei solchem Mangel an historischer und methodischer Distanz überhaupt gelingen konnte, das Ziel des Buches zu erreichen und gegen Würtenberg eine zwingende Verbindungslinie zwischen Goethes morphologischem Geschichtsbild und

 Friedrich Meinecke, Goethes Geschichtsauffassung und der Historismus, in: Meinecke, Werke, hrsg. v. Hans Herzfeld, Carl Hinrichs und Walther Hofer, Bd. 4: Zur Theorie und Philosophie der Geschichte, Stuttgart: K.F. Koehler 1959, 279 – 284, S. 281.  Ebd., S. 279.  Meinecke, Die Entstehung des Historismus, S. 577.  Ebd., S. 527.

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Rankes objektivistischem Historismus zu ziehen, ist von jüngeren Historikern längst bezweifelt worden.⁶⁹ Aber die Zweifel an Meineckes Konzeption werfen Grundsatzfragen auf, die das Verhältnis von Geschichte und Dichtung, Geschichts- und Literaturwissenschaft betreffen. In Stil und Methode ein spätes Beispiel geistesgeschichtlicher Interpretation, wie sie – oft an der sogenannten inneren Biographie Goethes und am „Geist der Goethezeit“ orientiert – in den zwanziger Jahren vorherrschte, hat Meineckes Buch entscheidend dazu beigetragen, daß Winckelmann, Lessing und Schiller, weil sie der ‚idealisierenden‘ Richtung zugeschlagen wurden, aus der Frühgeschichte des Historismus ausschieden und deshalb für die Geschichte des geschichtlichen Denkens in den Hintergrund rückten.⁷⁰ Als dann der geistesgeschichtlich-weltanschauliche Ansatz Meineckes von den Zeitläuften überholt wurde, haben die nach dem Zweiten Weltkrieg nüchterner gewordenen Historiker schließlich auch Möser, Herder und Goethe, die für Meinecke den ‚individualisierenden‘ Grund des Historismus gelegt hatten, von ihrem fachspezifischer gewordenen Forschungsinteresse ausgeschlossen, so daß der Beitrag der sogenannten Klassiker zur Geschichte des geschichtlichen Denkens weitgehend in Vergessenheit geriet. Schließlich waren diese Klassiker vorwiegend Literaten und, wie Meinecke auch für Goethe zugeben mußte, „gewissermaßen nur im Nebenamte geschichtliche Denker“,⁷¹ die die Aufgabe der Geschichtsschreibung nur als Dichter, d. h. dichterisch betrachten und betreiben konnten. Das verdächtige Zusammenwirken von Geschichte und Dichtung, dessen wirkungsgeschichtliche Aufhellung Goethe den Weg von der historischen zur poetischen Wahrheit gewiesen hat, mußte, je mehr sich die Geschichtswissenschaft zur universitären Leitdisziplin entwickelte,

 Vgl. Georg G. Iggers, The German Concept of History. The National Tradition of Historical Thought from Herder to the Present, Middletown, CT: Wesleyan University Press 1983, 195 – 228, S. 220: „Critics are puzzled why Meinecke assigned Goethe such an important role in the emergence of historicism.“  Vgl. hier die Kapitel zu Winckelmann, Lessing und Schiller, die auf frühere Überlegungen zurückgehen; vgl. Hinrich C. Seeba, Johann Joachim Winckelmann: Zur Wirkungsgeschichte eines ‚unhistorischen Historikers‘, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 56 (1982), Sonderheft: „Kultur. Geschichte und Verstehen“, 168 – 201; Seeba, Lessings Geschichtsbild. Zur ästhetischen Evidenz historischer Wahrheit, in: Humanität und Dialog: Lessing und Mendelssohn in neuer Sicht, hrsg. v. Ehrhard Bahr, Edward P. Harris und Laurence G. Lyon, Detroit: Wayne State University Press / München: edition text + kritik 1982, 289 – 303; Historiographischer Idealismus? Fragen zu Schillers Geschichtsbild, in: Friedrich Schiller. Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung, hrsg. v. Wolfgang Wittkowski, Tübingen: Niemeyer 1982, 229 – 249.  Meinecke, Die Entstehung des Historismus, S. 446.

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desto entschiedener als Gefährdung wissenschaftlicher Erkenntnis verdächtigt und ausgeklammert werden. Diese Skepsis, die schon im 18. Jahrhundert bis auf Aristoteles zurückverfolgt wurde, ist viel ursprünglicher und viel folgenreicher als die Korrektur des Geschichtsskeptikers Goethe. Das Problem reicht – unter dem Motto „The Historical Text as Literary Artifact“, das ihm Hayden White gegeben hat⁷² – von der vieldiskutierten Erzählstruktur der Geschichtsschreibung bis zur Fiktionalität der Geschichte und schließlich, in der Ausweitung der Perspektive zur Totale, bis zur ‚Textualität‘ von Wirklichkeit überhaupt,⁷³ von den Anfängen des modernen Geschichtsbewußtseins im 18. Jahrhundert über Goethe zur postmodernen Dekonstruktion. „Nur müßte man“, so lautet eine von Goethes Maximen und Reflexionen, die sich hier anwenden läßt, „nicht so griesgrämig, wie es würdige Historiker neuerer Zeit getan haben, auf Dichter und Chronikenschreiber herabsehen.“⁷⁴ Goethes Tadel galt natürlich den ersten Vertretern der historischkritischen Methode, die ihr Quellenmaterial von poetischer Verfälschung zu befreien suchten und deshalb auch der Phantasie keinen Platz mehr einräumen wollten. Gegen solche Herablassung phantasieloser Historiker war auch schon die unmittelbar vorausgehende Maxime gerichtet: „Höchst reizend ist für den Geschichtsforscher der Punkt, wo Geschichte und Sage zusammengrenzen. Es ist meistens der schönste der ganzen Überlieferung.“⁷⁵ Goethe meint hier durchaus nicht die Auflösung der Geschichte in Sage und Mythos, die Gundolf von diesem Spruch ablas, sondern das erkenntnistheoretische Problem, daß „wir uns aus dem bekannten Gewordenen das unbekannte Werden aufzubauen genötigt finden“ und, weil wir bei dieser Konstruktion auf die Phantasie angewiesen sind, die Vorgeschichte des gesichert geglaubten Faktums „lieber herausnehmen als herausfordern“.⁷⁶ Die genetische Methode, die vom Gegebenen auf die ihm vorausliegenden Gründe zu schließen versucht, um daraus Kausalgesetze abzuleiten, erscheint hier einerseits negativ mit dem Odium einer Spekulation belastet, die

 Hayden White, The Historical Text as Literary Artifact, in: The Writing of History. Literary Form and Historical Understanding, hrsg. v. Robert H. Canary und Henry Kozicki, Madison/ London: The University of Wisconsin Press 1978, 41– 62.  Vgl. Werner Schiffer, Theorien der Geschichtsschreibung und ihre erzähltheoretische Relevanz (Danto, Habermas, Baumgartner, Droysen), Stuttgart: Metzler 1980; Siegfried Quandt und Hans Süssmuth (Hrsg.), Historisches Erzählen. Formen und Funktionen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1982. Zum Geschichtsbegriff der französischen und amerikanischen Diskursanalyse vgl. Vincent B. Leitch, Deconstructive Criticism. An Advanced Introduction, New York: Columbia University Press 1983, bes. S. 55 – 163 (Part II: „Versions of Textuality and Intertextuality; Contemporary Theories of Literature and Tradition“).  Goethe, Maximen und Reflexionen, S. 394 (Nr. 209).  Ebd., S. 393 (Nr. 208).  Ebd., S. 394.

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die eigenen Zielvorstellungen als Ursachen in die Vergangenheit projiziert, und andererseits positiv in der Konzeption einer schöpferischen Phantasie aufgehoben, die im Schein wissenschaftlicher Forschung die historische Erkenntnis in dichterische Gestaltung überführt. Wer nun wie Friedrich Gundolf aus der zitierten Stelle schließen kann, daß Goethe damit „die sagenvernichtenden Untersuchungen der historischen Kritik Niebuhrs“ angegriffen habe,⁷⁷ weil er überhaupt „ein Gegner der historisch philologischen Kritik Niebuhrscher Observanz“ gewesen sei,⁷⁸ verkennt die Richtung, in die Goethes metakritische Reflexionen zum Verhältnis von Geschichte und Dichtung führen. Die von Friedrich Carl von Savigny, dem Begründer der historischen Rechtsschule, zum höchsten Lob Niebuhrs mitgeteilten Briefe, die Goethe am 17. Dezember 1811 und am 23. November 1812 an den Historiker Niebuhr geschrieben hat, belegen sogar eine erstaunliche Übereinstimmung Goethes mit einigen der neuen methodischen Prinzipien. Für das bessere Verständnis dieser Belege muß daran erinnert werden, daß Niebuhr, der seit 1810 an der gerade gegründeten Berliner Universität lehrte, zusammen mit den Juristen Friedrich Carl von Savigny (ab 1810 in Berlin) und Karl Friedrich Eichhorn (ab 1811 in Berlin), den Gründern der Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft und damit der Historischen Rechtsschule, und den Philologen August Boeckh (ab 1811 in Berlin), Franz Bopp (ab 1821 in Berlin) und Karl Lachmann (ab 1825 in Berlin) einer historischen Fraktion angehörte, die der geschichtsphilosophischen Schule um den ab 1818, als Nachfolger Fichtes, in Berlin lehrenden Hegel eine gewissermaßen realgeschichtliche Ausrichtung entgegenstellte. Niebuhr wurde der „Begründer der philologisch-kritischen Methode“ (Fueter),⁷⁹ als er sich in seiner Römischen Geschichte (1811) von Livius, mit dem er zwangsläufig konkurrieren mußte, methodisch absetzte. Er wollte, wie er in der programmatischen Vorrede ankündigte, eine ganz andre Arbeit unternehmen als eine nothwendig mißlingende Nacherzählung dessen, was der römische Historiker zum Glauben der Geschichte erhob. Wir müssen uns bemühen Gedicht und Verfälschung zu scheiden, und den Blick anstrengen um die Züge der Wahrheit, befreit von jenen Übertünchungen, zu erkennen.⁸⁰

 Gundolf, Goethe, S. 404.  Ebd., S. 403.  Eduard Fueter, Geschichte der Neueren Historiographie, München/Berlin: Oldenbourg 1911, S. 467.  Barthold G. Niebuhr, Römische Geschichte. Neue Ausgabe von M. Isler, Berlin: S. Calvary 1873 – 1874, Bd. 1, S. XXI f.

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Wenn Niebuhr „eine ganz andre Arbeit“ als Livius schreibt und in der Nachfolge von Herder und Goethe die poetische Umgestaltung der Geschichte zu bedenken gibt, so qualifiziert ihn die historische Standortgebundenheit seines Neuansatzes für die Rolle des „deutschen Livius“, die der Göttinger Historiker Johann Christoph Gatterer in seiner Abhandlung vom Standort und Gesichtspunct des Geschichtschreibers oder der teutsche Livius (1768) zur Unterstützung des historischen Perspektivismus propagiert hatte.⁸¹ Unter diesem Aspekt aufgeklärter Historiographie gewinnt Goethes Stellungnahme zu Niebuhrs Werk eine besondere Bedeutung. Goethe war gegenüber dem naiven Anspruch auf historische Wahrheit, wo die Geschichte in Wirklichkeit vielleicht nur die Nachahmung eines zum Glauben erhobenen Geschichtsbildes ihrer Interpreten ist, von der gleichen Skepsis erfüllt wie Niebuhr. Darum mußte er dessen Unterscheidung von Geschichte und Dichtung begrüßen, weil sie als methodisches Prinzip auch die Anerkennung ihres notwendigen Zusammenspiels voraussetzt: Die Sonderung von Dichtung und Geschichte ist unschätzbar, indem keine von beiden dadurch zerstört, ja vielmehr jede erst recht in ihrem Werth und Würde bestätiget wird; so wie es unendlich interessant ist, zu sehen, wie sie beide wieder zusammenschließen und auf einander wirken. Möchten doch alle ähnlichen Erscheinungen der Weltbegebenheiten auf diese Weise behandelt werden.⁸²

In diesem Sinn ist das Wechselspiel von Geschichte und Dichtung der für Goethe so reizvolle „Punkt, wo Geschichte und Sage zusammengrenzen“. Es geht ihm dabei weder um die Aufhebung der Geschichte im Mythos noch um die Ausklammerung der Phantasie aus der Geschichte, sondern, wie er grundsätzlicher im zweiten Brief an Niebuhr darlegt, wieder um die vielbesprochene Vermittlung von Vergangenheit und Gegenwart: Mein Interesse an Ihren Bemühungen ist immer dasselbe und es immer im Wachsen. Lassen Sie mich das Allgemeine statt des Besonderen aussprechen! Das Vorübergegangene kann unserem innern Aug’ und Sinn als gegenwärtig erscheinen durch gleichzeitige schriftliche

 Johann Christoph Gatterer, Abhandlung vom Standort und Gesichtspunct des Geschichtschreibers oder der teutsche Livius, in: Allgemeine historische Bibliothek, hrsg. v. Johann Christoph Gatterer, Bd. 5, Halle: Johann Justinus Gebauer 1768, 3 – 29. Vgl. dazu auch Peter Hanns Reill, History and Hermeneutics in the Aufklärung: The Thought of Johann Christoph Gatterer, in: Journal of Modern History 45 (1973), 24– 51.  Zitiert nach Friedrich Carl von Savigny, Erinnerungen an Niebuhrs Wesen und Wirken, in: Lebensnachrichten ü ber Barthold Georg Niebuhr, aus Briefen desselben und aus Erinnerungen einiger seiner nä chsten Freunde, hrsg. v. Madame Hensler, 3 Bde., Hamburg: Perthes 1838 – 1839, Bd. 3, 341– 368, S. 360.

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Monumente, Annalen, Chroniken, Documente, Memoire’s und wie das alles heißen mag. Sie überliefern ein Unmittelbares, das uns, so wie es ist, entzückt, das wir aber auch wohl wieder, um andrer willen, aus hunderterlei Trieben und Absichten vermitteln möchten. Wir thun’s, wir verarbeiten das Gegebene, und wie? Als Poeten, als Rhetoren! Das ist von jeher geschehn, und diese Behandlungsarten äußern große Wirkung; sie bemächtigen sich der Einbildungskraft, des Gefühls, sie füllen das Gemüth aus, bestärken den Character und erregen die That. Es ist eine zweite Welt, die die erste verschlungen hat.⁸³

Damit plädiert Goethe, der der Geschichtsschreibung wie der Dichtung ja schon mehrfach die Befreiung von der unmittelbar erdrückenden Vergangenheit zugewiesen hatte, wieder für die produktive, den Menschen in allen Bereichen belebende Wirkungskraft, die von der Vermittlung des Vergangenen durch seine poetische und rhetorische Behandlung ausgeht. Wieder scheint „die abgespiegelte Wahrheit einer uralten Gegenwart“,⁸⁴ ob sie nun von Homer oder Livius stammt, diese von Dichtern und Geschichtsschreibern geschaffene „zweite Gegenwart“,⁸⁵ diese „zweite Welt, die die erste verschlungen hat“, die einzige Welt zu sein, in der wir alle vom Vergangenen leben können, ohne daran zugrundezugehen. Darin hatte für Goethe die therapeutische Funktion der Vermittlung gelegen, die er auch dem rigoroser gewordenen Wissenschaftsanspruch nicht zu opfern bereit war. An diesem Punkt meldet Goethe, sehr vorsichtig, Bedenken gegen eine Methode an, die nicht wie seine eigene Geschichtsanschauung von der existentiellen Angst davor ausgeht, daß der Lebenshalt an der „wohltätig“ genannten Welt der Vermittlungen zerbrechen und das Vergangene wieder unmittelbar, „gespenstermäßig“ bedrängen könnte: Denke man sich nun die Empfindungen der Menschen, wenn diese Welt zerstört wird und jene nicht dem Anschauen vollkommen entgegentritt. Höchst erwünscht ist jedem, der zu dem Uranschauen zurückkehren möchte, die Critik, die alles Secundäre zerschlägt und das Ursprüngliche, wenn sie es nicht wieder herstellen kann, wenigstens in Bruchstücken ordnet und den Zusammenhang ahnen läßt. Aber das wollen die Lebe-Menschen nicht, und mit Recht!⁸⁶

 Ebd., S. 361.  Goethe, Dichtung und Wahrheit, 12. Buch, S. 538.  Goethe, Wiederholte Spiegelungen, S. 323.  Zitiert nach Savigny, Erinnerungen an Niebuhrs Wesen und Wirken, S. 361 f. Daß Goethe sich hier um die rechte Würdigung der Phantasie sorgt, zeigt ein späteres von Kanzler von Müller berichtetes Gespräch am 5. Januar 1831: „Die Phantasie wird durch Niebuhrs Werk zerstört, sagte Goethe, aber die klare Einsicht gewinnt ungemein“; Goethe, Gedenkausgabe, Bd. 23, S. 740.

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Die feine Grenze, die sich hier trotz aller Übereinstimmung abzeichnet, verläuft zwischen dem platonischen Glauben an die ideale Erreichbarkeit des Urbildes (das nie bloß ‚vergangen‘ ist) und dem historistischen Glauben an die reale Rekonstruktion des Vergangenen (das nie bloß ‚bildlich‘ war). Aber Goethe, der im Bereich der Naturwissenschaften, wie Niebuhr in der Geschichtswissenschaft, „zu dem Uranschauen zurückkehren“ möchte, zieht die Grenze nicht. Er gibt den „Lebe-Menschen“ in ihrer Ablehnung der Kritik nur insofern recht, als sie sich, um wirklich ‚leben‘ zu können, dem Ursprünglichen, dieser „uralten Gegenwart“, nicht ungeschützt aussetzen können und eine Zerstörung der zweiten Welt nicht überleben würden. Aber selbst für diejenigen, die sich auf Gefahr ihres Lebens anstrengen wollen, um mit Niebuhr „die Züge der Wahrheit, befreit von jenen Übertünchungen, zu erkennen“, kann die erste Welt nicht völlig zur unverstellten Anschauung kommen; denn trotz aller zeitgenössischen Dokumente, jener „Monumente, Annalen, Chroniken, Documente, Memoire’s“, denen Goethe im allgemeinen nur einen begrenzten Gran an historischer Wahrheit zubilligt,⁸⁷ kann das Vergangene in seiner Ursprünglichkeit nie vollkommen, sondern immer nur in Bruchstücken wieder hergestellt werden, deren notwendige Anordnung in einem zu ahnenden Bedeutungszusammenhang der interpretierenden Phantasie schon wieder Eintritt in die „zweite Welt“ der ästhetischen Konstruktion erlaubt. Die von Niebuhr vorgenommene methodische Sonderung der beiden funktional und strukturell so sehr verwandten Bereiche war für Goethe wirklich „unschätzbar“, weil sie den Blick für das notwendige Wechselspiel von Geschichte und Dichtung in der Vermittlung von Vergangenheit und Gegenwart schärfte, indem sie ihre unzulässige Vermengung als Verfälschung kritisierte. War Goethe skeptischer als Niebuhr in Hinblick auf die Möglichkeit, überhaupt jemals etwas anderes als die Erzählung dessen, was der Historiker zum Glauben der Geschichte erhebt, sichern – und existentiell aushalten! – zu können, so war er zugleich auch zuversichtlicher in Hinblick auf die Wirkungskraft, die von der erzählenden Vermittlung des Vergangenen auf das historische Selbstverständnis der jeweiligen Gegenwart übergeht. Der objektivistische Geschichtsbegriff, der sich an Niebuhrs kritische Methode anschloß, war vorwiegend rekonstruktiv und der wirkungsgeschichtliche Geschichtsbegriff, fern von allem mythisierenden Subjektivismus, wesentlich produktiv; denn wie gesagt: „Es gibt kein Vergange-

 Anläßlich von Dichtung und Wahrheit hat Goethe im Brief vom 5. Februar 1813 gegenüber dem Jenaer Professor der Philosophie und Geschichte, Karl Ludwig von Woltmann, betont, „der gründliche und freidenkende Historiker“ wisse um „solche problematische Produktionen“ wie Dichtung und Wahrheit – „da er weiß, wie viele Dichtung er von bedeutenden historischen Monumenten abziehn muß, um die Wahrheit übrig zu behalten“; zitiert nach Gothe, Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Erich Trunz, Bd. 14, Hamburg: Wegner 21962, S. 356.

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nes, das man sich zurücksehnen dürfte, es gibt nur ein ewig Neues, das sich aus den erweiterten Elementen des Vergangenen gestaltet, und die echte Sehnsucht muß stets produktiv sein, ein neues Besseres erschaffen.“⁸⁸ Das entspricht der von Goethe 1819 in einer Rezension erhobenen Forderung, „das Produktive mit dem Historischen zu verbinden“,⁸⁹ die von Ernst Cassirer mit Recht „der eigentliche Schlüssel für Goethes Anschauung von der Geschichte“ genannt wurde.⁹⁰ Das entsprechende Programm einer solchen ‚produktiven‘ Geschichtsschreibung steht in der Geschichte der Farbenlehre, deren wissenschaftskritische Anlage einer besonderen historiographischen Rechtfertigung bedurfte: Daß die Weltgeschichte von Zeit zu Zeit umgeschrieben werden müsse, darüber ist in unsern Tagen wohl kein Zweifel übriggeblieben. Eine solche Notwendigkeit entsteht aber nicht etwa daher, weil viel Geschehenes nachentdeckt worden, sondern weil neue Ansichten gegeben werden, weil der Genosse einer fortschreitenden Zeit auf Standpunkte geführt wird, von welchen sich das Vergangene auf eine neue Weise überschauen und beurteilen läßt. Ebenso ist es in den Wissenschaften.⁹¹

Eine Geschichte, die umgeschrieben werden kann, besteht überhaupt nur in geschriebener, von Geschichtsschreibern gedeuteter Form. Nur in ihrer ständigen Umdeutung und Neugestaltung erlaubt die Perspektivierung der historischen Erkenntnis (und die metakritische Reflexion darauf) wissenschaftlichen Fortschritt. Die vergangene „Geschichte der Erfahrungen“ entfaltet ihr immer künftiges Wirkungspotential in der nie abgeschlossenen, immer „fortschreitenden“ „Geschichte der Meinungen“, deren historische Kritik darum im Zentrum der wirkungsgeschichtlichen Geschichtskonzeption stehen muß. Weil also nicht die antiquarische Nachentdeckung des Geschehenen, sondern die produktive Neudeutung seiner Wirkung den Fortschritt der historischen Wissenschaft ausmacht, muß die Geschichte „von Zeit zu Zeit umgeschrieben“ werden. Damit hat Goethe den Fortschrittsgedanken, den er in seiner naiven, auf materialen Zuwachs gerichteten Deutung durch Wagner ablehnen mußte, in seiner ästhetischen Version (als produktive Geschichtsschreibung) wieder aufgreifen können. Das ist, an der bedenklichen Grenze zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung, ein positives

 Goethe, Gespräch mit Kanzler von Müller am 4. November 1823, in: Goethe, Gedenkausgabe, Bd. 23, S. 315.  Goethe, Das Sehen in subjektiver Sicht, in: Goethe, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hrsg. v. Ernst Beutler, Bd. 16: Naturwissenschaftliche Schriften 1, Zürich: Artemis 1949, 893 – 903, S. 894. Die ironische Rezension bezieht sich auf das Buch von Johannes Evangelista Purkinje, Zur Physiologie des Sehens (1819), in dem Goethes Farbenlehre plagiiert wurde.  Cassirer, Goethe und die geschichtliche Welt, S. 25.  Goethe, Geschichte der Farbenlehre, S. 93 f.

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Ziel, auf das Goethes metakritische Reflexionen zu Geschichte und Dichtung, auch die scheinbar skeptischen, hinauslaufen. Goethe selbst hat der hier zugrundegelegten Textanalyse die Richtung vorgeschrieben, als er vier Monate nach Beendigung von Faust I in einem Gespräch (am 19. August 1806) mit dem ab 1806 in Jena lehrenden und später von der Ranke-Schule kritisierten Historiker Heinrich Luden über Geschichte und Dichtung gesprochen und seine grundsätzlichen Ansichten über den Zusammenhang von Geschichte, Dichtung und Interpretation an Fausts Lektion vom Spiegelbild der Zeiten illustriert hat. Allerdings beginnt das Gespräch, so wie es Luden überliefert hat, mit Goethes Bedenken gegen jede Selbstdeutung der Dichter: Der Dichter soll doch nicht sein eigener Erklärer sein und seine Dichtung in alltägliche Prosa fein zerlegen; damit würde er aufhören Dichter zu sein. Der Dichter stellt seine Schöpfung in die Welt hinaus; es ist die Sache des Lesers, des Ästhetikers, des Kritikers, zu untersuchen, was er mit seiner Schöpfung gewollt hat.⁹²

Umso mehr Gewicht gewinnt deshalb die Tatsache, daß sich Goethe zur Stützung seiner provokanten These, „daß es keine Wahrheit in der Geschichte gebe“,⁹³ sondern nur „ein unwahres, ein verzerrtes, ein schiefes und falsches Bild von der früheren Welt“,⁹⁴ auf eine Interpretation des von ihm selbst zitierten FaustSpruches einläßt: „Die Zeiten der Vergangenheit / Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln.“⁹⁵ In der unterschiedlichen Deutung dieser Zeilen (und der Frage, ob „der Dichter“ damit recht oder unrecht hat) wiederholt sich zwischen Goethe und Luden das Lehrgespräch, das Faust mit seinem Famulus Wagner geführt hat. Während Luden, überzeugt von der Hebelwirkung wissenschaftlicher Methodik, davon ausgeht, daß es im entstehungsgeschichtlichen, wirkungsgeschichtlichen und quellengeschichtlichen Ansatz „einen dreifachen Hebel“ gibt,⁹⁶ die Siegel am Buch der Vergangenheit erfolgreich zu lösen und so eine fast mathematische Gewißheit historischer Erkenntnis zu gewinnen, beharrt Goethe – in der Sache interessierter als Faust, im Ton aber nicht minder schroff und belehrend – auf seinen Bedenken gegen die Zuverlässigkeit des wissenschaftlichen Instrumenta-

 Goethe, Gespräch mit Heinrich Luden am 19. August 1806, in: Goethe, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hrsg. v. Ernst Beutler, Bd. 22: Goethes Gespräche. Erster Teil, Zürich: Artemis 21964, 400 – 411, S. 400.  Ebd., S. 404.  Ebd., S. 405.  Ebd., S. 401.  Ebd.

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riums und auf seiner Behauptung, daß es anders als in der Mathematik in der Geschichte keine „unbestreitbare, objektive Wahrheit“ gibt:⁹⁷ [N]icht alles ist wirklich geschehen, was uns als Geschichte dargeboten wird, und was wirklich geschehen, das ist nicht so geschehen, wie es dargeboten wird, und was so geschehen ist, das ist nur ein Geringes von dem, was überhaupt geschehen ist.⁹⁸

Für Goethe ist historische Wahrheit so sehr nur ein fragwürdiger Anspruch selektiver und perspektivischer Darbietung, daß schließlich auch Luden, verführt von der Ironie der sokratischen Methode, mit der Goethe ihn in die Enge treibt, gezwungen ist zuzugeben, daß die Geschichtsschreibung, wenn sie auch „die unzweifelhaften Tatsachen unverkürzt und unentstellt darbiete“, diese dennoch „mit poetischem Geist“ auffaßt und „mit künstlerischer Hand“ ausarbeitet, ja „daß niemand ein Historiker sein könne im schönsten Sinne des Wortes, dem die schöpferische oder dichterische Kraft fehlt“.⁹⁹ Damit macht Luden weder „den Historiker zum Dichter“,¹⁰⁰ wie ihm Goethe provozierend unterstellt, noch steht ihm umgekehrt, nur weil er an der Unterscheidung festhält, „der Historiker über dem Dichter“.¹⁰¹ Vielmehr ist der poetische Charakter der Geschichtsschreibung für Luden, insofern als er den davon unbeschadeten, „unzweifelhaften“ Tatsachen der Geschichte eine künstlerische Form leiht, nur eine äußere Darstellungsfrage, für Goethe hingegen ein grundsätzliches Erkenntnisproblem: Es gibt für Goethe, so kann man aus seiner Dialogführung schließen, keine andere historische Wahrheit als die poetische Wahrheit, da der Geschichtsschreiber gezwungenermaßen mit dem Dichter die Perspektivität der Welterfassung teilt. Die Freiheit des einen ist die Schranke des anderen; nicht in der Art, nur in dem Grad der poetischen Synthese liegt „ein großer Unterschied zwischen dem Dichter und dem Historiker“: Der Dichter schafft seine Welt frei, nach seiner eigenen Idee, und darum kann er sie vollkommen und vollendet hinstellen; der Historiker ist gebunden; denn er muß seine Welt so aufbauen, daß die sämtlichen Bruchstücke hineinpassen, welche die Geschichte auf uns gebracht hat. Deswegen wird er niemals ein vollkommenes Werk liefern können, sondern immer wird die Mühe des Suchens, des Sammelns, des Flickens und Leimens sichtbar bleiben.¹⁰²

 Ebd., S. 405.  Ebd., S. 403.  Ebd., S. 407.  Ebd.  Ebd., S. 408.  Ebd., S. 407.

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Der Dichter hat dem Geschichtsschreiber also nur die poetische Freiheit, nicht aber die Perspektivität der Gestaltung voraus. Goethe verrät seinen Standpunkt in diesem Gespräch nur indirekt, weniger in der verdeckten Aussage als in der offensichtlichen Strategie der Dialogführung, zu der auch die kunstvolle Rahmung durch das zweigeteilte Faust-Zitat gehört. Hat er anfangs, mit der ersten Hälfte des Zitats („Die Zeiten der Vergangenheit / Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln“), Luden dazu gebracht, sich mit seinem wissenschaftsgläubigen Standpunkt so zu exponieren, daß er schließlich in die Enge gerät und in ein ungeplantes Bekenntnis zur Ästhetik der Geschichtsschreibung stolpert, so bedient sich Goethe der bis zum rhetorischen Finale aufgesparten zweiten Hälfte des Zitats erst, als er dem Bedrängten damit aus der Klemme helfen kann. Es ist nicht ohne Ironie, wie Goethe den bedrohten Konsensus dadurch wiederherstellt, daß er Luden für seinen eigenen wissenschaftsskeptischen Standpunkt gewinnt. Während sich Goethe anfangs an der Sprache aus der Mechanik störte, mit der Luden die unfehlbare Hebelwirkung der Wissenschaft bei der Sprengung der Buchsiegel bekräftigt hatte („Der Stützpunkt für jeden dieser Hebel ist die menschliche Natur, das Gewicht der eigene Geist des Forschers“),¹⁰³ greift er gegen Ende des Gesprächs, als sich die Grenzbestimmung von Geschichte und Dichtung als Frage unterschiedlicher und – im Fall Ludens – wechselnder Standpunkte erwiesen hat, auf die von Luden zugegebene individuelle ‚Gewichtung‘ historischer Erkenntnis zurück, um Luden mit Hilfe des dafür aufgesparten Faust-Zitats, allein durch die sprachliche Parallelisierung ihrer Standpunkte („der eigene Geist des Forschers“ – „der Herren eigner Geist“), endlich ganz auf seine Seite zu ziehen: Goethe. Wenn ich nun aus Ihren Bemerkungen über geschichtliche Forschung und Geschichtschreibung das Resultat ziehe, so scheint doch, mit Schillers Worten, der langen Rede kurzer Sinn zu sein, daß Faust recht habe: Was man den Geist der Zeiten heißt, Das ist im Grund der Herren eigner Geist, In dem die Zeiten sich bespiegeln. Luden. Mit diesem klassischen Spruche bin ich vollkommen einverstanden. Wenn uns aber die Herren Geist geben und wäre es auch der eigene, und wenn sie uns in diesem Geiste das Spiegelbild der Zeiten zeigen, so können wir, denke ich einigermaßen zufrieden sein.¹⁰⁴

In diesem Modellfall ‚persuasiver Kommunikation‘ (wie die in der Rhetorik kodifizierte Überredungskunst neuerdings heißt) hat Goethe den Wettstreit der  Ebd., S. 402.  Ebd., S. 408.

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Meinungen, seiner Einsicht in die Struktur der Meinungsbildung entsprechend, auf der literarischen Ebene gewonnen; denn der wissenschaftsgläubige Historiker hat sich nicht so sehr durch Goethes Argumente wie durch die geschickt platzierte Autorität des Faust-Zitats überreden lassen, dem metakritischen Standpunkt des Dichters zum hermeneutischen Zusammenhang von Geschichte, Dichtung und Interpretation „recht“ zu geben. In der souveränen Bekehrung des Kontrahenten hat sich Goethe auf eine indirekte, nur in der rhetorischen Funktionalisierung des Dichterworts faßbare Selbstdeutung eingelassen, die auch antiquarischen Forschern die Augen für die aktuelle Bedeutung des mit dem „Spiegelbild der Zeiten“ ausgemalten Standpunkts öffnen muß. Ludens Bekenntnis zum „klassischen Spruch“ der historischen Perspektivierung mag eine Signalwirkung für alle unbedenklich fortschrittsgläubigen Forscher haben, die in jedem aktualisierten Theorem nur die letzte Novität auf dem Markt theoretischer Konzepte begrüßen, als könnte es keine schon „klassisch“ gewordene, möglicherweise sogar mit einem Faust-Zitat kanonisierte Geschichte haben. Im Gespräch mit Heinrich Luden hat Goethe den Beweis dafür geliefert, daß die poetische Wahrheit seines Faust-Zitats das Vorbild für eine historiographische Wahrheit sein kann, gegen die sich die Historische Schule mit dem Objektivitätsgebot abzuschirmen versuchte.

6 Novalis – Geschichte als Roman des Lebens Die deutsche Romantik erfreute sich vor 30 Jahren einer beispiellosen Beliebtheit in der neueren Theoriebildung. Vertreter der Postmoderne, vor allem Poststrukturalisten und Dekonstruktivisten, haben ihre Theorie der Repräsentation immer wieder auf die Romantik bezogen und mit ihr begründet. Sie sind damit dem Rat des romantischen Philosophen Friedrich Wilhelm Schelling gefolgt, der in seinem System des transzendentalen Idealismus (1800) solche von der Gegenwart ausgehende Aktualisierung der Vergangenheit nahegelegt hat: Die Historie, welche ohnehin kein anderes Objekt hat, als Erklärung des gegenwärtigen Zustands der Welt, könnte also ebensogut von dem jetzigen Zustand ausgehen, und auf die vergangene Geschichte schließen, und es wäre kein uninteressanter Versuch, zu sehen, wie aus jenem die ganze Vergangenheit mit strenger Notwendigkeit abgeleitet werden könnte.¹

Allerdings hat die Erfahrung der Ungeborgenheit, der Zerrissenheit, Brüchigkeit und Diskontinuität wie die Aufdeckung von Unstimmigkeiten und Widersprüchen in der Geschichte solche lineare Herleitung aus der Vergangenheit als willkürliche Konstruktion in Frage gestellt und damit der Geschichte den eindeutigen Begründungszusammenhang entzogen. Die Geschichte kann dem Anspruch auf „Erklärung des gegenwärtigen Zeitalters“ heute nicht mehr so selbstverständlich gerecht werden wie noch zu Zeiten des Historismus, als der positive Glaube an die historische Bedingtheit alles Lebens noch nicht durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts erschüttert wurde. Weil es immer miteinander konkurrierende ‚Narrative‘ gibt, interessenbedingte Geschichten, in denen Geschichte so oder so erzählt und immer wieder anders verstanden wird, galt es nun, den dominanten Diskurs aufzubrechen, ungehörten Stimmen Gehör zu verschaffen und das vielbeschworene Prinzip der Alterität auch zu praktizieren. Das geschah dadurch, daß das Anderssein des Anderen auch das Eigene grundsätzlich in Frage gestellt und somit vertraute Denkbahnen in Zweifel gezogen hat. Die Erfahrung der Selbstentfremdung wurde aufgefangen in der Ironie der Selbstverfremdung, zu der auch der Kult des Fragmentarischen gehört.² Die sowohl existentielle als auch methodologische Verunsicherung hat sich in der Theorie des Unvollständigen

 Friedrich Wilhelm Schelling, System des transzendentalen Idealismus [1800]. Mit einer Einleitung von Walter Schulz, Hamburg: Meiner 1957, S. 259.  Vgl. den programmatischen Titel von Julia Kristeva, Étrangers à nous-mêmes (Paris: Librairie Artheme Fayard 1988), engl. Strangers to Ourselves (übers. v. Leon S. Roudiez, New York: Columbia University Press 1991) und dt. Fremde sind wir uns selbst (übers. v. Xenia Rajewsky, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990). https://doi.org/10.1515/9783110679878-008

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objektiviert und sich dafür die romantische Vorliebe für Ironie und Fragment zum Vorbild genommen. Unter den ersten, die in der Romantik Stichwortgeber für eine Theorie fragmentarischer Darstellung fanden, waren die Autoren Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy. Mit ihrem Buch L’Absolu litte´raire. The´orie de la litte´rature du romantisme allemand (1978), das in seiner englischen Fassung unter dem Titel The Literary Absolute: The Theory of Literature in German Romanticism (1988) den französisch- amerikanischen Dialog über die Modernität romantischer Theorie in Gang gesetzt hat, haben die beiden Autoren im Namen des romantischen Fragments das Ideal vollständiger Einheit und abgeschlossener Ganzheit verabschiedet.³ Weil eine selbstreflexiv fragmentarische Darstellung keinen Anspruch auf Endgültigkeit erhebt, hat die damit verbundene Infragestellung prätendierter Autorität (als Deutungshoheit) auch politische Implikationen, die weit über die Romantik hinauszielen und eigentlich erst deren konservative Rezeption treffen, z. B. in der politischen Romantik von Carl Schmitt.⁴ Dabei muß daran erinnert werden, daß in der Romantik der Begriff des Fragments mit dem des Zusammenhangs korrespondiert. Das Fragment ist ja ein nicht eingelöstes Versprechen auf ein Ganzes, das in unerreichbare Ferne gerückt ist. Umso wichtiger ist die romantische Idee eines Zusammenhangs, in dem auch Fragmente als Teile eines nur erdachten Ganzen in ein bedeutungsvolles Verhältnis zueinander treten. So stellen die Fragment-Sammlungen von Friedrich Schlegel und Novalis den Zusammenhang einer ganzen Theorie dar, deren Bedeutung die Leser aus der scheinbar lockeren Anordnung der Bezüge selbst kombinieren sollen. „Durch das Zusammennehmen alles Gleichartigen, wird das Einzelne verständlicher; […] Wir dürfen selbst verlornen Theilen des Ganzen“, meint Friedrich Schlegel, „ihren historischen Zusammenhang in diesem bestim-

 Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy, The Literary Absolute: The Theory of Literature in German Romanticism, übers. v. Philip Barnard und Cheryl Lester, Albany: State University of New York Press 1988, S. 42: „The fragment designates a presentation that does not pretend to be exhaustive and that corresponds to the no doubt properly modern idea that the incomplete can, and even must, be published (or to the idea that what is published is never complete).“ Die deutsche Fassung erschien erst im Jahr 2016 unter dem Titel Das Literarisch-Absolute. Texte und Theorie der Jenaer Frühromantik. Aus dem Französischen von Johannes Kleinbeck, Wien: Turia und Kant 2016.  Vgl. Carl Schmitt, Politische Romantik [1919], Berlin: Duncker & Humblot 51991 [unveränderter Nachdruck der Ausgabe München 21925], S. 13 (im auf September 1924 datierten Vorwort zur 2. Auflage): „Politische Romantik verbindet sich in Deutschland mit der Restauration, mit Feudalität und ständischen Idealen gegen die Revolution. […] Politische Romantik erscheint als ‚Flucht in die Vergangenheit‘, Verherrlichung alter, weit zurückliegender Zustände und Rückkehr zur Tradition.“

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men; und gelangen endlich (welches nur auf diesem Wege möglich ist) zur Erkenntniß des Ganzen.“⁵ Auf die Geschichte angewandt, berührt die Frage, ob der Zusammenhang des historischen Ablaufs von vornherein gegeben ist oder ob er durch Zusammenstellung der für passend gehaltenen Teile erst hergestellt werden muß, die auch von Schelling problematisierte Ästhetik der Geschichtsschreibung, in der „der dritte und absolute Standpunkt der Historie […] der der historischen Kunst“ ist.⁶ Für diese Kunst der Geschichtsschreibung hat Azade Seyhan, im Anschluß an Lacoue-Labarthe und Nancy, die Bedeutung der theory of representation am besten auf den Punkt der rhetorischen Konstruktion von Geschichte gebracht: „Ultimately, in early Romanticism, the philosophical problem of representation reappears as the textual project of writing about time and history. The enduring product of this project is the recognition of poetic historiography as a legitimate disciplinary discourse. If historiography is seen as a form of poetic representation, then it can participate in the rhetorical strategies reserved for literature.“⁷ Die Problematisierung der Textstruktur historiographischer Darstellung ist also das herausragende Ergebnis der romantischen Philosophie der Repräsentation. Der poststrukturalistischen Aktualisierung der Romantik für den eigenen Theorieanspruch vorausgegangen ist, über die Aktivierung der kritischen Leser, noch ein anderes Theoriemodell, die in den 1960er Jahren aufkommende Rezeptionstheorie, für die ebenfalls eine Affinität zu theoretischen Vorgaben der Romantik beobachtet werden konnte.⁸ Unter dem Einfluß Herders, der 1778 selbst

 Friedrich Schlegel, Von den Schulen der Griechischen Poesie, in: Berlinische Monatsschrift, Bd. 24, November 1794, 378 – 400, S. 380.  Friedrich Wilhelm Schelling, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums. Zehnte Vorlesung: Ueber das Studium der Historie und der Jurisprudenz, in: Schelling, Werke, hrsg. v. Manfred Schröter, Bd. 3: Schriften zur Identitätsphilosophie München: C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung 1927, 328 – 338, S. 332.  Azade Seyhan, Representation and Its Discontents: The Critical Legacy of German Romanticism, Berkeley: University of California Press 1992, S. 13. Vgl. auch Martha B. Helfer, The Retreat of Representation: The Concept of Darstellung in German Critical Discourse, Albany: State University of New York Press 1996.  Maßgeblich für die rezeptionstheoretische Schule war lange Zeit der Aufsatz von Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft [1967], in: Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, 144– 207. Zur romantischen Begründung der kritischen Wirkungsgeschichte vgl. Hinrich C. Seeba, Wirkungsgeschichte der Wirkungsgeschichte. Zu den romantischen Quellen (F. Schlegel) einer neuen Disziplin, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 3 (1971), 145 – 167.

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eine Wirkungsgeschichte der Literatur geschrieben hat,⁹ war die Geschichtlichkeit eines literarischen Werks – nicht nur des Entstehungs-, sondern auch des historischen Wirkungszusammenhangs – zunehmend in den Blickkreis der romantischen Kritik geraten, in den Worten des Germanisten Walter Müller-Seidel, der sich besonders mit Problemen der Wertung und der Geltung literarischer Werke befaßt hat: „Was Dichtung ist, erfahren wir letztlich nur aus ihrer Geschichte.“¹⁰ Obwohl das gängige Bild romantischer Inspirationsästhetik den Beitrag der Romantik zur Geschichte der Wirkungsästhetik lange ausgeblendet hatte, lag es nun auf der Hand, Schlegels berühmtes Diktum, Kritisieren heiße „einen Autor besser verstehn als er sich selbst verstanden hat“,¹¹ so zu verstehen, daß die Bedeutung eines literarischen Werkes nicht abgeschlossen vorliegt, sondern erst aus der Geschichte seiner Kritik, also aus seiner Wirkung, immer neu hervorgeht: „Die Frage, was der Verfasser will, läßt sich beendigen, die was das Werk sei, nicht.“¹² Nur indem er der endlichen Absicht des Autors die unendliche Wirkung seines Werkes entgegenstellte, konnte Schlegel sein Programm der „progressiven Universalpoesie“ entwickeln, die „ewig nur werden, nie vollendet sein kann“.¹³ Erst unter dem Wirkungsaspekt ergibt sich der unendliche Prozess einer zukunftsoffenen, produktiven, mitschaffenden Kritik, in der sich die nie abgeschlossene Bedeutung eines literarischen Werkes immer neu konkretisiert. Deshalb konnte Schlegel für den Aufklärer Lessing, dem er für die Begriffsklärung der Kritik viel mehr zu danken hatte, als das gängige Kontrastmodell Aufklärung – Romantik vermuten läßt, eine kritische Wirkungsgeschichte seiner Geltung fordern: Es ist nicht uninteressant, der allmählichen Entstehung und Ausbildung der herrschenden Meinung über Lessing nachzuforschen und sie bis in ihre kleinsten Nebenzweige zu verfolgen. Die Darstellung derselben in ihrem ganzen Umfange, mit andern Worten, die Ge-

 Johann Gottfried Herder, Über die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten. Eine Preisschrift, in: Herder, Sämtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd. 8 [reprogr. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1892], Hildesheim: Olms 1967, 334– 436.  Walter Müller-Seidel, Probleme der literarischen Wertung. Über die Wissenschaftlichkeit eines unwissenschaftlichen Themas, Stuttgart: Metzler 21969, S. 40.  Friedrich Schlegel, Literarische Notizen 1797 – 1801. Literary Notebooks, hrsg. v. Hans Eichner, Frankfurt am Main/Berlin/Wien: Ullstein 1980, S. 111 (Nr. 983). Vgl. Otto Friedrich Bollnow, Was heißt, einen Schriftsteller besser verstehen, als er sich selbst verstanden hat?, in: Bollnow, Das Verstehen. Drei Aufsätze zur Theorie der Geisteswissenschaften, Mainz: Kirchheim 1949, 7– 33.  Friedrich Schlegel, Philosophische Fragmente IV 1515, zitiert nach Hans Dierkes, Literaturgeschichte als Kritik. Untersuchungen zu Theorie und Praxis von Friedrich Schlegels frühromantischer Literaturgeschichtsschreibung, Tübingen: Niemeyer 1980, S. 147.  Friedrich Schlegel, Athenäums-Fragmente, in: Schlegel, Kritische Schriften, hrsg. v. Wolfdietrich Rasch, München: Hanser 21964, 25 – 88, S. 38 f. (Nr. 116).

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schichte der Wirkungen, welche Lessings Schriften auf die deutsche Literatur gehabt haben, wäre hinreichender Stoff für eine eigene Abhandlung.¹⁴

Schon für den frühen Schlegel hatte „die Geschichte der Wirkungen“ einen wesentlichen Anteil an der Bedeutung eines Werks, das zum Leser hin offen ist und ihn zur kritischen Mitwirkung aufruft. In der rezeptionstheoretischen Praxis sind die Romantiker in Hinblick auf das Mittelalter, dem ihre besondere Vorliebe galt, „das heilige Verhältnis der innigsten Symphilosophie oder Sympoesie“ eingegangen,¹⁵ in dem Friedrich Schlegel die Schriftsteller mit ihren mitproduzierenden Lesern vereint sieht. Das wahre Bild des Mittelalters entfaltet sich erst in der schöpferischen Phantasie seiner romantischen Rezipienten. Entsprechend der theoretischen Vorgabe, daß die Vergegenwärtigung des Vergangenen einen historischen Zusammenhang herstellt durch die Herleitung der Vergangenheit aus der Gegenwart (Schelling) und durch das „Zusammennehmen des Gleichartigen“ (Schlegel), haben die Romantiker das Mittelalter als ‚gleichartige‘ Quelle ihrer poetischen Phantasie rezipiert und damit die Wirkungsgeschichte des Mittelalters entscheidend geprägt. Während für Friedrich Schlegel „die altdeutsche Poesie“ der „Urquell des Romantischen“ war,¹⁶ hat Novalis zur Hauptgestalt seines Romans Heinrich von Ofterdingen (1802), der romantischsten aller romantischen Dichtungen, diesen ‚altdeutschen‘ Minnesänger gewählt, der im Sängerkrieg des 13. Jahrhunderts erwähnt und im 18. Jahrhundert durch Johann Jakob Bodmer zu neuem Leben erweckt wurde. Wenn Schlegel den Roman, als Gattung verstanden, die „Form des Historischen“ nennt,¹⁷ dann ist der ‚altdeutsch‘ anmutende Roman von Novalis im ursprünglichen Wortsinn die ‚romantische‘ Form des Historischen, so wie umgekehrt, laut Schlegel, das Historische als Kunst, also die Kunst der Historiographie, der Poesie nahekommt.¹⁸ Deshalb sieht Schlegel die Historie, worunter er das Studium der Geschichte versteht, „in der Mitte“ zwischen Wissenschaft und Kunst angesiedelt: „insofern sie auf Erkenntnis ausgeht, nähert sie sich der  Friedrich Schlegel, Über Lessing [1797], in: Schlegel, Kritische Schriften, hrsg. v. Wolfdietrich Rasch, München: Hanser 21964, 346 – 383, S. 349. Vgl. Hinrich C. Seeba, Modern Criticism in Historical Context: 200 Years of Lessing Reception, in: A Companion to the Works of Gotthold Ephraim Lessing, hrsg. v. Barbara Fischer und Thomas C. Fox, Rochester, NY: Camden House 2005, 327– 349.  Friedrich Schlegel, Kritische Fragmente, in: Schlegel, Kritische Schriften, hrsg. v. Wolfdietrich Rasch, München: Hanser 21964, S. 22 (Lyceums-Fragment 112).  Schlegel, Literarische Notizen 1797 – 1801, S. 170 (Nr. 1651).  Ebd., S. 120 (Nr. 1083).  Vgl. ebd., S. 191 (Nr. 1901): „Die Historie besonders als Kunst steht in viel näherm Verhältniß mit P[oesie] – Rh[etorik] dagegen mit Philos[ophie].“

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Wissenschaft. Durch die Darstellung nähert sie sich der Kunst.“¹⁹ Es ist also die kunstmäßige „Darstellung“ des Geschehenen, wie 20 Jahre später Wilhelm von Humboldt sagen wird, die die Aufgabe des Geschichtsschreibers in einen poetischen Akt verwandelt: „Die Aufgabe des Geschichtschreibers ist die Darstellung des Geschehenen.“²⁰ Aber wenn Humboldt meint, daß der Geschichtsschreiber „das zerstreut Gesammelte in sich zu einem Ganzen verarbeiten“ müsse, „indem er das Unvollständige und Zerstückelte der unmittelbaren Beobachtung ergänzt und verknüpft“, sich für seine Darstellung also der Phantasie des Dichters bedient,²¹ dann ist er eher dem Ganzheitsideal der klassischen Ästhetik als der fragmentarischen Ästhetik der Romantik verpflichtet.²² Anders als die Romantiker, die das Ganze nur in einer unendlichen Progression von sich spiegelnden Ausschnitten antizipieren wollen, glaubt Humboldt noch den Ausschnitt als Ganzes in einem endlichen Akt herstellen zu können. Auch wenn Humboldts historiographischer Idealismus eher dem Schillers als der vor allem in den Lyceums- und Athenäums-Fragmenten entwickelten Philosophie Friedrich Schlegels entspricht, ist seine Definition kaum denkbar ohne die Problematisierung der Darstellung in der Romantik. Die Erfahrung der Französischen Revolution, die für Friedrich Schlegel neben Fichtes Wissenschaftslehre und Goethes Wilhelm Meister die wichtigste Tendenz der Zeit war,²³ hat für den Glauben an Kontinuität und Vollkommenheit so gründlich erschüttert, daß die Romantiker den geschichtsphilosophischen Idealismus durch transzendentalpoetische Spekulation ersetzt haben, die auf eine selbstreflexive Verwandlung der Wirklichkeit und nicht auf die mimetische Abbildung eines historischen Vorgangs zielt. Offensichtlich geht es auch in Novalis’ Roman um das Verhältnis von Wirklichkeit und Poesie, richtiger um die Traumund Phantasiewelt des Als-ob, in der sich das leicht affizierte Gemüt zu orientieren versucht: „es ist, als hätt’ ich vorhin geträumt“ (195, Reclam 9),²⁴ „Mir ist

 zitiert nach Dierkes, Literaturgeschichte als Kritik, S. 222.  Wilhelm von Humboldt, Über die Aufgabe des Geschichtschreibers [1821], in: Humboldt, Werke in fünf Bänden, hrsg. v. Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd. 1, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 31980, 585 – 606, S. 585.  Ebd., S. 586.  Vgl. Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy, The Literary Absolute, 48 – 58 (Kap. „The Fragment: The Fragmentary Exigency“).  Vgl. Schlegel, Athenäums-Fragmente, S. 48 (Nr. 216): „Die Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre, und Goethes Wilhelm Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters.“  Novalis, Heinrich von Ofterdingen, in: Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hrsg. v. Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Bd. 1: Das dichterische Werk, Stuttgart: Kohlhammer 1960, 181– 334. Im folgenden wird, jeweils mit Seitenangabe, zitiert sowohl nach

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grade so, als wollten…“ (195, Reclam 10), „Es kam ihm vor, als ginge er…“ (196, Reclam 10), „es war, als durchdränge ihn ein geistiger Hauch“ (196, Reclam 11), „Es dünkte ihn, als umflösse ihn eine Wolke….“ (196, Reclam 11), „mich dünkt, als sei es mehr als bloßer Traum gewesen“ (198, Reclam 12), „Es war mir, als sei ich in einer neuen Welt“ (200, Reclam 15), „es gedäuchte mir, als sei das vor geraumer Zeit geschehn“ (201, Reclam 16). Der Irrealis, der hier mehrfach in der grammatischen Form der indirekten Rede („als sei“ statt „als wäre“) erscheint, als wäre es die zitierte Behauptung eines anderen und nicht eine gedachte Alternative zur Wirklichkeit, verweist damit auf die als Poesie möglich erscheinende Verwandlung der Wirklichkeit: „Die ganze Repraesentation beruht auf einem Gegenwärtig machen – des Nicht Gegenwärtigen und so fort – (Wunderkraft der Fiction)“.²⁵ Weil die „Wunderkraft der Fiktion“ das Mittel des Poeten ist, das Nichtgegenwärtige zu vergegenwärtigen, es in der ursprünglichen Wortbedeutung zu „repräsentieren“, ist der Roman die beste Gattung für die Fiktionalisierung – und märchenhafte Verklärung – der als allgegenwärtig imaginierten Vergangenheit. Es geht um die Beschreibung des Unbeschreiblichen, von „unabsehlichen Fernen“, „unbekannten Gegenden“ und „unbegreiflicher Leichtigkeit“ (196, Reclam 10), um die Darstellung des Unbekannten und Unbegreiflichen, um die Sichtbarmachung des Unsichtbaren – mit dem einen, universalen Ziel: „die Poetisierung der Welt – Herstellung der Märchenwelt“ (347, Reclam 192). Die ungeheure Aufgabe des romantischen Dichters besteht also darin, die „Darstellung“ der vorgegebenen Erfahrungswelt für die „Herstellung“ der imaginierten Märchenwelt“ zu nutzen, Erfahrung also in Phantasie zu verwandeln.²⁶ Diese Aufgabe, mit den Mitteln der Sprache die Poetisierung der Welt zu erreichen, ist in Heinrich von Ofterdingen das Ziel einer mit Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahren konkurrierenden Bildungsreise, die horizontal von Eisenach nach Augsburg und vertikal in die Tiefen der Geschichte führt, wobei der Abstieg in die Höhle der Bibliothek des Einsiedlers eine besonders wichtige Station bildet. Während Schlegel das Muster aller Bildungsromane, Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795), zum poetischen Maßstab der ganzen Epoche erhoben hat, weil

dieser Ausgabe als auch nach der Reclam-Ausgabe (Novalis, Heinrich von Ofterdingen. Textrevision und Nachwort von Wolfgang Frühwald, Stuttgart: Reclam 1974).  Novalis, Das Allgemeine Brouillon [1798/1799], in: Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hrsg. v. Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Bd. 3: Das philosophische Werk II, Stuttgart: Kohlhammer 21968, 205 – 478, S. 421 (Nr. 782).  Vgl. Walter Schmitz, „Die Welt muß romantisiert werden…“: Zur Inszenierung einer Epochenschwelle durch die Gruppe der ‚Romantiker‘ in Deutschland, in: Germanistik und Komparatistik. DFG Symposion 1993, hrsg. v. Hendrik Birus, Stuttgart/Weimar: Metzler 1995, 290 – 308.

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man daran lernen könne, „was es jetzt an der Zeit ist in der Poesie“,²⁷ hatte Novalis für das so empfohlene Musterbuch nur Verachtung: „Gegen Wilhelm Meisters Lehrjahre. Es ist im Grunde ein albernes und fatales Buch – so prätentiös und pretiös – undichterisch im höchsten Grade, was den Geist betrifft – so poëtisch auch die Darstellung ist. […] Das Ganze ist ein nobilitirter Roman. Wilhelm Meisters Lehrjahre, oder die Wallfahrt nach dem Adelsdiplom.“²⁸ Zu solcher Ökonomisierung der Weltordnung muß Heinrich von Ofterdingen als Novalis’ Gegenentwurf poetischer Phantasie gelesen werden, dessen Bildungsziel nicht die Eingrenzung in die bürgerliche Wirklichkeit, sondern umgekehrt gerade deren Entgrenzung in der Traumwelt ist. Wirklichkeit und Fiktion sind in der Romantik so eng aufeinander bezogen und so dicht miteinander verwoben, daß das eine das andere repräsentiert. Die Romantik konzentriert sich gleichermaßen auf das Romanhafte der Wirklichkeit wie auf die Wirklichkeit des Romans: „Nichts ist romantischer, als was man gewöhnlich Welt und Schicksal nennt“, so meint Novalis. „Wir leben in einem colossalen (im Großen und Kleinen) Roman. Betrachtung der Begebenheiten um uns her. Romantische Orientirung, Beurtheilung, und Behandlung des Menschenlebens.“²⁹ Der Irrealis der Analogie, als lebten wir in einem Roman, wird zur Wirklichkeit, weil wir uns tatsächlich an ‚romantischen‘, d. h. im ursprünglichen Wortsinn romanhaften Kategorien orientieren, wenn wir die Begebenheiten, die unser Leben ausmachen, betrachten, beurteilen und behandeln. Die „Begebenheiten um uns“, zu denen wir uns verstehend verhalten, können als Vorkommnisse, Ereignisse und Geschehen leicht zur Geschichte verlängert werden, deren ästhetische Struktur wie ein Roman gelesen und interpretiert wird. Die stillschweigende Verwandlung des Irrealis in den Realis ist ein heuristischer Trick, der den hermeneutischen Kern der Romantik ausmacht; der verkürzte Vergleich läßt das Leben nicht mehr wie einen Roman, sondern als Roman erscheinen und in diesem literarischen Schein verständlich werden. Solche Metaphorisierung charakterisiert, wie wir sehen werden, auch das historische Denken der Romantiker. Die Herleitung des Romantik-Begriffs von der literarischen Erzählform des Romans ist offensichtlich, damit aber auch das literarische Selbstverständnis einer Epoche, die die ganze Wirklichkeit als Roman erlebte. Den aus dem Fran-

 Schlegel, Kritische Fragmente, S. 23 (Lyceums-Fragment 120 [1797]): „Wer Goethes Meister gehörig charakterisierte, der hätte damit wohl eigentlich gesagt, was es jetzt an der Zeit ist in der Poesie. Er dürfte sich, was poetische Kritik betrifft, immer zur Ruhe setzen.“  Novalis, Fragmente und Studien [1799 – 1800], in: Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hrsg. v. Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Bd. 3: Das philosophische Werk II, Stuttgart: Kohlhammer 21968, 525 – 693, S. 646 (Nr. 536, datiert 11. Februar 1800).  Novalis, Das Allgemeine Brouillon, S. 434 (Nr. 853).

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zösischen kommenden Gattungsbegriff Roman gibt es in vielen europäischen Sprachen, in den meisten germanischen Sprachen (Deutsch, Niederländisch, Dänisch, Schwedisch, Norwegisch) wie in den meisten slawischen Sprachen (Russisch, Ukrainisch, Tschechisch, Kroatisch, Bulgarisch), aber auch im Rumänischen, Albanischen, Mazedonischen und sogar im Türkischen. Ausnahmen bilden nur das verwandte romance im Portugiesischen und romanzo im Italienischen sowie novel im Englischen und novela im Spanischen. Die interessanteste Ausnahme aber ist das griechische Wort für Roman, μυθιστορημα (mythistórema), weil es die beiden sonst konträr gedachten Elemente, Mythenbildung und Geschichtsforschung, verbindet, als müßte man die Historie grundsätzlich als Erzählung (griech. μυθος, mythos = Erzählung) wie umgekehrt auch die Erzählung historiographisch verstehen. Wie früher erwähnt, hat der griechische Historiker Thukydides im Methodenkapitel seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges (vor 400 v. Chr.) den Geschichtsbegriff von dem Verb ιστορειν (historein = erforschen) abgeleitet und damit die kritisch forschende Behandlung der Geschichte gerade dem vergnüglichen Erzählen von μυθοι (mythoi = Geschichten), wie es seinem Vorgänger Herodot angelastet wird, entgegengesetzt. Der Geschichtsbegriff bezeichnet in seinem griechischen Ursprung die systematische Behandlung der Geschichte und weder das Geschehen selbst noch dessen erzählende Wiedergabe in Geschichten. Diese Begriffsklärung ist, wie wir schon mehrfach gesehen haben, im deutschen Geschichtsverständnis umso wichtiger, als der Begriff der Geschichte (engl. history) als Kollektivsingular die Abstraktion von Geschichten (engl. story) ist. Weil im Homonym ‚Geschichte‘ zwei ganz verschiedene Bedeutungen nur namentlich vereint sind, einerseits das reale Geschehen und andererseits die fiktionale Erzählung, kommt es immer wieder zu Verwechslungen und Überschneidungen, die methodologisch geklärt werden müssen, gerade wo das Spiel mit dem Homonym zur Methode der Ästhetisierung historischen Denkens wird. Die grundsätzliche Trennung zwischen Geschichte und Geschichten gilt schon für den sprachgeschichtlichen Ursprung des Romantik-Begriffs. Gotthard Heidegger, in dessen Mythoscopia Romantica (1698) das Wort im Deutschen zum erstenmal belegt ist, hat noch ganz kategorisch behauptet, „daß wer Romans list / der list Lügen“.³⁰ Es sei ein schlechtes, gar verderbliches Lesevergnügen, wenn man „bey jeder Romantischen Erzehlung zugedencken [hat]: Ey da! was lese ich hier? worüber verwundere / lache / traure / seufftze ich? über eines andren Traum

 Gotthard Heidegger, Mythoscopia Romantica oder Discours von den so benanten Romans [Faksimileausgabe nach dem Originaldruck Zürich 1698], hrsg. v. Walter Ernst Schäfer, Bad Homburg v.d.H.: Gehlen 1969, S. 71.

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und Phantasien! über Sachen / die niemahl in der Welt geschehen / und mich zum Thoren zu machen erdacht seyn!“³¹ Geschichte und Roman sind nach dieser Auffassung so getrennt, daß nur, was „niemahl in der Welt geschehen“, Gegenstand der literarischen Phantasie sein kann. Geschichte taugt also nicht für Poesie. Erst vor dem Hintergrund dieses Lügen-Vorwurfs wird die umgekehrte Insistenz der Romantiker auf die Wahrheit der Phantasie verständlich, weil die Durchsetzung dieser „Wahrheit“ laut Novalis nur über die Poetisierung der Welt erfolgt: „Die Welt muß romantisirt werden. So findet man den urspr[ünglichen] Sinn wieder.“³² Es geht also um nichts weniger als die Sinngebung der Geschichte durch Poesie, durch Verwandlung der historischen Welt in das Sinnbild eines ‚Romans‘. Dieser quasi-religiöse Auftrag ist nur in einer weitgehend säkularisierten Epoche zu verstehen, in der der ursprüngliche Sinn verloren gegangen ist und der Poet, nun an Stelle Gottes, als alter deus für sich dieselbe göttliche Schöpferkraft beansprucht, um der Welt den Sinn zurückzugeben, den sie einmal gehabt hat. Voraussetzung dieser Konstruktion ist das Bewußtsein eines historischen Wandels, der Veränderung der Welt in der Vergangenheit und ihrer wünschenswerten Veränderung in der Zukunft. Romantische Sehnsucht ist eine auf die Zukunft projizierte Fixierung auf das imaginierte Glück der Vergangenheit: Was war, soll wieder werden. Deshalb war die Romantik wie kaum eine andere Epoche fasziniert von der mittelalterlichen Drei-Zeiten-Lehre, wie sie vor allem der Geschichtstheologe Joachim von Fiore (1130/1135 – 1202) entwickelt hat.³³ In vielen Variationen setzte das triadische Denkschema (im ersten Schritt) einen Paradies oder goldenes Zeitalter genannten Zustand der Glückseligkeit voraus, bevor (im zweiten Schritt) eine lange Zeit schuldhafter Entbehrung einsetzte, die in christlicher Ikonographie mit dem Sündenfall erklärt wird, und stets (im dritten Schritt) auf die utopische Wiederherstellung des Paradieses hoffen läßt. Athen und himmlisches Jerusalem, erstes und zweites Paradies, erstes und drittes Reich sind die meist religiös besetzten und leicht ideologisierbaren Kontrastbilder, in denen die entbehrte Glückseligkeit als unter bestimmten Voraussetzungen erreichbares Ziel in Aussicht gestellt wird. Die poetische Sinngebung der Geschichte, wie sie

 Ebd., S. 72.  Novalis, Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen [1797/1798], in: Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hrsg. v. Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Bd. 2: Das philosophische Werk I, Stuttgart: Kohlhammer 21965, 522– 624, S. 545 (Nr. 105).  Zur Wirkungsgeschichte des Joachim von Fiore vgl. die Habilitationsschrift (1955) von Joseph Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI., Offenbarungsverständnis und Geschichtstheologie Bonaventuras. Habilitationsschrift und Bonaventura-Studien, in: Ratzinger, Gesammelte Schriften, Bd. 2, Freiburg u. a.: Herder 2009.

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sich die Romantiker gedacht haben, erinnert einerseits an den Glauben an den Messias, den Heiland und „the second coming of Christ“ und antizipiert andererseits quasi-religiöse Gesellschaftsmodelle, die die Marxisten mit dem Kommunismus und die Nationalsozialisten mit dem Dritten Reich gewaltsam durchgesetzt haben. Sowohl das Arbeiter und Bauern-‚Paradies‘ als auch das ‚Tausendjährige Reich‘ sind eindeutige Zitate chiliastischer (griech. χιλιοι, chilioi = tausend) Erlösungsideen nach dem triadischen Schema. Anders als das lineare Geschichtsbild der Aufklärer, die im Prozeß der ‚Aufklärung‘, mit den Worten Kants, den „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“³⁴ als unendliche Progression von unvernünftigen Anfängen zu einer vernunftbestimmten Zukunft annehmen, fängt das zyklische Geschichtsbild der Romantiker die Spannung zwischen Urzeit und Endzeit in Bildern der Wiederkehr und der Rückkehr auf. Ihr ganzes Streben ist gekennzeichnet durch die Sehnsucht nach einer Heimat, die der Mensch mit dem Eintritt in die Geschichte verloren hat. So heißt es im zweiten, ‚Erfüllung‘ überschriebenen Teil des Romans Heinrich von Ofterdingen: „Wo gehn wir denn hin?“ „Immer nach Hause.“ (325, Reclam 166) Die ewige Heimkehr als Rückkehr aus der Fremde, als Aufhebung der Entfremdung, bedeutet den Austritt aus der Geschichte – als traumhafte Erfüllung eines Heilsversprechens. Kam es den Aufklärern gerade auf die Geschichte als Medium des Fortschritts an,³⁵ zielen die Romantiker auf die Aufhebung der Geschichte in der Zeitlosigkeit des Märchens: „Mit der Zeit muß die Geschichte Märchen werden – sie wird wieder, wie sie anfing.“³⁶ Das Ideal der Zukunft ist die Rückkehr zu den märchenhaften Anfängen, deren von der Vernunft zerstörte Einheit als Harmonie des Mannigfaltigen wiederkehren soll. Wo märchenhafte Phantasie Urzeit und Endzeit nicht nur vermittelt, sondern im Idealfall durch Wiederholung ineinssetzt, wird der Verlauf historischer Zeit suspendiert in einer fiktional-wunderbaren Allgegenwart, die vom spezifischen Alltag befreit: „Die ganze Repraesentation beruht auf einem Gegenwärtig ma-

 Immanuel Kant, Was ist Aufklärung? [1784], in: Kant, Werkausgabe, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. XI: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, 53 – 61, S. 53.  Noch Schiller hat in seiner Abhandlung Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde (1790) gegen Rousseau die Aufgabe des Menschen in seiner linearen Selbstbefreiung gesehen: „[A]us einem Paradies der Unwissenheit und Knechtschaft sollte er sich, wär’ es auch nach späten Jahrtausenden, zu einem Paradies der Erkenntnis und der Freiheit hinauf arbeiten“; zitiert nach Hans-Joachim Mähl, Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen, Heidelberg: Winter 1965; Tübingen: Niemeyer 21994, S. 177.  Novalis, Das Allgemeine Brouillon, S. 281 (Nr. 238).

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chen – des Nicht Gegenwärtigen und so fort – (Wunderkraft der Fiction)“.³⁷ Mit dieser zentralen Aussage, durch die sich die moderne Theorie der Fiktion als presence of the absent bestätigt sehen konnte, hat Novalis die gewissermaßen historische Aufgabe der Poesie im Wunder der Vergegenwärtigung des Nicht-Gegenwärtigen gesehen und damit indirekt auch die Historiographie an die semiotische Grundformel gebunden, daß das sprachliche Zeichen (the sign) an die Stelle des Bezeichneten (the signified) tritt und damit die Wirklichkeit, auf die sie sich bezieht, aus ihrer Darstellung verdrängt. Die so derealisierte Geschichte ist, zur Allgegenwart verabsolutiert, so zeitlos wie das Märchen. Aber das goldene Zeitalter, auf das sich Novalis in Anlehnung an François Hemsterhuis’ Schrift Alexis ou sur l’âge d’or (1787) stützt,³⁸ um seine poetische Erneuerung zu betreiben, ist an die Idealisierung einer bestimmten Periode gebunden, sei es die Antike in der deutschen Klassik oder das Mittelalter in der deutschen Romantik. Während für Schiller, Goethe und Wilhelm von Humboldt die griechische Antike als unerreichbarer Maßstab der Menschheitsbildung stilisiert wurde, sahen Novalis und die Maler der Romantik im Mittelalter den Traum vergangener Kaiserherrlichkeit als verklärten Ausgangspunkt für die, wie es in dem Mittelalter-Roman Heinrich von Ofterdingen heißt, „Wiederkehr eines ewigen goldenen Zeitalters“.³⁹ Als „Wiederkehr“ ist der Gang der Geschichte, wie schon erwähnt, nicht linear, sondern ausdrücklich zyklisch als Heimkehr konzipiert: „Wohin gehen wir denn?“ „Immer nach Hause“ (325, Reclam 166). Erst im historischen Rückblick eröffnet sich der Vorausblick auf eine Zukunft, die mit der Vergangenheit so eng verknüpft ist, daß wir immer wieder zu ihr zurückkehren. Die Zukunft der Geschichte ‚rekapituliert‘ die Vergangenheit, indem sie die Geschichte wirklich, als wäre sie ein Buch, in ‚Kapiteln‘ so aufarbeitet, daß die Historizität unseres Lebens das Erkenntnisziel dieser poetischen Geschichtslektion ist. War Goethes mythische Priesterin Iphigenie von Tauris, die die Humanität zu den Barbaren bringt und damit Frieden stiftet, die antike Ikone der deutschen Klassik, so ist Novalis’ (literar‐)historisch bezeugter Minnesänger Heinrich von Ofterdingen die mittelalterliche Ikone der deutschen Romantik, die ideale Personifikation der von Friedrich Schlegel verfügten Gleichsetzung der beiden Epochen. Die Rezeption der Minnesänger erreichte ab 1800 ihren Höhepunkt,⁴⁰ als in

 Ebd., S. 421 (Nr. 782).  Vgl. Mähl, Die Idee des goldenen Zeitalters, bes. 305 – 328 (Kap. „Das goldene Zeitalter als ‚Vergangenheit‘ und als ‚Zukunft‘. Das Geschichtsverständnis des Novalis“).  Novalis, Heinrich von Ofterdingen, S. 225, Reclam 46.  Vgl. Bernd A. Weil, Die Rezeption des Minnesangs in Deutschland seit dem 15. Jahrhundert, Frankfurt am Main: R. G. Fischer 1990; Angelika Koller, Minnesang-Rezeption um 1800: Fall-

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den für die Zeit um 1200 bezeugten Minnesängern die historische Variante des mythischen Sängers Orpheus gesehen werden konnte. Heinrich von Ofterdingen, von dem, wenn er denn wirklich gelebt hat, keine Lieder überliefert sind, wird namentlich erwähnt in einem mittelhochdeutschen Epos, Sängerkrieg auf der Wartburg (um 1260), der erfundenen Geschichte eines von dem Landgrafen zu Thüringen veranstalteten, auf 1207 datierten Dichterwettbewerbs auf der Wartburg in Thüringen, an dem neben den bekannten Walther von der Vogelweide, Wolfram von Eschenbach und Reinmar von Zweter auch ein Heinrich von Ofterdingen teilgenommen haben soll. Wie Tannhäuser und Lohengrin wurde Heinrich von Ofterdingen, der in der von Johann Jakob Bodmer Codex Manesse genannten Großen Heidelberger Liederhandschrift C (1305 – 1315) zusammen mit den anderen Teilnehmern an dem Sängerkrieg in einer Miniatur auch bildlich dargestellt ist, zu einer Leitfigur der mit Novalis beginnenden Mittelalter-Renaissance im 19. Jahrhundert. Der Sängerkrieg (unter Teilnahme von Heinrich von Ofterdingen) lebte wieder auf in E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Kampf der Sänger (1819), die als Vorlage für Richard Wagners Oper Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg (1845) dienen sollte, und in Friedrich de la Motte Fouqués Drama Der Sängerkrieg auf der Wartburg (1828).⁴¹ Weitere Stationen dieser von Novalis ausgehenden und mit Heinrich von Ofterdingen verbundenen Mittelalter-Begeisterung waren Moritz von Schwinds Fresko Der Sängerkrieg auf der Wartburg (1855) in der Wartburg und Karl Simrocks Übersetzung des Sängerkriegs ins Neuhochdeutsche (1858) sowie Karl Lachmanns und Moriz Haupts textkritische Ausgabe von Des Minnesangs Frühling (1857), in der Heinrich von Ofterdingen allerdings nicht mehr vorkommt. Die Verwissenschaftlichung der Beschäftigung mit der Literatur des Mittelalters erfolgte im Zusammenhang mit vielen Projekten der sich jetzt entwickelnden Nationalphilologie, in der vor allem das Nibelungenlied (um 1204) eine wissenschaftsgeschichtlich wichtige Rolle spielte. Die Anfänge der Germanistik gehen zurück auf das Engagement für altdeutsche Texte, weil sich – als Ersatz für die griechische Antike, deren Stätten im Osmanischen Reich schwer zugänglich waren – das Mittelalter als näherliegende und, im vor allem gegen Napoleon aufkommenden Nationalismus, als spezifisch deutsche Verwirklichung des

darstellungen zu den Romantikern und ihren Zeitgenossen und Exkurse zu ausgewählten Sachfragen, Frankfurt am Main/Bern/New York: Peter Lang 1992.  In Fouqués Drama beschwört der Sänger Heinrich von Ofterdingen (mit einer „Zither im Arm“ an Orpheus erinnernd) bei seinem ersten Auftritt die Heimat, die im zyklischen Denken der Romantiker eine so große Rolle spielt: „O Heimath, süßes Wort voll süßer Macht! / So süß, daß selbst oft Fremd’ als Heimath lacht, / Wie grüß’ ich dich im fremden Hause wieder, / Du Quellborn meiner Träum’ und Lieder!“ (Der Sängerkrieg auf der Wartburg, Berlin: Friedrich August Herbig 1828, S. 15).

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Traums vom goldenen Zeitalter anbot. Unter dem Banner des mythologisierten Kaisers Barbarossa, der aus seinem Jahrhunderte langen Schlaf im Kyffhäuser erwachen sollte, um Deutschland zu befreien, schien eine Erneuerung des (1806 von Napoleon aufgelösten) Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation in seiner mittelalterlichen Pracht denkbar und wünschenswert. So hat Friedrich Heinrich von der Hagen, der 1810 als erster Professor für altdeutsche Literatur an die gerade gegründete Universität Berlin berufen wurde, das Nibelungenlied, „das erhabenste und vollkommenste Denkmal einer so lange verdunkelten Nazionalpoesie“,⁴² 1807 in neuhochdeutscher Übersetzung und 1810 in einer modernisierten mittelhochdeutschen Fassung herausgegeben. Ein anderer Professor der Berliner Universität, August Zeune, hat 1814 in der Ausgabe seiner neuhochdeutschen Übersetzung die am 19. Oktober 1813 gegen Napoleon gewonnene Völkerschlacht bei Leipzig als Siegfrieds triumphalen Sieg gefeiert: „[D]er mächtige Schlangentöder hat sich erhoben, und unser heiliger deutscher Boden ist wieder rein und frei von dem fremden Gewürme.“⁴³ Schließlich hat sich der ab 1850 in Bonn lehrende Karl Simrock, der 1827 die fortan maßgebliche Übertragung des Nibelungenlieds veröffentlicht hat und sich 1840 in einem Weinberg das „Haus Parzival“ als Sommersitz errichten ließ, 1870, als der Kampf gegen die Franzosen erneuert wurde, über Walther von der Vogelweide und das Nibelungenlied zu dem literarischen Schlachtruf verstiegen: „Das ist Feld- und Zeltpoesie, damit kann man Armeen aus der Erde stampfen, wenn es den Verwüstern des Reichs, den gallischen Mordbrennern, der römischen Anmaßung zu wehren gilt.“⁴⁴ Das Bild des mythischen deutschen Helden Siegfried, der 1813 nicht nur den Kaiser der Franzosen, sondern die Geschichte besiegt hat, verrät eine unverhohlene Instrumentalisierung der mittelalterlichen Literatur, die, passend zur Mythologisierung der politischen Identitätsbildung,⁴⁵ auf die schon bei Novalis an-

 Zitiert nach Helmut Brackert, Nibelungenlied und Nationalgedanke. Zur Geschichte einer deutschen Ideologie, in: Mediaevalia litteraria. Festschrift für Helmut de Boer, hrsg. v. Ursula Hennig und Herbert Kolb, München: Beck 1971, 343 – 364, S. 345.  August Zeune, Das Nibelungenlied ins Neudeutsche übertragen, Berlin: Maurersche Buchhandlung 1814, S. III.  Walther von der Vogelweide, hrsg., geordnet und erläutert v. Karl Simrock, Bonn 1870, S. 1, zitiert nach Otfrid Ehrismann, Das Nibelungenlied in Deutschland. Studien zur Rezeption des Nibelungenlieds von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, München: Fink 1975, S. 19.  Vgl. Hinrich C. Seeba, Fabelhafte Einheit: Von deutschen Mythen und nationaler Identität, in: Zwischen Traum und Trauma: Die Nation. Transatlantische Perspektiven zur Geschichte eines Problems, hrsg. v. Claudia Mayer-Iswandy, Tübingen: Narr 1994 (= Stauffenburg Colloquium 32), 59 – 74.

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gelegte Enthistorisierung ihres Gegenstands hinausläuft. Unter diesem Aspekt verdient der in Heinrich von Ofterdingen entwickelte Geschichtsbegriff eine Überprüfung, die weitere Auskunft gibt über die in der Romantik problematisierte Trennung von Geschichte und Roman. Wenn die ganze Geschichte eigentlich ein Roman ist, dessen Universalität durch die ersehnte Poetisierung der Welt nur bestätigt würde, so kann erst recht das individuelle Leben als Buch verstanden werden: „Wir leben in einem colossalen (im Großen und Kleinen) Roman.“ Novalis hat solche Literarisierung der Geschichte „im Großen“ wie „im Kleinen“ nicht nur theoretisch vertreten, sondern in seinem Roman Heinrich von Ofterdingen auch praktiziert. Er hat eine seltene Integration von Theorie und Praxis erreicht, indem er einerseits Friedrich Schlegels (1798 im Athenäums-Fragment 238 formuliertes) transzendentalpoetisches Programm aufgegriffen und andererseits den literarischen Topos des Lebensbuchs zum strukturbildenden Sujet des Romans bestimmt hat. Schlegel hatte gefordert, daß ein literarisches Werk „auch das Produzierende mit dem Produkt“ darstellen, also zugleich seine Entstehungsbedingungen reflektieren soll; in solcher „künstlerischen Reflexion und schönen Selbstbespiegelung“ solle die Poesie „in jeder ihrer Darstellungen sich selbst mit darstellen, und überall zugleich Poesie und Poesie der Poesie sein“.⁴⁶ Novalis hat die existentielle Voraussetzung dieser literaturtheoretischen Vorgabe etwa zur selben Zeit so formuliert: Ein Roman ist ein Leben, als Buch. Jedes Leben hat ein Motto – einen Titel – einen Verleger – eine Vorrede – Einleitung – Text – Noten – etc. oder kann es haben.⁴⁷

Die Struktur des Romans wiederholt also nur die literarische Struktur des zum Buch metaphorisierten Lebens. In diesem transzendentalpoetischen Sinn ist jeder Roman, der ein Leben konstruiert, das Buch eines Buchs. Novalis hat diese abstrakt klingende Denkfigur poetisch inszeniert, als er, immer in Hinblick auf die selbstreflexive Mission des romantischen Romans, seinen Helden Heinrich in der unterirdischen Bibliothek des als Graf von Hohenzollern identifizierten Einsiedlers das Buch seines eigenen Lebens entdecken läßt, das, wie sich herausstellt, ein Spiegel des Romans ist, in dem er die Hauptrolle spielt: Endlich fiel ihm ein Buch in die Hände, das in einer fremden Sprache geschrieben war, die ihm einige Ähnlichkeit mit der lateinischen und italienischen zu haben schien. Er hätte sehnlichst gewünscht, die Sprache zu kennen, denn das Buch gefiel ihm vorzüglich, ohne

 Schlegel, Athenäums-Fragmente, S. 53 (Nr. 238). Vgl. Roland Heine, Transzendentalpoesie. Studien zu Friedrich Schlegel, Novalis und E.T.A. Hoffmann, Bonn: Bouvier 1974.  Novalis, Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen, S. 599 (Nr. 341).

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daß er eine Silbe davon verstand. Es hatte keinen Titel, doch fand er noch beim Suchen einige Bilder. Sie dünkten ihm ganz wunderbar bekannt, und wie er recht zusah, entdeckte er seine eigene Gestalt, ziemlich kenntlich unter den Figuren. (264, Reclam 92)

Die wechselnden Bilder seines bisherigen Lebens, in denen Heinrich bekannte Figuren wie seine Eltern in einen größeren Zusammenhang vieler anderer, ihm nicht namentlich bekannter Figuren der Geschichte gestellt sieht, laufen auf das Spiegelbild der gegenwärtigen Situation zu: „Er traute kaum seinen Sinnen, als er bald auf einem Bilde die Höhle, den Einsiedler und den Alten neben sich entdeckte.“ (264, Reclam 92) Wie kann es sein, so muß er sich verwirrt fragen, daß ein Buch, das offenbar sein Leben repräsentiert, nicht nur das Geschehene, die Geschichte seines Lebens, sondern gleichsam im Spiegel sogar das unmittelbar gegenwärtige Geschehen darstellt, als wäre in solcher magischen Allgegenwart die semiotische Differenz zwischen gegenwärtigem Zeichen und abwesendem Bezeichneten aufgehoben? Die Identität des Dargestellten mit seiner Darstellung kann die Selbstentfremdung nur im Bild, aber nicht „in der fremden Sprache“ aufheben. Die Selbstbegegnung im Buch ist, da die provenzalische Sprache, die Herkunftssprache des aus Frankreich kommenden Minnesangs, nicht mehr verständlich ist, nur bildlicher und nicht schriftlicher Natur.⁴⁸ Es ist, als fände sich Heinrich von Ofterdingen in der bekannten Miniatur der Manessischen Liederhandschrift abgebildet, als begegnete er dem historischen Bildzeugnis seiner Existenz. So eingeschränkt auf das Spiegelbild seiner Gestalt und der gegenwärtigen Situation, wünscht er sich auch einen sprachlichen Zugang zum Verständnis dieses Wunderbuchs. Die Betonung des sprachlichen Verstehens verrät die hermeneutische Bedeutung der Szene: die angestrebte literarische Projektion der Zukunft aus den Erfahrungen der Vergangenheit. Das Buch des Lebens, das noch nicht ganz gelebt ist, repräsentiert den Roman, der noch nicht zu Ende geschrieben ist. Insofern ist das fragmentarische Buch, das Heinrich findet, ein Spiegel des Fragment gebliebenen Romans und entsprechend der Teil des Lebensbuchs, der über das ausgeführte Programm des Romans hinausweist, der Entwurf seiner unausgeführten Fortsetzung. Das Buch, das üblicherweise einem Resümee des Lebens dient, ist hier seine Präfiguration. Die Priorität des Buchs vor dem Leben sagt etwas aus über den Charakter seiner narrativen Gestaltung als Buch, eines Handlungsaufbaus mit Anfang und Ende,

 Zum Topos des unverständlichen Lebensbuchs vgl. Joseph von Eichendorff, Ahnung und Gegenwart [1815], in: Eichendorff, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. v. Wilhelm Kosch und August Sauer, Bd. 3, Regensburg: Habbel 1913, S. 27: „Das Leben aber […] mit seinen bunten Bildern, verhält sich zum Dichter, wie ein unübersehbar weitläufiges Hieroglyphenbuch von einer unbekannten, lange untergegangenen Ursprache zum Leser.“

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mit Absätzen und Kapiteln, Symbolen und Leitmotiven, Höhe- und Tiefpunkten, Haupt- und Nebenhandlung, Entwicklungslinien und Brüchen. Die wechselseitige Spiegelung von Buch und Leben, die über eine nur metaphorische Literarisierung des Lebens weit hinausgeht, kann natürlich nicht ohne Folgen bleiben für die ganz besondere Art der Ästhetisierung historischen Denkens. Um besser zu verstehen, worauf die raffinierte transzendentalpoetische Spiegelung des ganzen Romans in Heinrichs Lebensbuch hinausläuft, wollen wir, um Novalis’ wirklich ‚spekulative‘ Leistung besser zu würdigen, einige Beispiele aus der Geschichte des Lebensbuch-Topos heranziehen.⁴⁹ In der Bildtradition der Bibel gehört das Lebensbuch zur Vorstellung des Jüngsten Gerichts, weil Gott, wie die Offenbarung erzählt, über unsere guten und schlechten Taten gewissermaßen ‚Buch führt‘ und am Ende entscheidet, ob wir aufgrund unseres individuellen Lebensbuchs zu den ‚Gerechten‘ gehören oder nicht: Und ich sah die Toten, die Großen und die Kleinen, vor dem Thron stehen, und Bücher wurden geöffnet; und ein anderes Buch wurde geöffnet, welches das des Lebens ist. Und die Toten wurden gerichtet nach dem, was in den Büchern geschrieben war, nach ihren Werken. […] Und wenn jemand nicht geschrieben gefunden wurde in dem Buch des Lebens, so wurde er in den Feuersee geworfen. (Offb. 20, 12– 15)

Entsprechend hat der Barockdichter Barthold Heinrich Brockes in seiner Gedichtsammlung Irdisches Vergnügen in Gott (1738) den Glauben an das göttliche Weltenbuch beschworen: Ein Frommer aber glaubt mit Recht: Es sey die Welt / Ein Buch, das Göttliche Geheimniss’ in sich hält: / Ein Buch, das Gottes Hand, aus ew’ger Huld getrieben, / Zu seines Namens Ehr’, und unsrer Lust geschrieben. // […] // O unbegreiflichs Buch! O Wunder – A, B, C! / Worin, als Leser, ich und auch als Letter, steh! / Laß, großer Schreiber, mich im Buche dieser Erden, / Zu Deines Namens Ruhm, ein lauter Buchstab werden!⁵⁰

Eine nihilistische Variante dieser moralischen Buchführung durch Gott findet sich – abgesehen von Heinrich von Kleist, der 1801 das Leben „ein Ding“ genannt

 Vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/München: Francke 41963, 306 – 352 (Kap. „Das Buch als Symbol“). Vgl. Hinrich C. Seeba, Ernst Robert Curtius: Zur Kulturkritik eines Klassikers in der Wissenschaftsgeschichte, in: Monatshefte 95/4 (2003), 531– 540.  Barthold Heinrich Brockes, Die Welt, Strophe 15 und 19, in: Brockes, Irdisches Vergnügen in Gott, bestehend in physikalisch- und moralischen Gedichten [1721/1748, Faksimile-Druck nach der Ausgabe von 1738], Stuttgart: Metzler 1965, S. 340 f.

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hat, „das jeder wegwerfen möchte, wie ein unverständliches Buch“⁵¹ – etwa zur gleichen Zeit in den Nachtwachen des Bonaventura (1804), die anonym erschienen sind und seit 1987 dem Braunschweiger Theaterdirektor August Klingemann zugeschrieben werden. Darin erscheint dem Erzähler „die ganze Weltgeschichte wie ein alberner Roman“, den Gott „nicht selbst bearbeitete, sondern es ihnen [den Menschen] überließ, daran zu schreiben“:⁵² O, du hättest das letzte Wort in der Schöpfung nicht schreiben sollen, wenn du dabei abbrechen wolltest. Ich blättere und blättere in dem großen Buche und finde nichts als das eine Wort über mich, und dahinter den Gedankenstrich, wie wenn der Dichter den Charakter, den er vollführen wollte, im Sinne behalten und nur den Namen hätte mir einfließen lassen. War der Charakter zu schwierig zur Ausführung, warum strich der Dichter nicht auch den Namen aus, der jetzt allein dasteht, sich anstaunt und nicht weiß, was er aus sich selbst machen soll. Schlag das Buch zu, Name, bis der Dichter bei Laune ist, die leeren Blätter, vor denen du nur als Titel stehst, vollzuschreiben!⁵³

Am Ende der Schöpfungsgeschichte steht der Mensch, aber nur als Kapitelüberschrift, hinter der ein „Gedankenstrich“ die leeren, von diesem Menschen zu füllenden Seiten markiert. Der Mensch der Nachtwachen fühlt sich von Gott alleingelassen, weil er ohne Gottes Hilfe, ohne daß ihm ein sinnvoller Lebensweg vorgezeichnet ist, seinen Weg durch das labyrinthische Chaos und noch im sinnlosen Nichts für sich einen Sinn finden muß. Erst aus dieser Verzweiflung wird deutlich, wie im Laufe zunehmender Säkularisierung der religiös entwerteten Buch-Metapher die hermeneutische Funktion der Sinngebung zugeschrieben wird: Der Mensch ist aufgerufen, seinem Leben selbst den Sinn zu geben, den er sich einst von Gott wirklich hat ‚vorschreiben‘ lassen. Positiv gewendet, klingt die Verzweiflung der Nachtwachen bei Novalis wie eine kreative Herausforderung: „Das Leben soll kein uns gegebener, sondern ein von uns gemachter Roman seyn.“⁵⁴ Auf den Spuren des Dichters, der als alter deus die Welt noch einmal aus seiner Phantasie schafft, sollen wir selbst die Autoren des Buchs sein, das unser Leben ausmacht. In solcher Forderung klingt mitten in der Romantik, für die die

 Heinrich von Kleist, Brief an Wilhelmine von Zenge, 21. Juli 1801, in: Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. v. Ilse-Marie Barth, Klaus Müller-Salget, Stefan Ormanns und Hinrich C. Seeba, Bd. 4, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1997, S. 247.  [August Klingemann], Die Nachtwachen des Bonaventura [1804], München: Goldmann 1960, S. 60.  Nachtwachen, S. 117. Vgl. Georg Büchner, Leonce und Lena [1836], in: Büchner, Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. v. Werner R. Lehmann, Bd. 2, Hamburg: Wegner 1971, 103 – 142, S. 112 (I, 3): „Mein Leben gähnt mich an wie ein großer weißer Bogen Papier, den ich vollschreiben soll, aber ich bringe keinen Buchstaben heraus.“  Novalis, Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen, S. 563 (Nr. 188).

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Religion nur noch ein Bild poetischer Phantasie ist, die Selbstermächtigung des aufgeklärten Subjekts nach, das sein Leben selbstbewußt in die eigene Hand nimmt. Wenn in den Nachtwachen der Titel des ungeschriebenen Kapitels der Mensch ist, so kennen die Leser des Romans von Novalis den Titel des scheinbar titellosen Lebensbuchs: „Heinrich von Ofterdingen“; denn der Zaubertrick dieser transzendentalpoetischen Selbstreflexion besteht darin, daß Heinrich in der Bibliothek des Einsiedlers den Entwurf zu eben dem (uns vorliegenden) Roman mit dem Titel Heinrich von Ofterdingen findet, in dem er die titelgebende Hauptrolle spielt. Dieses Buch hat einen doppelten hermeneutischen Auftrag: Heinrich soll darin die Richtung seines Lebens verstehen lernen, und die Leser sollen einen Schlüssel zur Interpretation des Romans finden. Während Heinrich darin die künftigen Stationen seines Lebens mit den Gestalten von Klingsohr und Mathilde vorgebildet sieht, sind die Leser wie Heinrich gespannt auf das ausgesparte Ende des Romans: Die letzten Bilder waren dunkel und unverständlich; doch überraschten ihn einige Gestalten seines Traumes mit dem innigsten Entzücken; der Schluß des Buches schien zu fehlen. Heinrich war sehr bekümmert, und wünschte nichts sehnlicher, als das Buch lesen zu können, und vollständig zu besitzen. (265, Reclam 92 f.)

Während Heinrich die im Lebensbuch nur vage angedeutete „Erfüllung“ (Titel des zweiten Teils) durchleben muß, wird die „Erwartung“ (Titel des ersten Teils) der Leser unfreiwillig enttäuscht: Das reale Leben hat die Phantasie des Dichters eingeholt: Novalis ist am 25. März 1801 gestorben, bevor er den Roman zu Ende bringen konnte. Weil der Roman, der mit dem fragmentarischen Charakter des Lebensbuchs nur spielt, selbst Fragment blieb, ist das Leserverständnis für die gedachte Weiterführung auf den Entwurf in Heinrichs Lebensbuch angewiesen. Nichts hätte die hermeneutische Rolle des Buchs im Buch besser demonstrieren können als diese unfreiwillige Pointe eines biographischen Zufalls. Der Einsiedler, in dessen Bibliothek sich das geheimnisvolle Buch fand, gibt Auskunft über das Thema und damit zugleich eine immanente Absichtserklärung des Novalis für den ganzen Roman: „Soviel ich weiß, ist es ein Roman von den wunderbaren Schicksalen eines Dichters, worin die Dichtkunst in ihren mannigfachen Verhältnissen dargestellt und gepriesen wird.“ Und der Einsiedler fügt, mit einer ihm in den Mund gelegten Verbeugung vor der konventionellen Herausgeberfunktion, ein historisches Detail hinzu, das für die Konzeption des Romans nicht unwichtig ist: „Der Schluß fehlt an dieser Handschrift, die ich aus Jerusalem mitgebracht habe, wo ich sie in der Verlassenschaft eines Freundes fand, und zu seinem Andenken aufhob.“ (265, Reclam 93). Da das 1099 von christlichen

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Kreuzfahrern eroberte Jerusalem 1187 wieder an die Muslime zurückfiel, reicht Heinrichs Buch in die Geschichte vor dem dritten Kreuzzug (1189 – 1192) zurück, auf dem Kaiser Friedrich Barbarossa 1190 auf dem Weg nach Jerusalem im Fluß Saleph (in der heutigen Südtürkei) ertrunken ist. Damit verlegt der Roman Heinrich von Ofterdingen seinen Ursprung in die Zeit des historischen Kaisers, dessen ersehnte Wiederkehr als Erlöser Deutschlands im triadischen Denken der Romantik eine so große Rolle spielen sollte. Schon in der Geschichte selbst, auf die sich der Roman als Quelle beruft, fand eine Verwechslung von Geschichte und Mythos statt; denn es muß unterschieden werden zwischen der historischen Gestalt des am 10. Juni 1190 ertrunkenen Kaisers Friedrich I. Barbarossa (um 1122– 1190), der sich schon zu Lebzeiten von dem 1158 gestorbenen Verfasser der Weltchronik (1143/1146), Otto von Freising, verherrlichen ließ, und der quasi-historischen Erlöserfigur, dem im Kyffhäuser schlafenden Kaiser Barbarossa,von dem im 19. Jahrhundert die Wiederherstellung des 1806 aufgelösten Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation erhofft wurde. Diese Sehnsucht hat ihren populärsten Ausdruck in zwei Gedichten von Friedrich Rückert bzw. von Emanuel Geibel gefunden. Bei Rückert heißt es unter dem Titel Kaiser Friedrich im Kyffhäuser (1817): Der alte Barbarossa, / Der Kaiser Friederich, / Im unterird’schen Schlosse / Hält er verzaubert sich. // Er ist niemals gestorben, / Er lebt darin noch jetzt; / Er hat im Schloß verborgen / Zum Schlaf sich hingesetzt. // Er hat hinabgenommen / Des Reiches Herrlichkeit, / Und wird einst wiederkommen / Mit ihr, zu seiner Zeit.⁵⁵

Und Geibel rückt unter dem Titel Friedrich Rotbart (1837) Heinrich von Ofterdingen ins Gefolge des vom Schlaf auferstehenden Kaisers: Heinrich auch, der Ofterdinger, / Ist in ihrer stummen Schar, / Mit den liederreichen Lippen, / Mit dem blondgelockten Haar. // Seine Harfe ruht dem Sänger / In der Linken ohne Klang; / Doch auf seiner hohen Stirne / Schläft ein künftiger Gesang. // […] // Auf dem Helm trägt er die Krone / Und den Sieg in seiner Hand; / Schwerter blitzen, Harfen klingen, / Wo er schreitet durch das Land. // Und dem alten Kaiser beugen / Sich die Völker allzugleich / Und aufs neu’ zu Aachen gründet / Er das heil’ge deutsche Reich.⁵⁶

Die Wiederkunft des nie gestorbenen Kaisers wird alle hundert Jahre getestet, wenn er kurz aufwacht, um zu prüfen, ob es schon an der Zeit ist, zur nationalen

 Friedrich Rückert, Kaiser Friedrich im Kyffhäuser, in: Rückert, Werke in sechs Bänden, hrsg. v. Conrad Beyer, Bd. 1, 1. Abt.: Lyrik, Leipzig: Hesse & Becker o.J. [1897], S. 50.  Emanuel Geibel, Friedrich Rotbart, in: Geibel, Werke, hrsg. v. Wolfgang Stammler, Leipzig/ Wien: Bibliographisches Institut 1920, Bd. 1, S. 84 f. (V. 17– 20, 41– 48).

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Rettungstat aufzubrechen. Vor allem diese Hoffnung auf „des Reiches Herrlichkeit“ (Rückert) und auf „das heil’ge deutsche Reich“ (Geibel) befeuert den Nationalmythos, in dem Heinrich von Ofterdingen und Kaiser Barbarossa als verbündete Heilsbringer fungieren. Die langgehegte „Erwartung“ soll, mit den Überschriften der beiden Teile des Romans von Novalis, mit der Gründung des Deutschen Reichs 1871 ihre „Erfüllung“ gefunden haben. Darum hat Kaiser Wilhelm II. seinem Großvater, dem Gründungskaiser des Deutschen Reichs, das Kyffhäuser-Denkmal gewidmet, als wäre Kaiser Wilhelm I. die personifizierte Wiederkehr Barbarossas und dadurch das Haus Hohenzollern als Nachfolger der Staufer auch nationalmythologisch legitimiert. Entsprechend heißt es in der Urkunde der Grundsteinlegung am 10. Mai 1892: „Auf dem Kyffhäuser, in welchem nach der Sage Kaiser Friedrich der Rotbart der Erneuerung des Reiches harrte, soll Kaiser Wilhelm der Weißbart erstehen, der die Sage erfüllt hat.“⁵⁷ Diesem Coup wilhelminischer Propaganda ist, lange bevor ihm das steinerne Nationaldenkmal gesetzt wurde, vorbeugend Heinrich Heine entgegengetreten, als er in Deutschland. Ein Wintermärchen (1844) den reaktionären Kaisermythos ironisch verabschiedet hat: „Herr Rotbart – rief ich laut – du bist / Ein altes Fabelwesen, / Geh, leg dich schlafen, wir werden uns / Auch ohne dich erlösen.“⁵⁸ Als Aufklärer in romantischer Zeit kann sich der Republikaner Heine den erwünschten linearen Fortschritt nur ohne einen Kaiser denken, der die ganze Geschichte, wie es der zyklische Geschichtsmythos will, und damit den Fortschritt wirklich verschlafen hat. Die Mythologisierung des historischen Kaisers zum – bei Heine geschichtsvergessenen – „Fabelwesen“ wurde dadurch erleichtert, daß der Mythos des Endzeitkaisers schon im Mittelalter auf seinen Enkel Kaiser Friedrich II. (1194 – 1250) überging, um dessen Tod als letzter Kaiser der Staufer sich in der Nachfolge von Joachim von Fiore schon früh Sagen chiliastischer Heilserwartung rankten. Friedrich II., der als unsterblicher Retter der Unterdrückten und als Verfolger der korrupten Kirche einerseits verklärt und andererseits von der Kirche, besonders von Papst Gregor IX., der ihn 1239 exkommuniziert hat, als Antichrist verteufelt wurde, wurde zunächst in den Ätna entrückt, wo er auf seine Wiederkehr wartete, und erstmals in Johannes Rothes Thüringischer Chronik (1421) mit dem Kyffhäuser in Verbindung gebracht. Seit dem Volksbuch Vom Kayser Friderich […] Barbarossa (1519) wird der inzwischen sagenhafte Barbarossa mit Friedrich I. identifiziert, so

 Zitiert nach Thomas Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 206 (1968), 529 – 585, S. 545.  Heinrich Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen, in: Heine, Sämtliche Schriften, hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 4, München: Hanser 1971, 571– 644, S. 615.

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auch in Georg Henning Behrens’ Harz-Schilderung Hercynia curiosa oder Curiöser Hartz-Wald (1703), in der Barbarossa im Kyffhäuser mit dem in die Hand gestützten Kopf und mit dem durch die Steinbank gewachsenen Bart nur so tut, als schliefe er, „als wenn derselbe vor dem Jüngsten Tage / wiederum aufwachen / und sein verlassenes Keyserthum / auf das Neue antreten und bestätigen werde“.⁵⁹ In dieser Gestalt hat die Barbarossa-Sage Eingang in viele VolksbücherSammlungen gefunden, zuerst in den Volcks-Sagen (1800), die der Halberstädter Theologe Johann Karl Christoph Nachtigal unter dem Pseudonym Otmar herausgegeben hat, und am populärsten in den von Joseph Görres herausgegebenen Teutschen Volksbüchern (1807), aber auch in den von Johann Gustav Büsching gesammelten Volks-Sagen, Märchen und Legenden (1812) sowie in den von den Brüdern Grimm gesammelten Deutschen Sagen (1816). In der Herausgeberfiktion von Görres übergibt der in einem Felsendom aufgespürte Friedrich Barbarossa dem Ich-Erzähler Bücher mit den Heldentaten seiner Gefährten Siegfried, Heinrich der Löwe, Herzog Ernst u. a.: „Von unsern Thaten sind die Schatten nur uns hinabgefolgt, willst du mit ihnen sprechen, lies in diesen Büchern.“⁶⁰ So werden die Volksbücher als Gespräch mit den allgegenwärtigen Helden der Vergangenheit verstanden, die wie Siegfried fiktiv oder wie Heinrich der Löwe historisch sein können. Fazit dieses von Novalis’ Einsiedler angestoßenen Exkurses: In der Enthistorisierung einer historischen Figur wie Friedrich I. Barbarossa verschwimmt die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit so sehr, daß der Mythos für die Geschichte und umgekehrt die Geschichte für den Mythos stehen kann, sobald die historische Zeit in poetischer Phantasie aufgehoben wird. Das gilt auch für die Konzeption des Romans: Der nach Aussage des Einsiedlers historisch verankerte, aus Jerusalem mitgebrachte „Roman von den wunderbaren Schicksalen eines Dichters“ vollzieht die Verwandlung der Geschichte in den Mythos noch einmal nach, um den „wunderbaren“ Begebenheiten den Charakter zeitloser Gegenwart zu geben. So wird literarisch in Szene gesetzt, was Novalis vorher nur behauptet hat: „Wir leben in einem colossalen (im Großen und Kleinen) Roman.“ Der kleine Roman, den Heinrich findet, spiegelt den großen Roman, der uns unter dem Titel Heinrich von Ofterdingen vorliegt. Während Heinrich erst die provenzalische Sprache lernen müßte, um sein Lebensbuch ganz lesen und seine Rolle in der Geschichte (sowohl im Sinn des Ereignis- als auch des  Georg Henning Behrens, Hercynia curiosa oder Curiöser Hartz-Wald, Nordhausen: Carl Christian Neuenhahn 1703, S. 151.  Joseph Görres, Die teutschen Volksbücher. Nähere Würdigung der schönen Historien-, Wetterund Arzneybüchlein, welche theils innerer Werth, theils Zufall, Jahrhunderte hindurch bis auf unsere Zeit erhalten hat, Heidelberg: Mohr und Zimmer 1807, S. XIII.

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Darstellungszusammenhangs) „vollständig“ verstehen zu können, finden die Leser über den Text verstreut klare Anweisungen zum strukturellen Verständnis der Geschichtslehre, die an Heinrich exemplifiziert werden soll. Wenn Heinrichs Lebensbuch der Entwurf des Gesamtromans ist, so entspricht seiner Entwicklung zum Dichter (als Thema des Lebensbuchs) die Verwandlung der Welt in Dichtung (als Ziel des Gesamtromans). Auf Heinrichs Bildungsweg zum Dichter ist die Geschichtslehre ein wesentlicher Teil des pädagogischen Programms. Der scheinbare Zufallsfund des Lebensbuchs ist nur die letzte Station in einem über den ganzen Roman verteilten historischen Argument, das viel strenger strukturiert ist, als die angestrebte Transzendenz der poetisierten Welt zunächst erwarten läßt. Das Programm der Ästhetisierung von Geschichte verläuft in vier Stufen. (1.) Noch am vorsichtig tastenden Anfang seiner Bewußtwerdung wird Heinrich eines Unterschieds gewahr, der ihm als erster Leitfaden „zur Wissenschaft der menschlichen Geschichte“ dienen wird: Ich weiß nicht, aber mich dünkt, ich sähe zwei Wege um zur Wissenschaft der menschlichen Geschichte zu gelangen. Der eine mühsam und unabsehlich, mit unzähligen Krümmungen, der Weg der Erfahrung; der andere, fast ein Sprung nur, der Weg der innern Betrachtung. Der Wanderer des ersten muß eins aus dem andern in einer langwierigen Rechnung finden, wenn der andere die Natur jeder Begebenheit und jeder Sache gleich unmittelbar anschaut, und sie in ihrem lebendigen, mannigfaltigen Zusammenhange betrachten, und leicht mit allen übrigen, wie Figuren auf einer Tafel, vergleichen kann. (208, Reclam 25)

Zunächst seiner selbst noch ganz unsicher („ich weiß nicht, mich dünkt, ich sähe“), kommt Heinrich schnell dazu, die Erkenntnis seiner Optionen kategorisch zu sortieren und für eine Entscheidung zuzuspitzen. In der noch konventionellen Gegenüberstellung der vita activa („Menschen, die zum Handeln, zur Geschäftigkeit geboren sind“; 266, Reclam 94) und der vita contemplativa („Anders ist es mit jenen ruhigen, unbekannten Menschen, deren Welt ihr Gemüt, deren Tätigkeit die Betrachtung, deren Leben ein leises Bilden ihrer innern Kräfte ist“; 266, Reclam 94 f.), der empirischen und der kontemplativen Vorgehensweise, sollte ihm die Wahl nicht schwer fallen zwischen der langwierigen, forschenden Gründlichkeit des ersten und der unmittelbaren, intuitiven Wahrnehmung des zweiten Weges. Wie Herakles am Scheidewege soll sich Heinrich für den richtigen Weg entscheiden, nicht für die mühselig-umständliche, langwierige Erkundung zeitlicher Verlaufstrukturen, sondern für die mühelos-unmittelbare, blitzartige Wahrnehmung räumlicher Zusammenhänge „wie auf einer Tafel“.

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Mit der Entscheidung für den zweiten Weg kehrt die Synchronie des Gemäldes („Tafel“) als Maßstab der Wahrnehmung zur horazischen Formel ut pictura poesis zurück,⁶¹ die Lessing in seiner Abhandlung Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) gerade außer Kraft gesetzt hatte, als er mit der Temporalität der diachronen Dichtung („Nacheinander“) – im Gegensatz zur Spatialität der synchronen Malerei („Nebeneinander“) – die Autonomie der sprachlichen Darstellung mit ihrer Historizität begründet hat.⁶² Heinrich kann sich mit seiner Wahl des zweiten Weges auf den Beifall seiner Zuhörer verlassen; sie bescheinigen ihm dafür „Anlage zum Dichter“ mit dem Hang „zum Wunderbaren, als dem Elemente der Dichter“ (208, Reclam 25). Damit hat Novalis anders als Schlegel, der die historische Erkenntnis an die Wissenschaft und die historische Darstellung an die Kunst verwiesen hatte, die „Wissenschaft der menschlichen Geschichte“ nicht der historischen Forschung, sondern der künstlerischen Phantasie anheimgestellt. (2.) Heinrich erreicht die zweite Stufe auf dem Bildungsweg zum Dichter, als ihm in einer Art Erweckungserfahrung aufgeht, was er bisher nur theoretisch erkannt hat. Der „Weg der innern Betrachtung“ erlaubt ihm in einem erleuchteten Augenblick das Verständnis des Zusammenhangs, in dem er sich bewegt: In Heinrichs Gemüt spiegelte sich das Märchen des Abends. Es war ihm, als ruhte die Welt aufgeschlossen in ihm, und zeigte ihm, wie einem Gastfreunde, alle ihre Schätze und verborgenen Lieblichkeiten. Ihm dünkte die große einfache Erscheinung um ihn so verständlich. […] Nun übersah er auf einmal alle seine Verhältnisse mit der weiten Welt um ihn her; fühlte, was er durch sie geworden und was sie ihm werden würde, und begriff alle die seltsamen Vorstellungen und Anregungen, die er schon oft in ihrem Anschauen gespürt hatte. […] und tausend andere Erinnerungen seines Lebens knüpften sich von selbst an einen zauberischen Faden. (252, Reclam 77)

Wie in einem Märchenzauber erschließt sich das Rätsel seines Lebens, „als ruhte die Welt aufgeschlossen in ihm“; von einer höheren Warte überschaut er auf einmal „alle seine Verhältnisse“, in denen er sich zur Welt verhält, und er erkennt „den zauberischen Faden“, durch den scheinbar isolierte Erinnerungen in einem

 Vgl. Quintus Horatius Flaccus, De arte poetica liber / Die Dichtkunst [17/16 v.Chr.], lat./dt., Einführung, Übers. und Erläuterung v. Horst Rüdiger, Zürich: Artemis 1961, S. 34 f. (V. 361 f.): „ut pictura poesis: erit quae, si proprius stes, / te capiat magis, et quaedam, si longius abstes“ – „Dichtungen gleichen Gemälden: Einzelne Züge ergreifen / Tiefer beim Anblick von nahem und andre beim Anblick von ferne.“  Vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, in: Lessing, Werke, hrsg. v. Herbert G. Göpfert, Bd. 6, München: Hanser 1974, 7– 187, S. 116: „Es bleibt dabei: die Zeitfolge ist das Gebiet des Dichters, so wie der Raum das Gebiet des Malers.“

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größeren Zusammenhang miteinander verknüpft sind. Wenn er wie Jakob Daniel Wegelin, den wir im Schiller-Kapitel kennengelernt haben, die enchaînure des faits, die Verkettung seines eigenen Lebens als narrative Abfolge quasi-historischer Erinnerungen wahrnimmt, „wie sie der Faden der Erzählung bestimmt“,⁶³ dann schließt er mit dem Faden-Bild an den antiken Mythos des Ariadnefadens an, mit dem Theseus aus dem Labyrinth wieder herausfindet, nachdem er in dessen Zentrum den Minotaurus getötet und weiteren Schaden von seinem Staat Athen abgewendet hat. Der Zauberfaden ist die lebensrettende Anleitung für die Orientierung im Chaos unverständlicher Sackgassen, er ist der hermeneutische Leitfaden zum Verständnis seiner aus Vergangenheit und Zukunft zusammengesetzten Lebensgeschichte. So über den Zusammenhang seines Lebens belehrt, erreicht Heinrich mit den Kaufleuten, geführt von dem Alten, die Höhle des Einsiedlers, die wie der zum Labyrinth mythologisierte Königspalast von Knossos und wie der unterirdische Kaiserspalast im Kyffhäuser von ungeheuren Dimensionen ist: Heinrichen war schauerlich und wunderbar zumute; es gemahnte ihn, als wandle er durch die Vorhöfe des innern Erdenpalastes. Himmel und Leben lag ihm auf einmal weit entfernt, und diese dunkeln weiten Hallen schienen zu einem unterirdischen seltsamen Reiche zu gehören. (253, Reclam 79)

Es ist das unheimlich verwinkelte, womöglich von Ungeheuern bewohnte Reich der Geschichte, in dem Heinrich zunächst fürchtet, „daß unter unsern Füßen eine eigene Welt in einem ungeheuern Leben sich bewegte“ (253, Reclam 79). Wie Theseus ist er auf Anleitung angewiesen, um sich zu orientieren. (3.) In der Höhle erklimmt Heinrich mit Hilfe des Einsiedlers, der den „Weg der innern Betrachtung“ personifiziert, die dritte Stufe seines Bildungswegs zum Dichter. Was Heinrich vorher, auf der zweiten Stufe, intuitiv als spontane Anschauung seines eigenen Lebenszusammenhangs erlebt hatte, wird jetzt in der Geschichtslehre des Einsiedlers zum allgemeinen Prinzip historischen Denkens ausgebaut: [D]ie zahllosen Erinnerungen sind eine unterhaltende Gesellschaft, und dies um so mehr, je veränderter der Blick ist, mit dem wir sie überschauen, und der nun erst ihren wahren Zusammenhang, den Tiefsinn ihrer Folge, und die Bedeutung ihrer Erscheinungen entdeckt. Der eigentliche Sinn für die Geschichten der Menschen entwickelt sich erst spät, und mehr unter den stillen Einflüssen der Erinnerung, als unter den gewaltsameren Eindrücken der

 Jakob Daniel Wegelin, Sur la philosophie de l’histoire, Berlin: Chrétien Fréderic Voss 1772, 361– 414; dt. Übers. in: Karl Rosenkranz, Das Verdienst der Deutschen um die Philosophie der Geschichte, Königsberg: Unzer 1835, 31– 60, S. 35 = 363.

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Gegenwart. Die nächsten Ereignisse scheinen nur locker verknüpft, aber sie sympathisieren desto wunderbarer mit entfernteren; und nur dann, wenn man imstande ist, eine lange Reihe zu übersehn und weder alles buchstäblich zu nehmen, noch mit mutwilligen Träumen die eigentliche Ordnung zu verwirren, bemerkt man die geheime Verkettung des Ehemaligen und Künftigen, und lernt die Geschichte aus Hoffnung und Erinnerung zusammensetzen. (257 f., Reclam 83 f.)

Als wollte er an die Theorie des Sehepunkts anknüpfen, die der Wegbereiter der modernen Geschichtsschreibung, Johann Martin Chladenius, in seiner hermeneutischen Gründungsschrift Einleitung zur richtigen Auslegung vernünfftiger Reden und Schrifften (1742) entworfen hat,⁶⁴ beginnt der als Graf Friedrich von Hohenzollern nun auch historisch identifizierte Einsiedler die Ergebnisse seiner historischen Betrachtungen mit dem je anderen Blick vorzustellen, der erst „den wahren Zusammenhang“ historischer Erscheinungen erkennen läßt und ihnen Bedeutung gibt. In diesem historischen Perspektivismus spielen wie bei Wegelin die Begriffe der „Reihe“ und der „Verkettung“ eine wichtige Rolle. Die „einfache Regel der Geschichte“ (258, Reclam 84), so belehrt der Graf von Hohenzollern seinen jugendlichen Zuhörer, ist die Anordnung der Geschichte, weil nur, wer „die geheime Verkettung des Ehemaligen und Künftigen“ versteht, „die Geschichte aus Hoffnung und Erinnerung zusammensetzen“ kann. Der Zusammenhang der Geschichte ist also das Ergebnis ihrer Zusammensetzung – das ist auch zwei Generationen nach Chladenius immer noch eine provokante, wenn auch inzwischen durch die romantische Theorie untermauerte Annahme. Die Wahrheit der Geschichte besteht nicht in ihrer objektiv-mimetischen Abbildung, sondern in ihrer subjektiv-kreativen Konstruktion. Nun erst entfaltet der Satz „Das Leben soll kein uns gegebener, sondern ein von uns gemachter Roman seyn“⁶⁵ seine auch pädagogische Wirkungsmacht: Die Leser sollen mit dem künftigen Dichter Heinrich von Ofterdingen lernen, daß sie nicht nur die ohnmächtigen Adressaten und Objekte der Geschichte, sondern auch deren Autoren sind, daß sie aus ihrem jeweiligen Blickwinkel an ihr mitschreiben. Mit diesem wirkungsgeschichtlichen Appell läuft die Geschichtslehre des Einsiedlers auf eine Poetik der Geschichtsschreibung hinaus:

 Vgl. Johann Martin Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünfftiger Reden und Schrifften [photomech. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1742], Düsseldorf: Stern-Verlag Janssen 1969, S. 189 (§ 310): „Aus dem Begriff des Sehe-Puncts folget, daß Personen, die eine Sache aus verschiedenen Sehe-Puncten ansehen, auch verschiedene Vorstellungen von der Sache haben müssen; und daß diejenigen, welche eine Sache aus einerley Sehe-Punckt ansehen, auch einerley Vorstellung von der Sache haben müssen.“  Novalis, Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen, S. 563 (Nr. 188).

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Wenn ich das alles recht bedenke, so scheint es mir, als wenn ein Geschichtschreiber notwendig auch ein Dichter sein müßte, denn nur die Dichter mögen sich auf jene Kunst, Begebenheiten schicklich zu verknüpfen, verstehn. In ihren Erzählungen und Fabeln habe ich mit stillem Vergnügen ihr zartes Gefühl für den geheimnisvollen Geist des Lebens bemerkt. Es ist mehr Wahrheit in ihren Märchen, als in gelehrten Chroniken. (259, Reclam 85 f.)

Damit wird die Dichtung, sofern sie die schickliche, d. h. der rhetorischen Norm der Angemessenheit (griech. πρεπον, prepon bzw. lat. aptum = angemessen) von Form und Inhalt genügende „Kunst“ der Verknüpfung von Begebenheiten beherrscht, zum Modell sowohl historischer als auch philosophischer Überlegungen. Dichter sind die besseren Geschichtsschreiber, weil es eine auch formale Kunst ist, sinnvolle Zusammenhänge verständlich zu machen, indem man sie nicht nur darstellt, sondern mit den formalen Mitteln der Poesie sogar erst herstellt. Dann hat die von Novalis früher beschworene „Wunderkraft der Fiction“ eine so erhellende Wirkung, daß die Wahrheit der Märchen gelehrte Chroniken in den Schatten stellt. Mit dem Gegensatz von „Chronik“ und „Märchen“ rückt der von Novalis immer wieder angesprochene, immer wieder ins Spiel gebrachte Unterschied zwischen Geschichtsschreiber (hier als Chronist verstanden) und Dichter in das grelle Licht eines typologisch zugespitzten Kontrasts, der unter bestimmten Bedingungen auf eine klare Entscheidung drängt: Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren Sind Schlüssel aller Kreaturen, Wenn die so singen, oder küssen Mehr als die Tiefgelehrten wissen Wenn sich die Welt ins freie Leben, Und in die Welt wird zurückbegeben, Wenn dann sich wieder Licht und Schatten Zu echter Klarheit werden gatten Und man in Märchen und Gedichten Erkennt die wahren Weltgeschichten, Dann fliegt von Einem geheimen Wort Das ganze verkehrte Wesen fort. (344 f., Reclam 189 f. [Paralipomena])

Das logische Schema eines wiederholten Konditionalsatzes („wenn, wenn, wenn, wenn, dann“), in dem eine Reihe von Bedingungen die gespannte Erwartung bis zur pointierten Auflösung steigert, folgt der im 15. und 16. Jahrhundert besonders beliebten Form des Priamels. Darin wird eine Reihe von konkreten Beispielen in der conclusio, auf die alles hinausläuft, auf den allgemeinen Begriff gebracht. Novalis hat die in der Rhetorik bewährte Spruchform zur programmatischen

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Klärung seines Konzepts für die Fortsetzung von Heinrich von Ofterdingen aktualisiert und damit die Richtung und Methode romantischer Heilserwartung vorgegeben. Entsprechend den von Heinrich erkannten Wegen der Erfahrung und der inneren Betrachtung werden einander gegenübergestellt einerseits die mathematische und geometrische Vermessung der Welt („Zahlen und Figuren“) und andererseits die Offenbarung der Schöpfung („Schlüssel aller Kreaturen“), einerseits Wissenschaftler („Tiefgelehrte“) und andererseits Dichter und Liebende („die so singen oder küssen“), einerseits Einengung und andererseits Freiheit („freies Leben“), einerseits die falsche Klarheit der Aufklärung („Licht und Schatten“) und andererseits die wahre Klarheit im Dämmerlicht der Romantik, einerseits die falsche Weltgeschichte(n) und andererseits die wahre Poesie („Märchen und Gedichte“), einerseits die Entfremdung („das ganze verkehrte Wesen“) und andererseits die Zaubersprache („geheimes Wort“). Die Häufung epistemologischer Wörter („mehr wissen“, „echt“, „wahr“ „verkehrt“) unterstreicht den Wahrheitsanspruch der poetischen Sprache, die sich am Ende gegen alles Falsche durchsetzt. In eschatologischer Metaphorik ist die Erlösung durch das geheime Wort nicht von der konventionellen, sondern nur von der poetischen „Wissenschaft der menschlichen Geschichte“ zu erwarten. Die Pointe des Priamels ist ein Sprachwunder, das die ganze falsche Welt zur Wahrheit befreit. Der Kreis schließt (und erschließt) sich mit dem sprachlichen „Schlüssel aller Kreaturen“: Wie am Anfang das göttliche Schöpfungswunder („Am Anfang war das Wort“) vollzieht sich am Ende auch das menschliche Erlösungswunder im Medium der Sprache und ihrer formalen Schöpferkraft. In der quasi-religiösen Metaphysik der triadischen Heilsgeschichte („zurück“, „wieder“), die am Ende auf einer höheren Ebene zu den Anfängen zurückkehrt, liegt die Wahrheit der Dichtung und, wie in der Geschichtslehre des Grafen von Hohenzollern wiederholt betont wird, der poetischen Geschichtsschreibung in der Form der Verknüpfung, in der Reihung und „Verkettung des Ehemaligen und Künftigen“ in einem „wahren Zusammenhang“. (4.) Zur Realisierung solcher Geschichtslehre, zu ihrer möglichen Anwendung auf den Roman seines eigenen Lebens kommt Heinrich in der bereits besprochenen vierten Stufe seines Bildungswegs, als er auf das Buch seines Lebens trifft und aus der literarischen Selbstbegegnung mit seinem vergangenen und künftigen Leben lernen muß, daß er den Zusammenhang nicht nur schreibend, sondern erst einmal lebend herstellen muß, anstatt ihn nur nachträglich darzustellen. Wenn auch wir Heinrichs Stufengang seiner Bildung zum Dichter „wie auf einer Tafel“ überschauen, dann ergibt sich ein Diagramm, das ein Programm der Bewußtwerdung in Parallelen erkennen läßt. Eine vertikale Konkretisierung verläuft einerseits von der kognitiven Entscheidung für den Weg der inneren Betrachtung (1. Stufe) zur empirischen Erfahrung seiner Stellung in der Welt (2. Stufe) und

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andererseits von der theoretischen Geschichtslehre (3. Stufe) zur existentiellen Begegnung mit dem Buch seines eigenen Lebens (4. Stufe). Ebenso verläuft eine horizontale Objektivierung einerseits von der persönlichen Entscheidung für die historische Einsicht (1. Stufe) zur Belehrung über das allgemeine Geschichtsverständnis (3. Stufe) und andererseits vom Wachtraum (2. Stufe) zur Selbstbegegnung im Lebensbuch (4. Stufe). Das Schlüsselwort des sowohl auf der kognitiven als auch auf der empirischen Ebene vollzogenen Bildungsgangs ist der Zusammenhang der Dinge; die unmittelbare Anschauung der Begebenheiten „in ihrem lebendigen, mannigfaltigen Zusammenhange“ (1. Stufe, 208, Reclam 25) und die Einsicht in den „wahren Zusammenhang“ der Geschichte, gedacht als „geheime Verkettung des Ehemaligen und Künftigen“ (3. Stufe, 257 f., Reclam 83), die Heinrich im gelebten Buch seines Lebens wie der Dichter mit dem nach Heinrich benannten Roman leisten muß. Dieser formale Aspekt der nach den Regeln der Poetik ‚schicklichen‘ Zusammenstellung auch des Disparaten weist der romantischen Theorie der Geschichtsschreibung einen besonders wichtigen Platz in der ‚Kette‘ der Geschichtsbilder an. Die wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung des von Novalis betonten „Zusammenhangs“ und seiner programmatischen Verwandlung des Ereigniszusammenhangs in einen Darstellungszusammenhang kann gar nicht genug betont werden. Der ab 1882 an der Berliner Universität lehrende Philosoph Wilhelm Dilthey, der als Begründer der historischen Geisteswissenschaften gilt, hat in einem frühen Aufsatz über Novalis von 1865, den er später in seinen populären Sammelband Das Erlebnis und die Dichtung (1905) aufgenommen hat, aus der Geschichtslehre in Heinrich von Ofterdingen den Begriff des „metaphysischen Zusammenhangs“ abgeleitet: Leise und allmählich, mit tiefer Kunst, hat uns der Dichter in seine Welt geführt, eine Welt, in welcher gewissermaßen der metaphysische Zusammenhang des menschlichen Lebens zutage liegt. Denn dieser ist, richtig verstanden, der Sinn seiner ästhetischen Form. Er unterbricht nicht gelegentlich mit Träumen, Wundern und Abenteuern seine Geschichte, sondern er läßt den metaphysischen Zusammenhang derselben immer deutlicher hervortreten. Daraus folgt aber, daß hier die Verknüpfung nur aus der unbewußten Empfindung in die Klarheit äußerer Erscheinung erhoben wird. […] Wer als ein Dichter dürfte den metaphysischen Zusammenhang des Lebens zu deuten unternehmen?⁶⁶

 Wilhelm Dilthey, Novalis, in: Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung [1905], Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 141965, 187– 241, S. 234 f. Vgl. Hinrich C. Seeba, Zum Geist- und Strukturbegriff in der Literaturwissenschaft der zwanziger Jahre. Ein Beitrag zur Dilthey-Rezeption, in: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925, hrsg. v. Christoph König und Eberhard Lämmert, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 1993, 240 – 254.

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Während die Entwicklung von der Empfindung zur Bewußtwerdung den Prozeß der Objektivierung bestätigt, den wir an Heinrichs Bildungsgang beobachtet haben, unterstreicht vor allem die Betonung des formalen Charakters der „Verknüpfung“ noch einmal die von Novalis gemeinte Sinngebung der Geschichte durch die Dichter: der Zusammenhang des menschlichen Lebens ist „der Sinn seiner ästhetischen Form“. Hatte Novalis durch den Grafen von Hohenzollern sagen lassen, daß „ein Geschichtschreiber notwendig auch ein Dichter sein müßte“, weil „nur die Dichter“ die Kunst verstehen, „Begebenheiten schicklich zu verknüpfen“, geht Dilthey noch einen Schritt weiter, wenn er nur den Dichtern (und nicht den Geschichtsschreibern) die ästhetische Form der Verknüpfung zutraut, durch die der Sinn des metaphysischen Zusammenhangs erst verständlich wird. Das hermeneutische Projekt des Deutens und Verstehens von Geschichte, wie es das Ziel der sich gegen die Naturwissenschaften herausbildenden Geisteswissenschaften ist, gründet sich auf die Kunst der poetischen Verknüpfung der Begebenheiten, für die schon Dilthey als erster den erst in unserer Zeit, durch Strukturalismus und Poststrukturalismus, überreizten Begriff der Struktur eingeführt hat. Im Verlauf der Bemühungen um eine methodologische Begründung der Geisteswissenschaften hat Dilthey den ‚metaphysischen‘ Charakter des Zusammenhangs durch seine der Dichtung abgesehene Ordnung ersetzt und – entsprechend seinem lebenslangen Credo, daß die Dichtung das vorrangige „Organ des Weltverständnisses“ sei⁶⁷ – seine geisteswissenschaftliche Hermeneutik auf den Begriff des Strukturzusammenhangs gegründet, der anfänglich, subjektiv, die Gliederung des einzelnen „Seelenlebens“ und schließlich, objektiviert, die Gliederung der ganzen Geschichte bezeichnet. Im Anschluß an sein Verständnis von Heinrich von Ofterdingen, in dem er schon 1865 eine zukunftsträchtige „Realpsychologie“ vorgezeichnet sah, hat er die Methode der ‚verstehenden‘ historischen Geisteswissenschaften entwickelt, indem er sie gegen die von Wilhelm Wundt vertretene ‚erklärende‘ naturwissenschaftliche Psychologie abgrenzte. In der Begründung seiner ‚beschreibenden‘ (im Gegensatz zur ‚analytischen‘) Psychologie hat er für die Beschreibung der gegliederten Lebenseinheit den Begriff der Struktur eingeführt:

 .Wilhelm Dilthey, Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik [1887], in: Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. VI: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Zweite Hälfte, Stuttgart: Teubner / Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 41962, 103 – 241, S. 116.

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Ich bezeichne dieselbe als die Struktur des Seelenlebens. Und indem die beschreibende Psychologie diese Struktur erfaßt, erschließt sich ihr der Zusammenhang, welcher die psychischen Reihen zu einem Ganzen verknüpft. Dieses Ganze ist das Leben.⁶⁸

Dilthey hat den bei Novalis gefundenen Zusammenhang geradezu zum Gründungskonzept der Geisteswissenschaften erhoben: Die Geisteswissenschaften gehen aus von dem in der inneren Erfahrung gegebenen seelischen Zusammenhang. Darin, daß Zusammenhang im Seelenleben primär gegeben ist, besteht der Grundunterschied der psychologischen Erkenntnis vom Naturerkennen, und da liegt also auch die erste und fundamentale Eigentümlichkeit der Geisteswissenschaften.⁶⁹

Erst später, als Dilthey sich unter dem Einfluß von Edmund Husserl und in der Auseinandersetzung mit Hegel mit dem ‚objektiven Geist‘ beschäftigte und eine Kritik der historischen Vernunft zu schreiben begann, rückte die Geschichtsphilosophie zunehmend an die Stelle der Psychologie. Immer noch im Rahmen lebensphilosophischer Perspektiven („so ist Zusammenhang eine Kategorie, die aus dem Leben entspringt“)⁷⁰ dient ihm nun die Erfahrung des persönlichen Lebenszusammenhangs als Analogie für das historische Verstehen, dem sich Geschichte selbst als Strukturzusammenhang erschließt und dadurch Bedeutung erlangt: Jedes Leben hat einen eigenen Sinn. Er liegt in einem Bedeutungszusammenhang, in welchem jede erinnerbare Gegenwart einen Eigenwert besitzt, doch zugleich im Zusammenhang der Erinnerung eine Beziehung zu einem Sinn des Ganzen hat.⁷¹

Noch kurz vor seinem Tod (am 1. Oktober 1911) ist Dilthey in einem Vortrag, den er in der Preußischen Akademie über den Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften gehalten hat, auf das an Novalis entwickelte Grundthema seiner Philosophie zurückgekommen:

 Wilhelm Dilthey, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie [1894], in: Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. V: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte, Stuttgart: Teubner / Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 31961, 139 – 240, S. 200.  Ebd., S. 237.  Wilhelm Dilthey, Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft [Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften], in: Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. VII: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Stuttgart: Teubner / Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 21958, 189 – 291, S. 195.  Ebd., S. 199.

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Bezeichnet man als Sinn eines Lebensganzen den Zusammenhang, wie er sich aus der Bedeutung der Teile ergibt, dann spricht das dichterische Werk vermittels des freien Schaffens des Bedeutungszusammenhanges den Sinn des Lebens aus.⁷²

Es sieht so aus, als hätte Dilthey nicht nur das Programm des Bildungswegs von Heinrich von Ofterdingen übernommen, sondern auch dessen Entwicklung von der Psychologie der Empfindung zur Theorie des historischen Strukturzusammenhangs auch selbst nachvollzogen und damit ein klärendes Licht zurückgeworfen auf das Programm von Novalis. Es ist, als hätte Dilthey in dem Roman Heinrich von Ofterdingen sein eigenes Lebensbuch gefunden und Novalis damit eine wissenschaftsgeschichtlich überaus bedeutende Langzeitwirkung beschert, die noch heute große Teile des historischen Denkens prägt. So zeigt sich die „geheime Verkettung des Ehemaligen und Künftigen“, deren Erkenntnis und Erfahrung für Heinrichs Bildungsgang so wichtig war, auch in der Wirkungsgeschichte historischen Denkens vor und nach Novalis. Von Diltheys Begründung der Geisteswissenschaften aus gesehen, erweist sich Novalis als wirkungsvoller Vermittler historiographischer Begriffe wie „Reihe von Begebenheiten“ (Chladenius), „Zusammenhang der Begebenheiten“ (Chladenius), „Kette der Bildung“ (Herder), „historische Reihe“ (Wegelin), „Kette der Begebenheiten“ (Schiller) und „Zusammenstellung“ (Schlözer). Gerade im Zeitalter der digital humanities, in der es um neue Technologien und Methoden der Textverarbeitung, besonders um Techniken der Kommunikation geht, bleibt es eine große pädagogische Aufgabe, den kritischen Sinn für solche Fragestellungen zu schärfen. Wenn es im Rückgriff auf die Unterscheidung von ‚erklärenden‘ und ‚verstehenden‘ Wissenschaften gelingen sollte, zunächst Information durch Selektion in Wissen und dann Wissen durch Interpretation in kritisches Verständnis zu verwandeln, könnte Diltheys Aktualisierung von Novalis und seines Beitrags zur Ästhetisierung historischen Denkens noch immer eine wichtige Rolle bei der methodologischen Klärung von bis heute unerledigten Paradigmen spielen.

 Ebd., S. 240.

7 Heinrich von Kleist – Geschichte als Gerichtsspiel mit dem historischen Faktum Für Goethe hatte die abgestorbene Vergangenheit, die nicht für die Gegenwart produktiv gemacht wird, „etwas Gespenstermäßiges“,¹ das den Lebenden wie ein Nachtmahr oder ein Inkubus im Nacken sitzt. Der Albtraum unheimlicher Mächte, die als Untote die Lebenskraft zerstören, gehört als Angst vor rational nicht bewältigter Vergangenheit zur Schattenseite der unabgeschlossenen Aufklärung. Von dieser Angst zehrt die romantische Gattung der Schauermärchen und der Schicksalstragödien. Heinrich von Kleist, der für die poetische Bestimmung historischer Wahrheit ein besonders gewichtiges Wort mitzureden hat, hat dieser Angst-Gattung, die von Matthew Gregory Lewis’ The Monk (1796) über Ludwig Tiecks Karl von Berneck (1797) bis zu Zacharias Werners Vierundzwanzigstem Februar (1810) reicht, sein erstes Drama Die Familie Schroffenstein (1803) und die kleine Erzählung Das Bettelweib von Locarno (1810) gewidmet. In der vermeintlichen Schicksalstragödie Die Familie Schroffenstein wird die selbstverschuldete Verblendung der in einer Familienfehde tödlich verstrickten Schroffensteiner gerade nicht einem blinden Schicksal zugeschrieben. Das „Gespenst des Mißtrauens“ (V. 1340)² ist kein leibhaftiger Geist aus dem Dämonenreich, sondern als Kehrseite aufgeklärter Vernunft nur noch ein psychologisierter Topos aus der literarischen Konvention der Gespenstergeschichte. Gespenstisch ist die „Deuteln“ (V. 1146) genannte „schwarze Sucht der Seele“ (V. 515), übereilte Urteile zu fällen und sich jedes Vorurteil dadurch zu bestätigen, daß die bloße Vermutung zum Verdacht und dieser zur Gewißheit verabsolutiert wird. Damit entsteht eine gespenstische Gegenwelt von, wie man heute sagen würde, alternative facts, die mit ihrem auch politisch verhängnisvollen Wahrheitsanspruch die faktische Wahrheit als fake news diffamiert.³ Kleists dramatische Analyse der  Johann Wolfgang von Goethe, Dichtung und Wahrheit, 14. Buch, in: Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Erich Trunz, Bd. 10, Hamburg: Wegner 31963, S. 32.  Zitiert wird (mit Versangaben) nach Heinrich von Kleist, Die Familie Schroffenstein, in: Kleist, Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Bd. 1: Dramen 1802 – 1807, hrsg. v. Ilse-Marie Barth und Hinrich C. Seeba, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1991, 123 – 233. Zur Analyse des Dramas vgl. den Kommentar („Struktur und Gehalt“) von Hinrich C. Seeba, ebd., 581– 602. Vgl. Hinrich C. Seeba, Der Sündenfall des Verdachts. Identitätskrise und Sprachskepsis in Kleists „Familie Schroffenstein“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 44 (1970), 64– 100, wiederholt in: Hinrich C. Seeba, Abgründiger Klassiker der Moderne. Gesammelte Aufsätze zu Heinrich von Kleist, Bielefeld: Aisthesis 2012, 59 – 97.  Zum Ursprung der Formel vgl. hier die Einleitung, Anm. 5. https://doi.org/10.1515/9783110679878-009

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Verstrickung in die Lügenwelt entläßt den Menschen gerade nicht aus der Verantwortung für die – gern als Verhängnis und Schicksal anonymisierten – Folgen leichtfertigen Mißtrauens und gewissenloser Tatsachenverdrehung: „Drehen freilich / Läßt alles sich“ (V. 1171 f.), wenn Unvoreingenommenheit, die als „unumschränkt Vertrauen“ (V. 771) nur für die Liebenden gilt, durch Haß ersetzt wird und dieser jedes Zeichen als Beweis für die Richtigkeit des eigenen Vorurteils deutet. Kleists dramatische Hermeneutik zielt auf die Analyse des mißtrauischen, eigentlich verzweifelten Versuchs, die zunehmende Komplexität der modernen Welt auf einen schnell abgeurteilten Nenner zu bringen und mit der Illusion der Eindeutigkeit die immer bedrohlichere Vieldeutigkeit so zu bezwingen, daß der schleichende Kontrollverlust erträglicher scheint. Die verhängnisvollen, aber nicht einem anonymen Verhängnis geschuldeten Folgen überstürzter Vorurteile werden an der zwischen den Fronten stehenden Figur des Jeronimus demonstriert. Nur weil er im Streit der Vorurteile vermitteln will, wird er zum Gegner abgestempelt: Es gab uns Gott das seltne Glück, daß wir Der Feinde Schar leichtfaßlich, unzweideutig, Wie eine runde Zahl erkennen. Warwand, In diesem Worte liegt’s, wie Gift in einer Büchse. Und weils jetzt drängt, und eben nicht die Zeit, Zu mäckeln, ein zweideutig Körnchen Saft Mit Müh heraus zu klauben, nun so machen Wir’s kurz, und sagen, Du gehörst zu Warwand. (V. 127– 134)

Die Eile hat Methode. Wer sich nicht die Zeit nimmt, sich auf Zwischentöne einzulassen, und sich nicht die Mühe machen will, wie ein Wortklauber Zweideutigkeiten langwierig aufzudröseln, um schließlich doch nicht mehr als nur ein „Körnchen“ Wahrheit zu gewinnen, der kürzt die Wahrheitssuche ab, indem er sich auf seine angeblich gottgegebene Fähigkeit zur eindeutigen Identifizierung beruft. Er dekretiert einfach, was er für die Wahrheit halten möchte: „[N]un so machen / Wir’s kurz, und sagen: Du gehörst zu Warwand.“ Der Verdacht läßt keine andere Identität gelten als die vermutete Zugehörigkeit zu einer von vornherein verurteilten Gruppe. In der sprachlichen Verkürzung auf das binäre Freund-Feind-Schema wird die auf gewissenhafte Deutung angewiesene Mehrdeutigkeit der Welt um ihre lästige Ambivalenz gebracht. Die Sprache selbst erweist sich als potentielle Mordwaffe, mit deren Hilfe man mit seinem ein für allemal identifizierten Gegner kurzen Prozeß machen kann. Die Vereindeutigung kostet Jeronimus wirklich das Leben. Hier wirken als Voraussetzung historischen Verstehens – es geht um die Aufklärung eines früheren Mordfalls, durch den der uranfängliche Erbvertrag der

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beiden Familienzweige aufgehoben wurde – erkenntniskritische („erkennen“) und sprachphilosophische („sagen“) Aspekte zusammen, um den Prozeß zu zeigen, durch den Wahrheitsfindung gerade nicht befördert, sondern verfehlt wird. Das Verhängnis besteht nicht in einem blinden Fatum, dem die Menschen ausgeliefert wären, sondern in der Blindheit von Menschen, die ihren Besitzanspruch um jeden Preis, auch die Tötung der eigenen Erben, verteidigen und dafür einen unerbittlichen, von Mißtrauen, Verdacht, Vorurteil und Hass bestimmten Krieg führen. Außer in der Liebe und in der Ohnmacht bleiben die Menschen Gefangene ihres trügerischen Bewußtseins: „Wer kann das Unbegreifliche begreifen?“ (V. 642) Die Aufklärung des ausdrücklich mit dem Sündenfall verglichenen kriminellen Vor-Falls bleibt im Irrtum stecken, weil jeder den Grund des Unfriedens bei dem Gegner sucht, auf den er negativ fixiert ist, als wäre er sein verkehrtes Spiegelbild, mit dem er sich nicht identifizieren kann. Erst der Blick in den spiegelklaren Quell der Wahrheit verrät dem Mißtrauischen, daß der Teufel, den er immer nur im anderen sucht, er selber ist: „Rupert. Eines Teufels Antlitz sah / Mich aus der Welle an. – Santing. Es war Dein eignes.“ (V. 2229 f.) Der Spiegel spricht nur deshalb wahr, weil er nicht abbildet, was wahr scheint, sondern weil er den Schein als sein Gegenteil entlarvt. Unbegreiflich ist nicht die Wirklichkeit selbst, sondern der Wahrheitsanspruch der Aussage über sie: „[S]o sag’s mir einmal noch. Ist’s wahr, / Ist’s wirklich wahr?“ (V 637 f.) Weil Wahrheit das Ergebnis einer ‚Wahr-Sagung‘ ist, eine Frage ihrer Benennung, entwickelt ein falsches, womöglich gefälschtes Bild der Wirklichkeit seine eigene Wirkungsmacht, bis das Gerede der anderen das eigene (bessere) Wissen verdrängt: „Was weiß ich. Alle sagen’s.“ (V. 452) Seitdem auf der Folter „das eine Wort“ (V. 233) erpreßt wurde, das der Verdacht hören wollte, eskaliert die namentliche Identifizierung des vermeintlichen Mörders zu einer Verstrickung in die Tragödie sprachlichen Versehens: „Wenn ihr euch totschlagt, ist es ein Versehen.“ (V. 2705) Das Versehen ist das hier erstmals gebrauchte Schlüsselwort der sprachlich besetzten Erkenntniskrise bei Kleist, bis hin zu Penthesilea („So war es ein Versehen. Küsse, Bisse, / Das reimt sich“; V. 2981 f.) und zur Hermannschlacht („War’s ein Versehn, daß man nach Pfiffi mich, / Statt Iphikon geführt“; V. 1881 f.) In allen drei Fällen handelt es sich um schließlich tödliche Verwechslungen, die auf das Konto eines voreingenommenen und deshalb falschen Bewußtseins gehen. Auch in der vermeintlichen Gespenstergeschichte Das Bettelweib von Locarno geht es um das Scheitern von Wahrheitsfindung. Herauszufinden, was das „unbegreifliche, gespensterartige Geräusch“ (262)⁴ zu bedeuten hat, das die Bewoh-

 Zitiert wird im folgenden (unter Angabe der Seite) nach Heinrich von Kleist, Das Bettelweib

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ner und Besucher des Schlosses in seinen Bann schlägt, ist ein immer verzweifelteres, schließlich tödliches Bemühen. Weil es so scheint (und so klingt), als wiederhole sich der tödliche Gang des vom Marchese unwillig aufgescheuchten Bettelweibs durch das Schloßzimmer, nimmt der akustische Schein die imaginierte Gestalt des Bettelweibs an, als wäre sie eine Untote, die sich für ihre unmenschliche Behandlung rächt. Ein potentieller Käufer des verschuldeten, vielleicht sogar schuldbeladenen Spukschlosses berichtet als erster, „daß es in dem Zimmer spuke, indem etwas, das dem Blick unsichtbar gewesen, mit einem Geräusch, als ob es auf Stroh gelegen, im Zimmerwinkel aufgestanden, mit vernehmlichen Schritten, langsam und gebrechlich, quer über das Zimmer gegangen, und hinter dem Ofen, unter Stöhnen und Ächzen, niedergesunken sei“ (261 f.). Auch hier holt eine alternative Wirklichkeit des Als-ob, als irreale Wiederholung der wörtlich zitierten Ausgangshandlung, die Realität ein, um sich an deren Stelle zu setzen und den Wirklichkeitssinn der Betroffenen bis zum Wahnsinn zu verwirren. Das vermeintliche Gespenst, das sich unsichtbar in die nächtliche Phantasie seiner Zeugen verflüchtigt hat, ist ein körperloses, entkörpertes, immaterielles „Etwas“, das nur zu hören und doch mehr als ein Albtraum ist, so unfaßbar real, daß sogar der Haushund davor zurückschreckt. Um aus diesem unheilvollen Gemisch von Phantasie und Angst, Wahn und Wahnsinn herauszufinden, hat Kleist dem vordergründigen Spukgeschehen das erkenntniskritisch genau strukturierte Programm einer gegenläufigen Eskalation unterlegt. Je entschiedener die rationale Aufklärung betrieben wird, desto verzweifelter ist die emotionale Reaktion der an der gescheiterten Aufklärung Beteiligten. Um das „Gerücht“ zu entkräften, „daß es in dem Zimmer, zur Mitternachtsstunde, umgehe“ (262), beschließt der Marchese, „die Sache in der nächsten Nacht selbst zu untersuchen“ (ebd.). Dieser „Untersuchung“ (ebd.) im Alleingang, die in der ersten Nacht bestätigt, „daß es mit dem Spuk seine Richtigkeit habe“ (ebd.), folgt in der zweiten Nacht, als ihn seine Frau und ein Bedienter begleiten, der Versuch, „dem Vorfall irgend eine gleichgültige und zufällige Ursache, die sich entdecken lassen müsse, unterzuschieben“ (263). Die Untersuchung zielt ausdrücklich auf die Richtigkeit der Erkenntnis und die Erklärung der Ursache. Schließlich versuchen der Marchese und seine Frau noch einmal, diesmal in Begleitung ihres Haushunds, „der Sache auf den Grund zu kommen“ (ebd.). Als sie nun, auf dem Höhepunkt des rationalen Dreischritts von Untersuchung, Ursachenerklärung und Begründung, endgültig scheitern, des

von Locarno, in: Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 3: Erzählungen, Anekdoten, Gedichte, Schriften, hrsg. v. Klaus Müller-Salget, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1990, 261– 264.

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Spuks Herr zu werden, kippt das mühselig aufrechterhaltene Gleichgewicht der rationalen und der emotionalen Bewältigung. Zunächst „betreten“ (261) und „erschrocken, er wußte selbst nicht warum“ (262), als der Marchese erstmals von dem Spuk hört, dann „erschüttert“ (ebd.), als er selbst den Spuk erlebt, dann von „Entsetzen“ ergriffen, als sich der Spuk in Anwesenheit seiner Frau und des Bedienten wiederholt, und schließlich, als das Anfangsgeschehen nun auch für die Leser nachvollzogen wird, wahnsinnig geworden: Während die Marquise „mit sträubenden Haaren“ (263) aus dem Schloß flieht, kommt der Marchese, „gleich einem Rasenden“ (ebd.), „von Entsetzen überreizt“(ebd.) und „müde seines Lebens“ (ebd.), in dem Feuer um, das er an das Spukschloß gelegt hat. Das „unbegreifliche, gespensterartige Geräusch“ hat über den verzweifelten Versuch, der Sache auf den Grund zu kommen, fürchterlich gesiegt. Wollten Leser, die dem Spuk-Glauben nur von außen zusehen, ohne ihm wie der Marchese zu verfallen, eine rationale Erklärung für das Geschehen finden, läge es nahe, ein moralisches, womöglich sozial begründetes Schuld-SühneSchema zu konstruieren. Sie könnten die Schuld des Marchese in der Achtlosigkeit sehen, mit der er die – von seiner Frau immerhin wohltätig aufgenommene – Bettlerin von einer Zimmerecke in die andere verscheucht. Aber nachdem er ausdrücklich „zufällig“ ins Zimmer getreten war, um sein Jagdgewehr abzusetzen, hat er ausdrücklich nur „unwillig“ gehandelt, weder bösartig noch hochmütig. Dieser Anlaß steht in gar keinem rational nachvollziehbaren, moralisierbaren Verhältnis zu den dramatischen Folgen, die die narrative Struktur des Textes suggeriert. Kleists Erzähler hat, gewissermaßen als Warnung an die Leser, die zu schnellen Schlußfolgerungen neigen, schon den Marchese und seine Frau an einem solchen Versuch scheitern lassen, „dem Vorfall irgend eine gleichgültige und zufällige Ursache, die sich entdecken lassen müsse, unterzuschieben“. Weder gegenüber dem Bedienten noch für die Leser reicht die schlichte Kausalität, die die komplexer gewordene Wirklichkeit zu erklären versucht, noch aus; sie wird dem Vorfall nur untergeschoben, um ihn vordergründig verständlicher zu machen und die Ängste vor dem Unbegreiflichen zu besänftigen. Die Unverhältnismäßigkeit des Feuertods als scheinbare Folge eines unachtsamen Zufalls ist das eigentlich unheimliche, unbegreifliche Phänomen, das hier in der Konvention einer Gespenstergeschichte zur Diskussion gestellt wird. Die Außerkraftsetzung rationaler Erklärungsmodelle ist der eigentliche „Grund“, auf den die an die Leser delegierte Aufklärung der irrationalen Spukerfahrung kommen müßte. Die Konsequenzen, die sich aus einer erkenntniskritischen Konzeptionalisierung sowohl der Familie Schroffenstein als auch des Bettelweibs von Locarno ergeben, liegen auf der Hand: Die historiographische Konstruktion von Zusammenhängen läuft Gefahr, durch voreingenommene Vereindeutigung und schnell moralisierbare Kausalerklärung in die Irre, in den Wahnsinn und in

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den Tod zu führen. Deshalb sind beide Texte als Warnungen vor schematischer Vereinfachung zu lesen. Wer einer „Sache“, die beim juristisch vorgebildeten Kleist immer zugleich eine gerichtliche causa, einen im Prozeß zu verhandelnden Fall oder „Vorfall“ betrifft, „auf den Grund kommen“ will, gerät bei Kleist leicht in die existentielle Krise rationaler Unergründlichkeit. Kleists sprachbewußtes Spiel mit der Ambivalenz der Wörter rückt den in allen seinen Texten zentralen Versuch, „der Sache auf den Grund zu kommen“, wenn ihm die ‚Grundlegung‘ so wenig gelingt wie die ‚Begründung‘ eines Falls, an den ‚Abgrund‘. Kleist, der schon in einem frühen Brief bekannte, ihm sei zuweilen, „als ob ich meinem Abgrund entgegen gienge“,⁵ kannte die existentielle Gefährdung nur zu gut, die viele seiner Figuren kennzeichnet, wenn sie sich einer Herausforderung kognitiv nicht gewachsen fühlen und, weil das Wortspiel todernst gemeint ist, an der ‚Unergründlichkeit‘ ‚zugrundegehen‘.⁶ Das wichtigste biographische Zeugnis dieses Ungenügens ist der ganz persönlich erfahrene, wenn auch belehrend vorgetragene Erkenntniszweifel, den Kleist gegenüber Wilhelmine von Zenge am 22. März 1801 in seinem wohl wichtigsten Briefdokument bekannt hat: Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.⁷

Man muß sich diesen extrem verdichteten Satz auf der Zunge zergehen lassen, um zu verstehen, daß er den Schlüssel für das Verständnis von Kleists in weniger als zehn Jahren entwickeltem Œuvre enthält, so auch für die Familie Schroffenstein am Anfang und für das Bettelweib von Locarno gegen Ende des Jahrzehnts. Am auffallendsten (und in der umfangreichen Diskussion dieser Briefstelle merkwürdigerweise kaum beachtet) ist die Reduktion des Wahrheitsbegriffs, um dessen Definition es hier geht, auf seine Benennung: „das, was wir Wahrheit nennen“. Charakteristisch für Kleists ausgeprägtes Sprachbewußtsein, wird hier

 Kleist, Brief an Wilhelmine von Zenge, 21. Juli 1801, in: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 4: Briefe von und an Heinrich von Kleist, hrsg. v. Klaus Müller-Salget und Stefan Ormanns, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1997, S. 244.  Vgl. Hinrich C. Seeba, Abgrund der Metaphysik und Gründe der Poetik. Zu Kleists Wortspiel mit einem Krisenbild der Moderne, in: Seeba, Abgründiger Klassiker der Moderne. Gesammelte Aufsätze zu Heinrich von Kleist, Bielefeld: Aisthesis 2012, 285 – 304.  Kleist, Brief an Wilhelmine von Zenge, 22. März 1801, in: Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 4, S. 205. Vgl. Hinrich C. Seeba, „Wahrhaft Wahrheit“. Zur Inszenierung von Kleists sogenannter Kant-Krise, in: Seeba, Abgründiger Klassiker der Moderne. Gesammelte Aufsätze zu Heinrich von Kleist, Bielefeld: Aisthesis 2012, 141– 158.

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unterschieden zwischen dem Wort ‚Wahrheit‘ und dem, was es bezeichnet, semiotisch gesprochen: zwischen sprachlichem Zeichen und faktisch Bezeichnetem. Wir können also nicht „entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist“, ob Wort und gemeinte Sache wirklich deckungsgleich sind. Die nicht zufällig eingeschobene Emphase „wahrhaft“ (statt ‚wirklich‘, ‚tatsächlich‘ oder ‚eigentlich‘) hebt die semiotische Gleichung von Zeichen und Bezeichnetem auf die Ebene einer selbst zweifelhaften Wahrheitsaussage. Solche sprachtheoretische Reflexion auf die fragwürdig gewordene eigene Voraussetzung rückt die nur so genannte, also im üblichen Wortgebrauch ‚sogenannte‘, d. h. vermeintliche Wahrheit in den Verdacht des bloßen Scheins („oder ob es uns nur so scheint“), als könnte die Benennung, im eigentlichen Wortsinn der ‚Anspruch‘ auf Wahrheit, nur eine Selbsttäuschung und Illusion sein. Diese Verunsicherung hat Kleist, wie er selber sagt, „tief in seinem heiligsten Innern […] verwundet“.⁸ Die Wahrnehmung (auch dieses ein Wort der Erkenntnis mit Wahrheitsanspruch), daß „die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nicht mehr“ ist, daß sie, wie man Kleists typographischer Hervorhebung des alles entscheidenden Wörtlein ‚ist‘ entnehmen kann, ihre absolute Existenz verwirkt hat, hat ihn lebenslang so erschüttert, daß er noch am Tag seines Selbstmords in einem Abschiedsbrief mit seiner Namenszeichnung sogar das kalendarische Faktum seines Todestags anzweifelt: „HvK man sagt hier d 21t Nov; wir wissen aber nicht ob es wahr ist.“⁹ Unter existentiellem Vorzeichen ist noch die objektivste Tatsachenaussage, das für alle verbindliche und von allen fraglos akzeptierte Datum, keine unzweifelhafte Gegebenheit mehr, sondern eine bloße Behauptung, deren Wahrheitsgehalt unsicher ist. Bis an die Grenze des eigenen Todes hat die Verwirrung des Wahrheitsbegriffs ihre zerstörerische Kraft bewahrt. Die erkenntnistheoretisch motivierte und sprachlich vollzogene Verunsicherung könnte als Motto für das Verständnis sowohl der Familie Schroffenstein als auch des Bettelweibs von Locarno dienen: als dramatisches Scheitern verzweifelter, schließlich in Wahnsinn umschlagender Wahrheitsfindung. Wie die Schroffensteiner subjektiv an ihrer mißtrauischen Fixierung auf eindeutige Schuldzuweisung, scheitert der Marchese objektiv an dem Narrativ eines eindeutigen Ursache-Wirkung-Schemas. Die Erkenntnis der Wahrheit, die für erstere zu spät und für letzteren überhaupt nicht kommt, zielt auf die Vergeblichkeit kausaler Erklärung von komplexen Zusammenhängen. In beiden Fällen handelt es sich um die hermeneutische Warnung, in der Aufarbeitung eines womöglich

 Ebd.  Kleist, Brief an Ernst Friedrich Peguilhen, 21. November 1811, in: Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 4, S. 515.

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unbegreiflichen Geschehens solle man sich vor schematischer Reduktion hüten, weil mit der Vieldeutigkeit auch die Wahrheit verlorengeht. Wie modern der theoretische Kern von Kleists Erkenntniszweifel ist, zeigt sich daran, daß die Abweichung des Sprachzeichens ‚Wahrheit‘ von der zu bezeichnenden Wahrheit im Neologismus der différance wiederauflebte und der postmodernen Repräsentationstheorie eine konstruktivistische Rechtfertigung gab: Weil den Sprachzeichen die abgebildete Realität verlorengegangen ist, besteht die Wirklichkeit nur noch in der „presence of the absent“.¹⁰ Aber erst der historische Kontext des hier herausgestellten Schlüsselsatzes zur Existenzkrise der Wahrheitsfindung läßt den historiographischen, erkenntnistheoretischen und sprachphilosophischen Zusammenhang der Aussage erkennen. Diesen Kontext hier so lange zurückzuhalten, war in diesem Fall besonders notwendig, weil er selber zu einem schematischen Kleist-Verständnis geführt hat, das das Problem oft eher verdeckt als erhellt hat. Es geht um die sogenannte Kant-Krise. Kleist hat seinen Erkenntniszweifel mit „der neueren sogenannten Kantischen Philosophie“ begründet, also sogar die gemeinte Erkenntnistheorie hinter ihrer Benennung versteckt, so daß bis heute das Rätsel der Kleist-Forschung ungelöst ist, ob Kleist ‚wahrhaft‘ Kant selbst, zum Beispiel die Kritik der reinen Vernunft (1781) oder die Kritik der Urteilskraft (1790),¹¹ oder nur einen ‚sogenannten‘ Kantianer gelesen hat, zum Beispiel Carl Leonhard Reinholds Briefe über die Kantische Philosophie (1790 – 1792), die ausschnittweise schon 1786 im Teutschen Merkur seines Schwiegervaters Wieland veröffentlicht wurden, oder Reinholds Hauptwerk Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögen (1789),¹² oder gar Fichtes Bestimmung des Menschen (1800).¹³ Aber welcher Text auch immer der Auslöser der sogenannten Kant-Krise gewesen sein mag, für das damit assoziierte Sprachbild der ‚grünen Gläser‘, die die sprachliche Perspektivierung der Erkenntnis signalisieren, hat sich zumindest eine Parallele

 Vgl. Jacques Derrida, Différance, in: Bulletin de la Société française de philosophie 62/3 (JuliSeptember 1968), 73 – 10, auf Englisch wiederholt in: Derrida, Speech and Phenomena. And Other Essays on Husserl’s Theory of Signs, übers. v. David B. Allison, Evanston: Northwestern University Press 1973, 129 – 160.  So Ludwig Muth, Kleist und Kant. Versuch einer neuen Interpretation, Köln: Kölner Universitätsverlag 1954, S. 54.  So Ulrich Gall, Philosophie bei Heinrich von Kleist. Untersuchungen zu Herkunft und Bestimmung des philosophischen Gehalts seiner Schriften, Bonn: Bouvier 1977, S. 110 ff.  So Ernst Cassirer, Heinrich von Kleist und die Kantische Philosophie, Berlin: Reuther & Reichard 1919. Cassirer hat ebd., S. 12, aus Kleists Einschränkung „sogenannte Kantische Philosophie“ geschlossen, daß er nicht Kant selbst gelesen habe.

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finden lassen, mit der sich positivistische Quellenforscher zufrieden geben könnten.¹⁴ Bei Kleist heißt es in dem belehrenden Gleichnis, das die Denkaufgabe für die philosophisch weniger geschulte Verlobte erleichtern soll: Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urtheilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzuthut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande.

Der Verstand kann uns, so lautet das Exerzitium, wie die Augen täuschen, ohne daß wir uns allerdings dieser Täuschung, wenn wir sie denn überhaupt wahrnehmen, erwehren können. Während die grün getönten Gläser, die der britische Optiker James Ayscough um 1752 eingeführt hat, um Fehlsichtigkeit zu korrigieren, genauso wie die sprichwörtliche rosarote Brille, mit der sich Optimisten die Welt verschönern, abgesetzt werden können, gäbe es für uns, wenn wir alle „statt der Augen“ durch eingepflanzte grüne Linsen sehen müßten, keine Korrektur der Illusion. Wir könnten dann „nie“ entscheiden, ob die Welt ‚wahrhaft‘ grün ist, oder ob es uns nur so scheint. Dieses einleuchtende Augen-Gleichnis, das für Kleists Physiologisierung der Erkenntnis so eigen- und einzigartig erschien, hatte allerdings, wie der Kleist-Kurator Eberhard Siebert im Jahre 2000 herausgefunden hat,¹⁵ einen Vorläufer. 1799 hat der ehemalige Priester und Ethik-Professor an einem Münchner Lyceum, Sebastian Mutschelle, der unter Katholiken als eifriger Kantianer galt, in einem handlichen Schulwerk zur Kantischen Philosophie logisch und bis in den Wortlaut ganz ähnlich argumentiert: Wenn das Auge mit der Gelbsucht behaftet ist, so erscheint der Gegenstand nicht darum gelb, weil er für sich gelb ist, sondern weil ihn das Aug, nach seiner dermalig innern Beschaffenheit nicht anders, als gelb schauen kann: er trägt, so wie er in der Vorstellung vorkömmt, etwas an sich, das nicht von ihm, sondern vom anschauenden Auge herrührt,

 Zur Geschichte der grünen Gläser vgl. Michael Mandelartz, Von der Tugendlehre zur Lasterschule. Die sogenannte Kantkrise und Fichtes Wissenschaftslehre, in: Mandelartz, Goethe, Kleist. Literatur, Politik und Wissenschaft um 1800, Berlin: Erich Schmidt 2011, 53 – 75; sowie Mandelartz, Grüne Gläser. Quellentexte zu Kleists sog. Kantkrise. Zugleich eine kleine Motivgeschichte grüner Brillen, 2012/2018, http://www.kisc.meiji.ac.jp/~mmandel/recherche/kleistgruene-glaeser.html (abgerufen am 20. August 2019).  Eberhard Siebert, ‚Grüne Gläser‘ und ‚Gelbsucht‘. Eine neue Hypothese zu Kleists ‚Kantkrise‘, in: Beiträge zur Kleist-Forschung 14, hrsg. v. Wolfgang Barthel und Hans-Joachim Marquardt, Frankfurt (Oder): Kleist Museum 2000, 213 – 224.

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und man kann also von ihm nicht sagen, daß er so, wie er sich darstellt, wirklich sey, sondern nur, daß er dem Auge so erscheine.¹⁶

Wie bei Kant hat die Akzentverschiebung vom Vorstellungsinhalt zur Vorstellungsweise eine Verunsicherung dessen zur Folge, was Wahrheit – im Sinne Kleists – nur genannt werden kann. Falls Kleist den anders getönten Farbvergleich wirklich von Mutschelle übernommen hat, so nimmt die Perspektivierung, die bei Mutschelle zum negativen Krankheitsbild der Gelbsucht gehört, bei Kleist eher positiv die Funktion eines Implantats an, ohne das die Menschen, die nun alles grün gefärbt sehen, völlig blind wären. Schon vor Mutschelle und Kleist war die farbliche Eintrübung der Wahrnehmung ein Topos aufgeklärter Erkenntniskritik. Wir haben im Lessing-Kapitel gesehen, wie Lessing in seinem frühen Drama Der Freygeist (1749) die dogmatische Befangenheit eines Rationalisten verurteilt, weil er das Offensichtliche verkennt: „Er betrachtet alles durch das gefärbte Glas seiner vorgefaßten Meinungen, und alles oben hin; und würde wohl oft lieber seine Sinne verleugnen, als seinen Wahn aufgeben.“¹⁷ Wenn dem Rationalisten, der zu viel weiß und zu wenig sieht, nahegelegt wird, er solle dem unvoreingenommenen Augenschein mehr als dem gefärbten Glas des Vorurteils vertrauen, beginnt der Glaube der frühen Aufklärer an die Möglichkeit ‚ungefärbter‘ Wahrheit schon jene Brüche zu zeigen, die Kleist schließlich in die existentielle Krise gestürzt haben. Die farbbezogenen Erläuterungen der Subjektivierung von Erkenntnis widersprechen, in ihrer metaphorischen Bildlichkeit, einer Warnung Kants, daß man „nicht durch bei weitem unzulängliche Beispiele zu erläutern sich einfallen lasse, da nämlich etwa Farben, Geschmack etc. mit Recht nicht als Beschaffenheiten der Dinge, sondern blos als Veränderungen unseres Subjects, die sogar bei verschiedenen Menschen verschieden sein können, betrachtet werden“.¹⁸ Kant hat damit kritisch an die Geschichte des Perspektivismus angeknüpft, die in der deutschen Aufklärung seit Johann Martin Chladenius’ Theorie des Sehe-Punkts,

 Sebastian Mutschelle, Versuch einer solchen faßlichen Darstellung der Kantischen Philosophie, daß hieraus das Brauchbare und Wichtige derselben für die Welt einleuchten möge. Erstes Heft. Erste Hauptfrage: „Was kann ich wissen?“ (Selbstverlag, 1799), S. 15. Siebert (‚Grüne Gläser‘ und ‚Gelbsucht‘, S. 218) zitiert nach der gebundenen Ausgabe München: Joseph Lindauer 1802.  Gotthold Ephraim Lessing, Der Freigeist, in: Lessing, Werke, hrsg. v. Herbert G. Göpfert, Bd. 1, München: Hanser 1970, 473 – 555, S. 546 (V. 3).  Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Kants Werke. Akademie-Textausgabe, Bd. 4, Berlin: De Gruyter 1968, 1– 252, S. 35.

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dem Beginn der historischen Hermeneutik im Jahr 1742, eine so wichtige Rolle gespielt hat: Das, was in der Welt geschiehet, wird von verschiedenen Leuten auch auf verschiedene Art angesehen: daß, wenn viele eine Beschreibung von einer Geschichte machen solten, in ieder etwas besonderes würde angetroffen werden, wenn sie sich gleich insgesamt die Sache, so viel an ihnen gelegen, richtig vorgestellt hätten.¹⁹

Im vorkantischen Duktus hatte schon Chladenius unterschieden zwischen der „Geschichte an sich“ und der „Vorstellung von Geschichte“ und für die Auflösung der epistemologischen Unzugänglichkeit der ersteren die narrative Perspektive der zweiten angeboten: „Denn nicht die Geschichte an sich, sondern die Vorstellung der Geschichte, welche einem andern nicht einleuchten will, brauchet einer Auslegung.“²⁰ Wenn sich Geschichte (als Ereigniszusammenhang) erst durch ihre immer anders perspektivierten Geschichten (als Darstellungszusammenhang) erschließt, brauchen nur die Widersprüche der letzteren hermeneutisch aufgelöst zu werden. Kleist hat solche narrative Versprachlichung des Erkenntnisgegenstands nicht von Kant, der ihr entschiedener Gegner war, sondern von Herder übernehmen können, der mit seiner sprachphilosophischen Weiterführung der Erkenntnistheorie Kant provoziert und ihm sogar vorgehalten hat, er habe mit seiner Leugnung der kognitiven Macht metaphorischen Sprechens „den Strom außer dem Strom, ‚das Ding an sich‘, den wahren Wald, hinter den Bäumen“ gesucht.²¹ Die von Herder betonte Sprachlichkeit des Denkens („Was heißt Denken? Innerlich Sprechen“)²² hat schließlich schon den programmatischen Titel von Kleists Abhandlung Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden (1806) bestimmt. Kleist bietet darin schon im ersten Satz eine Propädeutik kommunikativer, sprachlich vermittelter Wahrheitsfindung an:

 Johann Martin Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünfftiger Reden und Schrifften [photomech. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1742], Düsseldorf: Stern-Verlag Janssen 1969, S. 185 (§ 308).  Ebd., S. 195 (§ 318).  Johann Gottfried Herder, Aus „Verstand und Erfahrung“. Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft [1799], in: Herder, Sprachphilosophie. Ausgewählte Schriften, hrsg. v. Erich Heintel, Hamburg: Meiner 1980, 181– 227, S. 183 f. Vgl. hier das Herder-Kapitel.  Ebd., S. 189.

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Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen.²³

Wir sollen dem anderen „allererst erzählen“, was uns durch den Kopf geht, nicht um den anderen, sondern um uns selbst zu belehren. Zur Aufklärung einer „verwickelten Streitsache“ – hier spricht wieder der „juridische Dichter“ (wie Fouqué Kleist genannt hat),²⁴ für den alles zu einer Gerichtssache wird, damit er deren Wahrheit auf den Grund kommt – sei es wichtig, ganz im Sinne von Chladenius „den Gesichtspunkt, aus welchem sie wohl zu beurteilen sein möchte“,²⁵ zu finden und dann der Logik der Sprache zu vertrauen: Aber weil ich doch irgendeine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, daß die Erkenntnis zu meinem Erstaunen mit der Periode fertig ist.²⁶

Die Rolle der Sprache bei der Bestimmung dessen, „was wir Wahrheit nennen“, kann wohl kaum deutlicher werden als durch diese Herder verpflichtete Aussage. Kleists komplizierte Hypotaxe vollzieht, was sie inhaltlich suggeriert: Die Logik der Syntax treibt, weil sie ihre eigene Dynamik entwickelt, zur Überraschung des Sprechers die intendierte Erkenntnis heraus, weil erst die sprachliche Darstellung den noch verworrenen Gedankengang zur „völligen Deutlichkeit“ zwingt. Hatten wir in der Familie Schroffenstein die negative Macht der Sprache kennengelernt, die nur dem Vorurteil des Mißtrauens dient, geht es hier um das unvoreingenommene Vertrauen in die positive Macht der Sprache, die die Wahrheit in der Vieldeutigkeit metaphorischen Sprechens findet. Damit ist zwar die grundsätzliche, mit Herder und gegen Kant entschiedene Sprachlichkeit der Wahrheitsfindung geklärt. Aber das Verhältnis von negativer und positiver Macht der Sprache verkompliziert sich noch einmal, wenn es um das schillernde Verhältnis von bildreicher Lügensprache und juristischer Wahrheits-

 Heinrich von Kleist, Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden, in: Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 3, 534– 540, S. 534.  Friedrich de la Motte-Fouqué, Ein Gespräch über die Dichtergabe H. v. Kleists [1816], in: Heinrich von Kleists Nachruhm. Eine Wirkungsgeschichte in Dokumenten, hrsg. v. Helmut Sembdner, Bremen: Carl Schünemann Verlag 1967, 212– 219, S. 217.  Kleist, Über die allmählige Verfertigung, S. 535.  Ebd.

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findung geht. Kleists Komödie Der zerbrochne Krug (1806) ist die historische Probe aufs Exempel, daß sich auch bei diesem Versuch, „[d]er Sache völlig auf den Grund zu kommen“ (V. 1251),²⁷ die Sprache der Wahrheit gegen die Verlogenheit ihrer Sprecher durchsetzt. Diese kognitive Funktion der Sprache erweist sich in der dramatischen Struktur einer Gerichtssache, der Kleists Figuren ja immer wieder „auf den Grund kommen“ wollen – hier allerdings gegen den als Komödie inszenierten Widerstand eines Richters, der alles daransetzt, die Wahrheit, die herauszufinden er berufen ist, zu unterdrücken, weil sie ihn selbst impliziert. Insofern ist Richter Adam, wie Wolfgang Schadewaldt betont hat, „die genaue Umkehrung des Ödipus, sein Gegenbild wie im Zerrspiegel“,²⁸ und entsprechend das ganze Gerichtsspiel die komische Variante der „tragischen Analysis“, die Schiller kaum zehn Jahre vorher am sophokleischen Oidipus Tyrannos (429 v.Chr.) entwickelt hat: Dazu kommt, daß das Geschehene, als unabänderlich, seiner Natur nach viel fürchterlicher ist, und die Furcht, daß etwas geschehen sein möchte, das Gemüt ganz anders affiziert, als die Furcht, daß etwas geschehen möchte. Der Ödipus ist gleichsam nur eine tragische Analysis. Alles ist schon da, und es wird nur herausgewickelt.²⁹

Was „schon geschehen“ ist und als furchterregende Vergangenheit einfach „schon da“ ist, erlaubt keinen aktionistischen Eingriff mehr, sondern nur noch einen interpretierenden, das „unabänderlich“ vorliegende Geschehen aufdeckenden, ‚analytischen‘ Rückblick. Der Analyse fällt es zu, den geheimnisvollen Knoten des Geschehens im eigentlichen Wortsinn ‚aufzulösen‘ und dafür, im Bild des Mythos, durch das Labyrinth der Geschichte den Ariadnefaden zu legen, der entlang einer Reihe miteinander verknüpfter Stationen ans Licht der Wahrheit führt. Aber weil es mit der Wahrheitsfindung eben doch nicht so einfach ist, wie die dramaturgische Aufgabenstellung suggeriert, haben Sophokles auf ‚tragische‘ und Kleist auf ‚komische‘ Weise den Richter selbst zum unbekannten bzw. zum bekannten Gegenstand der Untersuchung bestimmt. Das Ideal richterlicher Un-

 Zitiert wird nach Heinrich von Kleist, Der zerbrochne Krug, in: Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, 285 – 358. Zur Analyse des Dramas vgl. den Kommentar („Struktur und Gehalt“) von Hinrich C. Seeba, ebd., 794– 808.  Wolfgang Schadewaldt, Der „Zerbrochene Krug“ von Heinrich von Kleist und Sophokles’ „König Ödipus“, in: Schadewaldt, Hellas und Hesperien. Gesammelte Schriften zur Antike und zur neueren Literatur, unter Mitarbeit von Klaus Bartels hrsg. v. Ernst Zinn, Zürich/Stuttgart: Artemis 1960, 843 – 850, S. 845.  Friedrich Schiller, Brief an Goethe, 2. Oktober 1797, in: Goethe – Schiller, Briefwechsel, mit einem Nachwort von Emil Staiger, Frankfurt am Main: Fischer 1961, S. 247.

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voreingenommenheit wird dadurch ad absurdum geführt, daß beide Richter ihre eigene Verwicklung in den aufzudeckenden Kriminalfall entdecken und nun sich selbst zum Schuldigen erklären müssen: Während Ödipus erkennen muß, daß er seinen Vater getötet und seine Mutter geheiratet hat, kann Adam nicht länger verheimlichen, daß er den Krug zerbrochen und Eva ihrer Unschuld zu berauben wenigstens versucht hat. Während Oidipus alles unternimmt, ohne Rücksicht auf sich selbst die Wahrheit herauszufinden, so vernichtend sie für ihn auch sein wird, versucht sich Adam mit allen Tricks, mit Lügengeschichten und grotesken Schuldzuweisungen, aus der schnell durchschauten Verstrickung herauszuwinden. Weil an eine Objektivität richterlicher Untersuchung nicht zu denken ist, geht es in beiden Fällen bei der ‚Sache‘ des Gerichtsverfahrens letzten Endes um eine selbstreflexive Urteilsfindung, um die Perspektivität der Formel tua res agitur: Wo deine Sache verhandelt wird, geht es um dich selbst! Im konkreten Prozeß der Wahrheitsfindung gibt es keine abstrakte Trennung zwischen erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt mehr. Wenn denn, laut Kant, das Schöne der Gegenstand des interesselosen Wohlgefallens sein sollte,³⁰ so gilt das keinesfalls für das Wahre als Gegenstand der interessegeleiteten Erkenntnis.³¹ Wie der zu untersuchende Gegenstand ‚gefärbt‘ ist, hängt von den ‚grünen Gläsern‘ ab, durch die der engagierte, in den vorliegenden Fall verstrickte Richter die Gerichtssache betrachtet. Was ‚an sich‘ verschlungen, komplex und undurchsichtig ist, klärt sich im Lauf der schrittweisen Aufklärung auf, wenn es mit Hilfe des Erzählfadens ‚auf die Reihe gebracht‘ wird. Die monokausale Reihenbildung ist eins der vorzüglichen Mittel der Narrativierung von komplexen Handlungsverläufen. Die Rekonstruktion des Geschehenen in einer narrativen Zeitfolge gibt der literarischen Gerichtsform die Geltung eines analytischen Strukturmodells, in dem der Prozeß historischer Wahrheitsfindung selbst problematisiert wird. Für die selbstreflexive Form des Dramas Der zerbrochne Krug mußte sogar Goethe, der im allgemeinen kein Freund von Kleists poetischer Leistung war, zugeben, Kleist habe sein Talent „in dieser stationären Prozeßform

 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Kants Werke. Akademie-Textausgabe, Bd. 5, Berlin: De Gruyter 1968, 165 – 485, S. 221: „Geschmack ist das Beurtheilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen oder Mißfallen ohne alles Interesse. Der Gegenstand eines solchen Wohlgefallens heißt schön.“  Bekanntlich hat Jürgen Habermas den traditionellen Gegensatz von Erkenntnis und Interesse im Begriff des ‚Erkenntnisinteresses‘ überwunden; vgl. Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1968, S. 260: „Die Einbettung von Erkenntnisprozessen in Lebenszusammenhänge macht auf die Rolle erkenntnisleitender Interessen aufmerksam: ein Lebenszusammenhang ist ein Interessenzusammenhang.“

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auf das wunderbarste manifestiert“.³² Die Verlaufstruktur des juristischen Verfahrens mag ‚stationär‘ erscheinen, weil sich die Dynamik vom abgeschlossen und unabänderlich vorliegenden Geschehen auf dessen deutende Rekonstruktion verlagert hat. Während die von Leopold von Ranke geforderte Aufgabe der Historischen Schule, nur zu „zeigen, wie es eigentlich gewesen“, auf die richtige Wahrnehmung und sachgerechte Darstellung des Geschehens zielt, ist die damit implizierte Objektivität nicht mehr gewährleistet, wenn die Historiker – wie die Richter Oidipus und Adam – entdecken, daß sie in die Wahrheit, die sie herausfinden sollen, selbst verwickelt sind. So wird die analytische – und von Sigmund Freud auf den Ödipus-Komplex zugespitzte psychoanalytische – Aufdeckung zur existentiellen Selbstentdeckung. Wenn Geschichte erinnerte und nach den Regeln selektiver Erinnerung subjektiv gefärbte Vergangenheit ist, kann es für Hayden Whites Theorie des historiographischen emplotment kaum eine bessere Illustration als die Befangenheit von Richtern geben, die einerseits an dem Anspruch auf historische Wahrheit festhalten und andererseits, vor allem wenn sie wie Richter Adam von ihrem eigenen Anteil abzulenken versuchen, sich den Mitteln poetischer Darstellung verschreiben: The events are made into a story by the suppression or subordination of certain of them and the highlighting of others, by characterization, motific repetition, variation of tone and point of views, alternative descriptive strategies, and the like – in short, all of the techniques that we would normally expect to find in the emplotment of a novel or a play.³³

Akzentuierung, Unterdrückung der einen und Betonung anderer Aspekte der Geschichte, Charakterisierung, Motivwiederholung, Differenzierung in Ton und Standort der Darstellung – all das sind, laut Hayden White, bewährte Techniken der Handlungsgestaltung in Roman und Drama, die auch in der historischen Wahrheitsfindung zur Geltung kommen. Insofern sind Historiker mit den von Sophokles und Kleist erfundenen Richtern ihrer selbst zu vergleichen, die an der Färbung und Strukturierung des Sachverhalts, den sie klären sollen, entscheidend mitwirken.

 Johann Wolfgang von Goethe, Brief an Adam Müller, 28. August 1807, in: Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen, hrsg. v. Helmut Sembdner, München: dtv 1969, S. 134.  Hayden White, The Historical Text as Literary Artifact, in: The Writing of History. Literary Form and Historical Understanding, hrsg. v. Robert H. Canary und Henry Kozicki, Madison/ London: The University of Wisconsin Press 1978, 41– 62, S. 47.

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Bei so grundsätzlicher Perspektivierung historischer Erkenntnis, die in der analytischen Struktur des Gerichtspiels angelegt ist, muß es überraschen, wenn Kleist in seiner (ungedruckten) Vorrede zu Der zerbrochne Krug ein „historisches Faktum“ erwähnt, das seinem Drama „zum Grunde“ liegen soll: Diesem Lustspiel liegt wahrscheinlich ein historisches Factum, worüber ich jedoch keine nähere Auskunft habe auffinden können, zum Grunde. Ich nahm die Veranlassung dazu aus einem Kupferstich, den ich vor mehreren Jahren in der Schweiz sah.³⁴

Allerdings ist von diesem historischen Faktum mit so vielen Einschränkungen die Rede, daß die Faktizität der unsicheren ‚Grundlegung‘ von vornherein zweifelhaft ist. Das behauptete Faktum ist nur „wahrscheinlich“, läßt sich nicht genauer bestimmen und ist letzten Endes nicht mehr als ein schon vor einigen Jahren gesehener und sicher nur noch ungenau erinnerter Kupferstich, also allenfalls eine fiktionale Abbildung einer historischen Szene, die selber keine reale Begebenheit, sondern nur ein gemaltes Original ungewisser Herkunft war: „Das Original war, wenn ich nicht irre, von einem niederländischen Meister.“³⁵ Tatsächlich – das ist die Ironie so konzentriert prätendierter Tatsächlichkeit – hat Kleist sich geirrt. Damit schickt Kleist auch seine Leser auf eine Spurensuche, die mit der seines Richters Adam zu vergleichen ist. Kleist hat das Sujet, wie er es verstand, mit dessen bildlicher Darstellung, die ihm als Anlaß diente, verwechselt und das Bild der Geschichte für die Geschichte selbst genommen, weil dieser – das ist das erkennbare Prinzip des Irrtums – nie anders beizukommen ist als durch die Analyse der Bilder, die sich ihre Interpreten davon machen. So wiederholt sich im Rückblick auf die Entstehungsgeschichte des Dramas die Verunsicherung des historischen Tatsachenglaubens, die der dramatische Gegenstand des Gerichtsspiels ist. Der Kupferstich, an den sich Kleist erinnert, stammte von Le Veau und war von einem Gemälde von Debucourt inspiriert, also durchaus nicht „nach dem Teniers gearbeitet“, wie Kleist gegenüber Fouqué behauptet hat, weil der niederländische Stoff in Kleists Vorstellung auch nach einer niederländischen Darstellung verlangte. Auch wenn Debucourt, anders als der flämische Genremaler David Teniers, 1781 als „Genremaler im flämischen Stil“ in die Akademie aufgenommen wurde, macht das den Franzosen noch nicht zu dem niederländischen Meister, den sich Kleist für die Bildvorlage seines Dorfmilieus gewünscht hätte.

 Heinrich von Kleist, Vorrede (Schluß der Handschrift), in: Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, S. 259.  Ebd.

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Die historische Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte basiert auf einer autobiographischen Aussage von Kleists Berner Freund Heinrich Zschokke, Eine Selbstschau (1842). Danach kam es unter den drei 1802 in Bern versammelten Freunden –Kleist, Wielands Sohn Ludwig Wieland und Zschokke – zu einem „poetischen Wettkampf“: In meinem Zimmer hing ein französischer Kupferstich, „la cruche cassée“. In den Figuren desselben glaubten wir ein trauriges Liebespärchen, eine keifende Mutter mit einem zerbrochenen Majolika-Kruge, und einen großnasigen Richter zu erkennen. Für Wieland sollte dies Aufgabe zu einer Satyre, für Kleist zu einem Lustspiele, für mich zu einer Erzählung werden. – Kleist’s „zerbrochner Krug“ hat den Preis davon getragen.³⁶

Dieselbe (fiktionale, nicht ‚historische‘) Szene, in der die drei Freunde eine Gerichtsverhandlung zu erkennen nur „glaubten“, sollte in drei verschiedenen literarischen Gattungen eine Geschichte aus drei verschiedenen Perspektiven entstehen lassen, die miteinander konkurrieren. Diese vierzig Jahre nach dem Vorfall niedergeschriebene Entstehungsgeschichte ist bestens geeignet, den von Johann Martin Chladenius genau hundert Jahre zuvor, in seiner Einleitung zur richtigen Auslegung vernünfftiger Reden und Schrifften (1742), zum erstenmal konzipierten historischen Perspektivismus zu illustrieren: Der jeweilige „Sehe-Punkt“ bestimmt die Färbung der Geschichte (hier in beiderlei Wortsinn von history und story). Jeder der drei, so war die Erwartung, würde eine eigene Geschichte erinnern, entwickeln und interpretieren, wobei einerseits das „Original“ und mit ihm das „historische Faktum“ hinter seinen Ab- und Nachbildungen notwendigerweise verloren gehen würde und andererseits Widersprüche, die sich zwischen den konkurrierenden Fassungen ergeben würden, nur durch Interpretation behoben werden könnten. Zu dieser Abgleichung ist es nicht gekommen, weil von vornherein Kleist „den Preis davon getragen“ hat. Der von Kleist wie von Zschokke erinnerte Kupferstich stammte in der Tat von Jean-Jacques Le Veau, Le juge ou la cruche cassée, und war einem 1781 im Pariser Salon ausgestellten Gemälde von Philibert-Louis Debucourt nachgebildet, dessen Titel Le juge de village schon an den ‚Dorfrichter‘ Adam denken läßt. In diesen beiden Bildfassungen trägt nicht, wie sich Kleist und Zschokke fälschlich erinnerten, die Mutter, sondern die Tochter das corpus delicti, den zerbrochenen Krug, am Arm – eine deutliche Parallele zu einem berühmt gewordenen Gemälde von Jean-Baptiste Greuze, La cruche cassée (1777), dem amourös verspielten RokokoBild einer verführten Unschuld, das das Sprichwort „Der Krug geht so lange zum Wasser, bis er bricht“ illustriert. Das erotische Sujets war seinerzeit so populär,

 Heinrich Zschokke, Eine Selbstschau, Aarau: Heinrich Remigius Sauerländer 1842, S. 204 f.

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daß Christian Felix Weiße, einer der wichtigeren Dichter der Aufklärung, ein Dramolett unter dem Titel des Sprichworts veröffentlicht hat: Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er zerbricht, oder der Amtmann (1786).³⁷ Mit der sprichwörtlichen Anspielung auf den gefürchteten (oder sogar schon vollzogenen) Fehltritt ist der eigentliche, im zerbrochenen Krug nur symbolisierte Gegenstand der Gerichtsverhandlung bezeichnet, der Vor-Fall, für den ausgerechnet ein Dorfrichter namens Adam den Schwerenöter identifizieren muß, den Ur-„Sündenbock“ (V. 1538), den sein Name nahelegt. Kleists dramatische Ambition reicht weit zurück hinter den frivolen Topos des späten 18. Jahrhunderts. Als Ernst Bloch den Ursprung des Detektivromans auf den adamitischen Sünden-Fall zurückführte und der ganzen Weltgeschichte den „Verdacht eines verdammten Geheimnisses ante rem, ante lucem, ante historiam, eines Casus ante mundum“ unterlegte, den die poetische „Kriminal-Mythologie“ von der Genesis über Oidipus Tyrannos bis zu Kleists Gerichtskomödie ins Bild des Sündenfalls gehoben hat,³⁸ konnte der als casus Adam verhandelte ‚Fall‘ des Dorfrichters Adam als komisches Beispiel eines unfreiwilligen Aufklärers gelten, der mit seiner weltgeschichtlichen Rolle ausdrücklich konfrontiert wird. Wenn Kleists fiktiver Spielort nur „ein kleiner Teil der Welt“ (V. 313) ist, also mikrokosmisch als Teil das Ganze symbolisiert, erweitert sich das niederländische Dorf zum Ort der im Paradies beginnenden Weltgeschichte. Die pikante Genreszene erweist sich als Weltgericht. Da es gleich in der ersten Szene ausdrücklich heißt, Adam stamme „von einem lockern Ältervater, / Der so beim Anbeginn der Dinge fiel, / Und wegen seines Falls berühmt geworden“ (V. 9 – 11), steht die exemplarische Bedeutung, die die dörfliche Weltbühne für die ganze Menschheitsgeschichte nach dem Sündenfall hat, von vornherein außer Frage. Das einleitende Wortspiel mit dem „Fall“, das sowohl den juristischen casus als auch den theologischen lapsus meint, um beide im erlogenen Sturz aus dem

 Christian Felix Weiße, Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er zerbricht; oder der Amtmann. Ein Schauspiel in Einem Aufzuge (1786). Neuausgabe mit einem Nachwort hrsg. von Alexander Košenina, Hannover: Wehrhahn 2013. Košenina hat in einem Aufsatz (Verlorene oder verteidigte Unschuld. Neue bildliche und textliche Variante zu Greuzes „La cruche cassée“, in: Heilbronner Kleist-Blätter 26 [2014], 35 – 45) auf eine weitere mögliche Vorlage hingewiesen, einen Kupferstich, The Pitcher broken, der im April 1778 erschienen ist in The Lady’s Magazine or Entertaining Companion for the Fair Sex, appropriated solely to their Use and Amusement. In der Geschichte, die das Kupfer begleitet, wird dem sprichwörtlichen Krug eine geradezu seismographische Funktion als „touchstone of fidelity“ zugeschrieben: Als Saccharissa ihrem Freier Mercutio Wasser reichen will, zerbricht der Krug, ihr zur Warnung vor seinen unehrlichen Absichten, in tausend Stücke.  Ernst Bloch, Philosophische Ansicht des Detektivromans, in: Bloch, Verfremdungen I, Frankfurt am Main: Bibliothek Suhrkamp 1962, 37– 63, S. 55.

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Bett zu konkretisieren, ist so unverkennbar, schon die erste Seite des Textes ein so brillantes Beispiel absichtlicher Verwechslung von metaphorischer und wörtlicher Redeweise, daß die Zuschauer und die Leser, mit einem rätselhaften Geschehen konfrontiert, sofort die Ohren spitzen müssen für die Doppelbödigkeit der Sprache, die sie erwartet. Licht Ei, was zum Henker, sagt, Gevatter Adam! Was ist mit Euch geschehn? Wie seht ihr aus? Adam Ja, seht. Zum Straucheln braucht’s doch nichts, als Füße. Auf diesem glatten Boden, ist ein Strauch hier? Gestrauchelt bin ich hier; denn jeder trägt Den leid’gen Stein zum Anstoß in sich selbst. Licht Nein, sagt mir, Freund! Den Stein trüg’ jeglicher –? Adam Ja, in sich selbst! Licht Verflucht das! Adam Was beliebt? Licht Ihr stammt von einem lockern Ältervater, Der so beim Anbeginn der Dinge fiel, Und wegen seines Falls berühmt geworden; Ihr seid doch nicht –? Adam Nun? Licht Gleichfalls –? Adam Ob ich –? Ich glaube –? Hier bin ich hingefallen, sag ich euch. Licht Unbildlich hingeschlagen? Adam Ja, unbildlich. Es mag ein schlechtes Bild gewesen sein. Licht Wann trug sich die Begebenheit denn zu? (V. 1– 15)

Die Klärung des Sachverhalts erfolgt, wie es Kleists (im selben Jahr wie Der zerbrochne Krug veröffentlichter) Sprachaufsatz nahelegt, über das kommunikative Sprechen und gewinnt Tempo durch die immer schnellere Rollenverteilung auf einzelne Verse. Erst die elliptisch eingeworfenen Zweifel und Nachfragen des Gegenübers treiben den Erkenntnisprozeß voran. In dieser Stichomythie wird der sprachliche Schlagabtausch immer kürzer, bis im Staccato des Wortwechsels das Schlüsselwort „gleichfalls“ in der Mitte einer auf vier Sprechteile aufgelösten Zeile erscheint. Zwischen der historischen Eingangsfrage „Was ist mit euch geschehn?“ und der historischen Datierung des Geschehens „Wann trug sich die Begebenheit

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denn zu?“ evoziert das Schlüsselwort die in Adams Namen vorgegebene Analogie des biblisch vorgeschichtlichen und des jetzigen Geschehens. Bis zum Grad der Übereinstimmung vergleichbar sind die beiden Fälle, weil sie nicht nur ‚ebenso‘, sondern ausdrücklich „gleichfalls“ das gleiche und vielleicht sogar dasselbe Geschehen bezeichnen. Weil es nicht um die gleiche „Begebenheit“, sondern wirklich um den gleichen ‚Fall‘ geht, kann der andere, nur mitgedachte Fall, der wortreich umspielte Sündenfall, als bekannter Bezugspunkt vorausgesetzt werden. Von Anfang an ist der Gerichtsschreiber, der eigentlich unvoreingenommen die zu verhandelnde Geschichte nur protokollieren sollte, der interessierte Fragesteller und der Richter, der bald nur widerstrebend Gerichtstag halten und dazu auch Verhöre abhalten soll, der Verhörte: „Was ist mit Euch geschehn?“ Das ist die von Kleist in ganz verschiedenen Texten immer wieder gestellte Grundfrage der analytischen Kriminalgattung, die Aufforderung zur Aufklärung eines schon am Anfang der Handlung abgeschlossen zurückliegenden Geschehens, das sich jedoch als zu gegenwärtig erweisen wird, um als Geschichte schon erledigt zu sein. Die Frage ist konkreter als in den anderen Fällen, wo bei Kleist jemand neugierig fragt, was denn geschehen sei. Die Frage ist schon so auf den Betroffenen zugespitzt, daß seine fragwürdige Beteiligung an dem Geschehen ins Sprachspiel kommt („Was ist mit euch geschehn?“) und den physischen Anlaß der Neugierde gleich mitliefert: „Wie seht Ihr aus?“ In der zweiten Frage schwingt schon die Antwort auf die erste Frage mit. Im biblischen Sinn von Anfang an ‚gezeichnet‘ und an seinen Blessuren zu erkennen ist der sündige, von der Erbsünde gezeichnete Mensch, bevor überhaupt bekannt wird, daß eine Sünde begangen sein könnte. In völliger Umkehrung der gewohnten Reihenfolge geht das Zeichen dem Bezeichneten voraus. Die wörtlich genommene Aufklärung, initiiert von einem, der nicht umsonst ‚Licht‘ heißt, weil er das Dunkel des Geschehens ausleuchtet, beginnt mit einem Indizienbeweis, der von einem gegenwärtigen Zeichen ausgehend auf etwas Vergangenes zurückverweist, das erst noch bezeichnet werden muß. Adam selbst bringt als Ursache der Verletzung ein moralisch markiertes „Straucheln“ ins Spiel und verstärkt damit den Verdacht eines Fehltritts, gerade indem er ihn, semiotisch gesprochen, als ‚signifier without signified‘ zu entkräften versucht: „ist ein Strauch hier?“ Die Wortbedeutung von ‚straucheln‘ ist die moralische Abstraktion eines Stolperns, für das es keines wörtlich genommenen Strauchs mehr bedarf. Damit lenkt Adam selbst den Blick auf einen Fehltritt, der keinen äußeren Anlaß braucht, weil er innerlich bereits vollzogen ist: „denn jeder trägt / Den leid’gen Stein zum Anstoß in sich selbst.“ Wenn jeder von uns ‚strauchelt‘, über sich selbst stolpert und sich dabei etwas zuschulden kommen läßt, weil er, wie Licht in seiner halben, scheinbar erstaunten Rückfrage („Den Stein trüg jeglicher –?“) bestätigt, gar nicht

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anders kann, repräsentiert Adam eine Urschuld, die er mit seinem biblischen Namensvetter teilt, noch bevor ihn Licht auf diese nicht nur namentliche Verwandtschaft anspricht: „Ihr stammt von einem lockern Ältervater, / Der so beim Anbeginn der Dinge fiel, / Und wegen seines Falls berühmt geworden.“ Damit ist die Analogie vollzogen, bevor das Wörtchen „gleichfalls“ den einen Fall, Adams angeblichen Sturz aus dem Bett, mit dem anderen, als Sündenfall berühmt gewordenen Fall gleichsetzt. Das hier zu verhandelnde Geschehen reicht, ungeachtet aller angeblichen Gründe für die vorliegende Verletzung, zurück bis zum „Anbeginn der Dinge“, bis zum Anfang der Welt, als das Kainsmal zum unwiderruflichen Zeichen der Sündhaftigkeit des Menschen wurde. Mehr Geschichte als die mit der Vertreibung aus dem Paradies einsetzende Geschichte der Menschheit gibt es nicht. Offenbar sollen die so auf die Analogie eingestimmten Zuschauer die gegenwärtige Geschichte in ihrer ungeheuren Tragweite verstehen und in der scheinbaren Einmaligkeit des Bühnengeschehens („Wann trug sich die Begebenheit denn zu?“) die exemplarische Voraussetzung ihrer eigenen Geschichte erkennen. Auf knappstem Raum, in nur 15 Versen, hat Kleist in einem didaktischen Sprachvorgang die Exposition des ganzen Dramas – und seiner beabsichtigten Wirkung auf die Zuschauer – geschafft. Das implizite Motto tua res agitur gilt nicht nur für den Richter Adam, sondern für alle Menschen, die er repräsentiert. Weil der Schuldige von vornherein feststeht, verlagert sich die Dramatik auf die Bauernschläue, mit der sich der in die Enge getriebene Dorfrichter aus der Schlinge zu ziehen versucht. Wahrheitsfindung erfolgt hinter dem durchsichtigen Schleier immer komischer wirkender Wahrheitsverhinderung. Weil von vornherein, sogar seit „Anbeginn der Dinge“, bekannt ist, was „geschehn“ ist, richtet sich das Augenmerk weniger auf die Geschichte als auf die Entlarvung ihrer verlogenen Darstellung. Damit zielt das scheinbar harmlose Lustspiel vom schuldigen Dorfrichter ins geschichtstheoretische Zentrum der Problematisierung von historischer Wahrheit. Umso bedeutungsvoller wird Kleists Hinweis auf das „historische Factum“, das dem Lustspiel „zum Grunde“ liegen soll. Was sich entstehungsgeschichtlich als falsche Herleitung von einem Bild erwiesen hat, kehrt innerhalb des Dramas als Parabel bildlicher Wahrheitsfindung zurück. Während sich der strafrechtliche Verdacht einer Verletzung von Eves Unschuld in den Vordergrund schiebt, beharrt Frau Marthe mit ihrer zivilrechtlichen Klage darauf, den ‚Krugzerbrecher‘ zu identifizieren und, wie es sich für einen ‚Verbrecher‘ gehört, seiner gerechten Strafe zuzuführen. Um aber den Wert des zerbrochenen Kruges zu ermessen, muß das Gericht, so meint die Klägerin, verstehen lernen, was es mit dem Krug auf sich hat. Ihre Belehrung zielt gerade nicht auf die symbolisch-frivole Bedeutung, die Kleists Bildvorlagen suggerieren, sondern auf die historische Bedeutung des

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Kruges, sowohl auf die Geschichte, die auf ihm abgebildet war, als auch auf die Geschichte, die er selbst erlitten hat. Ausgerechnet eine Bäuerin, die sich weder täuschen noch einschüchtern läßt, erteilt dem Hohen Gericht eine zweiteilige Lektion in historischer Wahrnehmung, basierend auf dem aufgeklärten Einverständnis, daß das, was wir Geschichte nennen, nichts anderes ist als die sprachliche Rekonstruktion eines Bildes von Geschichte: Frau Marthe Seht ihr den Krug, ihr wertgeschätzten Herren? Seht ihr den Krug? Adam O ja, wir sehen ihn. Frau Marthe Nichts seht ihr, mit Verlaub, die Scherben seht ihr; Der Krüge schönster ist entzwei geschlagen. Hier grade auf dem Loch, wo jetzo nichts, Sind die gesamten niederländischen Provinzen Dem span’schen Philipp übergeben worden. (V. 643 – 650)

Die geschichtstheoretische Bedeutung dieser trotzigen Zurechtweisung ist von den Kleist-Interpreten lange übersehen worden. Die Rede vom historischen Faktum suggeriert – das weiß Frau Marthe besser als viele positivistische Historiker – nur die Illusion einer Faktizität, weil selbst von dem Bild, das sich vergangene Zeugen von einem Geschehen gemacht haben, nur Scherben erhalten sind, die zu einem Gesamtbild wieder zusammengesetzt werden müssen. Nach dem Hinweis von Helmut Arntzen, daß der zerbrochene Krug „auf das Zerbrechen der Geschichte deutet, die er im Bilde darstellte und die er selbst repräsentierte“,³⁹ ist dem hier verfolgten Gedankengang⁴⁰ als einziger Peter Michelsen nahegekommen, als er betonte, Frau Marthe berühre „die Problematik alles Historischen überhaupt: Geschichte ist durch nichts anderes in das Begreifen (mehr als in den Begriff) zu heben als durch Erzählen dessen, was war, durch Reproduzieren eines nicht mehr Gegenwärtigen mittels sprachlicher Zei-

 Helmut Arntzen, Die ernste Komödie. Das deutsche Lustspiel von Lessing bis Kleist, München: Nymphenburger 1968, S. 189.  Vgl. Hinrich C. Seeba, Overdragt der Nederlanden in’t Jaar 1555: Das historische Faktum und das Loch im Bild der Geschichte bei Kleist, in: Barocker Lust-Spiegel. Studien zur Literatur des Barock. Festschrift für Blake Lee Spahr, hrsg. v. Martin Bircher, Jörg-Ulrich Fechner, Gerd Hillen, Amsterdam: Rodopi 1984 (= Chloe. Beihefte zum Daphnis 3), 409 – 443.

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chen“.⁴¹ Der diskurstheoretische Rückgriff auf the presence of the absent könnte kaum einen anschaulicheren Beweis als Frau Marthes Krugbeschreibung finden. Die Lektion, die Frau Marthe erteilt, zielt über die historische Gründungsszene der Niederlande weit hinaus; am dargestellten Geschehen exemplifiziert sie Prinzipien historischer Darstellung. In einem ersten Exkurs zur auf dem Krug dargestellten Geschichte problematisiert Frau Marthe das ganzheitliche Sehen. Wer irrtümlich noch ein Ganzes zu sehen gewohnt ist, wo nur Teile übrig sind, kann erst auf den zweiten Blick erkennen, daß es eigentlich „nichts“ zu sehen gibt. Die semiotische Verkürzung der Wirklichkeit ist noch einmal verkürzt worden. Verschwunden ist sogar das Zeichen selbst, das sonst auf ein Bezeichnetes nur verweisen und die dargestellte historische Szene nur repräsentieren würde, ohne sie tatsächlich zu vergegenwärtigen. Übrig geblieben ist nur „ein Loch, wo jetzo nichts“, wo es nichts mehr zu sehen gibt. Es bleibt allein der Phantasie überlassen, ausdrücklich ex nihilo, ohne ausreichenden visuellen Anhalt, eine Erinnerung zurückzurufen, die man sich „auf“ dem Loch abgebildet denken soll, als handelte es sich um eine zu bemalende Leinwand. Mit malerischer Phantasie fährt Frau Marthe fort in der nur noch sprachlichen Rekonstruktion der zerscherbten historischen Darstellung: Hier im Ornat stand Kaiser Carl der fünfte: Von dem seht ihr nur noch die Beine stehn. Hier kniete Philipp, und empfing die Krone: Der liegt im Topf, bis auf den Hinterteil, Und auch noch der hat einen Stoß empfangen. Dort wischten seine beiden Muhmen sich, Der Franzen und der Ungarn Königinnen, Gerührt die Augen aus; wenn man die Eine Die Hand noch mit dem Tuch empor sieht heben, So ist’s, als weinete sie über sich. Hier im Gefolge stützt sich Philibert, Für den den Stoß der Kaiser aufgefangen, Noch auf das Schwert; doch jetzo müßt’ er fallen, So gut wie Maximilian: der Schlingel! Die Schwerter unten jetzt sind weggeschlagen, Hier in der Mitte, mit der heil’gen Mütze, Sah man den Erzbischof von Arras stehn; Den hat der Teufel ganz und gar geholt. Sein Schatten nur fällt lang noch übers Pflaster. Hier standen rings, im Grunde, Leibtrabanten,

 Peter Michelsen, Die Lügen Adams und Evas Fall. Heinrich von Kleists Der zerbrochne Krug, in: Geist und Zeichen. Festschrift für Arthur Henkel, hrsg. v. Herbert Anton u. a., Heidelberg: Winter 1977, 268 – 304, S. 272.

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Mit Hellebarden, dicht gedrängt, und Spießen, Hier Häuser, seht, vom großen Markt zu Brüssel, Hier guckt noch ein Neugier’ger aus dem Fenster: Doch was er jetzo sieht, das weiß ich nicht. (V. 651– 674)

Das siebenmal beschworene „hier“ unterstreicht den epideiktischen Charakter der sprachlichen Beschwörung einer ganzen Szene, die visuell fragmentiert ist und deshalb Ergänzungen aus der Phantasie verlangt. Das Thema der erinnerten Darstellung ist die Übergabe der niederländischen Provinzen an den spanischen König Philipp II. durch seinen Vater, Kaiser Karl V., wie sie am 25. Oktober 1555 in Brüssel tatsächlich stattgefunden hat. Die weltgeschichtliche Bedeutung dieses Festakts liegt darin, daß die Übereignung von Burgund und allen 17 niederländischen Provinzen der Abdankung des im Kampf gegen den Protestantismus zermürbten Kaisers gleichkommt. Es ist ein Wendepunkt der europäischen Geschichte, der seinen langen Schatten auf die Zeit des genau 130 Jahre später spielenden Gerichtsspiels vorauswirft. Aber weil Frau Marthe von der subjektiven Färbung historischer Erinnerung überzeugt ist, ergibt sich aus ihrer Verbindung gedachter Darstellung und deren sichtbarer Beschädigung eine eigene, politisch gefärbte Interpretation des Geschehens: Wenn von dem allmächtigen Kaiser nur noch die Beine stehen, ist der Kniefall vor der Majestät eine überflüssig gewordene Geste. Während von dem künftigen weltlichen Herrscher, der nun „im Topf“ liegt, nur noch der lädierte Hintern zu sehen ist, hat den geistlichen Herrscher sogar „der Teufel ganz und gar geholt“. Von dem Erzbischof ist nur der lange Schatten übrig geblieben, aus dem herauszutreten das Wunschdenken der sehr weltlichen Frau Marthe beflügelt haben mag. Schließlich fällt die historische Szene mitten in die Zeit der schnell wachsenden calvinistischen Opposition gegen die katholische Herrschaft, wie sie sich um die Confessio belgica (1561) des Pastors Guy de Brès scharte. Frau Marthes antiautoritärer Standpunkt, der ihr Geschichtsbild prägt, kommt auch ihrem beherzten Auftreten gegen die Willkür des Dorfrichters zugute. In Frau Marthes respektlos perspektivierter Lektion historischen Sehens wird ausgerechnet der stellvertretende Zuschauer der dargestellten Weltgeschichte so relativiert, daß sich die anfängliche Belehrung des Gerichtshofs („Nichts seht ihr, mit Verlaub“) in der Gestalt des fiktionalen Zeugen wiederholt: „Hier guckt noch ein Neugier’ger aus dem Fenster: / Doch was er jetzo sieht, das weiß ich nicht.“ Nichts sieht er, mit Verlaub. Wenn das historische Bild aus seinem (Fenster‐) Rahmen unwiederbringlich verschwunden ist, wenn es nichts mehr zu sehen und zu bezeugen gibt und der historische Zeuge seine Neugier, wie es Frau Marthe gerade vorgeführt hat, nur durch sprachliche Erfindung befriedigen könnte, dann endet die Lektion in einer historiographischen Aporie, die an Kleists persönliche

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Erkenntniskrise von 1801 erinnert: Was wir historische Wahrheit nennen, steht auf den tönernen Füßen eines zerbrechlichen Kruges. Die Wahrheit der Geschichte verhüllt und enthüllt sich in der Brüchigkeit ihrer Darstellung, weil sich die aus der Phantasie ergänzten Bruchstücke zu einem Bild vereinen, das nur die Illusion eines unzerbrochenen Ganzen weckt. Die nur noch narrativ beschworene Ganzheit des Kruges ist umso wichtiger, als Frau Marthe in ihrem zweiten historischen Exkurs, der Geschichte des Krugs, seine Schönheit mit seiner vorigen Unversehrtheit begründet. In der bewegten, über vier Generationen bis in die Zeit des Brüsseler Festakts zurückreichenden Geschichte seiner wechselnden Besitzer hat selbst kriegerische Gewalt dem Krug nichts anhaben können. Einer der Besitzer warf den Krug aus dem Fenster, sprang hinterdrein „und brach den Hals, der Ungeschickte, / Und dieser ird’ne Krug, der Krug von Ton, / Auf’s Bein kam er zu stehen, und blieb ganz“ (V. 702– 704). Es war leichter, sich beim Fenstersturz (wobei der Prager Fenstersturz von 1618 assoziiert werden könnte) das Genick zu brechen, als daß der Krug zerbrochen wäre. Den Dreißigjährigen Krieg hat er wie die Plünderungen der Franzosen überstanden; und selbst aus der Feuersbrunst von 1666 ist der Tonkrug unbeschadet hervorgegangen: „Nichts ist dem Krug, ich bitt’ euch sehr, ihr Herren, / Nichts Anno sechs und sechzig ihm geschehen. / Ganz blieb der Krug, ganz in der Flammen Mitte.“ (V. 724– 726) Von der Geschichte unberührt, in der er von Generation zu Generation weitergereicht wurde, war der Krug das Symbol unbeschädigter Überlieferung vom 25. Oktober 1555 bis zum Vorabend des heutigen Gerichtstages am 1. Februar 1685.⁴² Umso empörter ist Frau Marthe darüber, daß ein Eindringling in Evas Kammer diesen scheinbar unzerstörbaren Krug einfach „[v]om Sims’ gestürzt“ (V. 770) und zerbrochen hat. Der zerbrochene Krug, dessen Zerbrechung sicher auch, ganz im traditionellen Sinn des Motivs, „Schimpf“ (V. 772) über Eve gebracht hat, ist vor allem das Symbol einer historiographischen Wahrheit geworden: Was nicht mehr ist, lebt nur in der sprachlichen Erinnerung wieder auf. Die umständliche Krug-Beschreibung, die alle einst dargestellten historischen Figuren auf kleinstem Raum versammelt, stellt die Geduld des Dorfrichters Adam auf die Probe: „Erlaßt uns das zerscherbte Pactum, / Wenn es zur Sache nicht gehört. / Uns geht das Loch – nichts die Provinzen an, / Die darauf übergeben worden sind.“ (V. 675 – 678) Weil er ungeduldig die „Sache“, in die er als der eigentliche Eindringling selbst verwickelt ist, schnell hinter sich bringen will, verkennt er die Analogie zwischen  Das Datum kann leicht erschlossen werden, da Frau Marthe sagt: „Den dritten Februar ist mein Geburtstag. / Heut ist der erste.“ (V. 1145 f.) Die gefälschte Konskription für Ruprecht gilt für den Bantamischen Krieg im Jahr 1685, in dem Niederländer und Engländer um die koloniale Vorherrschaft in Batavia kämpften.

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historischer Darstellung und juristischer Aufklärung. Was dramaturgisch unnötig scheint, verweist konzeptionell auf einen erkenntnistheoretisch relevanten Subtext: Das „Loch“ im Bild der Geschichte führt die Unvollständigkeit jeder Analyse, der historischen wie der komischen oder „tragischen Analysis“, anschaulich vor Augen. Wer immer über vergangenes Geschehen zu Gericht sitzt, muß daran erinnert werden, daß die Löcher im Bild der Geschichte immer nur aus der Phantasie gefüllt werden, daß Geschichte ästhetisch vermittelt und historische Wahrheit stets nur das Ergebnis einer von der Logik der Sprache bestimmten Konstruktion ist. Eine solche Erkenntnis ist ganz auf der Höhe der Zeit, vor allem wenn man Kleists Krugbeschreibung vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Diskussion der homerischen Schildbeschreibung (Ilias, 18, V. 478 – 607) betrachtet. Als Heinrich Meyer-Benfey, der wohl als erster in Frau Marthes Krugbeschreibung das „Vorbild der antiken Schildbeschreibung“ erkannt hat,⁴³ die Fülle der auf der kleinen Krugwölbung dargestellten historischen Personen als „eine starke Zumutung an unsere Phantasie“ empfand,⁴⁴ hat er übersehen, daß gerade diese Zumutung im Mittelpunkt der am Schild des Achill exemplifizierten Querelle des anciens et des modernes stand. An dieser 1688 von Charles Perrault ausgelösten Streitfrage, ob die Griechen noch der Maßstab der Moderne seien, nahmen auf der Seite der Klassizisten Jean Boivin (Apologie d’Homère et du bouclier d’Achille, 1715) und Alexander Pope (Observations on the shield of Achilles, 1718) und auf der Seite der Modernisten Antoine Houdar de la Motte (Discours sur Homère, 1714) und Jean Terrasson (Dissertations critiques sur l’Iliade d’Homère, 1715) teil. Dabei ging es um die Frage, ob die Griechen, vertreten durch Homer, nur deshalb so viele Personen auf eine so kleine Bildfläche bannen konnten, weil sie das quantitative Darstellungsproblem schon perspektivisch, also durch Verkleinerung der entfernteren Personen, gelöst haben. Auf deutscher Seite hat sich vor allem Lessing mit der These von Alexander Pope, „that he [Homer] was not a stranger to aereal perspective, appears in his expressly marking the distance of object from object“,⁴⁵ in seinem Aufsatz Laokoon, oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766)

 Heinrich Meyer-Benfey, Das Drama Heinrich von Kleists, Göttingen: Otto Hapke 1911, Bd. 1, S. 485. Manfred Schunicht hat in der Krugbeschreibung hingegen eine „Parodie der homerischen Beschreibung von Junos Wagen und Agamemnons Szepter“ gesehen; Schunicht, Heinrich von Kleist: ‚Der zerbrochne Krug‘, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 84 (1967), 550 – 562, S. 552.  Meyer-Benfey, Das Drama Heinrich von Kleists, Bd. 1, S. 483.  Alexander Pope, Observations on the Shield of Achilles, in: The Iliad of Homer, übers. v. Alexander Pope, London: Henry Lintot 1750, Bd. 5, 104– 125, S. 116. Zum Nachweis, daß Pope in seinem Essay ganze Passagen von Jean Boivin übernommen hat, vgl. Fern Farnham, Achilles’ Shield: Some Observations on Pope’s „Iliad“, in: PMLA 84/6 (1969), 1571– 1581.

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auseinandergesetzt. Ihm ging es bei der Frage der – im 9. Brief, antiquarischen Inhalts (1768/1769) als „Einheit des Gesichtspunkts“ definierten⁴⁶ – Perspektive darum, das Prinzip perspektivischer Darstellung von den Bildstrukturen, dem räumlichen Nebeneinander von Körpern, auf Erzählstrukturen, dem zeitlichen Nacheinander von Handlungen, zu übertragen. So wurde die in Laokoon XVIII gepriesene Schildbeschreibung, wie Karl Ludwig Schneider bemerkt hat, das Vorbild für Kleists an Lessing geschultes „Verfahren, Koexistierendes in der Beschreibung als Konsekutives darzustellen“.⁴⁷ Erst seitdem sich auch in Nordeuropa, durch den Flamen Jan van Eyck (1390 – 1441), die auf den individuellen Betrachter zugeschnittene Bildperspektive durchzusetzen begann, konnte das von der Antike abgehobene und von Lessing temporalisierte Darstellungsproblem auch Fragen der Geschichtsschreibung berühren. Deshalb ist Frau Marthes Erinnerungsbild des zerbrochenen Krugs nicht etwa eine komische Parodie auf die homerische Schildbeschreibung,⁴⁸ sondern eine Parabel der dadurch ausgelösten Problematisierung des Anspruchs auf historische Wahrheit. Weil die ‚zerbrochene‘ Geschichte erst in perspektivischen Bildern, die die ‚Scherben‘ zur ‚ganzen‘ Geschichte ergänzen, erinnert und dargestellt wird, ist diese Art der Veranschaulichung eine grundsätzliche Erkenntnisweise, die auf drei verschiedenen Fiktionsebenen stattfindet: (1) innerhalb des Historienbildes als Perspektive eines neugierigen Zuschauers und Zeugen, der aus seinem Fenster von dem ganzen weltgeschichtlichen Geschehen nun wohl „nichts“ mehr sieht; (2) in der Krugbeschreibung als Perspektive der empörten Klägerin, die das zerbrochene Historienbild aus der Erinnerung zu rekonstruieren versucht, damit für alle, die das Bild nie gesehen haben, „auf dem Loch, wo jetzo nichts“, eine Vorstellung der verschwundenen Szene entsteht; (3) in der analytischen Struktur des Dramas als Perspektive der Zuschauer, die den von einem selbst implizierten Richter geführten und durch Verdrehung der Tatsachen gefälschten Prozeß durchschauen müssen, um der historischen Wahrheit „auf den Grund“ und zu einem eigenen Urteil zu kommen.

 Gotthold Ephraim Lessing, Briefe, antiquarischen Inhalts, in: Lessing, Werke, hrsg. v. Herbert G. Göpfert, Bd. 6, München: Hanser 1974, 189 – 399, S. 216.  Karl Ludwig Schneider, Heinrich von Kleists Lustspiel „Der zerbrochne Krug“, in: Das deutsche Lustspiel I, hrsg. v. Hans Steffen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1968, 166 – 180, S. 177.  Philipp Witkop hat in Frau Marthes Krugbeschreibung „eine komische Parodie auf den Schild des Achilles“ gesehen; Witkop, Heinrich von Kleist, Leipzig: H. Haessel 1922, S. 115.

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Wo Anschauung in anschauliche Erzählung und diese in dramatische Analyse überführt wird, also an der in Lessings Laokoon reflektierten Grenze zwischen räumlich gegenwärtigem Bild und zeitlich vergangenen Handlungsstrukturen, unterstreicht die dreifache Perspektivierung des neugierig angeschauten, des empört veranschaulichten und des von einem schuldigen Richter verschleierten Geschehens die Schwierigkeiten im Prozeß historischer Wahrheitsfindung. Das „historische Factum“, das Kleist in der Vorrede nur sehr vage versprochen und schließlich fälschlich auf ein angeblich niederländisches Originalbild zurückzuführen versucht hat, entzieht sich dem positivistischen Zugriff immer mehr. Der Anspruch auf Faktizität hat sich so sehr in „nichts“ aufgelöst, daß davon nichts als Vermutungen, Ergänzungen, Erfindungen und, im Falle Adams, vor allem unverfrorene Lügengeschichten übriggeblieben sind. Die Frage, ob der Krugbeschreibung ebenso wie der Gerichtsszene eine schriftliche Quelle, vielleicht sogar ein Originalbild zugrundegelegen hat, unterstreicht noch einmal das vorrangige Problem der verbalen Sequenzierung in der Verwandlung des (synchronen) Bildes in einen (diachronen) Text. Nachdem Oskar Walzel 1904 zunächst die (auch für Goethes Egmont herangezogene) Geschichte des Abfalls der Niederlande, De bello Belgico (1632/1647) von Famianus Strada (1572– 1649), als mögliche Quelle für die Schilderung des Brüsseler Festakts vorgebracht hatte,⁴⁹ hat sich der Gegenvorschlag von Hermann Schneider, der 1915 „mit mehr Wahrscheinlichkeit die Niederländische Geschichte von Waagenaer [sic!] als Kleists Quelle in Anspruch nehmen“ wollte, so sehr durchgesetzt, daß seine Richtigkeit in Helmut Sembdners Kommentar von 1977 nicht mehr angezweifelt wird: „Für Frau Marthens Schilderung verwendete Kleist eine Quelle, die schon Schiller in seiner ‚Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande‘ (1788) als ‚eine ausführliche, mit Fleiß und Kritik und mit seltener Billigkeit und Treue verfaßte Kompilation‘ gerühmt hatte, nämlich die aus dem Niederländischen übersetzte ‚Allgemeine Geschichte der Vereinigten Niederlande‘.“⁵⁰ Tatsächlich handelt es sich um die deutsche Übersetzung (durch Eobald Toze, 1756 – 1767) von Jan Wagenaars Vaderlandsche Historie, vervattende de Geschiedenissen der nu Vereenigte Nederlanden, Inzonderheit die von Holland, van de vroegste Tyden af: Uit de geloofwaardigste Schryvers en egte Gedenkstukken samengesteld (Amsterdam 1749 – 1759). Darin ist das ganze, auch von Kleist genannte Personal der weltgeschichtlichen Szene verzeichnet, die Vertreter des Heiligen Römischen Reichs deutscher

 Oskar Walzel in: Heinrich von Kleist, Der zerbrochene Krug, hrsg. v. Oskar Walzel, Leipzig: Max Hesse 1904, S. X.  Helmut Sembdner in: Heinrich von Kleist, Der zerbrochne Krug. Erläuterungen und Dokumente, hrsg. v. Helmut Sembdner, Stuttgart: Reclam 1977, S. 20.

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Nation, Englands, Spaniens, Frankreichs, Ungarns, Italiens und Dänemarks, die die Geburtsstunde der Niederlande als europäisches Ereignis bezeugt haben. Die geschichtstheoretischen und poetologischen Implikationen der Krugbeschreibung sind so lange im Hintergrund der Kleist-Philologie geblieben, weil die – dadurch grundsätzlich in Zweifel gezogene – positivistische Ausrichtung der Quellenforschung die Oberhand behielt, wenn es um die Klärung des von Kleist beschworenen ‚historischen Faktums‘ und damit um die Faktizität historischer Vorbilder und bildlicher Vorlagen ging. Seitdem Lessing dafür gesorgt hat, daß Zeitabläufe nicht mehr dem horazischen Bildprinzip ut pictura poesis unterworfen waren und damit der Literatur – und der historischen Darstellung – die sprachliche Diachronisierung auch synchroner Vorgänge als ihren eigensten Bereich angewiesen hat, ist die Bildlichkeit der Geschichtsschreibung nur noch eine Metapher für die Anschaulichkeit konsekutiver Darstellung, auch wenn es für die Augen, wie im Fall des Fensterzeugen in Frau Marthes Krugbeschreibung, tatsächlich „nichts“ mehr zu sehen gibt, außer dem ‚im inneren Auge‘ vorgestellten Geschehen. Aber positivistischen Quellenforschern ist die theoretisch relevante Dialektik einer literarischen Bildbeschreibung entgangen, die sich auf ein wirkliches Bild gestützt haben könnte, nur um Bildzeichen in Sprachzeichen umzusetzen und im Wechsel des Mediums ein – entmaterialisiertes – Phantasiebild ohne Entsprechung in der abgebildeten Wirklichkeit zu schaffen. So blieb die problematische Frage, ob es ein Vorbild für die in der Krugbeschreibung beschworene Bildphantasie gegeben hat, lange unbeantwortet. „Was von Seiten der Germanistik bisher anscheinend nicht gesehen wurde, ist“, wie die Kunsthistorikerin Gisela Zick erstaunt bemerkt hat, „daß Kleist auch bei seiner Krugschilderung ein Bild, eine Illustration, ins Wort umsetzt.“⁵¹ Die Suche nach der ‚richtigen‘ Umsetzung des Bildgeschehens ins Sprachgeschehen setzt immer noch die Norm restloser Abbildung voraus, der die Bildvorlage als ‚historisches Faktum‘ gedient haben könnte. Doch ist es in geschichtstheoretischer Perspektive, mit deren ekphrastischer Inszenierung wir es in Frau Marthes Krugbeschreibung zu tun haben, von zweitrangiger Bedeutung, an welche Bildvorlage sich Kleist gehalten hat – an die von Zick vorgeschlagene Illustration, L’Abdication de Charles V. von dem Flamen Hendrik Causé (1648 – 1699), die sich in einer französischen Ausgabe von Famianus Stradas De bello Belgico, Histoire de la guerre de Flandre (Brüssel 1712) findet, oder an den in einigen Details näherliegenden Kupferstich, der in Wagenaars siebenbändigem Geschichtswerk dieselbe Szene illustriert, Overdragt der Neder-

 Gisela Zick, Der zerbrochene Krug als Bildmotiv des 18. Jahrhunderts, in: Wallraf-RichartzJahrbuch 31 (1969), 149 – 204, S. 167.

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landen door Keizer Karel den V. aan zynen zoon Filips, in’t jaar 1555 von Simon Fokke (1712– 1784).⁵² Fehlen im ersten Kupferstich neben den beiden Königinnen vor allem der verhaßte Erzbischof von Arras, so empfängt Philipp II. im zweiten Kupferstich keine Krone, und Philibert stützt sich nicht auf sein Schwert. Damit zeigt sich nur einmal mehr, daß historische Treue, vor allem wenn es um ihre inhaltliche Problematisierung geht, kein Kriterium für die eindeutige Bestimmung der Bildvorlage sein kann. Wichtiger als das Vor-Bild ist das sprachlich vorgestellte „Loch“ auf seiner narrativen Nach-Bildung, weil in diesem Loch der Geschichte auch die historische Szene verschwunden ist, jener Moment der Gründung der Niederlande, der nun nur noch als phantasievolle, poetisch gestaltete, perspektivisch gedeutete Geschichte erinnert und aus Scherben neu zusammengesetzt werden kann: eine anschauliche Erzählung, die an die Stelle der zerscherbten, endgültig an die Vergangenheit verlorenen Geschichte getreten ist. Nicht dem Kupferstich von Simon Fokke, sondern der Vorrede zu Jan Wagenaars Allgemeiner Geschichte (1757), der das Bild beigefügt war, konnte Kleist die Idee der Fragwürdigkeit historischer Rekonstruktion entnehmen. Dort heißt es, in Übereinstimmung mit vielen zeitgenössischen Zeugnissen, die wir bisher gesehen haben: Die Menschen sind nunmehr so weise geworden, daß sie keinem Geschichtsschreiber glauben, welcher Sachen erzählet, die sich vor seiner Zeit zugetragen haben, sofern sie nicht sehen, daß die erzählten Sachen auf glaubwürdigen Zeugnissen gegründet seyn.⁵³

Ähnlich hatte sich Johann Martin Chladenius nur wenige Jahre zuvor in seiner hier wiederholt zitierten Einleitung zur richtigen Auslegung vernünfftiger Reden und Schrifften geäußert: Historien sind Erzehlungen desjenigen, was in der Welt geschehen ist. Es ist klar, daß man eine geschehene Sache, wenn man die Wahrheit reden will, wie wir solches voraussetzen, nicht anders erzehlen kann als wie man sich dieselbe vorgestellet hat; daher wir auch durch eine Erzehlung unmittelbar auf den Begriff kommen, den der Verfasser von der Geschichte

 Vgl. Seeba, Overdragt der Nederlanden, bes. S. 121– 124; Dorothea von Mücke, The Fragmented Picture and Kleist’s „Zerbrochner Krug“, in: Heinrich von Kleist and Modernity, hrsg. v. Bernd Fischer and Tim Mehigan, Rochester, NY: Camden House 2011, 41– 53. Die beiden Kupferstiche sind abgebildet in Eberhard Siebert, Heinrich von Kleist. Eine Bildbiographie, Heilbronn: Kleist-Archiv Sembdner 2009, S. 130 und 131. Simon Fokkes Kupferstich wurde für die Titelgestaltung des vorliegenden Bandes herangezogen.  Jan Wagenaar, Allgemeine Geschichte der Vereinigten Niederlande, von den ältesten bis auf gegenwärtige Zeiten, aus den glaubwürdigsten Schriftstellern und bewährten Urkunden verfasset, Bd. 2, Leipzig: Weidmannsche Buchhandlung / Göttingen: Elias Luzac Handlung 1757, unpag. [S. 12 der Vorrede].

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hat, mittelbar aber, und durch eine kurtze Folge, auch dadurch zur Erkänntniß der Geschichte selbst gelangen.⁵⁴

Es ist, als hätte Kleist den historiographischen Grundsatz, in dem sich Chladenius und Wagenaar einig sind, szenisch illustrieren wollen. Frau Marthes Krugbeschreibung ist die Erzählung „desjenigen, was in der Welt geschehen ist“, sie ist ihre persönlich gefärbte Vorstellung dessen, was sie für historische Wahrheit hält, die in der Phantasie wiederhergestellte Ganzheit, die mit dem Original zerbrochen war. Ihrer narrativen Perspektivierung, die das statische Bild in eine diachrone Folge verwandelt, liegt ein erkenntniskritischer Begriff der Geschichte zugrunde, der weit über Frau Marthes Verständnis hinaus an Kleists Erkenntniskrise von 1801 erinnert. Damals hatte Kleist den (schon von Wagenaar angesprochenen) Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Geschichtsschreibung, an jedem faktizistischen Wahrheitsanspruch einer nur durch Erzählung zugänglichen Geschichte also, noch mit der „sogenannten Kantischen Philosophie“ zu erklären versucht, weil wir nicht entscheiden können, „ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint“. Nachdem er damals an dieser Krise fast zerbrochen wäre, stattet er nunmehr, etwa fünf Jahre später, die fiktive Figur einer beherzten Bäuerin mit einer solchen Durchsetzungskraft aus, daß sie die ähnlich traumatische Zerbrechung ihres Geschichtsbildes bis in die nächste Instanz gerichtlich verfolgt. Weil ihr das über Generationen heilig gehaltene, durch alle Fährnisse der bewegten niederländischen Geschichte gerettete Historienbild zerbrochen wurde, verdient ihre Empörung über den Verlust des Sinnbildes, das für die abgebildete Geschichte selbst stand, mehr Beachtung, als ihr in diesem korrupten Dorfgericht zuteil wird: „Soll hier dem Kruge nicht sein Recht geschehn?“ (V. 1971) Nachdem ihre Zivilklage durch die strafrechtliche Verfolgung des schuldigen Richters ganz in den Hintergrund gedrängt wurde, wird Frau Marthe abschließend, als handelte es sich nur um eine beiläufige, fast schon vergessene Sache, ans Kreisgericht in Utrecht verwiesen, wo man sich in der folgenden Woche ihres Falls annehmen wird. Der Prozeß der historischen Wahrheitsfindung und ihrer Problematisierung geht also weiter. „Der Sache völlig auf den Grund zu kommen“ (V. 1551) bleibt ein zeitloses Projekt, das nie ganz eingelöst und nie ganz abgeschlossen werden kann. Bei Kleist stößt die krisenhafte Wahrheitsfindung immer wieder an einen existentiellen Abgrund, vor dem weder die Sensibilität des angehenden Dichters noch die

 Chladenius, Einleitung, S. 183 (§ 307).

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Bauernschläue seiner Figuren schützt. Auch in Kleists anderer epistemologischer Komödie, Amphitryon (1807), kann keiner „auf des Rätsels Grund gelangen“ (V. 1831) und Worte finden, „das Unerklärliche zu erklären“ (V. 1123).⁵⁵ Hier wird sogar die Identität Gottes in Frage gestellt, weil der vom Olymp herabgestiegene und damit in die Geschichte eingetretene Jupiter auf die Anerkennung der Menschen angewiesen ist. Aber bevor die philosophischen Folgerungen mitten ins Zentrum religiöser Gewißheiten treffen, wird die erkenntniskritisch motivierte Identitätskrise zunächst auf der Diener-Ebene komödiantisch durchgespielt. Ausgerechnet am Beispiel des bauernschlauen Sosias wird Kleists „Gedanke, daß wir hienieden von der Wahrheit nichts, gar nichts wissen“,⁵⁶ auf die äußerste Probe gestellt, als sogar die letzte Gewißheit unserer Existenz, daß ich ich bin, in den Strudel der epistemologischen Verunsicherung hineingerissen wird. Mit Sosias treibt der Gott Merkur einen ähnlichen Schabernack, den wir heute identy theft nennen würden, wie später Jupiter mit Amphitryon. Sosias’ trügerisches Selbstbewußtsein („Bin ich mich meiner völlig nicht bewußt?“; V. 282) wird ihm zum Verhängnis. In der Verdopplung des Ichs erweist sich die verzweifelte Selbstbehauptung als Selbstentfremdung, die als Signum der Moderne anzuerkennen auch das schlichteste Gemüt erst lernen muß. Als „dies eine Ich“ (V. 678) auf „das andere Ich“ (V. 680) trifft, wird Sosias durch Prügel gezwungen, das andere Ich als das eigene zu akzeptieren: „Jedoch zuletzt erkannt’ ich, mußt’ ich mich / Ein Ich, so wie das Andere, anerkennen.“ (V. 710 f.) Das Andere, an dem das Eigene gemessen werden könnte, hat als dessen Spiegel den Charakter des Fremden verloren; unheimlich ist nicht mehr das Fremde, sondern das im Spiegel verdoppelte Eigene: „Gehört das Bild mir, das der Spiegel strahlt?“ (V. 1160) Wie Rupert in der Familie Schroffenstein erlebt Sosias seine Bewußtwerdung in der Begegnung mit dem eigenen Spiegelbild. Der selbstentfremdete Mensch wird unerbittlich gezwungen, sich dem Verlust der Identität zu stellen und damit auch eine Antwort zu suchen auf Kleists analytische Grundfrage „Was ist geschehn?“, wie sie gleichermaßen von Sosias (V. 1042), Alkmene (V. 1107), Charis (V. 1635) und Amphitryon (V. 2154) gestellt wird. Der Glaube der Aufklärung an die Macht der Erkenntnis muß erst erschüttert werden, bevor das historische Faktum in seiner jeweils anders perspektivierten Brechung wahrgenommen werden kann. Erst der Mensch, der sich seiner Selbstentfremdung bewußt geworden ist, kann auf die Frage, was ge Zitiert wird nach Heinrich von Kleist, Amphitryon, in: Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, 377– 461; vgl. dazu den Kommentar („Struktur und Gehalt“) von Hinrich C. Seeba, ebd., 700 – 713.  Heinrich von Kleist, Brief an seine Schwester Ulrike, 23. März 1801, in: Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 4, S. 206.

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schehen ist, nicht mehr so naiv antworten, als ließe sich das Geschehen restlos rekonstruieren. Kleist hat die Unmöglichkeit historischer Zeugenschaft schon in der ersten Szene anschaulich vorgeführt. Sosias, der als Bote zu Alkmene geschickt wird, um ihr den Sieg seines thebanischen Dienstherrn Amphitryon über die Athener zu melden, hat ein mit Historikern geteiltes Problem: „Doch wie zum Teufel mach ich das, da ich / Dabei nicht war?“ (V. 38 f.) Weil er sich in sein Zelt eingeschlossen hatte, ohne auch nur einen Blick hinauszutun, muß er sich ausdrücklich wie „Andre, / Die auch den Pfeil noch pfeifen nicht gehört“ (V. 43 f.), ganz auf seine Phantasie verlassen. Wie Historiographen, die vom Nichtgesehenen, „mit Rednerkunst gesetzt“ (V. 35) und poetisch aufgeputzt, historisches Zeugnis ablegen, als könnten sie „zeigen, wie es eigentlich gewesen“ (Ranke), übt Sosias auf seiner Handfläche die frei erfundene Aufstellung der Schlacht, wie er sie Alkmene berichten wird. Wie alle Dichter, die nicht bloß Chronisten gegenwärtiger Ereignisse sein wollen, war auch dieser komödiantische Auftragskünstler nicht „dabei“, als sich in der Wirklichkeit ereignete, was er in der Fiktion nachbilden und so vor Augen stellen muß, als wäre er als Augenzeuge dabeigewesen. Damit hat Kleist noch einmal wirkungsvoll in Szene gesetzt, was ihn seit der sogenannten Kant-Krise umgetrieben hat. Noch bevor der gewitzte Sosias sogar die Prügel von Merkur, der römischen Variante von Hermes, dem Gott der von Chladenius begründeten historischen Hermeneutik, klaglos einsteckt, traut er sich zu, seine freie, frei erfundene Interpretation des Schlachtgeschehens als historische Wahrheit auszugeben. Mit der fiktionalen Vergegenwärtigung des als vergangen gedachten Geschehens, von dem Sosias berichten soll, ist noch einmal das Darstellungsproblem bezeichnet, das für alle literarische Fiktionen, für dieses Drama wie auch für die Geschichtsschreibung, gilt: die Repräsentation des Abwesenden durch ästhetische Zeichen, die das Gemeinte nur bedeuten, ohne es zu sein. Der Glaube an die Faktizität historischer Aussagen, so sollen wir mit Sosias lernen, ist nur eine Illusion.

8 Heinrich Heine – Geschichte als Interesse der Zukunft Heinrich Heine, für den „Thucydides, der Historienschreiber, und Boccaccio, der Novellist“, einander ergänzende Vorbilder für seine eigene „Geschichte der Zeit“ waren,¹ hat sich ein Leben lang mit dem Verhältnis von Geschichte und Dichtung auseinandergesetzt. Er hat selber eine unterhaltsame, oft polemisch gewitzte, sehr poetische Form der Geschichtsschreibung praktiziert, oft mit einer solchen vorher unbekannten Sprachartistik, daß man seine Gedanken schlecht wiedergeben kann, ohne ihn ausführlich zu zitieren; denn Heines Schreibweise ist der beste Beweis dafür, daß der Inhalt des Arguments von der Form seiner Darstellung nicht zu trennen ist. Dabei hat Heine, in charakteristischer Ambivalenz, einerseits, vor allem in früheren Schriften, die ahistorische Autonomisierung und andererseits, in späteren Schriften, die ideologische Instrumentalisierung der Wortkunst bekämpft. Während Friedrich Schlegel 1797 im bekannten Athenäums-Fragment 80 erklärt hatte, der Historiker sei „ein rückwärts gewandter Prophet“,² ist ihm Heine 1851 mit dem Zusatz beigesprungen, man könne „mit größerem Fug von dem Dichter sagen, daß er ein Geschichtschreiber sey, dessen Auge hinausblicke in die Zukunft“.³ Damit ist nicht nur gemeint, daß der Historiker für die Bewahrung der Vergangenheit und der Dichter für den Entwurf der Zukunft verantwortlich ist. Vielmehr stellt Heine dem Verfahren des Historikers, der die Vergangenheit so darstellt, daß die Gegenwart als ihr notwendiges Ziel in der Zukunft erscheint, das Verfahren des Dichters entgegen, der die Gegenwart so darstellt, daß die Zukunft als erstrebenswerte bessere Alternative erscheint. Dieser Zukünftigkeit des Dichters, der sich in der „Geschichtsschreibung der Gegenwart“ übt,⁴ hat sich Heine

 Heinrich Heine, Französische Zustände [1832], in: Heine, Sämtliche Schriften, hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 3, München: Hanser 1971, 89 – 279, S. 169.  Friedrich Schlegel, Athenäums-Fragmente, in: Schlegel, Kritische Schriften, hrsg. v. Wolfdietrich Rasch, München: Hanser 21964, 25 – 88, S. 34.  Heine, Vorrede zu William Ratcliff (1821) [1851], in: Heine, Sämtliche Schriften, hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 1, München: Hanser 1968, 340 f. Schon in der Romantischen Schule (1835) wurde Schiller mit Schlegel „ein ‚rückwärtsgekehrter Prophet‘“ genannt; Heine, Die romantische Schule, in: Heine, Sämtliche Schriften, hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 3, München: Hanser 1971, 357– 504, S. 395 (1. Buch). Vgl. zur Zukünftigkeit Leo Kreutzer, Träumen Tanzen Trommeln. Heinrich Heines Zukunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997.  Heine, Brief an Friedrich Thiersch, 15. März 1832, zit. nach Rolf Hosfeld, Heinrich Heine. Die Erfindung des europäischen Intellektuellen. Biographie, München: Siedler 2014, S. 265. https://doi.org/10.1515/9783110679878-010

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verschrieben und sich emphatisch gegen jede Behauptung einer Zwangsläufigkeit gestellt, die keine Alternativen zuläßt. Anstatt die Gegenwart teleologisch als erfüllte Prophezeiung der Vergangenheit zu sehen, sieht er sie prophetisch als einzulösendes Versprechen einer besseren Zukunft. Weil sich Heine nicht mit der Indifferenz von Historikern zufriedengibt, die bloß zeigen wollen, „wie es eigentlich gewesen“ (Ranke) ist,⁵ fordert er ein Engagement für bessere Alternativen zur Wirklichkeit. Im Gegensatz zu der von Leopold von Ranke vertretenen Historischen Schule und vor dem Hintergrund einer kritisch betrachteten Vergangenheit geht es ihm um die Infragestellung der Gegenwart im Namen utopischer Zukunftsvisionen. Für Heine ist der Dichter also insofern ein Geschichtsschreiber, als er sich darum bemüht, die Geschichte so umzuschreiben, daß ihr aktueller Verlauf eine Wendung zum Besseren nimmt. Nachdem sich die Dichter, wie Heine meint, im Namen Goethes und der Kunstautonomie zu lange von allen politischen Interessen ferngehalten haben, verfolgt Heine als Kern seines publizistischen Engagements die Politisierung der dichterischen Aufgabe. Wenn ihm dabei immer wieder der Name Goethes als Negativfolie seines Literaturprogramms einfällt, so hat er vielleicht an Goethes (hier im Goethe-Kapitel behandelte) Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) gedacht, in denen Geschichte und Dichtung strikt getrennt werden: Aus dem westrheinischen Gebiet vertriebene Flüchtlinge der Französischen Revolution, die sich mit der Erzählung von Geschichten die Zeit vertreiben, versuchen die Autonomie der Kunst durch die Übereinkunft abzusichern, „daß wir, wenn wir beisammen sind, gänzlich alle Unterhaltung über das Interesse des Tages verbannen.“⁶ Auf diese Regelung einigt man sich, nachdem der Sohn der Gastgeberin, ein hitzköpfiger Anhänger der Revolution, einen Anhänger des ancien régime, den Geheimrat von S., so beleidigt hat, daß dieser mit seiner Familie den geselligen Kreis empört verläßt. Auch Heinrich Heine war ein solcher Hitzkopf, der sich – im entschiedenen Gegensatz zu dem anderen Geheimrat, Goethe in Weimar – zu der Französischen Revolution bekannt und sehr programmatisch immer wieder die „Interessen der Zeit“ über Goethes „Idee der Kunst“ gestellt hat.⁷

 Leopold von Ranke, Vorrede, in: Ranke, Sämmtliche Werke, Bd. 33: Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514, Leipzig: Duncker & Humblot 21874, I–VIII, S. VII.  Goethe, Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, in: Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Erich Trunz, Bd. 6, Hamburg: Wegener 51963, 125 – 241, S. 139.  Heine, [Rez.] Die deutsche Literatur von Wolfgang Menzel, 1828, in: Heine, Sämtliche Schriften, hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 1, München: Hanser 1968, 444– 456, S. 445 und 446.

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Der Begriff des Interesses ist in beiden Fällen ganz gezielt gewählt, mit indirektem Bezug auf Kants bekannte Definition des Schönen (in Kritik der Urteilskraft, 1790) als Gegenstand des interesselosen Wohlgefallens: „Geschmack ist das Beurtheilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen oder Mißfallen ohne alles Interesse. Der Gegenstand eines solchen Wohlgefallens heißt schön.“⁸ Das ästhetische Geschmacksurteil, das sich von allen moralischen (was gut ist) und rationalen (was richtig ist) Erwägungen freizuhalten versucht, gilt der Schönheit um der Schönheit willen, dem späteren Prinzip des l’art pour l’art,⁹ und muß sich dafür aller politischen Implikationen und Absichten enthalten. Kants Begriff wurde das bekannteste Motto der Kunstautonomie, wie sie, in Reaktion auf die Französische Revolution, das von Goethe und Schiller betriebene und ab 1795 zunächst in der Zeitschrift Die Horen vorgestellte Programm der ästhetischen Erziehung motiviert hat: Autarke Kunst als verbindliches Modell der humanen Gesellschaft.¹⁰ Im Gegensatz zur Zeitlosigkeit dieses klassischen Programms sind die Interessen „des Tages“ oder „der Zeit“ ausdrücklich zeitgebundene Belange. Der Begriff des ‚öffentlichen Interesses‘, mit dem der Schutz des Gemeinwohls auch juristisch gesichert wird,¹¹ setzt für Heine einen gesellschaftlichen Wandel voraus, an dem auch die Dichter als Zeitschriftsteller aktiv teilnehmen müssen, um ihn im „Interesse der Zeit“ zu beschleunigen. Die sich immer schneller ablösenden Umbrüche in der zeitgenössischen politischen Geschichte bringen den Stillstand der Zeit, der zunächst dem klassischen Streben nach ewigen Idealen und dann dem biedermeierlichen Streben nach Behaglichkeit im Rücken der Geschichte entgegenkam, in jene unbequeme ‚Bewegung‘, die den politischen Tendenzen der Zeit ihren Namen gegeben hat. Die von Heine gemeinte Bewegung erhofft sich von

 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft [1790], in: Kants Werke. Akademie-Textausgabe, Bd. 5, Berlin: De Gruyter 1968, 165 – 485, S. 221. Zu Kant vgl. Hannah Ginsborg, Aesthetic Judging and the Intentionality of Pleasure, in: Inquiry 46 (2003), 164– 181; zum Interesse vgl. Hartmut Neuendorff, Der Begriff des Interesses. Eine Studie zu den Gesellschaftstheorien von Hobbes, Smith und Marx, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973.  Théophile Gautier, mit dem Heine in Paris seit 1831 bekannt war, hat die Formel l’art pour l’art im Vorwort seines Romans Mademoiselle de Maupin (1835) eingeführt.  In der Ankündigung der Horen hat Schiller gleich am Anfang politische Abstinenz versprochen: „[V]orzüglich aber und unbedingt wird sie [die Monatsschrift] sich alles verbieten, was sich auf Staatsreligion und politische Verfassung bezieht“; Schiller, dtv-Gesamtausgabe, hrsg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, 20 Bde., München: dtv 1965 – 1966, Bd. 20, 59 – 62, S. 59. Vgl. Michael Müller, Horst Bredekamp u. a., Autonomie der Kunst. Zur Genese und Kritik einer bürgerlichen Kategorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972.  Vgl. Peter Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 22006.

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der wachsenden Unruhe eine schnelle Veränderung zum radikal Besseren. Deshalb gilt in engagierten Kreisen des Vormärz das Desinteresse am bewegten Tagesgeschehen als quietistische Untugend, die nur den status quo der Metternichschen Restauration stärkt. Für das Bemühen, die „Interessen der Zeit“ in die Kunst zurückzuholen und damit die Literatur zu politisieren, gebraucht Heine die Auseinandersetzung mit Goethe, dem kanonisch gewordenen Repräsentanten der „Kunstperiode“ und der mit Goethes Lebenszeit gleichgesetzten „Goethezeit“,¹² als Mittel zum Zweck seiner weit über Goethe hinausführenden Absichten. Während er, 1828 in einer Rezension, Wolfgang Menzel einerseits dafür tadelt, daß er in seinem Buch Die deutsche Literatur (1828) Goethe abfertigt, als wäre er schon tot, greift er andererseits den polemischen Abgesang doch gerne auf, um daraus eine eigene historiographische Konsequenz zu ziehen: Das Prinzip der goetheschen Zeit, die Kunstidee, entweicht, eine neue Zeit mit einem neuen Prinzipe steigt auf, und seltsam! wie das Menzelsche Buch merken läßt, sie beginnt mit Insurrektion gegen Goethe.¹³

Die Insurrektion gegen Goethe ist für Heine nur ein symbolischer Vorläufer der Revolution, auf die er eigentlich hofft. Seinen politischen Zielen kommt die Personalisierung des Epochenbegriffs entgegen, weil die persönliche Invektive auch der zeitgeschichtlichen Abrechnung erst die polemische Stoßkraft und seiner eitlen Selbsteinschätzung den gewünschten Anlaß gibt: Meine alte Prophezeiung von dem Ende der Kunstperiode, die bei der Wiege Goethes anfing und bei seinem Sarge aufhören wird, scheint ihrer Erfüllung nahe zu sein. Die jetzige Kunst muß zu Grunde gehen, weil ihr Prinzip noch im abgelebten alten Regime, in der heiligen römischen Reichsvergangenheit wurzelt. […] Indessen, die neue Zeit wird auch eine neue Kunst gebären, die mit ihr selbst in begeistertem Einklang sein wird.¹⁴

Der bevorstehende Bruch zwischen alter und neuer Zeit erscheint als notwendige „Erfüllung“ von Heines Prophezeiung, als wäre der Verlauf der Geschichte das Ergebnis ihrer Unterteilung durch den engagierten Dichter. Nun spricht auch Heine kurz vor Goethes Tod (am 22. März 1832) schon von dessen „Sarg“, bei dem  Der Begriff der Goethezeit wurde epochengeschichtlicher Standard durch die 1923 begonnene und 1957 abgeschlossene Darstellung von H. A. Korff, Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte, Bd. 1, Leipzig: J. J. Weber 1923.  Heine, [Rez.] Die deutsche Literatur von Menzel, S. 455.  Heine, Französische Maler. Gemäldeausstellung in Paris 1831 [1831], in: Heine, Sämtliche Schriften, hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 3, München: Hanser 1971, 29 – 73, S. 72.

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die Kunstperiode ihr erwartetes Ende finden wird, als könnte Goethe nicht schnell genug sterben. Und nach Goethes Tod beeilt sich Heine in den Vorarbeiten zur programmatischen Schrift Die romantische Schule, sich selbst zum Fahnenträger der neuen Zeit zu erklären: Es war nöthig nach Goethes Tode dem deutschen Publikum eine litterarische Abrechnung zu überschicken. Fängt jetzt eine neue Literatur an, so ist dies Büchlein auch zugleich ihr Programm, und ich, mehr als jeder andere, mußte wohl dergleichen geben.¹⁵

In koketter Unbescheidenheit hält Heine niemanden für berufener als sich selbst, dem deutschen Publikum das politische „Programm“ in Form einer „litterarischen Abrechnung“ vorzustellen, also als Dichter die Rolle eines politischen Geschichtsschreibers zu übernehmen, der die Kritik der Vergangenheit mit einer Vision für die Zukunft verbindet. Mit dieser Absicht hat Heine die Geschichte wirklich ‚umzuschreiben‘ versucht. Weil es in Deutschland noch keine Revolution gab, hat er zunächst das vorrevolutionäre ancien régime bis 1806 verlängert, als das von Napoleon erzwungene Ende des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation den Reaktionären Gelegenheit gab, sich nach der „heiligen römischen Reichsvergangenheit“ zurückzusehnen. Aber als mit der Niederlage Napoleons der deutsche Nationalismus die Grundlage der 1815 einsetzenden Restauration und der 1817 in den Karlsbader Beschlüssen geregelten Unterdrückung freiheitlicher Bestrebungen wurde, konnte Heine nur darauf hoffen, daß die personalisierte Erfahrung des Epochenbruchs, der durch Hegels Tod 1831 und durch Goethes Tod 1832 markiert war, endlich das Ende der ganzen illiberalen „Kunstperiode“ und eine „neue Zeit“ bringen würde, die sich von der alten Zeit vor allem durch die Politisierung aller Lebensbereiche unterscheidet. Aber weil es auf der deutschen Seite des Rheins inzwischen viel gefährlicher als zur Zeit der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten war, gegen das Verbot aller „Unterhaltung über das Interesse des Tages“ zu verstoßen, blieben die geselligen Zirkel des Biedermeiers Horte beschaulicher Indifferenz, ohne politische Ambitionen, denen Spitzel, Zensoren und die Polizei auflauern könnten. Heine, der ab 1831 im Pariser Exil lebte und damit von den französischen Ereignissen von 1789 und 1830 viel unmittelbarer geprägt war, kämpfte aus der relativen Sicherheit des Exils mit allen Mitteln, die ihm als Journalist und Literat zur Verfügung

 Heine, Brief an Heinrich Laube, 8. April 1833, in: Dichter über ihre Dichtungen, Bd. 8/1: Heinrich Heine, hrsg. v. Norbert Altenhofer, München: Heimeran 1971, S. 330 (mit Bezug auf die Schrift Zur Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland von 1833, aus der Die romantische Schule hervorgegangen ist).

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standen, um die Ideen und Ziele der Freiheitsbewegung auch in deutschen Landen öffentlich zu machen. Weil das auf der literarischen Bühne unverfänglicher war als im offen politischen Kampf, mußte Heine, um seine Ideen zu publizieren, jene raffinierte Sprachkunst als Phantasiespiel inszenieren, deren ästhetische Autonomie er im „Interesse der Zeit“ bekämpft hatte. Was Goethe den „Geist der Zeiten“ genannt und relativiert hat,¹⁶ wird von Heine mit dem Begriff der „Schule“ umschrieben, der auch den Konflikt verschiedener, miteinander konkurrierender Tendenzen erlaubt. So unterscheidet Heine in der kleinen, zu Lebzeiten ungedruckten Schrift Verschiedenartige Geschichtsauffassung (1833, publiziert 1869 mit dem von Adolf Strodtmann gewählten Titel) die „Humanitätsschule“ (Lessing), die „philosophische Schule“ (Hegel) und die „historische Schule“ (Savigny und Ranke),¹⁷ während er gleichzeitig die „romantische Schule“, als deren legitimen Nachfolger und Überwinder er sich versteht, als Beispiel einer literarhistorisch akzentuierten politischen Geschichte entwirft. Das historiographische Projekt, das 1833 mit dem ersten Teil der Romantischen Schule unter dem Titel Zur Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland begonnen hat und, ergänzt um den zweiten Teil, Ende 1835 unter dem Titel Die romantische Schule erschienen ist, gehört zeitlich und literaturpolitisch in den unmittelbaren Zusammenhang der Schrift über die Schulen historischen Denkens. Als Heinrich Laube in einer Rezension des ersten Teils Heines „Wissenschaft, verführerisch Geschichte zu schreiben“, gar nicht genug bewundern konnte,¹⁸ hat er der feuilletonistischen Geschichtsschreibung, die Heine geschaffen hat, ein erotisches Flair abgewonnen, das bis dahin – und auch danach – als völlig unwissenschaftlich gelten mußte. Schon der Rezensent der Blätter für literarische Unterhaltung sah „die Lebendigkeit und den Glanz der Darstellung“ im einzelnen gekennzeichnet durch „sinnreiche Gleichnisse und schlagende Ausdrücke, besonders wirksame Adjektive, die mit den Substantiven

 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Erster Teil [1808], in: Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Erich Trunz, Bd. 3, Hamburg: Wegner 71964, 7– 145, S. 26 (V. 577– 579): „Was ihr den Geist der Zeiten heißt, / Das ist im Grund der Herren eigner Geist, / In dem die Zeiten sich bespiegeln.“  Heine, Verschiedenartige Geschichtsauffassung [1833], in: Heine, Sämtliche Schriften, hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 3, München: Hanser 1971, 19 – 23, S. 21 f. Vgl. Susanne Zantop, Verschiedenartige Geschichtsschreibung: Heine und Ranke, in: Heine-Jahrbuch 23 (1984), 42– 68.  Heinrich Laube, [Rez. zu Heines Zur Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland in: Zeitung für die elegante Welt, 18. und 25. April, 10., 13. und 17. August 1833], in: Heine, Sämtliche Schriften, hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 3, München: Hanser 1971, 853 – 856, S. 854.

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in wilder Ehe leben“, und insgesamt als unseriöses Zeichen einer frivolen Gesinnung.¹⁹ Heine hat das Projekt einer Geschichte der romantischen Literatur schon zehn Jahre zuvor (1823 in einem Brief) angekündigt und damit, weil er deswegen mit Zensur und Verfolgung rechnen mußte, sogar sein künftiges Exil begründet: Wie ich gegenwärtig über das geistige Berlin denke, darf ich jetzt nicht drucken lassen; doch werden Sie es einst lesen, wenn ich nicht in Deutschland mehr bin, und ohne literarische Gefahr über neu-alt- und alt-neu-deutsche Literatur in einem eigenen Werkchen mich aussprechen werde.²⁰

Das historiographische Unternehmen, dieser als „Werkchen“ kleingeredete Angelpunkt seiner Biographie, stand also von vornherein im Zeichen politisch gefährlicher Provokation: Literaturgeschichte konzipiert als politisches Manifest, in dem die eigentlich gemeinten Gegner ungenannt bleiben, weil sie zu mächtig sind, um direkte Angriffe straflos hinzunehmen. Das den anderen Schulen entgegengesetzte Programm der Romantischen Schule beginnt schon auf der ersten Seite mit dem wiederholt angezeigten Epochenbruch zwischen Alt und Neu, den Heine als zukunftsorientierter Geschichtsschreiber schon einige Jahre zuvor vorhergesagt hat: Die meisten glauben mit dem Tode Goethes beginne in Deutschland eine neue literarische Periode, mit ihm sei auch das alte Deutschland zu Grabe getragen, die aristokratische Zeit der Literatur sei zu Ende, die demokratische beginne, oder, wie sich ein französischer Journalist jüngst ausdrückte, „der Geist der Einzelnen habe aufgehört, der Geist Aller habe angefangen“. […] Die Endschaft der „Goetheschen Kunstperiode“, mit welchem Namen ich diese Periode zuerst bezeichnete, habe ich jedoch schon seit vielen Jahren vorausgesagt.²¹

Es geht Heine um nicht weniger als die kritische Erledigung einer ganzen Epoche mit den Mitteln eines politischen Geschichtsschreibers, der auf dem Umweg über die Literatur die demokratische Zeit herbeischreiben will: „Denn jede Epoche ist eine Sphinx, die sich in den Abgrund stürzt, sobald man ihr Rätsel gelöst hat.“²²

 Anonym, [Rez. in: Blätter für literarische Unterhaltung, Nr. 225 – 228, 13. bis 16. August 1833], in: Heine, Sämtliche Schriften. Bd. 3, S. 856.  Heine, Brief an Julius Maximilian Schottky (Herausgeber österreichischer Volkslieder), 4. Mai 1823, in: Heine, Sämtliche Schriften, Bd. 3, S. 843 f.  Heine, Die romantische Schule, S. 360 (1. Buch).  Ebd., S. 362. Vielleicht eine Anspielung auf Heines Lieblingsgegner August Graf von Platen, der in der Komödie Der romantische Oedipus (1829) die Sphinx nicht in den Abgrund, sondern aus der Bühnenfiktion in den Orchestergraben stürzen läßt, nachdem ihr Ödipus ein perfektes Distichon vorgeführt hat. Vgl. August von Platen, Die verhängnisvolle Gabel. Der romantische

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Dieser mythisch-metaphorischen Rätsellösung hat sich Heine verpflichtet gefühlt, solange er sich selbst als Akteur auf der Bühne der Geschichte verstand, der die Anhänger des ancien régime endgültig in den Abgrund stürzt. Das Programm der „literarischen Abrechnung“ hat seinen historiographischen Platz in der Zusammenstellung mit der gleichzeitig geschriebenen Polemik gegen die Historische Schule in Verschiedenartige Geschichtsauffassung. Hatte Goethes Faust, in kritischer Anspielung auf Herder, den historistisch denkenden Famulus Wagner belehrt, daß der angebliche Geist der Zeiten eigentlich nur das Ergebnis unterschiedlicher Deutungshoheiten ist, beginnt Heine, in kritischer Anspielung auf Novalis, mit einer ganz ähnlichen Aussage: „Das Buch der Geschichte findet mannigfaltige Auslegungen.“²³ Die Geschichte ist, als Buch gefaßt, die Geschichte ihrer zeitbedingten Interpretationen. Wie die Romantiker gebraucht Heine das Motiv des Lebensbuchs, um dessen alternative Auslegung zu problematisieren. Während Heinrich von Ofterdingen in Novalis’ gleichnamigem Roman (1802) aus dem geheimnisvollen Buch, das er weltentrückt in der Höhle eines Eremiten gefunden hat, die Bedeutung seines Lebens in Vergangenheit und Zukunft erfährt (wie hier im Novalis-Kapitel ausgeführt), geht es Heine bei derselben Metapher um die öffentliche Relevanz der Geschichte und deren politischgesellschaftliche Auslegung. Aus dem Vergleich ergibt sich die Richtung von Heines Argument: statt individuellen Lebens allgemeine Geschichte, statt Poesie eines ästhetisch vermittelten Lebensverständnisses Kritik der staatlich sanktionierten Geschichtsdeutung, statt weltentrückter Reflexion weltliches Engagement. Heine identifiziert zwei einander entgegengesetzte Ansichten. Die erste ist die mit der Historischen Schule und den Anhängern Goethes identifizierte organologisch-zyklische Geschichtsauffassung, die durch politische Abstinenz charakterisiert ist: Die einen sehen in allen irdischen Dingen nur einen trostlosen Kreislauf; im Leben der Völker wie im Leben der Individuen, in diesem, wie in der organischen Natur überhaupt, sehen sie ein Wachsen, Blühen, Welken und Sterben: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. […] In Deutschland sind die Weltweisen der historischen Schule und die Poeten aus der Wolfgang Goetheschen Kunstperiode ganz eigentlich dieser Ansicht zugetan, und letztere pflegen damit einen sentimentalen Indifferentismus gegen alle politischen Angelegenheiten des Vaterlandes allersüßlichst zu beschönigen.²⁴

Oedipus. Neudruck der Erstausgaben, hrsg. v. Irmgard Denkler und Horst Denkler, Stuttgart: Reclam 1979, S. 145 f.  Heine, Verschiedenartige Geschichtsauffassung, S. 21.  Ebd.

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Für Heine erfolgt solche Beschönigung politischer Zurückhaltung ganz im Interesse der preußischen Regierung, die alle Kritik und Opposition zu unterdrücken versucht. Dabei läßt er sich auf ein forciertes Wortspiel mit dem Namen des Historikers Leopold von Ranke ein, um mit den „Ränken“ auf geheime Machenschaften der Herrschenden aufmerksam zu machen und deren willfährige Propagandisten zu geißeln: Eine zur Genüge wohlbekannte Regierung in Norddeutschland weiß ganz besonders diese Ansicht zu schätzen […] Immerhin, wer nicht durch freie Geisteskraft emporsprießen kann, der mag am Boden ranken; jener Regierung aber wird die Zukunft lehren, wie weit man kommt mit Ranken und Ränken.²⁵

Im Vertrauen auf eine Zukunft, die über die Gegenwart zu Gericht sitzen wird, sieht Heine in Rankes Historismus wie in Hegels Geschichtsphilosophie eine Sanktionierung des status quo und damit eine affirmative Bekräftigung preußischer Herrschaftsansprüche durch zwei führende Gelehrte der 1810 gegründeten Berliner Universität; Ranke, der den Liberalismus ab 1832 als Herausgeber der Historisch-politischen Zeitschrift bekämpfte, wurde 1825 und der 1831 gestorbene Hegel als Nachfolger des revolutionär gesinnten Fichte bereits 1818 nach Berlin berufen.²⁶ Die zweite Geschichtsauffassung ist linear, aber, weil Heine deren in der Aufklärung wurzelnden Vervollkommnungsgedanken mit christlicher Eschatologie verbindet, durchaus nicht progressiv: Der oben besprochenen, gar fatalen fatalistischen Ansicht steht eine lichtere entgegen, die mehr mit der Idee einer Vorsehung verwandt ist, und wonach alle irdischen Dinge einer schönen Vervollkommenheit entgegenreifen, und die großen Helden und Heldenzeiten nur Staffeln sind zu einem höheren gottähnlichen Zustande des Menschengeschlechtes, dessen sittliche und politische Kämpfe endlich den heiligsten Frieden, die reinste Verbrüderung, und die ewigste Glückseligkeit zur Folge haben. Das goldne Zeitalter, heißt es, liege nicht hinter uns, sondern vor uns;²⁷

Es ist unklar, ob das künftige goldene Zeitalter, dessen Vorstellung auch Novalis beflügelt hat, mit den Idealen der Französischen Revolution („reinste Verbrüde-

 Ebd.  Argumente für und gegen Heines ‚systemphilosophisches‘ Geschichtsbild im Sinne Hegels finden sich bei Jürgen Ferner, Versöhnung und Progression. Zum geschichtsphilosophischen Denken Heinrich Heines, Bielefeld: Aisthesis 1994, und bei Ortwin Lämke, Heines Begriff der Geschichte. Der Journalist Heinrich Heine und die Julimonarchie, Stuttgart/Weimar: Metzler 1997.  Heine, Verschiedenartige Geschichtsauffassung, S. 22.

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rung“) diesseitig oder mit der christlichen Hoffnung auf den himmlischen Frieden („ewigste Glückseligkeit“) eher jenseitig besetzt ist. Wie im ersten Fall Ranke und die Historische Schule als Wortführer der zyklischen Geschichtsauffassung genannt werden, sind es im zweiten Fall die Aufklärer und Hegel als Wortführer der linearen Geschichtsauffassung: In Deutschland huldigte ihr vornehmlich die Humanitätsschule. wie bestimmt die sogenannte philosophische Schule dahinzielt, ist männiglich bekannt. Sie war den Untersuchungen politischer Fragen ganz besonders förderlich, und als höchste Blüte dieser Ansicht predigt man eine idealische Staatsform, die, ganz basiert auf Vernunftgründen, die Menschheit in letzter Instanz veredeln und beglücken soll.²⁸

Heine distanziert sich von beiden Auffassungen, weil sie die Gegenwart im ersten Fall der Vergangenheit und im zweiten Fall der Zukunft opfern. Nicht unähnlich Goethe argumentiert Heine mit „unseren lebendigsten Lebensgefühlen“, damit „die Gegenwart ihren Wert behalte“.²⁹ Der vitalistische Gegenwartsbezug macht ihn nicht, wie man hätte erwarten können, zum Parteigänger der zweiten Richtung, der es wie ihm um eine ständige Verbesserung geht. Heine sieht die lebendige Kraft der Progression nicht in objektiven „Vernunftgründen“ der absolut gesetzten Geschichte, sondern in subjektiven Entscheidungen von Menschen, die die Verbesserung durch den Umsturz der gesellschaftlichen Ordnung selbst herbeiführen wollen: Das Leben will dieses Recht geltend machen gegen den erstarrenden Tod, gegen die Vergangenheit, und dieses Geltendmachen ist die Revolution.³⁰

Bei allem Rückgriff auf lebensphilosophische Prinzipien, die „das Leben“ zum historischen Subjekt der Geschichte bestimmen, ist für Heine, der sich nicht als Priester, sondern als poetischer Prophet und politischer Tribun versteht, die Kunst weit mehr als ein Medium der ästhetischen Erziehung, sie dient ihm als Propagandamittel revolutionärer Bestrebungen. Heine versäumt es in dieser (wie gesagt, erst posthum veröffentlichten) Schrift von 1833, seine eigene Geschichtsauffassung anders als durch Ablehnung der beiden anderen „Schulen“ ex negativo kenntlich zu machen. Für ihn ist im Namen der Revolution der „elegische Indifferentismus der Historiker und Poeten“ ebenso inakzeptabel wie im „Interesse der Gegenwart“ die „Schwärmerei der Zukunft-

 Ebd.  Ebd.  Ebd., S. 23.

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beglücker“.³¹ Während Heines erste Distanzierung nur den wiederholt verkündeten Kampf gegen die „Goethesche Kunstperiode“ fortsetzt, muß die zweite Distanzierung, noch antireligiös motiviert, auf den ersten Blick überraschen, weil Heine damit auch das lineare Geschichtsbild der Aufklärer trifft, dem er grundsätzlich näher steht als dem zyklischen Geschichtsbild. Heines eigenes Geschichtsbild, das er in Verschiedenartige Geschichtsauffasung nur in der Negation theoretisch angedeutet hat, begegnet uns – diesmal in der Abgrenzung gegen Germaine de Staëls De l’Allemagne (1810) – in der Romantischen Schule als literarhistorische Praxis, als politisch gemeinte Kritik an der romantischen Enthistorisierung der Geschichte, wie sie sich in der Verklärung des erneuerten Mittelalters gezeigt hat. Zum Beweis der These, daß man „unsere neueste deutsche Literatur nicht besprechen [kann], ohne ins tiefste Gebiet der Politik zu geraten“,³² behauptet Heine, daß die romantischen „Schriftsteller, die in Deutschland das Mittelalter aus seinem Grabe hervorgezogen“ haben, ganz „andere Zwecke“ als französische Romantiker verfolgten und damit „die Freiheit und das Glück meines Vaterlandes“ gefährden.³³ Der Wunderglaube an Erlösungsritter in altdeutschem Kostüm war ihm zuwider, weil er mit jener Geschichte in Vergangenheit und Zukunft, von der Heine eine ganz andere Befreiungstat erwartete, nichts zu tun hatte. Die religiös gestimmte und bald nationalistisch genutzte Esoterik der Romantiker, in deren Vorliebe für Nacht, Tod und eine zeitlose Märchenwelt Heine eine fragwürdige Duldung, wenn nicht gar Förderung des Despotismus vermutete, stand für ihn im krassen Gegensatz zum Tatendrang der jungdeutschen Zeitschriftsteller, die zusammen mit Heine durch den Bundestagsbeschluß vom 10. Dezember 1835 verboten wurden, weil sie „die christliche Religion auf die frechste Weise anzugreifen, die bestehenden socialen Verhältnisse herabzuwürdigen und alle Zucht und Sittlichkeit zu zerstören“ gesucht hätten.³⁴

 Ebd.  Heine, Die romantische Schule, S. 467 (3. Buch).  Ebd., S. 494 (3. Buch).  Zitiert nach Dieter Breuer, Geschichte der literarischen Zensur in Deutschland, Heidelberg: Quelle & Meyer 1982, S. 156. Vgl. Heines spöttische Reaktion auf das Verbot in seiner Schrift Über den Denunzianten (1837), in: Heine, Sämtliche Schriften, hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 5, München: Hanser 1974, 26 – 42, S. 27: „Aber ach! als ich es endlich im Schreiben so weit gebracht hatte, da ward mir das Schreiben selbst verboten. Ihr kennt den Bundestagsbeschluß vom Dezember 1835, wodurch meine ganze Schriftstellerei mit dem Interdikte belegt ward. Ich weinte wie ein Kind! Ich hatte mir so viel Mühe gegeben mit der deutschen Sprache, mit dem Akkusativ und Dativ, ich wußte die Worte so schön an einander zu reihen, wie Perl an Perl, ich fand schon Vergnügen an dieser Beschäftigung, sie verkürzte mir die langen Winterabende des Exils, ja wenn ich deutsch schrieb, so konnte ich mir einbilden, ich sei in der Heimat, bei der Mutter … Und nun ward mir das Schreiben verboten!“

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Eine solche Begründung des Verbots mußte den Verdacht Heines bestätigen, daß es sich bei den religiösen, sozialen und moralischen Einwänden nur um einen Vorwand zum politischen Schutz der bestehenden „Verhältnisse“ handelte. Aber innerhalb der nächsten beiden Jahrzehnte verschieben sich die Akzente in Heines Gewichtung von Revolution und Gegenwart. Je mehr (der oft beschworene) Goethe, zwanzig Jahre nach seinem Tod, in der Vergangenheit verschwindet, desto mehr tritt (der kaum genannte) Karl Marx, vor allem nach dem Kommunistischen Manifest (1847), in den Vordergrund seiner Sorge um die künstlerische Freiheit. Die Revolution von 1848 war für Heine nicht die Erfüllung der politischen Träume, in denen er sich gerne als Hauptakteur gesehen hätte, sondern ein von einem entfernten „Sperrsitz“ angeschautes Theaterstück, das „der große Autor […] schon vor achtzehn Jahren ebenfalls zu Paris [hat] aufführen lassen unter dem Titel ‚Die Julirevolution‘“.³⁵ Das in die Distanz der Fiktion gerückte Geschehen kommt ihm am nächsten in Gestalt eines im selben Hause wohnenden 15-jährigen Jungen, der seiner Großmutter aus den gestürmten Tuilerien triumphierend einen Topf Konfitüre mitgebracht hat. Heine, für den die schönste Beute der Revolution nicht mehr als ein süßer Brotaufstrich ist, widmet dem nach England geflohenen König Louis-Philippe sogar ein nostalgisches Porträt, als hätte es keinen besseren König geben können.³⁶ Physisch schon zu geschwächt, um noch aktiv an dem Geschehen teilzunehmen, wendet er sich angewidert ab von dem „Weltrevolutionsgepolter“,³⁷ das für Heine durchaus nicht die Erfüllung der linearen Progression ist. Für die Furcht vor den immer dogmatischer werdenden „Zukunftbeglückern“, die um des künftigen Heils willen das gegenwärtige Leben zu opfern bereit sind, hat Heine die inzwischen politisch formierten Gegner gefunden und in der Vorrede zu Lutetia (1855) beim Namen genannt: die kommunistischen Bilderstürmer, die für seine phantastischen Sprachspiele keine Geduld mehr hätten. In der Tat, nur mit Grauen und Schrecken denke ich an die Zeit wo jene dunklen Ikonoklasten zur Herrschaft gelangen werden: mit ihren rohen Fäusten zerschlagen sie alsdann alle Marmorbilder meiner geliebten Kunstwelt, sie zertrümmern alle jene phantastischen Schnurrpfeifereien, die dem Poeten so lieb waren; sie hacken mir meine Lorbeerwälder um, und pflanzen darauf Kartoffeln; die Lilien, welche nicht spannen und arbeiteten, und doch so schön gekleidet waren wie König Salomon, werden ausgerauft aus dem Boden der Gesellschaft, wenn sie nicht etwa zur Spindel greifen wollen; den Rosen, den müßigen Nach-

 Heine, [Über die Februarrevolution 1848], in: Heine, Sämtliche Schriften, Hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 5, 207– 215, S. 208.  Ebd., S. 209 f.  Heine, Brief an seine Schwester Charlotte Emden, 12. Juni 1848, in: Heine, Sämtliche Schriften, Bd. 5, S. 804.

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tigallbräuten, geht es nicht besser; die Nachtigallen, die unnützen Sänger, werden fortgejagt, und ach! Mein „Buch der Lieder“ wird der Krautkrämer zu Tüten verwenden, um Kaffee oder Schnupftabak darin zu schütten für die alten Weiber der Zukunft – Ach! das sehe ich alles voraus, und eine unsägliche Betrübnis ergreift mich, wenn ich an den Untergang denke, womit meine Gedichte und die ganze alte Weltordnung von dem Kommunismus bedroht ist –³⁸

Der Geschichtsschreiber der Zukunft, als der sich der Dichter Heine im Anschluß an Friedrich Schlegel verstanden hat, blickt jetzt nur noch „mit Grauen und Schrecken“ in die Zukunft, in der alles Schöne, alles Sinnlich-Gegenwärtige dem sozialrevolutionären Utilitarismus untergeordnet wird. Inzwischen zum Parteigänger ausgerechnet der „alten Weltordnung“ geworden, die er vorher im Namen der „neuen Zeit“ immer bekämpft hat, fürchtet er jetzt den Materialismus, für den Literatur nur noch Makulatur sein wird – wie seine gedruckten Gedichte nur noch als Einwickelpapier für Kaffee oder Schnupftabak taugen werden. Nun fürchtet er die Zukunft just im Interesse jener Kunstautonomie, die ihm früher unerträglich war. Wenn er auch immer noch nicht den politischen „Indifferentismus“ teilt, so sorgt er sich doch um die Freiheit der Kunst, wenn „mit rohen Fäusten […] alle Marmorbilder meiner geliebten Kunstwelt“ zerschlagen und alle Phantasien zertrümmert werden, weil die Dichter, „unnütze Sänger“ wie Nachtigallen, von den Nutznießern der Revolution „fortgejagt“ werden. Angesichts dieser bedrohlichen Vision eines zweiten Exils verstärkt sich bei Heine die Ästhetisierung des historischen Denkens. Je gewalttätiger die Revolution wird, desto mehr bemüht er sich, die bedrohte Kunst, diesen Freiraum des Phantasiespiels, vor materialistischem Kalkül zu bewahren. Dazu holt er das gegenwärtige Geschehen zurück auf die Bühne der Weltgeschichte, die er schon in den Ideen. Das Buch Le Grand (1826) entworfen hatte: [A]uf dieser großen Weltbühne geht es auch außerdem ganz wie auf unseren Lumpenbrettern, auch auf ihr gibt es besoffene Helden, Könige, die ihre Rolle vergessen, Kulissen, die hängen geblieben, hervorschallende Souffleurstimmen, Tänzerinnen, die mit ihrer Lendenpoesie Effekt machen, Costümes, die als Hauptsache glänzen – Und im Himmel und oben, im ersten Range, sitzen unterdessen die lieben Engelein, und lorgnieren uns Komödianten hier unten, und der liebe Gott sitzt ernsthaft in seiner großen Loge, und langweilt

 Heine, Lutetia [deutscher Entwurf zur Vorrede der französischen Ausgabe der Tagesberichte aus Paris u.d.T. Lutetia, 1854 / Lutece, 1855], in: Heine, Sämtliche Schriften, hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 5, München: Hanser 1974, 227– 234, S. 232. Vgl. Leo Kreutzer, Heinrich Heine und der Kommunismus, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1970.

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sich vielleicht, oder rechnet nach, daß dieses Theater sich nicht lange mehr halten kann, weil der eine zu viel Gage und der andre zu wenig bekommt, und alle viel zu schlecht spielen.³⁹

Die „Ironie des großen Weltbühnendichters da droben“⁴⁰ erweist sich auch darin, daß das Welttheater, dem Heine 1826 amüsiert zugeschaut hat, als er noch hoffte, selbst in das Geschehen eingreifen zu können, 1848 über ihn hinweggegangen ist, nicht nur weil er hilflos in einem Sanatorium liegt und ab Mai 1848 an die „Matratzengruft“ gefesselt ist, sondern weil der poetische Geschichtsschreiber der Zukunft, der er sein wollte, ausgerechnet von dieser revolutionären Zukunft überholt wurde. Der „große Autor“ da oben läßt den kleiner gewordenen Autor Heine hier unten das sich überschlagende Geschehen wieder nur von einem „Sperrsitz“ aus betrachten,⁴¹ als gäbe es keine andere Wirklichkeit als die „Weltbühne“. Wie Goethes Geschichtsschreiber gegen die Vergangenheit⁴² schützt sich Heine gegen die Gegenwart gewordene Zukunft dadurch, daß er die Geschichte als dichterische Phantasie inszeniert, um sie aus sicherer Distanz beobachten zu können. Noch mehr als früher ist er, statt engagierter Akteur, nur noch bloßer Zuschauer des Geschehens. Mit solcher Flucht in die literarische Fiktion nähert sich Heine einer Haltung, die er einst den Vertretern der „Kunstperiode“ als Eskapismus vorgehalten hatte. Aus Enttäuschung über die revolutionären Folgen des linear-progressiven Geschichtsdenkens greift Heine sogar auf das zyklische Geschichtsbild zurück, gegen das er früher so entschieden angeschrieben hatte. Sogar die Revolution von 1848 erscheint ihm nun als bloße Wiederholung der Revolution von 1830: „Wiederholt sich der große Autor?“⁴³ fragt sich Heine, als wollte er schon wie Nietzsche „die ewige Wiederkehr des Gleichen“ predigen.⁴⁴ Sollte der göttliche Regisseur

 Heine, Ideen. Das Buch Le Grand, in: Heine, Sämtliche Schriften, hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 2, München: Hanser 1969, 245 – 308, S. 283.  Heine, Reisebilder. Dritter Teil: Die Bäder von Lucca [1829], in: Heine, Sämtliche Schriften, hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 2, München: Hanser 1969, 391– 470, S. 424.  Heine, [Über die Februarrevolution 1848], S. 208.  Vgl. Goethe, Maximen und Reflexionen, in: Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Erich Trunz, Bd. 12, Hamburg: Wegener 51963, 365 – 547, S. 391 (Nr. 193): „Geschichte schreiben ist eine Art, sich das Vergangene vom Halse zu schaffen.“  Heine, [Über die Februarrevolution 1848], S. 208.  Friedrich Nietzsche hat mehrfach von der „ewigen Wiederkunft“ gesprochen, so in Also sprach Zarathustra (1883 – 1885), in: Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta, Bd. 2, München: Hanser 51966, 275 – 561, S. 467 (Dritter Teil, Kap. „Der Genesende“): „[I]ch komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben, im Größten und auch im Kleinsten, daß ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre.“ Vgl. Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Stuttgart: Kohlhammer 1956.

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wirklich auf die Seite der zyklischen Historiographen übergetreten sein? Hinweise auf den „uralten Naturkreislauf“, der die ganze Welt bestimmt,⁴⁵ mehren sich, wie Gerhard Höhn gezeigt hat,⁴⁶ nun auch in den späten Gedichten, besonders im Romanzero (1851). Aber ebenso wichtig wie die Anleihe beim zyklischen Geschichtsbild, die eine deutliche Revision seines Standpunkts markiert, ist die nicht weniger überraschende Kontinuität, mit der Heine nun erst recht die Priorität der Dichtung betont. Nicht nur der Topos des theatrum mundi, der seit Shakespeare die Weltgeschichte als Bühnengeschehen fiktionalisiert,⁴⁷ sondern vor allem das lyrische Medium – Gedichte statt journalistischer Artikel – unterstreicht die Ästhetisierung seines historischen Denkens, als es darum geht, die von der revolutionären Geschichte bedrohte Dichtung zu retten. Ganz programmatisch beginnt Heines Altersgedicht Bimini (1853 – 1854, posthum veröffentlicht 1869), mit dem – aus Novalis’ Heinrich von Ofterdingen (1802) bekannten – Motto der Romantik „Wunderglaube! blaue Blume“.⁴⁸ Wie ein Romantiker lenkt Heine in der Rolle des spanischen Eroberers Juan Ponce de Léon, der 1513 Florida entdeckt (und benannt) hat, das rettende „Zauberschiff“ der Poesie⁴⁹ heraus aus der Wirklichkeit und weg von der Tradition des aufgeklärten Verstandes: „Phantasie sitzt an dem Steuer, / Gut Laune bläht die Segel, / Schiffsjung ist der Witz, der flinke, / Ob Verstand an Bord? Ich weiß nicht!“⁵⁰ Auch diese Schiffahrt in die Freiheit ist eine Rückkehr in die erneut besungene „Wunderglaubenszeit“⁵¹ der Romantik, in der die historische Zeit der Wirklichkeit suspendiert ist und ewige Jugend lockt: „Auf der Insel Bimini / Quillt die allerliebste Quelle; / Aus dem teuren Wunderborn / Fließt das Wasser der Verjüngung.“⁵² Das Versprechen „künftger Jugend“⁵³ verwandelt den Aufbruch in die  Heine, Nachgelesene Gedichte 1845 – 1856, Nr. 15 Pferd und Esel, in: Heine, Sämtliche Schriften, hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 6/1, München: Hanser 1975, 293 – 295, S. 295.  Gerhard Höhn, Eternal Return or Indiscernible Progress? Heine’s Conception of History After 1848, in: A Companion to the Works of Heinrich Heine, hrsg. v. Roger F. Cook, Rochester: Camden House 2002, 169 – 199.  Vgl. Shakespeare, As You Like It (1599), II/7: „All the world’s a stage and all the men and women merely players.“  Heine, Bimini, in: Heine, Sämtliche Schriften, hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 6/I, München: Hanser 1975, 241– 266, S. 243 (Prolog, V. 1).  Ebd., S. 248 (Prolog, V. 179). In einer von Heines Sekretär Richard Reinhardt überlieferten Variante des Prologs läßt der homerische Musenanruf keinen Zweifel an dem poetischen Charakter des Traumschiffes: „Muse, kleine Zauberin, / Mach mein Lied zu einem Schiffe, / Und mit aufgespannten Segeln / Fahren wir nach Bimini!“ (Bd. 6/II, S. 76).  Heine, Bimini, S. 248 (Prolog, V. 165 – 168).  Ebd., S. 241 (Prolog, V. 5).  Ebd., S. 258 (II, V. 41– 44).  Ebd., S. 263 (III, V. 127).

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neue Welt in eine zyklische Heimfahrt zu den verschütteten Ursprüngen, ad fontes, wo der Kreislauf des Lebens dem Alter eine neue Jugend verspricht. Mit der Rückkehr zum romantischen Glauben an die Verwandlung der Welt durch Poesie bewahrheitet sich gegen Heines Lebensende das Urteil, das zwanzig Jahre früher Gustav Kühne in seiner Rezension der Romantischen Schule gefällt hat: Heine ist selbst romantisch. Nicht bloß in seinen frühern Balladen und Liedern, auch in der Prosa seiner kritischen Erörterungen, auch wenn der Dämon des Hohns ihn über selbstgegrabene Grüfte führt, überschleicht ihn dann und wann ein wunderbarer lyrischer Hauch der Seele, der ihn nicht kalt töten läßt, sondern mit jener versteckten, leisen Wehmut, in die der Humor seine Pfeile des Witzes taucht.⁵⁴

Wenn die Insel Bimini auch nur ein Hirngespinst sein mag und sich im Quell der Jugend eigentlich nur der Fluß „Lethe“⁵⁵ verbirgt, in dem man sterbend alles vergißt, so schwelgt das abschließende Verlöschen der Erinnerung in der gar nicht so leisen Wehmut, die sich immer an die Hoffnung auf die Wiederkehr des Verlorenen klammert. Mag die Geschichte, als deren Propheten und Tribun sich Heine ein Leben lang gefühlt hat, auch vergessen werden, als Geschichtsschreiber der Zukunft hat er, um sie in der Phantasie zu beschwören, an der Dichtung nicht nur festgehalten, sondern ihre Wirkung als romantisches Narkotikum („Süßer Hoffnung toller Traumtrank“; III, V. 180) noch verstärkt. Gegen Ende seines Lebens ist Heine in die „romantische Schule“ zurückgekehrt, die er zwanzig Jahre früher unter Protest verlassen hat. Insgeheim ist er selbst dann ihr treuer Schüler geblieben, als er seine Lehrer, allen voran August Wilhelm Schlegel, bei dem er 1819/20 in Bonn studiert hat, mit Witz und Ironie lächerlich zu machen versuchte. Heine hat vor allem im 2. Buch der Romantischen Schule A. W. Schlegels „Manier, die Gegenwart mit dem Maßstabe der Vergangenheit zu messen“,⁵⁶ angegriffen, weil dieser, einer nicht nur antiquarischen, sondern auch antiquierten Geschichtsauffassung folgend, den wissenschaftlichen Fortschritt verpaßt habe und hinter dem Germanisten Jakob Grimm, dem Indologen Franz Bopp und dem Historiker B. G. Niebuhr weit zurückgeblieben sei. Um Heines späten Schwenk von der linearen zur zyklischen Geschichtsauffassung besser zu verstehen, müssen wir den Blick noch einmal zurücklenken auf die Zeit, in der der Glaube an die „Marmorbilder meiner Kunstwelt“ entstanden ist. Heine hat, um es thesenartig verkürzt auszudrücken, immer nur die ‚Inter 28.  

Gustav Kühne, [Rez. zu Die romantische Schule, in: Zeitung für die elegante Welt, Nr. 235, November 1835], in: Heine, Sämtliche Schriften. Bd. 3, S. 859. Heine, Bimini, S. 266 (IV, V. 33). Heine, Die romantische Schule, S. 415 (2. Buch).

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esselosigkeit‘ der (autonomen) Kunst, aber nie die Priorität der (engagierten) Kunst bekämpft. Die Kunst ist ihm immer das vorrangige Medium des politischen Kampfes geblieben. Als literarischer Tribun des revolutionären Wandels hat er am Primat des Ästhetischen immer festgehalten. Aber als sich Heine 1851 in der Furcht vor den kommunistischen Bilderstürmern Sorgen macht um die „Marmorbilder meiner Kunstwelt“, die sie zerschlagen könnten, hat er tunlich vergessen, daß er früher selber ein Bilderstürmer war. Er war so sehr erpicht auf den historischen Bruch einer Zeitenwende, daß er unterschwellige eigene Kontinuitäten unterdrückt hat. Als er sich 1822 als BerlinKorrespondent des Rheinisch-Westfälischen Anzeigers die ersten journalistischen Sporen damit verdiente, daß er in der neuen Hauptstadt der 1815 preußisch gewordenen Rheinlande dem Zeitgeist nachspürte, hat er schon im ersten der Briefe aus Berlin (1822) die „Marmorstatue“ des alten Dessauers, d. h. des Fürsten Leopold I. von Anhalt-Dessau (1676 – 1747), mit leisem Spott bedacht und gleich die Standbilder der anderen Helden aus der preußischen Militärgeschichte einbezogen, weil sie „in altpreußischer Uniform“ und „in römischem Kostüm mit einer Allongeperücke“ einer abgelebten Vergangenheit angehören:⁵⁷ James Keith (1696 – 1758), Hans Joachim von Zieten (1699 – 1786), Friedrich Wilhelm von Seydlitz (1721– 1773), Kurt Christoph Graf von Schwerin (1684 – 1757) und Hans Karl von Winterfeldt (1707– 1757). Geschichte der nach Schlachten eingeteilten Vergangenheit, die – wie für A. W. Schlegel – zum Maßstab der Gegenwart wurde, entsprach schon in Heines Berliner Anfängen nicht seiner angestrebten Rolle als Geschichtsschreiber der Zukunft. Heines „Vorliebe für Chiffre und Motiv des Marmorbildes“ (Briegleb)⁵⁸ beruht auf der politischen Wirkungskraft poetischer Bildlichkeit, wenn er zuerst die preußischen Kriegshelden und dann die Götter der Goetheschen Kunstperiode, als wären sie erstarrte Marmorbilder, vom Sockel zu stürzen versucht. Weit über motivgeschichtliche Ansätze hinaus, die sich hier anbieten, geht es um die Wirkungsmacht der Sprache und letztlich um die Bildlichkeit historischen Denkens. Mit der von Boccaccio gelernten Novellistik, die, wie wir einleitend gesehen haben, für ihn das Pendant des thukydideischen Wissenschaftsideals ist, hat Heine die Geschichtsschreibung so belebt, daß sich die Geschichte oft in den Geschichten verliert, die er von ihr erzählt oder, wie in der ersten der Florentinischen Nächte (1836), von Maximilian einer an Nervenfieber leidenden Lungenkranken

 Heine, Briefe aus Berlin, in: Heine, Sämtliche Schriften, hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 2, München: Hanser 1969, 7– 68, S. 11.  Klaus Briegleb im Kommentar zu Heine, Sämtliche Schriften, hrsg. v. Briegleb, Bd. 1, München: Hanser 1968, S. 870.

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erzählen läßt. Um die Kranke zu beruhigen und am Sprechen zu hindern, erzählt Maximilian eine Geschichte nach der anderen. Er beginnt damit, daß er einst im Schloßgarten seiner Mutter eine umgestürzte, unversehrt im Gras liegende Statue, eine „marmorne Göttin, mit den reinschönen Gesichtszügen und mit dem straffgeteilten Busen, der, wie eine griechische Offenbarung, aus dem hohen Grase hervorglänzte“⁵⁹, mit sinnlicher Inbrunst geküßt hat; damit begann seine „wunderbare Leidenschaft für marmorne Statuen“⁶⁰. In der Medici-Kapelle von Florenz hat er sich in den „Anblick eines marmornen Frauenbildes (versenkt), dessen gewaltiger Leibesbau von der kühnen Kraft des Michel Angelo zeugt“⁶¹. In einer Antiken-Galerie ist er einer griechischen Nymphe begegnet, die ihn „lange Zeit in ihren Mamorfesseln gefangen hielt“⁶². Und im Park von Sanssouci hat ihn eine Statue so sehr an ein vor sieben Jahren gestorbenes Mädchen erinnert, daß die Verstorbene ins Leben zurückzukehren schien: „[E]ndlich stand die süße kleine Person wieder leibhaftig vor mir […]. Ich aber wurde täglich mehr und mehr verzaubert von diesem Bilde das täglich mehr und mehr Realität für mich gewann.“⁶³ Mit dem ‚Bild, das Realität gewinnt‘, hat Heine, der laut Karl Gutzkow einer ganzen Generation gezeigt hat, wie man „die conkreten Bilder für abstrakte Begriffe“ setzt,⁶⁴ die Idee dieser Bilderfülle auf den Begriff gebracht. Solche sinnliche Erfahrung der Wirkungsmacht von Fiktion ist für Heine ein immer wiederkehrender romantischer Traum. Heine hat für Maximilians Erfahrung, daß er sich in Marmorstatuen verliebt, als lebten sie, als könnte seine Liebe sie beleben, als verwandelte sich Kunst in Leben, ein noch wirkungsmächtigeres Urbild im Pygmalion-Mythos gefunden:⁶⁵ In der bekanntesten Version des Mythos, in Ovids Metamorphosen (1. Jahrzehnt n.Chr.),⁶⁶ ist der Bildhauer Pygmalion zu der von ihm geschaffenen Statue in so leidenschaftlicher Liebe entbrannt, daß die Liebesgöttin Venus, die er anfleht, seinen Wunsch erfüllt und dem Standbild das ersehnte Leben schenkt. Verglichen mit dem anderen, von den Romantikern bevorzugten Künstler-Mythos, der

 Heinrich Heine, Florentinische Nächte, in: Heine, Sämtliche Schriften, hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 1, München: Hanser 1968, S. 557– 615, 560.  Heine, Florentinische Nächte, S. 562 f.  Heine, Florentinische Nächte, S. 563.  Ebd.  Heine, Florentinische Nächte, S. 564.  Karl Gutzkow, Beiträge zur Geschichte der neuesten Literatur, Stuttgart: P. Balz 1836, Bd. 1, S. 41.  Vgl. zum folgenden ausführlicher Hinrich C. Seeba, Die Kinder des Pygmalion. Die Bildlichkeit des Kunstbegriffs bei Heine. Beobachtungen zur Tendenzwende der Ästhetik, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 50 (1976), 158 – 202.  Ovid, Metamorphosen, X, V. 243 – 297.

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aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. stammenden Geschichte vom legendären Sänger Orpheus, der mit seinem Gesang die Natur bezwingt und deshalb zum Stifter der orphischen Kunstreligion wurde,⁶⁷ ist der Pygmalion-Mythos viel jünger und als Erfindung der Spätzeit auch viel problematischer. Wie Orpheus die Natur zum Sprechen, bringt Pygmalion die Kunst zum Leben. Aber das Wunder, das Orpheus selber immer wieder vollbringt, ist viel mythischer als das Wunder, das sich an Pygmalion nur einmal vollzieht. Während Orpheus in den mystischen Naturzauber, den sein Gesang auslöst, selbst eingeschlossen ist, weiß Pygmalion sich von seiner im Standbild objektiv gewordenen Kunst so getrennt, daß er sich zu ihr, in Sinne Schillers, ‚sentimentalisch‘ verhält. Während Orpheus aus eigener Kraft, der Macht seines Gesanges, die Natur verwandeln kann, als würde sie selbst – und er mit ihr – zum Kunstwerk, ist Pygmalion für die Rückverwandlung der Kunst in Natur auf eine dea ex machina angewiesen, die an seiner Stelle das Verwandlungswunder vollbringt. Die von Pygmalion ersehnte Vereinigung ist als Gnadengeschenk der Liebesgöttin nur ein Ersatz für die verloren gegangene Einheit, die den Orphikern noch selbstverständlich war. Schon bei Ovid eignet dem Künstler Pygmalion ein Hauch jener Selbstentfremdung, die Schiller, im Vergleich mit dem ‚griechischen‘ Goethe, im ‚sentimentalischen‘ Menschen der Moderne verkörpert sah.⁶⁸

 Zur romantischen Orpheus-Rezeption vgl. Novalis, Heinrich von Ofterdingen (1802), in: Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hrsg. v. Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Bd. 1: Das dichterische Werk, Stuttgart: Kohlhammer 21960, 181– 369, S. 211: „So sollen vor uralten Zeiten in den Ländern des jetzigen Griechischen Kaisertums, wie uns Reisende berichtet, die diese Sagen noch dort unter dem gemeinen Volke angetroffen haben, Dichter gewesen sein, die durch den seltsamen Klang wunderbarer Werkzeuge das geheime Leben der Wälder, die in den Stämmen verborgenen Geister aufgeweckt, in wüsten, verödeten Gegenden den toten Pflanzensamen erregt, und blühende Gärten hervorgerufen, grausame Tiere gezähmt und verwilderte Menschen zu Ordnung und Sitte gewöhnt, sanfte Neigungen und Künste des Friedens in ihnen rege gemacht, reißende Flüsse in milde Gewässer verwandelt, und selbst die totesten Steine in regelmäßige tanzende Bewegungen hingerissen haben. […] Seitdem sollen, wie die Sage lautet, erst die mannigfaltigen Töne und die sonderbaren Sympathien und Ordnungen in die Natur gekommen sein, indem vorher alles wild, unordentlich und feindselig gewesen ist.“ Ein ferner Nachklang ist die „wundersame, gewaltige Melodei“, mit der Heines Lorelei („Ich weiß nicht was soll es bedeuten“) die Rheinschiffer in den Untergang singt – und damit die Gefahren romantischer Träumerei markiert (in: Heine, Sämtliche Schriften, hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 1, München: Hanser 1968, S. 107).  Vgl. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung [1796], in: Schiller, dtv-Gesamtausgabe, hrsg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, 20 Bde., München: dtv 1965 – 1966, Bd. 19, 118 – 196, S. 134 f.: „Sie [die Griechen] empfanden natürlich; wir empfinden das Natürliche. […] Sie [die Dichter] werden entweder Natur sein, oder sie werden die verlorene suchen. Daraus entspringen zwei ganz verschiedene Dichtungsweisen, durch welche das ganze Gebiet der

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Mit sicherem Blick für die wechselseitige Erhellung von Bild und Begriff hat Heine in Ovids mythologischer ‚Verwandlung‘ eine Allegorie auf die Macht der Kunst erkannt: Der Stein wird Fleisch und Blut, das Kunstgebilde verläßt den Sockel der Fiktion und tritt ins Leben hinein. Was vorher mit Bewunderung nur angeschaut werden konnte, hat jetzt handelnd an dem Leben teil, dessen bloßes Abbild es war. Heines „wunderbare Leidenschaft für marmorne Statuen“ erklärt sich aus dieser Verwandlung der Fiktion in Realität, die als Bildkern des neuen Kunstprinzips verstanden werden kann. Da es sich um die Metamorphose vorwiegend griechischer Marmorbilder handelt, mag auch das griechische Wortverständnis mitgespielt haben, als Heine mit diesem Bild auch die Verwandlung der Ästhetik (als Theorie der sinnlichen Wahrnehmung, von griech. αισθανομαι, aisthanomai = wahrnehmen) in die Pragmatik (als Theorie des Handelns von griech. πραττω, pratto = handeln) betrieb. Vor dem Hintergrund des immer wieder beschworenen Gegensatzes von sensualistischem Hellenismus und spiritualistischem Nazarenertum⁶⁹ läuft die Erotisierung des Marmorbilds auf das wichtigste Merkmal von Heines Schreibkunst hinaus: die Bildlichkeit des Begriffs, wie sie für den von Heine gemeinten Praxisbezug engagierter Literatur unentbehrlich ist. In dieser bildlichen Verkleidung eines theoretischen Prinzips hat sich Heine den poetischen Charakter seiner Rolle als Geschichtsschreiber der Zukunft gesichert. So war es nur konsequent, daß Heine das Bildprinzip gegen die Symbolfigur des autarken Kunstbegriffs mobilisiert und Goethes Werke, um ihre posthume Wirkungslosigkeit zu erweisen, zu Marmorstatuen versteinert: Sie zieren unser teueres Vaterland, wie schöne Statuen einen Garten zieren, aber es sind Statuen, Man kann sich darin verlieben, aber sie sind unfruchtbar: die Goetheschen Dichtungen bringen nicht die Tat hervor, wie die Schillerschen. Die Tat ist das Kind des Wortes, und die Goetheschen schönen Worte sind kinderlos. Das ist der Fluch alles dessen was bloß durch die Kunst entstanden ist.⁷⁰

Poesie erschöpft und ausgemessen wird.“ Die Typologie wurde bekanntlich vorbereitet in Schillers Brief vom 23. August 1794 an Goethe, in: Goethe – Schiller, Briefwechsel, Frankfurt am Main: Fischer 1961, S. 11: „Nun, da Sie ein Deutscher geboren sind, da Ihr griechischer Geist in diese nordische Schöpfung geworfen wurde, so blieb Ihnen keine andere Wahl, als entweder selbst zum nordischen Künstler zu werden, oder Ihrer Imagination das, was ihr die Wirklichkeit vorenthielt, durch Nachhilfe der Denkkraft zu ersetzen und so gleichsam von innen heraus und auf einem rationalen Wege ein Griechenland zu gebären.“  Vgl. Heine, Elementargeister, in: Heine, Sämtliche Schriften, hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 3, München: Hanser 1971, 643 – 703, S. 685.  Heine, Die romantische Schule, S, 395.

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Hier bleiben die Marmorstatuen, anders als im Park von Sanssouci, steinerner Zierrat im Garten, nur „durch die Kunst“ und um der Kunst willen entstanden, zeitlos und kaum noch beachtet. Waren sie sonst Anlaß erotischer Phantasie und lüsterner Begierde, symbolisieren sie nun, in ihrer marmornen Unnahbarkeit, gerade umgekehrt die Folgenlosigkeit von Goethes Sprachkunst. Um dem nur angedeuteten Gegensatz zwischen Goethe und Schiller Nachdruck zu verleihen, krönt Heine das metaphorische Argument wirkungsvoll mit dem (nur hier namentlich genannten) Pygmalion-Mythos: Die Statue, die der Pygmalion verfertigt, war ein schönes Weib, sogar der Meister verliebte sich darin, und sie wurde lebendig unter seinen Küssen, aber so viel wir wissen hat sie nie Kinder bekommen.⁷¹

So lakonisch zusammengefaßt, ist der Mythos, dessen Bildidee Heine sonst so fasziniert hat, nur noch der aus dem Bildungsarsenal zitierte Anlaß einer Pointe, auf die es ihm eigentlich ankommt. Die Verlebendigung der Statue, die vorher das Ziel der erotischen Phantasie war, reicht nun nicht mehr aus. Das Bewußtsein des Ungenügens, das Pygmalion (im Vergleich zu Orpheus) schon bei Ovid kennzeichnet, schiebt sich entschieden vor das Bild erfüllter Kunstliebe. Die behauptete Kinderlosigkeit der Statuenliebe wird nun zum Zeichen einer Goethes Werken angekreideten Unfruchtbarkeit. Im Pygmalion-Mythos hat Heine den bildkräftigen Beweis für die Impotenz autonomer Kunst gefunden. Aber auf Heines angebliches und zugleich relativiertes Wissen („so viel wir wissen“) ist kein Verlaß. Weil ihm die polemische Absicht wichtiger war als die philologische Genauigkeit, hat er sich nicht bei Ovid vergewissert, sondern die Pointe seines mythologischen Arguments frei erfunden; denn bei Ovid heißt es von der zum Leben erwachten Statue unzweideutig: illa Paphon genuit, de qua tenet insula nomen (V. 297). Der von Ovid erzählte aitiologische Mythos hat sogar keine andere Absicht als diesen – in der letzten Zeile der Geschichte von Pygmalion nachgereichten – Nachweis der mythischen Namensgebung für die Insel Zypern, die ursprünglich nach Pygmalions Tochter Paphos hieß. Umstritten dabei ist nicht die Tatsache der Geburt, sondern nur das Geschlecht des Kindes; Paphos ist eine Tochter bei Ovid, aber (vielleicht weil die maskuline Namensendung falsch verstanden wurde) ein Sohn in anderen Quellen, so auch in Benjamin Hederichs Gründlichem mythologischen Lexicon (1770), in dem Heine leicht hätte

 Ebd.

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nachschlagen können: „Sein [d.i. Pygmalions] Bitten wurde erhöret, und er zeugete den Paphos mit ihr, von dem die Insel Cypern nachher den Namen bekam.“⁷² Angesichts der bekannten Quellenlage kann man nur vermuten, daß es sich bei der behaupteten Kinderlosigkeit um eine absichtliche Fälschung handelte, weil Heine eine allgemeine Vertrautheit mit dem Pygmalion-Mythos voraussetzen und umso gezielter seine Pointe lancieren konnte. Von Bodmer (1747) über Rameau (1748), Ramler (1768), Rousseau (1770), A. W. Schlegel (1796), Cherubini (1809), Donizetti (1816), Franz von Suppé (1865) bis zu G. B. Shaw (1916, als Vorlage für das Musical My Fair Lady, 1956) gibt es eine Fülle von musikalischen und literarischen Bearbeitungen, die von der Beliebtheit des Mythos zeugen. Selbst ohne Namensnennung war der Bildkern zu Heines Zeiten so allgemein bekannt, daß er für die jungdeutsche Kritik an der autonomen Kunst, zum Beispiel von Heinrich Laube, für ein neues Geschichtsverständnis erinnert werden konnte: Oh, sie ist heruntergesprungen von ihren hohen Postamenten, wo sie als Marmorstatue die Vorübergehenden erhob, sie hat frisches Blut in den Adern gefühlt, sie hat gefroren in der antiken Tracht, sie hat sich modern gekleidet und läuft jetzt unter den Menschen, auf den Märkten umher. Aus der objektiven Poesie ist eine subjektive geworden. Man wollte nicht mehr bloße Form, man wollte Leben, nicht mehr kalte, schöne Worte, sondern lebendig warme, pulsierende Gedanken. Und diese Änderung kam wie jede andere aus der anders gewordenen Geschichte. ⁷³

Der Schlachtruf, daß die Kunst aus den Tempeln der Anbetung auf die Märkte des alltäglichen Lebens geholt werden müsse, konnte sich kein prägnanteres Bildsymbol wünschen: „sie hat gefroren in der antiken Tracht, sie hat sich modern gekleidet“, sie hat sich unter die lebendigen Menschen der Wirklichkeit gemischt. Es geht um die Ablösung der Antike durch die Moderne, die Ersetzung der Klassik durch einen post-romantischen Realismus. Zu denken gibt der Nachsatz, daß der Wandel des Kunstprinzips „der anders gewordenen Geschichte“ entspricht. Die Erfahrung des beschleunigten Zeitlaufs führt zur Anerkennung des historischen Wandels und schließlich zum Wandel auch des Geschichtsbegriffs. Die Erfahrung der Geschichtlichkeit begünstigt alternatives Denken, weil, was geworden ist, auch anders werden kann. Die Hi-

 Benjamin Hederich, Gründliches mythologisches Lexicon [reprogr. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1770], Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1986, Sp. 2124. Wie ein vorhomerischer Altar bezeugt, soll Aphrodite (Venus bei Ovid) südwestlich der Stadt Paphos auf Zypern an Land gestiegen, als ‚Schaumgeborene‘ also geboren sein.  Heinrich Laube, Die neue Kritik, in: Das junge Deutschland. Texte und Dokumente, hrsg. v. Jost Hermand, Stuttgart: Reclam 1966, 102– 107, S. 106 f.

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storisierung des versteinerten und nicht mehr zeitgemäßen Kunstidealismus stellt auch die Machtansprüche vermeintlich überzeitlicher Herrschaftsverhältnisse in Frage. Eine so in Bewegung geratene Zeit wird die festgeschriebenen Sicherungen des status quo nicht mehr widerspruchslos hinnehmen und sich nicht mit einer zeitlosen Kunst begnügen, die von dem historischen Wandel keine Notiz nimmt. Eine revolutionäre Modernisierung des an der Antike orientierten Kunstideals verlangt auch Camille in Georg Büchners Revolutionsdrama Dantons Tod (1835), wenn er wie Laube fordert: „Sezt die Leute aus dem Theater auf die Gasse: ach, die erbärmliche Wirklichkeit.“ Shakespeares metaphorische Weltbühne reicht nicht mehr aus, die Weltgeschichte zu verstehen und die unruhig gewordene Masse zu besänftigen; die eigentliche Geschichte spielt sich in den Gassen (wie auf Laubes Märkten) der Wirklichkeit ab. Und Büchner setzt seine eigene Fehldeutung des Mythos hinzu, als hätte er sich mit Heine, von dem er sonst kaum Notiz genommen hat, verabredet: „Die Griechen wußten, was sie sagten, wenn sie erzählten Pygmalions Statue sey wohl lebendig geworden, habe aber keine Kinder bekommen.“⁷⁴ Was Heine nicht so genau zu wissen vorgibt („soviel ich weiß“), „wußten“ bei Büchner schon „die Griechen“ offenbar so genau, daß sie daraus die Unfruchtbarkeit der wirklichkeitsfremden Kunst ableiten konnten. Wenn Büchner anachronistisch die Griechen in selbstbewußte Interpreten eines nur römisch überlieferten Mythos verwandelt hat, so hat er auf sie nur seine historisch und quellenkritisch falsche Auswertung projiziert und damit gezeigt, wie wichtig ihm die autoritative Beglaubigung seines Standpunkts war. Nicht die Griechen, sondern die deutschen Opponenten der idealistischen Ästhetik im 19. Jahrhundert, allen voran Heine und Büchner, wußten, was sie sagten, als sie vermutlich wider besseres Wissen die mythologische Tradition verfälschten, um ihr Argument für eine neue, der „erbärmlichen Wirklichkeit“ nicht mehr enthobene Kunst bildkräftiger zu machen. Aber so ähnlich sich Heine und Büchner in der Zielsetzung waren, so unterschiedlich waren ihre Methoden. Während Heine die ästhetische Weltbühne, auf der er die Weltgeschichte ablaufen sah, nie ganz aufgegeben hat und trotz allem der ironische Romantiker geblieben ist, war es Büchner mit seinem Appell so ernst, daß er Heine nur einmal erwähnt hat, um sich von ihm und seinen durch den Bundestagsbeschluß vom 10. Dezember 1835 verbotenen Zeitgenossen abzusetzen und der „literarischen Partei Gutzkows und Heines“ politische Naivität vorzuwerfen: „Nur ein völliges Mißkennen unserer gesellschaftli-

 Georg Büchner, Dantons Tod, in: Büchner, Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. v. Werner R. Lehmann, Bd. 1, Hamburg: Wegner 1967, 7– 75, S. 37 (II/3, Ein Zimmer).

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chen Verhältnisse konnte diese Leute glauben machen, daß durch die Tagesliteratur eine völlige Umgestaltung unserer religiösen und gesellschaftlichen Ideen möglich sei.“⁷⁵ Um die von Büchner getadelte Fehleinschätzung der Realität im Zusammenhang der Ästhetisierung historischen Denkens besser zu verstehen, müssen wir uns ein Prinzip der revolutionär motivierten „Tagesliteratur“, der an den „Interessen des Tages“ und den „Interessen der Zeit“ engagierten Literatur, genauer ansehen. Die falsche These der Kinderlosigkeit Pygmalions, die sich nicht auf Ovids Metamorphosen stützen läßt, scheint eher nur einem rhetorischen Sprachzwang zu folgen. Heine hat eine beliebte Denkfigur seiner Zeit, das WortTat-Verhältnis, metaphorisiert, indem er die Taten, die den Worten folgen sollten, zu deren ‚Kindern‘ erklärte: „[D]ie Goetheschen Dichtungen bringen nicht die Tat hervor, wie die Schillerschen. Die Tat ist das Kind des Wortes.“ Die Kinderlosigkeit ist also nur ein wörtlich genommenes – und durch den Pygmalion-Mythos falsch bestätigtes – Bild für die behauptete Wirkungslosigkeit des statuarisch klassischen Wortes. Dahinter steht der uralte sprachmagische Glaube, daß der geflügelte Pegasus die Worte des Dichters so ‚beflügeln‘ kann, daß Taten ihre notwendige Folge sind. Wie Orpheus singend die Natur verwandeln kann, hat Gott sprechend die Welt geschaffen: In der biblischen Genesis heißt es: „Vnd Gott sprach / Es werde Liecht / Vnd es ward Liecht.“ (Gen. 1,3) Und noch radikaler im Johannes-Evangelium: „Am Anfang war das Wort. Und das Wort war bei Gott.“ (Joh. 1,1) Die Vorgängigkeit des Worts, dessen sich Gott bedient, um die Welt zu schaffen und zu den Menschen zu sprechen, war zentral für die protestantische Rückbesinnung auf das Wort Gottes. Dieses Verständnis der Genesis als göttlicher Sprechakt hat seit Herder den sprachphilosophischen Glauben an die Macht des Wortes auch religiös begründet und zugleich dem Sprachkünstler die quasi-göttliche Rolle des alter deus zugewiesen, der die Welt noch einmal schafft: als ästhetische Fiktion. Insofern hat die Kunstreligion, trotz aller Kritik an ihr, sogar bei der – von Büchner und Börne beklagten – Überschätzung der revolutionären Wirkung von Sprache Pate gestanden. Offenbar hat das Ungenügen am wirkungslosen Wort die Denkfigur Wort – Tat begünstigt, die im Vormärz so sehr zum Gemeinplatz engagierter Literatur geworden ist, daß Heine das ganze Junge Deutschland dadurch charakterisiert glaubt: „Das junge Deutschland offenbaret sich eben durch diese neue Literatur;

 Georg Büchner, Brief an die Eltern, 1. Januar 1836, in: Büchner, Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. v. Werner R. Lehmann, Bd. 2, Hamburg: Wegner 1971, S. 451 f.

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denn das Wort geht der Tat voran, wie der Blitz dem Donner.“⁷⁶ Was da, von der Literatur vorbereitet und ausgelöst, mit Naturgewalt auf Deutschland zukommen soll, hat Heine in der Schrift Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834) in apokalyptischen Bildern ausgemalt: Der Gedanke geht der Tat voraus, wie der Blitz dem Donner. Der deutsche Donner ist freilich auch ein Deutscher und ist nicht sehr gelenkig, und kommt etwas langsam herangerollt; aber kommen wird er, und wenn Ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wißt: der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht. Bei diesem Geräusche werden die Adler aus der Luft tot niederfallen, und die Löwen in der fernsten Wüste Afrikas werden die Schwänze einkneifen, und sich in ihren königlichen Höhlen verkriechen. Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die französische Revolution nur wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte.⁷⁷

Mit biblischer Wortgewalt, die scheinbar schon praktiziert, was sie predigt, beschwört Heine die Macht des tatwütigen Wortes als Auslöser der prophezeiten Revolution, aber wieder nur als fiktionales theatrum mundi: als Aufführung eines historischen Theater-„Stücks“. Es wird also, wie Büchner Heine vorwerfen könnte, beim Theaterdonner des Feuilletons oder, wie ihm Ludwig Börne tatsächlich vorgeworfen hat, doch wieder nur bei der absoluten Kunst bleiben: Wer schwache Nerven hat und Gefahren scheut, der diene der Kunst, der absoluten, die jeden rauhen Gedanken ausstreicht, ehe er zur Tat wird, und an jeder Tat feilt, bis sie zu schmächtig wird zur Missetat.⁷⁸

Dabei war es ausgerechnet der auch von Börne gehaßte Hauptvertreter der ‚absoluten Kunst‘, Goethe, der der populären Denkfigur schon Jahrzehnte zuvor zwei klassische Szenen gewidmet hat. Schon bevor die Geschichte von Faust überhaupt einsetzt, drängt der Schauspieldirektor auf ein schnelles Ende des Vorspiels auf dem Theater, damit sich der Vorhang über dem angekündigten Geschehen heben kann: „Der Worte sind genug gewechselt, / Laßt mich auch endlich Taten

 Heine, [zu Lebzeiten ungedruckte Variante der Romantischen Schule], in: Heine, Sämtliche Schriften, hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 3, München: Hanser 1971, 867– 877, S. 868.  Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland [1835, 21852], in: Heine, Sämtliche Schriften, hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 3, München: Hanser 1971, 505 – 641, S. 639 f.  Ludwig Börne, Briefe aus Paris, 109. Brief, in: Börne, Sämtliche Schriften, hrsg. v. Inge und Peter Rippmann, Bd. 3, Düsseldorf: Joseph Melzer 1964, 809 – 815, S. 812. Heine hat diesen gegen ihn gerichteten 109. Brief Börnes ausführlich zitiert in Ludwig Börne. Eine Denkschrift (1840), in: Heine, Sämtliche Schriften, hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 4, München: Hanser 1971, 7– 143, S. 132– 138, obiges Zitat auf S. 135.

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sehn!“⁷⁹ Die szenische Aufführung von Fausts Geschichte ist nichts anderes als eine ‚Tat‘ der Theaterpraxis, die das Wort des Dichters in die Wirklichkeit bringt. Mit ähnlichem Tatendrang macht sich Faust in der Osternacht an die Übersetzung des Johannes-Evangeliums. Dabei erweist er sich in der Deutung des griechischen Wortes logos = Wort (εν αρχη ην ο λογος) fast als sprachskeptischer Philologe, der verschiedene Möglichkeiten des Gemeinten durchspielt: „Geschrieben steht: „Im Anfang war das Wort!“ / Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort? / Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen, / Ich muß es anders übersetzen.“ Nachdem er die möglichen Übersetzungen „Sinn“ und „Kraft“ ausprobiert und verworfen hat, gibt er sich mit der „Tat“ zufrieden: „Mir hilft der Geist! auf einmal seh ich Rat / Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!“⁸⁰ Weil er sich bei seiner neuen Übersetzung nicht vom Buchstaben, sondern ausdrücklich vom „Geist“ des Geschriebenen leiten läßt, kann er sich die Freiheit nehmen, das „Wort“ durch die „Tat“, das Sprechen durch das Handeln zu ersetzen. Diese Übersetzung ist eine ausgesprochene und durch Niederschrift vollzogene Sprachleistung, die in der intendierten Wirklichkeit einen zwingenden Zusammenhang zwischen „Wort“ und „Tat“ herstellt, als wären die beiden Wörter Synonyme. In Fausts BibelAuslegung ist die angepeilte ‚Tat‘ nur ein anderes Wort für das Wort ‚Wort‘. Eine ähnliche, implizit tautologische Geste der Säkularisierung findet sich in der Romantischen Schule, wenn Heine – im passenden Zusammenhang mit der Legende von Johannes Faustus, mit dem „die mittelalterliche Glaubensperiode aufhört und die moderne Wissenschaftsperiode anfängt“⁸¹ – für die Ersetzung der himmlischen durch eine irdische Gleichheit plädiert und, als zitierte er Goethes Faust, prophetisch hinzusetzt: „das Wissen wird Wort, und das Wort wird Tat“.⁸² In dieser von der Zensur gestrichenen Passage wird die Tat in der Umsetzung des christlichen Versprechens schon ‚auf Erden‘ angekündigt. Die Anspielung auf Fausts Übersetzung wiederholt sich auch an anderer Stelle derselben Schrift – mit einer charakteristischen Variante: „Der Gedanke will Tat, das Wort will Fleisch werden.“⁸³ Hier knüpft Heine einerseits an das christliche Dogma der Fleischwerdung von Gottes Wort in Christus (Joh. 1,14: „Und das Wort ward Fleisch“), andererseits aber auch an die saint-simonistische „Rehabilitation des Fleisches“ an,⁸⁴ in der es in erster Linie um reale Sinnlichkeit, in zweiter Linie aber auch (bei Heine vor allem) um die metaphorische Sinnlichkeit der Bildsprache geht. Dieser

     

Goethe, Faust. Erster Teil, S. 14. Goethe, Faust. Erster Teil, S. 44 (V. 1225 – 1237). Heine, Die romantische Schule, S. 401 (1. Buch). Ebd. Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, S. 593 (3. Buch). Heine, Die romantische Schule, S. 402 (1. Buch).

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Gedanken- und Wortgewalt bleibt die Tat, wie Heine sogleich warnend hinzufügt, letztlich untergeordnet: Dieses merkt Euch, Ihr stolzen Männer der Tat. Ihr seid nichts als unbewußte Handlanger der Gedankenmänner, die oft in demütigster Stille Euch all Eur Tun aufs Bestimmteste vorgezeichnet haben.⁸⁵

Die brüske Zurückweisung der Tat-Menschen, die Karl Immermann einmal „Tatentäter“ genannt hat,⁸⁶ antizipiert die spätere Abwehr der kommunistischen Bilderstürmer und verrät, daß Heine schon immer mehr an dem Schutz der poetischen Sinnlichkeit als an der realen Ersetzung des Wortes durch die Tat gelegen war. Noch gegen Börnes Vorwurf der Indifferenz und der Charakterlosigkeit hat sich Heine mit dem Vorrecht der Schriftsteller verteidigt, daß „ihre Taten eigentlich in Worten bestehen“⁸⁷ und daß sich Schriftsteller deshalb nicht zusätzlich durch Taten moralisch erweisen müssen. Aber es gab auch stolze Wort-Menschen, die ihre Wortgewalt nicht wie Heine auf der poetischen, sondern auf der politischen Ebene wirken lassen wollen. So zeigt das von dem Sozialisten Karl Grün verfaßte Programm (1844) der schnell verbotenen Bielefelder Monatsschrift, wie verbreitet in den linken Kreisen des Vormärz der säkulare Ruf nach der Fleischwerdung des Wortes war: Das Wort muß Fleisch werden, das ist ewiges Weltgesetz; es wird aber nur Fleisch und wird zugleich Fleisch, sobald es ausgesprochen ist. Daß es ausgesprochen werde, dawider kann sich keine Macht der Erde stemmen; wird es nicht mit dem sanften Munde lehrender Weisheit gesagt, so donnert es mit Kanonenschlägen in die Menschheit hinein. Man lasse also das Wort lieber im Frieden ertönen!⁸⁸

Schon der Sprechakt selbst gilt, weil er angesichts der Zensurmaßnahmen so viel Mut erfordert, als die Verwirklichung des Wortes, ohne daß es noch einer weiteren Tat bedürfte. Schon nur „daß es ausgesprochen werde“, verleiht dem gewaltigen Wort eine Wirkungsmacht, die durch „keine Macht der Erde“ bezwungen werden kann. In diesem Machtkampf des Wortes, das sich notfalls mit – nur verbaler – Donnergewalt durchsetzen wird, sind die Parallelen zu Heine unverkennbar. Die Anleihe bei Heine („Der Gedanke will Tat, das Wort will Fleisch werden“ bzw. „Der

 Ebd.  Karl Immermann, Tulifäntchen [1830], in: Immermann, Werke in fünf Bänden, hrsg. v. Benno von Wiese, Bd. 1, Frankfurt am Main: Athenäum 1971, 409 – 506, S. 429.  Heine, Ludwig Börne. Eine Denkschrift, S. 130.  Karl Grün, Das Programm der Bielefelder Monatsschrift, in: Der deutsche Vormärz. Texte und Dokumente, hrsg. v. Jost Hermand, Stuttgart, Reclam 1967, 64– 70, S. 69.

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Gedanke geht der Tat voraus, wie der Blitz dem Donner“) ist so offensichtlich, daß sich nun auch für Heine selbst die Drohgebärde als Beschränkung auf ein quasireligiöses Wortgeschehen verrät, das sich an der Ausübung verbaler Macht berauscht – und, wie Börne hinzusetzen würde, damit letztlich schon begnügt. Heines verbale Autarkie verrät sich, wenn er in Ideen. Das Buch Le Grand (1826) den besten Lehrmeister der Geschichte in dem französischen Tambour Le Grand findet, der die Sprache im gegenstandslosen Sprachersatz des Trommelns abstrahiert und damit Sprache auf ihren orphischen Ursprung in der Musik zurückführt. Er hat Heine „die neuere Geschichte“ trommelnd gelehrt; denn das sei, um sich über Sprachgrenzen hinweg verständlich zu machen, „die beste Lehrmethode“.⁸⁹ Diese Abstraktion der revolutionären Sprechakte mag erklären, warum Heine immer im Bann autonomer Ästhetik gefangen blieb. Auch die Tat, die dem Wort folgen soll, kann das Wort nie ersetzen, vielmehr handelt es sich um eine artifizielle Sprachhandlung, die sich selbst genügt, weil sie davon ausgeht, daß in der bloßen Artikulation des Gedankens die intendierte Wirklichkeit schon beschworen wird. Letztlich bleibt der verbale Tatendrang – das haben Büchner und Börne durchaus richtig gesehen – dem ästhetischen Idealismus verpflichtet, den Heine zu bekämpfen sucht. Damit gehört auch Heine zu den Geschichtsschreibern, die wissen, daß die Sprache der Darstellung von historischen Abläufen – als Medium fiktionaler Organisation des historischen Materials und als Mittel der erzählenden Narrativierung dessen, was „eigentlich gewesen“ ist (Ranke) – erkenntniskritisch reflektiert werden muß. Wie sie weiß er, daß die Wahrheit des Geschehens nur die Wahrheit der Geschichten (im Sinne von stories) ist, die davon erzählt und als Geschichte (im Sinne von history) ausgegeben werden. Heines subjektive Sprachartistik zeigt nur im extremen Fall, was – viel unscheinbarer und weniger eitel – auch die stilistisch karge, scheinbar unengagierte und unparteiische, um wissenschaftliche Objektivität bemühte Geschichtsschreibung kennzeichnet: ein Wortgeschehen, das der Kritik genauso unterliegen sollte wie die Quellenlage und die Analyse des historischen Befundes. Der quasi-poetische Charakter auch der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung besteht darin, daß die Taten, von denen die Worte handeln, nur in diesen Worten aufgehoben sind, daß die von den ‚Taten‘ abgelesene historische ‚Tatsache‘ (wie wir hier im Lessing-Kapitel gesehen haben) nur ein – im weitesten Sinn ästhetischer – Reflex zeitbedingter Perspektivierung ist, die die subjektive Wahrnehmung als objektive Tatsache konstatiert.

 Heine, Ideen, S. 271.

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Für Heines Beitrag zum Perspektivismus hat eine Generation später dessen führender Philosoph, Friedrich Nietzsche, gebürgt. Abgesehen davon, daß Nietzsche (in Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874) ähnlich wie Heine drei Schulen der Geschichtsauffassung, die antiquarische, die monumentalische und die kritische, unterschieden hat, war er überzeugt, daß „der perspektivische Charakter des Daseins“ so viele verschiedene Auslegungen hervorbringt, daß es einer „lächerlichen Unbescheidenheit“ gleichkäme, versuchten wir „von unsrer Ecke aus zu dekretieren, daß man nur von dieser Ecke aus Perspektiven haben dürfe. Die Welt ist uns vielmehr noch einmal ‚unendlich‘ geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, daß sie unendliche Interpretationen in sich schließt.“⁹⁰ Nichts anderes hatte Heine im ersten Satz der Verschiedenartigen Geschichtsauffassung gesagt: „Das Buch der Geschichte findet mannigfaltige Auslegungen.“⁹¹ Die Schulen historischen Denkens, mit denen sich Heine ebenso wie später Nietzsche auseinandergesetzt hat, sind perspektivisch beschränkte Zugriffe auf eine Geschichte, die sich jeder eindeutigendgültigen Deutung verweigert. Eindeutige Wahrheitsaussagen, so auch Nietzsche, verbieten sich angesichts der unendlichen Multiplizierung der Ansichten und Auslegungen, die dem erkenntnistheoretischen Perspektivismus zugrundeliegt. Wahrheit ist nur ein Annäherungswert in Form multipler Wahrheiten ihrer Interpreten. Nietzsche, der sich mit der (hier im Kleist-Kapitel behandelten) erkenntniskritischen Frage von Kleist identifiziert, „ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint“,⁹² hat sich entschieden sowohl gegen Kants ‚Ding an sich‘ als auch gegen den Tatsachenglauben der Positivisten gewandt und, Lessing variierend, gesagt: „[N]ein, gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen.“⁹³ Was als Wahrheit ausgegeben wird, basiert „eigentlich“ nur auf dem von Interpreten geschaffenen Schein von Tatsachen. Der sprachphilosophischen Reduktion des erkenntnistheoretischen

 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft [1882], in: Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta, Bd. 2, München: Hanser 51966, 7– 274, S. 249 f.  Heine, Verschiedenartige Geschichtsauffassung, S. 21.  Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher [1874], in: Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta, Bd. 1, München: Hanser 51966, 287– 365, S. 303, mit wörtlichem Zitat aus Kleists Brief vom 22. März 1801 an Wilhelmine von Zenge; vgl. Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 4: Briefe von und an Heinrich von Kleist 1793 – 1811, hrsg. v. Klaus Müller-Salget und Stefan Ormanns, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1997, 1997, S. 205.  Nietzsche, Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, in: Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta, Bd. 3, München: Hanser 51966, S. 903.

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Wahrheitsanspruchs, wie wir sie zuerst an Herders Kant-Kritik gesehen haben,⁹⁴ entspricht die hermeneutische Reduktion des positivistischen Tatsachenglaubens, mit dem Nietzsche vor allem die antiquarische Geschichtsauffassung der Historischen Schule angreift: Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen und geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.⁹⁵

Was wir Wahrheit nennen, ist, wie Nietzsche in Übereinstimmung mit Kleist meint, nur ein poetisch gesteigertes System rhetorischer Figuren, die so abgegriffen sind, daß sie nicht mehr als sprachbedingte Illusionen durchschaut werden. Es sind nur noch für den Zahlungsverkehr der Kommunikation gebrauchte „Münzen, die ihr Bild verloren haben“, bildliche Verständigungsformen, deren Bildlichkeit wieder bewußt gemacht werden muß, damit wir besser verstehen, wovon „eigentlich“ die Rede ist. Weil im 19. Jahrhundert wohl niemand wie Heine mit solcher überbordenden Bilderfülle gespielt hat, um den Wahrheitsanspruch seiner Gegner bloßzustellen und seine eigenen Wahrheiten zu lancieren, hat sich Nietzsche als Heines selbstbewußten Nachfolger präsentiert: Den höchsten Begriff vom Lyriker hat mir Heinrich Heine gegeben. Ich suche umsonst in allen Reichen der Jahrtausende nach einer gleich süßen und leidenschaftlichen Musik. Er besaß jene göttliche Bosheit, ohne die ich mir das Vollkommne nicht zu denken vermag […]. Man wird einmal sagen, daß Heine und ich bei weitem die ersten Artisten der deutschen Sprache

 Vgl. Herders Polemik gegen Kants Unverständnis für die Sprachlichkeit des Denkens: „[W]ill ich den Sinn der Schöpfung ohne Buchstaben, d.i. Objekte, selbst als Buchstaben im Raum und in der Zeit erfassen, mithin ohne Krug und Hand und Mund und Zunge das Wasser schöpfen, so weiß ich nicht, was ich will. Überfüllt mit Weisheit, suche ich den Strom außer dem Strom, ‚das Ding an sich‘, den wahren Wald, hinter den Bäumen“; Herder, Aus „Verstand und Erfahrung“. Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft [1799], in: Herder, Sprachphilosophie. Ausgewählte Schriften, hrsg. v. Erich Heintel, Hamburg: Meiner 1980, 181– 227, S. 217.  Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn [1873 geschrieben, posthum veröffentlicht], in: Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta, Bd. 3, München: Hanser 51966, S. 309 – 322, S. 314.

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gewesen sind – in einer unausrechenbaren Entfernung von allem, was bloße Deutsche mit ihr gemacht haben.⁹⁶

Was Heine die „Macht meines Wortes“⁹⁷ genannt hat, lag in der von Nietzsche bewunderten (und nachgeahmten) Artistik sinnlicher Bilder, deren oft dialektischer Suggestivkraft sich die Leser nicht entziehen konnten, und in der Widersprüchlichkeit der evozierten Bedeutungen, die die Leser zum Nachdenken und womöglich zum Handeln motivieren sollte. Das schönste Beispiel für Heines ironischen Gebrauch widersprüchlicher Bildlichkeit findet sich in Deutschland. Ein Wintermärchen (1844). Vor dem Hintergrund der schon früher angesprochenen Säkularisierung, als er das christliche Erlösungsversprechen bereits im Diesseits eingelöst sehen wollte, gibt Heine seiner auch hier wiederholten Forderung („Wir wollen hier auf Erden schon / Das Himmelreich errichten.“)⁹⁸ Nachdruck durch einen für ihn charakteristischen Homonymenwitz: „Den Himmel überlassen wir / Den Engeln und den Spatzen.“⁹⁹ Wenn wir den Himmel den Engeln und den Spatzen überlassen, ersetzen wir den ‚Himmel‘ der Engel (im Englischen heaven) durch den ‚Himmel‘ der Spatzen (im Englischen sky), um dann auch von diesem abzusehen und uns auf die Probleme der irdischen Wirklichkeit zu konzentrieren. Über die sprachgewitzte Pointe hinaus geht es um die ironische Inszenierung eines Widerspruchs, der den religiösen Kern des bürgerlichen Weltbildes trifft. Der Sprachwitz dieses Bildes liegt in der wechselseitigen Aufhebung: Wo Engel sind, können keine Spatzen fliegen, und wo Spatzen sind, können keine Engel sein. Das Pendant der Engel sind nicht etwa Nachtigallen oder Lerchen, romantisch favorisierte Singvögel, die sonst in der Literatur des Vormärz eine wichtige symbolische Rolle spielen, sondern ganz ordinäre Spatzen, die, verglichen mit den hehren Engeln, auf der Skala geflügelter Wesen ganz unten stehen und ornithologisch gewissermaßen das Proletariat repräsentieren. Aber die dialektische Aufhebung des Widerspruchs erfolgt erst über den Begriff des Himmels, der hier so virtuos in den Sprachwitz verflochten wird, daß die rhetorischen Mittel, die ihn ermöglichen, eine genauere Erklärung verdienen.

 Nietzsche, Ecce Homo [1888], in: Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta, Bd. 2, München: Hanser 51966, 1063 – 1159, S. 1088 f.  Heine, [Vorbericht zum 1. Bd. von Zur Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland, 1833], in: Heine, Sämtliche Schriften, hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 3, München: Hanser 1971, S. 861.  Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen, in: Heine, Sämtliche Schriften, hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 4, München: Hanser 1971, 571– 644, S. 578 (Caput I, V. 35 f.)  Ebd. (Caput I, V. 47 f.)

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Die rhetorische Figur der Metapher wird gemeinhin als ‚verkürzter Vergleich‘ definiert, in dem zwei inkompatible Dinge über ein verbindendes Drittes in Verbindung gesetzt werden, über das meistens nur mitgedachte, aber nicht erwähnte tertium comparationis, an dem beide teilhaben. Aber Engel und Spatzen bewohnen nur scheinbar denselben realen Raum; denn die unterschiedliche Präposition, wenn Spatzen ‚am‘ Himmel und Engel ‚im‘ Himmel zu Hause sind, verweist auf die unterschiedliche semantische Definition des je anderen Raumes, weil es im Deutschen nur ein Wort für zwei Bedeutungen gibt, die im Englischen als the sky (mit Artikel) und als heaven (ohne Artikel) ganz klar unterschieden sind: sparrows belong to the sky, angels belong to heaven. Wer, ebenfalls sprichwörtlich, ‚aus allen Himmeln‘ (from heaven) fällt und damit das Bild des Engelssturzes für die äußerste Überraschung gebraucht, fällt noch nicht wie ein abstürzendes Flugzeug „vom Himmel‘ (from the sky) – auch hier ist ‚Himmel‘ ein doppeldeutiger Zwitter; denn anders als im Englischen, in das Heines Aufruf nicht angemessen übersetzt werden kann, ist im Deutschen ‚Himmel‘ ein Homonym und damit Teil einer vielstimmigen Mehrdeutigkeit, die in der Literatur ein wesentliches Mittel ist, durch vieldeutige Assoziationen die Phantasie der Leser zu aktivieren. So kann sich auch die von Heine beabsichtigte Relativierung erst im Kopf hellhöriger Leser vollziehen, die über den Widerspruch von Engeln und Spatzen stolpern und sich über die Gründe ihres Stolperns Rechenschaft abzulegen versuchen. Weil im diesseitigen Sprachmodus Spatzen empirisch realer sind als Engel, wird der göttliche Himmel der Engel zum Himmel der Spatzen säkularisiert und der auf Erden zu errichtende irdische ‚Himmel‘ zur Metapher für das Glück auf Erden. Heine hat mit dieser bildkräftigen Entmetaphorisierung des Himmels als eines nur noch astronomischen Orts einen literarischen Beitrag geleistet sowohl zur „Entzauberung der Welt“, die der Soziologe Max Weber 1919 als Konsequenz der zunehmenden Intellektualisierung diagnostiziert hat,¹⁰⁰ als auch zur „Entmythologisierung“, die der Theologe Rudolf Bultmann 1941 gefordert hat, um eine existentielle Glaubenserfahrung in der modernen Welt von der „Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments“ freizuhalten.¹⁰¹ Aber während es dem

 Max Weber, Wissenschaft als Beruf [1919], in: Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen: Mohr 71988, 582– 613, S. 594.  Rudolf Bultmann, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung [1941], in: Kerygma und Mythos, hrsg. v. Hans Werner Bartsch, Bd. 1, Hamburg: Reich & Heidrich 41960, 15 – 48, S. 18: „Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben. Und wer meint, es für seine Person tun zu können, muß sich klar machen,

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Theologen um die Freilegung der Heilslehre vom Ballast der Bilder, Mythen und Legenden ging, die in der Geschichte der Religion eine so starke glaubensstärkende Rolle gespielt haben, kommt es Heine, im Kampf gegen die Essentialisierung von Sprachbildern, auf die Befreiung der berechtigten Glückserwartung von der Vertröstung aufs Jenseits an. Er zielt auf eine Verdiesseitigung der Erlösungshoffnung. Mit seinem Sprachwitz, der implizit den Glauben an die Macht des Wortes praktiziert, legt Heine ein Bekenntnis zur Sprachkunst ab: Mit der ironischen Entmetaphorisierung des Himmels leistet Heine einen Beitrag zur Säkularisierung der Religion und zur Freisetzung des für sein diesseitiges Geschick selbstverantwortlichen Individuums. Das ist, abgelesen von der kritisch genutzten Mehrdeutigkeit einer einzigen Metapher, ein so anspruchsvolles Projekt, ein so gewaltiges und wortmächtiges Unterfangen, daß man nicht nur die Furcht des geschwächten alten Heine vor den Bilderstürmern, sondern auch das unverminderte Festhalten an der Priorität des Ästhetischen nun besser verstehen kann. Die von Heine geförderte Hellhörigkeit für die sprachliche Konstruktion der historischen Wahrheit ist auch für die Kritik der Geschichtsschreibung ein nicht zu unterschätzender Gewinn. Wenn Heines Geschichtsbild von der perspektivischen Bildlichkeit historischer Wahrheitsaussagen ausgeht und deshalb allein der poetischen Sprache die Kraft zuspricht, das ‚Buch der Geschichte‘ zu interpretieren, so kann die historische Darstellung kaum ein getreues, ein für allemal gültiges Abbild des Geschehens sein. Umso mehr muß auf den ersten Blick überraschen, wenn Heine ausgerechnet für seine journalistischen „Berichte“, diese von Witz sprühenden polemischen Einträge ins „Geschichtsbuch“ der Gegenwart, eine wirklichkeitsgetreue, fast mimetische Wiedergabe zu beanspruchen scheint: Ein ehrliches Daguerreotyp muß eine Fliege ebensogut wie das stolzeste Pferd getreu wiedergeben, und meine Berichte sind ein daguerreotypisches Geschichtsbuch, worin jeder Tag sich selber abkonterfeite, und durch die Zusammenstellung solcher Bilder hat der ordnende Geist des Künstlers ein Werk geliefert, worin das Dargestellte seine Treue authentisch durch sich selbst dokumentiert.¹⁰²

Aber der Schein trügt. Die in einen kurzen Satz gedrängten Beteuerungen zuverlässiger Abbildung (ehrlich, getreu, abkonterfeit, Treue, authentisch, dokumentiert) schießen über das Ziel so sehr hinaus, daß das Gesagte wie so oft bei Heine nur das ironische Gegenteil des eigentlich Gemeinten sein konnte. Obwohl daß er, wenn er das für die Haltung des christlichen Glaubens erklärt, damit die christliche Verkündigung in der Gegenwart unverständlich und unmöglich macht.“  Heine, Lutetia [Zueignungsbrief zu Lutetia, 23. August 1854], in: Heine, Sämtliche Schriften, hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 5, München: Hanser 1974, 234– 241, S. 239.

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es zunächst so aussieht, als sollte der Vergleich mit der Daguerreotypie, diesem 1839 in Paris vorgestellten Vorläufer der Fotografie, das Motto der sonst verachteten Historischen Schule („wie es eigentlich gewesen“) auch für die eigene „Geschichtsschreibung der Gegenwart“ bekräftigen, verrät sich Heine, wenn er die behauptete Authentizität gerade dadurch gewährleistet sieht, daß sich „der ordnende Geist des Künstlers“ in der „Zusammenstellung der Bilder“ manifestiert. Damit greift er auf Ideen und Formulierungen der traditionellen Diskussion um die Darstellungsprobleme der Historiographie zurück. Die Zusammenstellung des für zusammengehörig Erachteten war ja seit dem 18. Jahrhundert, ganz im Gegensatz zum ‚wissenschaftlichen‘ Historismus des 19. Jahrhunderts, der poetische Kern einer Ästhetik historischen Denkens, wie sie für die von Heine in Frage gestellte „Kunstperiode“ charakteristisch war. Die Provokation dieses Bravourstücks ironischer Irreführung liegt darin, daß die künstlerische Organisation sogar für die in der Metapher der Daguerreotypie beschworene fotografische Genauigkeit gilt. Die angedeutete Fotomontage dient Heine nur insofern als moderne Variante der Bildlichkeit historischer Darstellung, als auch die Zusammenstellung solcher Fotos einen ‚künstlerischen‘ Akt markiert. Damit ist abschließend noch einmal bestätigt, daß Heines „Buch der Geschichte“ ein Kunstwerk ist, dessen Wahrheit in der Bildlichkeit historischer Darstellung liegt. Solange die politische Erfüllung der Zukunftsvision noch ausstand, mußte die engagierte Literatur – wie die Kunst allgemein – die Rolle eines ästhetischen Statthalters spielen. Bis zu Heines Ernüchterung durch die tatsächliche Revolution von 1848 ist für sein progressives Geschichtsbild kennzeichnend, daß der Kunstauftrag, den er vor allem in den 1830er Jahren propagiert hat, die ästhetische Antizipation der politischen Revolution bedeutete. Aber als die Ästhetik, die der Pragmatik zuarbeiten sollte, von dieser ersetzt wurde, ist Heine am Ende, in einem überraschenden Schwenk vom linearen zum zyklischen Geschichtsbild, zum historischen Ästhetizismus zurückgekehrt, wie ihn Heinrich Laube schon 1834 charakterisiert hat: „[G]erade durch die treue Wahrheit, mit der er [Heine] seine nackte Brust vor aller Welt aufriß, sein Blut, sein Herz und seine Gefühle zeigte, gerade dadurch hat er eine neue Schule gestiftet. Es ist die Schule, welche die Geschichte selbst für den größten Künstler hält.“¹⁰³ Heine, der sich als Sachwalter dieser zum Künstler avancierten Geschichte verstand, hat eindringlich gezeigt, wie man auch für eine politische Geschichtsschreibung an der Ästhetik ihrer Darstellung festhalten kann.

 Heinrich Laube, Entwurf zu einer Heine-Biographie, 1834, zitiert nach Wolfgang Kuttenkeuler, Heinrich Heine. Theorie und Kritik der Literatur, Stuttgart: Metzler 1972, S. 23.

9 Franz Grillparzer – Geschichte als narrative Selbstvergewisserung Franz Grillparzer war im 19. Jahrhundert, je nach nationalkultureller Perspektive, einer der größten Dramatiker der deutschen Literatur oder der größte Dramatiker der österreichischen Literatur. Als man mit seiner Hilfe und unter Berufung auf seine identitätsstiftende Rolle die österreichische von der übrigen deutschsprachigen Literatur abzusondern begann, wurde Grillparzer zum Repräsentanten einer historiographischen Wegscheide, die einerseits, auf österreichischer Seite, zur Überschätzung und andererseits, auf deutscher Seite, zur fortschreitenden Unterschätzung seiner Rolle geführt hat. Allgegenwärtig auf österreichischen Bühnen, erscheinen seine Dramen nur noch selten auf dem Spielplan deutscher Bühnen. Während er vor allem als Verfasser der Geschichtsdramen König Ottokars Glück und Ende (1823), Ein treuer Diener seines Herrn (1828) und Ein Bruderzwist im Hause Habsburg (1848) im österreichischen Kontext thematisch ganz gegenwärtig geblieben ist, haben ihn die deutschen Historiographen an den Rand der Literaturgeschichte und aus dem geschichtstheoretischen Kontext, zu dem er zweifellos gehört, ganz verdrängt. Dabei bildete Grillparzer eine wichtige Brücke zwischen den Ansätzen historiographischer Reflexion im 18. Jahrhundert, wie wir sie seit der Begründung des historischen Perspektivismus durch Johann Martin Chladenius verfolgen konnten, und Friedrich Nietzsches philosophischem Perspektivismus. Grillparzers Bekenntnis zur Perspektivierung historischen Denkens, das sich in einer Tagebucheintragung aus dem Jahr 1847 findet, läßt keinen Zweifel daran, daß er mit dem programmatischen Grundsatz der geschichtstheoretischen Tradition vertraut war: „Die Forderungen an die Geschichte sind nach Verschiedenheit des Standpunkts der Leser verschieden.“¹ Die wichtigste Herausforderung an „die Geschichte“ war seit dem 18. Jahrhundert die Problematisierung der historischen Wahrheit durch die standortgebundene Wahrnehmung und Darstellung des Geschehens. Nietzsche hat jedoch, schon in seiner Frühschrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874), eine andere Tagebuchnotiz Grillparzers aus dem Jahr 1822 ausführlich und zustimmend zitiert, weil sie seiner eigenen

 Franz Grillparzer, Tagebuch Nr. 3976 (1847), in: Grillparzer, Sämtliche Werke, hrsg. v. Peter Frank und Karl Pörnbacher, 4 Bde., München: Hanser 1960 – 1965, Bd. 3, 1964, S. 924. Zum Tagebuchschriftsteller vgl. Hinrich C. Seeba, „Arzenei meines Übels“: Zur Therapie des Schreibens in Grillparzers Tagebüchern, in: Österreichische Tagebuchschriftsteller, hrsg. v. Donald Daviau, Wien: Edition Atelier 1994, 109 – 149. https://doi.org/10.1515/9783110679878-011

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geschichts- und sprachphilosophischen Kritik der Historischen Schule entgegenkam: Die neuesten Ästhetiker wollen der Stoffe suchenden tragischen Kunst bloß allein die Geschichte anweisen, deren Fakta, als unmittelbare Ausflüsse des Weltgeistes, allein die nötige Tiefe und Würde hätten. Lächerlich! Die Begebenheiten mögen wohl allerdings das Werk des Weltgeistes sein, aber die Geschichte? Was ist denn die Geschichte anders, als die Art wie der Geist des Menschen diese ihm undurchdringlichen Begebenheiten aufnimmt; das weiß Gott, ob Zusammengehörige, verbindet; das Unverständliche durch etwas Verständliches ersetzt; seine Begriffe von Zweckmäßigkeit nach außen einem Ganzen unterschiebt, das wohl nur eine nach innen kennt; Absicht findet, wo keine war; Plan, wo an kein Voraussehen zu denken; und wieder Zufall, wo tausend kleine Ursachen wirkten.²

Grillparzer setzt sich hier entschieden gegen die Hegelsche Philosophie ab, die die Geschichte als Werk des Weltgeistes verstand, um an dessen Stelle den „Geist des Menschen“ zu setzen, weil es dem Menschen aufgegeben sei, die Begebenheiten dadurch verständlich zu machen, daß er ihnen einen „Plan“ unterlegt und so ein zweckmäßiges Ganzes herstellt, das nicht vorgegeben ist, sondern erst entsteht durch die Darstellung. In einem (von Nietzsche nicht mehr zitierten) Zusatz hat Grillparzer eindeutig erklärt, daß dieses für die Ästhetisierung historischen Denkens seit dem 18. Jahrhundert mustergültige Verfahren eine dem Dichter abgeguckte poetische Aktion ist: Was anders ist die Geschichte? Was anders als das Werk des Menschen? Da es nun aber nicht die Begebenheiten, sondern ihre Verbindung und Begründung ist, worauf es dem Dichter ankommt, so laßt ihn in Gottes Namen sich auch seine Begebenheiten selbst erfinden, wenn er anders dazu Lust hat.³

Damit verwandelt sich die Beschreibung der historiographischen Aufgabe, die in der „Verbindung und Begründung“ der historischen Fakten besteht, in ein Plädoyer für die poetische Freiheit des Dichters, auch historische Begebenheiten so  Franz Grillparzer, Tagebuch Nr. 1225 (1822), in: Grillparzer, Sämtliche Werke, hrsg. v. Peter Frank und Karl Pörnbacher, Bd. 3, München: Hanser 1964, S. 304. Vgl. Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta, Bd. 1, München: Hanser 51966, 209 – 285, S. 247: „Es wäre eine Geschichtsschreibung zu denken, die keinen Tropfen der gemeinen empirischen Wahrheit in sich hat und doch im höchsten Grade auf das Prädikat der Objektivität Anspruch machen dürfte. Ja, Grillparzer wagt zu erklären: [Hier folgt das Grillparzer-Zitat].“ Zu Nietzsches Grillparzer-Zitat vgl. Helmut Koopmann, Das Rad der Geschichte. Schiller und die Überwindung der aufgeklärten Geschichtsphilosophie, in: Schiller als Historiker, hrsg. v. Otto Dann, Norbert Oellers und Ernst Osterkamp, Stuttgart: Metzler 1995, 59 – 76, S. 76.  Ebd.

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zurechtzurücken und vielleicht sogar so zu erfinden, daß die Darstellung „das Unverständliche durch etwas Verständliches ersetzt“ und damit die Bedeutung der Begebenheiten verständlich wird. Das ist das hermeneutische Programm einer mit poetischen Mitteln erreichten historischen Darstellung und umso wichtiger, als es, außer von Nietzsche sonst kaum bemerkt, zwei Jahre früher entstanden ist als die eher bescheidene Absichtserklärung von Leopold von Ranke, die schnell berühmt geworden ist als Gründungsformel des Historismus: Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beygemessen: so hoher Aemter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will bloß sagen, wie es eigentlich gewesen.⁴

Von Rankes beiden Prinzipien der Geschichtsschreibung – „strenge Darstellung der Thatsache“ sowie „die Entwickelung der Einheit und des Fortgangs der Begebenheiten“⁵ – ist meistens nur das erste rezipiert worden, weil Rankes Erläuterung der griffigen Formel „wie es eigentlich gewesen“ die damit suggerierte Unparteilichkeit des Historikers unterstreicht. Aus dieser Zuspitzung ergab sich ein größerer Gegensatz zwischen Ranke und Grillparzer, als Rankes zweites Prinzip, das von Grillparzers Darstellung der „Begebenheiten“ und der Entwicklung ihres Zusammenhangs gar nicht so weit entfernt ist, rechtfertigen würde. Grillparzer, der den Deutschen noch im Alter „übertriebene Wertschätzung der Geschichte“ vorgehalten hat,⁶ konnte für seine historische Dramatik weder mit der geschichtsphilosophischen Spekulation noch mit der historistischen Aufwertung der „Fakta“ etwas anfangen und hat sich deshalb weder auf den Vorrang der Ideen in der Hegel-Schule noch auf den Vorrang der Tatsachen in der Historischen Schule eingelassen, sondern sich durch die Betonung der bildlichanschaulichen Darstellung immer wieder von der deutschen Philosophie und Geschichtswissenschaft abgesetzt. Dafür sprechen frühe Tagebuchnotizen von 1820 („So gibt es für mich auch keinen andern Beweis als Anschaulichkeit“)⁷ und 1821 („Nicht der Gedanke macht das Kunstwerk sondern die Darstellung des Ge-

 Leopold Ranke, Vorrede, in: Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514, Bd. 1, Leipzig/Berlin: G. Reimer 1824, III–VIII, S. V f. Die Aussage wird meistens nach der Werkausgabe von 1874 zitiert: „er will blos zeigen, wie es eigentlich gewesen“; Ranke, Vorrede, in: Ranke, Sämmtliche Werke, Bd. 33: Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514, Leipzig: Duncker & Humblot 21874, S. VII.  Ranke, Vorrede [1824], S. VII.  Grillparzer, Tagebuch Nr. 4296 (1861), in: Grillparzer, Sämtliche Werke, hrsg. v. Peter Frank und Karl Pörnbacher, Bd. 3, München: Hanser 1964, S. 917.  Grillparzer, Tagebuch Nr. 771 (1820), Bd. 4, S. 357.

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dankens“).⁸ Er habe „immer mehr nach starken Anschauungen gearbeitet als nach Begriffen“, heißt es auch in einer Tagebuchnotiz von 1836.⁹ Im Namen anschaulicher Darstellung hat sich Grillparzer immer wieder gegen begriffliches Denken gestellt, dem die ästhetische Plausibilität fehlt. Es ist also kein Wunder, daß Nietzsche, den mit Grillparzer sonst nichts verband, gerade das Zitat ausgewählt hat, das seinen eigenen Angriff auf den Objektivitätsanspruch der Historischen Schule am besten zu untermauern geeignet war. Seine Gedanken scheinen Grillparzers Aussage sogar nur zu paraphrasieren, bevor er sie wörtlich zitiert. Er spricht vom „Kompositionsmoment allerhöchster Art, dessen Resultat wohl ein künstlerisch wahres, nicht ein historisch wahres Gemälde sein wird. In dieser Weise die Geschichte objektiv denken ist die stille Arbeit des Dramatikers: nämlich alles aneinander denken, das Vereinzelte zum Ganzen weben: überall mit der Voraussetzung, daß eine Einheit des Planes in die Dinge gelegt werden müsse, wenn sie nicht darinnen sei.“¹⁰ So geht es beiden, Grillparzer und Nietzsche, um die ästhetische Zusammenstellung des Zusammengehörigen, die das Vereinzelte zum Ganzen verbindet – im Gegensatz zum „widrige[n] Schauspiel einer blinden Sammelwut, eines rastlosen Zusammenscharrens alles einmal Dagewesenen“,¹¹ wie es die antiquarische Methode des Historismus liefert. Für Grillparzer und Nietzsche, die sich damit von Hegel und Ranke absetzen, ist Geschichte ein säkulares „Werk des Menschen“, im griechischen Wortsinn ein ‚Poem‘ (ποιημα = poiema = das Gemachte,Werk, von ποιειν = machen, wirken), eine menschengemachte Einheit, der das ‚Poetische‘ von vornherein eingeschrieben ist. Wenn der Sinn in der „Einheit des Planes“ liegt, der dem Geschehen poetisch unterlegt wird, so nähert sich die poetisch komponierte Geschichte, mit dem Titel eines berühmten Buchs (1919) von Theodor Lessing, einer ästhetischen Sinngebung des Sinnlosen. ¹² Unter dieser Voraussetzung wird auch verständlicher, warum Grillparzer das wichtigste Werk deutscher Literaturgeschichtsschreibung in der ersten Jahrhunderthälfte, die Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen (1835 – 1842) von Georg Gottfried Gervinus, als „peinliche Geschichtsklitterung“¹³ ablehnen mußte. Hier hatte sich ein Historiker, dem laut Grillparzer alle poetischen

 Grillparzer, Tagebuch Nr. 829 (1821), Bd. 3, S. 285.  Grillparzer, Tagebuch Nr. 3169 (1836), in: Bd. 4, S. 639.  Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, S. 247.  Ebd., S. 228.  Theodor Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, München: Beck 1919.  Grillparzer, Tagebuch Nr. 2828 (1835), Bd. 3, S. 705.

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Fähigkeiten fehlten, daran gemacht, Historiographie zu betreiben, ohne die dafür notwendigen Kunstmittel zu beherrschen: „Erfindung und Komposition, Lebendigmachung und Ausführung“.¹⁴ Grillparzer hatte für eine solche unanschauliche Geschichtsschreibung nichts als Verachtung: Wenn nun aber ein stockdürrer, lederner Skribent in einer gräßlichen Dissertationsprosa die Angelegenheiten des Gemüts und der Phantasie vor den Richterstuhl des Utilitarismus oder Sozialismus schleppt, so ist das die ekelhafteste Gerichtsverhandlung, die man sich denken kann.¹⁵

Der polemische Ton der Zurückweisung zeigt, wie tief Grillparzer getroffen war von dem vermuteten Verrat des grundsätzlich ästhetischen Charakters historischer Darstellung, ein Vorwurf, den er ein Jahrzehnt später wiederholt hat, als er aus Gervinus’ Vorrede des ersten Bandes immer noch herauslas, „daß überhaupt die Zeit der ästhetischen Abschätzung vorüber sei, und der politischen den Platz räumen müsse“.¹⁶ Vor allem aber scheint Gervinus’ Literaturgeschichte ausdrücklich „der Deutschen“ in Grillparzer die ernüchternde Erkenntnis ausgelöst zu haben, daß sein alter Traum, selber eine führende Rolle darin zu spielen, ausgeträumt war: „Ich war der Anlage nach bestimmt eine bedeutende Stelle unter den Dichtern der Deutschen einzunehmen.“¹⁷ Aber er hat einsehen müssen, wie er über 20 Jahre später in der Selbstbiographie resümiert: „Wenn ein Deutscher nicht Schiller oder Goethe heißt, geht er unbekannt durch die ganze Welt.“¹⁸ Grillparzers Verbitterung über fehlende Anerkennung durch „die Deutschen“ ist unverkennbar. Indem er, ähnlich wie Heinrich Heine zur selben Zeit, ästhetische und politische Belange einander gegenüberstellte, um die ersten eher österreichisch und die zweiten eher deutsch zu markieren, verriet Grillparzer, wie sehr er sich auch selbst schon auf den nationalliterarischen Diskurs einzulassen begann, der Gervinus’ Hauptanliegen war: „Wenn Herrn Gervinus Buch demungeachtet so viel Anklang in Deutschland gefunden hat, so zeigt es nur daß dieses Land in der Gedankenvermischung immer weiter fortschreitet und da träumt wo es denken

 Grillparzer, [Rez. zu Gervinus’ Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen, Bd. 5] [1844, zu Lebzeiten ungedruckt], in: Grillparzer, Sämtliche Werke, hrsg. v. Peter Frank und Karl Pörnbacher, Bd. 3, München: Hanser 1964, 707– 710, S. 708.  Ebd., S. 709.  Grillparzer, Tagebuch Nr. 4077 (1852/1853), Bd. 3, S. 713.  Grillparzer, Tagebuch Nr. 1826 (5. August 1830), Bd. 4, S. 462.  Grillparzer, Selbstbiographie, in: Grillparzer, Sämtliche Werke, hrsg. v. Peter Frank und Karl Pörnbacher, Bd. 4, München: Hanser 1965, 20 – 178, S. 173.

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und denkt wo es fühlen sollte.“¹⁹ Hier zeichnet sich die Unterscheidung zwischen deutscher Begrifflichkeit und österreichischer Bildlichkeit ab, die Grillparzer in der Auseinandersetzung mit Gervinus entwickeln sollte. Gervinus war schon ein politisch motivierter Historiker, als er 1835 – wie umgekehrt Schiller 40 Jahre vorher in Jena – die zwischen Geschichte und Dichtung gezogene Fachgrenze überschritt und schnell zum einflußreichsten Literaturgeschichtsschreiber seiner Zeit wurde. Er wurde 1837 auch in der politischen Öffentlichkeit bekannt, als er als einer der ‚Göttinger Sieben‘ – zusammen mit den Brüdern Jakob und Wilhelm Grimm, dem Historiker Friedrich Christoph Dahlmann u. a. – gegen die Aufhebung der hannoverschen Verfassung durch König Ernst August protestierte und deswegen seine Geschichtsprofessur in Göttingen verlor. Sein politisches Engagement, das ihn auch mit Heine und den 1835 durch Bundestagsbeschluß verbotenen Jungdeutschen verbunden hat, bildete auch den Kontext für die Konzeptionalisierung der Literaturgeschichte als Nationalgeschichte. In der von Grillparzer kritisierten Vorrede zum 1835 erschienenen ersten Band der Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen heißt es viel komplexer, als ihm Grillparzer zugebilligt hat: Keine politische Geschichte, welche Deutschlands Schicksale bis auf den heutigen Tag erzählt, kann je eine rechte Wirkung haben, denn die Geschichte muß, wie die Kunst, zu Ruhe führen, und wir müssen nie von einem geschichtlichen Kunstwerke trostlos weggehen dürfen. Den Geschichtskünstler aber möchte ich doch sehen, der uns von einer Schilderung des gegenwärtigen politischen Zustandes von Deutschland getröstet zu entlassen verstände. Die Geschichte der deutschen Dichtung dagegen schien mir ihrer inneren Beschaffenheit nach eben so wählbar, als ihrem Werthe und unserem Zeitbedürfniß nach wählenswerth. Sie ist, wenn anders aus der Geschichte Wahrheiten zu lernen sind, zu einem Ziele gekommen, von wo aus man mit Erfolg ein Ganzes überblicken, einen beruhigenden, ja einen erhebenden Eindruck empfangen und die größten Belehrungen ziehen kann.²⁰

Gervinus’ Geschichte der deutschen Nationalliteratur war also nur das Ergebnis eines Ausweichmanövers, weil auf dem ästhetischen Gebiet zu sagen möglich war, was auf dem politischen Gebiet zu komplex, zu trostlos und zu gefährlich geworden wäre. Dabei ging auch Gervinus grundsätzlich davon aus, daß eine politische Geschichte ebenso wie eine Literaturgeschichte ein geschichtliches „Kunstwerk“ ist und Schicksale so „erzählt“, daß sie einen „erhebenden Eindruck“ machen. Gervinus ist auf das literarische Gebiet auch deshalb ausgewi-

 Grillparzer, [Rez. zu Gervinus], S. 709.  Georg Gottfried Gervinus, Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen. Erster Theil, Leipzig: Wilhelm Engelmann 31846: Einleitung (Abdruck aus der ersten Ausgabe [1835]), 3 – 19, S. 9 f.

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chen, weil die Literatur anders als die turbulente politische Gegenwart, von der er auch als Historiker hätte ausgehen müssen, offenbar mit Goethe jenen Abschluß gefunden hat, der einen Überblick des Ganzen erlaubt. Im Unterschied zu Heine, der mit dem Tod Goethes „das Ende der Kunstperiode“ und den Beginn der politischen Ästhetik beschwor,²¹ gab Gervinus offen zu, daß er „kein Poet und kein belletristischer Kritiker“ ist, daß er die Dichtung also nicht ästhetisch beurteilen, sondern nur als Zeugnisse „dieser Zeit und dieser Nation“ quasi-politisch erklären konnte.²² Obwohl er mit der nationalen Ausrichtung von Gervinus’ Literaturgeschichtsschreibung nicht übereinstimmte, hat sich Grillparzer, davon angeregt, selbst zu einer kleinen Schrift verleiten lassen, die beginnende Absonderung der österreichischen von der deutschen Literatur weder literarisch noch politisch, sondern durch unterschiedliche Charakterzüge anthropologisch zu bestimmen: Wenn nun also schon von östreichischen Dichtern, im Gegensatz zu andern, die Rede wäre, worin müßten sie sich eben von den übrigen unterscheiden? Worin anders, als in dem, was den Östreicher, zu seinem Vorteile – so sehr er in vielem andern im Nachteile steht – von den übrigen gegenwärtigen Deutschen auszeichnet. Das dürften nun ungefähr drei Eigenschaften sein. Bescheidenheit, gesunder Menschenverstand, und wahres Gefühl.²³

 Heinrich Heine, Französische Maler. Gemäldeausstellung in Paris 1831, in: Heine, Sämtliche Schriften, hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 3, München: Hanser 1971, 29 – 73, S. 72: „Meine alte Prophezeiung von dem Ende der Kunstperiode, die bei der Wiege Goethes anfing und bei seinem Sarge aufhören wird, scheint ihrer Erfüllung nahe zu sein.“  Gervinus, Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen, S. 13. Vgl. dazu Gervinus’ Autobiographie: G. G. Gervinus Leben – von ihm selbst. 1860, Leipzig: Wilhelm Engelmann 1893, S. 296: „Mich selbst zog der Gegenstand von allen möglichen Seiten an. Er warf mich mitten in die Welt der Poesie hinein, die immer so viel Anziehungskraft auf mich übte; die Aufgabe war die des Geschichtschreibers, der aber doch in Materie und Methode sich die Verbindung mit den beiden nachbarlichen Disciplinen offen halten konnte, die ihn nicht losließen; es war ein höchst nationaler Stoff, der in sich durch die Vollendung unserer klassischen Dichtungsperiode geschichtlich vollkommen abgeschlossen war; selbst die politischen Zwecke, die mir vorschwebten, waren mit dem scheinbar unverträglichen Gegenstande keineswegs unvereinbar.“ Noch in seiner Gedächtnisrede auf Gervinus 1872 hat Leopold von Ranke dessen politischen Gegenwartsbezug historistisch zu korrigieren versucht: „Wir können nur dann eine wahre Wirkung auf die Gegenwart ausüben, wenn wir von derselben zunächst absehen, und uns zu der freien objektiven Wissenschaft erheben“; zitiert nach Reinhart Koselleck, Geschichte, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. v. Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Bd. 2, Stuttgart: Klett 1975, 593 – 717, S. 674.  Grillparzer, [Worin unterscheiden sich die österreichischen Dichter von den übrigen?] [1837], in: Grillparzer, Sämtliche Werke, hrsg. v. Peter Frank und Karl Pörnbacher, Bd. 3, München: Hanser 1964, 809 – 811, S. 809.

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Die mitgedachte Negativfolie des deutschen Nationalcharakters suggeriert Unbescheidenheit, Spekulation und Rationalität als Kehrseite von Sentimentalität. Dieses Urteil hatte sich schon 1826 angekündigt, als Grillparzer auf einer Reise nach Berlin vor allem den Kontrast zu Wien erfahren hatte. Es gebe, so erinnert er sich in seiner Selbstbiographie (1853), „in Wien zu wenig Bildung, in Berlin zu viel“, wobei die deutsche Bildung „sich gar zu gern von dem gesunden Urteile und der natürlichen Empfindung entfernt“.²⁴ Hier kristallisiert sich einerseits die philosophische Bildung der Berliner, die 1826 ganz im Banne Hegels und seiner spekulativen Wahrheitsfindung standen, und andererseits der gesunde Menschenverstand der Wiener, die sich lieber der ästhetischen Empfindung und dem Schönheitsgenuß ihrer Stadt und der Natur überließen, zu einer – wie alle Nationalstereotypen eingängigen und deshalb so folgenreichen – Dichotomie, die schließlich auch die literarischen Unterschiede charakterisieren sollte. Die auf dem Volkscharakter beruhende Unterscheidung hat bekanntlich Schule gemacht und in typischer Dialektik antithetischer Identitätsbildung dazu geführt, daß sich Berliner für tüchtig halten, weil sie die gemütlichen Wiener schlampig finden, wie umgekehrt Wiener sich selbst für gemütlich halten, weil sie es unter den tüchtigen Berlinern so ungemütlich finden.²⁵ Solcher wechselseitigen Selbstvergewisserung diente auf der österreichischen Seite nach Grillparzer vor allem der andere große Österreicher, der kein bloßer Deutscher mehr sein wollte: Hugo von Hofmannsthal, der „die Bejahung Österreichs“ ab 1914 auf seine patriotische Fahne geschrieben hat.²⁶ Als nach dem Ende des Ersten Weltkriegs das auf den deutschsprachigen Teil geschrumpfte Österreich seine schwache staatliche Identität auch kulturell behaupten mußte, kam Hofmannsthals Preußen-Österreich-Schema (1917) gerade recht, weil es den Preußen zwar „mehr Tüchtigkeit“, den Österreichern aber „mehr Menschlichkeit“ zugestand.²⁷ Die Logik des Vergleichs dieser beiden eigentlich unvergleichlichen Eigenschaften impliziert, daß der preußischen Tüchtigkeit etwas Unmenschliches wie der

 Grillparzer, Selbstbiographie, S. 140.  Vgl. Hinrich C. Seeba, Berliner Tüchtigkeit und Wiener Gemütlichkeit. Zu Stereotypen nationaler Binnendifferenzierung, in: Akten des XI Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005: „Germanistik im Konflikt der Kulturen“, hrsg. v. Jean-Marie Valentin, Bd. 8: Universal-, Global- und Nationalkulturen – Nationalliteratur und Weltliteratur, Bern u. a.: Peter Lang 2007, 211– 218.  Vgl. Hofmannsthals Aufsätze: Die Bejahung Österreichs. Gedanken zum gegenwärtigen Augenblick (1914); Wir Österreicher und Deutschland (1915); Österreich im Spiegel seiner Dichtung (1916), Die österreichische Idee (1917), Preusse und Österreicher. Ein Schema (1917).  Hugo von Hofmannsthal, Preusse und Österreicher. Ein Schema, in: Hofmannsthal, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hrsg. v. Herbert Steiner, Bd.: Prosa III, Frankfurt am Main: Fischer 1952, 407– 409, S. 407.

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österreichischen Menschlichkeit – österreichisch gesagt – etwas ‚Schlampertes‘ eignet, als wäre Tüchtigkeit den Barbaren und Menschlichkeit nur den Dilettanten vorbehalten. Im langen Katalog binärer Charakterisierungen fällt auf, daß die preußische „Stärke der Abstraktion“ durch den österreichischen „historischen Instinkt“ wettgemacht wird und daß die „geringe Begabung für Abstraktion“ und die „Ablehnung der Dialektik“ auf der Seite der Österreicher durch ihre gleich zweimal genannte „Menschlichkeit“ reichlich aufgewogen wird.²⁸ Hofmannsthals Urteil, das als Reverenz an Grillparzers österreichische Trias „Bescheidenheit, gesunder Menschenverstand, und wahres Gefühl“ zu verstehen ist, erinnert auch an den programmatischen Österreich-Hymnus, den Grillparzer in König Ottokars Glück und Ende (1825) den Verfasser einer mittelalterlichen Reimchronik, Ottokar von Hornek, gewissermaßen von der Bühnenrampe ins Publikum sprechen ließ: ’s ist möglich, daß in Sachsen und beim Rhein Es Leute gibt, die mehr in Büchern lasen; Allein, was nottut und was Gott gefällt, Der klare Blick, der offne, richtge Sinn, Da tritt der Österreicher hin vor jeden, Denkt sich sein Teil und läßt die andern reden!²⁹

Wieder war es der dramaturgisch gar nicht notwendige Kontrast zur deutschen Buchgelehrsamkeit, der der österreichischen Herzensbildung erst den gewünschten Schmelz gibt. Im Vergleich mit den deutschen Überfliegern der Abstraktion und der Dialektik haben die Österreicher, in denen Grillparzer und Hofmannsthal vor allem sich selbst gespiegelt sahen, den besseren Blick für die bildliche Anschauung, im Bild eines Aperçus von Hofmannsthal: „Ein österreichischer Vogel fliegt nicht so hoch, daß man nicht das Gefieder erkennen könnte.“³⁰ Die Schönheit des konkreten Bildes ist dem Österreicher also näher als jede hochfliegende Spekulation. Die kontrastive Bestimmung des österreichischen Nationalcharakters ist hier nur insofern interessant, als die für österreichisch ausgegebenen Eigenschaften, die Grillparzer für sich reklamiert und die Hofmannsthal aus politischen Gründen

 Ebd., S. 408.  Grillparzer, König Ottokars Glück und Ende [1823, uraufgeführt 1825], in: Grillparzer, Sämtliche Werke, hrsg. v. Peter Frank und Karl Pörnbacher, Bd. 1, München: Hanser 1960, 973 – 1083, S. 1037 (III, V. 1693 – 1698).  Hofmannsthal, Österreich im Spiegel seiner Dichtung, in: Hofmannsthal, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hrsg. v. Herbert Steiner, Bd.: Prosa III, Frankfurt am Main: Fischer 1952, 333 – 349, S. 337.

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übernommen und ausgebaut hat, auf eine ästhetische Kategorie der Darstellung hinauslaufen: die lebendige Anschaulichkeit, die Grillparzer, gerade weil er sie an Gervinus wie überhaupt an den meisten neueren Deutschen vermißt, zum obersten Kriterium der Geschichtsschreibung erklärt hat. Ob die österreichischen Dichter deshalb bessere Geschichtsschreiber und lebendigere Geschichtenerzähler sind, müßte sich an der Analyse von Grillparzers dichterischem Schaffen erweisen. Bevor wir uns hier auf eine solche historiographische Lektüre seiner Erzählung Der arme Spielmann einlassen, müssen wir allerdings noch einige Fragen zu seinem literarhistorischen Selbstverständnis klären. Grillparzer hat, wie gesagt, den österreichischen Nationalcharakter zu definieren versucht, weil er sich selbst als den Dichter dieser Tugenden „Bescheidenheit, gesunder Menschenverstand und wahres Gefühl“ profilieren und als solcher anerkannt werden wollte. „Ich habe“, so gab der Hofkonzipist 1831 in einer „gehorsamst“ unterzeichneten Eingabe an die Hofkammer zu bedenken, „durch literarische Arbeiten meinem Vaterlande Ehre gemacht, und darf daher wohl, wenn jedermann in der Schuld seines Vaterlandes ist, auch dieses letztere als ein wenig in der meinigen betrachten.“³¹ Weil auch für ihn (der über 40 Jahre ältere und 1832 gestorbene) Goethe als alle überragende ikonische Figur inzwischen der Vergangenheit angehörte, konnte Grillparzer in seinem (sechs Jahre jüngeren) Zeitgenossen Heine das deutsche Pendant historischer Selbststilisierung sehen, auch wenn er seine eigene Rolle, seinem nationalen Charakterschema entsprechend, weniger eitel, viel bescheidener und eben „gehorsamst“ zur Geltung brachte. Verstand sich Heine, wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, als selbstbewußt rebellischen Nachfolger und Überwinder der ‚Romantischen Schule‘, so stilisierte sich Grillparzer zum Herold einer zum Selbstbewußtsein erwachenden österreichischen Literatur, deren Vorzug in der größeren Anschaulichkeit liegt. Im Unterschied zum ‚stockdürren‘ Gervinus war Heine ein Muster nicht minder politisch engagierter, aber ironisch-sinnlicher, mit allen Mitteln poetischer Kunst spielender, überaus anschaulicher Historiograph, von dem sich Grillparzer sogar geehrt fühlen konnte, als Heine einem nach Wien reisenden Schriftstellerkollegen eine Empfehlung an Grillparzer mitgab und diesen ausdrücklich zu seinen Freunden rechnete: „denn ich hege die beste Meinung von Ihnen. Ich habe Sie von jeher sehr gut verstehen und darum verehren können. Auch von Ihnen hoffe ich nicht ganz ungekannt zu sein.“³²  Grillparzer, Brief an die allgemeine Hofkammer, 13. November 1831, in: Grillparzer, Sämtliche Werke, hrsg. v. Peter Frank und Karl Pörnbacher, Bd. 4, München: Hanser 1965, 793 – 795, S. 794.  Heinrich Heine, Brief an Grillparzer, 13. November 1833, in: Grillparzer, Sämtliche Werke, hrsg. v. Peter Frank und Karl Pörnbacher, Bd. 4, München: Hanser 1965, S. 795 f.

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Gerade im Zusammenhang der historiographischen Reflexion kommt der persönlichen Begegnung zwischen Grillparzer, dem ‚raunzigen‘ Vertreter der inneren Emigration in Wien, und Heine, dem ironischen Exponenten des Exils in Paris, eine besondere Bedeutung zu.³³ Ein Blick auf die Berührungspunkte sollte das historiographische Modell differenzieren helfen, das sich in der Wissenschaftsgeschichte des letzten Jahrhunderts herausgebildet hat: Danach hat sich die in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts ins Zentrum der Germanistik gerückte Biedermeier-Forschung vor allem auf das österreichische Beispiel der behaglichen Geselligkeit im Salon-, Theater- und Musikleben der Kongreßzeit konzentriert, nachdem 1931 Wilhelm Bietak mit seinem folgenreichen Buch über das Biedermeier als spezifisch österreichische Lebensform den Anstoß gegeben hatte.³⁴ Fortan rückten Grillparzer, Stifter und Feuchtersleben in die Rolle der Statthalter für Immermann, Mörike und die Droste auf, die als landschaftsgebundene Dichter der österreichischen Partikularisierung zu entsprechen schienen. Gleichzeitig aber verfielen die politisch engagierten Dichter, die der mit dem Biedermeier konkurrierende Vormärz-Begriff reklamierte, also etwa Heine, Börne und Herwegh, dem politischen (und auf den ersten Fall zugespitzten antisemitischen) Verdikt des Dritten Reichs. Als dann die literarhistorische Wiedergutmachung der 1960er Jahre den deutschen Vormärz wiederentdeckte und in den 1970er Jahren zum Liebling der politisierten Germanistik erhob, da blieb die österreichische Variante des Vormärz, weil nun einmal auf das nicht mehr geliebte Biedermeier-Bild festgelegt, von der allgemeinen Umwertung ausgenommen. So drohten die engagierten Historiographen jener Zeit eine ganze Gruppe von Autoren, die dem neuen Leitbild nicht entsprach, auszuklammern und damit die Spaltung der deutschsprachigen Literatur zu vollenden, die Grillparzer aus ganz anderen Gründen eingeleitet hat. Aber daß österreichisches Biedermeier und deutscher Vormärz keine einander ausschließenden Gegensätze sind, läßt sich an ihren Repräsentanten Grillparzer und Heine zeigen. Auf seiner nach Frankreich und England führenden Reise hat Grillparzer Heine am 27. April 1836 in dessen Pariser Wohnung unangemeldet aufgesucht. Und obwohl den zölibatären Staatsbeamten Heines „tolle Wirtschaft“ merklich irritierte, die von zwei gerade in den Betten wühlenden

 Vgl. Hinrich C. Seeba, Grillparzer und Heine. Historiographische Aspekte ihrer Begegnung, in: Modern Austrian Literature 28 (1995), 43 – 63. Vgl. Friedrich Sengle, Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815 – 1848, 3 Bde., Stuttgart: Metzler 1971– 1980; zu Grillparzer bes. Bd. 3, (1980), 57– 132, zu Heine und Grillparzer S. 60: „Grillparzer steht ihm [d.i. Heine] näher, als man auf den ersten Blick erwartet.“  Wilhelm Bietak, Das Lebensgefühl des „Biedermeier“ in der österreichischen Dichtung, Wien/ Leipzig: Braumüller 1931.

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Grisetten rührte, hatte Grillparzer von dem lebenslustigen Gastgeber, der ihn freundlichst empfing, „einen sehr angenehmen Eindruck“.³⁵ Erst bei ihrem zweiten Treffen am 6. Mai 1836, anläßlich eines Diners bei dem österreichischen Generalkonsul James Mayer Rothschild, trübte sich der Eindruck, als sich Heine hinter dem Rücken der Gastgeber über sie lustig machte. Grillparzers Verweis schlechter Tischmanieren („Man muß aber bei niemand essen, dem man nicht wohlwill, und wenn man jemand verächtlich findet muß man nicht bei ihm essen. Es setzte sich daher auch von da an unser Verhältnis nicht fort“)³⁶ mag – im Rückblick von 17 Jahren – auch deshalb so scharf ausgefallen sein, weil sie ihn vielleicht an ein eigenes Fehlverhalten am Tisch Goethes in Weimar erinnert haben. Als Grillparzer am 2. September 1826 beim Mittagessen mit Goethe wohl aus Verlegenheit Brot zu lauter Brosamen zerkrümelte, da „tippte denn Goethe mit dem Finger auf jedes einzelne und legte sie auf ein regelmäßiges Häufchen zusammen. Spät erst bemerkte ich es und unterließ denn meine Handarbeit.“³⁷ So dezent zur Ordnung gerufen, hatte Grillparzer vor lauter Beschämung ein schon verabredetes weiteres Treffen mit Goethe einfach ausfallen lassen. Auch Heine hat er nie wiedergesehen. Aber ihn verband mehr mit Heine, als er sich zur Zeit ihrer Begegnung oder gar im späteren negativen Rückblick eingestanden hätte. Nicht nur teilte er mit Heine das sehr problematische Verhältnis zu Goethe, wie seinerseits Heine Grillparzer ausdrücklich von den Vertretern der Goetheschen „Kunstperiode“ ausgenommen hat und in einer (nicht ausgeführten) Fortsetzung der Romantischen Schule womöglich auch Grillparzers anerkennend gedacht und damit seine „beste Meinung“ von ihm publik gemacht hätte. Wie Heine lehnte Grillparzer die spekulative Geschichtsphilosophie Hegels ab. Wie Heine wandte er sich gegen den Objektivitätsanspruch der Historischen Schule. Wie Heine wollte sich Grillparzer vor dem politischen Verdruß mit Zensur, Polizei und einer Bürokratie, in deren danklosen Diensten er stand, in den ästhetischen Bereich flüchten. Nach dem Tod seines Förderers Joseph Schreyvogel (1832) gab es niemanden mehr, mit dem er über Kunstgegenstände hätte sprechen können, „höchstens etwa Heine, wenn er nicht innerlich ein lumpiger Patron wäre“.³⁸ Hier beginnt sich Grillparzer

 Grillparzer, Tagebuch Nr. 2970 (1836), Bd. 4, S. 551.  Grillparzer, Selbstbiographie, S. 168.  Ebd., S. 147.  Grillparzer, Tagebuch Nr. 3168 (1836), Bd. 4, S. 639. In einer späteren Tagebucheintragung (Nr. 4134 [1855], Bd. 3, S. 801) hat Grillparzer Heine zwar „eine sehr begabte Natur“ genannt, ihm aber gleichzeitig „den Wunsch die eigene Nichtswürdigkeit vor sich selbst zu verbergen“ unterschoben und ihm die Zerstörung der Empfindung „durch eine Unfläterei oder hanswurstisches Anhängsel“ vorgeworfen.

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auf die moralisch verbrämten, meistens antisemitisch motivierten Ressentiments gegen Heine einzulassen, als deren Rädelsführer nicht nur Heine den ‚Denunzianten‘ Wolfgang Menzel gesehen hat, weil dieser gegen Heine und die Jungdeutschen den Bundestagsbeschluß vom 10. Dezember 1835 erwirkt hat.³⁹ Grillparzer fehlte es nicht an polemischer Schärfe, sondern nur an spielerischem Kampfgeist und politischer Entschlossenheit. Hätte er Heines Mut zum Exil gehabt, wäre ihm die Demütigung erspart geblieben, die seine Schaffenskraft ein Leben lang ausgehöhlt und schließlich zerstört hat. Anläßlich der Pariser Julirevolution 1830 hielt er im Tagebuch die Phantasie eines Revolutionärs im Exil fest: „Ich wollte, ich wäre in Frankreich und ein Eingeborner, ich wäre eben jetzt in Stimmung, mich für eine interessante Sache totschießen zu lassen.“ Und er fügte in Hinblick auf Österreich hinzu: „Ich hätte dieses Land, halb ein Kapua und halb eine Fronveste der Seelen, zeitig verlassen müssen, wenn ich ein Dichter hätte bleiben wollen. Nun ists zu spät, mein Innres ist zerbrochen.“⁴⁰ Anders als Heine, der 1831 nach Paris ins Exil ging, hat Grillparzer den richtigen Zeitpunkt dafür verpaßt und sich immer wieder mit den Folgen seiner Widerstandsschwäche auseinandersetzen müssen: „Wer mir die Vernachlässigung meines Talentes zum Vorwurf macht, der sollte vorher bedenken, wie in dem ewigen Kampf mit Dummheit und Schlechtigkeit endlich der Geist ermattet.“⁴¹ Noch im Rückblick von 1850, nachdem er sich mit der bürgerlichen Revolution von 1848 viel weniger

 Die Begründung des Verbots, daß die Jungdeutschen sowie Heine, Karl Gutzkow, Heinrich Laube, Ludolf Wienbarg und Theodor Mundt „die christliche Religion auf die frechste Weise anzugreifen, die bestehenden sozialen Verhältnisse herabzuwürdigen und alle Zucht und Sittlichkeit zu zerstören“ trachteten (zitiert nach Dieter Breuer, Geschichte der literarischen Zensur in Deutschland, Heidelberg: Quelle & Meyer 1982, S. 156), stimmt mit dem späteren Verdikt von Wolfgang Menzel (Deutsche Dichtung von der ältesten bis auf die neueste Zeit, Bd. 3, Stuttgart: Adolph Krabbe 1859) überein, das Heine vorwarf, „alles Heilige und Hohe, Edle und Unschuldige in der Welt zu lästern. Seine Feder wurde buchstäblich eine Kotschleuder. […] Auch in den Reisebildern sucht er den Hauptreiz im Herabziehen des Heiligen und Ernsten ins Gemeine. Wir sehen da den Judenjungen, mit der Hand in den Hosen, frech vor den italienischen Madonnenbildern stehen. Zugleich spottete er mit vielem Witz über die politischen und sozialen Zustände, was den liberalen Philistern überaus gefiel. […] Die Physiognomie des jungen Deutschland war die eines aus Paris kommenden, nach der neuesten Mode gekleideten, aber gänzlich blasierten, durch Lüderlichkeit entnervten Judenjünglings mit spezifischem Moschusund Knoblauchgeruch“ (zitiert nach Das Junge Deutschland. Texte und Dokumente, hrsg. v. Jost Hermand, Stuttgart: Reclam 1966, S. 336 f.). Hier findet sich bei Menzel auch das Wort von Heines „Nichtswürdigkeit“, das Grillparzer gebraucht (Tagebuch Nr. 4134 [1855], Bd. 3, S. 801), als zitierte er Menzel. Dabei hatte er in der Tagebucheintragung Nr. 3038 (1836), Bd. 4, S. 582, gemeint: „Was soll man aber von den Menzeln und derlei Geschmeiß sagen?“  Grillparzer, Tagebuch Nr. 1826 (1830), Bd. 4, S. 462.  Grillparzer, Tagebuch Nr. 1435 (1826), Bd. 4, S. 399.

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als mit der Julirevolution von 1830 hatte anfreunden können, hat er bekannt: „Der Despotismus hat mein Leben, wenigstens mein literarisches zerstört, ich werde daher wohl Sinn für die Freiheit haben.“⁴² Aber das Fazit seines Lebens war mit den Wörtern seiner Verbitterung („zerbrochen“ und „zerstört“) nicht erschöpft. Grillparzer hat sich immer mehr an den Lebensanker einer Rolle geklammert, die ihm, von ihm selbst angeregt, mit zunehmenden Jahren auch von anderen angetragen wurde. Dieser Rolle entsprach die in der Selbstbiographie mitgeteilte „sich immer mehr aufdringende Überzeugung, daß meine rein künstlerischen Ansichten mit einer in Deutschland sich mehr und mehr Platz machenden Ideologie in geradem Widerspruch ständen, so daß auf eine ungetrübte Wirksamkeit nicht zu rechnen sei“.⁴³ Mit zunehmender Stilisierung zum eigentlich österreichischen Dichter hat er den oft deprimierten Rückblick auf sein auch literarisch, wie er meinte, gescheitertes Leben dadurch aufgehellt, daß er seine Leistung aufwertete und die seines deutschen Pendants, Heinrich Heine, abwertete und diesen mit dem Verdikt seiner deutsch-österreichischen Antinomie belegte. Als er sich in seiner Selbstbiographie an die 17 Jahre zurückliegende Begegnung mit Heine erinnert, sieht er den Hauptunterschied darin, daß Heine „großen Respekt für das Ganze der deutschen Literatur hatte, ja sie allen andern voransetzte. Ich aber kenne kein Ganzes als welches aus Einzelnen besteht. […] Ich ehre die deutsche Literatur, wenn ich mich aber erfrischen will, greife ich doch zu einer fremden.“⁴⁴ Offensichtlich hat Grillparzer über die Erinnerung an eine nicht unproblematische zweifache Begegnung das inzwischen ausgeformte nationalliterarisches Schema gestülpt, das mit der von Heine geteilten deutschen Vorliebe für „das Ganze“ und mit der eigenen, österreichischen Vorliebe für „das Einzelne“ bezeichnet ist – eine Unterscheidung, die auch ohne Rückgriff auf Hofmannsthals Schema einerseits an das Abstrakt-Totalitäre und andererseits an das Konkret-Individuelle denken läßt. Dabei stand von vornherein fest, auf welcher Seite die „Menschlichkeit“ zu finden ist. Getreu dem eigenen Vorsatz, statt begrifflicher Spekulation bildliche Anschaulichkeit zu bieten, lassen sich viele der poetologischen Positionen Grillparzers, auch zur Historiographie, von der dichterischen Praxis ablesen. Der anschaulichen Konkretisierung des Menschlichen ist vor allem Grillparzers

 Grillparzer, Meine Erinnerungen aus dem Revolutionsjahre 1848 [1850], in: Grillparzer, Sämtliche Werke, hrsg. v. Peter Frank und Karl Pörnbacher, Bd. 4, München: Hanser 1965, 204– 220, S. 220.  Grillparzer, Selbstbiographie, S. 87.  Ebd., S. 168.

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Erzählung Der arme Spielmann (1847) gewidmet. Deshalb lag es nahe, die Geschichte eines bescheidenen Mannes gewissermaßen ‚österreichisch‘ als realistischen Beitrag zur österreichischen Wesensbestimmung zu lesen, der seinen Autor zum „Vater des habsburgischen Mythos“ (Claudio Magris) gemacht hat.⁴⁵ Aber man könnte darin auch, gewissermaßen ‚typisch deutsch‘, einen realistischen Beitrag zur Ästhetisierung historischen Denkens sehen, weil Grillparzer darin die Wahrheit der Geschichte (history, hier reduziert auf ein persönliches Leben) als Geschichte (story, hier erweitert zu einer realistischen Erzählung) erzählen läßt und dieser erst durch die Wahrnehmung des Lebenszusammenhangs einen persönlichen Sinn gibt. In dieser Sicht ist die realistische Personalisierung eines historiographischen Prinzips Grillparzers anschauliche Antwort auf die eigentlich geschichtstheoretische Frage, wie sich Geschehen in Geschichte verwandelt und wie Geschichte erst durch Darstellung verständlich wird. Grillparzer hat das Thema, das seit Mitte des 18. Jahrhundert viele Historiker und Dichter beschäftigt hat, nicht begrifflich abgehandelt, sondern als biographische Selbstvergewisserung eines Individuums vorgeführt, als wollte er seinen Lesern eine Lektion darüber erteilen, wie historisches Bewußtsein entsteht. So kann die ganze Erzählung als das Ergebnis einer narrativen Selbstvergewisserung gelesen werden, in der der arme Spielmann seinen Bettler-Status abstreift und seinem Interviewer die Rolle des auktorialen Erzählers abnimmt. Dieser arme Mann aus gutem Hause, der sich zunächst einer eigenen Biographie nicht würdig glaubt, erfährt im Prozeß der narrativen Vergegenwärtigung seiner Lebensstationen, daß auch er, vergleichbar den berühmten Helden des Mythos und der Geschichte, eine erzählenswerte Geschichte hat. Gleichzeitig erfahren die Leser dieser Erzählung, in der der Erzählvorgang selbst thematisiert wird, daß der unfreiwillige, unerfahrene (Binnen-)Erzähler seine Lebensgeschichte besser erzählen kann, als es der Mann könnte, der sich als professioneller Dichter auf Stoffsuche, als „nach Ihrer Geschichte lüstern“ (158, Reclam 19) einführt.⁴⁶ Von diesem neugierigen (Rahmen-)Erzähler bedrängt, den auffallenden Kontrast zwischen gutbürgerlich klassischer Bildung und jetziger Bettler-Erscheinung zu erklären, reagiert der Ausgefragte fast trotzig: „‚Geschichte?‘ wiederholte er. ‚Ich habe keine Geschichte. Heute wie gestern, und

 Claudio Magris, Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur, Salzburg: Otto Müller 1966, S. 116. – Orig.: Il mito Absburgico nella letteratura austriaca moderna, Turin: Giulio Einaudi 1963.  Grillparzer, Der arme Spielmann, in: Grillparzer, Sämtliche Werke, hrsg. v. Peter Frank und Karl Pörnbacher, Bd. 3, München: Hanser 1964, 146 – 186. Die Erzählung wird mit jeweiliger Seitenangabe im Text zitiert sowohl nach dieser als auch nach der Reclam-Ausgabe (Grillparzer, Der arme Spielmann, Nachwort von Helmut Bachmaier, Stuttgart: Reclam 1979).

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morgen wie heute.‘“ (159, Reclam 19) Dem Einerlei seines unbedeutenden Lebens fehlt, so meint er, die erzählenswerte Struktur einer Geschichte, die der Gleichgültigkeit seiner immer gleichen Tage Bedeutung geben könnte. Deshalb muß ihm der Erzähler nachhelfen, was unter ‚Geschichte‘ zu verstehen ist: „Ihr jetziges Leben mag wohl einförmig genug sein“, fuhr ich fort; „aber Ihre früheren Schicksale –Wie es sich fügte“ – „Daß ich unter die Musikleute kam?“ (158, Reclam 19)

Erst als er selber die Paradoxie eines Latein sprechenden Bettlers einsieht, versteht er das Ansinnen seines Interviewers: „Das also nennen Sie meine Geschichte? Wie es kam?“ (158, Reclam 19) Nur indem er sie erzählt, kann er die Geschichte („wie es sich fügte“, „wie es kam“) als die gefügte, im ursprünglichen Wortsinn (lat. structura = Fuge) ‚strukturierte‘ Geschichte seines Lebens akzeptieren. Nachdem er zu erzählen begonnen hat, unterbricht er, selber überrascht, den Erzählstrom: „‚Um diese Zeit – Sieh nur‘, unterbrach er sich, ‚es gibt denn doch eine Art Geschichte. Erzählen wir die Geschichte!‘“ (161, Reclam 23) Der schnell gelernte ‚Wir‘-Gestus des auktorialen Erzählers („Erzählen wir die Geschichte!“) erinnert von ferne an Goethes Erzähler im ersten Satz der Wahlverwandtschaften (1809): „Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter.“⁴⁷ Aber noch an einen anderen Geschichtenerzähler ist hier zu denken, der in ähnlicher Lage wie Grillparzer die theoretische durch eine praktische Wahrheitsfindung ersetzt hat. Lessing hat mit seinem Drama Nathan der Weise (1779)⁴⁸ einen theologischen Disput mit poetischen Mitteln fortgesetzt und innerhalb dieses Dramas den Juden Nathan auf die politisch heikle Frage des muslimischen Sultans nach der wahren Religion nicht eindeutig-theoretisch, sondern vieldeutignarrativ antworten lassen: „Nicht die Kinder bloß, speist man / Mit Märchen ab.“ (III/6, V. 1889 f.) Wie im Märchen ist auch in Nathans Erzählung eine Lektion versteckt: „Erlaubst du wohl, dir ein Geschichtchen zu / Erzählen?“ (III/7, V. 1905 f.) Wenn Nathan die als Ringparabel berühmt gewordene Geschichte vom praktischen Vollzug der Wahrheit erzählt, wird noch einmal die moralische Praxis der Wahrheit ihrer bloß theoretischen Kenntnis vorgezogen. Lessings dreifache Konkretisierung läuft ganz im Sinne Grillparzers darauf hinaus, daß die Wahrheit nur die Wahrheit ihrer bildlich konkreten Darstellung sein kann.

 Johann Wolfgang von Goethe, Die Wahlverwandtschaften, in: Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Erich Trunz, Bd. 6, Hamburg: Wegner 51963, 242– 490, S. 242.  Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise, in: Lessing, Werke, hrsg. v. Herbert G. Göpfert, Bd. 2, München: Hanser 1971, S. 204– 347.

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Wie Lessing thematisiert Grillparzer die Erzählung einer Geschichte, indem er sie mit einer didaktischen Absicht verbindet. Der arme Spielmann unterbricht seinen weiteren Erzählverlauf noch einmal, um die Geschichte inzwischen als seine, nur ihm eigene Geschichte anzuerkennen: „Wo blieb ich nur in meiner Geschichte?“ (163, Reclam 26) Mit dem erstmals gebrauchten Possessivpronomen hat der arme Spielmann sein gestaffeltes Lernziel erreicht und zugegeben, daß auch ein armer, scheinbar unbedeutender Mensch eine Geschichte hat und daß er die Geschichte, die er davon erzählen kann, indem er sie erzählt, zu seiner eigenen Lebensgeschichte machen kann. Erst „seine Erzählung“ (166, Reclam 29) hat ihm die Geschichte seines Lebens gegeben, von der er vorher keine Ahnung hatte. Vor allem von dieser „Menschlichkeit“ eines Sonderlings, der außerhalb der sozialen Standesordnung seinen Platz im ästhetischen Vollzug der Erzählung findet, handelt Grillparzers Der arme Spielmann. Es ist, als hätte Grillparzer für die geradezu programmatische Verdichtung der Hinweise auf den in Frage gestellten Begriff der Geschichte alle Vorgänger zu Rate gezogen, die sich zu diesem Problem theoretisch geäußert haben. Es ist, als hätte er von ihnen das Spiel mit der Doppeldeutigkeit des Homonyms ‚Geschichte‘ als Ereigniszusammenhang und als Erzählzusammenhang gelernt, um mit seiner realistischen Erzählung ein historiographisches Prinzip zu illustrieren: Geschichte (history) wird erst dann verständlich, wenn man von ihr eine Geschichte (story) erzählen kann. Es ist, als hätte Grillparzer dafür von Chladenius (1742) die Perspektivierung der Geschichte in „Erzählungen desjenigen, was in der Welt geschehen ist“, gelernt, von Winckelmann (1764) den didaktischen Impetus eines „Lehrgebäudes“, von Gatterer (1768) die standortbestimmte „Auswahl der Begebenheiten“, von Wegelin (1772) die Verkettung des erinnerten Lebens (enchaînure des faits), von Herder (1774) die Komposition der Zeitfolge, von Lessing (1779) die Parabel der Wahrheit („Erlaubst du wohl, dir ein Geschichtchen zu / Erzählen?“), von Schiller (1789) die Verkettung der „Bruchstücke durch künstliche Bindungsglieder“, von Friedrich Schlegel (1798) die transzendentalpoetische Selbstreflexion, von Novalis (1802) die Literarisierung des Lebens („Poetisierung der Welt“), von Goethe die Notwendigkeit, die Geschichte „von Zeit zu Zeit umzuschreiben“, von Kleist die sprachbewußte Verunsicherung des Wahrheitsglaubens („was wir Wahrheit nennen“), von Heine das Engagement für das ästhetische Potential sozialer Randgestalten. Wilhelm von Humboldt hat alle Positionen zusammengefaßt, als er im ersten Satz seiner Programmschrift von 1821 erklärte: „Die Aufgabe des Geschichtschreibers ist die Darstellung des Geschehenen.“⁴⁹ Damit war die Akzentverschiebung vom Erzählgegenstand auf den Erzählvorgang vollzogen.

 Wilhelm von Humboldt, Über die Aufgabe des Geschichtschreibers [1821], in: Humboldt,

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Aber Grillparzer brauchte nicht alle theoretischen Konzepte zu kennen, die in seiner Erzählung nachklingen, um – ganz österreichisch – scheinbar untheoretisch und sehr anschaulich vorzuführen, wie eine Lebensgeschichte durch ihre Darstellung konzeptionalisiert wird. Dabei hat einiges an dieser Erzählung – eigentlich ganz unösterreichisch – einen ausgesprochen programmatischen Charakter. Ironischerweise werden die programmatischen Aussagen, die ein theoretisches Verständnis des historischen Erzählvorgangs verraten, einem fragwürdigen Erzähler in den Mund gelegt, der dazu neigt, den Mund etwas zu voll zu nehmen. Dieser Erzähler, der von der autobiographischen „Erzählung“ des armen Spielmanns schnell in den Hintergrund gedrängt wird, stellt sich anfangs in einer pompösen Suada vor, als wäre er der literarische Matador der von Grillparzer angestrebten Menschlichkeit: Als ein leidenschaftlicher Liebhaber der Menschen, vorzüglich des Volkes, so daß mir selbst als dramatischen Dichter der rückhaltslose Ausbruch eines überfüllten Schauspielhauses immer zehnmal interessanter, ja belehrender war, als das zusammengeklügelte Urteil eines an Leib und Seele verkrüppelten, von dem Blut ausgesogener Autoren spinnenartig aufgeschwollenen literarischen Matadors; – als ein Liebhaber der Menschen, sage ich, besonders wenn sie in Massen für einige Zeit der einzelnen Zwecke vergessen und sich als Teile des Ganzen fühlen, in dem denn doch zuletzt das Göttliche liegt – als einem solchen ist mir jedes Volksfest ein eigentliches Seelenfest, eine Wallfahrt, eine Andacht. (147 f., Reclam 5)

Die bombastische Syntax, die das eitle Selbstbildnis gleich dreimal an die Spitze der schließlich folgenden Aussage stellt, als hätte Grillparzer den zentralen Satz aus Kleists (erst später veröffentlichter) Schrift Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden (1806) nachahmen wollen,⁵⁰ inszeniert die Anmaßung

Werke in fünf Bänden, hrsg. v. Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd. 1, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 31980, 585 – 606, S. 585.  Vgl. Heinrich von Kleist, Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden [geschrieben ca. 1806, erstmals gedruckt 1878], in: Kleist, Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, hrsg. v. Ilse-Marie Barth, Klaus Müller-Salget, Stefan Ormanns und Hinrich C. Seeba, Bd. 3, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1990, 534– 540, S. 535: „Aber weil ich doch irgend eine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, daß die Erkenntnis, zu meinem Erstaunen, mit der Periode fertig ist. Ich mische unartikulierte Töne ein, ziehe die Verbindungswörter in die Länge, gebrauche auch wohl eine Apposition, wo sie nicht nötig wäre, und bediene mich anderer, die Rede ausdehnender, Kunstgriffe zur Fabrikation meiner Idee auf der Werkstätte der Vernunft, die gehörige Zeit zu gewinnen.“ Allerdings hat Grillparzer in den schriftlichen Dokumenten von Kleist keine Notiz genommen; nur mündlich scheint er, wie

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einer Rolle, die das Gegenteil von dem verrät, was sie zu sein vorgibt, als Sprechakt, der den behaupteten Gedanken bloßstellt. Wer „als ein leidenschaftlicher Liebhaber der Menschen“ – „als ein Liebhaber der Menschen, sage ich“ und schließlich, mit grammatischem Wechsel vom Nominativ zum Dativ, „als einem solchen“ seine volkstümliche Menschenliebe so geschwollen zur Schau stellt, gerät leicht in Verdacht, daß er selbst ein ‚von dem Blut ausgesogener Figuren spinnenartig aufgeschwollener‘ Autor ist, der seinen in der Realität aufgespürten Opfern nachsetzt, weil ihn die Phantasie in Stich gelassen hat: Das ganze Wesen des alten Mannes war eigentlich wie gemacht, um meinen anthropologischen Heißhunger aufs äußerste zu reizen. (150, Reclam 8)

Dieser Erzähler, dem selbst nichts mehr zu erzählen einfällt, giert nach dem skurrilen Stoff der dafür abgesuchten Wirklichkeit, damit er ihn verarbeiten kann. Sein ‚anthropologischer Heißhunger‘ verrät als Oxymoron von Begriff und Bild sowohl die Armut des wissenschaftlichen Anspruchs als auch die Zügellosigkeit seiner Gier. Er zeigt sich auch am Ende, als er die Geige des inzwischen gestorbenen Spielmanns erwerben will, als „von meiner psychologischen Neugierde getrieben“ (186, Reclam 56). Grillparzer hat in diesem menschlich fragwürdigen Erzähler keineswegs sich selbst porträtiert. Nachdem er im Gegensatz zu Heine beteuert hatte, er kenne „kein Ganzes als welches aus Einzelnen besteht“, läßt er seinen protzig aufdringlichen Erzähler seine Liebe zu den Menschen ausgerechnet dadurch erklären, daß sie ihn nicht als einzelne Individuen interessieren, sondern wie sie „in Massen für einige Zeit der einzelnen Zwecke vergessen und sich als Teile des Ganzen fühlen“. Im entsprechenden Überschwang hat sich der Erzähler auf dem Volksfest „der Menge hingegeben“ (149, Reclam 7), fasziniert von den schrägen Gestalten, die musizierend „die Erstlinge der noch unabgenützten Freigebigkeit einernten“ (149, Reclam 7) wollen. Die Musikanten werden, während sie auf (als „Erstlinge“ mythologisierte) Geldopfer lauern, nun selber Opfer des gefräßigen Menschenjägers mit dem anthropologischen Heißhunger; sie bilden eine Galerie albtraumartiger Krüppel: eine Harfenspielerin „mit widerlich starrenden Augen“, ein „alter, invalider Stelzfuß, der auf einem „entsetzlichen“ Instrument die Schmerzen seiner Verwundung ausdrückt, ein „lahmer, verwachsener Knabe“, der mit seiner Violine „einen einzigen ununterscheidbaren Knäuel“ bildet, und schließlich „ein alter, leicht siebzigjähriger Mann“, der den Takt seines Geigenspiels mit seinem ganzen gebückten Körper markiert (149, Reclam 7). Hier stellt Eduard von Bauernfeld im Tagebuch vom 26. Juni 1837 festgehalten hat, Kleist dafür getadelt zu haben, daß er „zu zerrissen und pathologisch“ sei (Bd. 4, S. 944).

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ein Voyeur die Gebrechen von Menschen als Objekte seiner Augenweide aus, damit er sie für seinen Materialhunger ausschlachten kann. Leidenschaftliche Menschenliebe sieht anders aus. Für die Sensationsgier des Stoffsammlers ist der skurrile Alte, der nur alt, aber kein Krüppel ist und der vor allem dadurch auffällt, daß er sich ausgerechnet mit einem lateinischen Spruch „durch die dem Feste zuströmende Menge in entgegengesetzter Richtung“ (150, Reclam 8) davonmacht, um im Bild des Heißhungers zu bleiben, ‚ein gefundenes Fressen‘: „Der Mann hatte also eine sorgfältigere Erziehung genossen, sich Kenntnisse eigen gemacht, und nun – ein Bettelmusikant! Ich zitterte vor Begierde nach dem Zusammenhange.“ (150, Reclam 9) Das ist der Nervenkitzel, den heutzutage die Boulevardpresse im Aufmacher ihrer Titelseite verspricht, damit der neugierig gewordene Leser, zu dem hier auch Grillparzers Erzähler mutiert, gierig nach der spannenden story blättert, die ihn auf den Innenseiten erwartet. Nachdem er seinen anthropologischen Heißhunger gestillt hat, bleibt dieser sensationsgierige Zuhörer, wie wir sehen werden, bis zum Ende ungerührt von der Lektion in Menschlichkeit, die ihm (wie den Lesern) erteilt wurde. Dieser Erzähler hat die nüchterne Berichterstattung des unparteiischen Historikers längst verraten, als er wie ein Enthüllungsjournalist herauszufinden versucht, was Ranke den Historikern zur Aufgabe gestellt hat: „bloß zu zeigen, wie es eigentlich gewesen“. Bevor er sich auf den Fall des armen Spielmanns einläßt, weil er sich von ihm die Aufdeckung einer skurrilen Geschichte verspricht, rechtfertigt er sein Vorgehen mit dem Programm einer Sammelwut, die den sozial engagierten Realismus charakterisiert: Wie aus einem aufgerollten, ungeheuren, dem Rahmen des Buches entsprungenen Plutarch, lese ich aus den heitern und heimlich bekümmerten Gesichtern, dem lebhaften oder gedrückten Gange, dem wechselseitigen Benehmen der Familienglieder, den einzelnen halb unwillkürlichen Äußerungen, mir die Biographien der unberühmten Menschen zusammen, und wahrlich! man kann die Berühmten nicht verstehen, wenn man die Obskuren nicht durchgefühlt hat. (148, Reclam 5 f.)

Hatte Camille in Büchners Revolutionsdrama Dantons Tod (1835) dafür plädiert, „die Leute aus dem Theater auf die Gasse: ach, die erbärmliche Wirklichkeit“ zu setzen,⁵¹ sollen die kleinen Leute auch hier entfiktionalisiert, d. h. aus dem „Rahmen des Buches“ erlöst und in die Wirklichkeit gesetzt werden, damit „die

 Georg Büchner, Dantons Tod, in: Büchner, Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. v. Werner R. Lehmann, Bd. 1, Hamburg: Wegner 1967, 7– 75, S. 37 (II/3, Ein Zimmer).

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Biographien der unberühmten Menschen“ gleichberechtigt neben die berühmten Muster der Antike treten können. Bevor der Erzähler in die Distanz fragwürdiger Motivation gerückt wird, antizipiert sein Bekenntnis zur Sammelwut auch Grillparzers poetologisches Programm: Jeder Mensch, auch der unberühmte, der sich seine Dignität im gesellschaftlichen Wandel des 19. Jahrhundert erst noch erobern muß, hat seine eigene Geschichte, er muß sie in seinem Leben nur erst entdecken, sie akzeptieren und sie als Geschichte erzählen lernen, damit er aus ihr das Selbstvertrauen einer eigenen, nur ihm eigentümlichen Identität gewinnen kann. Was Plutarch (26 – 122 n. Chr.) für seine Zeit geleistet hat, als er in 23 Paaren griechische und römische Biographien, z. B. von Theseus und Romulus, Alexander dem Großen und Julius Caesar, Demosthenes und Cicero, nebeneinanderstellte, müßte heute, so impliziert Grillparzers Erzähler, durch eine Parallelisierung der Berühmten und der „Obskuren“ erreicht werden: die Aufwertung der letzteren und ihre Gleichstellung mit den großen Helden aus Mythos und Geschichte. Weil Hormayrs Österreichischer Plutarch (1807– 1814),⁵² auf den die Forderung anspielt, mit seiner Reihe nur berühmter Biographien von Rudolf von Habsburg bis zu Kaiser Franz I. kein Vorbild sein konnte, erinnert die programmatische Aufwertung der Moderne gegenüber der Antike eher an die berühmte, ab 1697 ausgefochtene Querelle des anciens et des modernes, die die absolute Mustergültigkeit der Antike in Frage gestellt und mit solcher Relativierung das Selbstbewußtsein der eigenständigen Moderne begründet hat.⁵³ Weil die Erfahrung der historischen Differenz dem Fortschritt diente, der sich von der Maßgabe alter Autoritäten befreit, müßte die moderne Unterminierung der zeitlosen Verbindlichkeit, die für die antiken Muster fast zweitausend Jahre lang gegolten hatte, auch zur Historisierung des historischen Denkens führen, in Nietzsches Terminologie vom „monumentalischen“ zum „kritischen“ Geschichtsbegriff. Die „Zeiten, die zwischen einer monumentalischen Vergangenheit und einer mythischen Fiktion gar nicht mehr zu unterscheiden vermögen“, so Nietzsche,⁵⁴ weil ihre Muster für die Nachahmung der ‚Alten‘ gleichermaßen verbindlich waren, sollten vorbei sein. Statt der oft politisch genutzten Mythologisierung historischer Helden, z. B. Barbarossas als (von Heine ins Lächerliche gezogene) Ikone der deutschen Restauration und Rudolfs von Habsburg als (von Grillparzer gefeierte)

 Joseph Freiherr von Hormayr, Österreichischer Plutarch, oder Leben und Bildnisse aller Regenten und der berühmtesten Feldherren, Staatsmänner, Gelehrten und Künstler des österreichischen Kaiserstaates, 20 Bde., Wien: Anton Doll 1807– 1814.  Vgl. Peter K. Kapitza, Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt. Zur Geschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland, München: Fink 1981.  Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, S. 223.

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Ikone des habsburgischen Mythos,⁵⁵ sollte der kritische Historiker „die Kraft haben und von Zeit zu Zeit anwenden, eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können: dies erreicht er dadurch, daß er sie vor Gericht zieht, peinlich inquiriert und endlich verurteilt.“⁵⁶ Diesem Ziel dient einerseits, bei Heine, die Zerstörung der alten Idole und andererseits, bei Grillparzer, die Glorifizierung der „Obskuren“, deren historisch begründete Rolle als Sonderling der vorliterarischen Wirklichkeit und nicht dem Mythos entnommen ist. Die aus dem realen Leben der Gegenwart ausgewählten kleinen Leute müssen das gleiche Recht auf biographische Verklärung haben wie die Großen, z. B. Alexander der Große, Karl der Große, Louis le Grand, Katharina die Große, Friedrich der Große. Das Plädoyer für „die Biographien der unberühmten Menschen“, dieser Obskuren der Moderne, die wie der arme Spielmann ihr eigenes Schicksal und ihre davon zeugende Geschichte verdienen, ist Grillparzers Beitrag zu dieser bis ins 20. Jahrhundert anhaltenden Streitfrage Antike versus Moderne.⁵⁷ Grillparzers realistischer Erzähler würde gerne die Rolle eines modernen Plutarch spielen, der das mythische Potential der Unberühmten erkundet, um diese den berühmten Helden der Geschichte ebenbürtig zu machen. Das Ergebnis wären Parallelbiographien, in denen der schlichte Mann aus dem Volk einem göttlich gezeugten Heros wie die einfache Magd einer gefeierten Tragödin gleichgestellt ist: Von dem Wortwechsel weinerhitzter Karrenschieber spinnt sich ein unsichtbarer, aber ununterbrochener Faden bis zum Zwist der Göttersöhne, und in der Magd, die, halb wider Willen, dem drängenden Liebhaber seitab vom Gewühl der Tanzenden folgt, liegen als Embryo die Julien, die Didos und die Medeen. (148, Reclam 6)

 Vgl. zum Barbarossa-Mythos hier das Novalis-Kapitel mit Heines Ironisierung: „Herr Rotbart – rief ich laut – du bist / Ein altes Fabelwesen, / Geh, leg dich schlafen, wir werden uns / Auch ohne dich erlösen.“ Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen, in: Heine, Sämtliche Schriften, hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 4, München: Hanser 1971, 571– 644, S. 615. Zur Enthistorisierung des ersten Habsburgers, Rudolf I. (1273 – 1291), der zum mythischen Spiegelbild des gegenwärtigen Kaisers Franz I. wird, vgl. Grillparzers König Ottokars Glück und Ende (1825), V. 1789 f.: „Was sterblich war, ich hab es ausgezogen / Und bin der Kaiser nur, der niemals stirbt.“  Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, S. 229.  Zur ideologischen Problematik des griechischen Modells vgl. Eliza Marian Butler, The Tyranny of Greece Over Germany: A Study of the Influence Exercised by Greek Art and Poetry Over the Great German Writers of the Eighteenth, Nineteenth and Twentieth Centuries [1935], Boston: Beacon Press 21958.

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Gottfried Kellers Erzählung mit dem entsprechend programmatischen Titel Romeo und Julia auf dem Dorfe (1856) ist eine ähnliche Einlösung der Vision wie Grillparzers Erzählung.⁵⁸ Der Ariadnefaden führt aus dem Labyrinth der chaotischen Wirklichkeit, bei Keller aus dem erfundenen Dorf bei Seldwyla und bei Grillparzer aus der realen Stadt Wien, direkt in die poetisch geordnete Welt der historischen und literarischen Phantasie. Dem kindlichen Phantasiespiel, das in Kellers Dorfgeschichte die Bauernkinder Sali und Vreni von dem Zwist ihrer Familien erlöst, entspricht die Erzählfreude, die in Grillparzers Stadtgeschichte den armen Spielmann Jakob über seine soziale Deklassierung erhebt. Der Dorf-Stadt-Unterschied zwischen Keller und Grillparzer gibt letzterem, zehn Jahre früher, einen signifikanten Vorsprung in der Entwicklung des Realismus. In keinem anderen deutschsprachigen Land spielt die Stadt so früh eine so zentrale Rolle wie Wien. Während Zürich sogar mit den heute zur Stadt gehörenden Gemeinden sogar erst 1871 nur 56.700 Einwohner zählte, hatte das heutige Stadtgebiet von Wien im Jahr 1847, als Der arme Spielmann erschien, schon etwa 500.000 Einwohner⁵⁹ – etwas mehr als Berlin, das sich erst ab 1871, als es Hauptstadt des neugegründeten Deutschen Reiches wurde, rasant zur Millionenstadt entwickelte. Wien war immer schon die alte Kaiserstadt und auch für Deutsche, für die der Kaiser mit dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation 1806 verlorengegangen war, ein nostalgischer Erinnerungsort. Mit seinem reichen Musik- und Theaterleben blieb das biedermeierliche Wien der Traum einer lebensfrohen und zugleich melancholischen Geselligkeit, die in Grillparzer ihren dramaturgischen „Vater des habsburgischen Mythos“, in Franz Joseph ihren väterlichen Kaiser, in Johann Strauß ihren Walzerkönig, in Sigmund Freud ihren Psychoanalytiker, in Arthur Schnitzler ihren Psychologen, im jungen Hugo von Hofmannsthal ihren Epheben des Fin de siècle und in Richard Strauss’ Rosenkavalier (1911) ihren musikalischen Abschied finden sollte. Die in Wien, dieser „gutmütig ruhigen Stadt“ (146, Reclam 3), spielende Geschichte des armen Spielmanns kennt keine Walzerseligkeit, keinen Stephansdom, keine Hofreitschule, kein Burgtheater, keinen musikalischen Salon und als Geselligkeit nur das Volksfest in der Brigittenau vor den Toren der Stadt, wo ein armer Spielmann geigt, ohne daß ihm jemand zuhört. Fern aller touristischen Glorifizierung der vielbesungenen ‚Wienerstadt‘ sticht der bettelnde Sonderling heraus aus einer Volksmasse, deren politisch bedrohliche, mit der Donauüber Vgl. Thomas Koebner, Gottfried Keller: „Romeo und Julia auf dem Dorfe“. Die Recherche nach den Ursachen eines Liebestods, in: Interpretationen. Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts, Bd. 2, Stuttgart: Reclam 1990, 203 – 234.  Zahl nach https://austria-forum.org/af/AustriaWiki/Demografie_Wiens (abgerufen am 20. August 2019).

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schwemmung verglichene „Bewegung“ (146, Reclam 3) die Polizei alarmieren müßte, wenn sich „der Aufruhr der Freude“ (146, Reclam 3) nicht auf „die Losgebundenheit der Lust“ (14 6, Reclam 3) beschränken würde. Trotz der Entwarnung, mit der der Erzähler seine bedrohlich klingende Schilderung des auf der ersten Seite gleich zweimal genannten „Aufruhrs“ abschließt, darf das revolutionäre Potential dieser unkontrollierten Menge nicht vergessen werden; denn in dem Volksfesttrubel scheint eine soziale Utopie auf, die für die folgende Lebensgeschichte des deklassierten Spielmanns einen Hoffnungsschimmer birgt: „Der Unterschied der Stände ist verschwunden; Bürger und Soldat teilt die Bewegung.“ (146, Reclam 3) Die in der deutschsprachigen Literatur frühe Darstellung der unterschiedlosen Masse, die auf einer einzigen Seite dreimal als „Menge“ beschworen wird, konkurriert mit der ersten Darstellung der „Masse“ in E.T.A. Hoffmanns letzter Erzählung Des Vetters Eckfenster (1822). Dort fällt der individualisierende Blick des Erzählers auf die Masse, die sich auf dem Berliner Gendarmenmarkt tummelt – fast eine Generation früher als Edgar Allan Poes gattungstypische Erzählung The Man in the Crowd (1845), mit der Walter Benjamin die literarische Darstellung der Masse hat beginnen lassen.⁶⁰ Die spätere Kulturkritik des Massenphänomens – von Gustave Le Bons Psychologie des Foules (1895) bis Elias Canettis Masse und Macht (1960) – geht von der Vereinsamung und, wie Georg Simmel in seinem bis heute gültigen Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben (1903) betont hat,⁶¹ von der Reizüberflutung des in der Stadt entfremdeten Menschen aus. Wenn das Individuum in der Anonymität der städtischen Masse zu verschwinden droht, ist es umso wichtiger, daß Grillparzer die Lösung des Problems nicht in der gemütlichen Dorfidylle gesucht, sondern als einer der ersten Vertreter des ausgesprochen urbanen Realismus die narrative Selbstvergewisserung eines anonymisierten Individuums mitten in der Großstadt angesiedelt hat. Angesichts der verbreiteten und später ideologisierten Vorbehalte gegen die städtische Desintegration, die alle Zusammenhänge auflöst,

 Walter Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire [1939], in: Benjamin, Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I, 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, 607– 653. Vgl. Karl Riha, Menschen in Massen. Ein spezifisches Großstadtsujet und seine Herausforderung an die Literatur. In: Die Welt der Stadt, hrsg. v. Thilo Schabert, München, Zürich: Piper 1990, 117– 143, S. 122.  Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, in: Simmel, Gesamtausgabe, hrsg. v. Otthein Rammstedt, Bd. 7: Aufsätze und Abhandlungen 1901 – 1908, Bd. I, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, 116 – 131, S. 116: „Die psychologische Grundlage, auf der der Typus großstädtischer Individualitäten sich erhebt, ist die Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht.“

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kommt der urbanen Topographie des Realismus und, wie wir noch sehen werden, der Thematisierung des Zusammenhangs eine besondere Bedeutung zu. Vierzig Jahre bevor Fontane Berlin, das 1871 die neue Hauptstadt des gerade gegründeten deutschen Kaiserreichs wurde, zum Schauplatz seiner wichtigsten Romane bestimmt hat, steht die alte Kaiserhauptstadt Wien im Mittelpunkt von Grillparzers Erzählung. Wie später Fontanes Stine (1890) in der Invalidenstraße, Jenny Treibel (1892) in der Köpenicker Straße, Effi Briest (1895) in der Keithstr. 1c und die Poggenpuhls (1896) in der Großgörschenstraße wohnen,⁶² wohnt Grillparzers Jakob in der Gärtnerstr. 34, wo ihn der Erzähler aufsucht, als wollte er auch seinen Lesern den Weg in die real existierende Behausung weisen. Wie der Erzähler die Adresse erfragt, charakterisiert ihn wie auch seinen Helden: „Wo wohnen Sie?“ Er nannte mir die Gärtnergasse. – ‚Hausnummer?“ – „Nummer 34 im ersten Stocke“ – „In der Tat!“ rief ich, „im Stockwerke der Vornehmen?“ – „Das Haus“, sagte er, „hat zwar eigentlich nur ein Erdgeschoß; es ist aber oben neben der Bodenkammer noch ein kleines Zimmer, das bewohne ich gemeinschaftlich mit zwei Handwerksgesellen.“ – „Ein Zimmer zu dreien?“ – „Es ist abgeteilt“, sagte er, „und ich habe mein eigenes Bette.“ (153, Reclam13)

Der Wortwechsel ähnelt einem polizeilichen Verhör, das sich in ein soziales Diagramm verwandelt, weil der sozial verwöhnte Erzähler, der beim ersten Stock nur an eine Beletage denken kann, wie er sie von den eleganten vierstöckigen Mietshäusern im 1. Bezirk (innerhalb des Rings) gewohnt ist, erst mit einer ihm fremden sozialen Welt vertraut gemacht werden muß. Wohl noch nie hat er ein kleines Dachzimmer mit Giebelfenster betreten, das sich drei Fremde teilen müssen. Wohl noch nie hat er jemanden getroffen, der stolz darauf ist, wenigstens ein eigenes Bett zu haben. Jakob ist ein „armer“ Spielmann, nicht nur weil sein Lebenslauf Mitleid erregt, sondern weil ihn seine Armut von der Gesellschaft, in die er geboren ist, ausschließt. Seit E.T. A. Hoffmann bedient sich die städtische Topographie der Adressen, an denen die Figuren des nun zunehmend urbanen Realismus zu Hause sind, um das Geschehen auf dem Stadtplan der Großstadt so zu verankern, daß die Leser ihren Lieblingsfiguren mit dem Finger auf der Karte folgen können, als wären es amtlich registrierte Stadtbürger wie sie selbst. Anders als in den Dorfgeschichten, die wie Berthold Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten (1843 – 1854), Annette von Droste-Hülshoffs Judenbuche (1843) und Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe (1856) in einem unbestimmten, gewissermaßen austauschbaren dörf-

 Vgl. Hinrich C. Seeba, Berliner Adressen. Soziale Topographie und urbaner Realismus bei Theodor Fontane, Paul Lindau, Max Kretzer und Georg Hermann, Berlin/Boston: De Gruyter 2018.

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lichen Ambiente spielen, lassen sich die Stadtgeschichten wie Wilhelm Raabes Chronik der Sperlingsgasse (1856) topographisch so genau nachzeichnen, daß keine Verwechslung möglich ist. Die Wohngegend selbst wird, in Berlin durch das West-Ost-Gefälle und in Wien durch das Gefälle von innerhalb und außerhalb des Rings, ein sozial bestimmter – und die Anwohner bestimmender – Ort des Geschehens. In diesem Fall ist es der 2. Bezirk (Leopoldstadt), der dem Erzähler so unbekannt ist, daß er sich zu der Adresse erst durchfragen muß und auch später, „mühsam in den mir unbekannten Gassen mich zurechtfindend“ (155, Reclam 15), den Heimweg antritt. Dabei stellt sich heraus, daß die „elenden Hütten“ (154, Reclam 14) dieser Gegend am Rand der Urbanisierung zwischen Stadt und Land liegen, an einer Querstraße, „die, von der Häusermasse der Vorstadt sich entfernend, gegen das freie Feld hinaus lief. […] Die Straße bestand aus zerstreuten einzelnen Häusern, die, zwischen großen Küchengärten gelegen, die Beschäftigung der Bewohner und den Ursprung des Namens Gärtnergasse augenfällig darlegten.“ (154, Reclam 14) Die einstige Gärtnergasse, die 1862 zu Ehren eines Siegs des Feldmarschalls Radetzky bei Novara, in Novaragasse umbenannt wurde, verbindet noch heute zwischen Augarten und Praterstern die Taborstraße und die Praterstraße.⁶³ Vierzig Jahre vor Fontanes Berliner Stadtroman Irrungen, Wirrungen (1888), der am noch unentwickelten Stadtrandgebiet in einer Gärtnerei am Zoologischen Garten beginnt, ist hier eine städtische Gärtnerin die Wirtin des armen Spielmanns vor den Toren der Stadt. Das Straßennetz besteht schon, ist aber noch nicht zugebaut. Nicht mehr Dorf und noch nicht Stadt, so steht dieser Ort in merkwürdigem Kontrast zu der offensichtlich städtischen Bildung des geheimnisvollen ‚Originals‘. Zum sozialen Milieu dieser Wohngegend gehört ein nur halb bekleideter Anwohner, der wütend auf die Straße tritt und zu dem Giebelfenster hinaufbrüllt, hinter dem der Spielmann endlich sein kakophones Geigenspiel beenden soll. Die ärmliche Stadtrandgegend mit „den elenden Hütten“ ist nicht das Idyll, das sich Stadtbewohner für das Leben auf dem Lande vorstellen. Diese Gärten, in die sich die Stadtbauten vorschieben, sind kein Garten Eden mehr, in dessen paradiesische Unschuld man zurückkehren möchte. Selbst die Brigittenau, deren Augarten im 2. Bezirk (Leopoldstadt) man östlich in Richtung Taborstraße verläßt, ist ein von Grillparzer topographisch fixierter Ort, der nur im Ausnahmezustand des alljährlich im Juli gefeierten Brigittenkirchtags Züge des Paradieses annimmt. Paradiesisch ist „das saturnalische Fest“ (146, Reclam 3) nur, weil es nur in die Als Johannes Brahms 1862 von Hamburg nach Wien zog, wohnte er in den ersten Monaten zuerst in der Novaragasse 39 und dann in der Novaragasse 55 (Ecke Praterstraße), also in unmittelbarer Nachbarschaft der fiktionalen Wohnung des armen Spielmanns Jakob, der schon im Februar 1830 an den Folgen der großen Donauüberschwemmung gestorben ist.

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sem städtisch umgrenzten Park und nur für die Dauer der Kirchweih die Standesunterschiede suspendiert. Grillparzer zeigt schon nur auf der ersten Seite seiner Erzählung, wie topographisch genau, wie konkret anschaulich er vorgeht und wie poetisch vieldeutig der Subtext seiner Bilder zu verstehen ist. Als verrieten sich die Bilder nicht schon selbst, fügt er hinzu: „Ein neu Hinzugekommener fände die Zeichen bedenklich.“ (146, Reclam 3) Die semiotische Bedenklichkeit der anschaulichen Volksszene ergibt sich nur im Irrealis und lenkt gerade damit den Blick auf eine andere, symbolische Realität, die immer mitgedacht werden muß, wenn man verstehen will, worauf Grillparzer mit seinen poetischen „Zeichen“ eigentlich hinauswill. Seine Bilder der Realität ‚bezeichnen‘ Konsequenzen immer nur so, daß sie von den Lesern gezogen und auf den Begriff gebracht werden müssen. Ganz unaufdringlich geht Grillparzer auch mit dem Begriff des Zusammenhangs um, der, wie wir aus der Geschichte historischen Denkens wissen, seit dem 18. Jahrhundert eine zentrale Rolle in den darstellungstheoretischen Überlegungen zur Historiographie gespielt hat. So hat Johann Martin Chladenius in seiner Allgemeinen Geschichtswissenschaft (1752) erläutert, daß die von ihm betonte „Reihe“ der Begebenheiten „nicht bloß eine Vielfalt oder Menge“, sondern „die Verbindung derselben unter einander, und ihren Zusammenhang“ anzeigt.⁶⁴ Obwohl es keinen Hinweis darauf gibt, daß Grillparzer mit Chladenius vertraut gewesen wäre, klingt seine Argumentation so, als folgte er dessen Forderung an den Historiker, „das Wort Fügung“ ernstzunehmen und den „Zusammenhang der Begebenheiten“ durch die Zusammenstellung des Zusammengehörigen poetisch herzustellen: „Zwey Begebenheyten fügen sich also zusammen (congruunt).“⁶⁵ Wir erinnern uns an die Forderung des neugierigen Erzählers („aber Ihre früheren Schicksale. Wie es sich fügte –“) und an die erstaunte Rückfrage des armen Spielmanns („Das also nennen Sie meine Geschichte? Wie es kam?“) und bemerken darin die anschaulich unkomplizierte Variante zu Schillers Überlegung in seiner Jenaer Antrittsvorlesung Was ist und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte (1789), daß der Historiker, wenn er nicht wie der verachtete Brotgelehrte selber „abgeschnitten, herausgerissen aus dem Zusammenhang der Dinge“ sein will, die „Bruchstücke durch künstliche Bindungsglieder“ verketten und „das Aggregat zum System, zu einem vernunftmäßig zusammenhängenden

 Johann Martin Chladenius, Allgemeine Geschichtswissenschaft, worinnen der Grund zu einer neuen Einsicht in allen Arten der Gelahrtheit geleget wird, Leipzig: Friedrich Lanckischens Erben 1752, S. 7.  Ebd., S. 274 (§ 51).

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Ganzen“ erheben muß.⁶⁶ Wie sehr der Historiker bei dem Versuch, zwischen den isolierten Einzelheiten durch ‚künstliche‘ Bindungsglieder einen sogar ‚künstlerischen‘ Zusammenhang zu schaffen, zum Dichter wird, hat Schiller in einem Brief an Gottfried Körner erläutert: „Die moralischen Erscheinungen, Leidenschaften, Handlungen, Schicksale, deren Verhältnisse der Mensch im großen Laufe der Natur nicht immer verfolgen und übersehen kann, ordnet der Dichter nach künstlichen, d.i. er giebt ihnen künstlich Zusammenhang und Auflösung.“⁶⁷ Damit ist die historiographische Aufgabe theoretisch beschrieben, die Grillparzer in der Geschichte vom armen Spielmann praktisch gelöst hat. Grillparzer hat die geschichtstheoretischen Implikationen des Zusammenhangs im Sinne der österreichischen Trias viel ‚bescheidener‘, ‚menschlicher‘ und ‚gefühlvoller‘ behandelt; er konnte es gewissermaßen nur hinter dem Rücken des eingebildeten Erzählers tun. Während dieser vor „Begierde nach dem Zusammenhang“ sogar zitterte, hat Grillparzer als jenem übergeordnete ‚Erzählinstanz‘ ganz unaufgeregt vorgeführt, wie das Leben des armen Spielmanns durch das Bemühen um einen solchen Zusammenhang geprägt ist. Dafür gibt es vier scheinbar unscheinbare Beispiele, die, wenn man sie zusammenliest, ein darstellungstheoretisches Programm verraten. Das erste Beispiel ist sein Geigenspiel. Wenn der arme Spielmann die Geige spielt, ringt er in seiner vielfach ausgelachten Unbeholfenheit um einen Zusammenhang, der für immer verloren scheint: „Aber all diese Bemühung, Einheit in seine Leistung zu bringen, war fruchtlos, denn was er spielte, schien eine unzusammenhängende Folge von Tönen ohne Zeitmaß und Melodie.“ (149, Reclam 7 f.) Anders als die anderen Bettelmusikanten, die aus dem Kopf spielen und dafür reichlich belohnt werden, hält sich der arme Spielmann, dessen Hut leer bleibt, an seine „schmutzigen, zergriffenen Noten, die das in schönster Ordnung enthalten mochten, was er so außer allem Zusammenhange zu hören gab“ (149, Reclam 8). So sehr er vom Blatt zu spielen versucht, die Diskrepanz zwischen der vermuteten „Ordnung“ der Noten und dem unordentlichen Spiel schafft eine Dissonanz, die als musikalische Äquivalenz seines Lebens zu verstehen ist. Das Leben ohne Zusammenhang ist insgesamt in Unordnung geraten, weil es historisch wie musikalisch keine exakte Werktreue, kein genaues Entsprechungsverhältnis zwischen Vorlage und Abbildung gibt. Das Scheitern des armen Spielmanns stellt auch den Anspruch des platten Realismus auf restlos-mimetische  Friedrich Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?, in: Schiller, dtv-Gesamtausgabe, hrsg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, 20 Bde., München: dtv 1965 – 1966, Bd. 15, 7– 24, S. 20.  Schiller, Brief an Gottfried Körner, 30. März 1789, in: Schillers Briefe, hrsg. v. Fritz Jonas, 7 Bde., Stuttgart u. a.: Deutsche Verlags-Anstalt 1892– 1896, Bd. 2, S. 266 f.

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Abbildung der Realität in Frage. Für den ganzen Erzählvorgang ergibt sich die Frage, ob, wie und mit welchen Mitteln eine vertrauenswürdige Wiedergabe der Realität zu erreichen ist. Das zweite Beispiel ist seine Zimmerordnung. Um seinen Teil des mit zwei Handwerksgesellen geteilten kleinen Dachzimmers „in Ordnung“ (158, Reclam 18) zu halten, hat der arme Spielmann mitten durch das Zimmer einen Kreidestrich gezogen, der eine imaginäre Wand markieren soll. Er vermeldet zwar, daß damit „die Unordnung (…) verwiesen“ (157, Reclam 18) sei, muß aber auf eine Nachfrage, ob die Mitbewohner die Grenzziehung respektieren, ganz lakonisch zugeben: „Sie nicht, aber ich.“ (157, Reclam 18) Die Unordnung der Außenwelt bricht ungestraft in seine vermeintliche Privatordnung ein, weil er sich nicht anders als mit einem Kreidestrich dagegen zu schützen weiß. So bleibt auch dieser Versuch, wie beim Geigenspiel Ordnung in seine Lebenssphäre zu bringen, zum Scheitern verurteilt. Das dritte Beispiel ist seine Wäscheordnung: Als Barbara seine Hemden und Tücher gewaschen hat und vorbeikommt, um „die Wäsche in Ordnung zu bringen und die mitgebrachten Stücke einzureihen“ (180, Reclam 48), macht sie ihm schließlich unter Tränen Vorwürfe wegen seiner Weltfremdheit: „Eigentlich verdienen Sie kein Mitleid – hier wurde sie immer heftiger –, wenn man so schwach ist, seine eigenen Sachen nicht in Ordnung halten zu können.“ (180, Reclam 49) Der arme Spielmann ist lebensuntüchtig, weil er sich nicht in die Weltordnung einreihen kann, weil er es als Außenseiter nicht geschafft hat, für sich eine Lebensordnung zu finden, die auch von anderen respektiert wird. Das vierte Bespiel ist seine Beisetzung: Was ihm im alltäglichen Vollzug seines Lebens nicht gelungen ist, scheint erst im Tod möglich zu werden. Wieder mit Hilfe Barbaras kommt für seine Bestattung „die Ordnung des Leichenzuges“ (186, Reclam 55) zustande, die Einlösung eines lebenslangen und lebenslang gescheiterten Versuchs, seinem Leben einen geordneten Zusammenhang zu geben. Als der Erzähler zur abschließenden Bestätigung seiner unverändert unbescheidenen, unmenschlichen und gefühllosen Arroganz, „von meiner psychologischen Neugierde getrieben“ (186, Reclam 56), die um den Spielmann trauernde Barbara aufsucht, um ihr für einen hohen Preis die Geige des armen Spielmanns abzukaufen, als wäre sie nur ein Souvenir des darin verdinglichten Lebens, zeigt sich, daß er nach wie vor keinen Sinn für Menschlichkeit hat. Verwundert nimmt er wahr, daß „die Geige mit einer Art Symmetrie geordnet neben dem Spiegel, einem Kruzifix gegenüber, an der Wand“ (186, Reclam 56) eine für die trauernde Barbara heilige ‚Ordnung‘ der Erinnerung bildet. Barbaras Tränen, die ihr (im letzten Satz) stromweise über die Backen laufen, sind, gerade weil sie den gefühllosen Erzähler nicht erreichen, ein bewegender Appell an die Leser, damit sie auf die Geschichte des armen Spielmanns mit mehr Anteilnahme als der Erzähler reagieren können.

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Die Geschichte des armen Spielmanns, von ihm selbst erzählt, war eben alles andere als ein billiger Groschenroman, den man für einige Bettelgroschen kaufen kann, um ihn ungerührt beiseitezulegen. Aber neben den vier Beispielen, die aus dem gegenwärtigen Leben des Spielmanns gegriffen sind, gibt es noch ein fünftes, besonders eindrucksvolles Beispiel, das in seine frühe Kindheit zurückreicht und beweist, wie sehr das vergebliche Bemühen um Ordnung und geordneten Zusammenhang von frühauf sein ganzes Leben geprägt hat. Er erzählt, wie er mit seinen beiden Brüdern aufwuchs als Sohn eines einflußreichen Hofrats fast im Ministerrang und wie er, weil er nur langsam lernte, seinen ehrgeizigen Vater immer wieder enttäuscht hat: wenn ich mich recht erinnere, so wäre ich wohl imstande gewesen, allerlei zu erlernen, wenn man mir nur Zeit und Ordnung gegönnt hätte. Meine Brüder sprangen wie Gemsen von Spitze zu Spitze in den Lehrgegenständen herum, ich konnte aber durchaus nichts hinter mir lassen, und wenn mir ein einziges Wort fehlte, mußte ich von vorne anfangen. (159, Reclam 20)

Ihm fehlten „Zeit und Ordnung“ für die gründliche Aneignung eines neuen Lehrgegenstands, ihm fehlte die Struktur, in die er das Neue einordnen konnte, um es aus seinem Zusammenhang zu verstehen. Dieses Versagen zeigt sich in einem traumatischen Vorfall, der sein ganzes Leben geprägt hat: Als er in der Schule, in Gegenwart seines Vaters, Verse aus der Poetik des Horaz (De arte poetica, V. 112 f.) rezitieren mußte, blieb er just bei einem Wort stecken, das ihm trotz mehrfacher Ansätze absolut nicht einfallen wollte, bis es ihm sein aufgebrachter Vater donnernd entgegenschrie: „Cachinnum!“ (160, Reclam 21) Verstoßung aus dem Elternhaus und der soziale Abstieg waren die Folgen dieses Scheiterns an dem einen, alles entscheidenden Wort. Grillparzer hätte für das verbale Urversagen des armen Spielmanns keine bessere Stelle der Poetik als dieses lateinische Schlüsselwort cachinnus = Gelächter wählen können, um die lächerliche Unangemessenheit falscher Wortwahl zu bezeichnen: Si dicentis erunt fortunis absona dicta, / Romani tollent equites peditesque cachinnum. Wer Worte (dicta) wählt, die zum Geschehen (fortunae) nicht passen, macht sich mit dieser Diskrepanz zwischen Sprache und Ereignis, zwischen Aussage und Gemeintem, zwischen Darstellung und Geschichte lächerlich. Auch der nachsichtige Lehrer, der ihm die Blamage vor dem Vater ersparen wollte, konnte ihm nicht helfen: „Ich aber, der das Wort in meinem Innern und im Zusammenhange mit dem übrigen suchte, hörte ihn nicht.“ (160, Reclam 21) Weil ihm immer der geordnete Zusammenhang fehlte, hat ihn das Gelächter der anderen wie ein Fluch seiner Kindheit stets begleitet – von der Menge, die ihn auf dem Volksfest „auslachte“ (150, Reclam 8), und der Gruppe übermütiger Kinder, die ihn „schmähend und spottend“ (151, Reclam 9) stehen ließ, bis zu

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seiner Wahnvorstellung, daß die Menschen seiner Umgebung „auf mich schmähen, ja es schien, sie verlachten mich“ (180, Reclam 48). Für diesen scheinbar lächerlichen Außenseiter wirbt Grillparzer um Sympathie, wenn er sehr indirekt und mit versteckten literarischen Anspielungen andeutet, daß Jakobs Lebensproblems in seiner modernen existentiellen Desintegration liegt und die Lösung seines Problems nur in der poetischen Ordnung der narrativen Integration seiner Geschichte zu suchen ist. Dabei erinnert der Unterschied des armen Spielmanns zu seinen erfolgreichen Brüdern an die beiden Wege, die laut Heinrich von Ofterdingen (im Roman von Novalis, 1802) „zur Wissenschaft der menschlichen Geschichte“ führen: Der eine, mühsam und unabsehlich, mit unzähligen Krümmungen, der Weg der Erfahrung; der andere, fast ein Sprung nur, der Weg der innern Betrachtung. Der Wanderer des ersten muß eins aus dem andern in einer langwierigen Rechnung finden, wenn der andere die Natur jeder Begebenheit und jeder Sache gleich unmittelbar anschaut, und sie in ihrem lebendigen, mannigfaltigen Zusammenhange betrachten, und leicht mit allen übrigen, wie Figuren auf einer Tafel, vergleichen kann. (208, Reclam 25)

Der arme Spielmann mußte den mühseligen „Weg der Erfahrung“ gehen und „eins aus dem andern in einer langwierigen Rechnung finden“, während seine Brüder mit ihrer schnellen Auffassungsgabe auf dem „Weg der innern Betrachtung“ von einer Spitze zur nächsten springen und womöglich alle Begebenheiten „in ihrem lebendigen mannigfaltigen Zusammenhange betrachten“ konnten. Diese Gabe, die dem armen Spielmann im Vollzug seines Lebens verwehrt war, wächst ihm erst durch den Erzählvorgang zu. Erst als er nach seiner Geschichte gefragt wurde, „wie es sich fügte“, gönnt er sich selbst die „Zeit und Ordnung“ (159, Reclam 20), die ihm immer vorenthalten wurden, um die Geschichte seines Lebens ganz entspannt zu erzählen: „Wir haben Zeit, und fast kommt mich die Lust zu schwatzen an.“ (158, Reclam 19) Nur erzählend findet er die Ordnung, die seinem Leben gefehlt hat. Nur im Erzählvorgang erweist sich der geordnete Zusammenhang, den er gesucht hat. Nur in der Darstellung verwandelt sich das Geschehen unter der Hand in Geschichte.⁶⁸ Nur auf der ästhetischen Ebene der fiktionalen Erzählung, im Bild des thematisierten Erzählvorgangs, hat sich Grillparzer, der laut Selbstbiographie „immer viel auf das Verhältnis der Figuren und die Bildlichkeit der Darstellung gehalten“ hat,⁶⁹ zu dem geschichtstheoretischen Grundsatz bekannt, daß Geschichte als  Vgl. hierzu Roland Heine, Ästhetische oder existentielle Integration? Ein hermeneutisches Problem des 19. Jahrhunderts in Grillparzers Erzählung „Der arme Spielmann“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 46 (1972), 650 – 683.  Grillparzer, Selbstbiographie, S. 112.

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history auf Geschichte als story angewiesen ist, um verständlich und sinnvoll zu werden. Deshalb sei zum Schluß noch einmal Grillparzers Definition der Geschichte wiederholt, die für Nietzsches Geschichtsbegriff so wichtig war, daß er sie in seiner Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben wörtlich zitiert hat: Was ist denn die Geschichte anders, als die Art wie der Geist des Menschen diese ihm undurchdringlichen Begebenheiten aufnimmt; das weiß Gott, ob Zusammengehörige, verbindet; das Unverständliche durch etwas Verständliches ersetzt; seine Begriffe von Zweckmäßigkeit nach außen einem Ganzen unterschiebt, das wohl nur eine nach innen kennt; Absicht findet, wo keine war; Plan, wo an kein Voraussehen zu denken; und wieder Zufall, wo tausend kleine Ursachen wirkten.⁷⁰

Zielte die entsprechende Ausgangsfrage des Erzählers „Wie soll ich mir das erklären?“ (10) auf einen Begründungszusammenhang, der sich erst in der ästhetischen Reflexion auf das erinnerte Leben des armen Spielmanns ergibt, ist die narrative Erklärung nur ein nachträglicher Prozeß der Aufklärung von Ursachen, zu denen die Schlußfolgerungen erst noch gefunden werden müssen: „Wie Sie sich das erklären sollen? […] Ich will Ihnen daher nur die Ursachen angeben, obgleich ich oft deshalb verlacht worden bin.“ (151 f., Reclam 10) Die womöglich lächerlichen, noch unverknüpften Ursachen lassen sich zu einer Geschichte des Scheiterns zusammensetzen, die schließlich sich selbst auslegt. Der gesuchte Zusammenhang ergibt sich also erst aus der Zusammensetzung dessen, was in den Augen der Interpreten zusammengehört, das Scheitern zu erklären. So ist das gescheiterte Leben in der gelungenen Erzählung dieses Lebens dialektisch aufgehoben. Daß ausgerechnet eine solche dialektische Denkfigur den Kern der Erzählung treffen würde, kann auch als ironisches Zeichen dafür gewertet werden, daß Grillparzer bei aller Ablehnung der ‚deutschen‘ Geschichtsphilosophie und bei aller Neigung zur ‚österreichischen‘ Absonderung an einer kreativen Spannung zwischen begrifflichem und bildlichem Denken festgehalten hat. Wie wir gesehen haben, ist Grillparzer mit seinen impliziten Anleihen weiterhin der deutschen Geistesgeschichte, von der er sich als österreichischer Dichter abzugrenzen versucht hat, durchaus verpflichtet geblieben. Diesem Gleichgewicht der beiden Pole, in deren Mitte Grillparzer die Rolle des auch historiographisch Zerrissenen spielt, entspricht die frühe Rezeptionsgeschichte der Erzählung vom armen Spielmann. Grillparzer hat die 1842 abgeschlossene Erzählung erst 1847 für die von Gustav Heckenast in Ungarn verlegte Zeitschrift Iris. Deutscher Almanach für

 Grillparzer, Tagebuch Nr. 1225 (1822), Bd. 3, S. 304.

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1848 freigegeben, die mit dieser Nummer ihr Erscheinen einstellen mußte. Am Vorabend der März-Revolution von 1848, die auch Wien ergriff, hatte das öffentliche Interesse auch in Österreich keinen Sinn für die Geschichte eines Sonderlings am Rande der Gesellschaft. Erst dem Berliner Paul Heyse, der sich gegenüber Grillparzer „wahrhaft gekränkt“ gab, „dieses einzige Kabinetsstück an einem so wenig zugänglichen Ort gleichsam versteckt zu wissen“,⁷¹ gelang es 1871, im Jahr der deutschen Reichsgründung und kurz vor Grillparzers Tod, dem Armen Spielmann durch Aufnahme in seinen Deutschen Novellenschatz fast kanonische Geltung zu verschaffen.⁷² Die Figur des Wiener Spielmanns, der als schließlich souveräner Erzähler seines Lebens das Sinnbild anrührend schlichter Menschlichkeit wird, ist Grillparzers sehr konkreter, aber transzendentalpoetisch motivierter Beitrag sowohl zum urbanen Realismus als auch zur Ästhetisierung historischen Denkens. Von dem narrativen Lebenszusammenhang, den Grillparzers armer Spielmann gefunden hat, führt ein direkter Faden zu Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, in dessen zweitem Teil (1933), im 122. Kapitel (Heimweg), Ulrich sich daran erinnert, daß „das Gesetz des Lebens […] kein anderes sei als das der erzählerischen Ordnung“: Jener einfachen Ordnung, die darin besteht, daß man sagen kann: „Als das geschah, hat sich jenes ereignet!“. Es ist die einfache Reihenfolge, die Abbildung der überwältigenden Mannigfaltigkeit des Lebens in einer eindimensionalen, wie ein Mathematiker sagen würde, was uns beruhigt; die Aufreihung alles dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist, auf einen Faden, eben jenen berühmten „Faden der Erzählung“, aus dem nun also auch der Lebensfaden besteht.⁷³

 Paul Heyse, Brief an Grillparzer, 4. Juni 1870 (Nr. 1733), in: Grillparzer, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. August Sauer, fortgeführt von Reinhold Backmann, Abt. 3, Bd. 5, Wien: Anton Schroll 1935, S. 90.  Zur Rezeptionsgeschichte vgl. Hinrich C. Seeba, Franz Grillparzer: „Der arme Spielmann“ (1847), in: Romane und Erzählungen zwischen Romantik und Realismus. Neue Interpretationen, hrsg. v. Paul Michael Lützeler, Stuttgart: Reclam 1983, 386 – 422. Eine leicht veränderte Version erschien unter dem Titel „‚Ich habe keine Geschichte‘: Zur Enthistorisierung der Geschichte vom ‚Armen Spielmann‘“, in: Grillparzer’s „Der arme Spielmann“. New Directions in Criticism, hrsg. v. Clifford Albrecht Bernd, Columbia, SC: Camden House 1987, 206 – 232. Zur erzähltheoretischen Analyse vgl. Hinrich C. Seeba, „Wie es sich fügte –“: Mythos und Geschichte in Grillparzers Erzählung, in: Interpretationen. Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts, Bd. 2, Stuttgart: Reclam 1990, 99 – 131.  Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, hrsg. v. Adolf Frisé, Hamburg: Rowohlt 1970, S. 650.

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9 Franz Grillparzer – Geschichte als narrative Selbstvergewisserung

Wie Grillparzers Erzähler im verrückten Spiel des armen Spielmanns „den Faden durch dieses Labyrinth“ (17) zu erkennen glaubt, der auch seine Lebensgeschichte strukturiert, hat auch Musils Ulrich den Lebensfaden erst im „Faden der Erzählung“ gefunden. Erst die erzählerische Ordnung, in die sich der Mensch der Moderne vor dem immer mehr bedrängenden Chaos flüchtet, verspricht die Wahrheit der Geschichte.

10 Theodor Fontane – Geschichte als Roman einer Vorgeschichte Wie Grillparzer in Wien der Hauptvertreter des österreichischen Biedermeier, war eine Generation später Theodor Fontane in Berlin der Hauptvertreter des deutschen Realismus. Wie Grillparzer seine narrative Konstruktion von Geschichte gegen die Geschichtsphilosophie, hat Fontane seine historische Erzählmethode gegen den Historismus zu behaupten versucht. Wie Grillparzer von dem Historiker Leopold von Ranke und sehr kritisch von dem Literarhistoriker Georg Gottfried Gervinus, hat sich Fontane viel indirekter von dem Historiker Heinrich von Treitschke und dem Literarhistoriker Wilhelm Scherer abgehoben, um wie Grillparzer an der Ästhetik historischen Denkens festzuhalten. Der Historismus, der, im Namen positivistischer Tatsachenuntersuchung, zu Fontanes Zeit das wissenschaftliche Denken fast aller Disziplinen geprägt hat, geht in seinem Wortursprung auf die Romantik zurück. Friedrich Schlegel hat 1797 die Philosophie der Philologie eine „Theorie der historischen Kritik“ genannt und, mit Bezug auf Winckelmann, dafür als erster den Begriff „Historismus“ eingeführt.¹ Damit war nominell der Grundstein gelegt für die Historische Schule, zu der vor allem der Altphilologe August Boeckh, der Sprachwissenschaftler Franz Bopp, die Germanisten Karl Lachmann und die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm, die Historiker Barthold Georg Niebuhr und Leopold von Ranke sowie der Rechtshistoriker Friedrich Carl von Savigny gehörten. Dieser großenteils noch idealistisch geprägten Schule historischer Quellenkritik folgte in der zweiten Jahrhunderthälfte, bei zunehmender Differenzierung der Wissenschaftsdisziplinen, der Historismus, der sich, der ‚realistischen‘ Grundhaltung der Zeit entsprechend, ganz der Tatsachenforschung widmete.² Der rasante Fortschritt in der Entwicklung der Naturwissenschaften begünstigte die Konzentration der Positivisten auf das reine Faktenstudium und auf die Suche nach allgemeinen Gesetzen, nach denen angeblich auch historische und

 Diesen ersten Wortbeleg (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 16: Fragmente zur Poesie und Literatur I, hrsg. v. Hans Eichner, Paderborn: Schöningh 1981, S. 35 – 41) hat Klaus Behrens, Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie (1794 – 180 l). Ein Beitrag zur politischen Romantik, Tübingen: Niemeyer 1984, S. 91, Anm., mitgeteilt. Vgl. Georg G. Iggers, Historicism: The History and the Meaning of the Term, in: Journal of the History of Ideas 56 (1995), 129 – 152.  Zur Kritik am Historismus vgl. Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, Tübingen: Mohr 1922; und Thomas Nipperdey, Historismus und Historismuskritik heute, in: Die Funktion der Geschichte in unserer Zeit, hrsg. v. Eberhard Jäckel und Ernst Weymar, Stuttgart: Klett 1975, 82– 95. https://doi.org/10.1515/9783110679878-012

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gesellschaftliche Vorgänge ablaufen. Als nach der Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 die Berliner Universität vor allem in den Naturwissenschaften eine weltweit führende Rolle zu spielen begann, wurde auch in der Geschichtswissenschaft der historische Positivismus, mit seiner Betonung des von der Spekulation der früheren Geschichtsphilosophie befreiten Faktenwissens und dem Anspruch auf unvoreingenommene Tatsachenforschung, zur nationalen Ideologie, deren akademischer Hort die 1810 gegründete Berliner Universität war. An ihr wirkten zu Fontanes Zeit weltberühmte Koryphäen wie die Mediziner Rudolf Virchow (ab 1856) und Robert Koch (ab 1885), die Physiker Hermann Helmholtz (ab 1870) und Max Planck (ab 1889), die Germanisten Wilhelm Scherer (ab 1877) und Erich Schmidt (ab 1887), die Philosophen Friedrich Paulsen (ab 1878) und Wilhelm Dilthey (ab 1882), der Nationalökonom Gustav Schmoller (ab 1882), der Theologe Adolf Harnack (ab 1888), der Altphilologe Ulrich von WilamowitzMoellendorff (ab 1897) und vor allem – in der Nachfolge von Leopold von Ranke, der von 1834 bis 1871 in Berlin gelehrt hatte – die Historiker Johann Gustav Droysen (ab 1859), Theodor Mommsen (ab 1861) und Heinrich von Treitschke (ab 1873 als Rankes Nachfolger). Fontane hatte wenig Kontakt zur Universität. Aber als er am 8. November 1894, kurz vor seinem 75. Geburtstag, die Ehrendoktorwürde der Friedrich-Wilhelm-Universität Berlin zuerkannt bekam, ging der Antrag dazu zwar von dem Germanisten Erich Schmidt aus, unterstützt wurde er aber vor allem von den beiden Historikern Theodor Mommsen und Heinrich von Treitschke. Während ersterer das lateinische Doktordiplom verfaßte und Fontane darin als „poetam eximium […] gracia pollentem, virtute potentem“, als „narratorem ingeniosum“ und als „civem egregium“, also als genialen Erzähler pries,³ muß letzterer wohl einigen Widerstand überwunden haben, bevor er in den Preis des ‚narrativen Genies‘ einstimmen konnte, weil ihn mit diesem schärfsten Kritiker des von ihm hochgejubelten ‚Borussismus‘ sonst nichts verband. Das brauchte wohl erst einige Überzeugungsarbeit, wie Fontane selbst in einem Brief vermutete: Im ganzen genommen stehe ich mau und flau zu Auszeichnungen derart; diese hat aber doch einen Eindruck auf mich gemacht. [… ] Erich Schmidt ist mein besonderer Gönner; der nahm es in die Hand und versicherte sich zunächst Mommsens, der – wegen ‚Vor dem Sturm‘ – auch ein kleines Liking für mich hat. Da sagte dann keiner mehr ‚nein‘, und alle einundfünfzig ‚Ja‘ kamen glücklich zustande – sie sprangen nach. Aber trotzdem ist es eine Freude; vor strenger Kritik kann überhaupt nichts bestehen.⁴

 Zitiert nach Hans-Heinrich Reuter, Fontane, Bd. 2, Berlin: Verlag der Nation 1968, S. 736.  Fontane, Brief an Paul Friedländer, 9. Dezember 1894, zitiert nach Reuter, Fontane, S. 736 f.

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Theodor Mommsens Vorliebe für Fontanes ersten Roman – statt für die Berliner Gesellschaftsromane wie Frau Jenny Treibel (1892) und Effi Briest (1895), die ihn berühmt gemacht haben – werden wir uns für später merken müssen, wenn wir uns die Technik des historischen Erzählens in Vor dem Sturm (1878) ansehen. Fontanes Fürsprecher an der Universität war der Germanist Erich Schmidt, der zusammen mit Paul Heyse schon 1891 Fontane für den Schiller-Preis vorgeschlagen hatte. Erich Schmidt, den manche Leser in der sympathischen Gestalt des Professor Willibald Schmidt (in Frau Jenny Treibel) porträtiert glaubten, war mit Fontane so gut befreundet, daß er noch vier Tage vor dessen Tod an der ganz privaten Verlobung der Mete genannten Tochter Martha (mit dem Architekten Karl Emil Otto Fritsch) am 16. September 1898 teilgenommen hat. Als einer der wenigen Universitätsprofessoren, die Fontane gewürdigt haben, hat Schmidt für ihn den Nachruf in der Deutschen Rundschau (November 1898) geschrieben und in einer Rede zur Einweihung des Fontane-Denkmals am 8. Juni 1907 in Neuruppin in Hinblick auf die Mark Brandenburg gemeint, Fontanes „Ruhm ihres besten Schilderers und Geschichtschreibers“ bedürfe keiner Worte mehr.⁵ Mit den Wanderungen durch die Mark Brandenburg (1861– 1888) war Fontane ihr Geschichtsschreiber schlechthin geworden. Die Verleihung der Ehrendoktorwürde ist in Fontanes Biographie nur eine Miszelle, die aber ein Licht auf den institutionellen Zusammenhang von Geschichte und Dichtung wirft: Ein Historiker (Mommsen), der 1874 in seiner Rektoratsrede Über das Geschichtsstudium die Geschichte zur „Kunst“ erklärt hat, die man nicht wie ein Handwerk erlernen könne,⁶ und der 1902 selbst den ersten Nobelpreis für Literatur gewinnen sollte, als wäre er ein Dichter, verschaffte einem Dichter, den er wegen eines historischen Romans besonders schätzte, mit der Ehrendoktorwürde in der Philosophischen Fakultät der Universität auch eine akademische Anerkennung seiner dichterischen Leistung. Deshalb dürfte sich Mommsen zwei Jahre später darüber gefreut haben, daß sein Name im letzten Roman Fontanes, Die Poggenpuhls, als ein Garant gesellschaftlicher Anerkennung genannt wird. Tatsächlich hat der fast schon 60-jährige Fontane sein literarisches Werk mit einem historischen Roman, Vor dem Sturm (1878), begonnen und mit einem Gesellschaftsroman, Die Poggenpuhls (1896), abgeschlossen, in dem er an einer versteckten Stelle die bekanntesten Historiker des 19. Jahrhunderts auftreten läßt.  Erich Schmidt, Theodor Fontane. Rede gehalten bei der Enthüllung des Wieseschen Denkmals in Neuruppin am 8. Juni 1907, in: Deutsche Rundschau, Nr. 132 (11. August 1907), 189 – 193, S. 189.  Theodor Mommsen, Rektoratsrede 15. Oktober 1874: Über das Geschichtsstudium, in: Mommsen, Reden und Aufsätze, Berlin: Weidmann 1905, 3 – 16, S. 14 f.: „Der Geschichtsschreiber gehört vielleicht mehr zu dem Künstler als zu dem Gelehrten.“

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Fontane kontrastiert in diesem Roman den gesellschaftlichen Abstieg des verarmten Adels, der seine historische Rolle ausgespielt hat, mit dem – nur im Hintergrund angedeuteten – gesellschaftlichen Aufstieg reicher Juden, bei denen eine der Poggenpuhl-Töchter als Hauslehrerin arbeitet. Während die Poggenpuhls am Stadtrand – mit der symbolischen Adresse Großgörschenstraße, deren Name an eine gegen Napoleon verlorene Schlacht 1813 erinnert – in ärmlichsten Verhältnissen leben,⁷ wohnen die wohlhabenden Bartensteins in der Stadtmitte, in einem der Palais der vornehmen Voßstraße, wo zu ihren festlichen Gesellschaften nicht nur der Kronprinz Friedrich, sondern, als wären sie ebenbürtig, auch die gefeierten Historiker Johann Gustav Droysen (1808 – 1884), Theodor Mommsen (1817– 1903) und sogar der Vater des Historismus Leopold von Ranke (1795 – 1886) regelmäßig erscheinen. Diese Historiker, von denen zwei zur Spielzeit des Romans (1888) schon nicht mehr leben, haben in der Gesellschaft der Gründerzeit eine so angesehene Rolle gespielt, daß mit ihrer erfundenen Anwesenheit die gesellschaftliche Stellung der Bartensteins allen sichtbar aufgewertet wird, als dürfte die Geschichte selbst auf der Seite der assimilierten Juden vermutet werden. Ebenso bezeichnend wie die Historiker, die das jüdische Haus mit ihrer Anwesenheit beehren, ist aber auch die Abwesenheit jenes Historikers, der zu dieser Zeit in Berlin die größte Furore machte: Heinrich von Treitschke (1834– 1896). Treitschke, der 1873 auf den Berliner Lehrstuhl Rankes berufen worden war und der 1886 auch als offizieller „Historiograph des preußischen Staates“ Rankes Nachfolger wurde, hatte 1879 mit dem Spruch „Die Juden sind unser Unglück“ den Berliner Antisemitismusstreit ausgelöst, in dem Mommsen die Gegenpartei anführte.⁸ Weil Treitschke in der Familie Bartenstein ein höchst unwillkommener Gast gewesen wäre, wird sein Name, der in diesen Jahren in aller Munde war, in Fontanes Roman einfach totgeschwiegen. Abwesend gegenwärtig ist Treitschke auch in Fontanes wohl bekanntestem Roman, Effi Briest (1895), in dem Effi nicht nur zwischen zwei Männern, sondern auch zwischen zwei entschieden entgegengesetzten Welthaltungen aufgerieben wird. Während auf der einen Seite ihr Mann, der „Wagner-Schwärmer“ Innstetten, Richard Wagner nicht wegen seiner Opern, sondern wegen seiner „Stellung zur

 Vgl. Hinrich C. Seeba, Berliner Adressen. Soziale Topographie und urbaner Realismus bei Theodor Fontane, Paul Lindau, Max Kretzer und Georg Heinrich, Berlin/Boston: De Gruyter 2018, 201– 227.  Heinrich von Treitschke, Unsere Aussichten [zuerst in: Preußische Jahrbücher, November 1879], in: Der Berliner Antisemitismusstreit, hrsg. v. Walter Boehlich, Frankfurt am Main: insel taschenbuch 1988, 7– 27, S. 13. Ab 1927 erschien Treitschkes Spruch auf der Titelseite des nazistischen Hetzblattes Der Stürmer.

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Judenfrage“,⁹ also den Autor der antisemitischen Schmähschrift Das Judentum in der Musik (1850), besonders schätzt, zitiert auf der ideologischen Gegenseite Effis Verführer, Major von Crampas, ausführlich seinen „Lieblingsdichter“¹⁰ Heinrich Heine, einen Juden, den Innstettens ungenannter Gewährsmann Treitschke im 4. Band seiner überaus populären Deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert (1876) besonders intensiv geschmäht hatte: Von der menschlichen Größe unserer klassischen Dichter besaß er nichts. Geistreich ohne Tiefe, witzig ohne Überzeugung, selbstisch, lüstern, verlogen und doch zuweilen unwiderstehlich liebenswürdig, war er auch als Dichter charakterlos und darum merkwürdig ungleich in seinem Schaffen. Oft mißbrauchte er sein Formtalent, um seelenlos das Anempfinden nachzudichten.¹¹

Wenn Fontane den Lebemann Crampas, der für Innstetten „so’n halber Pole“ war,¹² sich ausgerechnet mit Treitschkes Lieblingsfeind identifizieren läßt, der der Inbegriff antisemitischer Vorurteile wurde, mußten Zeitgenossen darin eine Brüskierung des berühmten Historikers sehen, der seine Leser davon überzeugen wollte, daß „der deutsch-polnische Judenstamm“ für die „Besudelung des deutschen Wesens“ verantwortlich war.¹³ Zu lange haben sich Fontanes Interpreten von eigenen Vorurteilen leiten lassen, um zu erkennen, daß gerade vor dem Hintergrund des namentlich nicht genannten Treitschke die Sympathien des Erzählers auf der Seite von Crampas liegen, weil er Effi aus der seelischen Gefangenschaft ihres Karriere-Mannes befreit.¹⁴ Wie auf Treitschke fehlt bei Fontane auch jeder Hinweis auf Erich Schmidts Vorgänger auf dem germanistischen Lehrstuhl in Berlin, Wilhelm Scherer (1841– 1886), obwohl dieser vor allem mit seiner Geschichte der Deutschen Litteratur (1883) eine ähnlich maßgebliche Rolle gespielt hat wie in der ersten Jahrhunderthälfte Gervinus mit seiner Geschichte der deutschen National-Literatur der Deutschen (ab 1835). Da Fontane mit dem Scherer-Nachfolger Schmidt so gut befreundet war, ist sein Schweigen über Scherer, der der berühmtere der beiden war, umso beredter. Wie Treitschke bildet Scherer die nur gedachte Kontrastfolie zu Fontanes Poetik realistischen Erzählens. Mit Wilhelm Scherer, dem einfluß-

 Fontane, Effi Briest, in: Fontane, Werke, Schriften und Briefe, hrsg. v. Walter Keitel und Helmuth Nürnberger, Abt. I, Bd. 4, München: Hanser 1973, 7– 296, S. 103.  Ebd., S. 137.  Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Illustrierte Ausgabe, Essen: Emil Vollmer o. J. [ca. 1985], S. 458.  Fontane, Effi Briest, S. 147.  Treitschke, Deutsche Geschichte, S. 455 f.  Vgl. hierzu ausführlicher Hinrich C. Seeba, Berliner Adressen, S. 172– 200.

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reichen Berliner Germanisten aus Österreich, haben sich das naturwissenschaftliche Weltbild, das deterministische Geschichtsbild und der positivistische Tatsachenglaube so sehr durchgesetzt, daß an Rankes Forderung, der Historiker solle „bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen“, scheinbar nicht mehr gerüttelt werden konnte. Der objektivistisch nüchterne Zugriff der Positivisten auf Tatsachen, Ursachen, Quellen und Entwicklungsgesetze hatte für die literarische Konstruktion historischer Wirklichkeit und für die perspektivische Darstellung der Zusammenhänge noch weniger Sinn als die frühere Geschichtsforschung, die sich erst durch Abgrenzung gegen historische Dichtung als akademische Disziplin etablieren konnte. Dabei hat Scherer, der von der Unvoreingenommenheit des eigenen methodischen Ansatzes überzeugt war, dennoch ähnlich wie Treitschke einem von Fontane verachteten ‚Borussismus‘ gehuldigt und vor dem Hintergrund der preußischen Nationalideologie auch für die Wissenschaft ein „System der nationalen Ethik“ gefordert.¹⁵ Scherers Geschichtsbegriff steht hier stellvertretend für den historischen Positivismus, der die in der Ästhetik historischen Denkens erreichten Grundsätze abgelehnt hat und deshalb für den von Erich Schmidt gefeierten Beitrag Fontanes zur Geschichtsschreibung einen mächtigen, akademisch gerechtfertigten Kontrast bildet. Auf den Gegensatz von Fontane und Scherer, der „das Streben, die Geschichte als eine lückenlose Kette von Ursachen und Wirkungen anzusehen“,¹⁶ zum Maßstab wissenschaftlicher Arbeit erhoben hat, paßt eine Unterscheidung, die wir in einem früheren Kapitel kennengelernt haben. Mit Bezug auf die Winckelmann-Rezeption hat Lionel Gossman zwischen einerseits analytischen Historikern, die „a plausible chain of causation“ zu finden versuchen und dafür den Geschehensablauf detailgetreu rekonstruieren, und andererseits synthetischen Interpreten unterschieden, die in der psychologischen Motivation die Bedeutung des Geschehens zu konstruieren versuchen.¹⁷ Während Fontane, wie wir

 Wilhelm Scherer, Widmung an Karl Müllenhoff, in: Scherer, Zur Geschichte der deutschen Sprache, Berlin: Franz Duncker 1868, hier zitiert nach Methoden der deutschen Literaturwissenschaft, hrsg. v. Viktor Žmegač, Frankfurt am Main: Athenäum 1971, 17– 19, S. 17. Zur nationalen Ausrichtung der Historiographie vgl. Wolfgang J. Weber, Geschichte und Nation. Das ‚nationale Princip‘ als Determinante der deutschen Historiographie 1840 – 1880, in: Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, hrsg. v. Daniel Fulda und Silvia Serena Tschopp, Berlin/New York: De Gruyter 2002, 343 – 365.  Wilhelm Scherer, [Rez. zu] Hettners Litteraturgeschichte des 18. Jahrhunderts, 2. Theil, 2. Buch (Braunschweig 1864) [1865], in: Wilhelm Scherer, Poetik [posthum hrsg. 1888], mit einer Einl. und Materialien zur Rezeptionsanalyse hrsg. v. Gunter Reiss, Tübingen: Niemeyer 1977, 210 – 213 (Anhang), S. 211.  Lionel Gossman, Death in Trieste, in: Journal of European Studies 22 (1992), 207– 240, S. 216.

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noch sehen werden, zur zweiten Gruppe (meaning) gehört, ist Scherers Engagement in der ersten Gruppe (causation) unverkennbar: Die historische Grundkategorie, hat man mit Recht gesagt, ist die Causalität. Keine noch so treue und gewissenhafte Erforschung der Thatsachen, keine noch so lichtvolle und sinnige Sonderung und Gruppirung des Stoffes kann den Historiker der Pflicht entheben, die Ursachen dessen zu ergründen, was geschieht.“¹⁸

Im Rahmen mechanischer Kausalität huldigte Scherer einer monokausalen Erklärung historischer Begebenheiten. Er hat alle Ambivalenz, Mehrdeutigkeit und Unbestimmbarkeit, grundlegende Kategorien der dichterischen Phantasie also, die die Freiheit alternativen Denkens ermöglichen, als unwissenschaftlich abgelehnt, weil „der Determinismus, das Dogma vom unfreien Willen, diese Centrallehre des Protestantismus, der Eckstein aller wahren Erfassung der Geschichte“ sei.¹⁹ Im Rahmen dieser deterministischen Geschichtsauffassung, die, als wissenschaftliche Variante des Schicksalsglaubens, naturgesetzlich garantierte Prognosen erlauben soll, lautete das Credo einer nach den Vorgaben des naturwissenschaftlichen Positivismus betriebenen Literatur- und Kulturwissenschaft: Die neue Generation baut keine Systeme. Wir fliegen nicht gleich zu den letzten Dingen empor. Die „Weltanschauungen“ sind um ihren Credit gekommen. […] Wir fragen, wo sind die Thatsachen, für welche ein neues Verständnis eröffnet wird? Mit schönen Ansichten, mit geistreichen Worten, mit allgemeinen Redensarten ist uns nicht geholfen. Wir verlangen Einzeluntersuchungen, in denen die sicher erkannte Erscheinung auf die wirkenden Kräfte zurückgeführt wird, die sie ins Dasein riefen. Diesen Maßstab anzulegen haben wir von der Naturwissenschaft gelernt. […] Die Naturwissenschaft zieht als Triumphator auf dem Siegeswagen einher, an den wir Alle gefesselt sind.²⁰

Mit seiner „Forderung einer allgemeinen Geschichtswissenschaft“ wollte Scherer „der erzählenden Geschichtschreibung“ nur dann nicht die Wissenschaftlichkeit absprechen, wenn sie sich auf strenge Ursachenforschung konzentriert.²¹ In seiner Geschichte der Deutschen Litteratur (1883) hat er noch einmal klargemacht, daß sich sein analytisches Kausalitätsprinzip gegen die vernunftgeleitete Kon-

 Scherer, [Rez. zu] Hettners Litteraturgeschichte, S. 210.  Scherer, Widmung an Karl Müllenhoff, S. 19.  Wilhelm Scherer, Die neue Generation [zuerst in: Vorträge und Aufsätze, Berlin 1874], in: Methoden der deutschen Literaturwissenschaft, hrsg. v. Viktor Žmegač, Frankfurt am Main: Athenäum 1971, 20 – 24, S. 23.  Wilhelm Scherer, [Rez. zu] Ernst Petsches Geschichte und Geschichtschreibung unserer Zeit (Leipzig 1865) [1866], in: Scherer, Poetik [posthum hrsg. 1888], mit einer Einl. und Materialien zur Rezeptionsanalyse hrsg. v. Gunter Reiss, Tübingen: Niemeyer 1977, 213 – 221 (Anhang), S. 214 f.

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struktion historischer Zusammenhänge richtet, die in der Geschichte der historiographischen Ästhetik eine zentrale Rolle gespielt hat: „Die Geschichte trat an die Stelle der construirenden Vernunft. Historisches Recht und Vernunftrecht wurden als Gegensätze empfunden, und die wahre Förderung der Wissenschaft ging überall von der historischen Richtung aus.“²² Das war nicht nur gegen Hegel, sondern gegen die – von Scherer überwunden geglaubte – Aufklärungstradition der Geschichtsschreibung gerichtet. Wo Scherer mit der Detailanalyse nur historische Kausalität erklären wollte, ging es Fontane darum, die Bedeutung historischer Zusammenhänge zu verstehen und als Schriftsteller zu ihrem besseren Verständnis beizutragen. Der Unterschied der beiden Zeitgenossen entspricht der Unterscheidung, die Wilhelm Dilthey zwischen den ‚erklärenden‘ Naturwissenschaften und den ‚verstehenden‘ Geisteswissenschaften getroffen hat. Wie wir hier im Novalis-Kapitel gesehen haben, hat Dilthey die historischen Geisteswissenschaften methodologisch dadurch begründet, daß er – im Anschluß an Novalis – im „metaphysischen Zusammenhang des Lebens“²³ den späteren Begriff des Strukturzusammenhangs vorgebildet fand, der die historiographische Begriffsbildung seit der Aufklärung bündelt: „Reihe von Begebenheiten“ und „Zusammenhang der Begebenheiten“ (Chladenius), „Kette der Bildung“ (Herder), „historische Reihe“ (Wegelin), „Kette der Begebenheiten“ (Schiller) und „Zusammenstellung“ (Schlözer). Geht es den Naturwissenschaften, laut Dilthey, um die Erklärung detailgetreu rekonstruierter Einzeltatsachen, so den Geisteswissenschaften um das Verstehen des ästhetisch konstruierten Zusammenhangs. Indem er wie viele Vorgänger dieses historiographischen Diskurses noch einmal, allerdings nun im umfassenden Rahmen der methodologischen Begründung der Geisteswissenschaften, die Zusammenstellung des Zusammengehörigen betont, hat Dilthey die historischen Wissenschaften von Scherers naturwissenschaftlichem „Siegeswagen“ abgekoppelt. Dilthey hat sich dabei, anders als frühere Philosophen und Historiker, von den Dichtern leiten lassen und, zum Beispiel in seinem Goethe-Aufsatz (1877), behauptet, erst „der Kunstgriff der größten Dichter, das Geschehnis so hinzu-

 Wilhelm Scherer, Geschichte der Deutschen Litteratur, Berlin: Weidmann 1883, S. 629.  Wilhelm Dilthey, Novalis, in: Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung [1905], Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 141965, 187– 241, S. 235. Vgl. Hinrich C. Seeba, Zum Geist- und Strukturbegriff in der Literaturwissenschaft der zwanziger Jahre. Ein Beitrag zur Dilthey-Rezeption, in: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925, hrsg. v. Christoph König und Eberhard Lämmert, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 1993, 240 – 254. Zur neueren Dilthey-Rezeption vgl. Anthropologie und Geschichte – Studien zu Wilhelm Dilthey aus Anlass seines 100. Todestages, hrsg. v. Giuseppe d’Anna, Helmut Johach und Eric S. Nelson, Würzburg: Königshausen & Neumann 2013.

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stellen, daß der Zusammenhang des Lebens selbst und sein Sinn aus ihm herausleuchtet“, lasse den „Wert und Zusammenhang der menschlichen Dinge“ erkennen.²⁴ Die Vermutung, daß Dichter ein besseres Verständnis für den historischen Zusammenhang haben könnten als Historiker, war zur Zeit des positivistischen Historismus eine ungeheure Provokation. Nachdem Dilthey mit seiner Abhandlung Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und ihrer Geschichte (1883) für die weitere Methodendiskussion das Konzept der Geisteswissenschaften mit dem zentralen Begriff des Zusammenhangs entwickelt hat,²⁵ ist er in seiner Abhandlung über Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik (1887) zur literarischen Begründung der geisteswissenschaftlichen Methode zurückgekehrt, um noch einmal vorzuführen, wie es sich auch bei der Darstellung historischer Zusammenhänge um eine zweite Wirklichkeit handelt, die vielleicht mehr Wahrheit enthält als ein historischer Bericht: die Poesie ist nicht die Nachahmung einer Wirklichkeit, welche ebenso schon vor ihr bestände; sie ist nicht eine Einkleidung von Wahrheiten, von einem geistigen Gehalt, der gleichsam vor ihr da wäre; das ästhetische Vermögen ist eine schöpferische Kraft zur Erzeugung eines die Wirklichkeit überschreitenden und in keinem abstrakten Denken gegebenen Gehaltes, ja einer Art und Weise, die Welt zu betrachten. So wurde der Poesie ein selbständiges Vermögen, Leben und Welt zu schauen, zuerkannt; sie wurde zu einem Organ des Weltverständnisses erhoben und trat neben Wissenschaft und Religion.²⁶

Dem aristotelischen Prinzip folgend, daß das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile,²⁷ hat Dilthey in seiner Abhandlung über den Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910) noch einmal klargestellt, daß der „Lebens-

 Wilhelm Dilthey, Goethe und die dichterische Phantasie, in: Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 141965, 124– 186, S. 138 f.  Mit Diltheys Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und ihrer Geschichte (Leipzig: Duncker & Humblot 1883, auch in Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 1, Leipzig 1914) ist der Begriff der Geisteswissenschaften laut Erich Rothacker (Logik und Systematik der Geisteswissenschaften. Sonderausgabe aus dem Handbuch der Philosophie, München: Oldenbourg 1927, S. 9) „klassisch“ geworden.  Wilhelm Dilthey, Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik [1887], in: Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 6: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens, Stuttgart: Teubner / Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 41962, 103 – 241, S. 116.  Das aristotelische Prinzip der Ganzheit (in Metaphysik 1041 b) klingt auch in der mit Diltheys Bemühungen gleichzeitigen Gestalttheorie an. Vgl. Christian von Ehrenfels, Über „Gestaltqualitäten“ [1890], in: Ehrenfels, Philosophische Schriften, Bd. 3: Psychologie, Ethik, Erkenntnistheorie, hrsg. v. Reinhard Fabian, mit einer Einleitung von Peter Simons, München/Wien: PhilosophiaVerlag 1988, 128 – 155.

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zusammenhang“, als biographischer Spiegel des geschichtlichen Zusammenhangs, „nicht eine Summe oder ein Inbegriff aufeinanderfolgender Momente, sondern eine durch Beziehungen, die alle Teile verbinden, konstituierte Einheit“ ist.²⁸ In Diltheys lebensphilosophischer Begriffsbestimmung „ist Zusammenhang eine Kategorie, die aus dem Leben entspringt. […] Nur weil das Leben selbst ein Strukturzusammenhang ist, in welchem die Erlebnisse in erlebbaren Beziehungen stehen, ist uns Zusammenhang des Lebens gegeben.“²⁹ Entscheidend ist hier die Vorstellung des Zusammenhangs als einer gegliederten Einheit, die, wenn man Diltheys ästhetische Begründung der Geisteswissenschaften hinzudenkt, nicht ontologisch vorgegeben, sondern das Ergebnis einer poetischen Gliederung ist. Wie umstritten Diltheys lebensphilosophisch begründete Grundlegung der Geisteswissenschaften sogar innerhalb der Berliner Universität war, läßt sich daran ablesen, daß der Zellularpathologe Rudolf Virchow, der als Mitglied des Reichstags auch großen politischen Einfluß hatte, als Rektor der Universität 1893 in einer Rede die naturwissenschaftliche Ausrichtung der Universität bis auf Alexander von Humboldts Rückkehr nach Berlin im Jahr 1827 zurückdatiert und den akademischen „Mysticismus“ der Gegenwart beklagt hat, weil dieser noch an dem spiritistischen Begriff der „Lebenskraft“ festhalte, obwohl doch längst erwiesen sei, daß Leben nichts als „Zellenthätigkeit“ sei:³⁰ Die Naturwissenschaften haben ihren Siegeszug nur dadurch vollführen können, dass sie in treuem Festhalten an dem thatsächlichen Wissen immer weiter in das Dunkel noch uner-

 Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften [1910 als Abhandlung der Preußischen Akademie der Wissenschaften gedruckt], in: Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 7: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Stuttgart: Teubner / Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 21958, 79 – 188, S. 140.  Wilhelm Dilthey, Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft [o. J., Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften], in: Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 7: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Stuttgart: Teubner / Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 21958, 189 – 291, S. 195.  Rudolf Virchow, Die Gründung der Berliner Universität und der Uebergang aus dem philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeitalter [Rede am 3. August 1893 in der Aula der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin], Berlin: Julius Becker 1893, S. 26. Zum Verhältnis Virchow – Fontane vgl. den Aufsatz des Medizinhistorikers und Virchow-Herausgebers Christian Andree, Welches Verhältnis hatte Rudolf Virchow zu zeitgenössischen Dichtern, Künstlern, Verlegern und Editoren? Versuch einer Annäherung über die Korrespondenzpartner. Teil I, in: Licht der Natur. Medizin in Fachliteratur und Dichtung. Festschrift für Gundolf Keil zum 60. Geburtstag, hrsg. v. Josef Domes u. a., Göppingen: Kümmerle 1994 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 585), 1– 20; Teil II in: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 12 (1994), 259 – 286.

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forschter Gebiete eingedrungen sind und dass sie stets versucht haben, in neuen Erscheinungen zunächst das alte Gesetz und damit die Verknüpfung mit bekannten Erscheinungen aufzufinden.³¹

Weil Virchow wie Scherer den „Siegeszug“ der Naturwissenschaften sicherstellen wollte, hoffte er darauf, daß sich „die Wissenschaft“ sogar mit Hilfe der Regierung der vom Spiritismus ausgehenden Gefahr erwehren könne. Zwischen dem naturwissenschaftlich geprägten Positivismus, wie ihn Wilhelm Scherer vertreten und Rudolf Virchow bekräftigt hat, und dem von Wilhelm Dilthey entworfenen Gegenmodell geistesgeschichtlicher Zusammenhänge gehört Fontane fraglos auf die Seite des kreativen Umgangs mit der historischen Wirklichkeit.³² Das herauszustreichen ist deshalb so wichtig, weil der Realismus, als dessen Hauptvertreter Fontane gesehen und neuerdings, seit Berlin wieder die Hauptstadt der deutschen Einheit ist, wiederentdeckt wurde, nur eine literarische Variante des Positivismus zu sein scheint; denn beiden Bewegungen geht es um die rückhaltlose, objektive Wiedergabe der Realität. Hier allerdings unterscheidet sich Fontane ganz entschieden vom herkömmlichen Verständnis des Realismus. Zwar hatte er schon sehr früh, in einem Aufsatz aus dem Jahr 1853, programmatisch verkündet: „Was unsere Zeit nach allen Seiten hin charakterisiert, das ist ihr Realismus.“³³ Aber er wurde nicht müde klarzustellen, daß er „nicht darunter das nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens, am wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten“ versteht³⁴ und „daß die vollendete Wiedergabe der Natur auch allemal einen höchsten Grad poetischer Darstellung ausdrückt“.³⁵ Vor allem hat er, in der Abgrenzung gegen den aufkommenden Naturalismus, betont, daß Realismus nicht die plane Abbildung der – womöglich nur häßlichen – Wirklichkeit bedeutet, daß „Reportertum“ in der Literatur,³⁶ so befreiend der Schlag  Virchow, Die Gründung der Berliner Universität, S. 28.  Das hat Fontane nicht davon abgehalten, in Frau Jenny Treibel (6. Kapitel) den Altphilologen Willibald Schmidt sich auf Virchow als Autorität in Sachen Heinrich Schliemann berufen zu lassen.  Fontane, Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 [1853], in: Fontane, Werke, Schriften und Briefe, hrsg. v. Walter Keitel und Helmuth Nürnberger, Abt. III, Bd. 1: Aufsätze und Aufzeichnungen, hrsg. v. Jürgen Kolbe, München: Hanser 1969, 236 – 260, S. 236.  Ebd., S. 240.  Fontane, Brief an Emil Dominik, 13. Februar 1882, in: Fontane, Werke, Schriften und Briefe, hrsg. v. Walter Keitel und Helmuth Nürnberger, Abt. IV, Bd. 3, S. 177, zuerst in: Briefe Theodor Fontanes. Zweite Sammlung, hrsg. v. Otto Pniower und Paul Schlenther, Bd. 2, Berlin: F. Fontane & Co. 1900, S. 67.  Fontane, Alexander Kielland [um 1882], in: Fontane, Werke, Schriften und Briefe, hrsg. v. Walter Keitel und Helmuth Nürnberger, Abt. III, Bd. 1: Aufsätze und Aufzeichnungen, hrsg. v. Jürgen Kolbe, München: Hanser 1969, 527– 532, S. 528: „Von dieser unwahren Weise, die sich nur

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gegen pseudo-idealistische Phrasendrescherei war, nicht auskommt ohne künstlerische Gestaltung, die er wiederholt mit dem mißverständlichen Begriff der Verklärung belegt hat: „Ohne diese Verklärung gibt es aber keine eigentliche Kunst, auch dann nicht, wenn der Bildner in seinem bildnerischen Geschick ein wirklicher Künstler ist.“³⁷ Die Äquivalenz von individuellem Leben und kollektiver Geschichte ist die von Dilthey abzulesende Voraussetzung dafür, daß Dichter die allgemeine Geschichte im Einzelfall konkretisieren und daß sie ihre Leser dazu bringen, vom exemplarischen Einzelfall ausgehend induktiv zum allgemeinen historischen Verständnis vorzudringen. Und weil wir „zuerst geschichtliche Wesen“ sind, so Dilthey, „ehe wir Betrachter der Geschichte sind, und nur weil wir jene sind, werden wir zu diesen“,³⁸ sind ‚wir‘, aufgrund unserer eigenen Lebenserfahrung, Mitgestalter der Geschichte. Diese von Dilthey implizierte und von Fontane praktizierte Freiheit zur Mitgestaltung war dem Determinismus Scherers diametral entgegengesetzt. Was die frühen, um die Wissenschaftlichkeit ihres neuen Fachs besorgten Historiker am meisten gefürchtet und was die Anhänger des Historismus aus dem akademischen Diskurs verbannt hatten, ist am Ende des 19. Jahrhunderts – mit theoretischer Hilfe Diltheys und mit poetischen Beispielen Fontanes – in die öffentliche Diskussion zurückgekehrt: der durchlässige Übergang zwischen Geschichte und Dichtung. Während sich Geisteswissenschaftler wieder an der Dichtung zu orientieren begannen, mit teilweise verheerenden Folgen in der späteren Schule geistesgeschichtlicher ‚Wesensschau‘, schrieben Dichter immer mehr historische Romane, darunter einige berühmte Bestseller. Krieg und Frieden (1868) von Leo Tolstoi, Ein Kampf um Rom (1876) von Felix Dahn, Ben Hur (1880) von Lew Wallace und Quo Vadis (1890) von Henryk Sienkiewicz sind einige Titel der in der zweiten Jahrhunderthälfte besonders populären Gattung. Nach dem Vorgang von Gustav Schwabs Wanderungen durch Schwaben (1837/ 38), Annette von Droste-Hülshoffs Bildern aus Westfalen (1845) und Gustav Freytags Bildern aus der deutschen Vergangenheit (1859) hat auch Fontane in den

die wenigen erlauben durften, die so geartet waren, daß sie eine erträumte Welt an die Stelle der wirklichen setzen konnten, hat uns das Reportertum in der Literatur auf einen Schlag befreit, aber all dies bedeutet nur den ersten Schritt zum Besseren. Will dieser erste Schritt auch schon das Ziel sein, soll die Berichterstattung die Krönung des Gebäudes statt das Fundament sein oder wenn es hochkommt seine Rustika, so hört alle Kunst auf, und der Polizeibericht wird der Weisheit letzter Schluß.“  Fontane, Brief an seine Frau Emilie, 24. Juni 1881, in: Fontane, Werke, Schriften und Briefe, hrsg. v. Walter Keitel und Helmuth Nürnberger, Abt. IV, Bd. 3, S. 177.  Dilthey, Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft, S. 278.

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Wanderungen durch die Mark Brandenburg (1861– 1882) seinen eigenen Beitrag zur preußischen Geschichtsschreibung geleistet, um vom lokalgeographischen ‚Reportertum‘, von dem er sich bald so entschieden absetzen sollte, zum historischen Roman vorzudringen. Wie den Bildern aus der deutschen Vergangenheit Gustav Freytags historischer Roman Die Ahnen (1873 – 1881), folgte den ab 1861 erscheinenden Wanderungen durch die Mark Brandenburg Fontanes historischer Roman Vor dem Sturm (1878). Den handelsüblichen Gebrauchscharakter eines Handbuchs für Touristen konnte Fontane nur ablegen, wenn es ihm gelang, den Beruf des Journalisten und Reporters mit dem des Dichters zu verbinden und die Fakten der brandenburgischen Lokalgeschichte poetisch zu transzendieren. Hans-Heinrich Reuter, bis heute einer der besten Fontane-Kenner, hat deshalb konstatieren können: „er hat der Reportage als erster literarisches Heimatrecht verschafft.“³⁹ Die Bewältigung des ungeheuren Stoffes stellte Fontane, wie er am 23. Juni 1862 festhielt, vor ungeahnte Darstellungsprobleme: „wie komponierst du dies, wie gruppierst du das“?⁴⁰ Komposition und Gruppierung des Materials bilden, bei aller Faktentreue eines Reporters, nur den Anfang der kreativen Verantwortung von Geschichtsschreibern, die mehr als Chronisten sein wollen. Darüber hinaus mußte sich Fontane, wie er schon am 31. Oktober 1861 dem Verleger der Wanderungen mitteilte, ausgesprochen poetischer Darstellungsmittel bedienen: „Detailschilderung behufs besserer Erkenntnis und größerer Liebgewinnung historischer Personen, Belebung des Lokalen und schließlich Charakterisierung märkischer Landschaft und Natur – das sind die Dinge, denen ich vorzugsweise nachgestrebt habe.“⁴¹ Damit meint Fontane die Akzentsetzung perspektivischen Erzählens, die sich an der beabsichtigten Wirkung auf die Leser orientiert, weil es, dem alten horazischen Prinzip des delectare et prodesse entsprechend, in der Dichtung sowohl um die Unterhaltung als auch um die Belehrung der Leser geht. So konnte er in den Wanderungen schon die Kunstmittel erproben, die seine späteren Romane auszeichnen sollten: die symbolische Aufwertung von scheinbar nebensächlichen Details und, noch sehr vorsichtig, die ironische Infragestellung historischer Anmaßung, wie er umgekehrt in seine späteren Romane Techniken unterhaltsamer Reportage übernehmen konnte, die seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg zum literarischen Erfolg verholfen haben. Auf Fontanes Übergang vom Reporter zum Dichter paßt ein berühmter Spruch Diltheys aus dem Jahr 1903: „Was der Mensch sei, sagt ihm nur seine Geschich-

 Reuter, Fontane, Bd. 1, S. 384.  Zitiert nach Reuter, Fontane, Bd. 1, S. 361 f.  Zitiert nach Reuter, Fontane, Bd. 1, S. 370.

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te.“⁴² Der normative Tonfall dieses Konjunktivs (im Sinne von: was der Mensch sein soll) ergibt sich aus der existentiell-anthropologischen Bestimmung des Geschichtsbegriffs. Der Mensch muß sich, um Mensch im emphatischen Sinn zu sein, zuerst als zoon historikon verstehen, bevor er ein zoon politikon werden kann. Die historische Selbstbestimmung des Menschen geht seiner gesellschaftlichen Integration voraus. Deshalb mußte sich Fontane zunächst als Geschichtsschreiber bewähren, bevor er der literarische Chronist und Kritiker der Berliner Gesellschaft werden konnte. Als berühmtester Autor des Berliner Gesellschaftsromans war Fontane ein genauer und sehr kritischer Beobachter des gesellschaftlichen Wandels, der sich vor allem nach der Reichsgründung 1871, in der sogenannten Gründerzeit, vollzog. Während es in den Romanen vor allem um die zeitgenössische Berliner Gesellschaft geht, hat sich Fontane in anderen Texten, allen voran in den Wanderungen durch die Mark Brandenburg, mit der brandenburgischen Geschichte auseinandergesetzt. Da hätte es nahegelegen, nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/1871 auch die Napoleonischen Kriege zum Gegenstand historischer Dichtung zu machen, um daraus für die Gegenwart die patriotische Energie zu ziehen, wie sie den offiziellen Historiographen des preußischen Staates Leopold von Ranke und Heinrich von Treitschke besonders am Herzen lag. Aber diese Erwartung hat Fontane nicht erfüllt. Er hat der wilhelminisch-offiziösen Musealisierung der Nationalgeschichte eine lebendige Landesgeschichte entgegengesetzt und, wie er im Schlußwort des 4. Bandes der Wanderungen (1882) bekennt, „freiwillig darauf verzichtet, unter die Würdenträger und Großkordons historischer Wissenschaft eingereiht zu werden“.⁴³ Die Verweigerung ist schon im programmatischen Titel des Romans angelegt. Es geht in Fontanes erstem Roman nicht um das historische Hauptereignis, auf das alles zuläuft, den Befreiungskrieg gegen Napoleon im Jahr 1813, sondern um die gedankliche, politische und schließlich militärische Vorbereitung des ‚Volkssturms‘ am Beispiel des Landadels im Oderbruch: Vor dem Sturm spielt vom Weihnachtsabend 1812 bis in die Märztage 1813. Der Roman endet also lange vor der nationalistisch sanktionierten Völkerschlacht von Leipzig (16.–19. Oktober 1813), in der die Franzosen unter Napoleon und seine Verbündeten schließlich vernichtend geschlagen wurden. Nicht das große Ereignis der Nationalgeschichte steht im Vordergrund, sondern wie sich der kommende historische Umbruch in den davon betroffenen Menschen  Wilhelm Dilthey, Zur Weltanschauungslehre. Traum [Entwurf einer Rede zu seinem 70. Geburtstag 1903], in: Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 8: Weltanschauungslehre, Stuttgart: Teubner / Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1962, 220 – 226, S. 226.  Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. 4: Spreeland [1882], Berlin: Europäischer Literaturverlag 2018, S. 319.

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abzeichnet, wie die Erwartung sie prägt und wie sie ihn herbeiführen helfen. Weil sich die allgemeine Geschichte nur im individuellen Leben der betroffenen Menschen spiegelt, ist die wichtigste Aufgabe ihrer poetischen Darstellung die Individualisierung der geschichtsträchtigen und handlungstragenden Personen. Auf den Titel wird nur einmal angespielt, als sich gegen Ende des Romans die gerade aus einem Festungsturm der Franzosen in Küstrin befreite Hauptfigur Lewin von Vitzewitz und der Rittmeister von Hirschfeld verabschieden, um mit neuntausend Freiwilligen von Breslau aus, wohin sich der königliche Hof aus Potsdam zurückgezogen hat, an dem Freiheitskampf teilzunehmen, den der lange zögernde preußische König Friedrich Wilhelm III. mit seinem sehnlichst erwarteten Aufruf An mein Volk vom 17. März 1813 ausgerufen hat. Da resümiert Lewin in Hinblick auf die „zurückliegenden gemeinschaftlich durchlebten Tage“ gleichsam auch den ganzen Roman: „Es waren stürmische Tage.“ Und Hirschfeldt antwortet: „Und doch Tage vor dem Sturm!“ (IV 27, 707)⁴⁴ Der in Fontanes Romanen seltene Kursivdruck unterstreicht die Bedeutung, die er dieser Richtigstellung falscher Erwartungen an den Roman beigemessen hat. Es geht ihm nicht um das historische Hauptereignis, das erst noch bevorsteht, sondern um die Entwicklung seiner Vorgeschichte. Dieser auf die innere Begründung zielende Ansatz, der dem Verfasser eine psychologische Charakterisierung der handlungstragenden Figuren erlaubt, hat den Vorteil einer zukunftsorientierten Spannung, ob und wie die „Gedanken eines Volksaufstandes“ (II 7, 175) (zuerst) gegen oder (schließlich) mit dem König ausgeführt werden. Da die intendierte Handlung erst in Zukunft, jenseits dieses Romans, stattfinden wird, ist das Hauptaugenmerk auf die Motivierung der künftig Handelnden und besonders auf die Diskussion ihres Rechts auf Widerstand gerichtet: Zeigen wir dem König, daß wir für ihn einstehen, auch wenn wir ihm widersprechen. Auch die Schillschen setzten sich in Widerstreit mit seinem Willen und starben doch unter dem Rufe: ‚Es lebe der König‘. Es gibt eine Treue, die während sie nicht gehorcht, erst ganz sie selber ist. (II 13, 220)

Das ist für die Geschichte des deutschen Widerstands eine wichtige Grundformel, die die bedingungslose ‚borussische‘ Gehorsamspflicht außer Kraft setzt. Die Geschichte des Offiziers Ferdinand von Schill (1776 – 1809), der 1809 mit einer eigenmächtigen Aktion seines Freikorps „auf eigne Faust“ (so in Fontanes

 Fontane, Vor dem Sturm, in: Fontane, Werke, Schriften und Briefe, hrsg. v. Walter Keitel und Helmuth Nürnberger, Abt. I, Bd. 3, München: Hanser 1971, 5 – 712. Im folgenden wird der in vier Büchern erschienene Roman nach dieser Ausgabe mit Buch-, Kapitel- und Seitenangabe zitiert.

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Gedicht Schill von 1847)⁴⁵ Preußen in einen Krieg gegen Napoleon zu ziehen versucht hat, stand im Zentrum eines 1854 geplanten Romans und wurde die „Keimzelle“ zum vorliegenden Roman.⁴⁶ Nicht unbedingter Gehorsam, sondern eigenverantwortliche, notfalls auch zum Widerstand bereite „Treue“ ist die Gesinnung, die Fontane als preußische Tugend auch für seine zunehmend militaristische Gegenwart in Erinnerung bringen wollte; denn Profil und Gesinnung, sagt der Gutsherr Berndt von Vitzewitz, der den Aufstand ankurbelt und koordiniert, „beides ist das Beste, was der Adel hat.“ (IV 27, 703) Daß sich die Gesinnung des Adels erst im Widerstand gegen das Falsche bewährt, war eine deutliche Botschaft Fontanes an seine eigene Zeit. Kein Wunder, daß der liberale Theodor Mommsen dieses Werk besonders geschätzt hat. Fontanes historischer Roman gilt einer Volksbewegung, der der König – wie 1848 auch sein Nachfolger Friedrich Wilhelm IV. – nur nachträglich seinen Stempel aufdrücken konnte, und konzentriert sich auf exemplarische Figuren, die in die Geschichte erst eintreten werden. Dabei wird, wie wir noch genauer sehen werden, der Prozeß des Erzählens selbst thematisch, weil erfundene Figuren nur dadurch, daß ihnen eine Rolle in der Geschichte zugeschrieben wird, quasi-lebendige Menschen mit einer eigenen Lebensgeschichte werden. Wie wir in früheren Kapiteln immer wieder gesehen haben, erlaubt im Deutschen der homonyme Begriff der ‚Geschichte‘, der sowohl den Ereigniszusammenhang (Geschichte als history) als auch den Erzählzusammenhang (Geschichte als story) bezeichnet, das Spiel mit den theoretischen Implikationen dieser unterschiedlichen Bedeutung desselben Wortes. Die Verwandlung erfahrener Geschichte in erfundene Geschichte impliziert die Ästhetisierung historischen Denkens, die auch in diesem Kapitel das übergreifende Thema ist. Oft ist die Ästhetisierung einer unheimlichen Erfahrung, der man sich zunächst so willenlos ausgesetzt fühlt, daß zur Erklärung ‚das Schicksal‘ beschworen wird, ein Mittel der Bewältigung. Die fortschreitende Beherrschung der Vergangenheit durch Bewältigung ihres manchmal gespenstischen Charakters ist ein Grundthema dieses Ästhetisierungsprozesses, wie wir schon bei Goethe gesehen haben: Ein Gefühl aber, das bei mir gewaltig überhand nahm, und sich nicht wundersam genug äußern konnte, war die Empfindung der Vergangenheit und Gegenwart in Eins: eine Anschauung, die etwas Gespenstermäßiges in die Gegenwart brachte. Sie ist in vielen meiner größern und kleinern Arbeiten ausgedrückt, und wirkt im Gedicht immer wohltätig, ob sie

 Fontane, Schill, in: Fontane, Werke, Schriften und Briefe, hrsg. v. Walter Keitel und Helmuth Nürnberger, Abt. I, Bd. 6, München: Hanser 21978, 226 – 228, 227.  Vgl. Kommentar auf S. 777 der hier zugrundegelegten Ausgabe.

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gleich im Augenblick, wo sie sich unmittelbar am Leben und im Leben selbst ausdrückte, jedermann seltsam, unerklärlich, vielleicht unerfreulich scheinen mußte.⁴⁷

Als Goethe meinte, Geschichte zu schreiben sei „eine Art, sich das Vergangene vom Halse zu schaffen“,⁴⁸ ging es ihm wie neueren Geschichtsschreibern darum, den Ereignissen und Figuren der Vergangenheit durch narrative Konkretisierung ‚das Gespenstermäßige‘ zu nehmen. Für die Erfahrung des Unheimlichen, ja Spukhaften des Vergangenen, das die Betroffenen in der Gegenwart einholt, gibt es poetische Bilder wie die mythische Figur des Inkubus und eine ganze literarische Gattung wie die Schicksalstragödie. Wo es keine Aufklärung und damit auch keine Hoffnung auf, in Kants Definition, den „Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ gab, bleibt die irrationale Angst vor der Heimsuchung durch Vergangenes, oft personalisiert in der Gestalt von Revenants, von ‚untoten‘ Wiederkehrern aus dem Reich der Toten, ein wichtiges Motiv der unreflektierten Beschäftigung mit Vergangenem. Das Entsetzen auslösende Gefühl der Überwältigung durch eine unkontrollierte Macht in Gestalt von Dämonen und Buhlteufeln ist in mehreren Schreckensbildern des Schweizer Malers Johann Heinrich Füssli (Der Nachtmahr, 1790) und in Grillparzers Gedicht Inkubus (1821) bildliche Phantasie geworden: ein albtraumartiger Nachtmahr sitzt den Betroffenen auf der Brust oder im Nacken und treibt sie bis an die Grenze sündhafter Selbstzerfleischung. Im Drama der Schauerromantik ist es oft eine weiße Frau, die bedrohlich aus der Vergangenheit in die Gegenwart ragt und eine – zum Beispiel noch von Robert Musil geschätzte – alternative Form historischer Erklärung anbietet: „Die reale Erklärung des realen Geschehens interessiert mich nicht. Mein Gedächtnis ist schlecht. Die Tatsachen sind überdies immer vertauschbar. Mich interessiert das geistig Typische, ich möchte geradezu sagen, das Gespenstische des Geschehens.“⁴⁹ In Fontanes Roman Vor dem Sturm gibt es unter verschiedenen Aspekten auffallende, nicht intendierte Übereinstimmungen mit Grillparzer, mit dem sich Fontane sonst, außer in einigen Theaterrezensionen, offenbar kaum auseinan-

 Johann Wolfgang von Goethe, Dichtung und Wahrheit, in: Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Erich Trunz, Bd. 10, Hamburg: Wegner 31963, S. 32 (14. Buch).  Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen, in: Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 12, Hamburg: Wegner 51963, 365 – 547, S. 391 (Nr. 193).  Robert Musil, Was arbeiten Sie? Gespräch mit Robert Musil [geführt von Oskar Maurus Fontana, 1926], in: Musil, Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden, hrsg. v. Adolf Frisé, Hamburg: Rowohlt 1955, S. 785.

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dergesetzt hat. Wie in Grillparzers erstem Drama Die Ahnfrau (1817),⁵⁰ das nicht zu den von Fontane rezensierten Dramen gehört, taucht in Fontanes erstem Roman ein der ‚Ahnfrau‘ ähnelndes Gespenst auf, eine weiße Frau, der im Spiegelbild zu begegnen wie für Grillparzers Berta auch für Fontanes Gräfin Amelie tödliche Folgen hat, als einmal der Spiegel des großen Trumeaus, dieses Lieblingsmöbels in Fontanes Romanen, unverhängt bleibt. Aber anders als Grillparzer, mit dem er die Psychologisierung des romantischen Gespensterglaubens teilt, verbindet Fontanes Erzähler die gespenstische Erfahrung der Selbstentfremdung mit dem Begriff der Geschichte: Diese weißen und schwarzen Frauen gelten bei Kennern als die allerechtesten Spuke, gerade weil ihnen das fehlt, was dem Laien die Hauptsache dünkt: eine Geschichte. Sie haben nichts als ihre Existenz; sie erscheinen bloß. (II 8, 185)

Für Fontane besteht die Spukhaftigkeit der Gespenster in ihrer Geschichtslosigkeit, wobei unklar bleibt, ob sie historisch keine Geschichte (history) haben oder ob von ihnen poetisch keine Geschichte (story) erzählt werden kann, die ihnen eine reale und nicht nur scheinhafte Existenz erlaubt. Nachdem Fontane selbst Jahrzehnte vorher die Geschichte einer der spukenden weißen Frauen in einer Ballade behandelt hat, Wangeline von Burgsdorf oder Die weiße Frau (1853), zielt die noch unvermittelte Betonung der Geschichtslosigkeit solcher Gespenster auf die Metaphorisierung des Spuks im sich nun entwickelnden Geschichtsbegriff: Über die frühere balladeske Schauerromantik hinaus bleiben Romanfiguren spukhaft, wenn sie keine lebendige Geschichte verkörpern. Es kommt also darauf an, durch realistische Individualisierung der Figuren ihre ahistorische Spukhaftigkeit zu bannen und durch die Konstruktion einer glaubhaften Lebensgeschichte ihren schemenhaften Entwurf zu konkretisieren. Die implizite Frage nach der Zuschreibung von Geschichte erinnert an Grillparzers armen Spielmann Jakob, der sein früheres Diktum „Ich habe keine Geschichte“⁵¹ korrigieren muß, als ihm im Prozeß des Erzählens aufgeht, daß er auch als unberühmter Mensch eine Rolle in der Geschichte (history) spielt, wenn er die Geschichte (story) seines Lebens erzählt. So läuft die allgemeine Aussage, die als Erzähler-Sentenz deutlich erkennbar ist, auf den von Fontane nicht an dieser Stelle ausgeführten, aber für die Charakterisierung seiner Romanfiguren

 Vgl. Hinrich C. Seeba, Das Schicksal der Grillen und Parzen. Zu Grillparzers „Ahnfrau“, in: Euphorion 65 (1971), 132– 161.  Franz Grillparzer, Der arme Spielmann, in: Grillparzer, Sämtliche Werke. Ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte, hrsg. v. Peter Frank und Karl Pörnbacher, Bd. 3, München: Hanser 1964, 146 – 186, S. 159.

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grundsätzlichen Gedanken hinaus, daß nur wer – wie Grillparzers armer Spielmann – sich eine eigene Geschichte zuschreiben kann, kein blasses Gespenst der Phantasie bleibt, sondern das individuelle Leben einer realen Person gewinnt, als lebte sie wirklich. Noch ein anderer, historiographisch wichtigerer Gedanke aus Grillparzers Erzählung taucht mit wörtlichen Übereinstimmungen auch bei Fontane auf. Während sich der arme Spielmann auch deshalb als gescheiterte Existenz sieht, weil er im Gegensatz zu seinen leichtlebigeren Brüdern, die „wie Gemsen von Spitze zu Spitze in den Lehrgegenständen herum[sprangen]“,⁵² alles „im Zusammenhang mit dem übrigen“⁵³ ganz ausschöpfen und, wenn ihm nur ein einziges Wort fehlt, wieder ganz von vorne ansetzen mußte, wird diese gründlichere Art diskursiver Wahrnehmung und Darstellung bei Fontane gerade umgekehrt zum Prinzip historischer Erzählung erhoben und positiv abgesetzt gegen eine punktuelle ‚Springer‘-Methode der unterhaltsamen Darstellung von einzelnen Höhepunkten. Renate von Vitzewitz vertritt das Prinzip historischen Geplauders, das nur Höhepunkte akzentuiert, und ihr Bruder Lewin, die eigentliche Hauptfigur des Romans, das Prinzip des historischen Vortrags, der den Zusammenhang des Geschehens betont: „Oh, ihr großstädtischen Herren, wie seid ihr doch so schlechte Erzähler, und je schlechter, je klüger ihr seid. Immer Vortrag, nie Geplauder!“ „Sei’s drum, Renate; ich will nicht widersprechen. Aber wenn wir schlechte Erzähler sind, so seid ihr Frauen noch schlechtere Hörer. Ihr habt keine Geduld, und die Wahrnehmung davon verwirrt uns, läßt uns den Faden verlieren und führt uns, links und rechts tappend, in die Breite. Ihr wollt Guckkastenbilder: Brand von Moskau, Rostopschin, Kreml, Übergang über die Beresina, alles in drei Minuten.⁵⁴ Die Erzählung, die euch und eurer Interesse tragen soll, soll bequem wie eine gepolsterte Staatsbarke, aber doch handlich wie eine Nußschale sein. Ich weiß wohl, wo die Wurzel des Übels steckt: der Zusammenhang ist euch gleichgiltig; ihr seid Springer.“ Renate lachte. „Ja, das sind wir; aber wenn wir zu viel springen, so springt ihr zu wenig. Eure Gründlichkeit ist beleidigend. Immer glaubt ihr, daß wir in der Weltgeschichte weit zurück seien, und wir wissen doch auch, daß der Kaiser in Paris angekommen ist.“ (I 6, 49)

Aus der impliziten Infragestellung solcher konventionellen Geschlechtsspezifik, nach der Frauen mit Romanen unterhalten werden und Männer mit Abhandlungen belehren wollen, ergibt sich gerade Fontanes synthetisches Credo des historischen Erzählens: Es kommt alles darauf an, den unterhaltsamen „Zusammenhang“ historischer Ereignisse aufzuzeigen, dabei nicht den „Faden“ zu ver Ebd.  Ebd., S. 160.  Der russische General Rostoptschin hatte Moskau in Brand setzen lassen, um Napoleon den gerade eroberten Stützpunkt zu entziehen.

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lieren, der das Ganze zusammenhält, und ohne Abschweifung „in die Breite“ eine historische „Erzählung“ zu schaffen, die so anschaulich ist, daß ihre „Gründlichkeit“ nicht langweilt. Die „Guckkastenbilder“ isolierter Geschichtsszenen müssen also, modern gesprochen, Teile eines ‚Films‘ werden, in dem der fließende Zusammenhang einer historischen Entwicklung mit ihren Gründen und Tendenzen verständlich wird. Diese Aufgabe der Integration von zwei Erzählstilen braucht einen selbstbewußten, auktorialen Erzähler, der seine Leser zielstrebig durch das oft auseinanderstrebende, sich womöglich in Details und Einzelbilder verlierende Geschehen führt, einen Erzähler, der, während er sich den Einzelheiten widmet, dennoch das Ganze nicht aus den Augen verliert. Aber bevor wir die Rolle des Erzählers und die Struktur der historischen Erzählung genauer betrachten, gilt es festzuhalten, daß die Verbindung der Teile und des Ganzen, des Besonderen und des Allgemeinen an eine bekannte Diskussion des Verhältnisses von Dichtung und Geschichtsschreibung anschließt, die uns hier besonders interessiert; denn die oft nur implizit problematisierte Verbindung von Ereignis- und Darstellungszusammenhang führt in den Kern von Fontanes Poetik des Romans. Der Roman soll, so erklärte Fontane 1875 grundsätzlich in seiner Rezension von Gustav Freytags Die Ahnen, „eine Geschichte erzählen, an die wir glauben“, er soll „eine Welt der Fiktion auf Augenblicke als eine Welt der Wirklichkeit erscheinen“ lassen.⁵⁵ Die Glaubwürdigkeit der erzählten Geschichte hängt also davon ab, ob es dem Erzähler gelingt, der Fiktion den Schein der Wirklichkeit zu geben. Dieser Wirklichkeitsanspruch wird – als Programm eines historisch ausgerichteten Realismus – durch die Verankerung des Geschehens in der Zeitgeschichte eingelöst, die bis zu zwei Generationen zurückreichen darf. Im Wettstreit mit Walter Scott, der seinem Roman Waverley (1814) den programmatischen Untertitel Sixty Years Ago gegeben und damit dem historischen Roman eine gegenwartsbezogene Zeitspanne vorgezeichnet hatte, verlangte auch Fontanes Konzept des Zeitromans eine nachvollziehbare historische Vorgeschichte: „Der Roman soll ein Bild der Zeit sein, der wir selber angehören, mindestens die Widerspiegelung eines Lebens, an dessen Grenze wir selbst noch standen oder von dem uns unsere Eltern noch erzählten.“⁵⁶ Die im Rückblick zu erschließende Vorgeschichte muß über die persönlichen Erzählungen des Geschehens so auf die Gegenwart der Leser bezogen werden, daß sie sich in dem nicht mehr selbst Erlebten noch wiederfinden. Das erfordert, im historiographisch-ästhetischen, nicht im histo Fontane, [Rez. zu] Gustav Freytags Die Ahnen [zuerst in Vossische Zeitung 14. und 21. Februar 1875], in: Fontane, Werke, Schriften und Briefe, hrsg. v. Walter Keitel und Helmuth Nürnberger, Abt. III, Bd. 1: Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen, München: Hanser 1969, 308 – 325, S. 316 f.  Ebd., S. 309.

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risch-realen Sinn, eine teleologische Ausrichtung der Erzählung; denn nicht die Geschichte (history) selbst ist zielgerichtet und vielleicht sogar, wie Wilhelm Scherer meinte, determiniert, sondern nur die von ihr erzählte Geschichte (story) läuft als narrative Perspektivierung des Geschehens auf einen sinngebenden Rückblick vom Standpunkt der Leser und ihrer jeweiligen Gegenwart hinaus. Solche sinnerschließende Funktion der literarischen Erkundung von Vergangenheit hat auch Fontane an die Frage nach der Priorität von Geschichte und Dichtung denken und eine Antwort in der Integration beider Darstellungsmodi finden lassen: „Wenn mit Recht gesagt worden ist, der große Historiker müsse immer auch Poet sein“, sagte Fontane in seiner unveröffentlichten Rezension zu Josef Victor von Scheffels Ekkehard (1855), „so ist es ebenso wahr, daß jeder echte Poet ein Verständnis für das Historische mitbringt. Wem sich das Leben erschließt, dem erschließen sich auch die Zeiten.“⁵⁷ Nicht nur muß der Historiker poetisch gestalten, sondern auch der Dichter, der dem Leben in wechselnden „Zeiten“ verpflichtet ist, historisch denken können. Ohne sie zu nennen, bezieht sich Fontane, der eine normative Poetik, dieses „Ausmessen mit irgendeiner Elle, die Elle hieße nun Tieck oder Lessing oder gar Aristoteles“, abgelehnt und für „Mumpitz“ erklärt hat,⁵⁸ dennoch auf große Autoritäten in der Poetik der Geschichtsschreibung. Es war nicht Tieck, sondern Novalis, der in Heinrich von Ofterdingen (1802) den Grafen von Hohenzollern recht kategorisch erklären läßt: Wenn ich das alles recht bedenke, so scheint es mir, als wenn ein Geschichtschreiber notwendig auch ein Dichter sein müßte, denn nur die Dichter mögen sich auf jene Kunst, Begebenheiten schicklich zu verknüpfen, verstehn.⁵⁹

Die Herstellung des historischen „Zusammenhangs“, auf den Fontanes Romanheld Lewin so großen Wert gelegt hatte, durch die ‚schickliche‘, d. h. poetisch angemessene Verknüpfung von Begebenheiten hat schon in der Romantik den Blick auf die mit der Poesie konkurrierende Kunst der Geschichtsschreibung gelenkt. Es war schon Lessing, der in der Hamburgischen Dramaturgie (1767) den Dichter über den Geschichtsschreiber gestellt hat:

 Fontane, [Rez. zu] Josef Victor von Scheffels Ekkehard, in: Fontane, Werke, Schriften und Briefe, hrsg. v. Walter Keitel und Helmuth Nürnberger, Abt. III, Bd. 1: Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen, München: Hanser 1969, 404– 407, S. 405.  Fontane, Brief an Paul Schlenther, 10. Februar 1886, zitiert nach Reuter, Fontane, S. 163.  Novalis, Heinrich von Ofterdingen, in: Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hrsg. v. Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Bd. 1: Das dichterische Werk, Stuttgart: Kohlhammer 21960, 181– 369, S. 259.

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Denn der dramatische Dichter ist kein Geschichtschreiber; er erzählt nicht, was man ehedem geglaubt, daß es geschehen, sondern er läßt es vor unsern Augen nochmals geschehen; und läßt es nochmals geschehen, nicht der bloßen historischen Vernunft wegen, sondern in einer ganz andern und höhern Absicht; die historische Wahrheit ist nicht sein Zweck, sondern nur das Mittel zu seinem Zwecke; er will uns täuschen, und durch die Täuschung rühren.⁶⁰

Diese Begründung der poetischen Wahrheit, die höher zu veranschlagen ist als die historische Wahrheit, weil sie die Leser „durch die Täuschung rühren“, d. h. durch den fiktionalen Schein von Wirklichkeit, als geschähe sie „vor unseren Augen nochmals“, ergreifen kann, geht auf die mit Aristoteles verbundene klassische Definition zurück, daß der Dichter bedeutender als der Geschichtsschreiber sei: Darum ist die Dichtung auch philosophischer und bedeutender als die Geschichtsschreibung. Denn die Dichtung redet vom Allgemeinen, die Geschichtsschreibung vom Besonderen.⁶¹

Um die Allgemeingültigkeit der menschlichen Typen geht es Fontane, wenn er die Geschichte aus deren Perspektive individualisiert und die speziellen Details der Geschichte transzendiert, um die intendierte Wirklichkeit erfahrbar und die Grundtendenzen einer vergangenen Zeit auch für die Gegenwart verständlich und relevant zu machen. Schon in seinem ersten Roman versucht Fontane, grundsätzliche, auch methodologische Fragen so zu inszenieren, daß das Gemeinte als begriffliche Sentenz erst aus der lebendigen Anschauung eines Bildes, einer Situation oder eines Gesprächs herausgelesen werden kann. Als wollte er Aristoteles’ Unterscheidung bestätigen, hat Fontane das bessere Verständnis der Bedeutung von historischen Umbrüchen nicht einem führenden Historiker, der dem ‚Besonderen‘ seines Stoffes verhaftet bleibt, sondern einem führenden Philosophen zugewiesen, der am Konkreten das ‚Allgemeine‘ aufzeigt. Der Romanheld Lewin von Vitzewitz, ein Gutsherrensohn, der offiziell als Student an der 1810 gegründeten Berliner Universität eingeschrieben ist und vor allem ein geselliges Stadtleben mit seinen Standesgenossen führt, hat zweimal in der Woche „Kollegientag“, an dem er, ohne wirklich zu studieren, die Vorlesungen von Savigny, Thaer und Fichte besucht. Während die Vorlesung von Albrecht von Thaer (1752– 1828), dem Begründer der Agrarwissenschaft, über den „Fruchtwechsel und die landschaftliche

 Gotthold Ephraim Lessing, Hamburgische Dramaturgie, in: Lessing, Werke, hrsg. v. Herbert G. Göpfert, Bd. 4, München: Hanser 1973, 229 – 707, S. 281 f. (11. Stück).  Aristoteles, Poetik, übers. v. Olof Gigon, Stuttgart: Reclam 1961, S. 39 (1451 b, 9. Kap).

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Bedeutung des Kartoffelbaus“ (III 6, 370) eher der agrarischen Herkunft geschuldet und für den historischen Augenblick irrelevant ist, erweisen sich die beiden anderen Vorlesungen als repräsentativ für entgegengesetzte Reaktionen auf eine aktuelle, in ganz Berlin öffentlich diskutierte Nachricht vom 4. Januar 1813: Der bisher auf der Seite Napoleons verpflichtete preußische General Yorck von Wartenburg hat mit seiner Kapitulation vor den Russen – am 30. Dezember 1812 in der Übereinkunft von Tauroggen im heutigen Litauen – die Wende im europäischen Kampf gegen Napoleon eingeleitet. An der entgegengesetzten Reaktion auf diese Nachricht wird die Relevanz der akademischen Beschäftigung mit Geschichte gemessen. Einerseits erweist sich der Begründer der Historischen Rechtsschule, Friedrich Carl von Savigny (1779 – 1861), der über ‚Römisches Recht im Mittelalter‘ liest, ohne von der Nachricht gehört zu haben, als völlig gegenwartsfremd und andererseits der Philosoph des romantischen Subjektivismus und Rektor der Universität, Johann Gottlieb Fichte (1762– 1814), mit seiner Vorlesung über den „Begriff des wahrhaften Krieges“ als so aktuell, daß er von der Lehrkanzel aus die aktuelle Nachricht zum Anlaß einer dialektischen Aufmunterung zur Entscheidung im Freiheitskampf nimmt, weil sie „uns aus der Erniedrigung in die Erhöhung führt“ (III 6, 371). Damit wird überdeutlich gemacht, daß nicht der Historiker, der die aktuelle Gegenwart verpaßt, sondern der Philosoph, der sich in die Gegenwart einmischt, um aus ihr Modelle für künftiges Handeln zu entwerfen, weiß, was ‚an der Zeit‘ ist. Diesem dem historistischen Credo Rankes, „blos (zu) zeigen wie es eigentlich gewesen“,⁶² entgegengesetzten Modell des erzählenden Engagements an der Aktualität von Geschichte ist auch Fontane selbst verpflichtet. Es besteht kein Zweifel daran, daß er – ganz im Sinne des aristotelischen Urteils, das die ‚philosophische‘ Dichtung über die Geschichtsschreibung gestellt hat – dem Philosophen den Vorrang vor dem Historiker gibt, wenn es um Denkvorgaben für die Moral historischen Handelns geht. Auf solche Aktualisierung des Historischen kommen wir später zurück. Vorerst ist festzuhalten, daß Fontane, der den „Mumpitz“ normativer Poetik abgelehnt hat, auch an anderen Stellen eigene poetologische Einsichten, selbst wo sie den Duktus von Vorschriften tragen, gern in kleinen Nebenszenen versteckt hat. So verrät in dem Roman Frau Jenny Treibel von 1892 ein vordergründig akademischer Disput zwischen den Gymnasiallehrern Willibald Schmidt und Distelkamp, daß es Fontane wie Aristoteles um den Vorrang der Dichtung vor der

 Leopold von Ranke, Vorrede, in: Ranke, Sämmtliche Werke, Bd. 33: Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514, Leipzig: Duncker & Humblot 21874, I–VIII, S. VII.

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Geschichtsschreibung und um die poetische Bedeutung des konkreten Einzelfalls geht: „Das Nebensächliche, soviel ist richtig, gilt nichts, wenn es bloß nebensächlich ist, wenn nichts drinsteckt. Steckt aber was drin, dann ist es die Hauptsache, denn es gibt einem dann immer das eigentlich Menschliche.“ „Poetisch magst du recht haben.“ „Das Poetische – vorausgesetzt, daß man etwas anderes darunter versteht als meine Freundin Jenny Treibel –, das Poetische hat immer recht; es wächst weit über das Historische hinaus.“⁶³

So wird „das eigentlich Menschliche“ als Inhalt des Nebensächlichen zum Kriterium poetischer Wahrheit. Das Poetische wird nicht durch den falschen poetischen Sinn „für das Höhere“,⁶⁴ nicht durch kitschige Sentimentalität und pompöse Redensartlichkeit vertreten, wie sie für bürgerliche Parvenüs charakteristisch sind, sondern durch die Wahrhaftigkeit unprätentiöser Bescheidenheit, die – vertreten durch einfache Figuren wie Lene Nimptsch in Irrungen, Wirrungen – das Wesen der Natürlichkeit ist. Fontane findet das Primat der Dichtung vor der Geschichte – wie Aristoteles in der philosophischen Verallgemeinerbarkeit des konkreten Falls – in der Menschlichkeit des exemplarisch Nebensächlichen. Das poetische Mittel der Überhöhung von alltäglich Wirklichem ist die von Fontane immer wieder geforderte „Verklärung“, durch die er seine Konzeption des Realismus abzusichern hoffte gegen die krude Abzeichnung, wie er meint, bloß häßlicher Realität durch Émile Zola und die deutschen Naturalisten. Fontanes Anspruch auf die poetische Wahrheit, die der historischen Wahrheit überlegen ist,⁶⁵ erlaubt ihm Freiheiten im Umgang mit der empirischen Genauigkeit. So gibt er in Hinblick auf Irrungen, Wirrungen (1888) gegenüber einem besonders peniblen Leser sogar vermeintlich „Irrtümliches“ unumwunden zu, nur um es zu entkräften: Mit gewiß nur zu gutem Rechte sagen Sie: „Das ist kein Wienerisch“, aber mit gleichem Rechte würde ein Ortskundiger sagen (und ist gesagt): „Wenn man vom Anhaltischen Bahnhof nach dem Zoologischen fährt, kommt man bei der und der Tabagie nicht vorbei.“ Es ist mir selber fraglich, ob man von einem Balkon in der Landgrafenstraße aus den Wilmersdorfer Turm oder die Charlottenburger Kuppel sehen kann oder nicht. Der Zirkus Renz, so sagte mir meine Frau, ist um die Sommerszeit immer geschlossen. Schlangenbad ist nicht

 Fontane, Frau Jenny Treibel, in: Fontane, Werke, Schriften und Briefe, hrsg. v. Walter Keitel und Helmuth Nürnberger, Abt. I, Bd. 4, München: Hanser 1973, 297– 478, S. 360.  Ebd., S. 369.  Vgl. allgemein dazu – und ohne Bezug auf Fontane – Wolfgang Kayser, Die Wahrheit der Dichter. Wandlung eines Begriffes in der deutschen Literatur, Hamburg: Rowohlt 1959.

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das richtige Bad für Käthes Zustände; ich habe deshalb auch Schwalbach noch eingeschoben. Kalendermacher würden gewiß leicht herausrechnen, daß in der und der Woche in dem und dem Jahre Neumond gewesen sei, mithin kein Halbmond über dem Elefantenhause gestanden haben könne. Gärtner würden sich vielleicht wundern, was ich alles im Dörrschen Garten a tempo blühen und reifen lasse; Fischzüchter, daß ich – vielleicht – Muränen und Maränen verwechselt habe; Militärs, daß ich ein Gardebataillon mit voller Musik vom Exerzierplatz kommen lasse; Jacobikirchenbeamte, daß ich den alten Jacobikirchhof für „tot“ erkläre, während noch immer auf ihm begraben wird. Dies ist eine kleine Blumenlese, eine ganz kleine; denn ich bin überzeugt, daß auf jeder Seite etwas Irrtümliches zu finden ist. Und doch bin ich ehrlich bestrebt gewesen, das wirkliche Leben zu schildern. Es geht halt nit. Man muß schon zufrieden sein, wenn wenigstens der Totaleindruck der ist: „Ja, das ist Leben.“⁶⁶

Was unbedarften Lesern als Irrtum, als Fehler und gar als ausgesprochen ‚falsch‘ erscheinen mag, ist poetisch notwendig, wenn es der lebendigen Darstellung zugutekommt. Der ästhetische Schein der Lebendigkeit ist dem Erzähler, aus Furcht vor der gespenstischen Wiederkehr von Untoten, wichtiger als eine historische Faktizität, die zwar korrekt, aber so ‚tot‘ ist wie das besagte Gespenst ohne Geschichte. Der Erzähler kann sich also, auch im Umgang mit der Geschichte, Freiheiten herausnehmen, die ihm von Historikern als Geschichtsfälschung angekreidet werden könnten, die aber um einer höheren, der poetischen Wahrheit willen gerechtfertigt sind. Der Erzähler soll nicht wie Rankes Geschichtsschreiber dem historischen Stoff dienen, indem er ihn möglichst objektiv bloß rekonstruiert, sondern er macht sich diesen Stoff gefügig, er bildet ihn um, er verfügt darüber in subjektiver Freiheit, um seine Bedeutung für die Gegenwart zu veranschaulichen. Diese Aufgabe verlangt, wie schon früher angedeutet, einen selbstbewußten Erzähler, der auch sichtbar für die Leser in das Geschehen eingreift, als wäre er der Regisseur, der die Geschichte zur Unterhaltung und Belehrung des Publikums inszeniert, ohne sich hinter den Kulissen seiner Fiktion zu verstecken. Doch nicht allen Rezensenten des Romans scheint das gefallen zu haben. Fontane hält solche Mäkelei an der Mitsprache des Erzählers, der alle Fäden des Geschehens in der Hand hält und kein Hehl daraus macht, daß er das Geschehen kontrolliert, für „reine Quackelei“ und bekräftigt seinen Anspruch auf epische Konstruktion mit dem Hinweis auf das Vorbild des englischen Romans:

 Fontane, Brief an Emil Schiff, 15. Februar 1888, in: Briefe Theodor Fontanes. Zweite Sammlung, hrsg. v. Otto Pniower und Paul Schlenther, Bd. 2, Berlin: F. Fontane & Co. 21910, S. 147; Theodor Fontane, Der Dichter über sein Werk, hrsg. v. Richard Brinkmann, Bd. 2, München: dtv 1977, S. 372.

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Dies beständige Vorspringen des Puppenspielers in Person, hat für mich einen außerordentlichen Reiz und ist recht eigentlich das, was jene Ruhe und Behaglichkeit schafft, die sich beim Epischen einstellen soll.⁶⁷

Fontane hält also gar nichts von dem Verschwinden des Erzählers in seinem Stoff, wie es der Objektivitätsanspruch des Historismus den Geschichtsschreibern auferlegt hat, und bekennt sich wirkungspoetisch zur behaglichen Konstruktion des Epischen. Der Dichter des historischen Romans regiert das ‚Puppenspiel‘ der Geschichte (story) und überläßt die Auswertung der Geschichte (history) den Historikern. Um unter seinen Lesern die gewünschte „Ruhe und Behaglichkeit“ zu erreichen, malt Fontane eine Erzählsituation aus, in der es sich der fiktionale Erzähler, als wäre er eine Figur seines Romans, am Kamin seines erfundenen Gutshauses gemütlich macht: „In der Halle schwelen noch einige Brände; schütten wir Tannäpfel auf und plaudern wir, ein paar Sessel an den Kamin rückend, von Hohen-Vietz.“ (I 2, 14) Er spricht, als wollte er, im Sinne von Renates geschlechtsspezifischer Unterscheidung, durch unterhaltsames „Geplauder“ zur Kurzweil vorwiegend weiblicher Zuhörer beitragen. Dieser scheinbar nur plaudernde Erzähler, der die Fäden der Erzählung fest in der Hand hält, schiebt seine Geschichte, wenn es einmal etwas ruhiger wird, beiseite und nimmt sich die Zeit, Informationen nachzureichen, die er seinen Lesern zum besseren Verständnis des Zusammenhangs nicht vorenthalten will: „Überlassen wir ihn [Geheimrat von Ladalinski] auf eine Viertelstunde ungestört seiner Lektüre und erzählen wir, während er sich in Empfangsfeierlichkeiten und Loyalitätsadressen vertieft, einiges aus seinem Leben.“ (III 3, 323) Der Erzähler nutzt eine Pause des Geschehens für einen Einschub – scheinbar von biographischen Tatsachen, die er nicht zurückhalten will, in Wirklichkeit aber, um im vordergründigen Schein einer lockeren Plauderei deutlich zu machen, daß es sich um eine straff gesteuerte Konstruktion von Wirklichkeit handelt, die auf genau platzierten Details beruht. An anderer Stelle entschuldigt sich der Erzähler für einen ähnlichen Einschub, als wüßte er nicht, wo sonst er die „biographische Skizze“ einer Romanfigur unterbringen soll: Da wir nun im langen Verlauf unserer Erzählung nirgends einen Punkt entdecken können, der Raum böte für eine biographische Skizze unter dem Titel „Tante Schorlemmer“, so halten wir hier den Augenblick für gekommen, uns unserer Pflicht gegen diese treffliche Dame zu

 Fontane, Brief an Wilhelm Hertz, 14. Januar 1879, in: Fontane, Der Dichter über sein Werk, Bd. 2, S. 231 f.

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entledigen. Denn Tante Schorlemmer ist keine Nebenfigur in diesem Buche, und da wir ihr, nach flüchtiger Bekanntschaft in Flur und Kirche, an dieser Stelle bereits zum dritten Male begegnen, so hat der Leser ein gutes Recht, Aufschluß darüber zu verlangen, wer Tante Schorlemmer denn eigentlich ist. (I 6, 46)

So charakterisiert der Erzähler diese Figur scheinbar zufällig just an dieser Stelle, als hätte die Information aus dem Zettelkasten seiner Phantasie sonst keinen Platz gefunden. Dabei weiß er ganz genau, wann und wo er die Charakterisierung seiner Figuren unterbringen muß: „Es wird unsere nächste Aufgabe sein, der bloßen Vorstellung dieser Herren […] eine kurze Charakterisierung folgen zu lassen.“ (II 3, 144), wobei er diese Charakterisierung „eine weniger um der Bildnisse selbst als um des Ortes willen, wo sie sich finden, dem Leser vorgeführte Porträtgalerie“ (ebd.) nennt. Auch die lebendigen Figuren des Romans gehören zu der „Porträtgalerie“, gemalten Ahnenbildern aus der Familiengeschichte, die hier nachgezeichnet werden, als lebten sie unter uns. Der Dienst am Leser, mit dem Fontanes Erzähler unverhohlen liebäugelt, als befänden sich beide in einem gemeinsamen Unternehmen, ist eine „Pflicht“ und eine „Aufgabe“, deren er sich entledigt, indem er sich gewissermaßen hinter dem Rücken seiner Figuren mit dem Leser arrangiert: „Über eine Äußerung des Kandidaten Uhlenhorst […] gehen wir wie billig an dieser Stelle hin.“ (I 11, 85) Er gibt also zu, daß er zum Schutz seiner Figuren sogar Informationen, die er für problematisch hält, zurückhält. Er weitet seine Rolle als besorgter Begleiter seiner Figuren auf seine Leser aus, damit sie sich mit den Figuren verbunden fühlen, als wären sie deren freundliche Gefährten. In fast Goethescher Manier – die Wahlverwandtschaften (1809) beginnen mit dem berühmt gewordenen Satz: „Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter“ – engagiert er sich so sehr für seine Figuren, daß er von ihnen mit warmherzigen Teilnahme sprechen kann, die zur Identifizierung aufruft: „der Held unserer Geschichte“ (I 1, 8), „unser Held“ (I 1, 10), „unsere HohenVietzer Geschwister“ (I 6, 45), „unser Freund Seidentopf“ (I 11, 83), „unsere Guser Gräfin“ (II 3, 147). Was der Erzähler im logischen Modus des Irrealis zu leugnen scheint, bekräftigt gerade die Wahrheit der Dichtung: Die Figuren, mit denen er sich gerne so vertraut zeigt, als wären sie seine Geschöpfe, sind ja tatsächlich seine Geschöpfe. Der immer wiederholte, für die Konstruktion von Fiktion notwendige Modus des ‚als ob‘ zielt darauf, den Irrealis der Fiktion als Realis der poetischen Phantasie darzustellen. Noch mehr als die Charakterisierung der Figuren verweist die betonte Gliederung des Geschehens in eine Reihe von Kapiteln auf die Konstruktion der Geschichte. Die scheinbar stillschweigende Verwandlung des Ereigniszusammenhangs, der sich in Phasen oder Schüben entwickeln mag, in einen Darstellungszusammenhang, der in Kapiteln entwickelt und gegliedert wird,

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unterstreicht ständig aufs neue, wie sehr die Leser nicht aus den Augen verlieren dürfen, daß das, was sie hier lesen, nicht reale Geschichte (history), sondern erfundene Geschichte (story) ist. Die zeitliche Struktur der Handlungsführung wird nicht objektiv durch das Geschehen, sondern poetisch durch die Wiedergabe des Geschehens in Romankapiteln bestimmt, vor allem aber dadurch, daß der Erzähler selbst immer wieder auf die Darstellung in Kapiteln aufmerksam macht. Dafür nur einige Beispiele: „in dem großen Wohnzimmer, in das wir unsere Leser schon in einem früheren Kapitel führten“ (I 17, 121); „Der Lauf unserer Erzählung führt uns während der nächsten Kapitel von Hohen-Vietz und dem östlichen Teil des Oderbruchs an den westlichen Höhenzug desselben…“ (II 1, 131); „Sehen wir im folgenden Kapitel des näheren, welcher Art diese ‚allerlei Freunde‘ von Schloß Guse waren“ (II 2, 143); „Ein späteres Kapitel wird von ihm ausführlicher erzählen“ (II 3, 156). Die Leser werden angehalten, vorwärts und rückwärts zu blättern, um die vom Erzähler gegebenen Querverweise nachzuvollziehen. Ja, er lehrt seine Leser, das Romangeschehen gewissermaßen auch rückwärts zu lesen, weil erst im Rückblick die Bedeutung eines Kapitels deutlich wird: „Das war das Zimmer, in das, wie am Schlusse des vorigen Kapitels erzählt,Vater und Sohn eintraten.“ (I 4, 32) Wie sehr dieser rückblickende Progress des Erzählens auch die Struktur des Zugriffs auf die Geschichte betrifft, werden wir noch sehen. Fontanes Erzähler kommentiert, er wählt aus, er akzentuiert, er schaltet ein, trägt früher Ausgelassenes nach, ergänzt und tut alles, was Hayden White, der wie kaum ein anderer die Theorie der Ästhetisierung von historischen Diskursen geprägt hat, emplotment genannt hat: The events are made into a story by the suppression or subordination of certain of them and the highlighting of others, by characterization, motific repetition, variation of tone and point of views, alternative descriptive strategies, and the like – in short, all of the techniques that we would normally expect to find in the emplotment of a novel or a play.⁶⁸

Was Hayden White für den Geschichtsschreiber gemeint hat, der nach Prinzipien der poetischen Konstruktion verfährt, gilt erst recht für den Erzähler eines historischen Romans, der durch Betonung von dramatischen Höhepunkten, durch individualisierende Charakterisierung historischer Figuren, leitmotivische Strukturierung, Perspektivierung des Geschehens und andere Darstellungstechniken eine spannende, die Leser engagierende Handlung aufbaut.

 Hayden White, The Historical Text as Literary Artifact, in: The Writing of History. Literary Form and Historical Understanding, hrsg. v. Robert H. Canary und Henry Kozicki, Madison/ London: The University of Wisconsin Press 1978, 41– 62, S. 47.

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Ganz im Sinne eines solchen emplotment will auch Fontanes Erzähler kein unbeteiligter Chronist der Geschichte vom Anfang der Befreiungskriege sein. Er ist auch kein am Geschehen beteiligter Zeuge, der das Geschehen mit leiser Ironie kommentiert, sondern vielmehr sieht er sich, als wäre er ihr allein verantwortlicher Autor, in der aktiven Rolle formaler Gestaltung. Insofern verweist dieser, wie man zunächst annehmen könnte, konventionell auktoriale Erzähler auf die zur Zeit des methodologisch vorherrschenden Historismus noch unkonventionelle, von Aristoteles, Lessing und Novalis vorbereitete Einsicht, daß auch die objektivistische Rekonstruktion der historischen Vergangenheit, besonders wenn es sich um die motivierende Vorgeschichte einer historischen Wende handelt, im Grund eine literarische Gestaltung ist. Fontanes implizites Bekenntnis zur Ästhetik des historischen Denkens muß also durchaus als Korrektur des historistischen Credos verstanden werden, nach dem der Geschichtsschreiber laut Leopold von Ranke keine andere Aufgabe hat, als zu „zeigen, wie es eigentlich gewesen“. Wo es Ranke – nur zehn Jahre nach dem von Fontane behandelten Zeitraum 1812/1813 – um das Prinzip der Verwissenschaftlichung historischer Forschung ging, ist es Fontane zu einer Zeit, als sich der Historismus im naturwissenschaftlich geprägten Positivismus der Gründerzeit verfestigt hat, um die Bewahrung der subjektiven Perspektive zu tun, um das Denken in Bildern, um die Lebendigkeit persönlicher Erfahrung von Geschichte, um die Gesinnung der historisch handelnden Personen. Mag Ranke auch zugestehen, daß die Rekonstruktion („wie es eigentlich gewesen“) durchaus ein Erzählvorgang ist, setzt Fontane voraus, daß seine historische Erzählung keineswegs einen Anspruch auf lückenlose Rekonstruktion erheben kann. Strittig ist zwischen dem Historiker und dem Romancier die ‚Eigentlichkeit‘ des Erzählten, also die Frage, wer von beiden der historischen Wahrheit näher kommt: der – in den Augen des Romanciers – ‚objektivistische‘ Historiker oder der – in den Augen des Historikers – ‚subjektivistische‘ Romancier. Wenn der Begriff der Eigentlichkeit auf das Wesen, auf die Bedeutung der erzählten Geschichte zielt, fragt sich also, wer der bessere Interpret ist: der Historiker, der sich aus dem Bericht des Geschehens herauszuhalten bemüht, oder der Romancier, der sich selbst mitten in die Darstellung des Geschehens hineindrängt. Zielt ersterer auf den nicht-engagierten Leser, der das Geschehen aus kühler Distanz beurteilt, wendet sich letzterer an den engagierten Leser, der an dem Geschehen lebhaften Anteil nimmt, um sich ein eigenes Bild von der Geschichte zu machen und dieses Bild womöglich auf sein kritisches Verständnis der Gegenwart anzuwenden. Die Betonung des gegenwärtigen Standpunkts, auf den die Geschichte zuläuft, weil sie zur Handlungsorientierung für die Gegenwart relevant ist, stimmt mit der von Aristoteles gemeinten philosophischen Betrachtung von Geschichte überein, die eher den Dichtern als den Historikern zufällt. An dieser Stelle muß,

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wie schon in früheren Kapiteln, daran erinnert werden, daß nur wenige Jahre vor Vollendung des Romans Vor dem Sturm Friedrich Nietzsche seinen Aufsatz Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874) veröffentlicht hat, in dem drei verschiedene Modi historischer Darstellung unterschieden werden: die monumentalische, die antiquarische und die kritische. Während die erste (monumentalische) auf eine heroische Mythologisierung der Vergangenheit zum Vorbild für die Gegenwart hinausläuft, erfolgt die zweite (antiquarische), der Nietzsches Polemik gegen den Historismus vor allem gilt, durch die Rekonstruktion der Vergangenheit um der Vergangenheit willen; sie ist „das widrige Schauspiel einer blinden Sammelwut, eines rastlosen Zusammenscharrens alles einmal Dagewesenen“.⁶⁹ Die Synthese dieser beiden Extreme ist die kritische Geschichtsbetrachtung, die „im Dienste des Lebens“⁷⁰ ein Gleichgewicht zwischen Vergangenheit und Gegenwart bewahrt: Er [der Mensch] muß die Kraft haben und von Zeit zu Zeit anwenden, eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können: dies erreicht er dadurch, daß er sie vor Gericht zieht, peinlich inquiriert und endlich verurteilt; jede Vergangenheit aber ist wert, verurteilt zu werden – denn so steht es nun einmal mit den menschlichen Dingen: immer ist in ihnen die menschliche Gewalt und Schwäche mächtig gewesen. Es ist nicht die Gerechtigkeit, die hier zu Gericht sitzt; es ist noch weniger die Gnade, die hier das Urteil verkündet: sondern das Leben allein, jene dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht. Sein Spruch ist immer ungnädig, immer ungerecht, weil er nie aus einem reinen Borne der Erkenntnis geflossen ist; aber in den meisten Fällen würde der Spruch ebenso ausfallen, wenn ihn die Gerechtigkeit selber spräche.⁷¹

Nicht ganz so lebensphilosophisch, aber doch mit ähnlicher Emphase hatte Fontane faktische Irrtümer seiner historischen Darstellung als poetische Wahrheit mit dem angestrebten Totaleindruck „Ja, das ist Leben!“ zu rechtfertigen versucht, weil für ihn wie für Nietzsche ‚Leben‘ nur über die kritische Vermittlung des Vergangenen mit der Gegenwart denkbar ist. Diese Vermittlung aber erfolgt über einen „juridischen Dichter“ (wie Fouqué Kleist genannt hat),⁷² weil er die Geschichte „vor Gericht zieht, peinlich inquiriert und endlich verurteilt“, also darüber urteilt, ob die Vergangenheit vor den Augen der Gegenwart standhält, weil sie  Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben [1874], in: Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta, Bd. 1, München: Hanser 51966, 209 – 285, S. 228.  Ebd., S. 229.  Ebd.  Friedrich de la Motte Fouqué, Ein Gespräch über die Dichtergabe H. v. Kleists [zuerst in Morgenblatt, 1./2. März 1816], gekürzt in: Heinrich von Kleists Nachruhm. Eine Wirkungsgeschichte in Dokumenten, hrsg. v. Helmut Sembdner, Bremen: Schünemann 1967, 212– 219, S. 217.

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sonst vergessen werden könnte. Weil dieser Erzähler, der – anders, als es sich Rankes Objektivismus vorstellt – „nie aus einem reinen Borne der Erkenntnis“ schöpfen kann, entscheidet die Lebendigkeit seiner subjektiven Darstellung – anstelle des ‚Lebens‘ selbst, das Nietzsche annimmt – darüber, ob es dem Erzähler gelingt, die Relevanz der Geschichte für den jeweiligen Standpunkt anschaulich zu vergegenwärtigen, damit sie beurteilt werden kann. Wie bei Kleist, bei dem die Analyse eines Vorfalls die dramatische Struktur sowohl seiner Erzählungen (besonders Das Bettelweib von Locarno) als auch seiner Dramen (besonders das als komische Variante des Oidipus Tyrannos konzipierte Gerichtsdrama Der zerbrochne Krug) ausmacht, ist auch Fontanes narrativer Rückgriff auf die Vorgeschichte des Volkskriegs gegen Napoleon mit der von Nietzsche gebrauchten Gerichts-Metapher zu verstehen. Nur der im Sinne Nietzsches ‚kritische‘ Erzähler, der anders als der ‚monumentalische‘ oder der ‚antiquarische‘ Erzähler die Vergangenheit „vor Gericht zieht, peinlich inquiriert und endlich verurteilt“, kann über ihre Bedeutung für die Gegenwart entscheiden. Es geht um die Aufdeckung und Beurteilung eines Geschehens, das abgeschlossen vorliegt und nicht mehr geändert werden kann. Schiller hat dieses poetische Verfahren am ersten Gerichtsspiel der abendländischen Literatur, Sophokles’ Oidipus Tyrannos (429 v. Chr.), exemplifiziert und „tragische Analysis“ genannt: Es wird etwas Vergangenes, bei Sophokles so Schwerwiegendes wie Vatermord und Inzest mit der Mutter und in Freuds Psychoanalyse der Verdrängung der Ödipus-Komplex,⁷³ aufgedeckt und abgeurteilt, damit die Gegenwart von den schwerwiegenden Folgen, bei Sophokles von der Pest und bei Freud von der Neurose, befreit wird: Dazu kommt, daß das Geschehene, als unabänderlich, seiner Natur nach viel fürchterlicher ist, und die Furcht, daß etwas geschehen sein möchte, das Gemüt ganz anders affiziert, als die Furcht, daß etwas geschehen möchte. Der Ödipus ist gleichsam nur eine tragische Analysis. Alles ist schon da, und es wird nur herausgewickelt. Das kann in der einfachsten

 Sigmund Freud, Die Traumdeutung [1900], in: Freud, Gesammelte Werke, hrsg. v. Anna Freud u. a., Bd. 3, Frankfurt am Main: Fischer 31961, S. 269: „Es muß eine Stimme in unserem Innern geben, welche die zwingende Gewalt des Schicksals im Ödipus anzuerkennen bereit ist, während wir Verfügungen wie in der ‚Ahnfrau‘ oder in anderen Schicksalstragödien als willkürliche zurückzuweisen vermögen. Und ein solches Moment ist in der Tat in der Geschichte des Königs Ödipus enthalten. Sein Schicksal ergreift uns nur darum, weil es auch das unsrige hätte werden können, weil das Orakel vor unserer Geburt denselben Fluch über uns verhängt hat wie über ihn. Uns allen vielleicht war es beschieden, die erste sexuelle Regung auf die Mutter, den ersten Haß und gewalttätigen Wunsch gegen den Vater zu richten; unsere Träume überzeugen uns davon. König Ödipus, der seinen Vater Laïos erschlagen und seine Mutter Jokaste geheiratet hat, ist nur die Wunscherfüllung unserer Kindheit.“

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Handlung und in einem sehr kleinen Zeitmoment geschehen, wenn die Begebenheiten auch noch so kompliziert und von Umständen abhängig waren. Wie begünstigt das nicht den Poeten!⁷⁴

Die analytische Struktur erschließt die Vergangenheit für die Gegenwart, sie beurteilt Vorausliegendes in Hinblick auf gegenwärtige Nutzanwendung und schafft ein aktuelles Verständnis der Vergangenheit. Insofern verpaßt sie dem Erzählzusammenhang eine teleologische, auf ein Ziel zulaufende Struktur, die nicht deterministisch die Geschichte (history) vorbestimmt, sondern nur hermeneutisch die davon erzählte Geschichte (story) so erschließt, daß sie verständlich wird. Wenn man nun noch ein weiteres Modell heranzieht, die psychologische Motivation der Handelnden, wie Schiller sie in der theoretischen Einleitung (und bereits im Titel) seiner Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786) vorgelegt hat, dann verstehen wir besser den auch in Fontanes Titel angelegten programmatischen Charakter des Romans Vor dem Sturm. Weil es zur Freiheit der Leser gehört, über die Figuren der Geschichte „selbst zu Gericht zu sitzen“, verlangt Schiller vom Geschichtsschreiber, die Vorgeschichte des Helden zu entwickeln, damit sich die Leser ein eigenes Urteil bilden können: Der Held muß kalt werden wie der Leser, oder, was hier ebensoviel sagt, wir müssen mit ihm bekannt werden, eh er handelt, wir müssen ihn seine Handlung nicht bloß vollbringen, sondern auch wollen sehen. An seinen Gedanken liegt uns unendlich mehr als seinen Taten, und noch weit mehr an den Quellen seiner Gedanken als an den Folgen jener Taten.⁷⁵

Die Nachzeichnung der Gedanken, die dem äußeren Geschehen vorausliegen, ist wie Fontanes analytische Aufdeckung des inneren Geschehens „vor dem Sturm“ eine psychologische Aufgabe, die ein Romancier wie Fontane besser als ein Geschichtsschreiber lösen kann. Die poetische Erschließung historischer Zusammenhänge dient dem Leserverständnis besser als die detaillierte Anhäufung historischer Tatsachen. Diesem Ziel entspricht auch der Handlungsaufbau des Romans. Wird mit der verwirrenden Fülle der Personen und der Komplexität ihrer Interaktionen zunächst ein Gesellschaftsbild entworfen, das der Vorbereitung des Volkskriegs gegen Napoleon dient, konzentriert sich das Geschehen gegen Ende hin immer mehr auf wenige Akteure, bis sich die Frage nach dem Ausgang der unterschwelligen Liebesgeschichte in den Vordergrund schiebt: Wie wird es mit Renate  Friedrich Schiller, Brief an Goethe, 2. Oktober 1797, in: Goethe – Schiller, Briefwechsel, Frankfurt am Main: Fischer Bücherei 1961, S. 247.  Friedrich Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre, in: Schiller, dtv-Gesamtausgabe, hrsg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, 20 Bde., München: dtv 1965 – 1966, Bd. 16, 8 – 28, S. 9.

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und Tubal enden, und werden sich Lewin und Marie finden? Diese – angesichts des historiographischen Anspruchs eher triviale – Personalisierung der Handlung verrät ein seltsames Paradox: Je historisch aktueller, d. h. zeitgeschichtlicher die Handlung wird, desto zeitloser werden die Personen; je näher das Darstellungsziel des historischen Romans, der Anbruch des Volkssturms, rückt, desto mehr tritt die private Motivierung des Personenromans in den Vordergrund. Wenn die unentschieden wirkende Ausführung hinter der Absicht zurückbleibt, so liegt das vor allem daran, daß der angestrebte historiographische Zusammenhang der Ereignisse an dem Episodencharakter der manchmal novellistisch verselbständigten Erzählteile scheitert. Umso programmatischer wirkt die erzähltechnische Absicht. Im Sinne Schillers werden die Leser mit den „Helden“ bekannt gemacht, bevor sie handeln. Ihr Heldentum „vor dem Sturm“ liegt nicht in den Taten, die sie begehen, sondern in den Gedanken (und Gefühlslagen), die ihre möglichen Taten vorbereiten. Im klaren Gegensatz zum historischen Determinismus, sollen die Leser die Romanfiguren aus freiem Willen ihre Taten nicht schon vollbringen, sondern überhaupt erst „wollen“ sehen. Der Roman zeigt keine antiquarische Rekonstruktion vergangenen Geschehens, sondern eine kritische Motivierung künftigen Geschehens. Ganz im Gegensatz zum Historismus geht es weder um wissenschaftliche Quellenkritik noch um den positivistischen Nachweis einer Kausalitätskette von Ursache und Wirkung, sondern um die Menschlichkeit von Menschen, die in die Geschichte, die sie aktiv (und freiwillig) mitprägen, so hineingezogen werden, daß Diltheys Spruch auch für sie gelten könnte: „Was der Mensch sei, sagt ihm nur seine Geschichte.“

Schluß: Fragen statt Antworten Für den ergebnisoffenen Schluß bietet sich ein Zitat aus dem Epilog zu Bertolt Brechts Der gute Mensch von Sezuan (1939) an, in dem das Fazit des Dramas als offene Frage an die Zuschauer weitergegeben wird: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“¹ Brechts Anleihe bei Lessings Nathan, der das Fazit seiner Ringparabel ebenso an seinen Gesprächspartner weiterreicht, erinnert an das sokratische Gespräch, in dem nur Fragen gestellt, die Antworten aber dem Zuhörer überlassen werden. Auch im vorliegenden Fall soll ein Fragenkatalog an die Stelle eines (in der einleitenden Zusammenfassung antizipierten) Ergebnisses treten. Es sind die hier wörtlich zitierten Fragen, die sich im Rahmen des Lessing-Kapitels ergeben haben und deren Implikationen für den Begriff des Geschichtsbildes über den Begründer der Literaturkritik weit hinausreichen: Wie reflektiert historisches Denken die Übertragung des Perspektive-Modells von der Malerei auf Dichtung und Geschichtsschreibung? Wie geht die historische Erzählung, die die Zeitfolge als ihr eigenstes Medium sprachlicher Darstellung entdeckt hat, mit der Analogie der Malkunst (ut pictura) um, der sie so lange nachgeordnet war? Wie ‚malt‘ sie historische ‚Szenen‘ aus, wenn sie die räumliche Vorstellung zeitlicher Umbrüche bedient? Wie bewußt ist sie sich der Metaphorisierung des ‚Bildes‘, das sie von der Geschichte ‚gemalt‘ hat, bevor sie das räumliche Bild zeitlich aufbrechen mußte? Wie ‚malt‘ sie historische ‚Szenen‘ aus, die sie für die räumliche Vorstellung zeitlicher Umbrüche aufbereitet? Wie ‚inszeniert‘ sie Geschichte in simulierten Handlungsabläufen und Dialogen, um die Erwartung der Zuschauer und Leser zu bedienen? Wie reflektiert die historische Erzählung vor dem Hintergrund der Linien- und der Luftperspektive die Nachordnung der entfernteren und darum entsprechend verkleinert und verschwommen dargestellten Gegenstände der Geschichte? Wie selbstkritisch geht die historische Erzählung mit der Aufwertung des ‚Gesichtspunkts‘ um, der die Vergrößerung und Verkleinerung der Gegenstände steuert? Welche Interessen sind am Werk, wenn die Akzente zwischen Vordergrund- und Hintergrundgeschehen neu gesetzt, die Unterschiede von nah und fern, groß und klein, wichtig und nebensächlich neu geordnet werden? Was geschieht mit der ‚Ansicht‘ der Gegenstände, wenn sich der Gesichtspunkt horizontal vervielfältigt, weil die auf der Bühne der Historiographie inszenierte Geschichte nicht für alle Zuschauer der-

 Bertolt Brecht, Der gute Mensch von Sezuan, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1961, S. 160. https://doi.org/10.1515/9783110679878-013

Schluß: Fragen statt Antworten

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selben Zeit auch dieselbe ist, und wenn sich der Gesichtspunkt auch vertikal verschiebt, weil jede Zeit das Schauspiel anders inszeniert und anders betrachtet? Wie vertrauenswürdig ist der Anspruch auf eine sachgerechte Behandlung des historischen Gegenstands, wenn dieser in verschiedenen und einander widersprechenden ‚Bildern‘ gegenwärtig ist? Wie rückt die angestrebte historische Wahrheit in die Ferne der Unerreichbarkeit, wenn das neue Ethos der Wissenschaft in der Wahrheitssuche liegt? Wie wird die perspektivisch relativierte und dadurch fraglich gewordene historische Wahrheit durch eine poetische Wahrheit ersetzt, die mehr Einsicht in die Bedeutung eines Geschehens beansprucht, als ein bloßer Tatsachenbericht leisten könnte? Die Fortwirkung der zunächst auf Lessing bezogenen Fragen hat den wissenschaftsgeschichtlichen Rahmen der Denkfigur ’Geschichte und Dichtung’ bestimmt. Weil sich keine dieser oder ähnlicher Fragen eindeutig beantworten läßt, hat auch die Dichtung, herausgefordert durch den historischen Wahrheitsanspruch, in der immer neu praktizierten Poetik perspektivischer Darstellung nur mehrdeutige Antworten finden können. Wenn, laut Goethe, „die Weltgeschichte von Zeit zu Zeit umgeschrieben werden müsse“, sollte – so könnte das vorläufige Fazit lauten – auch der unterschiedliche Wahrheitsanspruch von Geschichte und Dichtung, im dialektischen Wechselbezug, immer wieder in Frage gestellt werden.

Anhang Zeittafel: Stationen in der Ästhetisierung historischen Denkens 1697 1711 1715 – 1720 1719 1726 – 1737 1728 – 1743 1738 1742 1749 1749 – 1759 1752 1754 1756

Perrault, Querelle des anciens et des modernes Shaftesbury, Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times Pope, Observations on the Shield of Achilles Taylor, New Principles of Linear Perspective Mascou, Geschichte der Teutschen Bünau, Teutsche Kayser- und Reichshistorie Brockes, Irdisches Vergnügen in Gott Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünfftiger Reden und Schrifften Lessing, Der Freygeist Wagenaar, Vaderlandsche Historie Chladenius, Allgemeine Geschichtswissenschaft Voltaire, Essai sur l’histoire universelle Voltaire, Essai sur les moeurs et l’ésprit des nations et sur les principaux faits de l‘histoire depuis Charlemagne jusqu‘au Louis XIII 1759 Lessing, 17. Brief, die neueste Literatur betreffend Lambert, Freye Perspective, oder Anweisung, jeden perspektivischen Aufriß von freyen Stücken und ohne Grundriß zu verfertigen Hamann, Sokratische Denkwürdigkeiten 1761 Gatterer, Handbuch der Universalhistorie 1764 Winckelmann, Geschichte der Kunst des Altertums Gray/Guthrie, A General History of the World from the Creation to the Present Time 1766 Lessing, Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie 1767 Lessing, Hamburgische Dramaturgie Klotz, Geschichte des Geschmackes und der Kunst aus Münzen 1768 Gatterer, Abhandlung vom Standort und Gesichtspunct des Geschichtschreibers oder der teutsche Livius Klotz, Über den Nutzen und Gebrauch der alten geschnittenen Steine Herder, Über Thomas Abbts Schriften 1768 – 1769 Lessing, Briefe, antiquarischen Inhalts 1769 Herder, Journal meiner Reise Herder, Kritische Wäldchen Wood, Essay on the Original Genius and Writings of Homer 1770 Wieland, Beiträge zur geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes Wegelin, Memoires sur la philosophie de l’histoire Hederich, Gründliches mythologisches Lexicon 1772 Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache Schlözer, Vorstellung der Universal-Historie 1773 Herder, Shakespeare 1774 Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit https://doi.org/10.1515/9783110679878-014

Zeittafel: Stationen in der Ästhetisierung historischen Denkens

1775 1776 – 1780 1777 1778 1779 1780 1781 1784 1784 – 1791 1786 1788 1788 – 1805 1789

1790 1790 – 1792 1795 1798 1799

1800

1802 1804 – 1805 1807 1808 1810 1811 1811 – 1814 1812 1816 1818 1821

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Herder, Vom Erkennen und Empfinden in der menschlichen Seele Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste Wieland, Über eine Stelle des Cicero, die Perspektiv in den Werken der Griechischen Mahler betreffend Goethe, Urfaust Wegelin, Histoire universelle et diplomatique Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft Herder, Denkmahl Johann Winkelmanns Lessing, Eine Duplik Lessing, Über das Wörtlein Tatsache Lessing, Nathan der Weise Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts Kant, Kritik der reinen Vernunft Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht Herder, Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre Kant, Kritik der praktischen Vernunft Schiller, Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande Heinrich, Teutsche Reichsgeschichte Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Moritz, Grundlinien zu einer Gedankenperspektive Reinhold, Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögen Kant, Kritik der Urteilskraft Reinhold, Briefe über die Kantische Philosophie Goethe, Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten F. A. Wolf, Prolegomena ad Homerum W. v. Humboldt, Das achtzehnte Jahrhundert Herder, Metakritik Mutschelle, Versuch einer solchen faßlichen Darstellung der Kantischen Philosophie, daß hieraus das Brauchbare und Wichtige derselben für die Welt einleuchten möge Heinrich, Handbuch der deutschen Reichsgeschichte Schelling, System des transzendentalen Idealismus Nachtigal, Volcks-Sagen Fichte, Die Bestimmung des Menschen Novalis, Heinrich von Ofterdingen Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters Görres, Teutsche Volksbücher Goethe, Faust I Goethe, Geschichte der Farbenlehre Madame de Staël, De l’Allemagne Niebuhr, Römische Geschichte Goethe, Dichtung und Wahrheit Büsching, Volks-Sagen, Märchen und Legenden J. und W. Grimm, Deutsche Sagen Goethe, Noten und Abhandlungen zum west-östlichen Divan Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts

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1826 1833 1834 1835 1835 – 1842 1844 1846 1847 1853 1855 1857 1861 – 1862 1862 1865 1867 1871 1873 1874

1878 1882 1883

1886 1887 1890 1892 1895 1910 1911 1917 1919 1935

1936 1946 1962 1973 1976 1978

Anhang

W. v. Humboldt, Über die Aufgabe des Geschichtschreibers Heine, Ideen. Das Buch Le Grand Heine, Verschiedenartige Geschichtsauffassung Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland Heine, Die romantische Schule Gervinus, Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen Vischer, Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen Grillparzer, Der arme Spielmann Grillparzer, Selbstbiographie Heine, Lutetia Droysen, Historik Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg Vischer, Faust. Der Tragödie dritter Teil Dilthey, Novalis Dilthey, Lessing Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher Mommsen, Über das Geschichtsstudium Sybel, Vorwort zur Historischen Zeitschrift Fontane, Vor dem Sturm Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und ihrer Geschichte Scherer, Geschichte der Deutschen Litteratur Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse Dilthey, Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik Fester, Rousseau und die deutsche Geschichtsphilosophie Fontane, Frau Jenny Treibel Fontane, Effi Briest Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften Fueter, Geschichte der Neueren Historiographie Hofmannsthal, Preußen-Österreich-Schema Th. Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen Popper, Logik der Forschung. Zur Erkenntnistheorie der modernen Naturwissenschaft Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv Meinecke, Die Entstehung des Historismus Collingwood, The Idea of History Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions White, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe Rüsen, Ästhetik und Geschichte. Geschichtstheoretische Untersuchungen zum Begründungszusammenhang von Kunst, Gesellschaft und Wissenschaft White, The Historical Text as Literary Artifact

Zeittafel: Stationen in der Ästhetisierung historischen Denkens

1981 1982 1997

363

Demandt, Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historischpolitischen Denken Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt Vierhaus, Wie erzählt man Geschichte? Die Perspektive des Historiographen Hardtwig, Historismus als ästhetische Geschichtsschreibung: Leopold von Ranke

364

Anhang

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Personenregister A Albani, Alessandro 38, 44 Alberti, Leon Battista 109 Alexander der Große 69, 311 f. Alexis, Willibald 41 Appiah, Kwame Anthony 8 Arcangeli, Francecso 37 f., 43 – 45 Aristoteles 20, 22, 24, 31, 73 f., 83, 114 – 119, 126, 133 f., 147, 182, 333, 345 – 348, 353 Arndt, Ernst Moritz 168 Arntzen, Helmut 245 Äsop 66 Auerbach, Berthold 315 Augustus 78 Ayscough, James 232 B Baruch, Bernard M. 2 Bauernfeld, Eduard von 308 Baumgartner, Hans Michael 112, 127 Bayle, Pierre 55 Behrens, Georg Henning 213 Benjamin, Walter 33 f., 39 f., 42 – 44, 314 Bergengruen, Werner 42 Beulwitz, Caroline von 144, 146 Beutler, Ernst 165, 175 Bietak, Wilhelm 301 Blanckenburg, Christian Friedrich von 123 Bloch, Ernst 153, 241 Blumenberg, Hans 106 Boccaccio, Giovanni 163, 257, 273 Böckmann, Paul 90, 114 Bodmer, Johann Jakob 196, 204, 278 Boeckh, August 183, 325 Boivin, Jean 249 Bölte, Amely 41 Bopp, Franz 183, 272, 325 Börne, Ludwig 280 f., 283 f., 301 Bosizio, Antonio 44 Brahms, Johannes 316 Brecht, Bertolt 66, 358 Brès, Guy de 247 Briegleb, Klaus 273 https://doi.org/10.1515/9783110679878-015

Brockes, Barthold Heinrich 208 Büchner, Georg 34, 144, 279 – 281, 284, 310 Bultmann, Rudolf 288 Bünau, Heinrich von 53 – 56, 60, 75 Burdach, Konrad 169 Büsching, Johann Gustav 213 C Caesar (Gaius Julius Caesar) 78, 311 Canetti, Elias 314 Carlyle, Thomas 143 Cassirer, Ernst 179, 187, 231 Causé, Hendrik 252 Cavaceppi, Bartolo 37 Cellarius, Christoph 53 Cervantes, Miguel de 163 Cherubini, Luigi 278 Chladenius, Johann Martin 12, 17, 23, 25, 50, 70 f., 75, 77, 80, 83 f., 96, 103 f., 136 – 138, 160, 217, 223, 233 – 235, 240, 253, 256, 291, 307, 317, 332 Chlodwig I., König der Franken 55 Choirilos von Iasos 69 Cicero 311 Collingwood, Robin George 142 – 144 Condillac, Étienne Bonnot de 120 Conway, Kellyanne 2 Cronegk, Johann Friedrich von 89 D Dahlmann, Friedrich Christoph 296 Dahn, Felix 336 Danto, Arthur C. 52 Darwin, Charles 102 Debucourt, Philibert-Louis 239 f. Demandt, Alexander 101, 106 Demosthenes 311 Dilthey, Wilhelm 17, 27, 30, 40, 80, 100, 116, 127, 143, 165, 220 – 223, 326, 332 – 337, 357 Donizetti, Gaetano 278 Droste-Hülshoff, Annette von 315, 336 Droysen, Johann Gustav 16 f., 79, 326, 328

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Personenregister

E Eckermann, Johann Peter 161 f. Eichendorff, Joseph von 207 Eichhorn, Karl Friedrich 183 Emrich, Berthold 115 Ernst August I., König von Hannover 296 Eschker, Wolfgang 43 Euklid 92 Eyck, Jan van 250 F Fester, Richard 145, 148 Fichte, Johann Gottlieb 148, 162, 167, 172, 183, 197, 231, 265, 346 f. Fleck, Ludwik 1 Fokke, Simon 252 f. Fontane, Martha 327 Fontane, Theodor 30 f., 315 f. Fouqué, Friedrich de la Motte 204, 235, 239, 354 Francke, Johann Michael 55 Franz I., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation 78 Franz II./I., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation und Kaiser von Österreich 311 f. Franz Joseph I., Kaiser von Österreich 313 Freud, Sigmund 35, 37, 156, 238, 313, 355 Freytag, Gustav 336 f., 344 Friedenthal, Richard 43 Friedrich Christian II., Herzog von SchleswigHolstein-Sonderburg-Augustenburg 152 Friedrich I., gen. Barbarossa, Kaiser des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation 205, 211 – 213, 311 Friedrich II., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation 212 Friedrich II., König von Preußen 53, 69, 134 f., 167, 312 Friedrich Wilhelm I., König von Preußen 53 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 339 Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen 340 Fritsch, Emil Otto 327 Fueter, Eduard 79, 142, 183 Fuhrmann, Manfred 84

Fürnberg, Louis 10 Füssli, Johann Heinrich 35, 341 G Gadamer, Hans-Georg 48, 170 Gatterer, Johann Christoph 24, 50, 77, 134, 160, 184, 307 Gauß, Julie 179 Gautier, Théophile 259 Geibel, Emanuel 211 f. Gerhardt, Volker 3, 5 Gervinus, Georg Gottfried 16, 30, 132, 294 – 297, 300, 325, 329 Gibbon, Edward 58 Gigon, Olof 84 Goethe, Johann Wolfgang von 1, 3, 10, 14, 18, 21, 25 f., 28, 35 – 37, 40 f., 51 f., 60, 62 f., 79 f., 116, 131, 143, 155 – 157, 197 – 199, 203, 224, 237, 251, 258 – 264, 266, 268, 270, 273, 275 – 277, 280 – 282, 295, 297, 300, 302, 306 f., 332, 340 f., 351, 359 Goeze, Johann Melchior 68 Görres, Joseph 213 Gossman, Lionel 44 f., 330 Gottsched, Johann Christoph 55, 104 Gray, John 134 Gregor IX., Papst 212 Greuze, Jean-Baptiste 240 Grillparzer, Franz 24, 29 f., 35, 126, 325, 341 – 343 Grimm, Jakob 213, 272, 296, 325 Grimm, Wilhelm 213, 296, 325 Grün, Karl 283 Guardini, Romano 8 Gundling, Nikolaus Hieronymus 54 Gundolf, Friedrich 175, 178 f., 182 f. Gustav II. Adolf, König von Schweden 142 Guthrie, William 134 Gutzkow, Karl 274, 279, 303 H Habermas, Jürgen 111, 127, 237 Hagen, Friedrich Heinrich von der 205 Hahn, Karl-Heinz 151 Hahn, Simon Friedrich 54 Hamann, Johann Georg 104, 116, 123 Hardtwig, Wolfgang 15 f., 31

Personenregister

Harnack, Adolf 326 Haupt, Moritz 204 Hauptmann, Gerhart 34 – 40, 43 – 45, 47, 64 Heckenast, Gustav 322 Hecker, Jutta 43 Hederich, Benjamin 277 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 15, 29, 154, 167, 170, 172, 183, 222, 261 f., 265 f., 292 – 294, 298, 302, 332 Heidegger, Gotthard 200 Heidegger, Martin 129 Heine, Heinrich 28 – 30, 135, 212, 295 – 297, 300 – 304, 307, 309, 311 f., 329 Heinrich, Christoph Gottlob 132 – 134, 146 Heinrich der Löwe 213 Heise, Wolfgang 175 Heizmann, Bertold 105 Hekataios 130 Helmholtz, Hermann 326 Hemsterhuis, Frans 203 Herder, Johann Gottfried 23 f., 27, 49 – 52, 63 f., 67, 73, 75, 83, 143, 162, 165, 167 – 169, 177, 181, 184, 194, 223, 234 f., 264, 280, 285, 307, 332 Herodot 5, 20, 114, 130, 200 Herwegh, Georg 301 Heyne, Christian Gottlob 49 – 52, 57, 63, 170 f. Heyse, Paul 323, 327 Hoffmann, E. T. A. 204, 314 f. Hofmannsthal, Hugo von 24, 126, 298 f., 304, 313 Höhn, Gerhard 271 Höhne, Anna Catharina 161 Homer 20, 69, 86, 88, 91, 101, 170 – 172, 185, 249 Horaz 79, 87, 93, 99, 215, 251, 320, 337 Hormayr, Joseph von 311 Humboldt, Alexander von 334 Humboldt, Wilhelm von 121, 167, 197, 203, 307 Hungerford, Margaret Wolfe 13 Husserl, Edmund 222 I Immermann, Karl 283, 301

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J Janssen, Johannes 144 f., 148 Jaspers, Karl 8 Joachim von Fiore 201, 212 Jolles, Matthijs 79 Joseph II., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation 78 Justi, Carl 41 K Kafka, Franz 34 Kant, Immanuel 12, 23 f., 27, 67, 73, 75, 78, 80, 85, 102, 116, 120 – 125, 133 f., 141 f., 150 f., 160, 168 f., 176 f., 202, 231 – 235, 237, 254, 256, 258 f., 285, 341 Karl der Große, König des Fränkischen Reiches 312 Karl V., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation 247 Katharina II., Zarin von Rußland 312 Keith, James 273 Keller, Gottfried 313, 315 Kermode, Frank 33, 44 Kleist, Heinrich von 18, 24 f., 27 f., 34, 85, 126, 155, 157, 169, 208, 285 f., 307 – 309, 354 f. Klingemann, August 209 Klotz, Christian Adolph 89, 92, 94 Koch, Robert 326 Kolumbus, Christoph 51 – 53 Kommerell, Max 42 Koopmann, Helmut 152 f., 155, 165 Körner, Gottfried 148, 318 Koselleck, Reinhart 71, 103 Kuczynski, Jürgen 175 Kuhn, Thomas S. 1, 13 Kühne, Gustav 272 L La Fontaine, Jean de 66 La Mettrie, Julien Offray de 106 La Motte, Antoine Houdar de 249 Lachmann, Karl 183, 204, 325 Lacoue-Labarthe, Philippe 193 f. Lambert, Johann Heinrich 94 Laube, Heinrich 262, 278 f., 290, 303 Le Bon, Gustave 314 Le Veau, Jean-Jacques 239 f.

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Personenregister

Lehmann, Walter 179 f. Leibniz, Gottfried Wilhelm 54, 101 Leopold I., Fürst von Anhalt-Dessau 273 Leppmann, Wolfgang 43 Leskow, Nikolai 33 Lessing, Gotthold Ephraim 22 f., 25 f., 31, 97, 99 f., 103, 115, 117 f., 139, 141 – 143, 160, 165, 181, 195 f., 215, 233, 249 – 251, 262, 285, 306 f., 345, 353, 358 Lessing, Theodor 294 Lewis, Matthew Gregory 224 Lindner, Joachim 43 Litt, Theodor 100 Livius, Titus 14, 77 f., 183 – 185 Locke, John 125 Louis-Philippe I., König der Franzosen 268 Luden, Heinrich 26, 188 – 191 Ludewig, Johann Peter 53 – 55 Ludwig XIV., König von Frankreich 167, 312 Lyotard, Jean-François 5 M Mabillon, Jean 54 Magris, Claudio 305 Mann, Thomas 42 Marquard, Odo 172 Marx, Karl 172, 175, 268 Mascou, Johann Jacob 75 f., 132, 136 f. Meinecke, Friedrich 25, 48, 79, 100, 142 – 144, 147, 151, 160, 165, 175, 180 f. Mendelssohn, Moses 87 – 89, 93 Mengs, Anton Raphael 36, 60 Menzel, Wolfgang 260, 303 Metternich, Klemens Wenzel Lothar von 28, 260 Meyer, Heinz 106 Meyer-Benfey, Heinrich 249 Meyer-Eckhardt, Victor 43 Michelsen, Peter 245 Mommsen, Theodor 30 f., 63, 326 – 328, 340 Moritz, Karl Philipp 95 Möser, Justus 143, 181 Moynihan, Daniel 2 Müller, Johannes von 62 Müller-Seidel, Walter 195 Mundt, Theodor 303 Musil, Robert 323 f., 341

Mutschelle, Sebastian 232 f. N Nachtigal, Johann Karl Christoph 213 Nancy, Jean-Luc 193 f. Napoleon I., Kaiser von Frankreich 168, 204 f., 261, 328, 338, 340, 343, 347, 355 f. Neaulme, Jean 135 Nelson, Tim Blake 8 Nicolai, Friedrich 87, 94 Niebuhr, Barthold Georg 14, 24, 26, 77 – 79, 142, 148, 160, 183 – 186, 272, 325 Nietzsche, Friedrich 11, 18 f., 29, 33, 80 – 84, 95, 128, 159, 164, 172, 270, 284 – 286, 291 – 294, 311, 322, 354 f. Novalis 17, 26 f., 31, 34, 42, 264 f., 271, 275, 307, 321, 332, 345, 353 O Oeser, Adam Friedrich 60 Orloff, Ida 43 Orwell, George 10 – 12 Otto von Freising 211 Ottokar von Hornek 299 Ovid 274 – 277, 280 P Panofsky, Erwin 92 Pasolini, Pier Paolo 42 Paulsen, Friedrich 326 Pelosi, Giuseppe 42 Penzoldt, Ernst 43 Perrault, Charles 249 Philipp II., König von Spanien 247, 252 Planck, Max 326 Platen, August von 263 Platon 7 f., 20, 40, 110 Plutarch 310 – 312 Poe, Edgar Allan 314 Ponce de Léon, Juan 271 Pope, Alexander 88, 91, 93, 249 Popper, Karl 9 Pufendorf, Samuel von 54 R Raabe, Wilhelm 316 Radetzky von Radetz, Joseph Wenzel 316 Rameau, Jean-Philippe 278

Personenregister

Ramler, Karl Wilhelm 278 Ranke, Leopold von 2, 5, 7, 9, 13 – 16, 28 f., 31, 48, 79, 84, 100, 127, 135, 145, 157, 160, 179 – 181, 188, 238, 255, 258, 262, 265, 284, 293 f., 297, 310, 325 f., 328, 330, 338, 347, 349, 353, 355 Rehm, Walther 45 Reinhardt, Karl 156 Reinhardt, Richard 271 Reinhold, Carl Leonhard 231 Reinmar von Zweter 204 Reuter, Hans-Heinrich 337 Rollin, Charles 69 Roosevelt, Franklin D. 2 Rossetti, Domenico 41, 44 Rostoptschin, Fjodor 343 Rothe, Johannes 212 Rothschild, James Mayer 302 Röttgers, Kurt 84 Rousseau, Jean-Jacques 172, 202, 278 Rückert, Friedrich 211 f. Rudolf I., Begründer des Hauses Habsburg 311 f. Rüsen, Jörn 48, 52, 127 S Salah ad-Din, Sultan von Ägypten und Syrien 66 Savigny, Friedrich Carl von 183, 262, 325, 346 f. Sayn-Wittgenstein, Doris von 9 Schadewaldt, Wolfgang 236 Schädlich, Hans Joachim 43 Schäfer, Wilhelm 43 Schaumkell, Ernst 79 Scheffel, Josef Victor von 345 Schelling, Friedrich Wilhelm 192, 194, 196 Scherer, Wilhelm 31, 325 f., 329 – 332, 335 f., 345 Schiffer, Werner 52 Schill, Ferdinand von 340 Schiller, Friedrich 18, 24 f., 63, 75, 77 – 79, 97, 159, 161 – 163, 165, 176, 181, 190, 197, 202 f., 223, 236, 251, 257, 259, 275 – 277, 280, 295 f., 307, 317 f., 332, 355 – 357 Schlaffer, Hannelore 127

397

Schlegel, August Wilhelm 272 f., 278 Schlegel, Friedrich 22, 26, 28, 47, 63, 193, 195 – 198, 203, 206, 215, 257, 269, 307, 325 Schleiermacher, Friedrich 40, 48, 169 Schliemann, Heinrich 69, 335 Schlözer, August Ludwig 24, 75, 135, 138, 140, 151, 223, 332 Schmidt, Erich 326 f., 329 f. Schmidt-Dengler, Wendelin 116 Schmitt, Carl 193 Schmoller, Gustav 326 Schnabel, Franz 178 Schneider, Hermann 251 Schneider, Karl Ludwig 34, 249 Schnitzler, Arthur 313 Schöne, Albrecht 166 Schumann, Johann Daniel 68 Schunicht, Manfred 249 Schwab, Gustav 336 Schwerin, Kurt Christoph von 273 Schwind, Moritz von 204 Scott, Walter 344 Sembdner, Helmut 251 Seydlitz, Friedrich Wilhelm von 273 Seyhan, Azade 194 Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper, 3rd Earl of 116 – 118, 168 Shakespeare, William 23, 79, 91, 112 – 114, 116 f., 127, 271, 279 Shaw, George Bernard 278 Siebert, Eberhard 232 Sienkiewicz, Henryk 336 Simmel, Georg 314 Simrock, Karl 204 f. Sokrates 7 – 9, 37, 166 Sophokles 156 f., 236, 238, 355 Spinoza, Baruch de 68, 116 Stadelmann, Rudolf 100 Staël, Germaine de 267 Stoll, Heinrich Alexander 43 Strada, Famianus 251 f. Strauß, Johann 313 Strauss, Richard 313 Strodtmann, Adolf 262 Sulzer, Johann Georg 94 Suppé, Franz von 278

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Personenregister

Sybel, Heinrich von 18 Szymanowska, Maria 174 T Tasso, Torquato 89 Taylor, Brook 94 Teniers, David 239 Terrasson, Jean 249 Thaer, Albrecht von 346 Thiess, Frank 34 Thomasius, Christian 53 Thukydides 5 – 7, 81, 99, 129 f., 135, 157, 200, 257, 273 Tieck, Ludwig 224, 345 Tolstoi, Leo 336 Träger, Claus 127 Trakl, Georg 34 Treitschke, Heinrich von 31, 179 f., 325 f., 328 – 330, 338 Trump, Donald J. 2 f., 5, 8 Trunz, Erich 164, 175 U Uden, Konrad Friedrich 59 Ungern-Sternberg, Alexander von 41, 43 V Vierhaus, Rudolf 15, 84 f., 87, 90 Virchow, Rudolf 326, 334 f. Vischer, Friedrich Theodor 131 Vitruv 92 Voltaire 24, 69, 134 f., 167, 172 W Waetzoldt, Wilhelm 47 Wagenaar, Jan 251 – 254 Wagner, Richard 204, 328 Wallace, Lew 336 Wallenstein, Albrecht von 142 Walther von der Vogelweide 204 f. Walzel, Oskar 251

Weber, Max 288 Wegele, Franz Xaver von 78, 134, 148 Wegelin, Jakob Daniel 24, 134 f., 137 f., 149, 216 f., 223, 307, 332 Weiße, Christian Felix 241 Werner, Zacharias 224 White, Hayden 15, 46, 52, 101, 182, 238, 352 Wieland, Christoph Martin 75, 91, 94, 148, 231, 240 Wieland, Ludwig 240 Wienbarg, Ludolf 303 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 81, 326 Wilhelm I., Deutscher Kaiser 212 Wilhelm II., Deutscher Kaiser 212 Wilson, W. Daniel 62, 161 f., 168 Winckelmann, Johann Joachim 21 – 23, 25, 88, 97 – 100, 103, 118 – 120, 126, 142, 160, 165, 181, 307, 325, 330 Winterfeldt, Hans Karl von 273 Witkop, Philipp 250 Wolf, Friedrich August 51 f., 170 Wolfram von Eschenbach 204 Wood, Robert 170 Würtenberg, Gustav 179 – 181 Y Yorck von Wartenburg, Ludwig 347 Young, Edward 57, 91 Z Zedler, Johann Heinrich 55 Zenge, Wilhelmine von 229 Zeune, Johann August 205 Zick, Gisela 252 Ziegler, Klaus 175 Zieten, Hans Joachim von 273 Zola, Émile 348 Zschokke, Heinrich 240 Zuckerberg, Mark 4