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German Pages 558 Year 2015
Mark-Georg Dehrmann Studierte Dichter
Historia Hermeneutica Series Studia
Herausgegeben von Lutz Danneberg Wissenschaftlicher Beirat Christopf Bultmann · Fernando Domínguez Reboiras Anthony Grafton · Wilhelm Kühlmann · Ian Maclean Reimund Sdzuj · Jan Schröder Johann Anselm Steiger · Theo Verbeek
Band 13
Mark-Georg Dehrmann
Studierte Dichter
Zum Spannungsverhältnis von Dichtung und philologisch-historischen Wissenschaften im 19. Jahrhundert
DE GRUYTER
ISBN 978-3-11-037495-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-036920-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039277-7 ISSN 1861-5678 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston Satz: Konrad Triltsch, Print und digitale Medien GmbH, Ochsenfurt Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Für Sophia
Inhalt Erste Worte zum Problem des letzten Wortes
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I
6 Grundlinien und Konfliktpotentiale 6 Beschreibung eines Kampfes Der Dichter und sein Schatten – Nabokovs wahnsinniger 6 Philologe Liebesentzug – Verriss und Satire 11 Ich ist ein Anderer – Die Konstitution des Deutungswürdigen 14 18 Gelehrte Dichter Fragen 20 22 Ungeliebte Philologie – Zur Forschung Konfliktlinien im 19. Jahrhundert – Die philologisch-historischen 29 Wissenschaften ‚Philologie‘? ‚Germanistik‘? ‚Geschichte‘? – Die philologisch30 historischen Wissenschaften im Studium Historische Fundamentalwissenschaft – Philologie oder 43 Geschichte? (Boeckh und Droysen) 59 Historismus und philologisch-historische Wissenschaften Konkurrenz um den ‚Volksgeist‘ 67 Genialität und Gelehrsamkeit – Die Dichter und die philologisch80 historischen Wissenschaften 80 In, um und gegen die Fakultät – Die Geschichte der Dichter 95 Genialität und Geschichte ‚Leben geben‘ – Darstellung als Kunst 106 Die Dichter der Gelehrten – Zum Poesieverständnis der 109 philologisch-historischen Wissenschaften Ursprungspoesie in der Moderne 112 Melancholie und Chance der Philologen – Distanz, Reflexion, 119 Verstand 124 Neue Blütezeit und Epigonentum Dichterische Selbstreflexion (Prutz) und Sprechverbot für die Wissenschaft (Grillparzer) – Die Möglichkeit einer modernen 130 Dichtung
II
Friedrich Schlegels Revolutionen 135 Der Philologe in der Moderne – Schlegels Studium-Aufsatz 140 Was ist „Studium“?
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VIII
Inhalt
Die Antike als Ganzes – Der Gegenstand des Studiums 142 Das Bedürfnis erzeugt seinen Gegenstand – Zum idealistischen Grund der Hermeneutik 147 151 ‚Zueignung‘ Kritische Avantgarde 153 159 Konzertierte Aktion – Nach dem Studium-Aufsatz Wandlungen der Kritik – Das Kalkül der Formen 163 163 Ironie Dialog 166 Fortgesetzte Revolutionen 173 177 Anch’io son poeta Der schlechte Dichter Lessing 177 Antike und Moderne in Schlegels Lyrik 181 192 Aischyleische Moderne – Das Drama Alarcos Imagination einer Tradition – Das Roland-Epos 204 217 Gescheiterte Revolution – Zusammenfassung
III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung 220 Diaskeuast des Nibelungenliedes, Mentor des Nationaldichters – Friedrich Heinrich von der Hagens philologische 222 Rollenfiktionen 224 Friedrich August Wolf und der deutsche Alexandrinismus Der Philologe als Diaskeuast – Hagen und das 230 Nibelungenlied Kampf um den modernen Nationaldichter: Hagen, Karl Ernst 239 Schubarth – und Goethe Philologisches Nachspiel 249 ‚Die moderne Kunst kann niemals absolut vollkommen sein‘ – Naturpoesie, moderne Dichtung und philologische Autorschaft bei den 251 Grimms 254 Epische Autopoiesis Abdrücke 264 Naturpoesie und Kunstpoesie – Die Debatte mit Achim von 269 Arnim Philologische Praxis als moderne Autorschaft 273 275 a Edition b Kommentar und Deutung 277 c Märchen 282
Inhalt
IX
Die Kette der Tradition – Dichtung und philologisch-historische Wissenschaft bei Ludwig Uhland 297 297 Dichterphilologie Dichterische Reflexionsfiguren – Nibelungenlied und Walther von 301 der Vogelweide 311 Symbiose der Zeiten und Sängerfluch – Uhlands Gedichte Zusammenfassung 323
325 IV Vom Detail zur Ganzheit der Geschichte – Zum historischen Roman Eine doppelbödige Freundschaft – Joseph Victor von Scheffels Ekkehard 329 und die philologisch-historischen Wissenschaften Privatdozent und Proletarier? 331 Waltharius – Das philologische Problem und seine poetische 335 Lösung Ekkehard – Der Roman als Kommentar 341 Waltharius und Nibelungenlied – Adolf Holtzmanns 346 Epostheorie Transformation von Tradition – Vergil und die italienische 350 Renaissance Auferstehung der Toten – Scheffels Programmatik des historischen 356 Romans Verdichtete Geschichte 359 364 Divination und Einfühlung 367 Wie die Geschichte sich selbst erzählt – Stifters Witiko 367 Der ‚gebräuchliche‘ historische Roman Stifter und das Epos 371 Im Kampf mit der Individualität – Stifters Briefe an Gustav 377 Heckenast Historisches „Mitleben“ – Stifter, die Quellen und die Historiogra380 phie Franz Palackys Kataloge und Wiederholungen – Epos als Geschichte, Geschichte 389 als Epos Mündlichkeit und Schriftlichkeit 397 Das kommende Lied – Stifters ‚Nibelungenforschungen‘ 401 406 Leben im Präsens – Der Leser und die Geschichte Stifters Komposition 419 423 Zusammenfassung
X
V
Inhalt
Nietzsches Destruktionen 425 Antiidealistische Philologie 433 433 Disjunktionen – Wir Philologen 438 a Missverständnis des Altertums b Missverständnis der Gegenwart 439 441 c Missverständnis des Selbst Wissenschaft und historisch-kritische Methode 443 449 Das ‚Problem aller Cultur‘ Die Aporie von Erkennen und Schaffen 454 ‚Auslegung‘ – Die doppelte Optik eines neuen Schreibens 471 Das neue Regime Perspektivwechsel 471 ‚Zarathustra‘ – Schreiben und Maske 474 480 Das Heilige Buch Verkündigung – Genealogie der Moral 489 495 Lesen und gelesen werden – Zusammenfassung
VI Literaturverzeichnis 498 Zur Zitierweise 498 Abgekürzt zitierte Literatur 498 Nietzsches Schriften Quellen 500 514 Forschung Personenregister
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Erste Worte zum Problem des letzten Wortes „For better or worse, it is the commentator who has the last word“¹ – so schreibt ein fiktiver Literaturwissenschaftler in Vladimir Nabokovs Roman Pale Fire. Er macht weidlich Gebrauch von seinem Vorteil. Der Kommentar ist eine Form, in der die Philologie ihre Macht ausübt – Macht über Texte, über deren Autoren, aber, in wechselndem Maße, auch über Öffentlichkeit und Nachwelt, die Text und Kommentar zur Kenntnis nehmen mögen. Diese ‚Macht der Philologie‘² (Hans Ulrich Gumbrecht) soll hier nicht beschworen, sondern analysiert werden. Denn ein Machtanspruch fordert Reaktionen. Ihn zu akzeptieren, ist nur eine von vielen möglichen – aber eine unwahrscheinliche dort,wo sich die Macht durch einen sekundären Akt ergibt,wie es bei dem Beispiel des Kommentars der Fall ist. Kann der Autor akzeptieren, dass das letzte Wort nicht er behält, auf dessen Rede sich doch der Kommentar bezieht? Die Beziehungen von Dichtung und den Wissenschaften, die ihrer Deutung gelten, sind vielfältig; selten aber entfalten sie sich ohne Spannungen. Solchen Spannungsverhältnissen gilt die folgende Untersuchung. Sie widerspricht der in der Germanistik immer noch gerne gehegten Auffassung, die Wissenschaftsgeschichte der philologisch-historischen Fächer vollziehe sich in einem Raum, der von der eigentlich interessierenden Dichtung bzw. der Kultur abgetrennt sei. Der Begriff des ‚Spannungsverhältnisses‘ ist dabei bewusst offen gehalten. Er umfasst einerseits Kämpfe oder Konkurrenzen. Auf der anderen Seite gehen Dichtung und philologisch-historische Wissenschaften oft genug von gemeinsamen Fundamenten aus. Sie können im Bereich eines geteilten Sachwissens liegen, aber ebenso auf der Ebene gemeinsamer Begriffe von Dichtung oder Geschichte. ‚Spannung‘ entsteht nicht zuletzt aus solchen Ambivalenzen; mitunter entlädt sie sich offen, oft genug aber auch verdeckt. Die Untersuchung richtet ihren Blick auf das 19. Jahrhundert. Hier bilden sich die Philologien im modernen Sinne heraus. Dies geschieht innerhalb eines größeren disziplinären Komplexes, der sich auf die Geschichte und die Überlieferung insgesamt richtet – dem, was hier als ‚philologisch-historische Wissenschaften‘ bezeichnet wird. An ihrem Horizont erscheint der Begriff der ‚Geisteswissenschaften‘, wie er sich am Ende des 19. Jahrhunderts konsolidiert. Das Grundproblem spannungsreicher Verhältnisse zwischen Dichtern und ihren Interpreten
Vladimir Nabokov: Pale Fire. A Novel. New York 1962. Hier zitiert nach der Ausgabe der Everyman’s Library, New York 1992, S. 28 f. Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten. Frankfurt am Main 2003.
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reicht jedoch, wie das Beispiel Nabokovs zeigt, über das 19. Jahrhundert hinaus. Es wirkt bis in unsere Gegenwart hinein. Dennoch sollen im Zentrum der Analyse vor allem die spezifischen Koordinaten stehen, die das 19. Jahrhundert prägen. Die Arbeit will dabei verschiedene Varianten dieses Spannungsverhältnisses herausarbeiten. Allgemeine Linien des Konfliktes sollen hervortreten, gleichzeitig aber gilt es, die individuelle Komplexität sichtbar zu machen, in denen sich das genannte Problem entfaltet, nicht zuletzt durch close readings ausgewählter Quellen. Die Untersuchung geht daher vom Allgemeinen zum Besonderen. Im ersten, einleitenden Kapitel werden zunächst grundsätzliche Probleme skizziert, die das Verhältnis von Dichtung und Philologie prägen. Das Beispiel Nabokovs dient dazu, eine Konstellation vorzustellen, deren Geltung nicht spezifisch auf das 19. Jahrhundert beschränkt ist (Kap. I.1.). Es folgt eine Skizze, die Grundkoordinaten dieses Jahrhunderts entwerfen soll. Hier wird – so holzschnittartig, wie es eine allgemeine Darstellung mit sich bringt – die problematische Konstellation historisch präzisiert (Kap. I.2.). Dazu gehört zunächst, den Begriff der philologisch-historischen Wissenschaften zu umreißen. Darüber hinaus werden universitäts- und bildungsgeschichtliche Grundlagen gelegt, Schlaglichter auf Elemente des Geschichtsdenkens geworfen, Problemfelder wie ‚Nation‘ umrissen und Konzeptionen von Geschichtsschreibung und Dichtung skizziert. August Boeckh und Gustav Droysen dienen dabei als zentrale Beispiele, insgesamt aber geht es um Umrisslinien dessen, was man – wohlverstanden – als ‚Historismus‘ bezeichnen kann. Ein Abriss über die Verflechtungen von Dichtung und philologisch-historischen Wissenschaften soll schließlich beispielhaft die Genese von Spannungsverhältnissen in diesem allgemein erschlossenen Feld vorführen (Kap. I.3.). Die weiteren Kapitel richten sich auf einzelne Autoren und konkrete Konstellationen. Friedrich Schlegel bildet den Anfangs-, Nietzsche den Endpunkt der Untersuchung. An Schlegel lassen sich Grundkonstellationen eines hermeneutischen Denkens präzisieren, die das Jahrhundert insgesamt prägen. Darüber hinaus bietet er als philologisch-historischer Wissenschaftler (Kap. II.1. und 2.) und Dichter (Kap. II.3.) ein aufschlussreiches Beispiel für die Spannungsverhältnisse, die sich zwischen beiden Tätigkeiten ergeben. Nietzsche dann, dem das abschließende Kapitel der Arbeit gilt, unterzieht die Grundannahmen dieses Geschichtsdenkens einer radikalen Kritik. Auch wenn er historisch nicht das ‚Ende des Historismus‘ markiert, so entwickelt er doch ein Denken und eine gleichzeitig philologische wie dichterische Schreibpraxis, die die Koordinaten des philologisch-historischen Denkens im 19. Jahrhundert fundamental in Frage stellt. Zwischen Schlegel und Nietzsche geht die Arbeit zwei Grundfragen nach. Kapitel III betrachtet die Spannungsverhältnisse aus der Perspektive der philo-
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logisch-historischen Wissenschaften. Denn die Philologen bleiben keineswegs ‚unter sich‘. Sie erschließen Gegenstände und Wissensräume, die insgesamt als zentral für das Leben der Zeit angesehen werden bzw. werden sollen. Damit aber beanspruchen sie Positionen in dem gleichen kulturellen Prozess, in dem sich auch die Dichtung positioniert. Und sie bringen sich selbst zur Dichtung der Gegenwart in Stellung, sei es, dass sie sie beeinflussen wollen, sei es, dass sie deren Möglichkeiten in Frage stellen, auf die Gegenwart wirken zu können. Auch der Dichterphilologe ist in dieser Konstellation eine aufschlussreiche Figur, denn er muss die Spannungen, die sich vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Denkens ergeben, in seinen unterschiedlichen Praktiken austragen. Beispielhaft wird erstens Friedrich Heinrich von der Hagen vorgestellt, einerseits mit seiner ‚Erneuung‘ des Nibelungenliedes vor dem Hintergrund von Friedrich August Wolfs Homer-Hypothese (Kap. III.1.1. und 2.). Andererseits soll sein Versuch analysiert werden, Goethe für seine Projekte zu vereinnahmen, ihn mittels seiner Anleitung zum Nationaldichter der Deutschen zu machen (Kap. III.1.3.). Die Brüder Grimm entwerfen dann zweitens einen Begriff von Dichtung und Kultur, der auf einem historischen Bruch zwischen Moderne und Vergangenheit beruht. Ihre Trennung zwischen alter, mündlicher, ‚göttlicher‘ Naturpoesie und moderner, individuell beschränkter, artifizieller Kunstpoesie besitzt eine polemische Spitze. Sie richtet sich gegen die zeitgenössische Dichtung und markiert kulturelle Ansprüche der philologisch-historischen Wissenschaften in der Gegenwart. Der Abschnitt geht der Epostheorie der Brüder Grimm nach (Kap. III.2.1. und 2.), dann Jacob Grimms Debatte mit Achim von Arnim, der sich nicht zu Unrecht provoziert fühlte (Kap. III.2.3.); schließlich soll beispielhaft gezeigt werden, wie die Grimms als Herausgeber selbst eine verschwiegene Autorschaft ins Werk setzen, die die eigentlich wertvollen, alten Texte wieder in die Gegenwart bringt (Kap. III.2.4.). Protagonist des dritten Unterkapitels ist der Dichterphilologe Ludwig Uhland. Als Philologe setzt er sich mit den gleichen Themen auseinander wie die Grimms, ergreift jedoch Positionen, die deren radikale Trennung von Natur- und Kunstpoesie unterlaufen. Seine Philologie will die Dichtung der Vergangenheit und der Gegenwart vermitteln (Kap. III.3.1. und 2.). Sie ermöglicht es ihm nicht zuletzt auch, als Dichter kulturelle Ansprüche zu formulieren, was er wiederum in Dichtungen tut, die ihrerseits philologisch-historisch informiert sind (Kap. III.3.3.). Das IV. Kapitel wendet sich zwei Dichtern zu. Um zu verdeutlichen, wie die Dichtung philologisch-historische Ansprüche stellen kann, wurde hier beispielhaft der historische Roman ins Zentrum gerückt. Joseph Victor von Scheffels Erfolgsroman Ekkehard (Kap. IV.1.) positioniert sich einerseits zu den Ansprüchen der zeitgenössischen Historiographie, indem er sich dezidiert als Medium für die historische Erkenntnis in Stellung bringt. Gegenstand von Scheffels Roman ist
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jedoch nicht nur die Zeichnung eines historischen Panoramas; vielmehr will er die Genese eines Textes darstellen, der zu den frühesten überlieferten Zeugnissen für den Nibelungenkreis zählt: das Waltharilied aus dem 10. Jahrhundert. Er führt daher nicht nur eine Debatte mit der zeitgenössischen Historiographie im engeren Sinne, sondern auch mit den philologischen Positionen zur Epengenese. Es kann nicht verwundern, dass auch er mit den Grimms kollidiert. Adalbert Stifters Witiko steht im Zentrum des zweiten Unterkapitels (Kap. IV.2.). Der Roman entwirft eine historische Dichtung, die sich dezidiert vom Erfolgsmodell des historischen Romans absetzt, wie es Walter Scott geprägt hat. Die scheinbar erratische Gestalt des Witiko konturiert sich ebenfalls vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Verständnisses vom Epos, hier nun vor allem der Homer-Forschung. Eine eingehende Analyse des Erzählverfahrens soll dabei zeigen, dass Stifter sich gleichzeitig zu den zeitgenössischen Theorien von philologisch-historischer Erkenntnis positioniert. Sein Roman inszeniert im Leseprozess eine Erkenntnisbewegung, wie sie die philologisch-historischen Wissenschaften in Bezug auf die Geschichte anstreben. Stifter will nichts weniger, als die Geschichte selbst zu ‚vertexten‘. Den Abschluss der Arbeit bildet, wie bereits erwähnt, Nietzsche. Als Philologe ist er mit den Positionen und Ambitionen seiner Vorgänger und Zeitgenossen wohl vertraut. Aber sein radikales Denken unterläuft systematisch deren metaphysische Fundamente. Es tut dies aber nicht etwa, indem Nietzsche von der Philologie und der Geschichte abließe. Vielmehr entwickelt er seine Analysemethode dezidiert aus den Praktiken der philologisch-historischen Wissenschaften (Kap. V.1.). Das Spannungsverhältnis zwischen diesen Wissenschaften und der Dichtung rückt damit in neuer Form in sein eigenes Schreiben ein: als Gegensatz von (analytischer, philologisch-historischer) Zerstörung und Notwendigkeit eines (quasidichterischen) Neuschaffens. Die Aporie, die sich für Nietzsche hier ergibt, versucht er zu lösen, indem er sein Schreiben einem neuen Regime unterwirft (Kap. V.2.). Es entfaltet eine Dynamik, die sich zwischen dem neuschaffenden Sprechen und dessen Auslegung ergibt. Nietzsche entfaltet ein Maskenspiel, in dem er sein eigener ‚Dichter‘ wird, gleichzeitig aber auch sein eigener Ausleger. Die Arbeit ist so angelegt, dass die Kapitel nur Beispiele für das bieten können, worauf es ihr ankommt. Dass man manchen Autor vermissen mag, ist vielleicht nicht nur ein Mangel, sondern auch ein Beleg für die Relevanz der Fragestellung. Denn folgte man der Hypothese der Arbeit, dann wäre die Spannung zwischen Dichtung und Philologie bzw. philologisch-historischen Wissenschaften ein Moment, das moderne Dichtung – und in je unterschiedlichen Konstellationen vielleicht die abendländische Dichtung insgesamt – konstitutiv prägt. ***
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Danken möchte ich allen, die durch Ermunterung, Anregungen, Kritik, Korrekturen und manches andere zu dieser Studie beigetragen haben, allen voran meinem Vater Hans-Otto Dehrmann, Sophia Young Eun Ko und Alexander Košenina, darüber hinaus Thomas Anz, Tobias Brücker, Héctor Canal, Michael Gamper, Harald Haferland, Vinzenz Hoppe, Christoph König, Philipp Müller, Alexander Nebrig, Hermann Patsch, Carlos Spoerhase, Martin Vöhler, Daniela Voss und Rachel Zuckert. Lutz Danneberg danke ich für die großzügige Aufnahme in die Reihe Historia Hermeneutica, Maria Zucker und Angelika Hermann vom Verlag Walter de Gruyter für die freundliche Betreuung.
I Grundlinien und Konfliktpotentiale 1 Beschreibung eines Kampfes 1 Der Dichter und sein Schatten – Nabokovs wahnsinniger Philologe Die Spannungen zwischen der Dichtung und den ihr gewidmeten Wissenschaften sind kein Phänomen, das sich auf das 19. Jahrhundert beschränkte.Vielmehr bildet sich im 18. Jahrhundert eine Konstellation heraus, die – in Grundzügen, dabei aber vielfach modifiziert – bis in die Gegenwart fortwirkt.³ Um die jeweiligen Dynamiken dieser Spannungen zu erfassen, gilt es freilich, die spezifischen Koordinaten freizulegen, in denen sie sich historisch vollziehen. Eine grobe Skizze der Gedankenfigur kann aber verdeutlichen, worum es in den folgenden Untersuchungen gehen wird. Um deren Grundzüge sichtbar zu machen, mag ein Blick in das 20. und 21. Jahrhundert geeignet sein. Vladimir Nabokov kannte das Problem in vielen seiner Facetten. Mehrere seiner Romane gelten den Beziehungen des Dichters zu seinem Schatten, demjenigen, der sich professionell mit seinen Werken auseinandersetzt. Aber einer buchstabiert dieses spannungsvolle Verhältnis insbesondere aus. Pale Fire (1962) ist eigentlich ein Gedicht in vier Cantos und 999 Versen. Es wurde von dem großen amerikanischen Autor John Francis Shade in den letzten zwanzig Tagen vor seinem Tod geschrieben. Gerahmt ist das Gedicht durch eine Einleitung des Herausgebers Charles Kinbote und einen Stellenkommentar, der den Umfang des Gedichtes um ein vielfaches übertrifft. Ein Index erschließt den gesamten Text auf eine zumindest scheinbar kunstgerechte Weise. Shade ist tot. Und zu dem Gedicht eines toten Dichters gehört derjenige, der es an das Tageslicht der Öffentlichkeit gibt. In Nabokovs Roman wird er, der angelsächsischen Begriffstradition entsprechend, als critic bezeichnet. Bekanntlicherweise hat sich dort, anders als in Deutschland, nie die Bezeichnung der ‚Philologie‘ durchgesetzt. Auch das Verständnis des critic ist entsprechend nicht deckungsgleich mit dem des ‚Philologen‘. Aber diese kulturellen und terminolo-
Die Verschiebungen von einer Kultur der Kritik zu einer der Philologie beschreibt in einer Langzeitperspektive Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George. Berlin, New York 2007.
1 Beschreibung eines Kampfes
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gischen Unterschiede fallen bei dem, worauf es ankommen soll, nicht ins Gewicht.⁴ Mit der Arbeit des critic beginnen in Pale Fire die Probleme. Was dem Leser zunächst als ein Akt editorischer Liebe und Hingabe erscheint, ist, so erfährt er aus der Einleitung Kinbotes, Ergebnis eines Kampfes. Denn der Herausgeber musste sich erst des begehrten Manuskriptes versichern, das ihm andere critics streitig machen wollten. Nach dem Tod des großen Shade bedrängten Konkurrenten die Witwe. Kinbote aber hat sich mit dem Manuskript an einen abgelegenen Ort verfügt. Nicht nur weil er Literaturwissenschaftler ist, so erfahren wir in der Einleitung, eignet er sich besonders als posthumer Herausgeber, sondern vor allem, weil er Shade schon im Leben gut kannte. Der spätere Editor und der Dichter waren Nachbarn. Und abends,wenn Shade in der Stube saß, konnte Kinbote durch das Fenster beobachten, wie der Dichter, in einem Buch lesend, seinen Fuß sachte im „secret rhythm of mental absorption“⁵ wippte. Die Intimität mit dem Dichter macht Kinbote zu seinem rechtmäßigen Deuter. Und freilich ist nicht nur der Fuß das Medium dieser Intimität, sondern Shade hat dem Freund auch allerhand Details über das entstehende Werk mitgeteilt. Aus seinem Munde weiß Kinbote etwa, dass das Gedicht nicht unabgeschlossen überkommen ist, wie manche anderen critics behaupten. Es liege vollendet und autorisiert da. Der Herausgeber Kinbote besitzt ein Wissen über die Intention des Gedichtes, wie es seinen Konkurrenten, die eben nicht Nachbarn und Freunde des Dichters waren, abgehen muss. Es ist, nach Kinbote, ein besonderes Wissen über den Gegenstand und seinen Urheber, das ihn zur Herausgabe prädestiniert. Diese Intimität mit dem Dichter besitzt kein anderer. Aber das Problem, von dem eingangs die Rede war, besteht nicht nur, ja, nicht einmal in erster Linie in der Konkurrenz, in die verschiedene mögliche Herausgeber zueinander treten, wenn sie es darauf abgesehen haben, jeder auf seine Weise liebend, philologisch demselben Gegenstand zu dienen. Die
Hier sei nur auf die neuere Untersuchung von Gary Day verwiesen (Literary Criticism. A New History. Edinburgh 2008, S. 2 f.). In seiner weiten, historisch fundierten Bestimmung von criticism zählt er fünf Elemente auf: die „evaluation“ („how works are judged“) und „explanation“ von Werken („how they are determined to be genuine, how they are interpreted, glossed and put into context“), die Bestimmung der Wirkungen von Literatur (als „way of organising the emotions“), die Entwicklung von Literaturkonzepten („conceptions of literature“); schließlich fasst er criticism selbst als „self-expression“ des critic („criticism as a form of autobiography“). Das letzte spielt im deutschen Verständnis von Philologie oder Literaturwissenschaft bekanntlich kaum eine Rolle. Bezeichnend für den englischsprachigen Raum ist, dass James Turner jüngst die ‚Philologie‘ als ‚vergessenen‘ Urprung der ‚humanities‘ rekonstruieren kann: ders.: Philology. The Forgotten Origins of Modern Humanities. Princeton 2014. Nabokov, Fire, S. 23.
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I Grundlinien und Konfliktpotentiale
Konkurrenz der Deutungen, die ihre Vorstufe im realen Kampf um den Nachlass des Autors hat, ist nur ein untergeordneter Teil der wirklichen Spannungen, die sich in Kinbotes Edition ergeben. Schon bei der Lektüre des Vorwortes beschleicht den Leser ein seltsames Gefühl. Freilich: Kinbote bietet allerhand Informationen, die sein Metier fordert. Er beschreibt das Manuskript und seine Überlieferung, skizziert dessen Entstehung und posthumes Schicksal. Er hat ein Nähe-Wissen über den Dichter, und die Nachwelt mag dankbar sein, wenn er es ihr mitteilt. Aber ist es wirklich nur der uninteressierten Überlieferung ephemerer Informationen geschuldet, wenn er Kinbotes Aussehen als das eines „fleshy Hogarthian tippler of indeterminate sex“ beschreibt; und wenn er insbesondere dessen „misshapen body, that gray mop of abundant hair, the yellow nails of his pudgy fingers, the bags under his lusterless eyes“⁶ heraushebt? Zu Kinbotes Amt gehört es dabei wohl auch, dass er auf sich selbst eingeht, wenn es seine besondere Autorität als Beobachter und Zeuge erfordert. Ist es nicht ein Glücksfall für die Überlieferungsgeschichte, dass der Literaturwissenschaftler Kinbote, aus seinem fernen, europäischen Heimatland Zembla vertrieben, sein amerikanisches Exil just in nachbarlicher Nähe zu dem großen Dichter Shade findet? Aber was soll man sich dabei denken, wenn Kinbote etwa seine Lieblingsphotographie von Shade beschreibt – und dabei dem hinfälligen Dichter einen Halbsatz widmet, um dann zu sich selber überzugehen?⁷ Hier blitzt bei dem Leser ein Verdacht auf, der, wenn er sich weiter in die Edition begibt, schnell zur Gewissheit wird. Kinbotes Kommentar wird nicht nur mehr und mehr zu einem Bericht über seine Heimat Zembla und sein Exil, er enthüllt auch nach und nach, dass es sich bei seinem Verfasser gar nicht um einen critic handle. Hinter dieser angenommenen Maske verberge der Exilierte seine eigentliche Identität: Er sei niemand geringerer als der vertriebene König jenes unruhigen kleinen Landes Zembla. Und nicht nur der Paratext zum bedeutenden Gedicht füllt sich mit Kinbotes eigener Autobiographie. Denn das Nahverhältnis, in dem er sich zu Shade befand, hat die Geschichten der beiden verflochten. Und so enthüllt der Kommentar, dass das Gedicht nichts weniger sei als eine verkappte
Alles ebd., S. 26. „In this color snapshot taken by a onetime friend of mine, on a brilliant spring day, Shade is seen leaning on a sturdy cane that had belonged to his aunt Maud (see line 86). Im am wearing a white windbreaker acquired in a local sports shop and a pair of lilac slacks hailing from Cannes. My left hand is half raised – not to pat Shade on the shoulder as seems to be the intention, but to remove my sunglasses […]; and the library book under my right arm is a treatise on certain Zemblan calisthenics in which I proposed to interest that young roomer of mine who snapped the picture.“ Ebd.
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Dichtung über die Verwerfungen, die sich in Zembla und im Exil um den König herum ergeben haben. Shade ist gewissermaßen zum Hofdichter des exilierten Regenten geworden, und das Gedicht hat keinen anderen Gegenstand als seinen scheinbaren Kommentator. Der Dichter hat im Kritiker ein Double, das sich nach und nach mittels seiner Praxis in den Vordergrund drängt und den Dichter Shade dorthin schiebt, wo er, seinem Namen nach, schon immer stand: in seinen Schatten. Indem er die Praktiken von Dichtung und Philologie ins Werk setzt, ‚erzählt‘ Nabokovs Roman von einem Machtkampf zwischen beiden. Und es bleibt offen, wer ihn am Ende gewinnt. Kinbotes philologische Energie erscheint dem Leser freilich schnell als ungut; aber die letzten Worte seines Vorwortes bleiben in gewisser Weise auch das letzte Wort zu dem spannungsvollen Verhältnis, das der Roman inszeniert: Let me state that without my notes Shade’s text simply has no human reality at all since the human reality of such a poem as his (being too skittish and reticent for an autobiographical work), with the omission of many pithy lines carelessly rejected by him, has to depend entirely on the reality of its author and his surroundings, attachments and so forth, a reality that only my notes can provide. To this statement my dear poet would probably not have subscribed, but, for better or worse, it is the commentator who has the last word.⁸
Nabokov kannte das Problem, von dem im Folgenden die Rede sein wird. Und er war mit ihm auf eine Weise vertraut, die Pale Fire nicht bloß zur Satire auf einen ‚übergriffigen‘ Philologen macht. Das Interesse des Romans ergibt sich nicht zuletzt durch den Gewaltakt Charles Kinbotes. Der vielleicht wahnsinnige Literaturwissenschaftler entfaltet im Medium des Kommentars eine phantasmagorische Faszinationskraft. Die Rezeption von Pale Fire zeigt, dass Kinbote erfolgreich war. Seine Person, seine Version des Sinns, seine Evokation Zemblas sind es, die die realen critics beschäftigen. Nabokov war dabei auch mit der Seite des critic vertraut. Er hatte in langjähriger Arbeit – während der auch Pale Fire entstand – Puschkins Eugen Onegin übersetzt und in einem tausendseitigen Kommentar erschlossen⁹ – einem Kommentar, der akribisch, vom Gedicht ausgehend, Puschkins Welt rekonstruiert. Diese Welt ist in gewisser Weise auch Nabokovs eigene: das vorrevolutionäre Russland. Mit ihr endete seine Jugend, begann das Exil seiner Familie und damit sein Schriftstellertum. Der Puschkin-Kommentar ist einer von Nabokovs Versu-
Ebd., S. 28 f. Eugene Onegin. A Novel in Verse. In Four Volumes, by Aleksandr Pushkin. Translated from the Russian, with a Commentary, by Vladimir Nabokov. New York 1964.
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I Grundlinien und Konfliktpotentiale
chen, diese Welt in der Erinnerung zum Sprechen zu bringen. Kinbote ist auch eine Figuration Nabokovs selbst. Aber die Übergriffigkeit des critic war Nabokov auch von ihrer anderen Seite her bekannt. Nachdem er sich in Amerika als einer der großen Autoren in englischer Sprache etabliert hatte, stand er im steten Clinch mit den Kritikern und Literaturwissenschaftlern. Sein spannungsvolles Verhältnis zu Edmund Wilson ist nur ein besonders plastisches Beispiel dafür. Der Kampf betraf die Deutungen seiner Werke, ja, man könnte sagen: die Deutungshoheit.¹⁰ Die Bewegung der Deutung gilt dem Autor und seinem Werk. Aber der Sinn des Schreibens und des Geschriebenen liegt tiefer als das Geschriebene selbst, der Geist ist nicht mit dem Buchstaben identisch. Diese tiefere Schicht ist für den Sinn zentral. Der Autor findet sich auf den eigentlichen Kern seines Schreibens hin entblättert. Seine Äußerungen werden zu Zeichen eines ‚eigentlichen‘ Sinns, der ihm selbst nicht zugänglich ist. Erst der Blick des Kritikers, seine Hermeneutik, stößt zu diesem Kern hin. Der Autor findet sich entthront zugunsten einer Sinndynamik, die sein Schreiben eigentlich regle. Dabei setzt diese Praxis etwas voraus, was dem Autor eigentlich schmeicheln sollte. Er und seine Werke sind dem Literaturwissenschaftler unendlich wertvoll – nicht anders erklärt sich die Mühe, die dieser in ihre Deutung investiert, nicht anders motiviert sich seine Geste, die aus dem Meer der Phänomene gerade dieses Werk und diesen Autor herausgreift und sie zu bemerkenswerten Objekten erklärt.¹¹ Hier zeigt sich das ambivalente Verhältnis, in dem Dichter und critic, Autor und Literaturwissenschaftler zueinander stehen. Für diesen ist der Autor der verehrte Gegenstand, dem er sein eigenes Schreiben widmet. Er bringt ihm Interesse und Mühe entgegen, kanonisiert ihn mit seinem Deutungsakt. Seine sekundäre Rede stattet ihn mit kulturellem Kapital aus: Es lohne sich, über diesen Autor zu sprechen. Und dass dies so sei, gründe in der Qualität des Werkes; es fordere die deutende Tätigkeit heraus und stimuliere sie.¹² Gleichzeitig aber muss Die psychoanalytische Literaturwissenschaft war Nabokov insbesondere ein Dorn im Auge, und er ließ keine Gelegenheit aus, gegen den „Viennese Quack“ zu polemisieren, wie er Freud mit Vorliebe nennt: so etwa in Speak Memory (15, 2) oder in einem Interview für Life vom 20. November 1964 (Strong Opinions, 4), so auch in seinen Vorlesungen in Cornell – vgl. die Anekdoten bei Brian Boyd: Vladimir Nabokov. Die amerikanischen Jahre 1940 – 1977. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 337 und S. 468. Zur Genese und Funktion dieser Art von ‚verstehender‘ Philologie, zu ihrem Zusammenhang mit dem Werk- und Autorbegriff vgl. Martus 2007. Zur Vorstellung von der Dunkelheit des klassischen Werkes, das die „Fähigkeiten des Interpreten grundsätzlich übertrifft“, vgl. Carlos Spoerhase: Die ‚Dunkelheit‘ der Dichtung als Herausforderung der Philologie. In: Konzert und Konkurrenz. Die Künste und ihre Wissenschaften im
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die Rede des Literaturwissenschaftlers plausibel machen, dass sie eine Eigenleistung ist. Sie lässt etwas sichtbar werden, was sich im Werk verbirgt, aber vorerst nur ihm deutlich geworden ist. Für die Öffentlichkeit – und sei es zunächst die der Wissenschaft – muss die Explikation zum Werk hinzutreten, damit dieses adäquat verstanden werden kann.¹³ Die kritische Rede dient dem Werk, aber ohne diesen Dienst bliebe das Werk unverstanden. Sie ist ein Supplement, das notwendig zum Werk hinzutreten muss, um es zum Sprechen zu bringen. Freilich ist es in der Regel nicht die Intention des Deuters, das Werk zu ersetzen. Aber seiner Geste bleibt diese Ambivalenz eingeschrieben. Ihr wohnt die Zwiespältigkeit des Herr-Knecht-Verhältnisses inne. Wer herrscht eigentlich, wenn der Herr doch den Knecht braucht, um überhaupt Herr zu sein? Charles Kinbotes madness, der Amoklauf seiner Deutung, zeigt gewiss eine extreme Version der Dynamik, die sich aus diesem Verhältnis ergibt. Sie legt aber ein strukturelles Problem frei, das sich nicht einfach auflösen lässt. Es ist konstitutiv für das spannungsvolle Verhältnis zwischen dem Dichter und dem Philologen. Auch von der Seite des Dichters her gestaltet sich die Lage nicht einfacher. Denn der Dichter braucht das kulturelle Kapital, das sein deutender Diener ihm verschafft. Aber gleichzeitig muss der Dichter darauf bestehen, dass die sekundäre Rede sein Werk nicht auf- und ablösen kann, dass es sich durch sie niemals auch nur annähernd erschöpfen ließe.¹⁴ Er lädt das deutende Interesse an seinem Werk ein – aber gleichzeitig muss er es sich vom Hals halten.
2 Liebesentzug – Verriss und Satire Dichter und Literaturwissenschaftler sind aufeinander angewiesen, im Guten wie im Schlechten. Sie unterhalten eine Beziehung, die für beide notwendig ist, in der aber jede Geste ein Provokationspotential birgt. Wie dieses aussehen kann, zeigt etwa ein Schriftwechsel des Germanisten Ernst Osterkamp mit dem Dichter Durs Grünbein. In der Literaturbeilage der FAZ vom 2. Oktober 2010 hat Osterkamp die 19. Jahrhundert. Hrsg. von Christian Scholl, Sandra Richter und Oliver Huck. Göttingen 2010, S. 133 – 155, hier S. 144. Diese „Auratisierung der Forscherfigur“ beschreibt Klaus F. Gille: Die Genialität des Auslegers. Zur Geschichte und Systematik des Divinationstheorems. In: Polyperspektivik in der literarischen Moderne. Studien zur Theorie, Geschichte und Wirkung der Literatur. Hrsg. von Jörg Schönert und Harro Segeberg. Frankfurt am Main u. a. 1988, S. 168 – 193, hier S. 170. Zum unerschöpflichen Werk vgl. etwa Martus 2007, z. B. S. 477. Hermann Beisler führt die Vorstellung auf die Schlegels zurück: Die Unergründlichkeit des Werks und die Unendlichkeit der Interpretation. In: Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie. Hrsg. von Jan Schröder. Stuttgart 2001, S. 217– 248.
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römischen Gedichte Grünbeins verrissen. Die „Gereiztheit“,¹⁵ mit der er Aroma in eine Reihe mit den Werken Emanuel Geibels stellt, resultiere, wie Osterkamp schreibt, aus einer besonderen Schätzung, die er bislang für Grünbein gehegt habe. Vom Schnee halte er neben anderem für ein „Meisterwerk“. Aber gerade deshalb verwerfe er die neue „poetische[] Massenware“.¹⁶ Die Liebe für den Dichter und sein vergangenes Verdienst fordern die Destruktion des schwachen Werks. Osterkamp schreibt zwar eine Rezension und damit gewissermaßen mehr als Kritiker denn als Literaturwissenschaftler. Aber er vollführt, was auch zum Geschäft der Literaturwissenschaft gehört: Er bildet einen Kanon des Deutungswürdigen, indem er davon ausschließt, was zu leicht wiegt.¹⁷ Grünbein antwortet zwei Wochen später in einem Leserbrief.¹⁸ Er erkennt in Osterkamp den Literaturwissenschaftler. Dadurch bekommt seine Replik ihre Richtung, nämlich zunächst eine satirische: Sie öffnet mit Spott über den „lustige[n] Doktor“. Es folgt ein Argument, das auf ein „Problem innerhalb der Gelehrtenzunft“ abzielt. Der Literaturwissenschaftler gehe, wenn er Aroma kritisiere, seiner eigenen „Wunschvorstellung vom homogenen Autor“ auf den Leim. Er fordere dem Dichter neue Werke ab, aber diese müssten sich in das Bild einfügen, das jener sich in der Vergangenheit von diesem gemacht habe. Für den „schöpferische[n] Prozess“, die Entwicklung und die Entfaltung des Autors sei der Wissenschaftler blind.¹⁹ Die Kontroverse von Osterkamp und Grünbein illustriert eine andere Facette des Spannungsverhältnisses, das dieser nicht durch Scheidung trennbaren Ehe innewohnt. Fällt der Dichter hinter die Standards zurück, die der Literaturwissenschaftler deutend aus dem bisherigen Werk extrapoliert hat, dann mag dieser ihm seine Liebe entziehen. Der Dichter führt dagegen seine Freiheit ins Feld und kontrastiert sie der Unfreiheit des unschöpferischen Gelehrten. Es kann nicht darum gehen, in diesem Streit zu richten. Beide Positionen sind irreduzibel, da die Kommunikation zwischen Dichter und Literaturwissenschaftler immer auch um die Macht kreist, die mit dem Akt des Sprechens verbunden ist. Die sekundäre Rede scheint ihre Berechtigung nur aus dem primären Dichterwort zu Ernst Osterkamp: Das Jahr in der Milchschaumbucht. [Rez. von: Durs Grünbein: Aroma. Ein römisches Zeichenbuch. Frankfurt am Main 2010]. In: FAZ, Beilage Literatur, 2. Okt. 2010, S. L 8. Ebd. Zu den Unterschieden, Interferenzen und Konkurrenzen von Literaturwissenschaft und Literaturkritik im deutschen Begriffsverständnis vgl. Thomas Anz: Literaturwissenschaft und Literaturkritik. Kooperation und Konkurrenz. In: Literaturwissenschaft als kritische Wissenschaft. Hrsg. von Michael Klein und Sieglinde Klettenhammer. Wien 2005, S. 29 – 42. Durs Grünbein: Die Wunschvorstellung vom homogenen Autor [Leserbrief]. In: FAZ, 14. Okt. 2010, S. 34. Ebd.
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gewinnen; und wenn sie dessen eigentlichen, schöpferischen Kern verfehlt, verliert sie ihre Berechtigung – so die Position des Dichters. Aus der Perspektive des Literaturwissenschaftlers gesehen, hat das dichterische Wort nur dann Bestand, wenn es sich als wertvoller Gegenstand für die Auslegung bewährt. Der Dichter kann die Liebe des Literaturwissenschaftlers nur beanspruchen, wenn sein Werk die sekundäre Rede stimuliert, sich der Beobachtung würdig erweist. Grünbeins Brief zeigt, dass sich aus der Perspektive des Dichters eine Topik herausgebildet hat, um mit dieser ambivalenten Situation umzugehen: der begehrten Zumutung einer ständigen Beobachtung durch die Literaturwissenschaft. Eine bewährte Option ist die Gelehrtensatire. Hier wird die Blindheit dessen denunziert, der sich nur noch „innerhalb“²⁰ seiner ‚Zunft‘ bewege und daher gar nicht mehr erkenne, was eigentlich wichtig sei. Die Satire unterstellt dem Kommunikationspartner, sich in ein geschlossenes, abseitiges System eingekapselt zu haben. Dieses folge, der Dichtung entfremdet, eigenen Regeln und Interessen. Gleichzeitig behauptet die Satire, dass diese Blindheit nicht weiter ins Gewicht falle, denn bereits die Vorstellung, man könne sich „zum Lehrer“ des Dichters aufspielen,²¹ disqualifiziere. Der Gelehrte erscheint als Narr, komisch deshalb, weil er sich wichtig nimmt, wo er in Wirklichkeit keine Rolle spielt.²² Die Gelehrtensatire ist eine topische Strategie des Dichters, um den Zugriff des Beobachters auf das eigene Werk zurückzuweisen. Aber sie trifft einen wunden Punkt des Literaturwissenschaftlers, den man als die Melancholie des Sekundären bezeichnen könnte. Bei aller Macht, die die Philologie für sich beanspruchen mag und die Hans Ulrich Gumbrecht beschworen hat²³ – diese Macht schreibt sich von ihren primären Gegenständen her. Die eigene Rede gewinnt ihre Funktion daraus, dass sie auf das Wort eines anderen bezogen ist. Zwar hat das Wissenschaftssystem seine eigenen Regeln herausgebildet, seine eigenen Hierarchien und Unterscheidungen generiert. Aber die Produktion dieses Systems ist erstens auf eine außerhalb von ihm liegende Rede bezogen, zweitens will und muss sie auch am System der Bildung, am Bewusstsein der Öffentlichkeit teilhaben.Von anderen Segmenten der Gesellschaft her betrachtet, steht die Rede des Literaturwissenschaftlers in einer unmittelbaren Konkurrenz zu der des Dichters. Auch sie muss
Ebd. Ebd. Die unterschiedlichen Facetten des ‚gelehrten Narren‘ in der Satire beschreibt Alexander Košenina: Der gelehrte Narr. Gelehrtensatire seit der Aufklärung. Göttingen 2003. Zur Satire und zur dichterischen Polemik gegen Gelehrsamkeit bis ins 18. Jahrhundert: Gunter E. Grimm: Letternkultur.Wissenschaftskritik und antigelehrtes Dichten in Deutschland von der Renaissance bis zum Sturm und Drang. Tübingen 1998. Vgl. Gumbrecht, Macht.
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nach außen hin ihre Relevanz darstellen. Und freilich ist der Literaturwissenschaftler dem Dichter darin konstitutiv unterlegen: Er hat das zweite, supplementäre Wort. Bei aller Eigendynamik und Selbstbezüglichkeit der Wissenschaft liegt hier ein nicht zu unterschätzendes Melancholiepotential. Es muss sich nicht in einem gekränkten Narzissmus Bahn brechen, wie man ihn Charles Kinbote diagnostizieren könnte. Aber das Unbehagen ist strukturell in der sekundären Sprechsituation verankert. Den jungen Philologen Nietzsche bedrückt dies selbst noch dort, wo es um die Leistungen in Kritik und Literaturgeschichte selbst geht. Auch in der literarischen Forschung stamme alles „Schöpferische“ von „wenigen großen Genien“, die „selbst derartige Studien nicht oder wenig trieben“. Dagegen wurden „die gerühmten Werke des Gebietes von solchen verfaßt […], die des schöpferischen Funkens bar waren – diese stark pessimistischen Anschauungen, in sich einen neuen Kultus des Genies bergend, beschäftigen mich anhaltend und machen mich geneigt, einmal die Geschichte daraufhin zu prüfen“. Und er fügt hinzu: „An mir selbst stimmt die Probe“.²⁴
3 Ich ist ein Anderer – Die Konstitution des Deutungswürdigen Oben war die Rede von einer Topik, die die direkte Kommunikation von Dichtern und Literaturwissenschaftlern regelt, sie in gewisser Weise erst ermöglicht. Die Auseinandersetzung von Grünbein und Osterkamp führt beispielhaft den Störfall vor Augen. Aber es gibt natürlich auch die ‚gelingende‘ Kommunikation. Sie ist vielleicht der Regelfall, da der Literaturwissenschaftler seine kritische Funktion recht selten explizit wahrnimmt. Eher verwehrt er den Zugang zum (beispielsweise universitären und schulischen) Kanon durch Verschweigen. Auch die gelingende Kommunikation hat typische Elemente. Sie entwickelt sich dann, wenn die Liebe des Philologen zu seinem Gegenstand und Gegenüber nicht gestört wurde. Grünbeins Antwort, obwohl ablehnend, weist darauf hin, wie die Kommunikation in einem solchen Fall verlaufen könnte. Während er die „schöpferische[n] Prozesse“ seines Dichtens hier verkannt und gehemmt sieht,²⁵ wäre in einer gelingenden Kommunikation das Gegenteil der Fall. Ein typisches Beispiel bietet hier etwa das Interview, das Martin Walser am 15. Juli 2011 im Nordwestradio zu seinem Roman Muttersohn gegeben hat. Zwar agiert seine Interviewpartnerin Gabriela Jaskulla nicht als Literaturwissen-
Brief Nietzsches an Erwin Rohde, 1.–3. Feb. 1868; KGB I.2, S. 245 – 250, alle Zitate S. 248 f. So Grünbein, Wunschvorstellung, S. 34.
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schaftlerin oder Kritikerin, aber das ist nicht entscheidend. Sie lädt den Dichter zur Selbstdarstellung ein. Walser wird, wie es in solchen Situationen üblich ist, zur Entstehung und Bedeutung seines Romans befragt. Die Interviewsituation eröffnet das Redefeld der ‚Deutung‘, für das gesellschaftlich eine Reihe von Instanzen etabliert sind. Eminent fällt die Geste der Deutung in den Bereich der professionell dazu Abgestellten und Berufenen: der Literaturwissenschaftler. Und indem Walser sich im Interview auf diese Redesituation einlässt, setzt er sich in eine Beziehung zur sekundären Rede und zu denen, die für sie ‚zuständig‘ sind. Walsers Rede befindet sich dabei in einem Zwiespalt, der oben schon angesprochen wurde. Einerseits beansprucht sie eine besondere Autorität. Er ist schließlich der Autor des Werkes, und darin liegt der Grund, warum er befragt wird. Er entzieht sich den Fragen auch nicht, sondern spricht freimütig über Antriebe des Schreibens, wichtige Schichten und Dimensionen seines Werkes. Aber in dieser Deutung des eigenen Produktes gibt Walser doch nicht an, was sein Werk eigentlich ‚bedeute‘. Die Selbstdeutung darf genauso wenig wie die Fremddeutung das Werk erschöpfen. Wäre dies möglich, dann müsste man schließlich von einem verfehlten, einem unnötigen Werk sprechen, denn es ließe sich durch die sekundäre Rede ersetzen. Nicht also die Autorität des Deuters birgt eine Gefahr für das Werk, sondern die vom Sprecher unabhängige Tatsache einer sekundären Rede, die sich an die Stelle der primären setzen könnte. Es ist hier nicht entscheidend, wer deutet, sondern es geht um die deutende Rede als solche und ihr Verhältnis zum Gegenstand. Walsers Selbstdeutung etabliert eine aufschlussreiche Spaltung, die er produktionsästhetisch wendet. Nach dem Protagonisten des Romans gefragt, gibt er an, er sei „ganz unschuldig, wie immer“, zu dieser Figur gekommen: „so eine Figur fängt an, und du weißt wenig von ihr, und je länger du schreibst, desto mehr erfährst du von dieser Figur“.²⁶ Die Entstehung des Romans wird autonomisiert. Der Dichter spricht hier nicht als ‚Macher‘, sondern als einer, der die Entstehung des Werkes beobachtet hat. Als empirische Person verhält er sich selbst – und zwar konstitutiv – deutend zu dem, was er schreibt. Der primäre Akt der Produktion ist so opak und dabei so intensiv, dass er auch durch seinen Urheber nicht begriffen werden kann. Nur in einer retrospektiven Deutung lässt er sich betrachten, und auch der empirische Dichter kann erst nach und nach in den intensiven Sinn dessen eindringen, was durch seine Person hindurch Gestalt gewonnen hat. Der schöpferische Kern und der eigentliche Sinn dieser Schöpfung stimulieren die
Nordwestradio. Gesprächszeit. Martin Walser im Gespräch mit Gabriela Jaskulla (1), 15. Juli 2011. URL: http://www-origin.radiobremen.de/nordwestradio/sendungen/gespraechszeit/audio64260-popup.html [Sichtung am 8. Aug. 2011].
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Versuche, sie zu verstehen, sie lösen Deutungen aus – können aber durch diese Kommunikation niemals erschöpft werden. Die Aufteilung der eigenen Persönlichkeit ist ein zentraler Topos der dichterischen Rede über sich selbst. Der Dichter spaltet sich in einen empirischen Beobachter, der den schöpferischen Prozess erlebt und bezeugt, und in einen eigentlich schöpferischen, aber unfassbaren Kern, aus dem sich die Produktion vollzieht. Da diese Aufspaltung selbst eine Deutung ist, gibt sie die Matrix für andere deutende Zugriffe vor, die sich auf das Werk richten mögen. Der Dichter lädt zu Deutungen ein, denn mit der Eigenschaft, Kommunikation zu stimulieren, bewährt das Werk seine Qualität. Ein Werk, über das nicht gesprochen würde, wäre die eigentliche dichterische Katastrophe. Gleichzeitig aber kappt der Dichter den qualitativen Zugriff, den die sekundäre Rede zum Werk haben kann. Den Sinn kann sie nicht erfassen. Entsprechend skizziert Walser in dem Gespräch auch eine Theorie des Lesens, das das Werk notwendig verfehlen müsse.²⁷ Wäre dies nicht konstitutiv der Fall, wäre – um bei dem Eingangsbeispiel zu bleiben – nicht jeder Deuter eigentlich ein Charles Kinbote, der in das Werk des Dichters eigentlich seine eigene Biographie hineinschreibt, dann bestünde die Gefahr einer Ersetzung durch die Deutung. Am Grunde dieses Topos steht freilich die alte Vorstellung der Inspiration, die auch in der Moderne immer wieder auftaucht.²⁸ Es kann nicht darum gehen, die persönliche Evidenz eines solchen schöpferischen Erlebens zu bezweifeln; auch nicht, sie zu bestätigen. Wichtig ist vielmehr, wie ihre Annahme die Kommunikation über das Werk und seinen Produzenten strukturiert. Denn die Inanspruchnahme der Inspiration fordert, wie angedeutet, eine bestimmte Art der Kommunikation über ein Werk, die als adäquate Rede darüber nicht anders kann, als auch normativ auf den literaturwissenschaftlichen Umgang ausgreifen zu wollen. Dass dieser normative Entwurf von der (zumindest gegenwärtigen) Literaturwissenschaft nicht unbedingt angenommen wird, liegt auf der Hand. Auch dies ist eine Facette des Spannungsverhältnisses zwischen Dichtung und Literaturwissenschaft. Der Dichter kann sich sein Werk nicht durch die Rede eines „Wer liest, schreibt den Roman, den er liest. Ich sage auch immer, die Leute lesen nicht meine Bücher, sondern ihre Bücher. […] Die Leute glauben, sie schreiben mir über mein Buch, aber sie schreiben über sich.“ Nordwestradio. Gesprächszeit. Martin Walser im Gespräch mit Gabriela Jaskulla (2), 15. Juli 2011. URL: http://www-origin.radiobremen.de/nordwestradio/sendungen/ gespraechszeit/ audio64262-popup.html. [Sichtung am 8. Aug. 2011]. Vgl. Bernd Kositzke: [Art.] Inspiration. In: HWRh 4 (1998), Sp. 423 – 433; insgesamt, mit Schwerpunkt auf der Moderne (seit Klopstock): Axel Gellhaus: Enthusiasmos und Kalkül. Reflexionen über den Ursprung der Dichtung. München 1995. Beispielhaft zu Rilke: Verf.: Die widerständige Apostrophe. Göttliche Autorschaft in Rilkes Sonetten an Orpheus. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 127 (2008), S. 557– 572.
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anderen aus der Hand nehmen lassen. Das gilt aber umgekehrt auch für den Literaturwissenschaftler. Auch seine Interpretation darf nicht ersetzbar sein, nicht durch die Selbstdeutung des Dichters, nicht durch dessen Auffassung davon, was Interpretation eigentlich sei; und auch nicht durch das Werk selbst, durch die Auffassung etwa, dass dieses, adäquat aufgefasst, nur ganz für sich alleine stehen dürfte. Der Literaturwissenschaftler muss darauf bestehen, dass seine Deutung eine erschließende Kraft hat.²⁹ Die Figur der Inspiration trennt den empirischen Autor von seinem Werk. Diese Trennung birgt potentielle Verwerfungen. Aber auf der anderen Seite ermöglicht sie eigentlich erst die Literaturwissenschaft. Denn genau diese Auratisierung liefert dem Literaturwissenschaftler eine mögliche Legitimation für sein eigenes Tun. Die Liebe und die Aufmerksamkeit, die er in das Werk investiert, sind gerechtfertigt, weil dem Gegenstand eine besondere Wichtigkeit zukommt. Formalisiert betrachtet, impliziert die Inspirationsvorstellung, dass sich durch den Dichter etwas ausspricht, das gerade nicht nur für ihn als Individuum Bedeutung beanspruchen kann, sondern darüber hinausreicht. Und nur einem solchen Gegenstand, der sich nicht auf die bloß zufällige Individualität beschränkte, käme zu Recht die interpretatorische Aufmerksamkeit zu. Freilich hat diese Vorstellung für beide Parteien eine unterschiedliche Funktion. Für den Dichter, wir haben es gesehen, bietet sie die Möglichkeit, sein Werk vor Deutungsansprüchen zu schützen. Für den Literaturwissenschaftler dagegen entzieht sie wiederum die eigenen Deutungen dem möglichen Einspruch des empirischen Dichters. Denn wenn im Schreiben dieses Dichters etwas sichtbar wird, ohne dass der empirische Dichter privilegiert darüber verfügen könnte, dann ist der wissenschaftliche Zugriff gerechtfertigt: Er ist gefordert, es sichtbar zu machen. Dies muss gerade nicht bedeuten, den empirischen Dichter bzw. seine Individualität aus dem Fokus der Deutung zu rücken, wie der hermeneutische Grundsatz zeigt, nach dem die Deutung den Dichter besser verstehen könne und müsse, als dieser selbst es tut. Das Bedeutende kann in der Individualität des Dichters sichtbar werden, in den Werken als verzeitlichten Ausdrücken ihrer Entwicklung. Aber dann ist der Sinn dieser Individualität dem Dichter selbst entzogen.³⁰
Ihm dies abzusprechen, ist eine der Thesen von George Steiner: Von realer Gegenwart (engl. 1989). München 1990. Vgl. zum zentralen Gedanken, dass der Interpret den Dichter besser verstehe als dieser selbst, bei und seit Friedrich Schlegel: Ernst Behler: What it Means to Understand an Author Better than He Understood Himself. Idealistic Philosophy and Romantic Hermeneutics. In: Festschrift in Honor of René Wellek. Hrsg. von Joseph P. Strelka. Berlin 1984, S. 69 – 92; Beisler 2001, S. 237.
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Entscheidend ist nicht so sehr, welche Gegenstände als Träger dieser höheren Bedeutung identifiziert werden, sondern vielmehr die Tatsache, dass sie auf die beschriebene Weise verfasst sind. Diese Struktur kommt zum Tragen, sobald die Annahme greift, in einem Werk oder einem Dichter zeige sich etwas, das über ihn als Individuum hinaus von Bedeutung sei – gleich, ob sich durch einen Dichter ein Göttliches ausspreche, ob in ihm ‚die Natur‘ sichtbar werde, ob in seinem Werk ‚das Schöne‘ zur Darstellung komme oder ob in seiner Individualität oder in der spezifischen Struktur seiner Werke etwas Paradigmatisches zutage trete. Die Deutung kann beanspruchen, durch die Erscheinung hindurch auf das ‚Eigentliche‘ zuzugreifen. Der, der das Medium dieser Erscheinung selbst ist, kann dies nicht, es sei denn wiederum nur in einer Deutung.
4 Gelehrte Dichter Kehren wir noch einmal zu Walser zurück, um eine weitere Facette unseres Problems sichtbar zu machen. Der Inspirationstopos – auch in seiner modernisierten Form – lässt den empirischen Dichter selbst zum Deuter werden. Dies war der Preis für die Auratisierung des Werkes und die Abspaltung eines produktiven – aber nicht intelligiblen – schöpferischen Teils des Ich. Indem der Dichter sein Werk auf diese Weise deutet, beansprucht er dessen Deutungswürdigkeit. Er zeigt damit, dass er die Praxis der Deutung als adäquaten Umgang mit einem Werk erstens akzeptiert und dass sie ihm zweitens vertraut ist. Als Deuter nimmt er einen Blick an, der eigentlich der literaturwissenschaftliche wäre. Seine Deutung simuliert den Zugriff des Anderen auf das eigene Werk. Insofern wird der Dichter nicht nur durch den Literaturwissenschaftler beobachtet, sondern er beobachtet gleichzeitig sich selbst, indem er die Perspektive seines Gegenübers antizipiert. Diese Antizipation muss einem Werk nicht explizit eingeschrieben sein, wie es etwa – um bei Walser zu bleiben – bei seinem Tod eines Kritikers der Fall wäre, der sich bewusst und polemisch mit diesem Blick des Anderen auseinandersetzt.³¹ Vielmehr vollzieht sich die Faktur der Werke, die Selbstinszenierung bei Auftritten, die ‚Nachrichtenpolitik‘ eines Autors insgesamt in Bezug auf die Instanzen, die ihn beobachten. Die Literaturwissenschaft wäre freilich nur eine davon, neben ihr stehen die Zeitungskritik, die Verlage, die Leser insgesamt oder die ‚Öffentlichkeit‘. Aber die Literaturwissenschaft ist ein bedeutendes Segment. Sie ist nicht nur deshalb eng mit dem Dichter verbunden, weil sie Deutung als Profession betreibt. Sondern die Autoren sind in vielen Fällen selbst durch philologisch-literatur-
Martin Walser: Tod eines Kritikers. Roman. Frankfurt am Main 2002.
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wissenschaftliche Ausbildungen gegangen. Nicht jeder ist darin so weit fortgeschritten wie Walser, der als Germanist mit einer Arbeit über Kafka promoviert wurde³² – wobei auch der Dichter mit Doktortitel keine Seltenheit ist. Nicht jeder wird, wie Nabokov, selbst philologische Editionen vorgelegt und Universitätsvorlesungen gehalten haben.³³ Aber seit sich vom 19. Jahrhundert an die Philologien und literaturwissenschaftlichen Disziplinen nach und nach als eigenwertige Studienrichtungen etabliert haben, ist der Anteil derer hoch, deren literarische Ambitionen sie zunächst zu diesen Fächern führten. Auch die Schulausbildung – wie auch immer praktisch-rhetorisch oder, später, didaktisch geprägt – bot und bietet Modelle für einen Umgang mit Literatur, der am professionell-wissenschaftlichen Umgang mit Literatur an den Universitäten teilhat. Die Antizipation des deutenden Blicks auf das eigene Werk resultiert generell aus der allgemeinen Struktur einer Kultur, in der Literatur eine hohe Bedeutung zugeschrieben wird, die sich gerade mittels ihrer Deutung aktualisiert. Sie folgt im Besonderen aus einer oft intimen Kenntnis der philologisch-literaturwissenschaftlichen Ansprüche, Methoden, Fragen und Praktiken. Es stellt sich die Frage, wie diese Kenntnisse in das Werk eingehen, und zwar in ein Werk, das auf der anderen Seite spezifisch geprägt ist durch die Position des Dichters, wie sie oben skizziert wurde. Das Spannungsverhältnis, wie es bisher entwickelt worden ist, sei kurz resümiert. Dichter und Literaturwissenschaftler wären demnach aneinander gebunden. Das Verhältnis prägt sich nicht symmetrisch aus, sondern es folgt einem Modell, das der Logik von Herr und Knecht ähnelt. Der Literaturwissenschaftler gewinnt seine Bedeutung durch den Dichter, der sein Gegenstand ist, der Dichter aber dadurch, dass er seinerseits be-sprochen wird. Beide müssen ihre kommunikative Beziehung fördern, gleichzeitig aber darauf bestehen, dass ihre jeweils eigene Rede eine irreduzible Funktion behält. Dabei tendieren beide Sprechakte dazu, auf die Kommunikation des anderen auszugreifen. Das Supplement, das der Literaturwissenschaftler zum Werk liefert, mag versuchen, dem Autor sein Werk in Form des Sinns zu entziehen. Der Autor wiederum, der diesen Sinn produziert, kann die supplementäre Rede steuern oder negieren wollen. Der Literaturwissenschaftler beobachtet dabei den Dichter. Dieser wiederum beobachtet sich selbst und außerdem, wie er von dem Literaturwissenschaftler beobachtet wird. Beide beobachten die Gegenstände, die im Werk zum Ausdruck
Martin Johannes Walser: Beschreibung einer Form. Versuch über die epische Dichtung Franz Kafkas. Diss. Universität Tübingen 1951. Nabokov lehrte von 1941 bis 1948 am Wellesley College und von 1948 bis 1958 an der Cornell University. 1952 war er visiting lecturer in Harvard; vgl. Fredson Bowers: Foreword. In: Vladimir Nabokov: Lectures on Literature. San Diego u. a.1982, S. VII.
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kommen, also jenen Sinn, der vom Werk produziert wird. Der Literaturwissenschaftler hat dafür spezielle Werkzeuge. Sie reichen von Theorien darüber, was Literatur und Schreiben eigentlich seien, bis hin zu Praktiken des Umgangs mit Texten, beispielsweise Interpretation, Edition, Literaturgeschichte. Der Dichter, der auf diese Weise studiert wird, hat oft seinerseits studiert. Er kennt diese Theorien, Methoden und Praktiken, wie sie sich einerseits auf Literatur insgesamt richten und kulturelle Bedeutsamkeit konstituieren, andererseits ihn selbst in den Blick nehmen.
5 Fragen Das Spannungsverhältnis von Dichtung und Literaturwissenschaft erschien bisher als eines, das sich zwischen generalisierten Typen ergab: dem Dichter und dem Literaturwissenschaftler. Der Aufriss dieses Verhältnisses war holzschnittartig. Es galt, idealtypisch einige Schwierigkeiten zu skizzieren, die sich in der Kommunikation zwischen zwei aufeinander bezogenen Akteuren ergeben können. Aus diesem Modell folgt eine Reihe von Fragen, die den Untersuchungshorizont der Studie umreißen. Der erste Komplex von Fragen betrifft den Befund, dass der Dichter zum Gegenstand des Literaturwissenschaftlers wird. Die Deutung muss das zu Deutende für sich, in ihrer Sprache und mittels ihrer Methoden konstituieren. Grünbeins Kritik an Osterkamp, dass er ein Bild vom „homogenen Autor“ habe, zeigt dies. Auf welche Weise wird also der Dichter zu einem solchen Gegenstand? Und was geschieht, wenn der Dichter diesem Bild nicht entspricht, nicht als würdiger Gegenstand für die Deutung erscheint? Die Literaturwissenschaft hat hier eine doppelte Macht. Denn sie entscheidet, was zu diesen Gegenständen zählt und durch welche Fragen und Techniken man sie erschließt. Sie priorisiert bestimmte Phänomene und marginalisiert andere. Wie verhält sich wiederum der Dichter zu dieser Gegenstandskonstitution als einem Akt der Deutung und auch der kanonbildenden Macht? Sie birgt, es wurde schon gesagt, für den Dichter gleichzeitig einen Nutzen und eine Zumutung. Welche Rolle spielt er innerhalb der Gegenstände, die die Literaturwissenschaft konstituiert? Wie steht etwa seine Individualität zu einer Geschichte der Literatur, deren Subjekt ‚das Schöne‘, ‚die Poesie‘ oder auch ‚die Literatur‘ in ihrer historischen Entwicklung wäre? Wie verhält sich in der literaturwissenschaftlichen Gegenstandskonstitution der Dichter der Gegenwart zu einer Literaturgeschichte, deren Vergangenheit paradigmatischen, kanonischen Wert beanspruchen kann? Und wie nimmt der Dichter zu dieser konstituierten Vergangenheit Stellung, deren gegenwärtiger Grenzposten er mit seinem ‚schöpferischen Vermögen‘ gleichsam ist? Wie können sich die Modernität,
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die Aktualität und die Spontanität, die er beansprucht, als paradigmatisch erweisen für eine Gegenwart, die erst in der Zukunft zur gedeuteten, sinnvollen Vergangenheit geworden sein wird? Muss der Dichter nicht selbst einen historischen Blick auf sich richten, um sich als bedeutsam für eine Zukunft zu konstituieren? Auch hier wäre dem Akt des Dichters der literaturwissenschaftliche Blick bereits eingeschrieben. Der zweite Fragekomplex geht von dem Befund aus, dass die Gegenstandskonstitution von Faktoren abhängt, die notwendig normativ sind. Dies kann ein Literaturbegriff sein, der bestimmte Dinge ein- und andere ausschließt. Er mag qualitativ operieren (und etwa Trivialliteratur von hoher Literatur, Originales von Epigonalem unterscheiden), aber auch formal (indem er etwa bestimmte Textgattungen einbezieht und andere ausschließt). Die Gegenstandskonstitution hängt aber auch von Faktoren ab, die andere Aspekte und/oder Systeme der Gesellschaft betreffen. Die Frage, was Literatur sei, betrifft auch diejenige nach ihrer Bedeutung für die Gesellschaft. Welche Funktion erfüllt sie hier bzw. welche Funktion soll sie erfüllen? Das wirkungsmächtige Horazische Diktum des prodesse et delectare wäre ein altes Beispiel für eine solche Funktionsbestimmung. Es ist zwar poetisch-kritischer Natur, legitimiert Dichtung aber gerade durch einen Wert, den sie in Bezug auf den Leser gewinne. Bedeutend ist ein Werk, wenn es in bestimmter Weise auf das lesende Publikum wirken kann. Die Vorstellung, dass Literatur zur Bildung des Individuums unerlässlich sei oder dass sie zu kritischer Reflexion anrege, wären andere Antworten auf die Frage nach ihrer Legitimation. Solche Funktionsbestimmungen mögen in eminenter Weise für Literatur in Anspruch genommen werden. Aber auch die Literaturwissenschaft hat Teil an ihnen: Sie kann sich auf die gleiche Zweckbestimmung richten, indem sie zum rechten Verständnis der Werke anleiten oder den in ihnen geborgenen Sinn freisetzen will, damit er sich in der Öffentlichkeit entfalten könne. Wie also haben Literaturwissenschaft und die Literatur selbst Teil an dieser Funktion, die beiden ihr gesellschaftliches Ansehen sichert? Auf welche Weise beanspruchen beide, der Dichter und der Literaturwissenschaftler, diese Teilhabe? Und wo entstehen Reibungen und Konkurrenzen in Bezug auf die gesellschaftliche Funktion? Ein dritter Komplex von Fragen richtet sich auf die Interaktionen von Literaturwissenschaft und Dichtung auf den Ebenen des Werkes und der Vorstellung davon, was ein Dichter sei. Diese Interaktionen können die Gestalt des Werkes, die Frage seiner Werkförmigkeit betreffen. Was wäre ‚ein Werk‘? Wie bestätigen oder unterlaufen Dichter die Erwartungen, die die Literaturwissenschaft an sie richtet? Die Interaktionen können aber auch die Ebene der Werkproduktion selbst betreffen. Wenn Dichtung und auch ihre Deutung sich auf bestimmte Gegenstände richten, die kulturelle Bedeutsamkeit beanspruchen, dann stellt sich die Frage, wie diese Gegenstände jeweils erschlossen werden. Die Literaturwissenschaft ist
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darauf spezialisiert. Wie gehen ihre Praktiken, Methoden und Techniken in die dichterischen Werke ein, die ebenfalls mit solchen Gegenständen arbeiten? Wie tragen beispielsweise philologische Techniken der Texterschließung und -deutung zur Gestalt einer Dichtung bei, wenn sie sich mit Gegenständen auseinandersetzt, die solche Techniken erfordern, um als Gegenstände überhaupt vor Augen treten zu können? Neben den philologischen Techniken zur Erschließung solcher Gegenstände steht, nur idealiter davon trennbar, das ‚sachliche‘ Wissen von diesen Gegenständen. Wie geht dieses in die dichterischen Werke ein? Die Interaktionen zwischen Literaturwissenschaft und Dichtung auf der Ebene der Praktiken und des Wissens (im Sinne von ars und scientia) bleiben jedoch nicht einseitig. Keineswegs liefert der Literaturwissenschaftler bloß Material, das der Dichter dann verarbeitet. Denn er tut dies in einem anderen Modus, der eben gerade nicht innerhalb der Wissenschaft steht: der Dichtung. Damit aber reflektiert er gleichzeitig die Deutungsansprüche der Wissenschaft auf ihre Gegenstände. Diese Reflexion kann sich zu einer Konkurrenz auswachsen, denn vielleicht wird gerade nicht der wissenschaftliche Umgang mit den gemeinsamen Gegenständen für adäquat erklärt, sondern vielmehr der dichterische. Dichtung kann schließlich selbst Erkenntnisansprüche formulieren, ihr ‚eigenes‘ Wissen beanspruchen. Wie also markieren sowohl Literaturwissenschaft wie auch Dichtung ihre Ansprüche auf dritte Gegenstände, die beiden gemeinsam sind?
6 Ungeliebte Philologie – Zur Forschung Das so allgemein wie typisiert skizzierte Spannungsverhältnis von Dichtung und Literaturwissenschaft bildet den Rahmen für die vorliegende Studie. Die Fragen nach ihren Beziehungen berühren eine Vielzahl von Problemen und Phänomenen: institutionelle Bedingungen, die Interaktion von gesellschaftlichen Instanzen, die Verfahren von kultureller Kommunikation und gesellschaftlicher Sinnproduktion; sie schließen kulturarchäologische Probleme ein wie die Entstehung und Funktionsweise von Autorschaft, Werk- und Literaturbegriff, richten sich auf die Wissens- und Wissenschaftsgeschichte der Moderne und ihre Verstrebungen mit der Literatur. Schließlich betreffen sie die Faktur der dichterischen Werke selbst. Das Pensum, das diese Fragen aufgeben, ist gewaltig und ohne Frage zu groß, um in einer einzelnen Studie bewältigt werden zu können. Es gilt, zu spezifizieren. Das Erkenntnisinteresse der Arbeit richtet sich insbesondere auf den letzten Punkt: die Frage, wie das Spannungsverhältnis von Dichtung und philologisch-historischen Wissenschaften im Werk selbst, insbesondere in dichterischen Werken, zum Tragen kommt, und zwar im 19. Jahrhundert. Die Konzentration auf die Faktur von Werken – im Sinne von Einzelwerken und Werkreihen von Autoren – optiert für die
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Erschließung von individuellen Fällen und Konstellation. Das Problembewusstsein, wie es auf den vorhergehenden Seiten umrissen wurde, grundiert die Fragen, die an die Texte und Autoren gestellt werden sollen. Dieses Verfahren mag sich der Schwungkraft einer großen Synthese begeben, die bekanntlich vieles überblickt – aber dabei auch manches übersehen muss. Sein Anspruch wäre jedoch, zu zeigen, wie die beschriebene Konstellation für die Deutung gerade von literarischen Werken fruchtbar gemacht werden kann – ja, wie sie vielleicht sogar fruchtbar gemacht werden muss, wenn es um die Literatur vom späteren 18. Jahrhundert an geht.³⁴ Muss sich nicht Dichtung verändern, die entsteht, während sich Instanzen herausbilden oder herausgebildet haben, die erstens dem wissenschaftlichen Umgang mit ihr gelten, zweitens sich aber auch auf Gegenstände und gesellschaftliche Funktionen richten, die sie mit der Literatur gemeinsam haben? Die Notwendigkeit, zumindest die moderne Dichtung in ihren Interaktionen mit den philologisch-historischen Wissenschaften zu verstehen, wurde schon im 19. Jahrhundert formuliert. Theodor Danzel (1818 – 1850) beispielsweise plädiert in einem Aufsatz zur Behandlung der Geschichte der neueren deutschen Literatur dafür, diese „zugleich als eine Geschichte der Kritik und Ästhetik dieses Zeitraumes“ zu behandeln.³⁵ Und Michael Bernays (1834– 1897) spricht in seiner Edition der Briefe Goethes an den Klassischen Philologen Friedrich August Wolf von den „Einwirkungen“, die „unsere Poesie, zur Zeit, da ihre Kräfte in der reichsten Entfaltung begriffen waren, von der Philologie“ empfing. Er formuliert zwei Fragen, die die Grenze zwischen Dichtungs- und Wissenschaftsgeschichte einziehen: „[W]elche Stellung gebührt dem Philologen innerhalb der deutschen Literatur?“; und habe nicht „gar eine heilsame Wechselwirkung zwischen deutscher Poesie und Philologie stattgefunden“? Gleichzeitig werten diese Fragen auch Bernays’ eigenes Metier auf. Sie machen es ‚geschichtswürdig‘.³⁶ Um ein letztes –
Für die Beziehungen von Dichtung und Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit seien zwei vorzügliche Arbeiten herausgehoben: Gunter E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung. Tübingen 1983; Ralph Häfner: Götter im Exil. Frühneuzeitliches Dichtungsverständnis im Spannungsfeld christlicher Apologetik und philologischer Kritik (ca. 1590 – 1736). Tübingen 2002. Theodor Danzel: Über die Behandlung der Geschichte der neueren deutschen Literatur. In: ders.: Zur Literatur und Philosophie der Goethezeit. Gesammelte Aufsätze zur Literaturwissenschaft. Hrsg. von Hans Mayer. Stuttgart 1962, S. 286 – 294, hier S. 294. Zuerst in: ders.: Gesammelte Aufsätze. Hrsg. von Otto Jahn. Leipzig 1855, S. 197– 202. Michael Bernays: Einleitung. In: Goethes Briefe an Friedrich August Wolf. Hrsg. von dems. Berlin 1868, S. 1– 89, alle Zitate S. 1. Das Verhältnis von Goethe und Wolf ist auch später öfter analysiert worden; beispielsweise: Manfred Riedel: Zwischen Dichtung und Philologie. Goethe und Friedrich August Wolf. In: ders.: Kunst als ‚Auslegerin der Natur‘. Naturästhetik und Her-
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und, zeitlich gesehen, frühestes – Beispiel zu nennen: Friedrich Schlegel konzipiert die Geschichten der Dichtung, die er mehrfach in seinem Leben schreibt, jeweils ebenfalls als solche der Interaktion von Dichtung und Kritik bzw. Philologie (vgl. Kap II.1.6). Es gehört zu den Gemeinplätzen der Germanistik, dass die sogenannte Romantik nicht nur zeitlich mit der Entstehung der modernen philologisch-historischen Wissenschaften, insbesondere der Deutschen Philologie, zusammenfällt, sondern beide tief miteinander verbunden sind. Auf diese Einsicht kann man in einer neueren Einführung in die Romantik³⁷ genauso stoßen wie beispielsweise in Josef Körners Untersuchung zu den Nibelungenforschungen der deutschen Romantik von 1911.³⁸ Erstaunlicherweise ist die Germanistik jedoch nur selten dem systematischen Befund nachgegangen, den dies impliziert: dem einer innigen Verflechtung von Literatur und Literaturwissenschaft bis in die Gegenwart. Die rege fachgeschichtliche Forschung seit den 1970er Jahren hat Bedeutendes geleistet.³⁹ Aber auch sie hat ihren Fokus meist mit dem Entwicklungsgang eingeengt, den die zunehmende Disziplinierung nahm. Nur selten wurde die Chance genutzt, die Fachgeschichte als integralen Teil der Literaturgeschichte zu verstehen. Wohl auch von daher stammt der verbreitete Eindruck, die Wissenschaftsgeschichte der Germanistik – und, weiter verstanden, der philologischhistorischen Wissenschaften – sei ein Gegenstand dritter Potenz und entsprechend uninteressant für die Öffentlichkeit oder das gegenwärtige geisteswissenschaftliche Studium. Erst in den letzten Jahren deutet sich hier ein Umschwung an: Das 19. Jahrhundert findet beim größeren Publikum auch als Zeitalter der Geisteswissenschaften Interesse. Dies belegen beispielsweise die in den letzten Jahren meneutik in der klassischen deutschen Dichtung und Philosophie. Köln u. a. 2001, S. 77– 96; Matthias Buschmeier: Poesie und Philologie in der Goethe-Zeit. Studien zum Verhältnis der Literatur mit ihrer Wissenschaft. Tübingen 2008, S. 204– 221 und S. 389 – 394; weitere Literatur unten, in Kap. IV.2., S. 374. Etwa bei Detlef Kremer: Romantik. Lehrbuch Germanistik. 3., aktualisierte Auflage. Stuttgart, Weimar 2007, S. 71– 74. Josef Körner: Nibelungenforschungen der deutschen Romantik. Leipzig 1911, etwa S. 66. An den Beziehungen der Brüder Grimm zu den Protagonisten der Frühromantik diskutiert (und bestätigt) Ralf Klausnitzer diesen Befund: „Verschwörung der Gelehrten“? Die Brüder Grimm und die Romantik. In: Zeitschrift für Germanistik NF 3 (2001), H. 3, S. 513 – 537. Herausgehoben seien hier vor allem Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Paderborn 22003; und die Bände des DFG-Forschungsprojekts zur „Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft im 19. Jahrhundert“: Wissenschaft und Nation. Studien zur Entwicklung der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp. München 1991; Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Hrsg. von dens. Stuttgart, Weimar 1994. Aus dem Projekt ist eine Reihe von anderen wichtigen Arbeiten hervorgegangen, die jeweils an ihrer Stelle zitiert werden.
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erschienenen Biographien etwa Mommsens, Schliemanns, Droysens und der Brüder Grimm.⁴⁰ Vielleicht geht es zu weit, hier ein verschwiegenes Minderwertigkeitsgefühl der Germanistik am Werk zu sehen. Aber es lüde zu Deutungen ein, dass die Literaturwissenschaft sich in den letzten Jahrzehnten für die Interaktionen von Dichtung mit allen Bereichen und Formen des Wissens interessiert hat – mit Ausnahme des Wissens, das sie selbst hervorbringt. Die Interferenzen zwischen Geschichtswissenschaft und Literatur sind schon seit einiger Zeit Gegenstand reger Debatten und engagierter Forschungen.⁴¹ Die Philologie dagegen blieb bei den Philologen meist recht ungeliebt. Mit wenigen früheren Ausnahmen wurde erst in den letzten Jahren systematisch nach den Interaktionen und Spannungsverhältnissen der eigenen Wissenschaft mit ihrem Gegenstand gefragt. Aus den früheren Studien müssen vor allem vier Arbeiten herausgehoben werden. Klaus Jeziorkowski schrieb 1979 zu Literarität und Historismus bei Gottfried Keller,⁴² Achim Hölter unterlief am Beispiel von Ludwig Tieck 1989 die scheinbare Grenze von Literaturgeschichte und Poesie,⁴³ Cornelia Blasberg schließlich beschrieb das Verhältnis von Literatur und Literaturgeschichte bei Adalbert Stifter dezidiert als eines der Konkurrenz.⁴⁴ Heinz
Stefan Rebenich: Theodor Mommsen. Eine Biographie. München 2002; Manfred Flügge: Heinrich Schliemanns Weg nach Troia. Die Geschichte eines Mythomanen. München 2001; Wilfried Nippel: Johann Gustav Droysen. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik. München 2008; Steffen Martus: Die Brüder Grimm. Eine Biographie. Berlin 2009. Hier hat freilich der provozierende Impuls von Hayden White eine große Rolle gespielt: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt am Main 1991 (engl. 1973). Aus der umfangreichen Literatur seien herausgehoben: Wolfgang Hardtwig: Die Verwissenschaftlichung der Historie und die Ästhetisierung der Darstellung. In: Formen der Geschichtsschreibung. Hrsg. von Reinhart Koselleck, Heinrich Lutz und Jörn Rüsen. München 1982, S. 147– 191; Eberhard Lämmert: Geschichten von der Geschichte. Geschichtsschreibung und Geschichtsdarstellung im Roman. In: Poetica 17 (1985), S. 228 – 254; Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760 – 1860. Berlin, New York 1996; Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hrsg.von dems. und Silvia Serena Tschopp. Berlin, New York 2002; Thomas Prüfer: Die Bildung der Geschichte. Friedrich Schiller und die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft. Köln u. a. 2002; Philipp Müller: Erkenntnis und Erzählung. Ästhetische Geschichtsdeutung in der Historiographie von Ranke, Burckhardt und Taine. Köln u. a. 2008. Klaus Jeziorkowski: Literarität und Historismus. Beobachtungen zu ihrer Erscheinungsform im 19. Jahrhundert am Beispiel Gottfried Kellers. Heidelberg 1979. Achim Hölter: Ludwig Tieck. Literaturgeschichte als Poesie. Heidelberg 1989. Cornelia Blasberg: Erschriebene Tradition. Adalbert Stifter oder das Erzählen im Zeichen verlorener Geschichten. Freiburg 1998.
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Schlaffer legte 1990 eine äußerst anregende Studie zum problematischen Verhältnis von Dichtung und Poesie vor.⁴⁵ 1980 hat bereits Günter Hess ein Forschungsprojekt zu „Dichtenden Philologen“ entworfen, das aber nicht zustande gekommen ist.⁴⁶ Erst die Arbeiten von Christoph König und Steffen Martus haben das Forschungsfeld systematisch bestellt: indem sie nach einer Dichtung fragen, wie sie sich ‚unter Philologen‘ (König zu Hofmannsthal) vollzieht,⁴⁷ oder nach der ‚Werkpolitik‘ (Martus), wie sie von Dichtern und Kritikern bzw. Literaturwissenschaftlern betrieben wird.⁴⁸ Martus entwickelt ein Analysemodell, das den Wandel der kritischen Kommunikation vor
Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewusstseins und der philologischen Erkenntnis. Frankfurt am Main 1990. Die Grundhaltung der gedankenreichen Studie kann ich jedoch nicht teilen. Sie leitet die Konkurrenzen von Dichtung und Philologie aus der Trennung beider her, die sich mit Platon und Aristoteles vollzogen habe; von da an neigt Schlaffer – pointiert formuliert – dazu, die Ansprüche der Philologie als Zumutungen zu verstehen, als beharrliche Entzauberung und Entmythisierung einer Welt, in der die Poesie keinen Platz mehr hat. Schlaffers anregende und engagierte Darstellung bezieht ihre Energie aus einem romantischen Kern, indem sie sich gleichsam auf die Seite der Dichtung schlägt. Das Projekt galt der Dichtung von Philologen im 19. Jahrhundert, also einem Teilbereich dessen, was hier infrage steht. Der Arbeitstitel lautete: „Dichtende Philologen. Zum sozial- und bildungsgeschichtlichen Kontext der Philologenlyrik im 19. Jahrhundert“. Hess reflektiert das Problem aber vor dem Hintergrund des generellen Spannungsverhältnisses von Dichtern und Gelehrten.Vgl. ders.: Minnesangs Ende. Über dichtende Philologen im 19. Jahrhundert. In: Befund und Deutung. Zum Verhältnis von Empirie und Interpretation in Sprach- und Literaturwissenschaft. FS Hans Fromm. Hrsg. von Klaus Grubmüller. Tübingen 1979, S. 498 – 525, dort S. 498 kurz zum Forschungsprojekt. Einen anregenden Aufriss des Problems bietet: ders.: Die Gelehrten und die Literatur. Zur Geschichte einer Kontroverse. In: Bildungsexklusivität und volkssprachliche Literatur. Hrsg. von Klaus Grubmüller und dems. (=Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanistenkongresses Göttingen 1985, Bd. 7) Tübingen 1986, S. 226 – 237. Christoph König: Hofmannsthal. Ein moderner Dichter unter den Philologen. Göttingen 2001. Außerdem: ders.: Wahrheitsansprüche. Goethes, Nietzsches und Hofmannsthals Ideen für eine allgemeine Philologie um 1905. In: Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900. Hrsg.von dems. und Eberhard Lämmert. Frankfurt am Main 1999, S. 44– 58; an Celan und Szondi: ders.: Nachwort. In: Paul Celan, Peter Szondi, Briefwechsel. Hrsg. von dems. Frankfurt am Main 2005, S. 107– 129. Martus 2007. Darüber hinaus seien genannt: Zeitschrift für Germanistik N.F. 17 (2007), H. 1: Schwerpunkt „Die Literatur der Literaturwissenschaft“, hrsg.von dems., darin: ders.: „In der Hölle soll sie braten“. Zur Literatur der Literaturwissenschaft mit einem Seitenblick auf Matthias Polityckis Weiberroman und die Computerphilologie, S. 8 – 27; ders.: Martin Kessel als Literaturwissenschaftler. In: Martin Kessel. Ein Autor der klassischen Moderne. Hrsg. von Claudia Stockinger und Stefan Scherer. Bielefeld 2004, S. 65 – 108; ders.: Die Geistesgeschichte der Gegenwartsliteratur. Wissenschaftliche Aufmerksamkeit für Thomas Mann zwischen 1900 und 1933. In: Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann. Hrsg. von Michael Ansel, Hans-Edwin Friedrich und Gerhard Lauer. Berlin, New York 2009, S. 47– 84.
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1800 zu einer philologischen Kommunikation danach beschreibt. Er zeigt, wie die Philologie in der Moderne eine „relevante Umwelt“⁴⁹ für das Kunstsystem darstellt und wie dies auch umgekehrt gilt.⁵⁰ Eine These der aspektreichen Arbeit lautet, dass Literatur eher als „Pendant“ denn als „Gegenstand“ von Philologie und Kritik gefasst werden müsse.⁵¹ Entsprechend zielt seine Studie auf die Beschreibung dieser Interaktionen, ohne jedoch im 19. Jahrhundert intensiver den Verwerfungen nachzugehen, die sich zwischen Dichtung und Literaturwissenschaft ergeben. Dagegen soll hier eher der Blick auf die Spannungsverhältnisse gerichtet werden, die entstehen, wenn die philologisch-historischen Wissenschaften beanspruchen, ein „Pendant“ zur Literatur zu sein – diese aber dennoch als einen ihrer vornehmsten Gegenstände fassen. Der Frage, wie philologisches Wissen und philologische Ansprüche in die Literatur eindringen, ist jüngst Matthias Buschmeier nachgegangen. Seine Studie zum Verhältnis der Literatur mit ihrer Wissenschaft richtet sich auf die Goethezeit.⁵² Buschmeier geht von Herder über Wolf, Schlegel, Ast, Achim von Arnim und Jacob Grimm auf Goethe zu, wo sein Interesse dezidiert den Dichtungen gilt, etwa dem Divan oder den Wanderjahren. Naturgemäß ergeben sich Berührungspunkte zur vorliegenden Arbeit, nicht zuletzt deshalb, weil sie die von Buschmeier und Martus entfaltete These teilt, dass die Umbrüche in dieser Zeit die Konstellationen seither prägen. Mein Schwerpunkt reicht jedoch weiter in das 19. Jahrhundert hinaus. Auch soll versucht werden, die Konstellation des 19. Jahrhunderts dadurch anders zu erfassen, dass der Blick sich nicht nur auf die ‚Philologie‘ beschränkt. Das zeitgenössische System des Wissens soll schärfer in seiner Eigengesetzlichkeit in den Blick genommen werden. Neben die verschiedenen Philologien treten die anderen philologisch-historischen Wissenschaften, nicht zuletzt die der Geschichte. Zwischen den unterschiedlichen Disziplinen ergibt sich eine weitgehende Flexibilität, die eine Unterscheidung von ‚Philologie‘ und beispielsweise Geschichtswissenschaft nicht nur schwierig macht, sondern gar nicht unbedingt als wünschenswert erscheinen lässt. Darauf wird noch einzugehen sein.
Martus 2007, S. 521. Die Philologie „realisiert den philologischen Eigensinn und erbringt damit, zumindest ihrem Selbstverständnis nach, soziale Leistungen. Diese Bewegung erweist Philologie und Poesie als wechselseitig relevante Umwelten. In ihrem Zusammenspiel entmächtigen sie die kritische Kommunikation, indem die Philologen die kritischen Aporien und ungelösten Fragen ausagieren und indem die Philologie dieses Aufkommen an subtilen und unwahrscheinlichen Kommunikationen ins Positive wendet. Das mag kontraintuitiv und unrealistisch sein, aber genau für solche Fälle ist die Philologie da.“ Martus 2007, S. 510. Martus 2007, etwa S. 496. Buschmeier 2008.
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Zur Moderne im engeren Sinn, den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, hat Alexander Nebrig eine Studie vorgelegt.⁵³ Sie untersucht die fraglichen Interferenzen unter den Bedingungen einer Germanistik, die sich endgültig als Fach und als Disziplin konstituiert hat. Diese Disziplin fühlt sich nun dezidiert auch für die neuere und Gegenwartsliteratur zuständig. Beides unterscheidet die Situation von der des 19. Jahrhunderts, wo weder die Autonomisierung gegenüber anderen philologisch-historischen Disziplinen vollzogen noch deren Verhältnis zur neueren Dichtung – geschweige denn derjenigen der Gegenwart – geklärt ist. Gerade hier aber ergibt sich im 19. Jahrhundert ein nicht geringes Spannungspotential.
Alexander Nebrig: Disziplinäre Dichtung. Philologische Bildung und deutsche Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Berlin, Boston 2013.
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2 Konfliktlinien im 19. Jahrhundert – Die philologisch-historischen Wissenschaften Die vorliegende Studie beschränkt sich auf das 19. Jahrhundert, und ihre Analysen zielen darauf, an einzelnen Autoren und spezifischen Diskussionskontexten übergreifende Konstellationen deutlich werden zu lassen. Insbesondere die eingehende Interpretation von Werken soll zeigen, wie die Spannungsverhältnisse diese selbst prägen und in Form bringen. Daher soll in einem zweiten Anlauf die spezifische Situation umrissen werden, die das 19. Jahrhundert bestimmt. Die typisierte Darstellung der schwierigen ‚Ehe‘ von Dichtung und Literaturwissenschaft, wie sie eingangs geboten wurde, liefert die strukturellen Koordinaten. Diese gilt es nun historisch zu präzisieren. Der panoramatische Aufriss soll auf einige Fragen antworten. Erstens: Wie ist der Begriff der philologisch-historischen Wissenschaften zu verstehen? Hier muss der wissenschaftshistorische Kontext umrissen werden. Der Zuschnitt von Disziplinen wie Klassische Philologie, Germanistik, Geschichtswissenschaft soll anhand ihrer institutionellen Verankerung an den Universitäten und im Studium untersucht werden, dann aber auch an den Enzyklopädie-Vorlesungen des Klassischen Philologen August Boeckh und des Historikers Johann Gustav Droysen (Kap. 2.1.). Zweitens gilt es, die Konkurrenzen nachzuvollziehen, die sich zwischen diesen Fächern in der Philosophischen Fakultät ergeben können. An Boeckh und Droysen wird deutlich, wie sich hier Reibungen um die Leitfunktion in Bezug auf die Geschichte entwickeln. Die Deutsche Philologie tritt als neuer Partner und als Konkurrent in dieses philologisch-historische Feld (Kap. 2.2.). Drittens soll grob herausgearbeitet werden, welches die ‚höheren‘ Gegenstände und Funktionen sind, auf die sich diese Disziplinen gemeinsam mit der Dichtung richten. Parzellen eines common ground werden erschlossen, auf dem die spezifischen Spannungsverhältnisse entstehen: das Geschichtsdenken des 19. Jahrhunderts, der Bildungsbegriff und der Zusammenhang beider mit der Vorstellung von einem Volksgeist (Kap. 2.3. und 4.). Viertens wird die Untersuchung nach den Bildungsgängen von Dichtern im 19. Jahrhundert fragen, um dieses Spannungsfeld auch bildungsgeschichtlich zu substantiieren (Kap. 3.1.). In einem fünften Schritt sollen Grundzüge des hermeneutisch-philologischen Denkens rekonstruiert werden, das, einen gewissen Grad der Abstraktion vorausgesetzt, bei vielen Akteuren der Zeit nachgewiesen werden kann – und dies gilt nicht nur für die Wissenschaften, sondern auch für die Dichtung. Konkurrenzen und Debatten unter Wissenschaftlern, aber auch zwischen ihnen und den Dichtern ergeben sich aufgrund der spezifischen Füllung und Interpretation dieses Paradigmas. ‚Genialität‘ und ‚Darstellung‘ sind dabei zwei Stichworte, unter denen die jeweiligen Ansprüche beispielhaft skizziert werden sollen (Kap. 3.2. und 3.). Sechstens schließlich soll das Spannungsfeld an
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weiteren Stellen vermessen werden: den Dichterbildern der Gelehrten, der Auratisierung von Naturpoesie und schließlich dem Problem der Gegenwartsliteratur im Zeitalter der ‚Epigonen‘ (Kap. 3.4. bis 8.).
1 ‚Philologie‘? ‚Germanistik‘? ‚Geschichte‘? – Die philologisch-historischen Wissenschaften im Studium Auf den vorhergehenden Seiten herrschte – zumindest scheinbar – eine Verwirrung von Begriffen, was die Bezeichnung der Disziplinen und Praktiken betraf. Es war von Philologie die Rede, vor allem von ‚Deutscher‘ bzw. von Germanistik, aber auch von ‚Klassischer‘; der Literaturwissenschaftler wurde genannt, ebenso der critic, der dem angloamerikanischen Bereich angehört und sich nicht adäquat ins Deutsche übersetzen lässt. Mitunter erschien die ‚Kritik‘ im modernen Verständnis einer beurteilenden, wenn nicht ‚verbessernden‘ Praxis, die nicht primär auf die Interpretation, sondern auf die Prüfung aktueller Werke zielt. Schließlich wurde der Begriff der philologisch-historischen Wissenschaften eingeführt, der für das 19. Jahrhundert größere Klarheit schaffen sollte. Klarheit und Deutlichkeit sind bei geschichtlich gewachsenen Phänomenen oft nur möglich, wenn der ‚Hof‘ ihrer historischen Bedeutungen ausgeblendet wird. So lässt sich die Geschichte eines modernen Phänomens erzählen, indem aus seiner Vergangenheit alles abgeschieden wird, was heute nicht mehr zu ihm zählt. Der Begriff der philologisch-historischen Wissenschaften versucht, diesen Anachronismus ein Stück weit zu unterlaufen. Er wurde notwendig,weil die Arbeit sich die Analyse bezeichnender lokaler Phänomene in einer globalen Konstellation vorgenommen hat. Da Dichtungen selbst nicht Teil der scheinbar selbstverständlich voneinander angegrenzten Disziplinen sind, lassen sie die Grenzen zwischen ihnen verschwimmen. Ein historischer Roman wie Stifters Witiko verfolgt nicht säuberlich ein ‚germanistisches‘ Argument und blendet die Geschichte aus. Alles ist in ihm vielmehr miteinander verbunden. Der Begriff der philologisch-historischen Wissenschaften soll aber nicht nur entdifferenzieren. Er plädiert auch für eine andere Sicht auf die institutionellen Zuschnitte im 19. Jahrhundert. Die modernen (und zum Teil spezifisch deutschen) Grenzziehungen zwischen heutigen Disziplinen wie Germanistik, Klassischer Philologie, aber auch ‚Romanistik‘, Anglistik, Orientalistik oder Geschichtswissenschaft können nicht einfach anachronistisch zurückgespiegelt werden, wenn es darum geht, das Denken einer anderen Zeit zu verstehen. Anders als in der Zeit ab 1900 sollten hier die Gemeinsamkeiten zwischen den Wissenschaften stärker
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gewichtet werden als ihre Abgrenzungen und Unterschiede.⁵⁴ Dies bedeutet nicht, dass es keine Spannungen und Abgrenzungsbedürfnisse zwischen Vertretern verschiedener Disziplinen und Zugriffe gibt. Sie tragen wesentlich zu der Dynamik bei, die das zeitgenössische System der Wissenschaften prägt. Aber während heute ‚Interdisziplinarität‘ revolutionär Fachgrenzen überschreiten muss, ging das 19. Jahrhundert von einer gemeinsamen Reflexion über den Umgang mit entsprechenden Gegenständen aus. Die philologisch-historischen Wissenschaften folgen – bei allen Abgrenzungsdynamiken, Unterschieden und Polemiken – einer gemeinsamen Logik.⁵⁵ Diese richtet sich fundamental auf die Erkenntnis historischer Phänomene. Darin gründen auch die zeitgenössischen Interferenzen mit der Dichtung. Wann ist ein Fach endgültig ein Fach? Vielleicht könnte man antworten: Wenn alle, die an ihm beteiligt sind, seine Abgrenzungen zu anderen Fächern akzeptieren. Entscheidend wären demnach vor allem institutionelle Faktoren: Seine Verankerung in der universitären Struktur, im Studium, wenn nicht gar an Schulen. In fachgeschichtlichen Darstellungen wird die Institutionalisierung der Fächer meist an die Etablierung von Lehrstühlen gebunden. Die Wissenschaftsgeschichte der Deutschen Philologie hat sie als wichtigen Faktor erschlossen, an dem sich die steigende Bedeutung dieses Wissensgebietes im 19. Jahrhundert,
Entsprechend bemerkt beispielsweise Nikolaus Wegmann, „daß die Unterscheidung in National- oder Bereichsphilologie zumindest in einer problemgeschichtlich orientierten Wissenschaftsgeschichte wenig sinnvoll ist.“ (Ders.: Was heißt einen ‚klassischen Text‘ lesen? Philologische Selbstreflexion zwischen Wissenschaft und Bildung. In: Fohrmann,Voßkamp [Hrsg.] 1994, S. 334– 450, hier S. 407). Alwin Diemer (Die Differenzierung der Wissenschaften in die Natur- und Geisteswissenschaften und die Begründung der Geisteswissenschaft als Wissenschaft. In: Studien zur Wissenschaftstheorie. Bd. 1: Beiträge zur Entwicklung der Wissenschaftstheorie im 19. Jahrhundert. Hrsg. von dems. Meisenheim am Glan 1968, S. 174– 223, hier S. 189) betont, dass der Begriff ‚Philologie‘ im 19. Jahrhundert zur Bezeichnung für die „verstehenden bzw. hermeneutischen Wissenschaften überhaupt werden“ kann. Vgl. auch die Hinweise von Stefan Sonderegger: Sprachgeschichtsforschung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 4 Bde. Hrsg. von Werner Besch, Anne Betten, Oskar Reichmann und dems. Berlin, New York 21998 – 2004, Teilbd. 1, S. 443 – 473, hier S. 449. Das Konzept der ‚Geisteswissenschaften‘, das im 19. Jahrhundert entsteht und um das sich Dilthey von seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften (ab 1883) an bemüht, versucht, diese gemeinsame Logik zu explizieren und festzuhalten; vgl. Manfred Riedel: Einleitung. In: Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt am Main 1981, S. 9 – 80, wobei Riedel sich für die Vorgeschichte nur auf Rudolf Haym bezieht; zur Begriffsgeschichte vgl. Alwin Diemer: [Art.] Geisteswissenschaften. In: HWPh 3 (1974), Sp. 211– 215; und ders. 1968.
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seine Etablierung als eigenes Fach und seine Emanzipation von anderen Disziplinen messen ließen.⁵⁶ An der Bedeutung von Professuren wird man nicht zweifeln können. Unter Einbezug einer Reihe weiterer Faktoren hat Uwe Meves in einem wichtigen Aufsatz dafür plädiert, von einer langsamen Institutionalisierung der Germanistik auszugehen, die erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Abschluss komme.⁵⁷ Seinem sorgfältig erhobenen Befund soll hier nicht widersprochen werden. Aber auch Meves richtet seinen Blick auf die ‚Innendimension‘ der Genese des Faches. Es gilt, seinen Befund zu ergänzen und die Verbindungen dieser ‚Germanistik‘ zu den anderen philologisch-historischen Wissenschaften zu verdeutlichen. Für die Geschichtswissenschaft hat jüngst Sebastian Manhart vorgeschlagen, die institutionelle Entwicklung des Fachs zu unterscheiden von übergreifenden disziplinär-semantischen Feldern, in denen es sich gemeinsam mit anderen Fächern bewegt. Verschiedene ‚Fächer‘ seien durch ihre Methoden und Konzepte eng verbunden: „Die Philologisierung von Teilen der Methodik, die Verwendung von hermeneutischen Konzepten wie auch die von Theorien der organischen Entwicklung und die Rede von Gesetzmäßigkeiten des staatlichen wie historischen Lebens stehen sich nicht entgegen, sondern befruchten einander.“⁵⁸ Manhart fundiert seinen semantisch-systemtheoretischen Ansatz durch ein institutionelles Argument, das das Studium betrifft. Zu einem ‚Fach‘ gehöre nicht nur die Professur, sondern auch die Studentenschaft. Erst wenn die Fachstruktur das Studium bestimme, wenn ein Fach exklusiv und eigenständig studiert werde,
Zu dieser Position mit theoretischen Reflexionen zum Disziplinbegriff: Wolfgang Höppner: Zum Selbstbild der deutschen Philologie in ihrer Frühphase im Kontext des Disziplin-Begriffs und seiner Beschreibung. In: Stil, Schule, Disziplin. Analyse und Erprobung von Konzepten wissenschaftsgeschichtlicher Rekonstruktion (I). Hrsg. von Lutz Danneberg,Wolfgang Höppner und Ralf Klausnitzer. Frankfurt am Main u. a. 2005, S. 65 – 86, hier S. 81 f. Uwe Meves: Zum Institutionalisierungsprozess der Deutschen Philologie: Die Periode der Lehrstuhlerrichtung (von ca. 1810 bis zum Ende der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts). In: Fohrmann, Voßkamp (Hrsg.) 1994, S. 115 – 203. Ein flankierender Dokumentenband ist jüngst erschienen: ders. (Hrsg.): Deutsche Philologie an den preußischen Universitäten im 19. Jahrhundert. Dokumente zum Institutionalisierungsprozess. 2 Bde. Berlin, New York 2011. Die Diskontinuität und Langsamkeit der Entwicklung betont auch Ulrich Hunger, etwa in: Die altdeutsche Literatur und das Verlangen nach Wissenschaft. Schöpfungsakt und Fortschrittsglaube in der Frühgermanistik. In: Fohrmann, Voßkamp (Hrsg.) 1994, S. 236 – 263, hier S. 239. Sebastian Manhart: In den Feldern des Wissens. Studiengang, Fach und disziplinäre Semantik in den Geschichts- und Staatswissenschaften (1780 – 1860). Würzburg 2011, hier S. 59. Ähnlich in Bezug auf die Deutsche Philologie argumentiert Höppner 2005, S. 66 – 79.
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könne man von einer vollständigen Konsolidierung sprechen.⁵⁹ Dieser Befund soll, übertragen auf die Germanistik, hier bekräftigt werden.⁶⁰ Wie also sah das Studium aus? Die Frage richtet sich auf die Funktion und Struktur der Philosophischen Fakultät. Sie hatte bekanntlich die frühere, ‚untere‘ Artistenfakultät beerbt. Seit dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit besaß sie zunächst eine propädeutische Funktion. Sie bereitete auf die höheren Studien vor, denn wer in der Trias der höheren Fächer Theologie, Jura oder Medizin studieren wollte, durchlief vorher die Künste. Aber sie selbst brachte ebenfalls Magister und Doktoren hervor, die sich nicht auf bestimmte Berufe vorbereitet hatten. Deren Ansehen, spätere Arbeitsfelder und gesellschaftliche Stellung schwankten daher erheblich.⁶¹ Um 1800 formiert sich das Selbstbewusstsein der Philosophischen
Manhart (2011, S. 62) wendet sich beispielsweise gegen Horst Walter Blanke, der von einer Konsolidierung der Geschichte als spezifischer Fachwissenschaft in der Spätaufklärung ausgeht; ders.: Historiker als Beruf. Die Herausbildung des Karrieremusters ‚Geschichtswissenschaftler‘ an den deutschen Universitäten von der Aufklärung bis zum klassischen Historismus. In: Bildung, Staat, Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Mobilisierung und Disziplinierung. Hrsg. von Karl-Ernst Jeismann. Wiesbaden 1989, S. 343 – 360, hier S. 344. Eine langsame Institutionalisierung nimmt dagegen auch Hans-Jürgen Pandel an (Von der Teegesellschaft zum Forschungsinstitut. Die historischen Seminare vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Kaiserreichs. In: Transformation des Historismus. Wissenschaftsorganisation und Bildungspolitik vor dem Ersten Weltkrieg. Hrsg. von Horst Walter Blanke.Waltrop 1994, S. 1– 31). Zur institutionellen Lage bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ausgewogen: Konrad H. Jarausch: The Institutionalization of History in 18th-Century Germany. In: Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert. Hrsg. von Hans Erich Bödeker, Georg G. Iggers, Jonathan B. Knudsen und Peter Hanns Reill. Göttingen 1986, 21992, S. 25 – 48. Soweit ich sehe, geht in der neueren germanistischen Fachgeschichtsforschung nur Holger Dainat auf das Problem der Studienverläufe ein, die freilich selten genug hinreichend dokumentiert sind. Am Beispiel von Konrad Burdach (1859 – 1936; Studium in Königsberg, Leipzig und Berlin, 1876 bis 1881/82) kommt er zu dem Befund: „Wenn die Fachgeschichtsforschung die Etablierung von Disziplinen zwischen 1830 und 1880 betont, dann lenkt die Untersuchung gleichzeitiger Studienverläufe die Aufmerksamkeit auf eine transdisziplinäre Vernetzung.“ Ders.: Im Zentrum die Lehre. Allgemeine Handlungsmuster, Angebot und Nachfrage in der Germanistik des 19. Jahrhunderts. In: Danneberg u. a. (Hrsg.) 2005, S. 151– 178, hier S. 178. Vgl. etwa: Artisten und Philosophen. Wissenschafts- und Wirkungsgeschichte einer Fakultät vom 13. bis zum 19. Jahrhundert. Hrsg. von Rainer Christoph Schwinges. Basel 1999; Arno Seifert: Das höhere Schulwesen. Universitäten und Gymnasien. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 1: 15. bis 17. Jahrhundert. Von der Renaissance und der Reformation bis zum Ende der Glaubenskämpfe. Hrsg. von Notker Hammerstein. München 1996, S. 197– 345, hier S. 204– 211. Zum 18. Jahrhundert kurz: Notker Hammerstein: Universitäten. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 2: 18. Jahrhundert. Hrsg. von dems. und Ulrich Herrmann. München 2005, S. 369 – 400, hier S. 381– 384.
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Fakultät neu.⁶² Bekannt ist Kants Stellungnahme im Streit der Fakultäten: Gerade weil die Philosophische Fakultät von einem unmittelbar verfolgten beruflichen Nutzen und einer entsprechenden staatlichen Regulierung frei sei, gerade weil hier nicht „fabrikenmäßig“ Gelehrte spezieller Fächer abgerichtet würden, komme ihr eine besondere Bildungsfunktion zu.⁶³ Kant besteht darauf, dass Universalität, wissenschaftliches Streben nach Wahrheit, Übung der Vernunft in philosophischer „Freiheit“⁶⁴ alles andere als ‚untere‘ Beschäftigungen seien. Dieses Selbstbewusstsein prägte die Philosophischen Fakultäten nach 1800 entscheidend. Es liegt dem neuhumanistischen Bildungsgedanken insgesamt zugrunde.⁶⁵ Programmatisch ging es bekanntlich in die 1810 neu gegründete Berliner Universität ein,⁶⁶ nicht zuletzt durch Wilhelm von Humboldt.⁶⁷ Ein konzeptioneller Geniestreich der Berliner Universitätsgründer war es dabei, dass es ihnen gelang, die freie Lehre und Forschung als wünschenswert auch im Sinne des staatlichen Interesses erscheinen zu lassen.⁶⁸ Denn während sich noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts kein ‚Brotberuf‘ unmittelbar mit den Philosophischen Fakultäten verband, änderte sich dies nun rasant. Sie bildeten die Lehrer für die höheren Schulen aus, zogen damit aber auch das staatliche Regelungsinteresse auf sich, das die Zugänge zum Staatsdienst kontrollieren wollte. Abiturordnungen
Vgl. etwa Notker Hammerstein: Vom Rang der Wissenschaften. Zum Aufstieg der Philosophischen Fakultät. In: Zwischen Wissenschaft und Politik. Studien zur deutschen Universitätsgeschichte. FS Eike Wolgast. Hrsg. von Armin Kohnle und Frank Engehausen. Stuttgart 2001, S. 68 – 96. Vgl. Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten (1798). In: ders.: Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Bd. 6. Frankfurt am Main 1964, S. 263 – 393, hier S. 279. Ebd., S. 282. Vgl. aus der reichen Literatur: Manfred Landfester: Humanismus und Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Untersuchungen zur politischen und gesellschaftlichen Bedeutung der humanistischen Bildung in Deutschland. Darmstadt 1988, pass., insbes. S. 30 – 44. Wie durchaus unwahrscheinlich diese Entwicklung gleichwohl war, betont Gert Schubring, wurde doch mit den Napoleonischen Besetzungen das alternative französische Modell der Spezialschulen rezipiert: ders.: Spezialschulmodell versus Universitätsmodell. Die Institutionalisierung von Forschung. In: „Einsamkeit und Freiheit“ neu besichtigt. Universitätsreformen und Disziplinenbildung in Preußen als Modell für Wissenschaftspolitik im Europa des 19. Jahrhunderts. Hrsg. von dems. Stuttgart 1991, S. 276 – 326. Zu Humboldt und seinem Wirken im Unterrichtsministerium vgl. etwa Karl-Ernst Jeismann: Das preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft. 2 Bde. Stuttgart 21996, Bd. 1, S. 313 – 358 u. ö.; Schubring 1991, S. 305 – 311. Vgl. Detlev Kopp, Nikolaus Wegmann: Deutsche Philologie, Schule, Klassische Philologie. In: Von der gelehrten zur disziplinären Gemeinschaft. Hrsg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp. DVjs Sonderheft 1987, S. 123*–151*, bes. S. 149*f.
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bestimmten die Zugangsvoraussetzungen für die Universität,⁶⁹ Prüfungsordnungen für Lehramtskandidaten steckten die Wissensfelder ab, in denen ein Gymnasiallehrer firm sein musste, um die facultas docendi zu bekommen.⁷⁰ Diese Bestimmungen greifen jedoch nur von außen in die Universitäten ein. Prüfungen finden am Schluss des Studiums statt, und zwar vor außeruniversitären, staatlich bestellten Kommissionen. In der Philosophischen Fakultät selbst herrscht dagegen eine zweifache Freiheit: Sie betrifft Lehre und Studium. Der ‚philosophische Studiengang‘ ist ein abgeschlossener Raum, in dem sich, für eine beschränkte Zeit, die emphatischen Begriffe von Freiheit und Bildung entfalten können. Der Staat will am Ende gleichsam die gereiften Früchte ernten. Die Freiheit der Lehre bedeutet, dass ‚Fachgrenzen‘ für die Professoren nicht innerhalb der Philosophischen Fakultät verlaufen, sondern nur zu den anderen Fakultäten hin. Zwar richten die Universitäten in der Philosophischen Fakultät zunehmend Lehrstühle mit spezifischen Denominationen ein. Die Instruktionen für den Aufbau der Bonner Philosophischen Fakultät an der 1818 neu gegründeten Friedrich-Wilhelms-Universität sehen beispielsweise 18 „stehende[…] Professuren“ vor.⁷¹ Daneben werden aber, wie es auch sonst üblich war, Professoren ohne
Zum Preußischen Abiturreglement von 1788 vgl. Jeismann 1996, Bd. 1, S. 107– 125; für das Preußische Gesetz zur Prüfung der Schulamtskandidaten von 1810 und das Abituredikt von 1812: Bd. 1, S. 376 – 381. Zugangsvoraussetzung zur Universität war das Abitur zunächst für diejenigen, die ein Stipendium erlangen oder ein Staatsexamen ablegen wollten. 1834 wurde das Abitur zur verbindlichen Prüfung; vgl. ebd., Bd. 2, S. 209 – 219; ders.: Das höhere Knabenschulwesen. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 3: 1800 – 1870. Von der Neuordnung Deutschlands bis zur Gründung des Deutschen Reiches. Hrsg. von dems. und Peter Lundgreen. München 1987, S. 152– 179, hier S. 155 – 157. 1870 bekamen dann in Preußen Absolventen der Realschulen 1. Ordnung Zugang zu bestimmten Fächern wie Mathematik oder neuen Fremdsprachen; vgl. James C. Albisetti, Peter Lundgreen: Höhere Knabenschulen. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 4: 1870 – 1918.Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Hrsg. von Christa Berg. München 1991, S. 228 – 278, hier S. 229. Eine Tabelle, die die Einführung von Reifeprüfungen (für den Zugang zur Universität) in den unterschiedlichen Staaten zusammenstellt, bei Hartmut Titze: Der Strukturbruch in der höheren Bildung im 19. Jahrhundert. In: Schwinges (Hrsg.) 1999, S. 351– 374, hier S. 357. Zu den bildungsgeschichtlichen Zusammenhängen vgl. Heinz-Elmar Tenorth: Lehrerberuf und Lehrerbildung. In: Jeismann u. a. (Hrsg.) 1987, S. 250 – 270; Detlev Kopp: (Deutsche) Philologie und Erziehungssystem. In: Fohrmann, Voßkamp (Hrsg.) 1994, S. 669 – 741. Für Preußen detailliert: Jeismann 1996; zum examen pro facultate docendi in der Verordnung von 1810: Bd. 1, S. 333 – 345; zur Verordnung von 1831: Bd. 2, S. 281– 300. In Bonn waren dies: 2 Professuren für Philosophie im engeren Sinne, versehen jeweils von einem katholischen und einem evangelischen Theologen; 2 für Mathematik, eine gleichzeitig für Astronomie; 2 für Klassische Philologie und „Alterthumswissenschaft“, eine davon für „lateinische Beredsamkeit“; 1 für Archäologie und Kunstgeschichte; 1 für „morgenländische Sprache und Litteratur“; 1 für „Wohlredenheit und neuere Litteratur, insonderheit die deutsche und deren
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Fachbezeichnung angestellt. Und ein spezifisch für ein Fach bestellter Professor soll zwar gewährleisten, dass eine Vorlesung in seinem Fach angeboten wird. Gleichzeitig aber muss er in seinem Gebiet Kollegien von Lehrenden mit anderen Denominationen zulassen. Umkehrt gilt dasselbe: Auch er kann ohne Weiteres „über andere Fächer seiner Fakultät, als wofür er ausdrücklich angestellt worden ist“,⁷² Vorlesungen anbieten. Die Nominalprofessuren sollen sicherstellen, dass die Philosophische Fakultät durchgehend eine gewisse Breite an Themen anbieten kann.⁷³ Aber die Fächer sind nicht als autonome Entitäten konzipiert, der lehrende Zugang ist nicht durch eine ausdrückliche und ausschließende Lehrerlaubnis geregelt.⁷⁴ Die Regelung soll die Vielfalt des Wissens in der Philosophischen Fakultät gewährleisten. Diese Vielfalt zielt auf die Studierenden ab. Denn der Freiheit der Lehre entspricht die des Studiums.⁷⁵ Auch die Studenten schreiben sich nicht für ein Fach ein, sondern sie werden in die Fakultät immatrikuliert. Ihr Curriculum müssen sie sich aus dem Angebot selber zusammenstellen. Das ausschließliche Studium eines Faches ist weder möglich noch wünschenswert. Unmöglich ist es, weil in vielen Fächern eine einzige Nominalprofessur gar nicht die Anzahl von Veranstaltungen anbieten kann, um ein eigenes Studium zu bestücken. WünGeschichte“; 2 für Geschichte und ihre Hilfswissenschaften; jeweils 1 für Physik, Chemie, allgemeine Naturgeschichte (mit Zoologie), Botanik, Mineralogie (mit Bergbau), Staatswissenschaften, Technologie (mit Ökonomie); vgl. die Statuten der Königl. Preussischen Rheinischen FriedrichWilhelms Universität zu Bonn. Vom 1. September 1827. In: Die Preussischen Universitäten. Eine Sammlung der Verordnungen, welche die Verfassung und Verwaltung dieser Anstalten betreffen. Hrsg. von Johann Friedrich Wilhelm Koch. 2 Bde. (in 3). Berlin 1839 – 1840, Bd. 1, S. 190 – 292, hier S. 198. Ebd. Im Vorläufigen Reglement für die Universität Bonn bis nach Publikation ihrer Statuten (in: Jahrbuch der Preußischen Rhein-Universität 1 [1819], H. 1, S. 10 – 18, hier S. 12) wird als Zweck dieser Regelung angegeben, dass „jeder Studierende […] Gelegenheit habe, über alle Hauptdisciplinen der Fakultät Vorlesungen zu hören“. Die Statuten der gesamten Universität wurden 1827 vorgelegt, die der Philosophischen Fakultät 1834. Eine Ausnahme bilden in Preußen ab 1816 die Privatdozenten. Seit der Regelung des Habilitationsverfahrens vom 31. Oktober mussten sie angeben, in welchen Bereichen sie lehren wollten. Ihr Lehrrecht wurde darauf beschränkt, auf Antrag konnten sie aber auch andere Veranstaltungen abhalten. Lehrfreiheit bekamen sie erst mit der Ernennung zum Professor. Im Laufe des Jahrhunderts wurde diese Bestimmung auch in anderen Ländern übernommen. Alexander Busch spricht davon, dass sich so die „Institutionalisierung des Spezialistentums […] gewissermaßen hinterrücks“ eingeschlichen habe; ders.: Die Geschichte des Privatdozenten. Eine soziologische Studie zur großbetrieblichen Entwicklung der deutschen Universitäten. Stuttgart 1959, S. 22; so auch, auf die Dynamik der Spezialisierung innerhalb der Philosophischen Fakultät insgesamt bezogen: Schubring 1991, S. 311. Dazu Manhart 2011, etwa S. 136 – 139 u. ö.
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schenswert ist es nicht, weil gerade die Kombination verschiedener Veranstaltungen und Fächer das als Studienziel gewünschte breite Bildungsprofil ergibt. Immer noch wirkt hier der Zuschnitt der ‚Artistenfakultät‘. Eine Ausnahme bildet die Klassische Philologie, auf die weiter unten noch eingegangen wird. Im fortgeschrittenen Jahrhundert streben zwar Vertreter anderer Fächer durchaus danach, ihre Gegenstände durch Abschließung aufzuwerten. Aber dies bleibt angesichts der Struktur der Philosophischen Fakultät doch eine vorerst ungelöste, eine unlösbare Aufgabe. Friedrich Zarnckes (1825 – 1891) Rede in der gemeinsamen Sektion Romanischer und Germanischer Philologen auf der Versammlung von Philologen und Schulmännern von 1863 verdeutlicht das: Beide Wissenschaften zusammen müssten in der Zukunft darauf bedacht sein, „einen akademischen Cursus für die neueren Sprachen und Litteraturen“ insgesamt zu entwickeln, „der einen ausreichenden Inhalt für ein selbständiges Studium gewährt“.⁷⁶ Realität war dies noch nicht. Generalität und Spezialisierung sind im Studium an der Philosophischen Fakultät verflochten. Die Professoren können sich auf ein einzelnes Fach beschränken, auch wenn dies erst im Laufe des 19. Jahrhunderts geschieht. Die Studenten aber studieren breiter. Die Ausbildung selbst unterläuft die Geschlossenheit der Fächer. Davon zeugen noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Studienbücher, die die belegten Veranstaltungen dokumentieren. Holger Dainat hat den Studienverlauf des späteren Germanisten Konrad Burdach (1859 – 1936)⁷⁷ rekonstruiert, der von 1876 bis 1881/82 in Königsberg, Leipzig und Berlin studierte. Er hörte Vorlesungen u. a. zur klassischen und deutschen Philologie, zur Geschichte, Rechtsgeschichte, zum Sanskrit und zur Anthropologie.⁷⁸ Egon Friedell (1878 – 1938) besuchte von 1899/1900 bis 1904 in Wien Veranstaltungen zur Klassischen Philologie, Germanistik (etwa bei Jakob Minor), Romanistik, Kunstgeschichte, Philosophie und Psychologie (u. a. bei Ernst Mach), bevor er eine germanistische Dissertation vorlegte.⁷⁹
Friedrich Zarncke: [Eröffnungsvortrag für die Germanische und Romanische Sektion]. In: Verhandlungen der zweiundzwanzigsten Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Meissen vom 20. September bis 2. October 1863. Leipzig 1864, S. 62– 66, hier S. 64. Seit 1862 bildeten die „germanistischen Sprachforscher“ eine eigene Sektion, zu der 1863 auch die Romanisten hinzukamen. Vgl. zu Zarncke IGL, S. 2083 – 2086. Vgl. zu Burdach IGL, S. 297– 300. Vgl. Dainat 2005, S. 174– 175. Friedell hatte sich vorher, vorerst noch ohne Abitur, 1897 in Heidelberg und 1898 in Berlin immatrikuliert. Ermöglicht wurde ihm dies mithilfe eines Antrages an das Wiener Landesgericht. Nach seiner vierten, endlich erfolgreichen Abiturprüfung nahm er dann sein Studium in Wien auf. Vgl. die Dokumentation von Klaus Peter Denecker: Der junge Friedell. Dokumente der Ausbildung zum genialen Dilettanten. München 1977; die Liste der Veranstaltungen S. 57– 59.
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Damit geht freilich eine gewisse Unsicherheit der Studierenden einher. Darauf reagieren die Studienpläne, die viele Universitäten ihren Studenten an die Hand geben, damit deren Freiheit nicht ins Leere läuft, sondern sich zu sinnvollen Profilen verdichten kann. Die Bonner Philosophische Fakultät legt ihren 1837 vor,⁸⁰ nachdem er 1834 in ihren Statuten eingefordert worden war.⁸¹ Der Studienplan unterscheidet vier „Abtheilungen“ innerhalb der Fakultät: die im engeren Sinne philosophische, die (klassisch‐)philologische, die historisch-staatswissenschaftliche und die mathematisch-naturwissenschaftliche. Er enthält Programmatiken und Empfehlungen für die Ausbildung jedes Studienprofils. Gleichzeitig aber betont der Plan immer den Zusammenhang der verschiedenen Abteilungen. Jede wirbt für ihren Wissensbereich, bemüht sich aber auch, die Relevanz der eigenen Gegenstände für die anderen „Abtheilungen“ herauszustellen. Dem Philologen etwa wird empfohlen, die wichtigsten Vorlesungen, die mit seinem Hauptstudium, welches ein Studium des Menschen, des Geistes und der Sprache ist, in näherer Verbindung stehen, zu hören: als da sind, über Geschichte der Philosophie und einzelne Theile der Philosophie, über allgemeine Weltgeschichte, neuere Geschichte, auch über die alte, vorgetragen von dem Professor der Geschichte, über mehrere der neuern Sprachen und Literaturen, so wie über die altdeutsche, über die allgemeine Literaturgeschichte, die gegenwärtig auf den meisten Universitäten vernachlässigt wird, über Mathematik und Physik.⁸²
Die Studienpläne versuchen, den Studenten einerseits ein Profilbewusstsein zu vermitteln. Andererseits aber betonen sie immer noch die Zusammengehörigkeit des Wissens in der Philosophischen Fakultät. Manchmal – wie etwa bei der Empfehlung von Mathematik und Physik für „Philologen“ – geschieht dies weniger nachdrücklich, in anderen Fällen entschiedener. Die Veranstaltungen der Klassischen Philologie und die der Geschichte beispielsweise werden allen Studierenden nahegelegt. Noch 1859 verteidigt August Boeckh emphatisch diese Konzeption einer Freiheit der Lehre und des Lernens:
Studienplan der Philosophischen Fakultät auf der Universität Bonn. Vom 1. Oktober 1837. In: Koch (Hrsg.), Universitäten, Bd. 2, S. 249 – 261. Federführend war offenbar der Klassische Philologe Friedrich Welcker; vgl. [an.:] [Rez. von] Paränesen, für studierende Jünglinge auf deutschen Gymnasien und Universitäten. Hrsg. von Friedrich Traugott Friedemann. Bd. 4, Abt. 2. Braunschweig 1839. In: Heidelberger Jahrbücher der Literatur 32 (1839), Nr. 71, S. 1132– 1135, hier S. 1133. Vgl. Statuten Universität Bonn, in: Koch (Hrsg.), Universitäten, Bd. 1, S. 282. Der Studienplan sollte den Studierenden bei der Immatrikulation ausgehändigt werden, „nicht zu einer mit irgend einem Zwange verbundenen Befolgung, sondern nur als guter Rath für die, welche der Anleitung bedürfen“. Studienplan Bonn, in: Koch (Hrsg.), Universitäten, Bd. 2, S. 254.
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Die Freiheit der Lehre besteht aber darin, dass nicht ihr Inhalt und ihre Form vorgeschrieben sei […]. Die Freiheit des Lernens besteht darin, dass keine zwingende, sondern nur berathende und ermahnende Studienplane, keine Zwangsvorlesungen, keine regelmässig wiederkehrende Prüfungen, nicht einmal ohne Ausnahme Zeugnisse des Collegienfleisses von Universitäts wegen eingeführt seien.⁸³
Freilich hatte das Ideal dieser Wissenskonzeption Schwierigkeiten, die Realität in seinem Sinne umzuprägen. Uwe Meves hat nachdrücklich darauf verwiesen. Vorlesungen etwa der Deutschen Philologie litten noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts oft an einem Mangel an Studierenden.⁸⁴ Niemand besuchte beispielsweise die Veranstaltungen, die Heinrich Hoffmann (von Fallersleben) für das Wintersemester 1839/40 in Breslau angekündigt hatte. Er ließ sie daher ausfallen. Das Preußische Unterrichtsministerium mahnte ihn, wie es in den Statuten der Universität vorgesehen war, sich zu erklären. Hoffmann antwortete, dass sich unter den Studenten ein Glaube an notwendige und unnötige Vorlesungen herausgebildet habe. Die einen würden besucht, die anderen gemieden. Schuld daran seien nicht zuletzt die staatlichen Prüfungen für das höhere Lehramt. Zwar war die deutsche Sprache und Literatur 1831 in Preußen zu einem der Prüfungsgegenstände für das höhere Lehramt aufgestiegen.⁸⁵ De facto aber wurden diese Gegenstände in den Examina nicht oder kaum zum Gegenstand gemacht. In den Kommissionen befanden sich keine Deutschen Philologen, die darüber hätten wachen können.⁸⁶ Die Studenten, so Hoffmann, wüssten das – daher jenes Studienverhalten. Bevor also nicht in den Examina die Prüfungsbestimmungen eingehalten würden, könne sich die Lage an den Universitäten nicht ändern. Hier zeigt sich, von wie vielen Faktoren Gestalt und Erfolg des Bildungssystems auch im 19. Jahrhundert schon abhingen. Verordnungen und Pläne mussten personell ausgefüllt werden, sonst bildeten sich Schlupflöcher und Praktiken, die es ermöglichten, den bürokratischen Wunsch zu unterlaufen. Viele Studierende
August Boeckh: Festrede auf der Universität zu Berlin am 15. October 1859. Berlin 1859. Gedruckt in: ders.: Gesammelte kleine Schriften. 8 Bde. Berlin 1858 – 1884, Bd. 3, S. 19 – 32, hier S. 26; Zitat bei:Thomas Poiss: Die unendliche Aufgabe. August Boeckh als Begründer des Philologischen Seminars. In: Die modernen Väter der Antike. Die Entwicklung der Altertumswissenschaften an Akademie und Universität im Berlin des 19. Jahrhunderts. Hrsg. von Annette M. Baertschi und Colin G. King. Berlin, New York 2009, S. 45 – 72, hier S. 54. Dazu und zum Folgenden: Meves 1994, S. 153 – 159. Vgl. ebd., S. 156; zur preußischen Prüfungsordnung für Lehramtskandidaten von 1831 vgl. Jeismann 1996, Bd. 2, S. 288 – 298. Vgl. Meves 1994, S. 158. Erst 1866 waren in Preußen alle Prüfungskommissionen auch mit Prüfern für die deutsche Literatur und Sprache besetzt; ebd., S. 182. Daraufhin stiegen auch die Hörerzahlen an; ebd., S. 183.
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richteten ihren Plan nach den Prüfungsreglements aus, die schließlich die eigentliche Hürde für den ‚Philosophen‘ beim Einstieg in den Brotberuf Lehrer bildeten. Die Freiheit beförderte einen Studienpragmatismus, der ihre emphatische Idee unterlief. Die staatlichen Prüfungsreglements stützen als Verwaltungsdokumente dabei den Befund, dass auch von staatlicher Seite in weiten Teilen des 19. Jahrhunderts nicht etwa die Spezialisierung auf ein Teilfach gefordert wurde, sondern breite Kenntnisse in weiten Teilen des Fächerspektrums. Peter Lundgreen hat gezeigt, dass der Gymnasiallehrer in Preußen vor 1866 wohl vertiefte Kenntnisse in der Klassischen Philologie aufweisen musste, dabei aber genauso eine breite „allgemeine Bildung“ in den anderen Gegenstandsbereichen erwartet wurde.⁸⁷ Erst mit der Novelle der Prüfungsordnung von 1866 spitzten sich die Studiengegenstände in die Richtung von Einzelfächern zu.⁸⁸ Einigermaßen konsolidiert hat sich die Struktur eines Zwei-Fächer-Studiums erst nach 1900.⁸⁹ In diesem Prozess kam den Seminaren eine wichtige Funktion zu. Sie boten, neben dem Studium, einerseits Übung in der philologisch-historischen Methode insgesamt, andererseits aber auch Spezialisierung in den Fächern, denen sie gewidmet waren. Vorreiter war hier die Klassische Philologie, aus der das Modell stammte. Nach dem von Johann Matthias Gesner (1691– 1761) gegründeten und von Christian Gottlob Heyne (1729 – 1812) konsolidierten Seminar in Göttingen richtete 1787 Friedrich August Wolf (1759 – 1824) seine wirkungsmächtige Hallenser Institution ein. Ihre Rolle in der Genese des neuhumanistischen Bildungsbegriffs ist kaum hoch genug einzuschätzen.⁹⁰ Das erste germanistische Seminar aber
Vgl. Peter Lundgreen: Examina und Tätigkeitsfelder für Absolventen der Philosophischen Fakultät. Berufskonstruktion und Professionalisierung im 19. Jahrhundert. In: Schwinges (Hrsg.) 1999, S. 319 – 334, hier S. 332. Vgl. auch Kopp 1994, S. 700 – 703: Das Examen eines Gymnasiallehrers für das „philologisch-historische Fach“ umfasste bis 1866 alle Fächer des Trienniums an der Philosophischen Fakultät: Philologie(n), Philosophie, Geschichte, Geographie, Mathematik. Ab 1866 trat eine Differenzierung ein. Man konnte etwa spezifisch das „philologisch-historische Fach“ anstreben, musste aber außerdem noch eine Prüfung für „allgemeine Bildung“ ablegen. Hierzu zählten Religion, Philosophie, Pädagogik, Geschichte, Geographie und Sprachen. Vgl. Lundgreen 1999, S. 328 f. und S. 332. Vgl. ebd., S. 327. Vgl. auch Manhart 2011, S. 151. Aus der reichen Literatur vgl.: William Clark: On the Dialectical Origins of the Research Seminar. In: History of Science 27 (1989), S. 111– 154; ders.: Academic Charisma and the Origins of the Research University. Chicago, London 2006, S. 141– 182; Gert Schubring: Kabinett – Seminar – Institut: Raum und Rahmen des forschenden Lehrens. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), S. 269 – 285; Verf., Carlos Spoerhase: Die Idee der Universität. Friedrich August Wolf und die Praxis des Seminars. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 5 (2011), H. 1, S. 105 – 117.
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wurde erst 1858 in Rostock gegründet;⁹¹ ein historisches Seminar entstand 1832 in Königsberg, weitere dann nicht vor den 50er und 60er Jahren.⁹² Die Philosophische Fakultät hielt auch im 19. Jahrhundert noch lange an ihrer alten propädeutischen Funktion für die anderen Fächer fest.⁹³ Sie konnte dies – zumindest konzeptionell – umso selbstbewusster, als Theologen und Juristen stark an den philologisch-historischen Gegenständen partizipierten. Schon die Bezeichnung der ‚Germanisten‘ zeigt dies. Unter ihr versammelten sich 1846 und 1847 die mit altdeutschen Gegenständen befassten Sprachforscher, Historiker und Juristen.⁹⁴ Die Treffen geben ein Beispiel für die fächerübergreifenden Gemeinsamkeiten, die sich über Methoden (philologisch-historisch) und gemeinsame Gegenstände (das ‚Deutsche‘) ergaben. Es kann daher nicht verwundern, dass die Statuten der Bonner Philosophischen Fakultät 1834 ausdrücklich deren doppelte Funktion festschrieben: Propädeutik für die anderen Fakultäten und wissenschaftliche Ausbildung im eigenen Spektrum.⁹⁵ Noch 1861 hält der Germanist Rudolf von Raumer (1815 – 1876), damals Prorektor der Universität Erlangen, daran fest: Für alle drei durch die „Berufsfakultäten“ ausgebildeten Berufsstände sei die von der Philosophischen Fakultät vermittelte „allgemeine Bildung“ unerlässlich.⁹⁶
Vgl. etwa Rainer Kolk: Liebhaber, Gelehrte, Experten. Das Sozialsystem der Germanistik bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Fohrmann, Voßkamp (Hrsg.) 1994, S. 48 – 114, hier S. 78. Meves weist darauf hin, dass in Mecklenburg noch keine „philologischen Staatsprüfungen“ bestanden, weshalb das Seminar wenig Erfolg hatte; vgl. ders.: Karl Bartsch und die Gründung des ersten Germanistischen Seminars (Universität Rostock 1858). In: Von lon der wisheit. Gedenkschrift für Manfred Lemmer. Hrsg. von Kurt Gärtner und Hans-Joachim Solms. Sandersdorf 2009, S. 154– 175. Das Tübinger Seminar, 1867 provisorisch gegründet, galt den „neueren Sprachen“, nicht dezidiert der Germanistik; vgl. ders. 1994, S. 175 – 177, hier S. 177. Die verstärkten Seminargründungen ab den 1870er Jahre sind dokumentiert in: ders. (Hrsg.) 2011, S. 765 – 886. Vgl. Markus Huttner: Historische Gesellschaften und die Entstehung historischer Seminare. Zu den Anfängen institutionalisierter Geschichtsstudien an den deutschen Universitäten des 19. Jahrhunderts. In: Historische Institute im internationalen Vergleich. Hrsg. von Matthias Middell. Leipzig 2001, S. 39 – 83, hier S. 44 f. Historische Übungen wurden vorher in Privatgesellschaften abgehalten, beispielsweise bei Ranke zu Hause; zu den historischen Gesellschaften vgl. ebd.; außerdem Pandel 1994. Vgl. etwa Pandel 1994, S. 8 f.; Lundgreen 1999, S. 322. Vgl. zu den Versammlungen im Kontext der Entwicklung der verschiedenen europäischen Philologien: Zur Geschichte und Problematik der Nationalphilologien in Europa. 150 Jahre Erste Germanistenversammlung in Frankfurt am Main (1846 – 1996). Hrsg. von Frank Fürbeth, Pierre Krügel, Ernst E. Metzner und Olaf Müller. Tübingen 1999. Vgl. Statuten Universität Bonn, in: Koch (Hrsg.), Universitäten, Bd. 1, S. 278 f. Vgl. Rudolf von Raumer: Über die Aufgabe der deutschen Philologie. In: ders.: Deutsche Versuche. Erlangen 1861, S. 18 – 40, hier S. 21 f. Vgl. zu ihm IGL, S. 1468 f. Gert Schubring (1991,
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Solange diese Offenheit der Philosophischen Fakultät in Lehre und Studium bestand, kann kaum die Rede davon sein, jemand hätte ‚Deutsche Philologie‘ oder ‚Geschichte‘ studiert – zumindest,wenn sich damit die Vorstellung eines Studiums verbindet, das durch eine wissenschaftliche Eigenlogik dieser Fächer vorgegeben worden und auf sie beschränkt wäre. Dies gilt sowohl für die Wissenschaftler, die dort ausgebildet wurden, als auch für die studierten Dichter. Fruchtbarer erscheint es dagegen, wie eingangs bemerkt, neben den Differenzierungsbestrebungen einzelner Fächer vor allem die ‚fach‘-übergreifenden Strukturen im Blick zu behalten. Sie besitzen in Aufbau und Praxis der Philosophischen Fakultät einen starken institutionellen Halt. Der Begriff der philologisch-historischen Wissenschaften bezeichnet ein solches wirkungsmächtiges, übergreifendes Profil. Zu ihnen zählten grundsätzlich solche Fächer, die ihre Gegenstände philologisch-historisch erschlossen: die Klassische Philologie als Leitdisziplin, die Geschichte anderer Sprachen und Literaturen und die Geschichtswissenschaft im engeren Sinne. Die Historisierung und Philologisierung griff jedoch auch auf andere Fächer aus; die (protestantische) Theologie⁹⁷ und die Rechtswissenschaft wurden schon genannt. Quer zur Differenzierungsdynamik der einzelnen Fächer ergaben sich hier vielfältige Verbindungen inhaltlicher, konzeptioneller und methodischer Art. Sie gründen erstens in einer Umordnung des historischen Denkens, das sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vollzog. Reinhart Koselleck hat sie mit seinem Konzept der historischen Sattelzeit beschrieben; auf die Grundkoordinaten dieses historischen Denkens wird noch einzugehen sein. Zweitens besitzen sie eine gemeinsame methodische Grundlage. Drittens folgt die Zusammengehörigkeit dieser philologisch-historischen Wissenschaften aus der Vorreiterstellung, die sich die Klassische Philologie das gesamte 19. Jahrhundert hindurch sowohl methodisch als auch im Ausbildungskanon der Philosophischen Fakultäten sichern konnte. Ihr Profil gilt es sich zu vergegenwärtigen, um die vielfältigen Verstrebungen und die entsprechend oft unsicheren Abgrenzungen der philologisch-historischen Fächer untereinander in den Blick zu bekommen.
S. 304) betont, dass die Philosophische Fakultät „das Bewusstsein von der notwendigen Einheit alles Wissens“ ausbildete und pflegte. Vgl. etwa die Beiträge in: Historische Kritik und biblischer Kanon in der deutschen Aufklärung. Hrsg. von Henning Graf Reventlow, Walter Sparn und John Woodbridge. Wiesbaden 1988.
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2 Historische Fundamentalwissenschaft – Philologie oder Geschichte? (Boeckh und Droysen) Die Geschichte des Begriffs und Konzeptes von ‚Philologie‘ von der Antike über die Frühe Neuzeit bis in die Moderne ist alles andere als klar und deutlich eingrenzbar. Zu diesem Befund kommt etwa Axel Horstmann.⁹⁸ Schon seine Definition des Begriffs trägt dem Rechnung, obwohl sie an der gegenwärtigen Wissenskonstellation ausgerichtet ist. Die Auffassungen von Philologie reichten von einem engen Verständnis, der „Ermittlung des authentischen Wortlauts literarischer Werke und ihrer (kritischen) Edition“, über ein weiteres, das die „Analyse, Erklärung und Deutung“ von Texten in ihren „geistes-, kultur- und sozialgeschichtlichen Zusammenhängen“ betreffe, bis zu einer umfassenden Bestimmung als „Erforschung der geistigen Entwicklung und Eigenart eines ganzen Volkes und seiner Kultur auf der Grundlage seiner Sprache und Literatur“.⁹⁹ Für die Zeit bis ins 19. Jahrhundert hinein muss man dabei, wie Horstmann heraushebt, präzisieren, dass ‚Philologie‘ im Wesentlichen die Beschäftigung mit der Antike meinte. Begriffsgeschichtlich gesehen, wird die Bezeichnung jedoch nicht durchgehend verwendet.¹⁰⁰ Während die italienische Renaissance beispielsweise zwar emsigst nach antiken Quellen suchte, sie sammelte und edierte, belegte sie diese Tätigkeit mit Begriffen wie ‚studia‘ oder ‚literae‘.¹⁰¹ Auch in der frühen Neuzeit ist
Vgl. dessen instruktive Artikel zur Philologie in: HWPh 7 (1989), Sp. 552– 572; HWRh 6 (2003), Sp. 948 – 968. Die klassischen Darstellungen von Rudolf Pfeiffer sind klug und materialreich, ihr Problembewusstsein ist in diesem Punkt aber nicht sehr ausgeprägt; ders.: Geschichte der klassischen Philologie. Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus. Reinbek 1970 (engl. 1968); ders.: Die Klassische Philologie von Petrarca bis Mommsen. München 1982. Stark normativ zuspitzend – und damit disziplinär verengend – verfahren: Ada Hentschke, Ulrich Muhlack: Einführung in die Geschichte der klassischen Philologie. Darmstadt 1972. Instruktiv, aber ohne den Anspruch, das Thema zu erschöpfen, ist das Kapitel bei Buschmeier 2008, S. 37– 75. Die neue englische Untersuchung von Day (2008) beginnt zwar in der Antike, schränkt sich dann aber auf den angelsächsischen Bereich ein. Alle Zitate: Horstmann 2003, Sp. 948. Zur Philologie in der Frühen Neuzeit vgl. neben Pfeiffer 1982 und Hentschke, Muhlack 1972: Muhlack: Historie und Philologie. In: Bödeker u. a. (Hrsg.) 1986, S. 49 – 81; Grimm 1983; Herbert Jaumann: Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius. Leiden u. a. 1995; Philologie und Erkenntnis. Beiträge zu Begriff und Problem frühneuzeitlicher Philologie. Hrsg. von Ralph Häfner. Tübingen 2001; ders. 2002; Klara Vanek: Ars corrigendi in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte der Textkritik. Berlin, New York 2007; Philologie als Wissensmodell / La philologie comme modèle de savoir. Hrsg. von Denis Thouard, Friedrich Vollhardt und Fosca Mariani Zini. Berlin, New York 2010. Vgl. Horstmann 2003, Sp. 950.
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der Begriff der Philologie nicht selbstverständlich.¹⁰² Sachgeschichtlich dominierte ein Verständnis, das, im Anschluss an antike Konzeptionen, Philologie als Polymathie verstand oder ihr zumindest einen weiten Bereich des menschlichen Wissens insgesamt zuordnete. Dies ist nur verständlich. Denn wenn ein großer Teil des menschlichen Wissens aus der Antike stammt und sprachlich überliefert ist, dann erscheint es als konsequent, dieses Wissen selbst – mitsamt den Methoden, die es verfügbar machen (‚Kritik‘), und dem Sprachstudium, das für sein Verständnis notwendig ist (‚Grammatik‘) – unter einem Dach zu vereinigen. ‚Philologie‘ wäre in dieser Konzeption eine Hauptwissenschaft neben Mathematik und Logik.¹⁰³ Ihre Aufgabe wäre es dabei freilich nicht, dieses Wissen zu historisieren. In der frühen Neuzeit bildete das antike Wissen immer noch einen der zentralen Bestände, den man durch Tradierung und weitere Erschließung auch für die Gegenwart als kanonisch und gültig ansah – eine Annahme, die in der Querelle des anciens et des modernes in Frage gestellt, aber nicht aufgelöst wurde. Der Wissensbegriff war dabei im Wesentlichen textuell geprägt, die ‚Wissenschaften‘ – im zeitgenössischen Verständnis des Wortes: das Wissen der Menschheit – beruhten nicht unwesentlich darauf, die Überlieferung zu sammeln, sie zu systematisieren, zu pflegen und auszuwerten. Dabei wird, wie ein neuerer Tagungsband gezeigt hat, diese Vorstellung eines tradierten Wissens keineswegs systematisch und breit von der frühneuzeitlichen Konzeption eines experimentellen Erfahrungswissens oder einer reinen Vernunfterkenntnis abgelöst.¹⁰⁴ Die Aufforderung Descartes’, die Bücher aus der Hand zu legen,¹⁰⁵ schaffte die polymathische und polyhistorische Wissensordnung nicht ab.¹⁰⁶
So etwa Vanek 2007, S. 5. Vgl. Horstmann 2003, Sp. 950 f. Ein solches Modell des Wissens findet sich beispielsweise bei Gerardus Vossius, im De philologia liber (1650); vgl. dazu Luc Deitz: Gerardus Johannes Vossius’ De philologia liber und sein Begriff der „Philologie“. In: Häfner (Hrsg.) 2001, S. 3 – 34. Ein weiteres Beispiel: Annette Syndicus: Philologie und Universalismus. Gabriel Naudés enzyklopädische Schriften und ihre Rezeption im deutschsprachigen Raum. In: Thouard u. a. (Hrsg.) 2010, S. 309 – 343. Vgl. die Beiträge in: Thouard u. a. (Hrsg.) 2010, darin vor allem die Einleitung von Thouard und die Beiträge von Ralph Häfner: Lucas Holstenius und die neue Astronomie am Hofe Papst Urbans VIII. Barberini, S. 181– 206; Emmanuel Bury: La preuve philologique comme argument: Gassendi et Épicure face à la révolution scientifique (1624– 1658), S. 207– 230; Lutz Danneberg: Hermeneutik zwischen Theologie und Naturphilosophie. Der sensus accomodatus am Beginn des 17. Jahrhunderts, S. 231– 284, grundsätzlich S. 232 f. Vgl. René Descartes: Discours de la méthode. Hrsg. von Christian Wohlers. Hamburg 2011, insbes. Première partie, S. 17.Vgl. dazu Jürgen Trabant: Mithridates im Paradies. Kleine Geschichte des Sprachdenkens. München 2003, S. 131– 141. Diese Konzeption von Wissenschaften fand noch um 1800 Eingang in die Wissenschaftskunde Johann Joachim Eschenburgs: Lehrbuch der Wissenschaftskunde, ein Grundriss encyklopädi-
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Betrachtet man die Philologie in der Frühen Neuzeit aus der Perspektive einer Entwicklungsgeschichte, die nach Momenten von Modernität fragt, dann wohnt ihr eine beträchtliche Dynamik inne. Sie ergibt sich in dem zweiten Verständnis von Philologie, das sich neben dem polymathischen entwickelt. Hier wird sie nicht als Inbegriff des Wissens selbst verstanden, sondern als Methode, um das Wissen aus der Überlieferung zu gewinnen. Philologie in diesem Verständnis wäre im Kern critica, ‚Kritik‘.¹⁰⁷ Denis Thouard betont zu Recht, dass sich beide Begriffe nicht ausschließen müssen. Denn um die Überlieferung überhaupt verstehen und bereithalten zu können, muss sie erst in gesicherter Form hergestellt werden.¹⁰⁸ Allerdings wohnt der Kritik als Methode eine Dynamik inne, die – potentiell – das überlieferte Wissen gefährdet: Indem sie etwa dessen textuelle Basis problematisch werden lässt, kann sie Tradition und Autorität unterlaufen – sei es bewusst, sei es ohne oder gar gegen die Intention des criticus. ¹⁰⁹ Die Konzentration auf die Methode kann einer Distanzierung und Historisierung der Überlieferung Vorschub leisten – und damit selbstverständlich auch theologischen Dogmen gefährlich werden.¹¹⁰ Freilich ist diese subversive Dynamik nicht unbedingt notwendig, die ars critica kann auch dafür in Anspruch genommen werden, durch die Prüfung Autorität zu sichern.¹¹¹ scher Vorlesungen. Berlin, Stettin 1792; zweite, verbesserte und vermehrte Ausgabe ebd. 1800; dritte, verbesserte und vermehrte Ausgabe ebd. 1809; vgl. dazu Verf.: Das Unbehagen des Universalhistorikers an der Historie. Eschenburg und die Geschichte der Poesie. In: Johann Joachim Eschenburg (1743 – 1820) und die Künste und Wissenschaften zwischen Aufklärung und Romantik. Netzwerke und Kulturen des Wissens. Hrsg. von Cord-Friedrich Berghahn und Till Kinzel. Heidelberg 2013, S. 75 – 94. Zum Aspekt der Textkritik vgl. grundlegend Vanek 2007. Eine frühneuzeitliche Linie der Diskussion über die Frage, ob die Kritik ‚Wissen(schaft)‘ (scientia) oder ‚Kunst‘ (ars) sei, hat Pierre Lardet nachgezeichnet: ders.: Sur l’emendatio à la Renaissance et au-delà. In: Thouard u. a. (Hrsg.) 2010, S. 35 – 108; zum 19. Jahrhundert überblickshaft: Hartmut Müller-Sievers: Reading Evidence. Textual Criticism as Science in the Nineteenth Century. In: The Germanic Review 76 (2001), S. 162– 171. Thouard 2010, S. 3 f. Vgl. etwa ebd., S. 6 f.; Eckhard Keßler: Philologische Methode und Naturwissenschaft. In: Thouard u. a. (Hrsg.) 2010, S. 165 – 180. Insofern darf auch der Beitrag philologischer Verfahren zur Legitimation deistischer Positionen nicht unterschätzt werden; vgl. etwa Henning Graf Reventlow: Bibelautorität und Geist der Moderne. Die Bedeutung des Bibelverständnisses für die geistesgeschichtliche und politische Entwicklung in England von der Reformation bis zur Aufklärung. Göttingen 1980; vgl. außerdem Häfner 2002; Wilhelm Schmidt-Biggemann: Die philologische Zersetzung des christlichen Platonismus. In: Häfner (Hrsg.) 2001, S. 265 – 301. Vgl. am Beispiel von Jean Le Clercs Ars critica (1697): Nicolas Piqué: Du texte de l’origine à l’origine du texte. La querelle entre Richard Simon et Jean Le Clerc. In: Thouard u. a. (Hrsg.) 2010, S. 285 – 308.
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Entscheidend war, dass sich Philologie engstens an ihren Gegenstand und dessen Autorität band. Ihr eminenter Bezug zur Antike¹¹² blieb auch dann bestehen, als deren Autorität für die Modernen mit der Querelle unter Beschuss geriet, als andere Instanzen zur Generierung neuen Wissens – wie etwa die Vernunft oder die Erfahrung – zunehmend an Bedeutung gewannen und in Konkurrenz zur Überlieferung zu geraten drohten. Konnte in der Frühen Neuzeit der polymathisch Gelehrte automatisch Philologe sein, weil sich das Wissen aus der Überlieferung herschrieb, so kehrte sich nun dieses Verhältnis gleichsam um. Wer sich ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ‚Philologe‘ nannte, ergriff damit zunehmend Position in der Querelle. Er nahm für die Antike in Anspruch, dass sie immer noch die Wissensbestände bereithielt, die für den Menschen entscheidend waren. Dies war zwar begründungsbedürftig, da man die Moderne als Zeit eigenen Rechts betrachten konnte. Aber diese Begründung ließ sich erfolgreich leisten, wie Entstehung und Erfolg des Neuhumanismus seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zeigen. Die Historisierung der Antike und, damit einhergehend, ihre potentielle Segmentierung zu einem abgeschlossenen Gegenstand unter möglichen anderen musste keineswegs bedeuten, dass sie ihre universale Bedeutung verlor. Der früh im 19. Jahrhundert entstandene Mythos um Friedrich August Wolfs Einschreibung als studiosus philologiae an der Universität Göttingen am 8. April 1777 zeigt dies. Er wurde schnell zum Topos dafür, dass die ‚Philologie‘, verstanden als Beschäftigung mit der Antike, hinreiche, damit der moderne Mensch im emphatischen Sinne zum Menschen werde.¹¹³ Dieses Geschäft fiel dann aber der Disziplin zu, die sich mit der Antike als historischer Epoche beschäftigte: der (Klassischen) ‚Philologie‘. Friedrich August Wolf ist für die Etablierung dieser historisierten, aber gerade daher für die Bildung unerlässlichen Philologie nicht weniger entscheidend als
Ein zweites Standbein der Philologie war freilich ihre Rolle für die Auslegung der Bibel. Dies gilt auch für Wolf, der für die Methode seiner Prolegomena an die historisch-kritische Bibelphilologie der protestantischen Theologie anschließen konnte; das Modell Johann Gottfried Eichhorns machen stark: Anthony Grafton, Glenn W. Most, James E.G. Zetzel: Introduction. In: Friedrich August Wolf: Prolegomena to Homer. Hrsg. und übs. von dens. Princeton, NJ, 1985, S. 3 – 35, hier S. 18 – 26; ebenso: Anthony Grafton: „Man muß aus der Gegenwart heraufsteigen“. History, Tradition, and Tradition of Historical Thought in F.A. Wolf. In: Bödeker u. a. (Hrsg.) 1986, S. 416 – 429. Wolfs Biograph und Schwiegersohn erzählt die Geschichte in diesem Sinne: Wilhelm Körte: Leben und Studien Friedr. Aug. Wolf’s, des Philologen. 2 Bde. Essen 1833, Bd. 1, S. 46 f. Noch Nietzsche beruft sich auf dieses symbolische Datum; vgl. dazu unten, Kap. V.1.1., S. 435. Edward Schröder hat diesen Mythos destruiert und nachgewiesen, dass Einschreibungen als ‚stud. phil.‘ durchaus schon vor Wolf vorkamen: ders.: Studiosus philologiae. In: Neue Jahrbücher für Pädagogik 16 (1913), S. 168 – 171.
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Wilhelm von Humboldt, mit dessen Namen sich diese Konzeption oft verbindet.¹¹⁴ Wolf unterrichtete von 1785 an in Halle die einleitende Enzyklopädie der Philologie in diesem Sinne.¹¹⁵ Das Studium der Antike umfasse den ganzen Inbegriff derjenigen Kenntnisse, die uns mit den Thaten und Schicksalen, der politischen, gelehrten und häuslichen Verfassung der aufgeklärten Völker des Alterthums, mit ihrer Kultur, ihren Sprachen, Künsten und Wissenschaften, Sitten, Religion, Nationalcharakter und Denkart bekannt machen; und dieses auf eine solche Art, dass wir zugleich in den Stand gesetzt werden, die von ihnen übriggebliebenen Werke verschiedener Art gründlich zu verstehen, mit Geschmack und Einsicht zu beurtheilen, und zu den besondern Zwecken unserer übrigen Studien zu benutzen.¹¹⁶
Grammatik, Kritik und Hermeneutik sind diesen Gegenständen als methodisches Organon zugeordnet, denn sie erlauben, sich in ihre Kenntnis zu setzen.
Das Verhältnis von Wolf und Humboldt dokumentiert ihr Briefwechsel: Wilhelm von Humboldt: Briefe an Friedrich August Wolf. Hrsg. von Philip Mattson. Berlin, New York 1990. Außerdem: Johannes Irmscher: Friedrich August Wolf und Wilhelm von Humboldt. In: Innere und äußere Integration der Altertumswissenschaften. Konferenz zur 200. Wiederkehr der Gründung des Seminarium Philologicum Halense durch F.A.Wolf am 15.10.1787. Hrsg.von Joachim Ebert und Hans Dieter Zimmermann. Halle 1989, S. 79 – 84. Die Marginalisierung Humboldts in der Geschichte der Altertumswissenschaften kritisiert: Jürgen Trabant: Humboldt, eine Fußnote? Wilhelm von Humboldt als Gründergestalt der modernen Altertumswissenschaft. In: Baertschi u. a. (Hrsg.) 2009, S. 25 – 43. Fundierte Würdigungen Wolfs liefern: Manfred Fuhrmann: Friedrich August Wolf. Zur 200.Wiederkehr seines Geburtstages am 15. Februar 1959. In: DVjs 33 (1959), S. 187– 236; und: Grafton, Most, Zetzel 1985. Aufschlussreich außerdem: Erika Hültenschmidt: Wissenschaftshistoriographie und soziologische Theorie. Friedrich August Wolf und die Entstehung der modernen Philologie und Sprachwissenschaft. In: Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Hrsg.von Hans Ulrich Gumbrecht und Ursula Link-Heer. Frankfurt am Main 1985, S. 341– 356. Wolfs Rolle für die Entstehung des Neuhumanismus arbeitet systematisch heraus: Giovanni Leghissa: Incorporare l’Antico. Filologia classica e invenzione della modernità. Milano 2007. Darüber hinaus: Buschmeier 2008, S. 60 – 66 u. ö. Nach Halle war Wolf 1783 berufen worden, als ordinarius der Philosophie „und in specie der Paedagogie“; vgl. die Bestallung durch Friedrich II., abgedruckt bei Körte 1833, Bd. 2, S. 211. 1785 hielt er seine erste Enzyklopädie-Vorlesung, in Halle wiederholte er sie noch neun Mal; vgl. die Liste der Vorlesungen ebd., Bd. 1, S. 215. Frühe Entwürfe aus dem Nachlass ediert und kommentiert Reinhard Markner: Fragmente zur Einleitung in die Enzyklopädie der Altertumswissenschaften. Hrsg. von dems. In: Friedrich August Wolf. Studien, Dokumente, Bibliographie. Hrsg. von dems. und Giuseppe Veltri. Stuttgart 1999, S. 48 – 75. So im frühesten gedruckten Zeugnis: Friedrich August Wolf: Antiquitäten von Griechenland: oder Geschichte der Staatsverbesserung, des Religionszustandes, der Sitten, Denk- und Lebensart der vornehmsten griechischen Staaten von den ältesten Zeiten bis auf den Verlust ihrer Freiheit. Ein Leitfaden für akademische Vorlesungen. Halle 1787, S. 9 f.
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Wolf spricht zwar nicht von ‚Philologie‘, sondern er nennt seine Disziplin schon von früh an Altertumswissenschaft.¹¹⁷ Aber dennoch ist der Begriff der ‚Philologie‘ bis weit in das 19. Jahrhundert hinein fest mit dem Gegenstandsbereich der Antike verbunden.Wer von ‚Philologie‘ spricht, meint meist die Beschäftigung mit der Antike, wie auch immer er die Struktur und Ordnung des Faches im Einzelnen ausgestalten mag. Dies gründet, wie schon angedeutet, darin, dass sich in der Philologie drei Komponenten durchdringen: erstens der Gegenstand der Antike, als historisiertes und partikularisiertes Erbe der frühneuzeitlichen Wissensformation; zweitens die methodische Notwendigkeit, diese Überlieferungen sprachlich zu verstehen, herzustellen und zu deuten (Grammatik, Kritik und Hermeneutik); drittens die Behauptung des eminenten Bildungswertes dieser Gegenstände – eine Annahme, die in Reaktion auf die Partikularisierung und Historisierung neu zum neuhumanistischen Bildungsbegriff theoretisiert wurde. Auch in Wolfs Bestimmung spielt der in die Moderne hinausweisende Bildungswert eine wichtige Rolle. Philologisches Studium befähige zu ästhetischem und vernünftigem Urteil („mit Geschmack und Einsicht“, s.o.), und es bereite auf alle „übrigen Studien“ (s.o.) vor, denen man sich außerdem noch zuwenden möge. Alle drei Komponenten sind im Begriff der Philologie miteinander verflochten. Gerade deshalb bildet die Altertumswissenschaft bzw. Philologie eine Einheit. Andere zeitgenössische Wissenschaftssystematiken bekräftigen dies. Als Beispiel sei Erduin Julius Koch (1764 – 1834) angeführt. Koch ist zwar ein Schüler Wolfs; dass er die grundlegende Funktion der Altertumswissenschaft stützt, ist aber deshalb aufschlussreich, weil er zur selben Zeit programmatisch für die Förderung altdeutscher Studien eintrat.¹¹⁸ Kurz nach Beendigung seiner Universitätszeit in Halle¹¹⁹ gab er einen Neuentwurf von Sulzers systematischer Einleitung in die
Etwa ebd., S. 6; vgl. zum Begriff: Markner 1999. 1790 publizierte er sein bedeutendes Compendium der deutschen Literatur-Geschichte von den ältesten Zeiten bis auf das Jahr 1781. 1795 erschien es in zweiter Auflage als Grundriß einer Geschichte der Sprache und Literatur der Deutschen von den ältesten Zeiten bis auf Lessings Tod. 1798 kam ein zweiter Band hinzu. Koch hat nicht zuletzt Wackenroders Interesse für altdeutsche Gegenstände stimuliert. Zu Koch siehe Paul Raabe: Erduin Julius Kochs Pläne zur Erforschung der deutschen Sprache und Literatur. Ein Hinweis auf die Frühgeschichte der Germanistik. In: Studien zur deutschen Literatur. FS Adolf Beck. Hrsg. von Ulrich Fülleborn und Johannes Krogoll. Heidelberg 1979, S. 142– 157; Thomas Bein: Mittelalterliche deutsche Literatur in den ersten Literaturgeschichten. Betrachtungen zur Ordnung von Kultur in Vergangenheit und Gegenwart. In: Fürbeth u. a. (Hrsg.) 1999, S. 50 – 66, hier S. 54– 59. Koch hatte bis 1786 in Halle Theologie studiert, dabei aber viele philologische Veranstaltungen bei Wolf besucht; siehe IGL, S. 964– 966. Mitglied des Seminars, das erst 1787 gegründet wurde, war er nicht; möglicherweise aber nahm er an dem Examinier-Kolloquium teil, das Wolf 1785 ins Leben gerufen hatte und das die Seminargründung vorbereitete; vgl. Brief Wolfs an den
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Wissenschaften heraus. Als erster (und, wie sich herausstellt, einziger) Band erscheint derjenige zur Philologie. Obwohl Koch im Titel des Bandes von „Alterthumswissenschaft“ spricht, benutzt er in der Darstellung selbst durchgehend die Bezeichnung ‚Philologie‘.¹²⁰ Beide Begriffe erscheinen in seinem Schema der gesamten Wissenschaften als Synonyme für alles, was sich der „Aelteren Zeit“ widmet.¹²¹ Auch Koch unterscheidet Grammatik, Kritik und Hermeneutik als methodische „Hülfs-Wissenschaften“ von den sachlichen „Haupt-Wissenschaften“.¹²² Beide in ihrer Einheit bildeten die Voraussetzung dafür, die anderen Wissenschaften zu studieren. Sie seien „Vorbereitungs-Wissenschaften“ für die anderen Fächer (vor allem die „Fakultäts-Wissenschaften“¹²³), da die Moderne der Antike „die Schöpfung, theils die weitere Ausbildung und Verbreitung aller Wissenschaften“ verdanke. Die Philologie sei „schon aus diesem Grunde die sicherste Führerinn zur ganzen neuern Gelehrsamkeit“.¹²⁴ Zwanzig Jahre später schließt auch Friedrich Wilhelm Thiersch explizit an die polymathische Tradition an. „Philologie“, so bestimmt er 1813, sei in der späteren Antike „der allgemeine Name aller Kenntnisse“ gewesen, „der auch Philosophie umfaßte, wie bey uns Gelehrsamkeit. […] Jene Bedeutung des Namens blieb durch alle Zeitalter.“¹²⁵ Auch heute müsse man unter dem Begriff dasselbe fassen, mit dem Unterschied, dass man sich nun auf die abgeschlossene Antike beziehe. Die Bedeutung des Gegenstands für die Gegenwart schmälere diese Historisierung aber nicht, sei doch aus der Antike die Kultur der Wissenschaften genauso wie die
Unterrichtsminister Karl Abraham von Zedlitz, 27. Jan. 1787; in: Siegfried Reiter (Hrsg.): Friedrich August Wolf. Ein Leben in Briefen. 3 Bde. Stuttgart 1935, Bd. 1, S. 52. Nach dem Examen arbeitete Koch zunächst als Lehrer in Berlin, dann als Pfarrer. Sein ‚unwürdiger Lebenswandel‘ (Trunksucht und notorische Bordellbesuche) hat ihn über das 19. Jahrhundert hinaus zu einer persona non grata der Germanistik gemacht. Als Beispiel sei seine Definition zitiert: „Wir nehmen Philolog oder humanistisches Studium [im Unterschied zur Antike selbst; MGD] für alle die Kenntnisse und Fertigkeiten in Wissenschaften und Künsten, welche uns das Alterthum in den Ueberresten schriftlicher Denkmäler und Kunstwerke hinterlassen hat.“ Johann Georg Sulzers kurzer Inbegriff aller Wissenschaften völlig umgearbeitet von Erduin Julius Koch, Prediger an der Marien-Kirche zu Berlin. Erste Abtheilung welche die Alterthumswissenschaften enthält. Berlin 1793, S. 15. Ebd., S. 5 f. Ebd., S. 16 Ebd., S. 5 f. Alle Zitate ebd., S. 35. Friedrich Wilhelm Thiersch: Darstellungen der Fortschritte der philologischen Wissenschaften seit der Erneuerung der Akademie der Wissenschaften zu München 1807, und ihres jetzigen Zustandes unter den verschiedenen wissenschaftlichen Völkern. Vorlesungen. In: Allgemeine Zeitschrift von Deutschen für Deutsche 1 (1813), S. 535 – 577, hier S. 541.
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Kunst und alle „höhere Bildung“ geflossen.¹²⁶ Auf diese Weise zieht sich das Erbe der Polymathie noch weit in das 19. Jahrhundert hinein. Der Gegenstandsbereich dieser Philologie begreift in sich Momente, die, von heute aus gesehen, heterogen sind und verschiedenen Wissenschaften angehören. Um von den Naturwissenschaften abzusehen – die ja auch Teil des ‚in der Antike gegründeten‘ menschlichen Wissens sind – und sich auf die philologisch-historischen Fächer zu konzentrieren: Da die Antike insgesamt als Untersuchungsgegenstand angesetzt wird, fällt die Geschichte in den Bereich der Philologie, wie sie etwa auch Grundlagen für die Juristen liefert; von der Herausbildung des ästhetischen Urteils ganz zu schweigen. Die Philologie liefert das Modell eines irreduziblen propädeutischen Studiums, das sich einer kanonischen Gesamtheit von Überlieferungen widmet. Sein Kern ist es, die Antike als historische Einheit zu fassen und zu verstehen. Gleichzeitig bietet die Philologie eine Methode, um aus ihrem Gegenstand trotz seines historischen Charakters Bildungskapital für die Gegenwart zu gewinnen.¹²⁷ Sie liefert geradezu eine Blaupause für den Umgang mit historischer Überlieferung in einer Gegenwart, die ihren Unterschied zu der betrachteten Zeit reflektiert, sich aber über die Erkenntnis der Geschichte definiert. Die (Klassische) Philologie fungiert als Grundmodell für historistische Erkenntnis.¹²⁸ Insofern ist sie nicht bloß ‚ein‘ Fach neben anderen, sondern eine Fundamentalwissenschaft, die in alle Studien eingreift und allen anderen Fächern vorhergehen muss.¹²⁹ Als solche steigt die Philologie zur Grundlage für das Lehramt auf.¹³⁰ Damit bildet sie auch institutionell den Kernbereich der Philosophischen Fakultät.¹³¹ Insofern kann es nicht verwundern, wenn die Grenzzie-
Ebd., S. 544 f. Vgl. etwa Wegmann 1994, S. 355. Ähnlich Kopp, Wegmann 1987, pass., bes. S. 130*, S. 135*f. Vgl. etwa die Beiträge in der zweiten Sektion („Klassische Philologie und andere Wissenschaften“) des Bandes: Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert. Bd. 1: Zur Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften. Hrsg. von Hellmut Flashar, Karlfried Gründer und Axel Horstmann. Göttingen 1979; insbesondere die Aufsätze von Ulrich Muhlack (Zum Verhältnis von Klassischer Philologie und Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert, S. 225 – 239), Karl Stackmann (Die Klassische Philologie und die Anfänge der Germanistik, S. 240 – 259) und Karlheinz Stierle (Altertumswissenschaftliche Hermeneutik und die Entstehung der Neuphilologie, S. 260 – 288). Zum Profil der Gymnasiallehrer im 19. Jahrhundert vgl. Manuel Baumbach: Lehrer oder Gelehrter? Der Schulmann in der deutschen Altertumswissenschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. In: Disciplining Classics – Altertumswissenschaft als Beruf. Hrsg. von Glenn W. Most. Göttingen 2002, S. 115 – 141. Vgl. etwa Kopp 1994, insbes. S. 683 – 697; ders., Wegmann 1987, S. 128*f.
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hungen zu anderen Fächern verschwimmen – auch deshalb nicht, weil die Vertreter anderer Fächer im 19. Jahrhundert ihrerseits studierend die Philosophische Fakultät mit ihren philologischen Schwerpunkten durchlaufen, wenn nicht gar ein philologisches Seminar absolviert hatten. Wie sehr die philologisch-historischen Fächer sich methodisch und inhaltlich durchdringen, kann ein Blick auf das Verhältnis von Philologie und Geschichtswissenschaft bei August Boeckh (1785 – 1867) und Johann Gustav Droysen (1808 – 1884) verdeutlichen. Boeckh hat den anspruchsvollsten Entwurf vorgelegt, um den Vorreiterstatus der Philologie für alle (historischen) Wissenschaften zu sichern. Er selbst hatte sich 1803 an der Universität Halle zunächst für Theologie eingeschrieben, dann aber seinen Berufsplan geändert.¹³² Von 1804 bis 1806 absolvierte er das Philologische Seminar unter Wolf. Nach einer kurzen Zeit im Berliner Schuldienst habilitierte er sich 1807 in Heidelberg, wo er zunächst außerordentlicher, dann 1809 ordentlicher Professor wurde.¹³³ Ein Ruf nach Berlin verschaffte ihm 1811 einen Lehrstuhl an der neu gegründeten Universität. In Heidelberg entwarf Boeckh seine berühmte Vorlesung zur Enzyklopädie der Philologie, in Berlin entfaltete sie dann ihre Wirkung.Veröffentlicht wurde sie erst 1877, zehn Jahre nach seinem Tod.¹³⁴ Aber von 1809 (Heidelberg) bzw. 1816 bis 1865 Biographie: Max Hoffmann: August Böckh. Lebensbeschreibung und Auswahl aus seinem wissenschaftlichen Briefwechsel. Leipzig 1901, zu Halle: S. 7– 11. Überblicke bieten: Siegfried Reiter: August Böckh (1785 – 1867). In: Neue Jahrbücher für das Klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur und für Pädagogik 9 (1902), S. 436 – 458; Poiss 2009, bes. S. 45 – 50. Vgl. Hoffmann 1901, S. 14– 24. Zur Heidelberger Universität in dieser Zeit vgl. außerdem: Theodore Ziolkowski: Heidelberger Romantik. Mythos und Symbol. Heidelberg 2009. Mit Schwerpunkt auf Georg Friedrich Creuzer: Friedrich Creuzer 1771– 1858. Philologie und Mythologie im Zeitalter der Romantik. Hrsg. von Frank Engehausen, Armin Schlechter und Jürgen Paul Schwindt. Heidelberg u. a. 2008. Jürgen Paul Schwindt hat Creuzers Begleitschrift zur Seminargründung 1807 neu herausgegeben: Friedrich Creuzer: Das akademische Studium des Alterthums, nebst einem Plane der humanistischen Vorlesungen und des philologischen Seminarium auf der Universität zu Heidelberg (1807). Hrsg. von dems. Heidelberg 2007. Zu Heidelberg um 1800 insgesamt: Heidelberg im säkularen Umbruch. Traditionsbewußtsein und Kulturpolitik um 1800. Hrsg. von Friedrich Strack. Stuttgart 1987. August Boeckh: Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften. Hrsg. von Ernst Bratuscheck. Leipzig 1877. Rudolf Klussmann gab 1886 eine zweite, um Literaturangaben vermehrte Ausgabe heraus. Diese wird hier zugrunde gelegt und fortlaufend im Text zitiert (‚Encyklopädie‘ mit Seite). Ein Neudruck des ersten, formalen Teils erschien 1966 in Darmstadt. Nach Bratuscheck legte Boeckh seiner Vorlesung durchgehend ein 1809 in Heidelberg entworfenes Kollegheft zugrunde. Dieses habe den „Grundriss seines Systems“ enthalten; durch Randbemerkungen und eingelegte Zettel habe er es stetig erweitert und für den Vortrag auch Passagen aus anderen Heften hinzugezogen. Bratuscheck setzt seine Edition aus diesen verschiedenen Quellen zusammen; er orientiert sich außerdem an studentischen (und eigenen) Nachschriften aus verschiedenen Jahren. Während Boeckh im mündlichen Vortrag prinzipiell
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(Berlin) las er das Kolleg in 26 Semestern vor insgesamt 1696 Hörern.¹³⁵ Ihre Wirkung darf daher nicht unterschätzt werden. Obwohl Boeckh sein Modell im Druck sonst nur andeutungsweise entfaltete,¹³⁶ waren seine Positionen bekannt und – zumindest als Gegenstände von Diskussionen und Debatten – verbreitet.¹³⁷ Nicht zuletzt sein eigener Disput mit Gottfried Hermann zeigt dies. Schon von den Zeitgenossen wurde er als grundlegender Streit um die Methoden der Philologie wahrgenommen. Das Stichwort lautet hier Sach- oder Wortphilologie.¹³⁸ Während variiert habe, legt Bratuscheck entweder den Wortlaut der Notizen zugrunde oder formuliert selbst. Eine historisch-kritische Ausgabe wird derzeit von einer Forschergruppe um Anne Baillot (HU Berlin) erarbeitet. Daher lege ich Bratuschecks Text zugrunde, zumal sich Boeckhs Grundkonzeption seit 1816 offenbar nicht verändert hat: vgl. Christiane Hackel: Die Bedeutung August Boeckhs für den Geschichtstheoretiker Johann Gustav Droysen. Die Enzyklopädie-Vorlesungen im Vergleich. Würzburg 2006, S. 22. Angaben von Bratuscheck in: Encyklopädie, S. III; vgl. auch Hoffmann 1901, S. 467– 469. Programmatisch, wenn auch knapp, gegen Gottfried Hermann in: August Boeckh: Ueber die Logisten und Euthynen der Athener, mit einem Vorwort und einem Anhang. In: Rheinisches Museum für Jurisprudenz, Philologie, Geschichte und griechische Philosophie 1 (1827), S. 39 – 107; außerdem etwa die 1822 in Berlin gehaltene Rede De antiquarum literarum disciplina. Gedruckt in: Miscellanea maximam partem critica. Hrsg. von F.T. Friedemann und J.D.G. Seebode. Bd. 2. Wittenberg 1823, S. 6 – 12; oder die Eröffnungsrede zur Philologenversammlung 1850 (Verhandlungen der eilften Versammlung deutscher Philologen, Schulmänner und Orientalisten in Berlin vom 30. September bis 3. October 1850. Berlin 1850, S. 14– 25). Solche Diskussionen rekapituliert (und führt): [Friedrich] Haase: [Artikel] Philologie. In: Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste […]. Hrsg. von J.S. Ersch und J.G. Gruber III.23 (1847), S. 371– 422, bes. S. 387 f.; auch Boeckh verweist im edierten Text der Encyklopädie auf Diskussionen, die sein System betreffen; etwa S. 64– 72. Auf Boeckh bezieht sich etwa auch Rudolf von Raumer: Über den Begriff der deutschen Philologie. In: Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 11 (1860). Zitiert nach: ders., Versuche, S. 1– 17. Eine ausführliche Darstellung des Streits bei Hoffmann 1901, S. 48 – 61; in methodischer Perspektive: Ernst Vogt: Der Methodenstreit zwischen Hermann und Boeckh und seine Bedeutung für die Geschichte der Philologie. In: Flashar u. a. (Hrsg.) 1979, S. 103 – 121; Lothar Bluhm: Die Brüder Grimm und der Beginn der deutschen Philologie. Eine Studie zu Kommunikation und Wissenschaftsbildung im frühen 19. Jahrhundert. Hildesheim u. a. 1997, S. 118 – 123; Wilfried Nippel: Philologenstreit und Schulpolitik. Zur Kontroverse zwischen Gottfried Hermann und August Boeckh. In: Geschichtsdiskurs. Hrsg. von Wolfgang Küttler, Jörn Rüsen und Ernst Schulin. Bd. 3: Die Epoche der Historisierung. Frankfurt am Main 1997, S. 244– 253. Johann Figl (Dialektik der Gewalt. Nietzsches hermeneutische Religionsphilosophie mit Berücksichtigung unveröffentlichter Manuskripte. Düsseldorf 1984 [= 1984a], S. 104– 110) pointiert den Streit zu einer Auseinandersetzung zwischen idealistischer (Boeckh) und kritischer (Hermann) Richtung, geht meines Erachtens aber darin zu weit,wenn er der Wortphilologie bei Hermann und Lachmann eine rein kritische Funktion zuweist. Lachmanns Konzeption beispielsweise hat eine idealistische Komponente, die er etwa in der Iwein-Vorrede offenlegt: „die ganze dichterische und menschliche gestalt des dichters mit seiner gesamten umgebung sich in allen zügen genau vorzustellen ist die vollendung des wahren verstehens, ist das ziel der philologischen auffassung“; Karl Lachmann:
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Hermann die Grammatik als Fundament und Organon der Philologie ansetzt, geht es Boeckh dezidiert um die sprachliche Überlieferung als Trägerin eines historischen Gesamtsubstrates, des ‚Geistes‘ einer Zeit.¹³⁹ Boeckhs theoretische Einleitung in die Philologie bestimmt, mit einer berühmten Wendung, Philologie als „das Erkennen des vom menschlichen Geist Producirten, d. h. des Erkannten“ (Encyklopädie, S. 10). Als solches aber identifiziert sie den Gegenstand der Philologie geradezu mit dem der Geschichtswissenschaft – beide fielen „im weitesten Sinne zusammen“, und eine Trennung sei „nicht durchzuführen“ (ebd.). Geschichtsschreibung verfahre immer schon philologisch, erstens indem „sie auf Quellen beruht“, zweitens da „geschichtliche[…] Thaten selbst ein Erkennen sind, d. h. Ideen enthalten, welche der Geschichtsforscher wiederzuerkennen hat.“ (Encyklopädie, S. 11) Methode und Gegenstand der Geschichtswissenschaften basierten damit auf der Philologie. Boeckh entwirft die Philologie als historische Fundamentalwissenschaft. Seine Enzyklopädie leitet zwar in das Studium der Philologie als Klassischer Philologie ein; aber die im ersten, formalen Teil entwickelten Operationen beanspruchen eine grundsätzliche Geltung für alle historische Erkenntnis. Für sie bietet die Klassische Philologie eine „methodische Propädeutik“ (Encyklopädie, S. 33): für die Geschichtswissenschaft genauso wie für alle ‚Philologien‘ anderer, etwa moderner Literaturen (vgl. Encyklopädie, S. 5 f.). Boeckh leistet seine methodische Reflexion explizit für diese mit. Dass sich seine Ausführungen zur „Idee der Philologie“ (so der Abschnittstitel, Encyklopädie S. 3 – 34) und zur „Formalen Theorie der philologischen Wissenschaft“ (so der Titel des „Ersten Haupttheils“, Encyklopädie S. 75) auf andere Fächer übertragen ließen, bedeutet jedoch nicht, dass er deren Abspaltung von der Klassischen Philologie befürwortete. Boeckh wendet sich gegen einen Relativismus der historischen Überlieferungen, er hält entschieden am irreduziblen Bildungswert des Studiums der Antike fest: formal, da es die Methoden für die Erkenntnis einer Zeit in ihrer historischen und organischen Entwicklung bereitstelle; material, weil die Antike immer noch herausragenden Wert für die Gegenwart besitze. Auch hier wird der Topos eines AnVorrede. In: Iwein. Eine Erzählung von Hartmann von Aue. Mit Anmerkungen von G.F. Benecke und K. Lachmann. Berlin 21843, S. IV. In diesem Sinne deutet auch Wegmann 1994, S. 416 – 419. Zum hermeneutischen Zirkel bei Lachmann vgl. Ulrich Hunger, Romantische Germanistik und Textphilologie: Konzepte zur Erforschung mittelalterlicher Literatur zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Fohrmann, Voßkamp (Hrsg.) 1987, S. 42*–68*, hier S. 62*. Boeckh zählt die Grammatik, anders als die philologische Tradition um 1800, nicht einmal zum formalen Teil der Philologie. Er bricht damit die Trias von Grammatik, Kritik und Hermeneutik auf. Die Grammatik sei nicht von vornherein gegeben, sondern selbst historisch; daher müsse sie im Laufe der philologischen Studien nach und nach erst aus den Überlieferungen konzipiert werden: „die Grammatik ist erst Product der philologischen Tätigkeit“ (Encyklopädie, S. 54).
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schlusses der Gegenwart an die Antike aufgegriffen: Mit Ausnahme einiger technischer Disziplinen und Naturwissenschaften „wurzelt alle unsere Kenntniss noch im Alterthum“ (Encyklopädie, S. 31). Dessen Studium sei daher immer noch die „Hülfwissenschaft fast aller Disciplinen“ (Encyklopädie, S. 33) – auch bzw. gerade weil die Antike von der Moderne grundlegend unterschieden, ja, ihr „Gegensatz“ sei (Encyklopädie, S. 257).¹⁴⁰ Boeckh ist damit für die philologisch-historischen Wissenschaften insgesamt ein wichtiger Referenzpunkt.¹⁴¹ Seine Vorlesungen, gleichzeitig fachspezifisch und wissenschaftspropädeutisch ausgerichtet, sind nur im zeitgenössischen Kontext der Philosophischen Fakultät denkbar. Nur so wird nachvollziehbar, wie er selbstverständlich auf die Geschichte zugreifen kann. Denn sie war zwar schon seit dem 18. Jahrhundert mit eigenen Lehrstühlen vermehrt in Philosophischen Fakultäten vertreten. Aber der verbreitete Schluss der Historiographieforschung, hierin ein Zeichen für die Konstituierung eines eigenen, autonomen Fachs zu sehen,¹⁴² ist nicht haltbar. Sebastian Manhart hat dem in seiner schon genannten Untersuchung überzeugend widersprochen.¹⁴³ Boeckhs Zugriff auf die Geschichtswissenschaft erklärt sich aus dem spezifischen Gegenstandsbereich, den er der zeitgenössischen Historie zuschreibt. Er verkennt einerseits das Profil der Aufklärungsgeschichtsschreibung, das erst die Forschung der vergangenen Jahrzehnte in seinem Facettenreichtum zur Geltung gebracht hat.¹⁴⁴ Aber andererseits bezieht er sich auf einen spezifischen Zuschnitt,
Dieser Gedanke wird im Kapitel II.1. zu Schlegel weiter ausgeführt. Entsprechend behandelt ihn auch Wegmann 1994, S. 382– 384 u. ö. So etwa Hans Erich Bödeker, Georg G. Iggers, Jonathan B. Knudsen, Peter H. Reill: Einleitung: Aufklärung und Geschichtswissenschaft. In: dies. (Hrsg.) 1986, S. 9 – 22, hier S. 16; Blanke 1989; ders., Dirk Fleischer: Artikulation bürgerlichen Emanzipationsstrebens und der Verwissenschaftlichungsprozess der Historie. Grundzüge der deutschen Aufklärungshistorie und die Aufklärungshistorik. In: dies. (Hrsg.): Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie. 2 Bde. Stuttgart – Bad Cannstadt 1990, Bd. 1, S. 19 – 132, vor allem S. 42– 44; S. 103 – 123 mit einer Aufstellung der Geschichtslehrstühle an deutschsprachigen Universitäten. Vgl. Manhart 2011. Vgl. etwa die Bände: Bödeker u. a. (Hrsg.) 1986; Von der Aufklärung zum Historismus. Zum Strukturwandel des historischen Denkens. Hrsg. von Horst Walter Blanke und Jörn Rüsen. Paderborn u. a. 1984; Blanke, Fleischer (Hrsg.) 1990; Blanke: Historiographiegeschichte als Historik. Stuttgart – Bad Cannstadt 1991 (= 1991a); außerdem die Arbeiten von Peter Hanns Reill und Georg Iggers: Reill: The German Enlightenment and the Rise of Historicism. Berkeley u. a. 1975; ders.: Die Geschichtswissenschaft um die Mitte des 18. Jahrhunderts. In: Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung. Hrsg. von Rudolf Vierhaus. Göttingen 1985, S. 163 – 193; ders.: Aufklärung und Historismus: Bruch oder Kontinuität? In: Historismus in den Kulturwissenschaften. Geschichtskonzepte, historische Einschätzungen, Grundlagenprobleme. Hrsg. von Otto Gerhard Oexle und Jörn Rüsen. Köln 1996, S. 45 – 68; Georg Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der
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wie ihn die Geschichte auf den meisten Universitäten hatte. Die Geschichtswissenschaft könne nur deshalb scheinbar von der Philologie unterschieden werden, weil sie gewöhnlich „auf das Politische beschränkt“ und als Geschichte des „Staatsleben[s]“ betrieben werde (Encyklopädie, S. 11). Diese Abtrennung eines Teilbereichs der geschichtlichen Phänomene will Boeckh im Interesse eines übergeordneten historischen Denkens aufheben. Nicht nur Boeckh glaubt, dass die philologisch-historische Methode aufgrund ihrer Erschließungskraft der üblichen historischen Praxis überlegen sei. So kann beispielsweise auch Eduard Gerhard 1827 betonen, es sei der „philologischen Geschichtsforschung“ als „Vorrecht“ „schon längst angehörig“, „den wissenschaftlichen Zusammenhang des geschichtlichen Momentes“ zu erkennen¹⁴⁵ – anders als die (politische) Geschichte. Dieser Befund wird nicht zuletzt dadurch bestätigt, dass er von einem der wichtigsten Vertreter der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert aufgegriffen wird.¹⁴⁶ Johann Gustav Droysen (1808 – 1884) hielt von 1857 bis zum Wintersemester 1882/83 siebzehnmal seine Vorlesung zur Historik.¹⁴⁷ Als Vorlesungen hatten sie nicht denselben Erfolg wie diejenigen Boeckhs,¹⁴⁸ was nicht zuletzt wohl an dem geringeren Stellenwert der Geschichte im System der philosophischen Fächer lag. Droysen will mit seiner Vorlesung eine „systematische Darstellung des Gebietes und der Methode unserer Wissenschaft“ liefern (Historik, S. 3), die Geschichtswissenschaft in ihrer eigenen Denk- und Erkenntnislogik darlegen. Schon in diesem Ansatz ist eine Parallele zu Boeckhs Anspruch nicht zu übersehen. Droysen hatte denn auch während seines Studiums
traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart. Wien u. a. 1997 (zuerst engl. 1968). Vgl. Eduard Gerhard: Grundzüge der Archäologie. Ein Fragment (geschr. 1827; 1833 auch einzeln erschienen). In: Hyperboreisch-römische Studien für Archäologie. Hrsg. von dems. Bd. 1. Berlin 1833, S. 3 – 86, hier S. 3. Gerhard (1795 – 1867) war freilich ein Schüler von Boeckh. Er bemühte sich um die Etablierung einer klassischen Archäologie, der „monumentale[n] Philologie“, als Pendant zur sprachlichen Philologie; vgl. Boeckhs Auseinandersetzung mit ihm: Encyklopädie, S. 65. Auch Manhart (2011, S. 57) betont, dass auf der Ebene der „allgemeinen Konzeptualisierung der historischen Wirklichkeit“ die „vieldiskutierten Unterschiede zwischen Ranke, Droysen und Gervinus“ „erst einmal“ verschwinden. Dies gilt insgesamt für die philologisch-historischen Wissenschaften. Der Titel wechselte dabei; vgl. Peter Leyh: Einleitung. In: Johann Gustav Droysen: Historik. Textausgabe von Peter Leyh. Stuttgart – Bad Cannstadt 1977, S. IX–XXIX, hier S. IX. Die Vorlesung wird nach dieser Ausgabe fortlaufend im Text zitiert (‚Historik‘ mit Seite); zugrundegelegt wird Leyhs Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung von 1857 auf der Grundlage der Handschriften. Zahlen siehe ebd. Leyh listet auch die Semester auf, in denen Droysen las.
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in Berlin (1826 bis 1828/29) nicht nur dessen Enzyklopädie-Kolleg gehört,¹⁴⁹ sondern er nahm ab dem Sommer 1827 auch an den Übungen von Boeckhs philologischem Seminar teil.¹⁵⁰ Die Verbindungen zwischen Boeckh und Droysen hat erst in jüngerer Zeit Christiane Hackel herausgearbeitet.¹⁵¹ Sie wurden gerne übersehen, wohl auch, weil die historische Fachgeschichtsschreibung oft das spätere Bild einer abgeschlossenen Disziplin zurückprojizierte. Freilich will Droysen der Geschichtswissenschaft ein Bewusstsein für ihre Logik als eigenes Fach verschaffen. Entsprechend schneidet er ihren Gegenstandsbereich und auch ihre Methoden anders zu, als Boeckh dies für die Philologie tut.¹⁵² Eine normative Sonderung der Antike beispielsweise lehnt er ab.¹⁵³ Umso mehr aber geht es ihm darum, ein historisches Modell zu entwickeln, mit dem sich Geschichte insgesamt denken lässt. Auf tragende Elemente, die beiden Konzeptionen gemeinsam sind – und auch vielen anderen Teilnehmern an den philologisch-historischen Diskursen –, soll weiter unten eingegangen werden. Hier kommt es zunächst darauf an, dass Droysen seinen Begriff von Geschichte und damit auch den Zuständigkeitsbereich der Geschichtswissenschaft maximal ausweitet: „alles Werden und Sein menschlicher Dinge hat ein Moment an sich, das geschichtlicher Natur ist“ (Historik, S. 4). Diese Bestimmung unterscheidet den rechten Begriff der Geschichte von der „ge-
Droysens Nachschrift ist in der Universitäts- und Landesbibliothek Halle überliefert (non vidi); vgl. dazu Hackel 2006, S. 23. Eine Übersicht der Vorlesungen, die Droysen besuchte (jedoch ohne die Seminarübungen), in: Philologe – Historiker – Politiker. Johann Gustav Droysen 1808 – 1884. Hrsg. von Christiane Hackel. Berlin 2008, S. 21. Droysen war vier Semester lang ordentliches Mitglied; vgl. die Liste der Seminarteilnehmer bei Hoffmann 1901, S. 470 – 476, hier S. 472. Hackel 2006. Hackel 2006 diskutiert ausgewogen Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Konzeptionen. Ihre Ergebnisse sind an vielen Stellen überzeugend, mitunter aber könnte man begründet anders argumentieren. Ein Beispiel: Die „ureigenste Frage“, auf die in der Historik „alle historische Kritik abzielt“, sei (Zitat Droysen): „ob ein Denkmal im Ganzen und Einzelnen mit der historischen Wahrheit übereinstimmt oder nicht“. Boeckh dagegen wolle durch Kritik „in erster Linie […] klären, ob das jeweilige Sprachdenkmal wirklich genau zu dieser Zeit, von genau diesem Autor und in genau dieser Form niedergeschrieben worden ist, wie es jetzt vorliegt.“ Hackel 2006, S. 95. Aber die ‚Kritik‘ bei Boeckh richtet sich, wenn sie nach „Angemessenheit“ fragt, genau auf diesen Punkt: Sie prüfe die „Wahrheit der alten Geisteswerke“, aber nicht „nach einem einzelnen antiken oder modernen System des Wissens“; vielmehr gelte es, „die einzelnen Aeusserungen des wissenschaftlichen Geistes in ihrer Eigenthümlichkeit durch Analyse der Werke selbst zu verstehen“, dann aber „durch Vergleichung des Inhalts aller Werke den Gesammtverlauf der Geschichte der Wissenschaft“ zu ermitteln. Diese gäben dann „den Maasstab für jede einzelne Leistung“ ab (Encyklopädie, S. 249). Vgl. etwa Historik, S. 63.
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wöhnliche[n] Meinung“ (ebd.). Damit meint Droysen eine ganze Reihe von Gegnern. Nicht nur die Auffassung des „sog. gebildeten Publikums“ (ebd.) lehnt er ab, sondern auch die der Historiker, die sich auf die politische Geschichte beschränkten. Wiederholt kommt Droysen zurück auf diese „herkömmliche Art, unter Geschichte wesentlich politische Geschichte zu verstehen“ (Historik, S. 103), und darauf, als wie unhaltbar sich dies Vorgehen erweise, wenn man „klar vor Augen hat, daß unsere Disziplin für die verschiedenartigsten Sphären menschlicher Dinge“ (Historik, S. 281) zuständig sei. Droysen positioniert sich also wie Boeckh gegen ein Geschichtsverständnis, das in den politischen Handlungen der Staaten den Inbegriff des Historischen sieht.Wie Boeckh greift er auf die Geschichte insgesamt aus – damit aber auch auf die gesamte Fülle der Überlieferungen als Spuren der Vergangenheit.¹⁵⁴ Während für Boeckh die (Klassische) Philologie methodisch und intellektuell im Zentrum dieses historischen Denkens steht, beansprucht Droysen diese methodische Vorreiterstellung für die Geschichte: Das historische Moment sei „in menschlichen Dingen das wichtigste“, das „wesentlich menschliche“; und es stehe „wissenschaftlich nur der Historie zu[…]“ (Historik, S. 4). Der Anspruch ist auch hier maximal: Die Geschichte habe neben den politischen „auch die sozialen und rechtlichen, die intellektuellen und ästhetischen, die religiösen und technischen Bildungen des Menschengeschlechtes zu umfassen“; denn schließlich „bedingen und erläutern“ sie sich gegenseitig (Historik, S. 12). Was aber ist der disziplinäre Sinn dieser großen Geste? Welche Konstellationen der Fächer lassen sich aus der Usurpation von Gegenständen einerseits und den Abgrenzungen von anderen Zugriffen andererseits erschließen? Droysen lobt im Laufe seiner Vorlesung mit Vorliebe Schriften, die, modern gesprochen, nicht in den ‚Fachbereich‘ der Geschichte gehören.Wiederholt hebt er Arbeiten der Grimms heraus. Ihre Studien zu den Märchen und den in ihnen enthaltenen Mythologemen zeigten, wie historisches Denken Zeiten erschließen könne, die „über jede Überlieferung hinaufreichten“ (Historik, S. 12) – Droysen zählt sie zur Geschichtswissenschaft. Auch die neuen Untersuchungen zu den verschiedenen Sprachen mitsamt den daraus erwachsenden „neue[n] historische[n] Disziplinen“ zählt er zum Bereich „unserer Wissenschaft“ (Historik, S. 52).¹⁵⁵ Humboldts Aufsatz über die Aufgabe des Geschichtsschreibers,vor allem aber seine Untersuchung Über die
Vgl. Muhlack 1979, S. 239: „Was Boeckh unter Philologie versteht, das versteht Droysen unter Geschichte, nämlich historische Erkenntnis schlechthin“. Neben Humboldt und Jacob Grimm nennt er später etwa Jean-François Champollion, Karl Richard Lepsius, Olivier de Rougé, Sir Henry Rawlinson, Julius Oppert, George Smith, Horace H. Wilson, Emil Roediger, Rasmus Christian Rask, Rochus von Liliencron, Udo Waldemar Dieterich (Historik, S. 80) und Franz Bopp (Historik, S. 102).
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Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues ¹⁵⁶ hebt Droysen mehrfach heraus. Diese ‚linguistische‘¹⁵⁷ Abhandlung beweise eine weit fortgeschrittene Reflexion über die „historische[] Methode“, wie sie „unserer Wissenschaft“ zugrundeliege (ebd.). Droysen geht es also darum, alle Aspekte historischer Forschung mit in den Gesamtbereich des historischen Denkens zu integrieren. Seine Grundlegung bezieht Argumente und Material aus dem, was als ‚Nachbardisziplinen‘ erscheinen könnte; und sie beansprucht Relevanz auch für sie. Genauso wie Boeckhs Ansatz wird auch Droysens Geste erst vor dem Hintergrund der Philosophischen Fakultät verständlich. Er will sein Fach nicht ‚autonomisieren‘, wenn dies bedeutet, es von anderen „historische[n] Disziplinen“ abzutrennen.¹⁵⁸ Die Methodenreflexion der Historik gilt der Gesamtheit der philologisch-historischen Wissenschaften. Aber dieses Nachdenken will Droysen nicht mehr, wie bisher, „wer weiß welchen anderen Wissenschaften“ (Historik, S. 44) überlassen.¹⁵⁹ Es soll sich von der Geschichte aus vollziehen. Der Führungsanspruch von Droysens Historie legitimiert sich gerade daraus, dass seine Vorlesung das Ineinandergreifen der philologischhistorischen Fächer in der Philosophischen Fakultät stimuliert. Bei Boeckh war es nicht anders. Droysen kann daher Boeckh sowohl würdigen als auch kritisieren. Dessen Enzyklopädie leiste eine Grundlegung der Klassischen Philologie „als historische Wissenschaft“. Deren Wert bemisst sich für Droysen danach, dass ihre „Methode“ auf andere historische Wissenschaften übertragen werden konnte und die „geschichtliche Forschung“ insgesamt angeregt habe (Historik, S. 63 f.).¹⁶⁰ Aber
Wilhelm von Humboldt: Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java, nebst einer Einleitung über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. Erster Band. Berlin 1836, S. I–CCCCXXX. So Historik, S. 52. Der Begriff der Linguistik ist freilich älter, seine frühere Geschichte ist schwankend; vgl. P. Hartmann, H. Schnelle, W. Strube: [Art.] Linguistik, Sprachwissenschaft. In: HWPh 5 (1980), Sp. 329 – 343. Erduin Julius Koch beispielsweise nennt, einem Sprachgebrauch um 1800 folgend, Linguistik das Studium der neueren Sprachen, im Unterschied zum ‚philologischen‘ Studium von antiker Geschichte und Sprachen; ders., Kurzer Inbegriff, S. 5 f. und S. 54. So aber etwa Hackel 2006, S. 79. Vgl. den Befund von Horst Walter Blanke (Historismus als Wissenschaftsparadigma. Einheit und Mannigfaltigkeit. In: Fohrmann,Voßkamp [Hrsg.] 1991, S. 217– 231 [= 1991b], hier S. 226), dass die Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhundert sich meist durch ein „Implizit-Halten der Theorie“ auszeichne. So auch zu Ranke: Wolfgang Hardtwig: Konzeption und Begriff der Forschung in der deutschen Historie des 19. Jahrhunderts. In: Konzeption und Begriff der Forschung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts. Hrsg. von Alwin Diemer. Meisenheim am Glan 1978, S. 11– 26, hier S. 16. Zum analogen Phänomen in der Deutschen Philologie vgl. unten S. 71. Einen instruktiven Vergleich der kritischen Praxis bei vier philologisch-historischen Wissenschaftlern bietet Horst Walter Blanke: Die Kritik der Alexanderhistoriker bei Heyne, Heeren,
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gleichzeitig beschränke die Klassische Philologie insgesamt ihre Geltung für die philologisch-historischen Wissenschaften, indem sie einen Ausschnitt aus der Geschichte normativ heraushebe: „In dem Maß, als sie es unterließ, das klassische Altertum in seinem geschichtlichen Zusammenhang zu fassen, verlor sie den Maßstab der Beurteilung, die Möglichkeit des tieferen Verständnisses“ (ebd.). Droysens Auseinandersetzung mit Boeckh ist also im Kern wissenschaftsstrategisch. Er erkennt die bisherige Leitfunktion der Klassischen Philologie im Feld der philologisch-historischen Wissenschaften, macht sie ihr aber nun streitig.¹⁶¹ Man muss sich vor Augen halten, dass Droysen nach Antritt der Berliner Professur seine Vorlesung gleichzeitig mit Boeckh hielt, der bis zu seinem Tod 1867 las.¹⁶²
3 Historismus und philologisch-historische Wissenschaften Einiges spricht also dafür, die philologisch-historischen Wissenschaften stärker als Einheit zu betrachten denn als sich autonomisierende, voneinander abgetrennte Einzeldisziplinen. Die Abgrenzungsdynamiken sollen damit aber nicht geleugnet werden. Die Vorlesungen Boeckhs und Droysens zeigen, wie sehr sie das Feld durchziehen. Deutlich wird jedoch auch, dass die Ausdifferenzierung noch lange nicht abgeschlossen ist. Gerade deshalb ergeben sich Abgrenzungsbedürfnisse und Konkurrenzkämpfe. Es geht um die Positionierung in einem gemeinsamen ‚disziplinär-semantischen Feld‘ (Manhart). Gemeinsam ist den philologisch-historischen Fächern, dass sie erstens historisch denken und sich zweitens dieses Denken mithilfe von im weiteren Sinne philologischen Methoden konstituiert. An Boeckh wie Droysen wurde deutlich, wie sich diese Herangehensweise nicht einfach als eine mögliche Form der Welterschließung neben beliebigen anderen versteht. Da der Mensch wesentlich geschichtlich sei, beansprucht sie, fundamental an seine Seinsweise heranzureichen. Boeckh etwa versteht nicht nur die materialen Inhalte der Klassischen Philologie als notwendige Propädeutik zu allen Wissenschaften, sondern auch ihre übertragbare formale, historische Methode. Droysen erklärt bestimmt und
Niebuhr und Droysen. Eine Fallstudie zur Entwicklung der historisch-philologischen Methode in der Aufklärung und im Historismus. In: Storia della storiografia 13 (1988), S. 106 – 127. So auch Pandel 1994, S. 11. Boeckh hielt die Enzyklopädie-Vorlesung ab dem Sommersemester 1825 regelmäßig in jedem zweiten Sommersemester; vgl. Hoffmann 1901, S. 467– 469. Damit stellte er sicher, dass jeder Student an ihr teilnehmen konnte. Im Sommer 1857, 1859 und 1865 fiel sie in der Tat mit Droysens Kolleg zusammen; vgl. die Liste bei Leyh (Historik, S. IX).
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selbstbewusst: „Aus der Geschichte lernen wir Gott verstehen und nur in Gott können wir die Geschichte verstehen“ (Historik, S. 30). Ihr Denken und das einer Vielzahl anderer Akteure des 19. Jahrhunderts vollzieht sich vor dem Hintergrund einer fundamentalen Vergeschichtlichung des Denkens. Sie bildet den geistesgeschichtlichen Hintergrund dieser Studie.Vor ihm zeichnen sich auch die Spannungsverhältnisse von Dichtung und philologischhistorischen Wissenschaften ab. Reinhart Koselleck hat die Jahrzehnte um 1800 als historische Sattelzeit bezeichnet. In grundlegenden Beiträgen hat er einen Paradigmenwechsel herausgearbeitet, an dem sich frühneuzeitliches Denken idealtypisch von dem der Moderne unterscheiden lässt.¹⁶³ Dieser fundamentale Wandel betrifft die Art und Weise, in der sich historisches Denken vollzieht. Er betrifft aber auch den Stellenwert, den die Geschichte für das europäische Selbstverständnis gewinnt. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeichnet sich ab,¹⁶⁴ was Koselleck als ‚Verzeitlichung‘¹⁶⁵ von Geschichte beschrieben hat: eine immense Aufwertung historischer Immanenz. In Termini einer Säkularisierungsgeschichte ließe sich
Vgl. zum Folgenden die Aufsätze in: Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1979; außerdem Kosellecks Beitrag zum Artikel: Geschichte, Historie. Die Herausbildung des modernen Geschichtsbegriffs. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Bd. 2. Stuttgart 1975, S. 647– 691. Außerdem beispielsweise: Jürgen Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Kaiserreich. Stuttgart 1989, S. 3 – 19; Reimer Hansen: Die wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhänge der Entstehung und der Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft. In: Geschichtswissenschaft in Berlin im 19. und 20. Jahrhundert. Persönlichkeiten und Institutionen. Hrsg. von dems. und Wolfgang Ribbe. Berlin, New York 1992, S. 3 – 44; Wilhelm Schmidt-Biggemann: Polyhistorie und geschichtliche Bildung. Die Verzeitlichung der Polyhistorie im 18. Jahrhundert. In: Fohrmann, Voßkamp (Hrsg.) 1991, S. 43 – 55; Muhlack 1979, etwa S. 227 f.; ders.: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus. München 1991. Muhlack setzt allerdings die Französische Revolution als Wendepunkt an; andere Entwicklungen wie etwa die Nationalgeistdebatte oder das Interesse für den Primitivismus sind ihr vorgängig und unterlaufen diese Datierung; vgl. etwa die Fallstudie: Verf.: Der Dichter als philologischer Priester. Geschichte, Nation und Tacitus-Rezeption in Friedrich Gottlieb Klopstocks ‚Hermann‘-Trilogie. In: DVjs 86 (2012), H. 2, S. 224– 271. Dass die Aufklärung, zumindest in ihrer zweiten Hälfte, (in Deutschland) selbst schon ein entsprechendes Denken ausprägt, hat die Forschung seit den 1970er Jahren herausgearbeitet; vgl. die unter Anm. 144 genannten Titel; zu den Beziehungen von Anthropologie und Geschichtsdenken im 18. Jahrhundert: Lucas Marco Gisi: Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert. Berlin, New York 2007; einführend: Bödeker, Iggers, Knudsen, Reill 1986. Vgl. etwa Koselleck 1979, S. 321– 339 u. ö. Bödeker, Iggers, Knudsen, Reill (1986, S. 17) sprechen von „Vergeschichtlichung“.
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dieser Vorgang grob als ‚Verzeitlichung‘ der christlichen Offenbarungsvorstellung beschreiben. Gott offenbart sich in der Welt, im Menschen und in der Geschichte selbst. Der heilsgeschichtliche Horizont der Welt, der die weltliche Vergangenheit und Zukunft im eigentlich bedeutenden Geschehen von Schöpfung und Endzeit einfasst, öffnet sich. An seine Stelle tritt die Vorstellung einer Kontinuität der Zeiten und Völker, die – und das ist entscheidend – erstens in die Zukunft offen ist und zweitens in ihrem Fortgang vom Menschen selbst gestaltet werden kann und muss. Die Geschichte verliert damit ihren pluralen Status als Sammlung von überlieferten ‚Geschichten‘ aus einer Vergangenheit, deren Makrostruktur durch das heilsgeschichtliche Geschehen sichergestellt ist.¹⁶⁶ Sie selbst erscheint als ‚Kollektivsingular‘ (Koselleck) einer ‚Geschichte‘, als Subjekt eines sinnvollen, aber deutungsbedürftigen Wandels.¹⁶⁷ Die Erscheinungen dieser Geschichte, die verschiedenen Zeiten und Orte sowie ihre Verkettung, gewinnen damit einen substantiellen Charakter. Denn an ihrem Verständnis hängt die Erkenntnis des Laufs der Welt als eines sinnvollen Geschehens, in dessen Gesamtheit sich Gott manifestiert. Und mehr noch: Die Verzeitlichung der Geschichte setzt die Gegenwart in die Pflicht, die eigene Zeit als Teil dieser Geschichte sinnvoll zu gestalten. Orientierung in dieser offenen Zukunft verspricht gerade die Erkenntnis des Menschen in der Geschichte,¹⁶⁸ und das heißt: in seiner historischen, kulturellen und sprachlichen Selbstverhandlung. Das Wissen um die eigene Identität und die Erfordernisse eigenen Handelns ergibt sich mit der historischen Erkenntnis. Paradoxerweise gilt dies nicht trotz, sondern gerade aufgrund der Individualität, die die verschiedenen historischen Vergangenheiten der verzeitlichten Immanenz auszeichnet.¹⁶⁹ Die idealistische Grundfigur, die in diesem Gedanken verbogen ist, legt Johann Gottlieb Fichte (1762 – 1814) offen, wenn er sagt, es sei eine „besonders in der Vorwelt häufig vorkommende Erscheinung, daß das, was wir werden sollen,
Vgl. Koselleck: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: ders. 1979, S. 38 – 66; Muhlack 1991, S. 44– 66. Vgl. etwa Koselleck 1975; ders. 1979, S. 262 f., S. 321 u. ö. Zur Orientierungsfunktion vgl. neben Koselleck etwa Jörn Rüsen: Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Göttingen 1983, S. 48 – 58 u. ö.; ders.: Von der Aufklärung zum Historismus – eine strukturgenetische These. In: ders.: Konfigurationen des Historismus. Studien zur deutschen Wissenschaftskultur. Frankfurt am Main 1993, S. 29 – 94, bes. S. 25 – 28. Vgl. etwa Reill 1985, S. 183 f.; Muhlack 1979, S. 231; Frithjof Rodi: „Erkenntnis des Erkannten“. August Boeckhs Grundformel der hermeneutischen Wissenschaften. In: Flashar u. a. (Hrsg.) 1979, S. 68 – 83.
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geschildert wird, als etwas, das wir schon gewesen sind“.¹⁷⁰ Was er hier auf die „Vorwelt“ bezieht, gilt a fortiori für die historische Moderne – mit dem Unterschied, dass die Geschichte als wirklich Gewesenes die Hoffnung gibt, jenes ‚als ob‘, das Fichtes Formulierung impliziert, einziehen zu können. Friedrich Carl von Savigny (1779 – 1861), der Lehrer der Grimms und Gründer der historischen Rechtswissenschaft, schreibt entsprechend 1815: Ein Zeitalter bringe keineswegs „für sich und willkührlich seine Welt hervor, sondern es thut dies in unauflöslicher Gemeinschaft mit der ganzen Vergangenheit“. Damit sei aber die Geschichte „nicht mehr blos Beyspielsammlung, sondern der einzige Weg zur wahren Erkenntniß unsers eigenen Zustandes.“¹⁷¹ Wilhelm Schmidt-Biggemann spricht treffend von einem „Absolutismus der Geschichte“.¹⁷² Die Entwürfe Boeckhs und Droysens buchstabieren dies aus. Die oben zitierte Verschränkung von Gott und Geschichte aus der Historik ist bezeichnend für die skizzierte Verzeitlichung. Boeckh greift in seinen Formulierungen nicht so weit wie Droysen. Aber die grundlegende Koppelung von historischer Erkenntnis und wertgeleiteter, normativer Orientierung für die Gegenwart liegt auch seinem Begriff von Philologie und Geschichte zugrunde. Er verhandelt sie in der Trias des Guten, Schönen und Wahren, also den traditionellen humanistisch-säkularisierten Trägern der Gottesidee. Diese drei Ideale der „Sittlichkeit“, „Schönheit“ und „Wahrheit“ wurzelten in der „Idee der Humanität“. Auch für die Gegenwart seien sie zentral. Die Ideen erschienen in der Welt jedoch nicht als sie selbst, sondern geschichtlich vermittelt in den Phänomenen, von denen die Quellen zeugten. Daher dürften sie auch nicht einfach „als gegeben“ angesehen werden. Sie müssten „aus der Entwicklung selbst gewonnen werden.“ (alle Zitate Encyklopädie, S. 257) Die Erkenntnis der Geschichte – für Boeckh vornehmlich der Antike – enthüllt auch hier den Modernen ihren eigenen Sinn. Traditionell bezeichnet der Begriff des ‚Historismus‘ diese Konstellation des 19. Jahrhunderts. Bei aller Einigkeit, dass die Geschichte grundlegende Funktionen für das Denken gewinnt, sind jedoch die konkreten Periodisierung des Geschichtsdenkens im 19. Jahrhundert und auch der Historismus-Begriff selbst in der historischen Forschung umstritten. Epochen-Unterteilungen sind für unsere Frage weniger bedeutend – es wird in den folgenden Kapiteln auf individuelle Konstellationen ankommen, womit für diese individuellen Fälle auch ein höherer Grad an Differenzierung erreicht wird. Dem Jahrhundert unangemessen aber erscheint
Johann Gottlieb Fichte: Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten. Jena, Leipzig 1794, S. 118. Vgl. Friedrich Carl von Savigny: Ueber den Zweck dieser Zeitschrift. In: Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft 1 (1815), S. 1– 17, alle Zitate S. 5 f. Schmidt-Biggemann 1991, S. 55.
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ein Historismusbegriff, der eine Beschäftigung mit den historischen Gegenständen nur um ihrer selbst willen meint. Mit dieser Bedeutung begann der Begriff um 1900 seine Konjunktur,¹⁷³ wobei dies nicht emphatisch, sondern kritisch gemeint war. ‚Historismus‘ enthielt den Vorwurf, dass die philologisch-historische Erkenntnis sich auf die Vergangenheit kapriziere, dadurch aber aus der Gegenwart verabschiede.¹⁷⁴ Nicht zuletzt Nietzsche gehört zu den ersten Kritikern des Jahrhunderts in diesem Sinn (vgl. Kap. V). Bis heute wirkt diese Vorstellung – kritisch oder emphatisch gewendet – in verschiedenen Konzeptionen des ‚Historismus‘ weiter.¹⁷⁵ Freilich trifft der Vorwurf ein Problem des historischen Denkens. Dieses wird im letzten Kapitel der Arbeit an Nietzsche zur Sprache kommen. Aber er verfehlt die Ansprüche, die dieses Denken selbst erhebt. Die Schlaglichter, die im Vorhergehenden auf die Konzeptionen der philologisch-historischen Wissenschaften geworfen wurden, zeigen dies. Die Bemühung, historische Phänomene in ihrer Eigenart zu erkennen, zielt im Kern auf die Orientierung für die Gegenwart und Zukunft ab. Das Interesse dafür, „wie es eigentlich gewesen“,¹⁷⁶ reagiert auf das Orientierungsbedürfnis der Gegenwart. Das Geschichtsdenken kann über lange Zeit plausibel machen, dass es einen irreduziblen Beitrag liefert zur Selbstverortung des Menschen und zu der Frage, welche Richtung die Zukunft nehmen kann, soll und – vielleicht – wird. Um die Tragweite des historischen Denkens im 19. Jahrhundert zu erfassen, erscheint das Modell geeignet, das Jörn Rüsen und, von ihm ausgehend, Horst Walter Blanke entworfen haben. Rüsen unterscheidet fünf Faktoren, die das
Der Begriff ‚Historismus‘ findet sich positiv jedoch schon bei Friedrich Schlegel, etwa in den Notizen Zur Philologie I: KFSA 16/1, S. 35 (III, 8); S. 37 (III, 34); S. 37 (III, 36); Denis Thouard nennt Schlegel nicht nur deshalb den „véritable père de l’historisme“ (ders.: Le centaure et le cyclope. Nietzsche et la philologie entre critique et mythe. In: Cahiers de l’Herne: Nietzsche. Hrsg.von Marc Crépon. Paris 2000, S. 154– 174, hier S. 160). Vgl. Annette Wittkau: Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems. Göttingen 1992; Jörn Rüsen, Friedrich Jäger: Geschichte des Historismus. Eine Einführung. München 1992, S. 4– 8. Martus (2007, S. 519) deutet die Historismus-Kritik seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als Aspekt einer umfassenderen Kritik an der selektionslosen Aufmerksamkeit. So etwa bei Muhlack 1991. So der vielzitierte und dadurch stark belastete Halbsatz Rankes aus den Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535 (Bd. 1. Leipzig, Berlin 1824, S. VI). Rüsen (1993, S. 49) etwa betont, dass auch eine „‚kontemplative Haltung“ wie die Rankes nicht als „Politikferne“ gedeutet werden darf.Vielmehr wirke die „deutende Aneignung der Vergangenheit“ auf „‚Geist und Herz‘“ (Ranke) und damit auf die „Tiefendimension menschlicher Intentionalität […], wo auch die Beweggründe der aktuellen politischen Praxis liegen“.
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moderne Geschichtsdenken insgesamt bestimmen.¹⁷⁷ Nicht zufällig setzt er an die erste Stelle die Interessen, d. h. die „Bedürfnisse nach der Orientierung der menschlichen Lebenspraxis in der Zeit“,¹⁷⁸ die Hoffnung auf „Sinnbildung über Zeiterfahrung“.¹⁷⁹ Zweitens werde die Geschichte auf Ideen hin bzw. durch Theorien erschlossen, beide verstanden als „allgemeine Hinsichten, in denen Vergangenheit als Geschichte erscheint“ und die „Handeln und Leiden sinnvoll machen“.¹⁸⁰ Diese Erschließung vollziehe sich drittens methodengeleitet.Viertens bediene sie sich bestimmter Formen der Darstellung, in denen die historische Arbeit sich erst manifestiere. Fünftens erfülle das historische Wissen auf diese Weise spezifische gesellschaftliche Funktionen. Es antworte damit auf die Orientierungsbedürfnisse, von denen es ausgegangen sei. Während Rüsen mit seinem Modell die ‚disziplinäre Matrix‘ der modernen Geschichtswissenschaft insgesamt beschreibt,¹⁸¹ adaptiert Blanke es an das 19. Jahrhundert.¹⁸² Er formuliert hier ein weites Paradigma, das er gegenüber der früheren Aufklärungshistorie und der späteren Historischen Sozialwissenschaft abgrenzt.¹⁸³ Das historische Denken präge erstens ein „individualisierende[s] Moment“, das der geschichtlichen Erkenntnis innewohne, wenn sie darauf bestehe, von der Überlieferung auszugehen, nicht aber von einem vorgängigen philosophischen oder theologischen System. Zweitens hebt Blanke das „Verste Rüsen 1983, S. 23 – 32. Zusammenfassung bei Blanke 1991b, S. 218 – 221; Blanke, Fleischer 1990, S. 66 – 68. Rüsen 1983, S. 25. So auch Manhart 2011, S. 119 f. Er hebt heraus, dass gerade die Orientierungsfunktion zu Übergängen zwischen einzelnen Disziplinen führte. Rüsen 1983, S. 51. Ebd., S. 26. Daniel Fulda (1996, S. 12) kritisiert an der ‚disziplinären Matrix‘ nicht zu Unrecht, dass sie „die Geschichtswissenschaft von anderen Disziplinen oder auch der Literatur isoliert“. Rüsen und Blanke geht es in der Tat u. a. um die disziplinäre Formation der Geschichtswissenschaft im engen Sinne. Aber das Modell lässt sich fruchtbar auf das philologisch-historische Denken insgesamt übertragen. Vgl. für die folgenden Zitate: Blanke 1991b, S. 223 f. Ausführlicher in ders. 1991a. Von Rüsen selbst vgl. hierzu beispielsweise ders. 1993; ders., Jäger 1992. Dies meint freilich gerade nicht, dass Blanke die Aufklärung als ‚unhistorisch‘ versteht; vgl. etwa ders., Fleischer 1990. Im 19. Jahrhundert unterscheidet Blanke zwei „Hauptphasen“, einen „klassischen Historismus“ bis 1880 mit einer „relativen Geschlossenheit“ und eine zweite Periode, in der sich historistisches Denken gegen massive Kritik behaupten müsse; ders. 1991a, S. 191 f. Für ein eigenes epochales Profil der Historiographie zwischen 1800 und 1850 gegenüber Aufklärung und (‚eigentlichem‘) Historismus plädiert Stefan Jordan: Einleitung. Deutschsprachige Geschichtstheorie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: ders. (Hrsg.): Schwellenzeittexte. Quellen zur deutschsprachigen Geschichtstheorie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Waltrop 199, S. XIX–LV. Während seine Beschreibung der historiographischen Prinzipien überzeugt, erscheint mir diese Unterteilung nicht als zwingend.
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hen“ als Methode heraus, d. h. die „hermeneutisch geregelte Intuition“ und die „quellenkritisch fundierte Interpretation“. Zentral sei drittens die Ideenlehre, auf der die Geschichtserkenntnis beruhe: „die überlieferten Quellen werden systematisch als Sinnsprache eines in ihnen manifesten Geistes entziffert“. Die Ideen wiesen einen „eigentümliche[n] Doppelcharakter“ auf. Einerseits leiteten sie die Erschließung des historischen Materials und erschienen in der zur ‚Geschichte‘ erschlossenen Überlieferung. Andererseits manifestiere sich in ihnen ein Normsystem, das für die Orientierung der Gegenwart zentral sei: „Die historischen Ideen umgreifen einerseits die Geschichte als Sachverhalt sowie andererseits den Forschungsprozess der Vergegenwärtigung dieses Sachverhalts; sie stellen damit eine Totalität der geistig-kulturellen Bestimmtheit des menschlich-gesellschaftlichen Lebens dar.“ Schließlich konstatiert Blanke eine Konzentration auf „Nation und den Staat“ als Bezugsgrößen historischer Arbeit, wobei er unter Nation auch eine „zunächst kulturell und sprachlich […] gedachte[] Gemeinschaft“ versteht.¹⁸⁴ Die Darstellungsformen der Geschichte seien dabei in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vornehmlich narrativ.¹⁸⁵ Kaum modifiziert, lässt sich diese ‚disziplinäre Matrix‘ auf das Profil der philologisch-historischen Wissenschaften insgesamt übertragen. Die Individualisierung bildet auch hier ein wichtiges Moment, besonders in der Auseinandersetzung mit Hegels Geschichtsphilosophie, die freilich ihrerseits wichtige Impulsgeberin für eigene Konzeptionen von philologisch-historischer Forschung und Geschichtsschreibung war; Beispiele innerhalb der Deutschen Philologie wären etwa Karl Rosenkranz (1805 – 1879)¹⁸⁶ oder Friedrich Wilhelm Hinrichs (1794– 1861).¹⁸⁷ Ähnlich zentral sind die hermeneutische Methode und die historische Ideenlehre in ihrer Doppelstruktur, bezogen auf die historische Erkenntnis und die Orientierung mithilfe dieses Erkennens. Die Konzentration auf
Blanke 1991b, S. 224. Zur nationalen Ausrichtung der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert siehe Iggers 1997; Hinrich C. Seeba: Zeitgeist und deutscher Geist. Zur Nationalisierung der Epochentendenz um 1800. In: Fohrmann, Voßkamp (Hrsg.) 1987, S. 188*–215*; ders.: Nationalbücher. Zur Kanonisierung nationaler Bildungsmuster in der frühen Germanistik. In: Fohrmann, Voßkamp (Hrsg.) 1991, S. 57– 71; Wolfgang E.J. Weber: Das ‚nationale Prinzip‘ als Determinante der deutschen Historiographie. In: Fulda u. a. (Hrsg.) 2002, S. 344– 365. Droysen (Historik) freilich stellt neben die Erzählung dezidiert noch andere Darstellungsformen. Zur Bandbreite an Hegel geschulter Positionen vgl. Michael Ansel: Prutz, Hettner und Haym. Hegelianische Literaturgeschichtsschreibung zwischen spekulativer Kunstdeutung und philologischer Quellenkritik. Tübingen 2003. Darin zu Rosenkranz pass., insbes. S. 113 – 116 und eingehender (am Beispiel der literaturhistorischen Auseinandersetzung mit der Romantik) S. 181– 196. Zu Hinrichs vgl. Hans-Martin Kruckis: Goethe-Philologie als Paradigma neuphilologischer Wissenschaft im 19. Jahrhundert. In: Fohrmann, Voßkamp (Hrsg.) 1994, S. 451– 493, hier S. 452.
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die Nation erfolgt meist im weiteren Sinne des ‚Volkes‘; allerdings wird dieses gerade zur gegenwärtigen Lage der Nation, des Staates bzw. der Staaten in Bezug gesetzt.¹⁸⁸ Neben die narrativen Darstellungsformen treten insgesamt auch andere Gattungen wie Untersuchungen, Sammlungen, Dokumentationen, Editionen, Miszellen.¹⁸⁹ Die philologisch-historischen Wissenschaften entstehen in dieser spezifischen Form aufgrund eines veränderten Orientierungsbedürfnisses um 1800. Sie bieten spezifische Angebote der Orientierung in einer ‚verzeitlichten Geschichte‘ (Koselleck) und einer Welt, die mehr und mehr als wesentlich geschichtliche erscheint. Gleichzeitig bezeichnen sie den Ort, an dem sich eine geregelte wissenschaftliche Ausbildung erlangen lässt, um sich kunstgerecht an ihnen zu beteiligen: Dies ist die Philosophische Fakultät der Universitäten, als Ort von forschender Freiheit (Kant), als Institution, in der „alles, was unmittelbar für die moralische Cultur der Nation geschieht, zusammenkommt“ (Humboldt)¹⁹⁰ und die – so Boeckh¹⁹¹ – das „ganze Gebiet des menschlichen Erkennens“ umfasst, während die „sogenannten Facultätswissenschaften […] in Wahrheit nur Anwendungen“ des hier entfalteten Wissen seien.
Vgl. etwa Günter Schäfer-Hartmann: Literaturgeschichte als wahre Geschichte. Mittelalterrezeption in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts und politische Instrumentalisierung des Mittelalters durch Preußen. Frankfurt am Main u. a. 2009, S. 67– 104 und pass. Das ‚Projekt der Literaturgeschichte‘, das Jürgen Fohrmann beschrieben hat, steht neben den anderen Tätigkeiten, auch wenn sich Konkurrenzen verschiedener Formen der Forschung entwickeln und etwa Gervinus „Geschichtsschreibung“ und „Geschichtsforschung“ einander gegenüberstellt. Alle projektieren – wenn auch auf unterschiedliche Weise – eine Synthese, sei es mittels Vervollständigung des Materials und seiner forschenden Durchdringung, sei es durch Syntheseleistungen in der narrativen Darstellung. Vgl. zu den Spannungen von ‚Geschichtsforschung‘ und ‚Geschichtsschreibung‘: Fohrmann: Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung zwischen Aufklärung und Kaiserreich. In: ders., Voßkamp (Hrsg.) 1994, S. 576 – 604; ders. 1989, S. 35 – 55; ders.: Literaturgeschichtsschreibung als Darstellung von Zusammenhang. In: ders., Voßkamp (Hrsg.) 1987, S. 174*–187*, pass., bes. S. 179*f. Zur Literaturgeschichtsschreibung vgl. die überaus nützliche Bibliographie von: Andreas Schumann: Bibliographie zur deutschen Literaturgeschichtsschreibung 1817– 1945. München u. a. 1994. Wilhelm von Humboldt: Ueber die innere und äussere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin. In: ders.: Werke in fünf Bänden. Hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Darmstadt 1960 – 1981, Bd. 4, S. 255 – 266, hier S. 255. Vgl. Boeckh, Eröffnungsrede 1850, die folgenden Zitate S. 16.
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4 Konkurrenz um den ‚Volksgeist‘ Die philologisch-historischen Wissenschaften formulieren ihre Orientierungsangebote in ihren Forschungen. Diese beschränken sich aber nicht auf den institutionellen und wissenschaftlichen Innenbereich. Der Stellenwert dieser Wissenschaften im 19. Jahrhundert ergibt sich vielmehr daraus, dass die Gegenstände und Methoden eine gesamtgesellschaftlich relevante Orientierung versprechen. Sie richtet sich direkt oder indirekt auf die Gegenwart und deren Akteure insgesamt. Nicht nur die staatliche Regelung des Lehrerberufs sorgt dafür, dass dieses Orientierungswissen in der Gesellschaft insgesamt einen zentralen Platz beanspruchen kann.¹⁹² Schon in den zentralen Gegenständen der philologisch-historischen Forschung – dem Volk bzw. der Nation und dem Staat – zeigt sich deren wertgeleitete Dimension: Obwohl alles geschichtlich ist, lassen sich innerhalb der Geschichte Entitäten finden, die der Gegenwart und ihrer Orientierung zugutekommen. Die historische Arbeit zielt gerade darauf, in der Geschichte bzw. durch die Überlieferung solche Ideen dingfest zu machen: Hier könne der ‚Geist‘ eines Volkes oder einer Nation erkannt werden. Historische Erkenntnis, so etwa Savigny, vermittle dem Menschen sein Geprägtsein „von der höhern Natur des Volkes als eines stets werdenden, sich entwickelnden Ganzen.“¹⁹³ Die Vorstellung, dass ein Volk einen je eigenen Geist besitze, verbreitete sich im Laufe des 18. Jahrhunderts.¹⁹⁴ Um 1800 beginnt sie, zu einer leitenden Vorstellung der philologisch-historischen Wissenschaften zu werden. Nicht zuletzt Friedrich August Wolf zeigte 1795 in seinen Prolegomena zu Homer, wie die gesamte griechische Antike als kulturelle Einheit begriffen werden könne. Diese manifestiere sich in den Homerischen Epen, da sie sich in den überlieferten Text
Kopp (1994, S. 688) betont die „Werthaftigkeit der Unterrichtsgegenstände“ im Erziehungssystem. Zu dieser Wertorientierung der Philologie vgl. auch Wegmann 1994, S. 335: „Gleich ob eine auf das Humanum verpflichtete Pädagogik oder eine auf das Nationale fixierte kulturelle Legitimationspolitik, stets war (und ist?) es die als substantielle Eigenschaft des Gegenstands gedachte Wertqualität, die das Eingreifen fachfremder Instanzen zu rechtfertigen schien.“ Wegmann stellt dies kritisch fest; dass die Philologie sich dagegen – bis heute – nicht zu einer selbständigen und klar abgrenzbaren Disziplin entwickelt habe, erscheint ihm als ein Mangel. Savigny, Zweck, S. 4. Die Bedeutung der Klimatheorie nicht nur bei Montesquieu für die Vorstellung von „génies des nations“ arbeitet Gisi (2007, S. 85 – 102) heraus. In Deutschland kommt hier Winckelmann und Herder eine wichtige Rolle zu. Zur deutschen Nationalgeistdebatte im 18. Jahrhundert vgl. Seeba 1987, S. 201– 206; mit weiterer Literatur: Verf. 2012a, S. 228 – 242.
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kondensiert habe.¹⁹⁵ Wolfs Konzept der Altertumswissenschaft faltet diesen Gedanken aus. Sie bezieht die materialen Überlieferungen auf diese Einheit des antiken Geistes; die philologisch-historischen Operationen vermitteln seine Erkenntnis. So wohne der moderne Betrachter „einer organischen Volksbildung“ bei,¹⁹⁶ Ziel sei die „Beobachtung einer organisch entwickelten bedeutungsvollen National-Bildung“ durch das „Studium der alten Ueberreste“.¹⁹⁷ So argumentiert auch Friedrich Schlegel, der mit einer nur von wenigen erreichten Reflexionstiefe die Möglichkeiten der philologisch-historischen Wissenschaften durchdenkt. Er fragt in seiner ersten größeren Untersuchung, ausgehend von Wolf, dezidiert nach dem Geist der Antike. Ihn forschend zu rekonstruieren, erscheint als Schlüsselaufgabe, damit auch die Moderne einen ihr gemäßen Geist entfalten könne (vgl. Kap. II.1.2.). Diese Geistvorstellung findet sich in der philologisch-historischen Diskussion durchgehend.¹⁹⁸ Die Grimms entwickeln von ihr aus den Gegensatz von Naturpoesie und Kunstpoesie (vgl. Kap. III.2.2.). Sie erscheint genauso bei Humboldt,¹⁹⁹ bei Boeckh²⁰⁰ oder bei Droysen.²⁰¹
Etwa über den „Geist der Griechen“ und seine Entwicklung: Aus den Epen sehe man, „wie naturgemäß bei den Künsten der Griechen alle Stufen und Fortschritte untereinander verknüpft sind, und wie jede einzelne der andern vorausgeschickt ist, so daß man aus dem vorhergehenden Entwicklungsgang und den vorausgehenden Ursachen erkennen kann, warum gerade diese Kulturstufe der Reihe nach folgen mußte.“ Keines „andern Volkes Geist“ habe Ähnliches hervorgebracht; Friedrich August Wolf: Prolegomena zu Homer. Hrsg. und übs.von Hermann Muchau. Leipzig [1908], S. 140 (im Folgenden zitiert als ‚Prolegomena‘ mit Seite); im Original spricht Wolf vom ‚ingenium Graecum‘ und vom ‚ingenium nationis‘; ders.: Prolegomena ad Homerum sive de operum Homericum prisca et genuina forma variisque mutationibus et probabili ratione emendandi. Bd. 1 [alles Erschienene]. Halle 1795, S. CXII. Friedrich August Wolf: Darstellung der Alterthums-Wissenschaft. In: Museum der Alterthums-Wissenschaft. Hrsg. von dems. und Philipp Buttmann. Bd. 1. Berlin 1807, S. 3 – 145, hier S. 138. Wolf, Darstellung, S. 125. Vgl. zu diesem Gedanken bei Wolf und darüber hinaus etwa: Axel Horstmann: Die Forschung in der Klassischen Philologie des 19. Jahrhunderts. In: Diemer (Hrsg.) 1978, S. 27– 58, hier S. 35 f. Zum Geistbegriff vgl. etwa Seeba 1987, S. 197– 215; Wegmann 1994, S. 358 f.; Schäfer-Hartmann 2009, S. 21– 46. Ein Beispiel statt vieler: „So lange der Geist eines Volks in lebendiger Eigenthümlichkeit in sich und auf seine Sprache fortwirkt, erhält diese Verfeinerungen und Bereicherungen, die wiederum einen anregenden Einfluss auf den Geist ausüben.“ Humboldt, Kawi-Sprache, S. CCXI. Beispielsweise Encyklopädie, S. 56 f.: Durch die Philologie soll das Volk als „ein in sich selbst vollendeter Organismus erkannt werden.“ Es geht um den „innerste[n] Kern seines Gesammtwesens“. Etwa in Bezug auf die sprachhistorischen Forschungen: „freilich nicht mehr den formenden Geist der Individuen, nicht mehr die einzelnen Willensakte finden und erkennen wir da, aber den nicht minder individuellen Geist der großen Gemeinsamkeit des Volkes, das sich in der Sprache als gemeinsam weiß und darstellt; der Volksgeist bricht in der Sprache hervor“ (Historik, S. 132).
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Der Volksgeist ist der Inbegriff der organischen Ganzheit eines Volkes.²⁰² Aber er wird nicht als bloße Konstruktion verstanden, sondern als Wesenheit und Agens der Geschichte. Die philologisch-historische Konzeption schafft sich mit ihm eine metaphysische Basis, die sich freilich in der historischen Erkenntnis ergibt. Da er in den empirischen Zeitläuften der Welt erscheine, stoße apriorische, philosophische Konstruktion nicht zu ihm vor.²⁰³ Von hier aus ergibt sich die Polemik, die nicht wenige Vertreter der philologisch-historischen Wissenschaften gegen Hegel führen, wenn sie gegenüber der ‚Philosophie‘ auf dem Primat des überlieferten Datums bestehen. Gerade aber weil der Geist als real wirksame Kraft in der Geschichte aufgesucht werden könne, gewinnt er seine Orientierungsfunktion für die Gegenwart. Aus der Geschichte sprechen sich dem historischen Blick Wahrheiten über ihren Verlauf zu. Hier gewinnt er einen Begriff von Kräften, die dem Wandel zugrundeliegen. Diese können auch für das gegenwärtige Leben normative Bedeutung beanspruchen. Freilich besteht dieser normative Wert nicht in einer unmittelbaren Vorbildfunktion für das eigene Handeln – denn die vergangene Geschichte ist vergangen. Aber auf der Ebene leitender Ideen beansprucht der ‚Geist‘, durch seine Erkenntnis auch für die Gegenwart fruchtbar zu werden. Es ist eine Konsequenz der Verzeitlichung, dass der ‚Geist‘ nicht in einer festen Gestalt zur Erscheinung kommt, sondern sich historisch und lokal wandelt. Die Völker bzw. Nationen werden zu seinem Ausdruck und Träger. Damit aber kann sich prinzipiell eine Konkurrenz der Wertorientierungen entfalten. Für die Klassische Philologie hat sich der Geist der Humanität in der Antike in einer sonst nicht mehr erreichten Fülle manifestiert. Die philologisch-historische Erkenntnis kann ihn reaktivieren und in die Moderne einführen. Vielleicht kann sie gar, wie etwa Boeckh sich zu spekulieren erlaubt, zu einer „dritte[n] grosse[n] Weltperiode“ überleiten, die „die ächten Elemente des Antiken und des Modernen zu einer höheren Einheit“ verschmilzt.²⁰⁴ Der Neuhumanismus verdankt seine Wirkung dabei einer besonderen konzeptuellen ‚Leistung‘. Sie lag darin, zwischen der deutschen nationalen Identität und dem Antiken keinen ausschließenden Gegensatz aufkommen zu lassen. Eine Kontinuität zur ‚deutschen‘ Moderne war denkbar, nicht selten gestützt durch das
Zum Begriff des Organischen vgl. Jordan 1999, S. XLV–XLVII; zum späten 18. Jahrhundert (Herder) und zur Jahrhundertwende: Stefan Metzger: Die Konjektur des Organismus. Wahrscheinlichkeitsdenken und Performanz im späten 18. Jahrhundert. München 2002. Zur Aufwertung des Individuellen und Empirischen vgl. etwa Hardtwig 1978, S. 11– 26, hier S. 12 f.; Bödeker, Iggers, Knudsen, Reill 1986, S. 19 f.; Fohrmann 1987, S. 180*f.; ders. 1989, S. 29 – 55 u. ö.; Jordan 1999, S. XLVIII. Boeckh, Eröffnungsrede 1850, S. 23.
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Postulat einer Verwandtschaft zwischen beiden ‚Volksgeistern‘.²⁰⁵ Diese ist so konzipiert, dass sie durch die Entstehung der Altertumswissenschaft in Deutschland einerseits gefördert, andererseits aber auch progressiv belegt wird. Die forschende Versenkung in die Antike erschließt deren Geist, gleichzeitig scheint der Forschungserfolg eine besondere Nähe zwischen den Deutschen den Griechen zu bestätigen. Freilich steht die neuhumanistische Konzeption nicht allein. Ein Konkurrenzverhältnis kann sich von der eigenen, deutschen Vergangenheit her ergeben.²⁰⁶ Auch der Neuhumanismus bezieht sich zwar auf die deutsche Nation. Aber muss das, was den Deutschen gegenwärtig Orientierung verschaffen soll, nicht vielmehr aus der Betrachtung ihres genuin eigenen Volksgeistes gewonnen werden? Dieses ‚direkte‘ Angebot machen die altdeutschen Studien, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts einen Aufschwung erleben²⁰⁷ und am Ende des 19. Jahrhunderts, trotz mancher Rückschläge, als ‚Deutsche Philologie‘ oder ‚Germanistik‘ zu einem wichtigen Fach in der Philosophischen Fakultät geworden sind.²⁰⁸ Grundsätzliche methodische Differenzen zur (Klassischen) ‚Philologie‘ bestehen dabei nicht.²⁰⁹ Schließlich haben fast alle Vertreter dieser „jüngste[n] der Wissenschaften“²¹⁰ philologisch-historische Ausbildungen durchlaufen, die Vgl. Leghissa 2008, pass, bes. S. 171– 174; Kopp 1994, S. 714; Landfester 1988, S. 86 – 88; Landfester führt den Gedanken einer Verwandtschaft der Deutschen und der Griechen auf Wilhelm von Humboldt zurück; er spielt aber schon eine große Rolle im frühneuzeitlichen Sprachund Geschichtsdenken. Es entsteht gerade aufgrund der Übertragbarkeit des altphilologischen Bildungsmodells auf die ‚nationale‘ Überlieferung; vgl. Wegmann 1994, S. 367 f. Freilich gibt es seit dem Humanismus eine intensive, unter nationalistischem Vorzeichen stehende Beschäftigung mit deutscher Geschichte und Überlieferung; nicht zuletzt Tacitus rückt hier ins Zentrum. Vgl. mit weiteren Literaturangaben: Verf. 2012a. Dazu sei verwiesen auf: Sigismund von Lempicki: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1920, 21968; Wolfgang Harms: Das Interesse an mittelalterlicher deutscher Literatur zwischen der Reformationszeit und der Frühromantik. In: Akten des 6. Internationalen Germanisten-Kongresses Basel 1980 (Jahrbuch für Internationale Germanistik A, Bd. 8, 1981), S. 60 – 84; den kurzen Aufriss von Johannes Janota: Zur Rezeption mittelalterlicher Literatur zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert. In: Das Weiterleben des Mittelalters in der deutschen Literatur. Hrsg. von James F. Poag und Gerhild Scholz-Williams. Königstein 1983, S. 37– 46; Wolfgang Huber: Kulturpatriotismus und Sprachbewußtsein. Studien zur deutschen Philologie des 17. Jahrhunderts. Frankfurt am Main u. a. 1984; Bernd Neumann: Die verhinderte Wissenschaft. Zur Erforschung Altdeutscher Sprache und Literatur in der ‚vorwissenschaftlichen‘ Phase. In: Mittelalter-Rezeption. Ein Symposion. Hrsg. von Peter Wapnewski. Stuttgart 1986, S. 105 – 118. Vgl. insgesamt Meves 1994. Ähnlich zur Romanischen Philologie: Stierle 1979. So Reinhold Bechstein: Die deutsche Philologie. In: Die Wissenschaften im neunzehnten Jahrhundert, ihr Standpunkt und die Resultate ihrer Forschungen. Eine Rundschau zur Belehrung
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maßgeblich von der Klassischen Philologie geprägt waren. Am Anfang des 19. Jahrhunderts fordern Georg Friedrich Benecke (1762– 1844) und Friedrich Heinrich von der Hagen (1780 – 1856), die altdeutschen Studien nach dem Modell der Altertumswissenschaft zu behandeln.²¹¹ Die methodische Reflexion leistet lange Zeit die Klassische Philologie. Der Befund, den Droysen für die Geschichtswissenschaft erhoben hatte, wiederholt sich hier: „Besondere Werke über Hermeneutik und Kritik in Anwendung auf deutsche Schriftdenkmäler sind nicht vorhanden“, so schreibt Hoffmann von Fallersleben (1798 – 1874) 1836 in seinem Grundriss der deutschen Philologie.²¹² Der Gegenstand der Deutschen Philologie bzw. Germanistik wird oft analog zu dem der Klassischen bestimmt: etwa als „die geistige Entwicklung des Volkes in seiner Gesammtheit“.²¹³ Auch die Differenzen über die Füllung dieser Gegenstandsbestimmung vollziehen sich in der Deutschen Philologie ähnlich wie in der Klassischen. Man streitet sich etwa über die Frage, ob Philologie und Archäologie auseinandertreten sollten.²¹⁴ So plädiert Hoffmann für eine Konzentration auf die Sprache als wesentliches Medium menschlicher Selbstverhandlung: „Die deutsche Philologie ist das Studium des geistigen Lebens des deutschen Volkes insofern es sich durch Sprache und Litteratur kundgiebt.“²¹⁵ Andere sehen das anders. Heinrich Leo (1799 – 1878) optiert 1838 für eine „deutsche[…] Alterthumswissenschaft“.²¹⁶ In Franz Pfeiffers Zeitschrift Germania soll ab 1856 „das ganze deutsche Alterthum, das ganze deutsche Leben in allen seinen Aeusserungen“ zur Sprache kommen. Nur aus pragmatischen Gründen gliedert er „die eigentliche politische Geschichte“ aus. Sie gehöre zwar in den Gegen-
für das gebildete Publikum. Hrsg. von einem Verein von Gelehrten […] unter der Redaktion von Johann Andreas Romberg. Sondershausen 1859, Bd. 4, S. 82– 116, hier S. 82. Vgl. Stackmann 1979, S. 242 f.; Meves 1994, S. 128. Heinrich Hoffmann [von Fallersleben]: Die deutsche Philologie im Grundriss. Ein Leitfaden zu Vorlesungen. Breslau 1836, S. XXXVII. Ulrich Hunger (1994, S. 240), Nikolaus Wegmann (1994, S. 399 und S. 401) und Klaus Weimar (Interpretationsweisen bis 1850. In: Fohrmann, Voßkamp [Hrsg.] 1987, S. 152*–173*, hier S. 173*) bestätigen diesen Befund. Bechstein, Philologie, S. 99. Insgesamt betont auch Meves (1994, S. 143), wie groß um die Mitte des Jahrhunderts „die Spannweite in dem als Deutsche Philologie firmierenden Fach war“. Hoffmann, Grundriss, S. V. Er selbst berichtet, dass er den Gegenstand in seiner Studienzeit weiter aufgefasst habe: „Ich begriff darunter das Gothische, Alt-, Mittel-, Neuhochdeutsche mit allen seinen Mundarten, das Altsächsische, Niederdeutsche und Niederländische, das Friesische, Angelsächsische und Englische, und das Skandinavische; ferner die deutsche Litteratur- und Culturgeschichte, alles Volksthümliche in Sitten, Gebräuchen, Sagen und Märchen, sowie endlich Deutschlands Geschichte, Kunst, Alterthümer und Recht“; ders.: Mein Leben. Aufzeichnungen und Erinnerungen. 6 Bde. Hannover 1868, Bd. 1, S. 214. H.[einrich] L.[eo]: Die neue Gestaltung der deutschen Alterthumswissenschaft. In: Deutsche Viertel-Jahrsschrift 1 (1838), H. 1, S. 118 – 136.
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standsbereich, müsse aber des „Umfangs wegen ihre eigenen Zeitschriften haben“.²¹⁷ Auch der Streit über Sach- oder Wortphilologie, den in den 1820er Jahren Boeckh und Hermann geführt hatten, wiederholt sich hier. Jacob Grimm greift diese Differenz in einer vielzitierten Passage seiner Gedächtnisrede auf Lachmann auf und bezeichnet sie als wesentlichen Unterschied, der ihn von diesem trenne: Man könne alle „philologen […] in solche theilen, welche die worte um der sachen, oder die sachen um der worte willen treiben.“²¹⁸ Er selbst gehöre der ersten Kategorie an, Lachmann der zweiten. Dessen Leistung für das Anliegen der Deutschen Philologie tue dies freilich keinen Abbruch. Von den Zeitgenossen und den Späteren werden Grimm und Lachmann meist gerade aufgrund ihrer unterschiedlichen Ausrichtung gemeinsam als Gründerväter der Disziplin angesetzt. Differenzen über die konkrete Ausgestaltung der Erkenntnis des ‚Deutschen‘ ergeben sich oft durch zwei Faktoren. Erstens aus Hierarchisierungen der Überlieferungen: Wer die Sprache präferiert, tut dies, weil sie der wesentliche Ausdruck des Volkgeistes sei.²¹⁹ Wer die anderen Altertümer mit einbezieht, betont, dass sie gleichfalls ‚sprechende‘ Ausdrücke dieses Volksgeistes seien. Boeckh und Droysen würden diese Meinung entschieden teilen. Zweitens ergeben sich Differenzierungen aus pragmatischen Gründen. Obwohl andere Teilbereiche des ‚Deutschen‘ wesentlich zu seiner Erkenntnis gehörten, könne man aufgrund der steigenden Masse an Erkenntnissen kein Polyhistor mehr sein. Es gelte sich also zu beschränken bzw. die ergänzende Arbeit andere tun zu lassen.²²⁰ Die auf das Volk
Alle Zitate: Franz Pfeiffer: Germania. Vierteljahrsschrift für deutsche Alterthumskunde. Prospekt [1856]. Gedruckt in der Sammlung: Johannes Janota (Hrsg.): Eine Wissenschaft etabliert sich. 1810 – 1870.Wissenschaftsgeschichte der Germanistik III [I und II nicht erschienen]. Tübingen 1980, S. 320 – 323, hier S. 321. Jacob Grimm: Rede auf Lachmann gehalten in der öffentlichen Sitzung der Akademie der Wissenschaften am 3. Juli 1851. In: ders.: Kleinere Schriften. 8 Bde. Berlin 1864– 1890, Bd. 1, S. 145 – 162, hier S. 150. So beispielsweise Hoffmann: „Das Durchwühlen der Erde fördert, mit oft bedeutendem Kostenaufwande, eine Menge von Dingen zutage, woraus […] der Wissenschaft kein Vortheil erwächst.“ Ders., Grundriss, S. X. Auch Lachmanns Schüler Moriz Haupt spricht Altertümern „geistigen gehalt“ ab: „die gräber die man zu hunderten aufgedeckt hat sind doch fast stumm geblieben“; Vorwort zum ersten Hefte. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 1 (1841), S. III–VIII; zitiert nach Janota (Hrsg.) 1980, S. 212– 216, hier S. 212. Innerhalb der schriftlichen Überlieferung unterteilt er aber pragmatisch und weist etwa der (politischen!) Geschichte „eigene scheuern“ zu (ebd.). So etwa die Argumentation, mit der Adelbert von Keller (1812– 1883), Tübinger a.o. Professor (ab 1844 Ordinarius) für neuere Sprachen, die „moderne Philologie“ – im Unterschied zur Klassischen und Orientalischen – bestimmt. Er lehnt die Definition ab, dass die Philologie „ein Volk oder einen Kreiß von Völkern in der Allseitigkeit ihrer Existenz bis auf den Grund ihrer Seele“ erforschen solle. Denn da man kein „Polyhistor“ mehr sein könne, müsse man danach streben,
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gerichtete Wissenschaft bleibt eine, aber diese Einheit wird nicht mehr individuell realisiert, sondern durch die Gesamtheit der Forscher.²²¹ Bei allen Differenzen, die sich auch innerhalb der Deutschen Philologie ergeben – im Kern geht es um die Erkenntnis des ‚Deutschen‘. Dieses steht als Gegenstand obenan, wie auch immer man ihn unterteilt und versteht. „Hat der Gegenstand überhaupt ein wahres Interesse?“, so fragt Heinrich Leo in einer Zeit, als diese Frage noch nicht vollständig beantwortet schien; und er präzisiert: Hat er „eine wichtige Beziehung zur Gegenwart?“²²² Die Antwort ist natürlich positiv, denn wie das organische Leben insgesamt sich von seiner Wurzel her entwickle, so hänge auch das menschliche Leben der Gegenwart davon ab, dass man sich seiner Wurzeln bewusst werde.²²³ Jede Neuerung sei „nur ein Wiederaufwecken, ein Verjüngen“. Die „ursprüngliche Art“ des Volkes bilde „eine sittliche Grundlage“. Diese erschließe man sich durch ein wahres „Verständniß“. Mit seiner Hilfe könnten die „Ursprünge“ erkannt und wirksam werden, und das bedeute: die „concret-immanenten Begriffe der Dinge“, der ‚Geist‘ des eigenen Volkes.²²⁴
„seinen Kreiß sich fest abzugrenzen“. Dies betrifft freilich die Forschung, es meint nicht, dass man sich von den anderen Wissenschaften nicht auch eine „allgemeine Kenntniß und Uebersicht“ verschaffen müsse; Adelbert von Keller: Inauguralrede über die Aufgabe der modernen Philologie. Stuttgart 1842. Zitiert nach Janota (Hrsg.) 1980, S. 263 – 277, hier S. 271. Zu von Keller und den Umständen der Lehrstuhlbesetzung vgl. Ursula Burkhardt: Germanistik in Südwestdeutschland. Die Geschichte einer Wissenschaft des 19. Jahrhunderts an den Universitäten Tübingen, Heidelberg und Freiburg. Tübingen 1976, S. 16 f. Auch in der Klassischen Philologie wird die Polymathie vom Individuum an die Wissenschaft delegiert.Welcker beispielsweise spricht dies in seiner Rede Über die Bedeutung der Philologie auf der Versammlungen deutscher Philologen und Schulmänner 1841 an: Polymathie hatte früher der Philologe, jetzt besitzt sie die Philologie; ders.: Kleine Schriften. 5 Bde. Bonn (und Elberfeld) 1844– 1867, Bd. 4, S. 1– 16, hier S. 14. Zuerst in: Verhandlungen der vierten Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Bonn 1841. Bonn 1842, S. 42– 52. Boeckh greift diesen Gedanken 1850 auf (Eröffnungsrede, S. 19). In der Encyklopädie (S. 15) begründet er, weshalb die Philologie trotzdem ihren Bildungswert behalte: „Man kann sich im Einzelnen so vertiefen, dass man in ihm [dem Teil; MGD], wie in einem Mikrokosmos das Ganze, den Makrokosmos erfasst. In jeder einzelnen Idee wird das Ganze erreicht; aber alle Ideen kann keiner umfassen.“ Wie ein solcher „Riesenbau“ (Theodor Mommsen: Ansprache am Leibnizschen Gedächtnistage vom 4. Juli 1895. In: ders.: Reden und Aufsätze. Berlin 1905, S. 196 – 198, hier S. 196), errichtet in „cyklopischer Langsamkeit“ (Friedrich Nietzsche: Homer und die klassische Philologie. Basel 1869, zitiert nach: KGW II.1, S. 253), seine Einheit und seine Bildungsfunktion behalten kann, wird mehr und mehr zu einem zentralen Problem der philologisch-historischen Wissenschaften werden; vgl. etwa Fohrmann 1989. Alle Zitate: L.[eo], Gestaltung, S. 118. Vgl. ebd. Alle Zitate: ebd., S. 118 f.
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Ein ähnlich gelagertes Beispiel bietet 20 Jahre später Konrad Hofmann (1819 – 1890).²²⁵ Auch er will noch einmal gegen die Skeptiker und Zweifler darlegen, welchen notwendigen Beitrag zur Gegenwart die „Wissenschaft altdeutscher Sprache und Literatur“ leisten könne.²²⁶ Sie erschließe eine „Masse von Material, von Thatsachen und Beobachtungen“, bringe sie aber „zur Vernunft“, indem sie „die Gründe ihres Seins und Werdens […], ihren Organismus, ihre Entstehungsund Entwicklungsgeschichte“ ergründe.²²⁷ Historische Erkenntnis sei die der Moderne angemessene Selbsterkenntnis: Sie zeige zwar, dass man nicht in die Vergangenheit zurückkehren könne. Aber durch Erschließung der nationalen Identität und Kenntnis der geschichtlichen Entwicklung gefestigt, dürfe man sicher in die Zukunft schreiten.²²⁸ Die Beispiele ließen sich leicht vermehren. Die Entschiedenheit, mit der die Vertreter dieses Faches ihre nationale Bedeutung gegen die Klassische Philologie ausspielen, variiert dabei. Das ist verständlich; denn einerseits besteht Grund zur Konkurrenz, die deutschen Ursprünge sind schließlich gerade nicht die antiken.²²⁹ Andererseits bestehen zwischen beiden die skizzierten, zahlreichen personellen wie methodischen Verbindungen.²³⁰ Die Vorreiterstellung der Klassischen Philologie in der geschichtlichen Entwicklung der philologisch-historischen Wissenschaften wird durchgehend anerkannt. Die Bestrebungen gehen daher oft dahin, der Deutschen Philologie im institutionellen Feld der philologisch-historischen Wissenschaften einen Platz neben ihr zu sichern. Rudolf von Raumer beispielsweise spricht sich 1861 gegen eine Trennung von Deutschlehrern und Klassischen Philologen aus. Stattdessen sollten die Lehrer der klassischen Sprachen wirksam verpflichtet werden, sich auch eine „wissenschaftliche Kenntnis“ der Deutschen Philologie zu verschaffen.²³¹ Anders war dies in der damaligen Situation auch nicht zu denken, sah doch 1837 der preußische Normalplan für das Gymnasium 86 Stunden Latein, 42 Stunden Griechisch und 22 Stunden Deutsch vor.²³² Die Lage in
Vgl. IGL, S. 783 f. Konrad Hofmann: Über die Gründung der Wissenschaft altdeutscher Sprache und Literatur. Festrede zur Feier des Geburtstagsfestes Seiner Majestät Maximilian II. Königs von Bayern […]. München 1857, S. 12. Ebd., S. 7. Ebd., S. 13. Dies betont Meves 1994, S. 152. Vgl. zu beiden Aspekten der Konkurrenz und der Akzeptanz: Stackmann 1979. Die Anerkennung betont Kopp 1994, S. 699 f. und S. 707; und ders., Wegmann 1987, S. 151*. Raumer, Aufgabe, S. 28. Von insgesamt 276 Wochenstunden für neun Schuljahre; zum Normalplan für den Gymnasialunterricht und den Zahlen: Kopp 1994, S. 699; auch: Adolf Matthias: Geschichte des deutschen Unterrichts (= Handbuch des deutschen Unterrichts an höheren Schulen. Hrsg. von dems. Bd. I/1).
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Bayern, wo Raumer lehrte, war noch deutlicher. Der Lehrplan von Friedrich Thiersch (1784– 1860) von 1830 sah, alle Gymnasialklassen zusammengenommen, 16 Stunden vor; 1854 wurden daraus 18.²³³ Auch Theodor Heinsius (1770 – 1849),²³⁴ Professor am Berlinischen Gymnasium zum Grauen Kloster, plädiert 1848 für die Einführung der „Germanologie“ an Schulen und Universitäten – aber nicht, um die hergebrachten „Humanitätswissenschaften“ in ihren Rechten zu stören, sondern um die erforderliche Bildung zu ergänzen.²³⁵ Das potentielle Unbehagen, das sich mit dieser Situation verbindet, kommt – ungewollt – in der Rede zutage, die Friedrich Welcker (1784– 1868) auf der Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner von 1842 hält: Der Bonner Professor für Altertumswissenschaft bezeichnet die Studien „aller Sprachen, aller Litteraturen und aller Geschichte“ als „Colonien“ der Klassischen Philologie.²³⁶ Er betont seinerseits die Zusammengehörigkeit von Antike und Deutschem: Unter dem Schilde des Classischen demnach gesellt sich die Philologie als eines der Elemente aller höheren Bildung und Nationalerziehung […] zu dem andern Element, welches wir als das nationale im engern Sinne bezeichnen können, und worunter wir mit der vaterländischen Sprache, Litteratur und Geschichte alles dasjenige verbinden was die Nation aus der mo-
München 1907, S. 241. Die früheren preußischen Lehrplanempfehlungen von 1816 sind dokumentiert in Jeismann 1996, Bd. 2, S. 708 f. Der veränderte Lehrplan von 1856 reduziert die Deutschstunden auf 20; vgl. Matthias 1907, S. 241. 1882 erhöht sich die Zahl auf 21 (mit 77 Stunden Latein, 40 Griechisch bei 268 Wochenstunden); vgl. ebd. Kopp (1994, S. 699) schreibt: „Das Schulfach Deutsch verblieb in einer marginalen Rolle.“ Zu den Reformen der 1880er Jahre siehe auch Landfester 1988, S. 190 – 195. Vgl. die Pläne in Matthias 1907, S. 244. Er weist darauf hin, dass Thiersch ursprünglich gar keinen Deutschunterricht fest im Lehrplan verankern wollte. Aber auch nach der Verordnung von 1830 sei der Deutschunterricht nicht selten „von den altsprachlichen Stunden verschluckt worden.“ Vgl. IGL, S. 702– 704. Theodor Heinsius: Die Germanologie auf deutschen Lehrstühlen. Deutschlands Unterrichtsbehörden zur geneigten Beachtung empfohlen. Berlin 1848, S. 3. Weitere Beispiele ließen sich anführen, etwa Karl Müllenhoff, der es gar nicht „wünschenswerth“ findet, „daß der Studierende auf der Universität die deutsche Philologie zu seinem Hauptstudium macht.“ Das klassische Altertum sei, auch als „Gegensatz“ zur Moderne, wichtig; ders.: Die deutsche Philologie, die Schule und die Klassische Philologie. In: Zeitschrift für das Gymnasialwesen 8 (1854), S. 177– 199; zitiert nach Janota (Hrsg.) 1980, S. 277– 303, hier S. 291. Auch Adelbert von Keller, Extraordinarius für neuere Sprachen, verortet das „Mark und Leben unserer Universitäten“ im zeitgenössischen Aufbau der Philosophischen Fakultät insgesamt, mit Schwerpunkt auf der Klassischen Philologie; ders, Inauguralrede, S. 275. Vgl. Welcker, Bedeutung, S. 2.
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dernen Wissenschaft, Poesie und Litteratur überhaupt sich angeeignet und selbst entwickelt und geschaffen hat.²³⁷
Welckers Versuch, Kolonialmacht und Kolonien zusammenzuhalten, zeigt, dass die Stimmen in der Öffentlichkeit vielfältig geteilt sind.²³⁸ Der nationale Bildungswert der Klassischen Philologie kann genauso angezweifelt werden²³⁹ wie die Notwendigkeit einer Deutschen Philologie. Auch ihre Vertreter beteuern daher immer wieder den Erfolg ihres Orientierungsangebots für die Gegenwart. Reinhold Bechstein (1833 – 1894), Sohn Ludwigs und später Nachfolger von Karl Bartsch in Rostock, stellt beispielsweise 1859 in einer populären Darstellung der Deutschen Philologie fest, dass diese „nicht allein auf andere Wissenschaften, sondern auch auf den Volksgeist wiederum eingewirkt“ habe. Und er hegt die Hoffnung, dass ihr Einfluss „auf die allgemeine Bildung des deutschen Volkes mehr und mehr wachsen“ werde.²⁴⁰ Die philologisch-historischen Wissenschaften rechtfertigen sich in den Feldern der Bildung und der Öffentlichkeit über ihre Orientierungsangebote – aber sie sind nicht die einzigen ‚Anbieter‘. Auch andere bemühen sich um Nation,Volk und Vergangenheit. Die Zeitungen, Zeitschriften und andere Publizistik wären ein Beispiel. Droysen verwahrt sich dezidiert gegen diese Konkurrenz: „Das lebhafte Interesse für die Geschichte, das sich überall zeigt, hat denn ein wüstes Vielerlei von Ansichten auf den Markt gebracht, und die Literaten der Journalistik, welche die Meinung des sog. gebildeten Publikums repräsentieren, glauben uns sagen zu müssen, wie es eigentlich mit unserem wissenschaftlichen Arbeiten stehen sollte.“ (Historik, S. 4)²⁴¹ Seine Verärgerung zeigt: Das historische Interesse ist allgemein; aber die Auffassungen über die Behandlungsarten und auch die intellektuellen Orte dieser Arbeit differieren. Droysen reagiert hier auf eine außeruniversitäre
Ebd., S. 6. Er betont auch die völkische Verwandtschaft der beiden: „Unser Volksstamm zumal zeigt durch die Sprache, durch die ursprünglichen freien gesellschaftlichen Ordnungen, durch Naturgefühl, poetische und speculative Anlage und älteste Religion eine besonders enge Verwandtschaft mit dem der Hellenen“; ebd., S. 4. Landfester (1988) beschreibt die verschiedenen Fronten gegen den Neuhumanismus und dessen Reaktionen darauf. Vgl. durchgehend Landfester 1988, insbes. S. 62– 64 und S. 132– 164. Alle Zitate: Bechstein, Philologie, S. 116. Vgl. zu ihm IGL, S. 108 – 110. Ähnlich formuliert die Philosophische Fakultät der Berliner Universität, der auch Droysen angehörte, in einem Brief an den Minister von Raumer vom 28. Juli 1856: Es kämen für einen Lehrstuhl nur „Männer ernster Wissenschaft“ in Frage, „die mit strenger philologischer Methode dem auf diesem Gebiete vorlauten Liebhabereifer und den täglich sich mehrenden sprachlichen, ethnographischen, mythologischen, antiquarischen Träumereien entgegenarbeiten.“ Druck bei Meves (Hrsg.) 2011, S. 90 f.
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Kritik, die nicht die Bedeutung der historischen Gegenstände für die Gegenwart betrifft, sondern ihre Vermittlung. Damit bezieht sie sich auch auf den wissenschaftlichen Differenzierungsprozess. Ganz in diesem Sinne moniert beispielsweise 1838 ein Artikel in der Deutschen Viertel-Jahrsschrift, dass die vielfältigen Forschungen für die „profane Lesewelt ungenießbar“ seien: „Man weiß ungeheuer viel. Aber wer weiß es? Nicht das Volk im Großen und Ganzen. Selbst nicht die Gelehrten“.²⁴² Man forsche im Kleinen, ohne sich auf einen „Totalblick“ einzulassen, der aber doch notwendig sei, „damit die darin enthaltene Kenntniß ins Selbstbewußtsein des Volks eindringe“.²⁴³ Aufgabe der philologisch-historischen Wissenschaften sollte es sein, „ein großes Volk über seinen Gang durch die Geschichte aufzuklären, ihm den wichtigsten Inhalt seiner Erinnerungen zu vergegenwärtigen, und es zum klarsten Bewußtsein dessen gelangen zu lassen, was sich als sein Charakter durch lange Erfahrung herausgestellt hat“.²⁴⁴ Gerade die Orientierungsleistung, die die philologisch-historischen Wissenschaften liefern wollen, wird ihnen hier abgesprochen. Das Beispiel dieser Kritik zeigt, dass jene Wissenschaften die Zuständigkeit für ihre Gegenstände nicht immer schon sicher besitzen. Sie wollen sie vielmehr usurpieren.²⁴⁵ Der Journalismus-Vorwurf kann auch innerhalb der Fächer erhoben werden.²⁴⁶ Deren innere Dynamik zeugt von einer zunehmenden Disziplinierung und Verwissenschaftlichung, etwa durch die Marginalisierung von Dilettanten oder durch polemische Auseinandersetzungen unterschiedlicher Richtungen. Lothar Bluhm hat in einer wichtigen Arbeit gezeigt, wie die erste Generation der Deutschen Philologen beispielsweise über Briefe, Kommunikationszirkel und Rezensionen die ‚Dilettanten‘ marginalisieren oder ihnen untergeordnete Funktionen zuweisen will, etwa das Zutragen von Materialien.²⁴⁷ Rainer Kolk hat den
W. M.: Auf welchem Standpunkt steht die vaterländische Geschichtsschreibung? In: Deutsche Viertel-Jahrsschrift 1 (1838), H. 1, S. 264– 292, hier S. 264. Ebd., S. 265. Zur zeitgenössischen Wahrnehmung des Problems von Mikrologie und Synthese vgl. etwa Kruckis 1994, S. 475 f. Als Argument gegen die Geschichtsforschung wird es von der Geschichtsschreibung in Anschlag gebracht: vgl. Fohrmann 1987, bes. S. 183*f.; ders. 1989, pass. M., Standpunkt, S. 289. Vgl. etwa Fohrmann 1989, S. 213. So kritisiert etwa Hermann Paul 1877 die Arbeit Wilhelm Scherers als ‚Journalismus‘ und ‚Spiel des Witzes‘; vgl. Kolk 1994, S. 93 f. Der Preußische Minister Falk hatte 1875 Scherer jedoch gerade zur Berufung empfohlen, weil dieser „der Gefahr der Verpflanzung dilettierenden Litteratenthums“ entgegenwirke; vgl. das Dokument bei Meves (Hrsg.) 2011, S. 104. Bluhm 1997; auch ders.: „compilierende oberflächlichkeit“ gegen „gernrezensirende Vornehmheit“. Der Wissenschaftskrieg zwischen Friedrich Heinrich von der Hagen und den Brüdern Grimm. In: Romantik und Volksliteratur. Hrsg. von dems. und Achim Hölter. Heidelberg 1999, S. 49 – 70.
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Nibelungenstreit in der Germanistik nach 1850 als Ausdifferenzierungsprozess interpretiert, in dem verschiedene Schulen je für sich einen adäquaten Umgang mit den Gegenständen beanspruchen – nicht zuletzt auch in Bezug auf Publikum und Nation.²⁴⁸ Dieser Zug zur Usurpation war mächtig, da er – für die philologischhistorischen Wissenschaften insgesamt – den geregelten Zugang zu den Bildungsinstitutionen gleichsam auf seiner Seite hatte. Aber da die in Frage stehenden Gegenstände eine allgemeine Relevanz beanspruchten,²⁴⁹ ließ sich der Zugang zu ihnen nicht regeln und kontrollieren²⁵⁰ – selbst wenn die Vertreter der philologisch-historischen Wissenschaften unter sich einig gewesen wären. Wo es um deutsche Gegenstände geht, ist die Situation brisanter als in der Klassischen Philologie. Diese ist von Beginn an institutionell in der Philosophischen Fakultät verankert, und ihre Gegenstände sind aufgrund der Sprachen einer Öffentlichkeit weiter entrückt als die ‚deutsche Sache‘. Die altdeutschen Studien dagegen müssen sich ihren Platz in der Institution und den Lehrplänen erst erobern. Die wissenschaftlichen Vertreter umgibt von Beginn an ein breites Feld von Konkurrenten und Mitaspiranten. Die Dilettanten und Sammler, die Freunde und Interessierten, die Enthusiasten und Publizisten, die Archivare und Historiker, von denen sich die Grimms und Lachmann in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts absetzen wollen, machen einen nicht geringen Teil derer aus, die sich am öffentlichen Diskurs über die Gegenstände beteiligen. Ulrich Hunger hat betont, dass man auch ihre Beiträge als „Wissenschaftsmöglichkeit“ ernst nehmen muss.²⁵¹ In der Mitte des Jahrhunderts entstehen dann aus dem weiter konstituierten Fach selbst Bewegungen, die verstärkt Angebote an die Öffentlichkeit einfordern.²⁵² Sie richten sich nicht gegen das Ethos des Forschens, wohl aber Rainer Kolk: Berlin oder Leipzig? Eine Studie zur sozialen Organisation der Germanistik im ‚Nibelungenstreit‘. Tübingen 1990; mit einem historisch weiteren Fokus: ders. 1994. Dies galt auch, wenn die Bildungsansprüche nicht offensiv artikuliert wurden; Wegmann (1994, S. 413 u. ö.) stellt mit dem fortschreitenden Jahrhundert eine zunehmende, unreflektierte Widersprüchlichkeit fest. Einerseits behaupten die Vertreter der Deutschen Philologie zunehmend objektive Wissenschaftlichkeit, andererseits zielen sie auf das „Bewusstsein des innersten Wesens des deutschen Geistes“. So auch Kolk (1994, S. 78), der die „Ambivalenz wissenschaftlicher Autonomie“ betont: „Zwar kann die disziplinäre Erzeugung wissenschaftlichen Wissens zunehmend eigenen Kriterien folgen, die Fachgebiete sind aber dennoch auf kommunikative Überbrückungen zu anderen gesellschaftlichen Bereichen verwiesen, sei es durch die beschriebenen Popularisierungsmuster, sei es durch spezifische Sozialisationsformen.“ Hunger 1987, S. 45*; ders.: Altdeutsche Studien als Sammeltätigkeit. In: Fohrmann,Voßkamp (Hrsg.) 1991, S. 89 – 98. Vgl. auch Bluhm 1997, S. 85 – 105. Zum Folgenden vgl. Rüdiger Krohn: „…daß Alles Allen verständlich sey…“. Die Altgermanistik des 19. Jahrhunderts und ihre Wege in die Öffentlichkeit. In: Fohrmann, Voßkamp (Hrsg.) 1994, S. 264– 333, insbes. S. 319 – 332.
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gegen die Gefahr der Marginalisierung, die das exklusive Verständnis von Wissenschaftlichkeit birgt. Franz Pfeiffer (1815 – 1868), Julius Zacher (1816 – 1887) und Karl Bartsch (1832– 1888) wären Beispiele hierfür.
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3 Genialität und Gelehrsamkeit – Die Dichter und die philologisch-historischen Wissenschaften 1 In, um und gegen die Fakultät – Die Geschichte der Dichter Eine besondere Rolle unter den Konkurrenten um die historischen Gegenstände und ihre Bedeutung für die Gegenwart kommt aber den Dichtern zu. Die Dichtung des 19. Jahrhunderts steht den philologisch-historischen Wissenschaften und der gesamten Kultur in nichts nach, was das Interesse für die Geschichte angeht. Auch hier hält der ‚Historismus‘ Einzug. Dies gilt für die Gegenstände wie für die Formen. Der Roman, als moderner Nachfahre des Epos,²⁵³ entfaltet mit besonderer Intensität historische Interessen. Die ungeheure Konjunktur, die das historische Erzählen seit 1800 erlebte, ist bekannt.²⁵⁴ Vor allem Walter Scott (1771– 1832) hatte ein Erfolgsmodell entworfen, das in einer unüberschaubaren Fülle von Romanen adaptiert, reflektiert und korrigiert wurde. Die anderen traditionellen Gattungen widmen sich ebenfalls geschichtlichen Gegenständen. Das Drama – von vielen immer noch als höchste Gattung angesehen – präsentiert das Handeln geschichtlicher Akteure, es vergegenwärtigt aber auch Mythen, weiterhin antike, aber auch nationale.²⁵⁵ Auch die Lyrik wird auf unterschiedliche Weisen historisch.²⁵⁶ Neue, neuimportierte oder in die Gegenwartsdichtung transformierte Gattungen sind eine Möglichkeit: Balladen und Romanzen etwa platzieren ihre
Ritchie Robertson hat jüngst in einer großen Studie beschrieben, wie sich im 18. und 19. Jahrhundert eine Tradition der ‚mock-epic poetry‘ zwischen das heroische Epos und den ‚bürgerlichen‘ Roman einfügt; ders.: Mock-Epic Poetry from Pope to Heine. Oxford 2009. Zum historischen Roman vgl. Kap. IV. Vgl. Walter Hinck: Einleitung. Zur Poetik des Geschichtsdramas. In: Geschichte als Schauspiel. Deutsche Geschichtsdramen. Hrsg.von dems. Frankfurt am Main 1981, S. 7– 21; Silvia Serena Tschopp: Dramenform und Geschichtsauffassung als Problem im 19. Jahrhundert. In: Fulda u. a. (Hrsg.) 2002, S. 367– 389. Vgl. Markus Fauser: Intertextualität und Historismus in der Lyrik des 19. Jahrhunderts. In: Fulda u. a. (Hrsg.) 2002, S. 391– 410. Einen neueren Überblick über die Forschung zur Lyrik des 19. Jahrhunderts bieten: Steffen Martus, Stefan Scherer, Claudia Stockinger: Einleitung. Lyrik im 19. Jahrhundert – Perspektiven der Forschung. In: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Hrsg. von dens. Bern u. a. 2005, S. 9 – 30. Spezifisch zur Historisierung: Dirk Niefanger: Lyrik und Geschichtsdiskurs im 19. Jahrhundert. In: ebd., S. 165 – 192. Niefanger (S. 168) stellt fest, dass die historische Lyrik des 19. Jahrhunderts noch wenig erforscht sei.
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Erzählungen in mehr oder weniger konkreten historischen Räumen.²⁵⁷ Auch wo keine historischen Gegenstände verhandelt werden, vollzieht sich doch oft durch die Formen eine historische Reflexion,²⁵⁸ etwa wenn solche aus anderen Zeiten und Orten adaptiert und metrisch der deutschen Sprache anverwandelt werden. Spanische Liras,²⁵⁹ die Nibelungenstrophe oder Ghaselen²⁶⁰ sind nur wenige Beispiele. Auch Dichtarten, die im Deutschen schon in früheren Jahrhunderten genutzt wurden, tragen nun einen historischen bzw. kulturgeschichtlichen Index. Dies gilt beispielsweise für die antikisierende Dichtung in Odenstrophen oder Distichen. Es gilt auch für die Sonettform, die nach Bürger und August Wilhelm Schlegel einen ungeheuren Aufschwung erlebt. Die scheinbar einfache Volksliedform schließlich, die für die Dichtung des 19. Jahrhunderts so eminent wichtig ist, stellt einen erfolgreichen Import aus der eigenen Vergangenheit dar. Mit ihrer historischen Prägung meldet die Dichtung aber einen Anspruch an, der sich gleichfalls auf die Vermittlung von Vergangenheit und Gegenwart bezieht.²⁶¹ Sie richtet sich an den gleichen idealen Adressaten wie die philologischhistorischen Forschungen: eine Nation und, vermittelt oder unmittelbar, eine Öffentlichkeit, die diese Nation bilden soll. Zumindest potentiell treten Dichtung und philologisch-historische Wissenschaften in Konkurrenz.²⁶² Denn wenn diese ihren Anspruch verfehlen, „ins Selbstbewußtsein des Volks ein[zu]dringe[n]“²⁶³ – dann kann damit vielleicht die Dichtung dienen. Befreit von den Bindungen der Institution, ihren Dynamiken der Professionalisierung und Ausdifferenzierung,
Balladenforschung. Hrsg. von Walter Müller-Seidel. Königstein im Taunus 1980; Walter Hinck: Geschichtsdichtung. Göttingen 1995; Ballade und Historismus. Die Geschichtsballade des 19. Jahrhunderts. Hrsg. von Winfried Woesler. Heidelberg 2000; Fauser 2002. Zur Genese einer historisch-philosophischen Gattungstheorie um 1800 vgl. Peter Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie II: Von der normativen zur spekulativen Gattungspoetik. Hrsg. von Wolfgang Fietkau. Frankfurt am Main 1974; ders.: Friedrich Schlegels Theorie der Dichtarten. Versuch einer Rekonstruktion auf Grund der Fragmente aus dem Nachlass. In: ders: Schriften II. Hrsg. von Jean Bollack u. a. Frankfurt am Main 1978, S. 32– 58; Thomas Prüfer: Ästhetische Geschichtsphilosophie und die Historisierung der Poetik am Ende des 18. Jahrhunderts. In: Fulda u. a. (Hrsg.) 2002, S. 277– 297. Vgl. Kap. II.3.1. (Schlegel). Vgl. Andrea Polaschegg: Unwesentliche Formen? Die Ghasel-Dichtungen von Platens und Friedrich Rückerts. Orientalisierende Lyrik und hermeneutische Poetik. In: Martus u. a. (Hrsg.) 2005, S. 271– 294; hier (bes. S. 288 f.) auch zur zeitgenössischen Kritik an dieser Form. Vgl. Bluhm 1997, S. 252: Man ziele auf die „gleiche Funktionsstelle im Gesellschaftssystem“. Eine analoge Konkurrenz zwischen Dichtung und Soziologie stellt für das spätere 19. Jahrhundert Wolf Lepenies fest: Der Krieg der Wissenschaften und der Literatur. In: ders.: Gefährliche Wahlverwandtschaften. Essays zur Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart 1989, S. 61– 79, besonders S. 67. M., Standpunkt, S. 265.
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kann sie liefern, worauf es aus der Perspektive der Nation „ankommen muß“: „Totalblicke und […] Einsichten in die großen Interessen des Volkes“.²⁶⁴ Die Konkurrenz, von der hier die Rede ist, wäre freilich die extreme Variante eines Verhältnisses, das sich nicht immer so eindeutig gestaltet. Angemessener ist der Begriff eines Spannungsverhältnisses, dessen Ausgestaltung jeweils geprüft werden müsste. Vor allem die altdeutschen Studien waren ja am Beginn des 19. Jahrhunderts wesentlich durch das Engagement von Dichtern stimuliert worden. Tiecks Bearbeitung von Minneliedern,²⁶⁵ Achim von Arnims und Brentanos Wunderhorn,²⁶⁶ Görres’ dichterisch eingefasster Katalog von ‚Volksbüchern‘²⁶⁷ – alles dies waren, um erneut mit Ulrich Hunger zu sprechen, Teile einer „Vielfalt von Wissenschaftsangeboten“,²⁶⁸ eines „schwer zu durchschauende[n] Wirrwarr[s] von Aktivitäten, die sich all dessen zu bemächtigen suchten, was deutsch und was alt war.“²⁶⁹ Ein Blick in Zeitschriften aus den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts führt das vor Augen. In Arnims Zeitung für Einsiedler publizierten außer ihm und Brentano auch Görres, die Grimms, Docen, Uhland, Tieck und Boeckh.²⁷⁰ Im Leipziger Pantheon, das Büsching und Kannegießer 1810 herausgaben, finden sich Übersetzungen von Fichte (Camões) und Solger (Pindar), Beiträge von Adam Müller und Fouqué, Abhandlungen von Friedrich Heinrich von der Hagen, eine Edition von Büsching (ein Teil aus Hartmanns Armem Heinrich) sowie Gedichte
M., Standpunkt, S. 269. Zur historistischen Ideenlehre im Kontext der Dichtung vgl. Fulda 1996, S. 289 – 295 u. ö. Minnelieder aus dem Schwäbischen Zeitalter neu bearbeitet und herausgegeben von Ludewig [!] Tieck. Berlin 1803. Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von L.A. v. Arnim und Clemens Brentano. 3 Bde. Heidelberg 1806 – 1808. Die teutschen Volksbücher. Nähere Würdigung der schönen Historien-, Wetter- und Arzneybüchlein, welche theils innerer Werth, theils Zufall, Jahrhunderte hindurch bis auf unsere Zeit erhalten hat. Von J. Görres, Professor der Physik an der Secondärschule zu Coblenz. Heidelberg 1807. Vgl. Franz Schultz: Joseph Görres als Herausgeber, Litterarhistoriker, Kritiker im Zusammenhange mit der jüngeren Romantik. Berlin 1902, S. 84– 125; Ziolkowski 2009, S. 87– 90. Görres’ Volksbuchbegriff analysiert kritisch: Hans Joachim Kreutzer: Der Mythos vom Volksbuch. Studien zur Wirkungsgeschichte des frühen deutschen Romans seit der Romantik. Stuttgart 1977, S. 16 – 35. Hunger 1987, S. 43*. Ähnlich in: ders. 1994. Hunger 1991, S. 89. [Achim von Arnim (Hrsg.):] Zeitung für Einsiedler. 37 Nrn., (April–August) 1808. Gesammelt erschienen als: ders.: (Hrsg.): Tröst Einsamkeit, alte und neue Sagen und Wahrsagungen, Geschichten und Gedichte. Heidelberg 1808. Ndr. hrsg. von Hans Jessen. Darmstadt 1962. Vgl. neben dem Kommentar des Neudrucks: Renate Moering: Programm und Realisierung einer romantischen Zeitschrift. In: Bluhm u. a. (Hrsg.) 1999, S. 31– 48; Ziolkowski 2009, S. 132– 138.
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von Goethe und Uhland.²⁷¹ Auch wenn nicht alle diese Publikationen dezidiert wissenschaftlich gemeint waren: Sie formulierten doch einen Zugriff, der der Vergangenheit, der Gegenwart und ihrem Orientierungsbedürfnis adäquat sein sollte. Tieck etwa gab seinen Anspruch, literaturhistorisch Relevantes zu schreiben, auch über die Jahre und gegen die Ausdifferenzierung philologisch-historischer Techniken nicht auf.²⁷² Die Rede von der Konkurrenz ist auch deshalb jeweils prüfungsbedürftig, weil die Dichter in der Regel durch die philologisch-historischen Bildungsinstitutionen gegangen sind. Viele haben studiert, die Philosophische Fakultät schwerpunktmäßig oder im Rahmen eines propädeutischen ‚Fakultätsstudiums‘ besucht.²⁷³ Nicht zuletzt Jacob und Wilhelm Grimm sind ja auf dem Weg des Jurastudiums zu ‚Germanisten‘ im weiteren und engeren Sinne geworden. Mit dem Aufstieg der Philosophischen Fakultäten nach 1800 verstärkt sich auch das Phänomen der philologisch-historisch gelehrten Dichter. Ein Bildungsgang wie der Theodor Fontanes (1819 – 1898), der vom Apotheker zum Journalisten und dann zum Romancier wird, ist ungewöhnlich. Die typisierende Rede von Dichtern oder Philologen wird also durch die Realität unterlaufen. In vielen Fällen bleibt die gelehrte Sphäre auch nach dem Studium präsent. Keine Seltenheit ist etwa der Dichterphilologe.²⁷⁴ Friedrich Schlegel (1772– 1829) ist ein Beispiel am Beginn des Jahrhunderts. Nach dem Studium in Göttingen bei Heyne²⁷⁵ entfaltete er zunächst philologische und kritische Aspirationen ohne institutionelle Deckung. Er habilitierte sich darauf an der Universität Jena²⁷⁶ und hielt philosophische Vorlesungen. Neben seine kritische und literaturgeschichtliche Publizistik traten bald Dichtungen. Eine zunächst private literaturgeschichtliche Vorlesungstätigkeit versuchte er 1804/05 in Köln zu institutionalisieren. Schlegel wurde in der französisch regierten Stadt zum Pro-
Vgl. Pantheon. Eine Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst. Herausgegeben von Dr. Johann Gustav Büsching und Dr. Karl Ludwig Kannegießer. 3 Bde. Leipzig 1810. Vgl. Hölter 1989, S. 124 und S. 253. Der Stellenwert der Bildungsinstitutionen zeigt sich etwa auch darin, dass drei Viertel der Abgeordneten in der Paulskirche Gymnasium und Universität durchlaufen haben; vgl. Landfester 1988, S. 14. Vgl. zu diesem Phänomen: Verf., Alexander Nebrig: Einleitung. In: Poeta philologus. Eine Schwellenfigur im 19. Jahrhundert. Hrsg. von dens. Bern u. a. 2010, S. 7– 19. Vgl. Martin Vöhler: Christian Gottlob Heyne und das Studium des Altertums in Deutschland. In: Most (Hrsg.) 2002, S. 39 – 54. Schlegel bekam von der dortigen Fakultät aufgrund bereits publizierter Werke 1800 den Doktortitel zugesprochen. Die Habilitationsdisputation wuchs sich dann allerdings zum Skandal aus, und Schlegel verließ die Universität 1801 wieder; vgl. die Darstellung von Hermann Patsch in: KFSA 25, S. LIII–LX; die Dokumente aus den Fakultätsakten sind ebd. publiziert, S. 694– 708.
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fesseur à l’école supérieure und hoffte dort – vergeblich – auf die geplante Gründung einer Universität.²⁷⁷ Ludwig Uhland (1787– 1862) ist ein weiteres Beispiel. Er studierte von 1801/02 bis 1809 Jura in Tübingen.²⁷⁸ Nach der Promotion verschränkten sich philologische Forschungen mit der Lyrik, die seine immense Popularität begründete. 1829 bekam er eine a.o. Professur für deutsche Literatur in Tübingen. 1832 ließ er sich als Abgeordneter im Stuttgarter Landtag beurlauben. Da die Württemberger Regierung diese Tätigkeit unterbinden wollte, quittierte er im Jahr darauf den Staatsdienst.²⁷⁹ Auch sein Freund Friedrich Rückert (1788 – 1866) schrieb sich 1805 in Würzburg für Jura ein, konzentrierte sich aber auf Veranstaltungen in der Philosophischen Fakultät, wo er philologische, ästhetische, mathematische und philosophische Vorlesungen hörte.²⁸⁰ Gleichzeitig begann Rückert zu dichten.²⁸¹ 1811 habilitierte er sich an der Universität Jena mit einer Disputation und einer Schrift De idea philologiae. ²⁸² Er relativiert darin in gewisser Weise die Geltung der griechischen Antike, indem er die Sprachen der Welt als Ausflüsse aus einer göttlichen Totalität deutet. Die deutsche Dichtung der Gegenwart nehme alle diese Sprachen in sich auf und reflektiere sie, so dass ihr in der poetisch-philologischen Moderne der erste Platz unter den Poesien aller Länder und Völker zukomme.²⁸³ In der Folge hielt Rückert zwei Semester lang als Privatdozent philologische Kolle-
Harro Zimmermann: Friedrich Schlegel oder die Sehnsucht nach Deutschland. Paderborn u. a. 2009, S. 213. Uhland hat die Universität mit 14 Jahren bezogen, also zunächst drei Jahre an der Philosophischen Fakultät studiert. Eugen Wohlhaupter (Ludwig Uhland. In: ders.: Dichterjuristen. 3 Bde. Tübingen 1953 – 1957, Bd. 2, S. 191– 283, hier S. 194) gibt wohl daher an, dass erst 1805 ein „ernsthaftes Studium der Rechtswissenschaft“ einsetzte. Ebd., S. 11– 13. Vgl. Konrad Beyer: Friedrich Rückert. Ein biographisches Denkmal. Mit vielen bis jetzt ungedruckten und unbekannten Aktenstücken, Briefen und Poesien Friedrich Rückert’s. Frankfurt am Main 1868, S. 32. Claudia Wiener rekonstruiert eingehend Rückerts Studium und dessen Kontexte. Beyers biographische Darstellung kann sie dabei in vielen Punkten korrigieren: dies.: Friedrich Rückerts De idea philologiae als dichtungstheoretische Schrift und Lebensprogramm. Schweinfurt 1994. Wiener (1994) interpretiert die frühen Dichtungen Rückerts vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Philologie. Zu Rückert als Dichterphilologen vgl. darüber hinaus: Hartmut Bobzin: Friedrich Rückert. Der ‚orientalische‘ Dichter und Philologe. In: Verf., Nebrig (Hrsg.) 2010, S. 67– 82. Eingehend interpretiert bei Wiener 1994. Nach Beyer (1868, S. 42) führten diese Positionen bei der Disputation zu Tumulten. Wiener (1994, S. 53) bezweifelt diese Darstellung jedoch mit guten Gründen und aufgrund eines Einblicks in das Dekanatsbuch der Universität.
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gien.²⁸⁴ Seine Bewerbung auf die Professur für „alte deutsche Sprache und Literatur“ in Tübingen scheiterte 1818.²⁸⁵ Es war die orientalische Dichtung, der Rückert sich in den folgenden Jahren vornehmlich zuwandte. Eigene Poesien, Bearbeitungen, Übersetzungen und Studien gingen Hand in Hand. 1826 wurde er der Nachfolger Johann Arnold Kannes (1773 – 1824) in Erlangen. 1841 nahm Rückert dann eine Professur für orientalische Sprachen an der Berliner Universität an. Uhland und Rückert werden von den Zeitgenossen genauso als Dichter wie als Forscher gewürdigt. Das gleiche gilt etwa für Ernst Moritz Arndt (1769 – 1860), der von 1818 bis 1820 und 1840 bis 1854 in Bonn lehrte.²⁸⁶ Heinrich Hoffmann (von Fallersleben), der in Breslau von 1830 bis 1835 außerordentlicher, von 1835 an ordentlicher Professor war, wurde aufgrund seiner Unpolitischen Lieder (1841) vom Dienst suspendiert, beobachtet und schließlich 1842 entlassen.²⁸⁷ Hoffmann bestand in den Verhören auf der Rollentrennung von Dichter einerseits, Staatsbe-
Eine Liste seiner Veranstaltungen bei Beyer 1868, S. 51. Vgl. Wiener 1994, S. 97 f. Vgl. den Artikel von Gustav Freytag in der ADB 1 (1875), S. 541– 548. Arndt hatte von 1791 bis 1796 in Greifswald und Jena Theologie studiert, sich dann in Greifswald aber 1800 für „Historie und Philologie“ habilitiert (so ohne Quellenangabe zitiert bei: Gustav Sichelschmidt: Ernst Moritz Arndt. Berlin 1981, S. 31). Bei Gründung der Universität war er von Hardenberg nach Bonn berufen worden. Als Professor für Geschichte behandelte er dort deutsche Geschichte und Altertümer, vor allem auch mit Blick auf die Sprache; vgl. die Probe aus einer Vorlesung: Ernst Moritz Arndt: Fragen und Antworten aus teutschen Alterthümern und teutscher Sprache. In: Jahrbuch der Preußischen Rhein-Universität 1 (1819), S. 137– 158; und die Vorlesungsverzeichnisse in den Bonner Jahrbüchern von 1819 bis 1821. 1819 wurde Arndt vorübergehend als demokratisch-nationaler ‚Demagoge‘ verhaftet, im nächsten Jahr vom Amt suspendiert. 1840 wurde er von Friedrich Wilhelm IV. wieder berufen. Meves (1994, S. 197– 203) nimmt ihn nicht in seine Liste der germanistischen Lehrenden auf. Zu Arndt vgl. Jürgen Schiewe: Nationalistische Instrumentalisierungen. Ernst Moritz Arndt und die deutsche Sprache. In: Ernst Moritz Arndt (1769 – 1860). Deutscher Nationalismus – Europa – transatlantische Perspektiven. Hrsg. von Walter Erhart und Arne Koch. Tübingen 2007, S. 113 – 120. Vgl. Meves 1994, S. 199 und S. 201. Hoffmann hatte in Göttingen (1816 – 1819) und Bonn (1819 – 1821) studiert und sich zunächst auf die Klassische Philologie konzentriert. Promoviert wurde er 1823 in absentia an der Universität Leyden. Er hatte das Manuskript einer Edition altniederländischer Handschriften eingesandt (erschienen 1830 als erster Band der Horae belgicae). Die Breslauer Philosophische Fakultät lehnte ihn wegen dieses ‚geschenkten‘ Titels 1829 ab; Hoffmann wurde aber gegen ihren Willen vom Minister vom Stein zum Altenstein berufen; vgl. die Dokumente bei Meves (Hrsg.) 2011, S. 257– 262. Zur Biographie: Bernt Ture von zur Mühlen: Hoffmann von Fallersleben. Biographie. Göttingen 2010, hier S. 85 (Promotion). Zum Germanisten Hoffmann vgl. Dieter Cherubim: Hoffmann von Fallersleben in der Geschichte der Germanistik. In: August Heinrich Hoffmann von Fallersleben 1798 – 1998. Festschrift zum 200. Geburtstag. Hrsg. von Hans-Joachim Behr, Herbert Blume und Eberhard Rose. Bielefeld 1999, S. 143 – 168.
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amtem und Untertan andererseits. Der zuständige Minister wollte das nicht nachvollziehen.²⁸⁸ Politische Gründe unterbrachen in der ersten Hälfte des Jahrhunderts nicht wenige akademische Karrieren. Auch Robert Prutz (1816 – 1872) kam das demokratisch-nationale Engagement in die Quere. Nach seinem Studium in Berlin, Breslau und Halle²⁸⁹ publizierte er politische Gedichte und historisch-politische Dramen. Gleichzeitig wollte er sich seit Ende der 30er Jahre habilitieren, was ihm allerdings verwehrt wurde.²⁹⁰ Erst 1849 war er an der Universität Halle erfolgreich, da sich Alexander von Humboldt für ihn verwandte.²⁹¹ Prutz bekam eine außerordentliche Professur für Literaturgeschichte, legte sie aber 1858, nicht ohne institutionellen Druck, wieder nieder.²⁹² Das Einkommen aus seinen Romanen und der Zeitschrift Deutsches Museum reichte für eine Existenz als freier Schriftsteller.²⁹³ Ein Beispiel anderer Art wäre Felix Dahn (1834– 1912), einer der Vertreter des sogenannten Professorenromans. Er studierte in München (Winter 1850/51 bis Sommer 1851 und Winter 1853/54 bis Sommer 1854) und Berlin (Winter 1851/52 bis Sommer 1853) Jura, hörte aber gleichzeitig Vorlesungen in der Philosophischen Fakultät.²⁹⁴ Er habilitierte sich 1857 in München für germanische Rechtsgeschichte, um seinen dezidiert philologisch-historischen Interessen folgen zu Vgl. Hoffmanns Darstellung des Verhörs in: ders., Leben, Bd. 3, S. 255. Prutz hatte dort von 1834 bis 1838 vor allem altphilologische Veranstaltungen besucht. In Halle war er Mitglied des Seminars unter Gottfried Bernhardy (vgl. Ansel 2003, S. 53). Promoviert wurde er mit einer philologisch-historischen Arbeit über die geschichtlichen Quellen zur römischen Kaiserzeit; vgl. Edda Bergmann: „Ich darf das Beste, das ich kann, nicht tun.“ Robert Eduard Prutz zwischen Literatur und Politik. Würzburg 1997, S. 27. Ein erstes Verfahren brachte er 1842 in Jena auf den Weg, es scheiterte aber. Prutz war politisch verdächtig; vgl. Ansel 2003, S. 59; Bergmann 1997, S. 42. Sein Habilitationsgesuch an die Hallenser Universität von 1844 wurde ebenfalls abgelehnt; vgl. die politische Begründung der Stellvertreter des Regierungsbevollmächtigen an den Minister Eichhorn vom 14. Jan. 1844; Meves (Hrsg.) 2011, Bd. 1, S. 434 f. Friedrich Wilhelm IV. verfügte die Ernennung von Prutz, notierte aber auf der Order, „daß beim Rückfall des Mannes in seine frühere irreligiösen und revolutionären Tendenzen, demselben die Geldhilfe sogleich entzogen werde“. Zitat bei Ansel 2003, S. 88. Dort auch Näheres zu den Umständen der Habilitation und zu Prutz’ Laufbahn. Die Dokumente druckt Meves (Hrsg.) 2011; vgl. auch ders.: Die Berufung von Robert Prutz an die Universität Halle-Wittenberg (1848/49). In: Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. Bd. 11. Hrsg.von Peter Wiesinger. Bern u. a. 2003, S. 219 – 224. Vgl. Bergmann 1997, S. 50. Zur Lyrik, Dramatik und zum Roman Engelchen (1851) vgl. Bergmann 1997. Die sehr ausführliche Darstellung in den Erinnerungen (4 in 5 Bdn. Leipzig 1890 – 1895; zu München: Bd. 2, S. 14– 76; zu Berlin: S. 452– 508) zeugt von der Bedeutung, die Dahn der Universität als ‚Bildungserlebnis‘ zuschreibt.
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können: „Nihil Germanici a me alienum puto“ – so formuliert er später sein ‚Credo‘.²⁹⁵ Die germanistischen Forschungen, die er dann als Münchner Privatdozent und später als ordentlicher Professor in Würzburg und Königsberg betrieb, ließ er unmittelbar in zahlreiche Epen und Romane eingehen. Nicht wenige Absolventen, die die philologisch-historischen Fächer durchlaufen haben, gingen in den Schuldienst. Gustav Schwab (1792– 1850) beispielsweise unterrichtete nach einem Studium der Theologie von 1817 bis 1837 als Professor am Stuttgarter Oberen Gymnasium.²⁹⁶ Wilhelm Müller (1794– 1827), der von Schubert vertonte ‚Griechen-Müller‘, wandte sich während seines Berliner Studiums ab 1812 (bis 1817) sowohl der Antike wie der mittelhochdeutschen Dichtung zu. 1819 erhielt er eine Stelle als Lehrer am Gymnasium in Dessau; bald darauf aber wurde ihm die Leitung der fürstlichen Bibliothek übertragen.²⁹⁷ Neben seinen Gedichten²⁹⁸ publizierte er eine Edition von Minneliedern,²⁹⁹ eine Einführung in die Homerischen Epen auf der Grundlage von Wolf ³⁰⁰ und schließlich Übersetzungen neugriechischer Volkslieder.³⁰¹ Auch Emanuel Geibel (1815 – 1884)
Er führt aus: „mein Streben war […] auf die Ergründung aller Erscheinungen germanischen Alterthums in ihrem inneren Zusammenhang gerichtet“; Dahn, Erinnerungen, Bd. 3, S. 96 f. Vor allem auf Jacob Grimm führt Dahn sowohl seine Forschungen wie auch seine Dichtungen zurück: „Entschieden war […] durch die ‚Rechtsalterthümer‘, die ‚Mythologie‘, die ‚Geschichte der deutschen Sprache‘ Grimm’s für immer mein Geschick als Forscher und als Dichter!“; ebd., S. 103. Vgl. Brigitte Schillbach, Eva Dambacher: Gustav Schwab. 1792– 1850. Aus seinem Leben und Schaffen. (Marbacher Magazin 61). Marbach am Neckar 1992, S. 5 – 9. Vgl. Friedrich Max Müller: [Art.] Wilhelm Müller. In: ADB 22 (1885), S. 683 – 694. Sieben und siebzig Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten. Hrsg. von Wilhelm Müller. 2 Bde. Dessau 1821– 1824. Der erste Band enthält Die schöne Müllerin, der zweite die Winterreise. Blumenlese aus den Minnesingern. Hrsg. von Wilhelm Müller, Mitglied der Berlinischen Gesellschaft für Deutsche Sprache. Erste Sammlung. Berlin 1816. Homerische Vorschule. Eine Einleitung in das Studium der Ilias und Odyssee von Wilhelm Müller. Leipzig 1824. ΤΡΑΓΟΥΔΙΑ ΡΩΜΑΙΚΑ. […]. Neugriechische Volkslieder. Gesammelt und hrsg. von C.[laude] Fauriel. Übersetzt und mit des französischen Herausgebers und eigenen Erläuterungen versehen von Wilhelm Müller. 2 Bde. Leipzig 1825. Müller dichtete auch eigene griechische ‚Volkslieder‘: Lieder der Griechen. Von Wilhelm Müller. 2 Hefte. Dessau 1821– 1822; Neue Lieder der Griechen. Von Wilhelm Müller. 2 Hefte. Leipzig 1823; Neueste Lieder der Griechen. Von Wilhelm Müller. Leipzig 1824. Zum Philhellenismus und Müllers Rolle darin: materialreich: Robert F. Arnold: Der deutsche Philhellenismus. Kultur- und literarhistorische Untersuchungen. In: Euphorion 3 (1886), Erg.-H. 2, S. 71– 181; Sandrine Maufroy: Die „Stimme des griechischen Volkes“: Sammlungen neugriechischer Volkslieder in Deutschland und Frankreich. In: Graecomania. Der europäische Philhellenismus. Hrsg. von Gilbert Heß, Elena Agazzi und Elisabeth Décultot. Berlin, New York 2009, S. 329 – 353. Zu Fauriel: dies.: „Historien et littérateur“. Les Chants populaires de la Grèce moderne dans l’œuvre de Claude Fauriel. In: La questione Romantica N.S. 1 (2009), H. 2, S. 27– 37.
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entschied sich für eine Schullaufbahn, wenn auch widerstrebend. Er sollte, nach dem Wunsch der Eltern, Theologe werden. Nach dem Studium in Berlin blieb er einige Zeit ohne Amt und Beruf. Als er sich dann um die Aufnahme in den Schuldienst bemühte, zahlten sich seine Dichtungen aus. Friedrich Wilhelm IV. las seine Lyrik gern und versah ihn mit einer lebenslangen Pension. 1852/53 rief ihn Maximilian II., ein weiterer Bewunderer, an die Münchner Universität. Geibel unterrichtete aber nur ein Semester lang.³⁰² Auch Adalbert Stifter (1805 – 1868) kann man in gewissem Sinne in diese Reihe stellen. Studierter Jurist ohne Examen, versuchte er als Privatlehrer, Maler und Schriftsteller zu leben.³⁰³ Dies gelang mit wechselndem Erfolg. Ein regelmäßiges Auskommen fand er – vorübergehend –, als er 1850 aufgrund seines schriftstellerischen Ruhms zum Volksschul-Inspektor für Oberösterreich ernannt wurde.³⁰⁴ Hier wirkte er an Schulreformen mit³⁰⁵ und stellte gemeinsam mit Johannes Aprent ein Lesebuch zur Förderung humaner Bildung für Bürger- und Realschulen zusammen.³⁰⁶ Freilich ist der Nimbus des Dichters im 19. Jahrhundert so attraktiv, dass die akademische Laufbahn für viele die zweite Wahl bleibt. Geibel und Stifter wären Beispiele dafür. Auch Paul Heyse (1830 – 1914) ließ sich nach seinem Studium in Berlin und Bonn (ab 1847) und einer romanistischen Promotion bei Friedrich Diez (1852) von der universitären Laufbahn abbringen. Ein Stipendium des Bayrischen Königs zog ihn nach München. Seine Novellen und sonstigen literarischen Tätigkeiten zehren von dem philologisch-historischen Wissen, das er sich angeeignet hat,³⁰⁷ und er steht im intensiven Kontakt zu philologisch-historischen Gelehrten,
Vgl. Max Koch: [Art.] Emanuel von Geibel. In: ADB 49 (1904), S. 265 – 274. Stifter schrieb sich für Jura ein, legte allerdings nie das Staatsexamen ab. Er hörte gleichzeitig intensiv Veranstaltungen an der Philosophischen Fakultät; vgl. dazu und zu seiner Tätigkeit als Privatlehrer: Wolfgang Matz: Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge. München 2005, S. 65 – 72 u. ö. Ebd., S. 295. Die ‚Amtlichen Schriften‘ Stifters sind unlängst erschienen in: HKG, Bd. 10.1 und Bd. 10.2.Vgl. dazu Johannes John: Äußerungen eines „Gefertigten“. Edition und Interpretation am Beispiel von Adalbert Stifters Amtlichen Schriften zu Schule und Universität. In: Figuren der Übertragung. Adalbert Stifter und das Wissen seiner Zeit. Hrsg. von Michael Gamper und Karl Wagner. Zürich 2009, S. 155 – 173. Lesebuch zur Förderung humaner Bildung in Realschulen und in andern zu weiterer Bildung vorbereitenden Mittelschulen. Von Adalbert Stifter und J.[ohannes] Aprent. Pest 1854. Ndr. hrsg. von Richard Pils. Graz 1982. Vgl. Maximilian Gröne: Von der Philologie zur Fiktion – Paul Heyses Strategien der Literarisierung am Beispiel von Adam de la Halle und Raimon de Miraval. In: Verf., Nebrig (Hrsg.) 2010, S. 177– 193.
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etwa Jacob Burckhardt³⁰⁸ und Jacob Bernays.³⁰⁹ Gustav Freytag (1816 – 1895) veranlassten Reibungen mit der Universität Breslau und erfolgreiche dramatische Ambitionen dazu, 1844 seine Privatdozentur niederzulegen.³¹⁰ Er selbst schreibt im Rückblick, dass „allmählich die Freude, selbst Dichterisches zu bilden, stärker ward, als der Drang, über dem zu verweilen, was Andere in alter und neuer Zeit geschaffen haben.“³¹¹ Freilich kann Freytag seine germanistischen Interessen nun als ‚freier‘ Historiker und Romancier weiterverfolgen, etwa mit den kulturgeschichtlichen Bildern aus der deutschen Vergangenheit ³¹² und dem Romanzyklus Die Ahnen. ³¹³ Von dem publizistischen Erfolg, den er so erzielte, konnten die meisten Germanisten und Historiker nur träumen. Dass Freytag auch seine eigene Dichtung der zeitgenössischen Germanistik als deutungswürdigen Gegenstand empfiehlt, ist die bedenkenswerte Pointe von Steffen Martus’ Interpretation des Philologen-Romans Die verlorene Handschrift. ³¹⁴ Die Universität mochte als Arbeitsplatz für viele nicht die erste Wahl sein. Eine entsprechende Laufbahn stand ihren Absolventen aber prinzipiell offen. Sie versprach immerhin eine gewisse materielle Sicherheit – auch wenn die akademische Karriere durch die steigende Anzahl an Privatdozenten sich im Laufe des Jahrhunderts mit immer größeren Risiken verband.³¹⁵ Nicht wenige Autoren des 19. Jahrhunderts dachten trotzdem, zumindest vorübergehend, an eine ‚Brotarbeit‘ an der Philosophischen Fakultät. Eine mögliche, wenngleich nicht eigentlich erwünschte Option bildete die Universität eine Zeit lang für Heinrich Heine (1797– 1856). Er studierte Jura in Bonn (Winter 1819/20 bis Sommer 1820), Göttingen (Winter 1820/21), Berlin (Sommer 1821 bis zur Exmatrikulation Ende 1823) und wieder Göttingen (Winter 1823/24 bis Zu den Diskussionen der beiden und ihrem Zusammenhang mit Burckhardts Historiographie vgl. Müller 2008, S. 194– 218 u. ö. Vgl. Jacob Bernays: „Du, von dem ich lebe“. Briefe an Paul Heyse. Hrsg.von William M. Calder III. und Timo Günther. Göttingen 2010. Freytag war für deutsche Sprache und Literatur habilitiert, wollte aber eine Vorlesung über deutsche Kulturgeschichte halten. Diese Lehrfreiheit in der Philosophischen Fakultät bestand aber für Privatdozenten nicht. Sein Antrag wurde von der Fakultät abgelehnt. Vgl. Gustav Freytag: Erinnerungen aus meinem Leben. Leipzig 1899 (zuerst 1887), S. 190. Zum Germanisten Freytag vgl. Hartmut Scheible: Gustav Freytag als Germanist. In: Fürbeth u. a. (Hrsg.) 1999, S. 241– 258. Freytag, Erinnerungen, S. 189. Bilder aus der deutschen Vergangenheit herausgegeben von Gustav Freytag. 2 Teile. Leipzig 1859. Die Ahnen. Roman von Gustav Freytag. 6 Abteilungen. 6 Bde. Leipzig 1872– 1880. Die verlorene Handschrift. Roman in fünf Büchern von Gustav Freytag. 3 Bde. Leipzig 1864. Vgl. Steffen Martus: Liebe zwischen Kunst und Wissenschaft in Gustav Freytags Die verlorene Handschrift. In: Scholl u. a. (Hrsg.) 2010, S. 179 – 200, hier S. 197. Vgl. Busch 1959, S. 48 f.
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1825 mit Examen und Promotion).³¹⁶ Zunächst hoffte er, in Berlin „phylosophische Collegien lesen“ zu können.³¹⁷ Seine Taufe 1825 stand durchaus in diesem Zeichen, sollte sie ihm doch insgesamt ermöglichen, in den höheren Staatsdienst aufgenommen zu werden; 1824 war dies in Preußen per Edikt für Juden unmöglich geworden.³¹⁸ In seiner Münchner Zeit hoffte Heine dann von 1828 an, dass Eduard von Schenk (1788 – 1841) ihm eine Professur für Literatur an der Philosophischen Fakultät erwirken möge.³¹⁹ Dieser hatte u. a. bei Savigny Jura studiert, war dann im Bayrischen Kultusministerium für das Unterrichtswesen zuständig und wurde 1828 Innenminister; als Dichter kam er später in die Walhalla.³²⁰ Heine aber konnte er nicht helfen. Auch Friedrich Hebbel (1813 – 1863) suchte zeitweilig in der Universität einen Ausweg aus dürftigen Lebensumständen. Schon während des Studiums behielt er eine Universitätskarriere im Sinn.³²¹ Von Hamburg aus bemühte er sich 1842, über den Dänischen König Christian VIII. eine Professur in Kiel zu bekommen.³²² Of-
Vgl. Eugen Wohlhaupter: Heinrich Heine. In: ders. 1953 – 1957, Bd. 2, S. 440 – 523, zum Studium insbes. S. 444– 464; siehe auch den entsprechenden Zeitraum in: Fritz Mende: Heine Chronik. München 1975. Vgl. den Brief Heines an Moses Moser, 8. Okt. 1825; Heinrich Heine. Säkularausgabe. Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Berlin, Paris 1970 ff. Bd. 20 (1970). Hrsg. von Fritz H. Eisner, S. 215; ebenso den Brief an dens., 19. Dez. 1825, ebd., S. 227. Vgl. die Arbeiten von Norbert Schmitz zu dem Historiker Alfred Stern (ders.: Alfred Stern, 1846 – 1936. Ein europäischer Historiker gegen den Strom der nationalen Geschichtsschreibung. Hannover 2009) und seinem Vater (ders.: Moritz Abraham Stern, 1807– 1894. Der erste jüdische Ordinarius an einer deutschen Universität und sein populärastronomisches Werk. Hannover 2006). Schenk sandte ein Bittschreiben an Ludwig I., in dem er um Heines Anstellung als „außerordentlicher Professor“ ersuchte; auszugsweise zitiert in: Heine, Säkularausgabe, Bd. 6/2, hrsg. von Christa Stöcker, Berlin 2003, S. 22. Vgl. Mende 1975, S. 62– 66; den Kommentar von Klaus Briegleb in: Heinrich Heine: Sämtliche Schriften. Hrsg. von Klaus Briegleb. 6 in 7 Bdn. München 1968 – 1976, Bd. 2, S. 826 f.; und den – allerdings recht vagen – Beitrag von Jan-Christoph Hauschild: Professor Heine? Von den Lockungen einer akademischen Karriere. In: Heinrich Heine im Spannungsfeld von Literatur und Wissenschaft. Hrsg. von Wilhelm Gössmann und Manfred Windfuhr. Essen 1990, S. 41– 52. Vgl. Julius Elias: [Art.] Eduard von Schenk. In: ADB 31 (1890), S. 37– 44. Vgl. den Brief an Elise Lensing, 27. April 1838: „Auch habe ich als Doct. phil. das Recht, zu jeder Zeit und an jeder Universität, wann und wo es mir beliebt, Vorlesungen zu halten und die Docenten-Carrière zu machen, wozu ich freilich nicht die geringste Neigung verspüre.“ Friedrich Hebbel: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Richard Maria Werner. 27 Bde. Berlin 1901– 1907, Bd. III.1, S. 286. Immer wieder hofft er, sein Ansinnen dem König vorlegen zu können; vgl. etwa den Brief an Elise Lensing, 7. Dez. 1842. In einer Audienz scheint Hebbel Christian dazu zu drängen, ihm an den Universitätsstatuten vorbei den Zugang zur Universität zu ermöglichen; dieser scheint aber un-
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fenbar um dies überhaupt formal möglich werden zu lassen, erwirkte Hebbel, mit Unterstützung durch den Vater eines Jugendfreundes, eine Promotion in Erlangen. Sie erfolgte in absentia, als Dissertationsschrift reichte er 1844 eine Abhandlung Über einige Probleme des Dramas ein.³²³ Auf Professuren für Literatur und Sprachen am Zürcher Polytechnikum hofften zeitweise Gottfried Keller, Conrad Ferdinand Meyer³²⁴ und Joseph Victor von Scheffel. Die Hochschule war, nach einigem Vorlauf, am 15. Oktober 1855 als „eidgenössische polytechnische Schule in Verbindung mit einer Schule für das höhere Studium der exakten, politischen und humanistischen Wissenschaften“³²⁵ gegründet worden. Während die eigentlichen Universitäten unter kantonaler Verwaltung standen, handelte es sich hier um eine nationale Hochschule.³²⁶ Ein universitärer Fächerkanon wurde auf Druck der Kantone nicht eingerichtet, wohl aber eine „philosophische und staatswissenschaftliche Abteilung“.³²⁷ Gottfried Keller (1819 – 1890) war nach dem Gründungsbeschluss von seinem Freund, dem Bundesrat Jakob Dubs, eine Professur für „Literatur- und Kunstgeschichte“³²⁸
willig gewesen zu sein; vgl. den Gesprächsbericht an seine Geliebte Elise Lensing, 13. Dez. 1842; ebd., III.2, S. 155 f. Hebbel verschweigt, dass er gar nicht promoviert war. In seinem späteren Bericht an Arnold Ruge, 15. Sept. 1852, stellt Hebbel es so dar, als habe der König ihm die Professur angeboten; ebd., Bd. III.5, S. 49. Im Brief an Elise Lensing, 30. Juli 1844 (ebd., Bd. III.3, S. 129), berichtet er über das eröffnete Verfahren. Es dauerte allerdings länger als ein Jahr, bis Hebbel die erforderliche Gebühr bezahlen und die Urkunde auslösen konnte. Conrad Ferdinand Meyer (1825 – 1898) hatte dabei sein Jurastudium abgebrochen. Er war 1844 in die juristische Fakultät der Zürcher Universität immatrikuliert worden, besuchte sie jedoch nur ein oder zwei Semester lang (vgl. Conrad Ferdinand Meyer 1825 – 1898. Hrsg.von Hans Wysling und Elisabeth Lott-Büttiker. Zürich 1998, S. 51). 1860 schwebte ihm eine Stelle als Privatdozent für französische Sprache und Literatur vor (vgl. ebd., S. 112 f.). Die Formulierung, die Gegenstand einer heftigen Debatte gewesen war, bei: Wilhelm Oechsli: Geschichte der Gründung des eidgenössischen Polytechnikums mit einer Übersicht seiner Entwicklung 1855 – 1905 (= Festschrift zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens des eidg. Polytechnikums 1). Frauenfeld 1905, S. 122; hier auch ausführlich zur frühen Geschichte des Polytechnikums. Knapper: David Gugerli, Patrick Kupper, Daniel Speich: Die Zukunftsmaschine. Konjunkturen der ETH Zürich 1855 – 2005. Zürich 2005, allerdings ohne konkrete Daten zur Struktur der Hochschule bei der Gründung. Möglich wurde sie durch die Bundesverfassung von 1848; vgl. Oechsli 1905, S. 37– 56. Sie war nicht deckungsgleich mit einer Philosophischen Fakultät; neben Mathematik, Naturwissenschaften und staatswissenschaftlichen Fächern sollte sie „politische und Kunstgeschichte“ sowie „die Literaturen der wichtigsten lebenden Sprachen“ umfassen (d. h. Deutsch, Französisch, Englisch, Italienisch). Die Klassische Philologie war nicht vertreten. Vgl. Oechsli 1905, S. 151 f. Vgl. den Brief von Jakob Dubs an Gottfried Keller, 7. Febr. 1854; zitiert in: Der Briefwechsel zwischen Gottfried Keller und Hermann Hettner. Hrsg.von Jürgen Jahn. Berlin,Weimar 1964, S. 261.
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angeboten worden. Er fragte Hermann Hettner um Rat, unter anderem sorgend, ob die Tätigkeit nicht seiner Dichtung abträglich sein würde.³²⁹ Gleichzeitig stellte er in Aussicht, sich in Zürich auch für Hettner zu verwenden, dessen Stellung in Jena aus politischen Gründen unsicher war. Dieser riet zu: „Ihre Poesie wird unter dieser Tätigkeit sicher nicht leiden, vorausgesetzt, daß Sie sich nicht allzu viel Stunden aufhalsen lassen.“³³⁰ Keller erwog in den nächsten Monaten den Schritt an die Universität, lehnte dann aber ab.³³¹ Um die gleiche Stelle³³² wie Keller bemühte sich auch Joseph Victor von Scheffel (1826 – 1886). Dieser hatte in München (Winter 1843/44 bis Sommer 1844), Berlin (Winter 1845/46 bis Sommer 1846) und Heidelberg (Winter 1844/45 bis Sommer 1845 und Winter 1846/47) Jura studiert, nicht ohne auch an der Philosophischen Fakultät zu hören.³³³ Zeitweise plante er eine Habilitation in deutscher Rechtsgeschichte in Heidelberg.³³⁴ Die Bewerbung am Polytechnikum flankierte er mit einer deutschen Übersetzung des Waltharius als Nachweis seiner Eignung.³³⁵ Scheffel war nicht erfolgreich. Seine Einsendung an den Schweizer Schulrat zeigt: Die Leistungsnachweise, die die universitäre Lehreignung belegen sollten, wurden in der ersten Hälfte des Jahrhunderts unterschiedlich und teils recht flexibel gehandhabt. Dies belegt Keller hatte kein Gymnasium besucht, sondern die Kantonale Industrieschule, von der er aber vor dem Abschluss relegiert worden war. Nachdem er in München erfolglos versucht hatte, an der Akademie zum Maler zu werden, dachte er daran, in das dramatische Fach zu wechseln. Als Vorbereitung wollte er studieren, was ihm durch ein Stipendium der Zürcher Kantonsregierung ermöglicht wurde. 1848 schrieb er sich in Heidelberg ein, wo er bis 1850 blieb; vgl. Jahn in der Einleitung zum zitierten Band. Brief Kellers an Hettner, 11. Febr. 1854; in: Keller, Briefwechsel, S. 93. Brief Hettners an Keller, 12. Feb. 1854; ebd., S. 95. An Jacob Dubs schreibt er Ende März 1854, er wolle nach Zürich kommen, um dort durch „freie zweckdienliche Vorträge“ seine „Nutzbarkeit zum Lehrfach zu prüfen und auszubilden“; zitiert in: Keller, Briefwechsel, S. 263. Wohl Ende 1854 entscheidet er sich zur Ablehung; vgl. den Brief an Hettner, Januar 1855; Keller, Briefwechsel, S. 127. Was Keller stört, ist aber nicht die Tätigkeit selbst: „Wenn dergleichen wünschbar ist, so hoffe ich binnen zwei Jahren so weit zu sein, daß ich mich an der Anstalt als Privatdozent habilitieren kann, und alsdann einen so selbständigen und brauchbaren Kram vorzubringen, daß man mich honoris causa anstellt oder anstellen muß, und nicht aus Barmherzigkeit.“ 1854 waren 32 Professuren und 9 bis 12 Stellen für Hilfslehrer ausgeschrieben worden; Oechsli (1905, S. 175) betont die große Resonanz, die dies vor allem in Deutschland hatte. Neben Scheffel und Hettner bewarben sich unter anderem Heinrich Düntzer und Johannes Scherr. Der Schulrat berief dann jedoch Friedrich Theodor Vischer; vgl. ebd. S. 200. Die Veranstaltungen verzeichnet: Reiner Haehling von Lanzenauer: Dichterjurist Scheffel. Karlsruhe 1988, S. 14– 17. Vgl. ebd., S. 33. Ausführlicher in Kap. IV.1., S. 333.
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auch das Beispiel Karl Simrocks (1802– 1876).³³⁶ Aufgrund eines Gedichts wurde er aus dem juristischen Staatsdienst entlassen,³³⁷ dann aber 1834 von der Tübinger Philosophischen Fakultät promoviert. Simrock empfing die Würde nicht nur in absentia, sondern er hatte eine Arbeit zu den Quellen Shakespeares sowie Übersetzungen des Nibelungenliedes, von Hartmanns Armem Heinrich und den Gedichten Walthers von der Vogelweide vorgelegt.³³⁸ Die Fürsprache Leonhard Tafels, des Professors eloquentiae in Tübingen, und Gutachten Uhlands und Schwabs taten den Rest. Zwar dauerte es lange, bis Simrock eine Professur bekam. Aber von 1850 an konnte er als außerordentlicher Professor für die Geschichte der deutschen Literatur in Bonn lehren. 1852 wurde ihm ein Ordinariat verliehen.³³⁹ Seine Aufgabe fasste er drei Jahre später als die, die „deutsche Nationalpoesie in doppelter Weise wiederzubeleben“³⁴⁰ – als Übersetzer und Forscher, aber auch als Dichter. Die angeführten Beispiele zeigen: In vielen Fällen bewegen sich die Dichter des 19. Jahrhundertes im Umkreis der Universitäten.³⁴¹ Veritable Dichterphilolo-
Er war im Winter 1818/19 in die Juristische Fakultät der neugegründeten Bonner Universität immatrikuliert worden und hörte unter anderem bei August Wilhelm Schlegel und Ernst Moritz Arndt. Heine und Hoffmann von Fallersleben lernte er hier kennen. 1822 ging er nach Berlin, wo er zunächst noch studierte, dann aber die juristische Staatsprüfung ablegte; vgl. Hugo Moser: Karl Simrock. Universitätslehrer und Poet, Germanist und Erneuerer von ‚Volkspoesie‘ und älterer ‚Nationalliteratur‘. Ein Stück Literatur-, Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Bonn 1976, S. 24 f. Vgl. ebd., S. 26. Vgl. ebd., S. 27 f. Zu Simrock siehe auch Rainer Kolk: „Gemischtes Publicum“. Popularisierung und Vermittlung wissenschaftlichen Wissens in der Germanistik des 19. Jahrhunderts. In: Danneberg u. a. (Hrsg.) 2005, S. 179 – 196, hier S. 184– 190. Vgl. Moser 1976, S. 34; eine Übersicht über seine Vorlesungen ebd., S. 39 f. Simrock wurde der Lehrstuhl verliehen, nachdem er an das Ministerium einen Antrag auf Entschädigung für die frühere Entlassung gefordert hatte; vgl. die Dokumente bei Meves (Hrsg.) 2011, S. 153– 193. Vgl. sein Schreiben an den Minister von Raumer, 29. Juli 1855; gedruckt ebd., S. 194 f. Ähnlich empfiehlt sich Gustav Freytag 1843 – erfolglos – für eine Professur in Breslau: Er wolle deutsche Literatur und Sprache nicht „nur lehren“, sondern auch „fortbilden“; vgl. den Brief an den Minister Eichhorn vom 20. Febr. 1843; ebd., S. 278 f. Freilich dichten auch philologisch-historische Wissenschaftler immer noch, beispielsweise Gelegenheitslyrik (zur ubiquitären Gattung vgl. Martus, Scherer, Stockinger 2005). Die Trennung ist,vor allem bei den hier als ‚Dichterphilologen‘ Bezeichneten, nicht immer scharf zu ziehen. Aber meist betrachten jene philologisch-historischen Wissenschaftler ihre Dichtungen nicht als bedeutend, sei es, dass diese in bestimmten Kommunikationszirkeln verblieben oder für sie geschrieben wurden (beispielsweise die Dichtungen, die Hess [1979] beschreibt), sei es, dass sie sie als ‚Jugendarbeiten‘ betrachteten, die durch den wissenschaftlichen Beruf überwunden oder ersetzt worden waren. Mit diesen Dichtungen verbanden sich keine Ambitionen, anders als mit den wissenschaftlichen Arbeiten. In diesem Sinne schreibt etwa der Student Jacob Burckhardt über
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gen, die institutionell-wissenschaftlich wie auch dichterisch aktiv sind, begegnen öfter; aber auch andere publizieren Werke, die in einem weiteren oder engeren Sinne wissenschaftlicher Art sind. Über Wilhelm Müllers Schriften, Stifters Lehrbuch und Freytags Bilder hinaus ließen sich beispielsweise Heines Zur Geschichte der Religion und Philosophie und die Romantische Schule nennen,³⁴² die literaturhistorischen Arbeiten Joseph von Eichendorffs (1788 – 1857),³⁴³ die Rezensionen und Entwürfe Franz Grillparzers (1791– 1872)³⁴⁴ zur Literaturgeschichte³⁴⁵ oder das literaturgeschichtlich-kritische Engagement Karl Gutzkows (1811– 1878),³⁴⁶ der 1832 von der Universität Jena promoviert worden war.³⁴⁷ Diese Situation eröffnet vielfältige Möglichkeiten, wie sich die Spannungen zwischen Dichtung und philologisch-historischen Wissenschaften entwickeln können. Es stellt sich die Frage, welchen Stellenwert das philologisch-historische Wissen in dichterischen Werken gewinnt. Denn diese nehmen mit den Wissenschaften an einem gemeinsamen Diskurs über die Geschichte teil. Er kann ebenso
seine dramatischen Ambitionen: „Meine Poesie […] schwebt in Gefahr, den Abschied zu erhalten, seit ich die höchste Poesie in der Geschichte finde.“ Zitiert nach Müller 2008, S. 155. Philipp Müller zeigt, wie die Ästhetik des Dramas dann Burckhardts Geschichtsschreibung prägt; ebd., S. 155 – 189. Dichtungen von Julius Petersen kommentiert und ediert: Alexander Nebrig: Der Dichter Julius Petersen (1878 – 1941) und die poetische Reflexion germanistischer Autorschaft. In: 200 Jahre Berliner Universität. 200 Jahre Berliner Germanistik. Hrsg. von Brigitte Peters und Erhard Schütz. Bern u. a. 2010, S. 121– 156. Hoffmann nimmt Heine daher in seine Liste der Deutschen Philologen auf; vgl. ders., Grundriss, S. 24. Versammelt in: Joseph von Eichendorff: Werke in sechs Bänden. Bd. 6: Geschichte der Poesie. Schriften zur Literaturgeschichte. Hrsg. von Hartwig Schultz. Frankfurt am Main 1990. Grillparzer kam mit 14 Jahren an die Wiener Universität, wo er drei Jahre lang an der Philosophischen Fakultät studierte (Winter 1804/05 bis Sommer 1807), als Vorbereitung seines anschließenden Jurastudiums (Winter 1807/08 bis Winter 1809/10); vgl. Eugen Wohlhaupter: Franz Grillparzer. In: ders. 1953 – 1957, Bd. 1, S. 390 – 466, hier S. 394– 396. In: Franz Grillparzer: Sämtliche Werke, ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte. 4 Bde. Hrsg. von Peter Frank und Karl Pörnbacher. Darmstadt 1960 – 1965, Bd. 3; die wenigen publizierten oder auch nur ausformulierten Arbeiten basieren auf einer immensen Fülle von philologisch-historischen Notizen und Reflexionen in den Tagebüchern. Einige Arbeiten sind gesammelt etwa in: ders.: Beiträge zur Geschichte der neuesten Literatur. 2 Bde. Stuttgart 1836; vgl. auch seine Stellungnahme zur literaturgeschichtlichen Auseinandersetzung mit Goethe (Ueber Göthe im Wendepunkte zweier Jahrhunderte. Berlin 1836), die Schleiermacher-Edition (Schleiermachers Vertraute Briefe über die Lucinde mit einer Vorrede von Karl Gutzkow. Hamburg 1835) oder den geschichtsphilosophischen Entwurf Zur Philosophie der Geschichte (Hamburg 1836). Gutzkow hatte vor allem in Berlin studiert; vgl. seine eigene Darstellung: Das Kastanienwäldchen in Berlin. In: Gutzkows Werke. Auswahl in zwölf Teilen. Hrsg. von Reinhold Gensel. Berlin u. a. [1910], Bd. 8, S. 7– 49; zuerst 1869 in der Zeitschrift Der Salon.
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wissensgeschichtlich rekonstruiert werden, wie es etwa bei der Beziehung der Literatur zu anderen Disziplinen der Fall ist, beispielsweise den naturwissenschaftlichen. Zweitens aber gilt es, die dichterischen mit den philologisch-historischen Methoden ins Verhältnis zu setzen. Denn die historischen Gegenstände erscheinen ja erst im Rahmen einer praktischen, methodischen und theoretischen Arbeit: Die Quellen müssen erschlossen, interpretiert und in einer Darstellung ‚zum Sprechen‘ gebracht werden, damit sie ihre Relevanz für die Gegenwart entfalten können. Hier kommt es zwischen Dichtung und philologisch-historischen Wissenschaften zu einem intensiven Austausch. Beide bearbeiten in vielen Fällen die gleichen Gegenstände, sie tun es mit ähnlichen Interessen, in denen sich historische Erkenntnis mit gegenwärtiger Wirkung verbindet. Aber genau weil dieser common ground besteht, entfalten sich Spannungen und Konkurrenzen. Die Dichtung wie das wissenschaftliche Werk müssen jeweils für sich einen Zugriff beanspruchen, der nicht restlos durch den anderen ersetzbar wäre. Unmittelbar nachvollziehbar ist dieses Spannungspotential bei den Dichtern, die aus der akademischen Welt wieder ausgeschieden sind. Sie nehmen aus der Universität nicht nur ihr Abgangszeugnis mit, sondern auch die methodischen Angebote der philologisch-historischen Wissenschaften und das Interesse für die historischen Gegenstände. Dennoch sind sie dem engeren Feld der Wissenschaft gegenüber nicht zur Loyalität verpflichtet. Im Gegenteil: Sie müssen sich nun als Dichter ‚von außen‘ gegenüber einer Wissenschaft positionieren, die ihrerseits versucht, die Gegenstände für sich zu usurpieren. Nicht selten heißt dies, dass sie deren Ansprüche abwehren – und zwar gerade wegen der Relevanz, die auch sie den historischen Gegenständen für die gesamte Kultur zuschreiben.
2 Genialität und Geschichte Die Dichtung kann sich nicht zuletzt deshalb in dieser Weise gegen die philologisch-historischen Wissenschaften positionieren, weil sie seit dem 18. Jahrhundert eine ungeheure Aufwertung erfahren hat. Das aktive Dichten ist nicht mehr, wie noch in großen Teilen des 18. Jahrhunderts, Teil der Gelehrsamkeit.³⁴⁸ Poetik als Lehre davon, wie man dichten solle, gehört nicht mehr zum Curriculum der Philosophischen Fakultät, während sie vorher mit Selbstverständlichkeit als eine der artes unterrichtet worden war – auch wenn die Auffassung, dass Dichter neben ars und doctrina angeborenes ingenium besitzen müssen, ein alter rhetorischer
Zum Verhältnis von Dichtung und Gelehrsamkeit von der Frühen Neuzeit bis in die Aufklärung vgl. Grimm 1983.
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Topos ist.³⁴⁹ In dieser Zeit ordnet sich auch der Schulunterricht um: Die Übung im Dichten weicht einer Übung im Verstehen, denn, wie Heinrich Bosse schreibt: „Dichter kann man nicht bilden“.³⁵⁰ Entsprechend ist die Bindung des Dichters an den Gelehrtenstand zerbrochen. Poesie vollzieht, wie Gunter E. Grimm bemerkt, in expliziten Stellungnahmen eine „gegen-gelehrte Wende“³⁵¹ – obwohl die meisten Dichter Gymnasien und Universitäten besucht haben. Eine Folge davon ist – so wieder Bosse –, dass der Dichter „rar“ wird und sich entsprechend auratisiert.³⁵² Die Trennung von Dichtung und Gelehrsamkeit fand einen radikalen Ausdruck in den Geniekonzeptionen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Der Dichter schafft, aufgrund einer inkommensurablen Befähigung, Werke, die denen Gottes analog sind. In seinen Produkten konzentrieren sich Totalität und Sinn auf eine Weise, dass sie nicht erschöpft werden können, aber umso mehr Studium und Verehrung einfordern. Das Werk wird zum „offenbare[n] Geheimnis“.³⁵³ Die Vorstellung vom Dichter, der nur seinem inneren produktiven Kern folge, sich aber nicht durch Regeln beschränken lasse, wird mächtig bleiben – ob es nun ein Göttliches sei, das sich hier ausspreche, ein besonderer Zugang zum Schönen oder zur Wahrheit, ein einzigartiges Talent oder eine besondere Individualität.³⁵⁴ Nach dem Abklingen der Genieperiode wird nicht selten dezidiert betont, dass der Dichter nicht aus dem Nichts, sondern auf der Grundlage von Wissen arbeiten müsse. In durchaus noch polemischer Absicht schreibt etwa Jean Paul, „jede Sternen-, Pflanzen-, Landschafts- und andere Kunde der Wirklichkeit“ sei ihm „mit Vorteil anzusehen“. Denn „so ist dem reinen durchsichtigen Glase des Dichters die Unterlage des dunkeln Lebens notwendig, und dann spiegelt er die Welt ab.“³⁵⁵ Aber dennoch geht das Entscheidende seines ‚Berufs‘ nicht im Wissen auf. Es besteht im Kern in der produktiven Schöpfungskraft.
Vgl. etwa J. Engels: [Art.] Ingenium. In: HWRh 4 (1998), Sp. 382– 417. Vgl. auch zum Folgenden Heinrich Bosse: Dichter kann man nicht bilden. Zur Veränderung der Schulrhetorik nach 1770. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 10 (1978), S. 80 – 125. Bosse stellt keinen direkten „Einfluß der Geniebewegung“ (S. 118) auf die Pädagogik fest, korreliert die Entwicklungen aber zeitlich. Grimm 1983, S. 744. Vgl. Bosse 1978, Zitat S. 118. Ebd., S. 122. Andreas Höfele sieht in dieser Situation den Ausgangspunkt für die berühmten Fälschungen des 18. und 19. Jahrhunderts, etwa Macphersons ‚Ossian‘, Thomas Chattertons Rowley-Manuskripte und William Henry Irelands Shakespeare-Fälschungen; ders.: Originalität der Fälschung. Zur Funktion des literarischen Betrugs in England 1750 – 1800. In: Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 18 (1986), S. 75 – 95, bes. S. 84 f. Alle Zitate: Jean Paul:Vorschule der Ästhetik (1804). In: ders.: Sämtliche Werke. 10 Bde. Hrsg. von Norbert Miller. München 1959 – 1985, Bd. 5, S. 33.
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Der Dichter mag Wissen brauchen – aber nicht dieses macht ihn eigentlich aus, sondern eine höhere Fähigkeit, die sich auch seinem Umgang mit dem Wissen mitteilt. Ein poetischer Anspruch auf die Gegenstände, die er mit den philologischhistorischen Wissenschaften teilt, legitimiert sich oft gerade von hier aus. In dichterischen Selbstpositionierungen ist es im 19. Jahrhundert ein weitverbreiteter Topos, diese höhere Fähigkeit gegen die ‚bloße‘ gelehrte Arbeit auszuspielen. Epigrammatisch zugespitzt, findet er sich beispielsweise bei Grillparzer: Kommt mir mit eurem historischen Lichte In dem ihr Daten und Zahlen gebt! Ihr seid die Totenbeschauer der Geschichte, Ich habe sie schauend durchlebt.³⁵⁶
Ein früheres, aber ganz analoges Beispiel liefert Brentano in dem Bericht, der Entstehung und Schluss seines Dramas Die Gründung Prags schildert.³⁵⁷ Er beschreibt darin, wie er sich im Laufe seines Lebens mit allen historischen Quellen zur frühen Geschichte Prags vertraut gemacht habe. In der Stadt selbst angekommen, „wiederholte, ordnete und ergänzte“ er alle ihm „zu diesem Zwecke dienliche Erkenntnis“. Darüber hinaus tritt er mit den vornehmsten philologischhistorischen Forschern in Kontakt: „Der edle und geistreiche Meinert ließ mich seiner Kritik, seiner Aufmunterung […] genießen; der geniale, gelehrteste Dobrowsky teilte mir alle Hülfsmittel und Notizen […] auf die unermüdetste und gefälligste Weise mit“.³⁵⁸ Die Dichtung erhebt sich auf einer unerlässlichen Basis von Wissen. Aber mit dieser Arbeit, die sich im hellen Licht der Wissenschaft vollzieht, ist es nicht getan: „Hatte ich mich am Tage mit historischen Bruchstücken bereichert, so wandelte ich in der Nacht durch die stillen Straßen der weiten Stadt, und erquickte mich an dem Rauschen der ernsten Moldau unter dem Sternenhimmel.“³⁵⁹ Der Schritt aus dem Studierzimmer führt gleichzeitig in ein Dunkel, in dem der Wissenschaftler nichts mehr erkennen kann. Doch dem
Das Epigramm datiert von ca. 1849/50. In: Grillparzer, Werke, Bd. 1, S. 502. Zum Geschichtsdenken Grillparzers vgl. Helmut Bachmaier: Grillparzers Geschichtsauffassung. In: Stichwort Grillparzer. Hrsg. von Hilde Haider-Pregler und Evelyn Deutsch-Schreiner. Wien u. a. 1994, S. 87– 96. Die Entstehung und der Schluss des romantischen Schauspiels Die Gründung Prags. Von Clemens Brentano an seine Freunde. In: ders.: Werke. Hrsg.von Friedhelm Kemp. 4 Bde. Darmstadt 1963 – 1968, Bd. 4, S. 527– 539. Dieser Selbstkommentar erschien nach Kemp (ebd., S. 944) zuerst in der Januar-Nummer der Zeitschrift Kronos 1 (1813). Das Stück folgte im Druck erst zwei Jahre später: Die Gründung Prags. Ein historisch-romantisches Drama. Von Clemens Brentano. Pesth 1815. Brentano, Entstehung, alle Zitate bis hierher S. 533. Dies Zitat und das Folgende ebd., S. 532 f.
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Dichter öffnet sich der Himmel, die Stadt wird gegenwärtig. Hier erst geschieht das Entscheidende: „Ein neckender Geist gesellte sich zu mir, und lockte mich, ihm über einen Abgrund zu folgen, den er mir mit grünem Gesträuch verdeckt hatte.“ Dieser Genius führt ihm die „Vision Libussens vor die Seele“, macht ihn mit der mythischen, auch in den alten Quellen genannten Gründerin der Stadt bekannt. Die „Bruchstücke“ der Überlieferung ergänzen sich in der Vision zu einem Ganzen, das der Dichter nun im Sinne einer höheren Erfahrung bezeugen kann. Er hat die Gründung Prags nicht nur rekonstruiert, sondern sie „gewissermaßen erlebt“. Durch seine besondere Fähigkeit hat er die Gelehrten weit hinter sich gelassen, obwohl seine Vision aus demselben Wissen hervorgegangen ist, das auch sie besitzen. Da sich das Gesicht von diesem Wissen aus entfaltet, erhält es von hier aus gleichsam eine Sicherung. Nicht wenige der historischen Poetiken des 19. Jahrhunderts prägt dieses Ineinandergreifen von philologisch-historischem Wissen und visionärer Fähigkeit. Ganz analog werden beispielsweise Scheffel und Stifter das Verhältnis von Dichtung und Wissenschaft konzipieren, um ihre historischen Romane zu positionieren (Kap. IV.1. und 2.). Im Wissen beansprucht diese Poetik des Historischen, eine Basis zu haben, die sie auch gegenüber den wissenschaftlichen Erkenntnisansprüchen bestehen lässt. Die gelehrte Basis bereitet den Boden für die empirische Erkenntnis, deren Raum die Geschichte ist. Aber erst die Vision erfüllt diese Erkenntnis mit Leben. Rein wissenschaftlich behandelt, muss sie fragmentarisch bleiben. Die Dichtung nimmt hier in Anspruch, was der anonyme Beiträger der Deutschen Viertel-Jahrsschrift den philologisch-historischen Wissenschaften als Versäumnis vorwarf: einen „Totalblick“,³⁶⁰ der die in der Geschichte verborgenen Ideen in ihrer Ganzheit und Lebendigkeit anschaulich zu Bewusstsein bringt. Dichtung zielt auf die gleiche Wahrheit der Geschichte wie die philologischhistorischen Wissenschaften. Dies wird möglich durch den Begriff von Geschichte, den auch die philologisch-historischen Wissenschaften teilen. Die metaphysische Grundierung des Geschichtsdenkens ist oben schon berührt worden. Historische Erkenntnis richtet sich auf eine Wahrheit, die in der Geschichte selbst walte und deren Spuren mit der Überlieferung an die Gegenwart gekommen seien. „Die historische Ideenlehre […] geht demgemäß von einer Objekt-Subjekt-Identität des historischen Erkenntnisprozesses aus“, hat Horst Walter Blanke für das historistische Denken festgestellt.³⁶¹ Dieses metaphysische Fundament ermöglicht die philologisch-historische Forschung des 19. Jahrhunderts, es lässt plausibel er-
M., Standpunkt, S. 475. Vgl. Blanke 1991b, Zitat S. 224.
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scheinen, dass die Betrachtung der Geschichte für die Gegenwart eine Orientierung liefern könne, die dem ‚Wesen der Dinge‘ entspreche. Nietzsche wird diese metaphysische Basis des Geschichtsdenken am Ende des Jahrhunderts mit bis dahin nicht gekannter Radikalität untergraben – ironischerweise mithilfe von Methoden, die die philologisch-historischen Wissenschaften im Laufe des Jahrhunderts entwickelt haben, um die Geborgenheit der geschichtlichen Welt in einem höheren Sinn zu belegen (Kap. V.). Gerade dieses metaphysische Fundament erlaubt es aber auch den Dichtern, ihren besonderen ‚visionären‘, ‚inspirativen‘, ‚lebendigen‘ Zugriff auf die Geschichte zu legitimieren. Denn wenn es eine Wahrheit der Geschichte ‚gibt‘, wenn in ihr „concret-immanente[…]“ Ideen zur Erscheinung kommen (Heinrich Leo),³⁶² wenn sich hier eine „Substanz“ entwickelt, „von welcher die einzelnen Erscheinungen nur Modificationen sind“ (Theodor Danzel),³⁶³ wenn Geschichte sich aus dem „Princip eines Volkes oder Zeitalters“, dem „innersten Kern [ihres] Gesammtwesens“ (Boeckh)³⁶⁴ entwickelt, wenn schließlich der Historiker in der Geschichte die „Wahrheit sittlicher Mächte“ erkennen lernt (Droysen)³⁶⁵ – kann dann nicht auch der Dichter aufgrund seiner besonderen Begabung zu dieser Schicht des Seienden durchdringen? Das Inspirations- und Geniemodell wird gleichsam an die spezifischen Bedingungen des historischen Bereiches adaptiert, der von einer empirischen Basis ausgeht, um in ihr und durch sie die Ideen aufzuweisen, die die Geschichte bestimmen. Die mögliche Konkurrenz von Dichtung und philologisch-historischen Wissenschaften entsteht durch den common ground eines gemeinsamen Geschichtsverständnisses. Dieses Fundament wird noch breiter – und dadurch der Wahrheitsanspruch der Dichtung umso plausibler –, da auch die Wahrheitsansprüche der philologisch-historischen Wissenschaften mit solchen inspirativen Durchbrüchen der Erkenntnis in die wesentlichen Schichten der historischen Wahrheit rechnen. Für Boeckh, um bei den großen theoretischen Entwürfen zu bleiben, ist die „historische Construction des Alterthums selbst etwas Künstlerisches“ (Encyklopädie, S. 25). Er bezieht sich dabei nicht auf die Darstellung als künstlerische Form – worauf weiter unten noch eingegangen wird –, sondern auf das Erkenntnisverfahren. Die hermeneutisch-kritische Methode leiste durch „Induction“ einen „Aufweis des Seienden […] in seiner Einheit“ (Encyklopädie, S. 26). Sie geht vom empirisch Gegebenen, von der Überlieferung, aus und totalisiert es auf die in ihm
[L.]eo, Gestaltung, S. 118 f. Danzel, Behandlung, S. 291. Encyklopädie, S. 57. Historik, S. 5.
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geborgenen Ideen hin. Diese Erkenntnisbewegung ist an vielen Stellen zirkulär. Beispielsweise muss sie, um die formalen Operationen der Kritik und der Hermeneutik auf das empirische Material anwenden zu können, schon ein Vorverständnis von diesem Material selbst haben, das die Erkenntnis leitet. Das Verstehen der Überlieferung in ihrer Individualität und Gesamtheit – das Ziel der philologisch-historischen Erkenntnis – muss schon von Ideen ausgehen, damit sie das Material überhaupt durch eine Frage auf die Erkenntnis hin ordnen kann. Diese Ideen aber, da sie nicht anders als historisch vermittelt sein können, kommen dem Forscher eigentlich erst aus dem Material selbst zu (vgl. Encyklopädie, S. 54). Eine analoge zirkuläre Dynamik ergibt sich zwischen den formalen Tätigkeiten der Hermeneutik und der Kritik. Die Hermeneutik richtet sich nach Boeckh auf das absolute Verstehen des einzelnen Überlieferten; die Kritik will es relativ in seinem Verhältnis zu anderem Einzelnen und zum Ganzen verstehen. Auch hier setzt das hermeneutische Verstehen des Einzelnen schon das Verstehen seiner Umgebung und des Ganzen voraus, obwohl sich doch eine Einsicht in Zusammenhänge oder das Ganze nur aufgrund einer Hermeneutik der Einzelzeugnisse ergeben könnte (vgl. Encyklopädie, S. 55). An jeder Stelle setzen „das Allgemeine und das Besondere […] einander voraus und formiren einander approximativ“ (Encyklopädie, S. 57). Diese zirkuläre Auffassung vom historischen Verstehen ist als hermeneutischer „Cirkel“ (Encyklopädie, S. 83) wirkungsmächtig geworden.³⁶⁶ Boeckh hat sie in aller Deutlichkeit entwickelt. Aber Friedrich Schlegel formuliert bereits ein analoges Konzept des philologisch-historischen Verstehens (Kap. II.1.1. und 2.).³⁶⁷ Insgesamt reagiert diese Gedankenfigur auf die empirische Natur der Gegenstände. Deren Sinn könne nicht apriorisch konstruiert, sondern müsse aus ihnen selbst gewonnen werden. Auch Boeckh setzt sich damit von Hegel ab. Dass aber das zirkuläre Verstehen nicht in einem circulus vitiosus bloß seinerseits Ideen in die Dinge hineinprojiziere, wird zu einer Frage der „philologischen Kunst“ (Encyklopädie, S. 55). Kunst ist dies deshalb, weil das Verfahren bei seiner methodischen Gratwanderung zwischen den vorgängigen Ideen des Forschers und der historischen Individualität des Materials auf ein Sensorium angewiesen ist, das es leitet. Als Organ dieser Kunst setzt Boeckh nichts anderes an als eine spezifische Genialität
Vgl. etwa Rodi 1979; Ingrid Strohschneider-Kohrs: Textauslegung und hermeneutischer Zirkel. Zur Innovation des Interpretationsbegriffes von August Boeckh. In: Flashar u. a. (Hrsg.) 1979, S. 84– 102. Jürgen Fohrmann arbeitet das Verfahren für die Literaturgeschichtsschreibung heraus am Beispiel von Gervinus; ders. 1994, hier S. 581.Weitere Literatur zur Hermeneutik im Kapitel II.1. A, Anm. 16. Als paradigmatisch beschreibt Schlegels Hermeneutik auch Weimar 1987, S. 159.
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des Philologen.³⁶⁸ Sie hat einen zentralen Platz sowohl in der Hermeneutik als auch in der Kritik. In jener, wo es um das absolute Verstehen einzelner Überlieferungen geht – also um das Verständnis von Individualität –, löst die Genialität für Boeckh das Problem, dass das vollständige Verstehen eines Anderen streng genommen gar nicht möglich sei. Schließlich vermittle es sich immer nur über Zeichen, die als solche notwendig konventionell seien. Eigentlich wäre die Aufgabe, eine Überlieferung in ihrer Eigenheit zu verstehen, schon von sich selbst her unlösbar. Hier aber komme dem „hermeneutischen Künstler“ das „Gefühl“ zur Hilfe (Encyklopädie, S. 86). Mit seiner Hilfe könne er doch ein „vollständiges Verständnis“ erreichen. Es werde dann „mit einem Schlage wiedererkannt […], was ein anderer erkannt hat“ (ebd.). Durch „lebendige Anschauung […], die im Gefühl gegeben ist“, verstehe man den anderen. Hierzu brauche es „Congenialität“ (ebd.). Dieser reale Durchbruch in den Geist des anderen, der das tiefste Verstehen erlaubt, erscheint möglich, weil an die „Stelle des Verstandes“ die „Phantasie als hermeneutische Tätigkeit“ tritt (Encyklopädie, S. 87). Sie verfahre nicht mehr nur reproduktiv, sondern sei „innerlich productiv[…]“ (Encyklopädie, S. 86 f.). Der Erkennende stoße zu einer Wahrheit vor, der sich der Verstand immer nur vermutungsweise, mit Wahrscheinlichkeit oder approximativ, hätte nähern können. Das hermeneutische Gefühl hat sein Pendant für Boeckh in der Kritik. Hier, wo es um das Verständnis von Einzelnem in seinem Bezug auf anderes Einzelne oder zum Allgemeinen geht, wird es gefordert, wo in einem Text einzelne Stellen unverständlich erscheinen. Wenn ein Wort in seinem textuellen Zusammenhang eindeutig falsch ist, ohne dass andere Überlieferungsträger Abhilfe schaffen, stellt sich dem Kritiker ein ernstes Problem. Denn da er nicht weiß, was an der betreffenden Stelle ursprünglich stand, kann er den textuellen Kontext eigentlich nicht verstehen. Aus diesem Grund aber ist es ihm auch umgekehrt nicht möglich, die fehlende Stelle vom Sinn ihrer Umgebung her zu ergänzen. Das „Fehlende muss also aus noch nicht Begriffenem gefunden werden, und das noch nicht Begriffene soll aus dem Fehlenden begriffen werden.“ (Encyklopädie, S. 184) Der Verstand bleibt haltlos und verwirrt, der Kritiker ratlos zurück. Ihm scheint nichts anderes übrig zu bleiben, als ein Orakel zu befragen. Der Verweis auf das Numinose liefert Boeckh das Stichwort für die Genialität des Kritikers: Wir haben in der That ein solches Orakel in der divinatorischen Kraft des Geistes. Der kritische Künstler, ganz durchdrungen von dem Geiste des Schriftstellers, ganz erfüllt von
Vgl. Horstmann 1978, S. 46 f.; Buschmeier (2008, S. 91) weist richtigerweise darauf hin, dass Herder als einer der ersten „Genialität nicht nur auf Seiten des Autors, sondern auch auf Seiten des Rezipienten einfordert.“ Vgl. auch Bosse 1978; Weimar 1987.
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dessen Weise und Zweck und ausgerüstet mit der Kenntnis der umgebenden Verhältnisse, producirt in einem Augenblick das Wahre; er durchbricht die Schranken des Geistes und weiss, was der Autor gemeint hat, sogar wenn jener selbst schuld an dem unrichtigen Ausdruck ist. (Ebd.)
Auch hier bricht jenes produktive Vermögen durch, das Boeckh oben mit der Phantasie identifiziert hatte. Es löse die Aporie des Verstandes durch die höhere Sicherheit eines Gefühls, das aus der intimen Kenntnis des historischen Materials hervorgehe. Wo der Verstand den Sinn der Stelle nicht erfassen könne, da springe der Geist des Gegenstands in die Bresche. Dies wird möglich, weil der Forscher ihn mithilfe seiner philologisch-historischen Tätigkeit in sich selbst reproduziert habe. Diesen Geist aber versteht Boeckh nicht bloß als ein Modell, eine Kopie, eine Konstruktion; sondern er sei der Geist selbst, der sich in der Geschichte manifestiert habe. Wenn der Interpret die Antike „lebendig“ erfasst habe, wenn ihr ganzer Sprachgebrauch ihm „gegenwärtig“ sei, dann greife sein eigener Geist „bewußtlos“ nach dem Rechten. Nichts weniger ist hier am Werk als ein produktiver und gerade in seiner Bewusstlosigkeit wahrheitsfähiger „Enthusiasmus“. Und wo dieser fehle, sei „nichts zu machen“ (alle Zitate ebd.). Die divinatorische Kritik, von jeher ein Pfund, mit dem die Philologen wucherten,³⁶⁹ wird für Boeckh zur zweiten Einbruchstelle des Wahren in den beschränkten, empirisch arbeitenden Geist des Philologen. Die formalen Verfahren sind die Grundlage für die philologisch-historische Erkenntnis; auf das Material angewandt und durch die Kenntnis der Überlieferung geschult, strebten sie danach, „die historische Wahrheit aus[zu]mitteln“ (Encyklopädie, S. 175). Die ‚Ratio‘ dieses Verfahrens aber liegt letztlich in einer inkommensurablen Fähigkeit, die von der Vertrautheit mit den philologisch-historischen Operationen zur Reife gebracht wird:³⁷⁰ in „dem unmittelbaren Gefühl, das aus einem unbestechlichen
Zur divinatorischen Kritik vgl. Heinz Schaefer: Divinatio. Die antike Bedeutung des Begriffs und sein Gebrauch in der neuzeitlichen Philologie. In: Archiv für Begriffsgeschichte 21 (1977), S. 188 – 225; Gille 1988; Carlos Spoerhase: Konjektur, Divination &c.: Einige Fragen und Probleme. In: Konjektur und Crux. Zur Methodenpolitik der Philologie. Hrsg. von Anne Bohnenkamp, Kai Bremer, Uwe Wirtz und Irmgard M. Wirtz. Göttingen 2010, S. 107– 115. Für die Historiographiegeschichte bis 1850: Jordan 1999, S. XXXIX; Hardtwig 1982, S. 179 – 181; zu Ranke vgl. ders. 1978, S. 16. Die Anlage zu dieser Fähigkeit sei angeboren, nicht erlernbar: „Criticus non fit, sed nascitur“, ebenso der „Interpres“ (Encyklopädie, S. 87). Analog Droysen: „Studium und Übung […] stärkt und entwickelt [sic !] nur das,was einer sich nicht geben kann, die Begabung für diese Art der Tätigkeit“ (Historik, S. 64). Vgl. zu diesem Gedanken bei Friedrich Schlegel: Timo Günther: Der „geborene Philologe“? Friedrich Schlegels Antike im Kontext seiner Philosophie der Philologie und der Notate zum Altertum. In: Antike – Philologie – Romantik. Friedrich Schlegels altertumswissen-
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Sinn für historische Wahrheit hervorgeht.“ (Encyklopädie, S. 174) Diese „Genialität“ (Encyklopädie, S. 177) des Philologen nennt Boeckh auch „Takt“ (Encyklopädie, S. 87). Der Begriff mitsamt seiner idealistischen Imprägnierung formt das philologische Selbstverständnis im 19. Jahrhunderts auch da, wo die Forscher explizite methodische Reflexionen meiden, so beispielsweise bei den Grimms (Kap. III.2.).³⁷¹ Bei Droysen findet sich eine ähnliche Grundstruktur des Denkens. Bei allen Unterschieden zu Boeckh zielt doch auch er auf das Verstehen der intelligiblen Geschichtsprozesse, die durch die Überlieferungen bis in die Gegenwart reichten.³⁷² Da Droysen das Bedürfnis verspürt, sich entschieden gegen die Dichtung abzugrenzen, vermeidet er deren Begriff, wo es nur geht.³⁷³ Aber auch er reduziert den Historiker nicht auf die Beherrschung einer Methode. Entscheidend ist für ihn ebenfalls die „Kongenialität“, die er als „Sinn für das Wirkliche“ spezifiziert, als Fähigkeit, „in den erscheinenden Dingen die […] Wahrheit zu sehen“ (Historik, S. 64). Diese Vorstellung ruht auf dem für das philologisch-hermeneutische Denken grundlegenden Fundament einer „theologisch idealisierte[n] Welt“, die eine „direkte Manifestation Gottes oder des Göttlichen“ ist.³⁷⁴ Sie setzt sich, so Arbogast Schmitt, aus stoischen, aristotelischen und scotistischen Elementen zusammen, die aber – das wird an Boeckh und Droysen deutlich – ‚platonisiert‘ werden.³⁷⁵ So entsteht gewissermaßen die Möglichkeit der Transposition eines platonischen Elementes in das Feld der empirischen Erkenntnis. Es begründet die historische Ideenlehre und liefert die Theorie für den Zugang zur Wahrheit, den der Forscher aufgrund seines Eindringens ins Material und seiner Kongenialität erlangen
schaftliche Manuskripte. Hrsg. von Christian Benne und Ulrich Breuer. Paderborn 2011, S. 263 – 287. Kongenialität sowie „Intuition und künstlerisches Vermögen“ setzt am Ende des Jahrhunderts beispielsweise noch Scherer „als unumgängliche Ingredienzien von Geisteswissenschaft“ an; vgl. Kruckis 1994, S. 484. Historik, S. 21 f.: „Diese formenden Kräfte gilt es aus dem, was von ihnen noch vorliegt, zu erkennen, d. h. die Formen, die sich in dem so Vorliegenden ausgeprägt zeigen, auf das zurückzuführen, was sich in ihnen hat ausprägen wollen. Es gilt zu verstehen.“ Hackel (2006, S. 106 – 109) weist entsprechend auf die beiden gemeinsame Konzeption des Verstehens hin. Freilich bemüht er öfter Analogien zu den bildenden Künsten Malerei und Plastik; etwa Historik, S. 169, S. 171, S. 185 Vgl. den grundlegenden Aufsatz von Arbogast Schmitt: ‚Antik‘ und ‚modern‘ in Schillers Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Schiller und die Antike. Hrsg. von Paolo Chiarini und Walter Hinderer. Würzburg 2008, S. 257– 298, vor allem S. 268 – 275. Schmitt (ebd.) verfolgt die Filiationen dieses Gedankens durch die philosophische Tradition der Antike und des Mittelalters. Hier kommt es jedoch nur auf die Figur selbst an.
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könne. Boeckh und Droysen fassen historische Erkenntnis im Kern als Wiedererkennen. Es richte sich auf die geschichtlich wirksamen Kräfte. Hier liege die zentrale Aufgabe des Verstehens. Für Droysen gilt es, die „Formen, die sich in dem so Vorliegenden ausgeprägt zeigen, auf das zurückzuführen, was sich in ihnen hat ausprägen wollen“ (Historik, S. 21 f.); Boeckh sieht den Zweck der Erkenntnis in der „historischen Construction des ganzen Erkennens und seiner Theile und in dem Erkennen der Ideen, die in demselben ausgeprägt sind“ (Encyklopädie, S. 14). Verstehen ist möglich, weil die Ideen und Formen in den Überlieferungen geborgen seien. Diese sind Spuren menschlicher Intentionalität, also von Erkenntnis- und Willensakten früherer Menschen. Die einzelne Quelle belegt das Streben Einzelner. In der Gesamtheit der Überlieferung aber kommt, totalisiert, das Streben ganzer Epochen und Völker zum Ausdruck. Das Verstehen dringt zu ihm hindurch. Auch wenn der philologisch-historische Betrachter konstruiert – seine Erkenntnis ist nicht bloße Konstruktion, sondern sie hat ihr Gegenstück in der Geschichte, den Akteuren und ihrem intelligiblen Verlauf selbst. Die individuellen Entwürfe und das Ganze der Zeit zu erkennen, bedeutet daher, sie wiederzuerkennen.³⁷⁶ Boeckh bezieht sich für seinen Begriff des Erkennens als Wiedererkennen ausdrücklich auf Platon: Die Philosophie erkennt primitiv, γιγνώσκει, die Philologie erkennt wieder, ἀναγιγνώσκει […]. Dieses Wiedererkennen ist das eigentliche μανθάνειν, so wie es Platon im Menon darstellt, das Lernen im Gegensatz gegen das Erfinden, und was gelernt wird, ist der λόγος, die gegebene Kunde; daher sind φιλόλογος und φιλόσοφος Gegensätze, nicht im Stoff, sondern in der Ansicht und Auffassung. Doch ist dieser Gegensatz nicht absolut, da alle Erkenntnis, alle γνῶσις nach Platon’s tiefsinniger Ansicht auf einem höheren speculativen Standpunkt eine ἀνάγνοσις ist. (Encyklopädie, S. 16).³⁷⁷
Die intelligible Struktur der Welt, deren empirischer Ausdruck die Geschichte ist, ermöglicht das Wiedererkennen. Was die Philosophie apriorisch rekonstruiert, dem folgt die philologisch-historische Erkenntnis mittels der Spuren, die das Absolute, zeitlich immer schon ins Einzelne und Besondere entfaltet, hinterlassen hat. Im Philologen vollzieht sich nicht weniger als eine progressive Wiedererkennung des Absoluten im Empirischen.
Ähnlich etwa, mit nationalem Bezug, Bernhard Joseph Docen: „Und je mehr wir in solchem Erkennen fortschreiten, um so mehr wird es uns klar werden, daß dieses eigentlich nur ein Wiedererkennen sey, da wir hier deutschen Sinn und deutsches Gemüth als etwas unserm Wesen Verwandtes anschauen und empfinden“; ders.: Neudeutsche, religös-patriotische Kunst; gegen die Weimarischen Kunstfreunde. In: Wiener Jahrbücher 12 (1820), S. 36 – 71, hier S. 65. Vgl. zum lógos-Begriff: Rodi 1979, S. 73 – 76.
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Droysen formuliert dies mit noch größerem Selbstbewusstsein: Da alles geschichtlich sei, da wir „aus der Geschichte […] Gott verstehen“ (Historik, S. 28) lernen, vollziehe sich im Historiker „das γνῶθι σαυτόν des Menschengeschlechtes […], wenigstens in der Form des ἀναγιγνώσκειν, denn er hat das Seiende als ein Gewordenes zu verstehen, zu lesen, gleichsam rückwärts und zu seinem Ursprung hinauf zu erkennen.“ (Ebd.) Die Erkenntnis des Absoluten kann für ihn zwar nie zum Ende kommen, da der Historiker selbst Teil der empirischen Geschichte ist und entsprechend nur einen bestimmten Standpunkt im Ganzen einnimmt. Aber das schließe ihn nicht von Wahrheitserkenntnis aus. Denn er habe in seiner geschichtlichen Erkenntnis selbst einen Leitfaden, der ihn dem Absoluten gleichsam entgegen führe. Ganz Platonisch gedacht, ist dies die Sehnsucht: „Führt“, so fragt Droysen, die vergebliche Suche nach der absoluten Wahrheit „uns nur bis zu diesem Anfang einer unendlichen und doch nie erfüllten Sehnsucht?“ (Historik, S. 31) Und er antwortet, indem er die Sehnsucht selbst als leitende Kraft anspricht, die den Menschen in die Richtung des Wahren ziehe: [A]uch diese Sehnsucht wird nach der Natur des Menschen sich formen, Ausdruck gewinnen, und wieder auch diese Form wird eine Aufgabe der historischen Betrachtung, ein neues Moment zu dem γνῶθι σαυτόν sein, das ihre Aufgabe ist. Mit dem so erhöhten γνῶθι σαυτόν wird das Suchen nach dem Zweck der Zwecke, der Ursache der Ursachen eine neue erhöhte Form gewinnen und ausprägen, und so fort ins Unendliche. (Ebd.)
Die Sehnsucht, das Bedürfnis der Fülle aus dem Bewusstsein des Fragmentarischen, hilft für Droysen auch in der konkreten historischen Arbeit. Diese beginne mit der Frage, die der Historiker an sein Material stellen müsse, um es zum Sprechen zu bringen. Droysen betont damit ein Moment, das auch Boeckhs hermeneutischen Zirkel prägt. Dort hatte ja die Idee schon eine Bresche in das Material geschlagen, obwohl sich diese Idee erst aus dem Material selbst ergeben konnte und durfte. Für Droysen wird die Frage durch eine „schöpferische Intuition“ (Historik, S. 109) geleitet. Sie antizipiere das Ganze, obwohl dieses sich erst aus der Überlieferung ergeben könne. Das Ganze, das sich vorgängig zeige, sei gleichsam noch leer; aber die empirische Arbeit leite und ordne es auf seine spätere Füllung hin. Die Frage ist ein intuitiver Einblick in den ‚Geist‘ der Geschichte. Dieses Grundmodell der hermeneutischen Erkenntnis schließt an der Platonischen Ideenlehre und dem Mythos vom Eros aus dem Symposion an. Das Streben nach der Erkenntnis der Idee wird aber auf die Geschichte übertragen und damit an die Empirie gebunden. Auf sie und ihre Durchdringung richtet sich der Wunsch
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nach Wiedererkennen, das Droysen auch als Wiedererinnerung („ἀνάμνησις“)³⁷⁸ bezeichnet. Diese Denkfigur prägt das historische Denken des 19. Jahrhunderts in weiten Teilen. Im Kapitel zu Friedrich Schlegel soll ihr weiter nachgegangen werden (Kap. II.1.). Wie Boeckh schließt auch Droysen an Schlegel an.³⁷⁹ Hier sollte zunächst eine weitere Parzelle des common ground vermessen werden, den philologisch-historische Wissenschaften und Dichtung im 19. Jahrhundert teilen. Die gemeinsamen Strukturen reichen weit in die Konzeption der Wissenschaften hinein, und sie müssen es. Denn der idealistische Überbau der Hermeneutik, die Genialität in der Geschichtserkenntnis hängen eng zusammen mit dem Orientierungsangebot, das das Geschichtsdenken für die Gegenwart überhaupt zu machen hat. Die substantiellen Überschneidungen mit dem Selbstverständnis der Dichtung sind gleichsam systemisch bedingt. Auch die Genialität führt zu Spannungen und zu Konkurrenz, denn einerseits vollzieht sich hier ein Wissensaustausch der beiden Teilnehmer, andererseits wird aber die adäquate Erfüllung der historischen und orientierenden Ansprüche von beiden je für sich in Anspruch genommen und dem anderen abgesprochen.³⁸⁰
3 ‚Leben geben‘ – Darstellung als Kunst Eine weitere zentrale Schnittmenge mit der Dichtung besteht in der narrativen Darstellung von Geschichte.³⁸¹ Schon Historiker des 18. Jahrhunderts wie Johann Christoph Gatterer (1727– 1799) bestimmten das Erzählen als konstitutiv für die
Historik, S. 41. Sie gebe dem Menschen den „Prometheischen Funken“ und sei „das rückwärts gewandte Verstehen des Seienden als eines Gewordenen, ein Gegenbild desselben, das sich uns aus der Rekonstruktion seines Gewordenseins erzeugt und in dem uns dessen Wahrheit, dessen lebensvolle Kraft entgegentritt.“ Droysen (Historik, S. 57; ähnlich auch S. 38 und S. 41) nennt an einer zentralen Stelle Schlegels Athenaeum-Fragment Nr. 80 (KFSA 2, S. 176), das den Historiker einen ‚rückwärts gekehrten Propheten‘ nennt; vgl. dazu ausführlich Kap. II.1., S. 158. Ein Beispiel liefert Goethes Auseinandersetzung mit Wolfs kritischer Methode in den wenig bekannten Notizen Beyläufige Gedanken über historische Critik (wohl 1807/08, geschrieben durch Riemer; ediert und kommentiert von Franz Schmidt: Goethe über die „historische Kritik“ F.A. Wolfs. In: DVjs 44 [1970], S. 475 – 488). Goethe fasst dort die historische Einsicht als „apercü“, als „Geistesblitz“ und „Geistesfunke“, aus „innere[n] Anschauungen“. Auch der Kritiker also gewinne seinen Blick auf das Material und auf die Geschichte durch einen „Coup de Genie“. Allerdings spricht Goethe ihm deshalb auch philosophische Sicherheit und Wahrheit ab. Die Kritik beginne „wie die türkische Justiz“ bei der „Sentenz“, bei ihrer eigenen,vorgängigen Idee; erst dann gehe sie dazu über, diese argumentativ zu belegen: „der Prozeß wird erst hinterdrein gemacht“; vgl. ebd., S. 482 f. Literatur siehe oben, Anm. 41.
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historische Wahrheit in der Darstellung.³⁸² „Evidenz“ in der Geschichtswissenschaft ergebe sich nicht, wie in anderen Wissenschaften, mathematisch und damit logisch. Sondern hier beziehe sie sich auf „individuelle[] Dinge“.³⁸³ Diese zu erkennen, erfordere eine pragmatische Einsicht in die Ursachen und Wirkungen von Handlungen.³⁸⁴ Sie aber darzustellen, so Gatterer, sei eine eigene „Kunst“,³⁸⁵ nämlich die, „anschauend zu erzählen und ideale Gegenwart der Begebenheiten bey dem Leser zu erwecken“.³⁸⁶ Hierzu sei „historisches Genie“ erforderlich,³⁸⁷ denn der Historiker müsse „durch ideale Gegenwart der Begebenheiten zuvor selbst Zuschauer worden seyn“.³⁸⁸ Es gelte, den historischen Personen „gleichsam das Leben wieder zu geben“.³⁸⁹ Gatterer nähert die Geschichtswissenschaft der Dichtung weit an: sowohl was die Einsicht in die historischen Tatbestände angeht (der Historiker müsse Zuschauer werden, sich die Vorgänge mittels der Einbildungskraft vergegenwärtigen) als auch, was deren Darstellung betrifft (er solle das ‚Leben wieder geben‘). Von „Romanen“³⁹⁰ unterscheide sich die Geschichtsschreibung durch ihren Quellenbezug, der die Grundlast der historischen Wahrheit trägt. Mit der kritischen Betrachtung der Quellen gewinnt der Historiker seinen Zugang zu ihr, und mit der Bindung an die Quellen gewährleistet er die Wahrheitsfähigkeit seiner Geschichtsschreibung.³⁹¹ Während es Gatterer vornehmlich um die Wahrheit von Handlungen und Personen geht, reicht die enge Verbindung zur Kunst doch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein. Sie ließ sich nahtlos auf eine Geschichtsschreibung übertragen, der es um die Verfolgung historischer Ideen im geschichtlichen Prozess ging – so sehr, dass Daniel Fulda in seinem Standardwerk von einer Ent-
Vgl. Reill 1985, S. 174– 177; ders.: History and Hermeneutics in the Aufklärung: The Thought of Johann Christoph Gatterer. In: The Journal of Modern History 45 (1973), S. 24– 51; Fulda 1996, S. 157– 174; Joachim Scharloth: Evidenz und Wahrscheinlichkeit: Wahlverwandtschaften zwischen Romanpoetik und Historik in der Spätaufklärung. In: Fulda u. a. (Hrsg.) 2002, S. 247– 275. Johann Christoph Gatterer: Vorrede von der Evidenz in der Geschichtskunde. In: Allgemeine Welthistorie die in England durch eine Gesellschaft von Gelehrten ausgefertiget worden. […] Hrsg. von Friedrich Eberhard Boysen. Bd. 1. Halle 1767, S. 1– 38, S. 5. Zur pragmatischen Geschichtsschreibung und ihrem Bezug zum Aufklärungsroman: Fulda 1996, S. 49 – 174. Zur (nicht immer treffenden) Kritik an der pragmatischen Geschichtsschreibung nach 1800 vgl. Jordan 1999, S. XXX–XXXIII. Gatterer, Evidenz, S. 12. Ebd., S. 13. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 22. Ebd., S. 24. Gatterer empfiehlt, die Darstellung durch einen belegenden Quellenanhang zu ergänzen.
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stehung der „Wissenschaft aus Kunst“ sprechen konnte.³⁹² Philipp Müller hat gezeigt, wie verschiedene Geschichtsschreiber im 19. Jahrhundert ihre Konzepte dezidiert in einer produktiven Auseinandersetzung mit zeitgenössischen ästhetischen Positionen entwickeln.³⁹³ Leopold Ranke (1795 – 1886) beispielsweise bestimmt in seiner wichtigen Vorlesung zur Universalgeschichte: Die Historie sei als Wissenschaft „zugleich Kunst“.³⁹⁴ Ihr müsse es nicht nur darum gehen, das „Gefundene schlechthin als solches aufzuzeichnen“, sondern um die „Wiederhervorbringung“ ihres Gegenstandes, des Vergangenen.³⁹⁵ Georg Gottfried Gervinus (1805 – 1871)³⁹⁶ entwickelt seine Historik als Theorie der Geschichte dezidiert von der Frage der „künstlerische[n] Behandlung“ der Geschichte aus.³⁹⁷ Auch für ihn meint dies nicht die äußere Ausschmückung eines Befundes, der eigentlich einer anderen Wissensordnung angehörte. Vielmehr ist sie integraler Teil der Wissenschaft selbst. Die Formung des historiographischen Werkes, seine „Einheit“, fließe aus der Erkenntnis der „Ideen“ selbst, deren „Werden und Wachsen“ der Historiker beschreibe. Auch Gervinus betont, dass der Historiker diese „Idee“ nicht von außen „in seinen Stoff hinein“ bringe; „sondern indem er sich unbefangen in die Natur seines Gegenstandes verliert, ihn mit rein historischem Sinn betrachtet, geht sie aus diesem selbst hervor und trägt sich in seinen betrachtenden Geist über.“³⁹⁸ Die philologisch-historische Erkenntnis formt das historiographische Werk zu einer Ganzheit, die aus dem Stoff selbst kommt und ihm entspricht (vgl. Kap. IV.2. zu Stifter). Das beschriebene Verfahren gleicht dem dichterischen, das am Beispiel Brentanos sichtbar wurde – abgesehen davon, dass dieser dort gerade nicht als Historiker schrieb. Auch hier gilt: Gerade weil der
Vgl. Fulda 1996, das Zitat aus dem Titel der Studie. Müller 2008 an Ranke, Burckhardt und Taine. Leopold von Ranke: Idee der Universalhistorie. In: ders.: Aus Werk und Nachlass. Hrsg. von Walther Peter Fuchs und Theodor Schieder. 4 Bde. München 1964– 1975. Bd. 4: Vorlesungseinleitungen. Hrsg. von Volker Dotterweich und Walther Peter Fuchs. München 1975, S. 72– 89, hier S. 72. Ranke hielt die Vorlesungseinleitung Anfang der 1830er Jahre, um seine Berliner Studenten in die Aufgaben und Methoden der wissenschaftlichen historischen Erkenntnis einzuführen. Zu Ranke und seiner Konzeption vgl. Fulda 1996, S. 296 – 410; Wolfgang Hardtwig: Historismus als ästhetische Geschichtsschreibung: Leopold von Ranke. In: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 99 – 114; Müller 2008, S. 45 – 143. Ranke, Idee, S. 72. Gervinus hat in Gießen und Heidelberg studiert (1825 – 1827, Promotion bei Creuzer). 1835 wurde er außerordentlicher Professor für Geschichte in Heidelberg, man entließ ihn aber aufgrund seines politischen Engagements im selben Jahr wieder aus dem badischen Staatsdienst; vgl. IGL, S. 555 – 557. Georg Gottfried Gervinus: Grundzüge der Historik. Leipzig 1837. Abgedruckt in: ders.: Schriften zur Literatur. Berlin 1962, S. 49 – 103, Zitat S. 49. Alle Zitate ebd., S. 88.
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common ground besteht, können sich Spannungen und Konkurrenzen um den Gegenstand der Geschichte ergeben. Deutlich wird dies in anderer Weise auch bei Droysen. Während Ranke etwa Scott moderat kritisiert,³⁹⁹ verwahrt dieser sich, wie oben schon erwähnt, entschieden dagegen, die philologisch-historischen Wissenschaften in die Nähe der „schönen Literatur“⁴⁰⁰ zu ziehen. Er stellt neben die erzählende Darstellung noch andere Formen des historischen Ausdrucks. In der Forschung sah man hierin oft eine wesentliche Neuerung in der historiographischen Konzeption. Dies mag auch zutreffen, aber diese Deutung übersieht doch die taktische Notwendigkeit, aus der dieses polemische Vorgehen folgt. Denn liegt nicht gerade in der gereizten Abwehr der „literatenhafte[n] Stimmung der jetzigen deutschen Bildung“ (Historik, S. 228) und ihres Wunsches nach Erzählung eine Stellungnahme gegen die Interferenzen, die sich zeitgenössisch zwischen Dichtung und philologisch-historischen Wissenschaften ergeben? Droysen will die Integrität der Wissenschaft auch in dieser Richtung erst herstellen. Sein Versuch einer Fundierung der philologisch-historischen Wissenschaften gilt der Abwehr konkurrierender Ansprüche, belegt aber gerade damit deren Existenz.⁴⁰¹
4 Die Dichter der Gelehrten – Zum Poesieverständnis der philologisch-historischen Wissenschaften Droysens Vorgehen liefert einen aufschlussreichen Hinweis auf die Art und Weise, wie die philologisch-historischen Wissenschaften insgesamt auf die Spannungssituation reagieren, die hier Thema ist. Denn er sichert seine Ansprüche, indem er gleichzeitig ein Bild von Dichtung und Dichtern entwirft, das sich von dem des Historikers und seiner Arbeit unterscheidet. Droysens Abwehr konstruiert ein bestimmtes Verständnis von Poesie, und sie kann auf der theoretischen Ebene nur
Vgl. die bekannte Stelle in seinen autobiographischen Notizen von 1885: „Die romantischhistorischen Arbeiten Walter Scott’s, die in alle Nationen und Sprachen Eingang fanden, trugen hauptsächlich dazu bei, die Theilnahme an dem Thun und Lassen der vergangenen Zeiten zu erwecken. Auch für mich hatten sie Anziehendes genug und ich las mehr als eins dieser Werke mit lebendiger Theilnahme; aber ich nahm auch Anstoß an denselben. […] ich konnte ihm [Scott] nicht verzeihen, daß er in seine Darstellungen Züge aufgenommen hatte, die vollkommen unhistorisch waren, und sie doch so vortrug, als glaube er daran.“ Leopold von Ranke: Zur eigenen Lebensgeschichte. Hrsg. von Alfred Dove. Leipzig 1890, S. 61. Etwa Historik, S. 217, hier dezidiert gegen Gervinus gerichtet. In der letzten Druckfassung des Grundrisses der Historik (1882) vgl. die dritte Beilage: „Kunst und Methode“; gedruckt in: Historik, S. 480 – 488. Vgl. Fulda 1996, S. 414 f.
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so effektiv sein, wie dieses Bild auch trifft. Droysen selbst räumt dies unwillkürlich ein, wenn er, gegen Gervinus, dekretiert, von einer Nähe der Geschichte zur schönen Literatur könne keine Rede sein – es sei denn, man würde „den Begriff des Künstlerischen in einer Weite fassen, wie er wenigstens nicht der übliche ist.“ (Historik, S. 217) Wie sehen sie also aus, die Dichter, wie sie für den philologischhistorischen Wissenschaftler Droysen die ‚üblichen‘ sind? Zunächst gilt es einmal mehr festzuhalten, dass Droysen die Poesie als Gegenstand für die philologisch-historische Forschung keineswegs ausschließt. Wiederholt zieht er Dichtungen und andere Kunstwerke als historische Gegenstände heran: beispielsweise die von den Grimms gesammelten Märchen,⁴⁰² den Heliand,⁴⁰³ die Acharner des Aristophanes.⁴⁰⁴ Wo es um die Form der historischen Darstellung geht, demonstriert er das kunstgerechte Vorgehen des Forschers in der ‚untersuchenden Gattung‘ am Beispiel einer Arbeit über Aristophanes.⁴⁰⁵ Droysen bezieht die Dichtung als Gegenstand dezidiert in seine philologischhistorische Konzeption ein. Er verleiht ihr sogar eine besonders hohe Würde, so etwa im Falle der Divina Commedia, die er schätzt. Ein Werk wie dieses sei nicht nur wegen seiner zahlreichen historischen Notizen für den Historiker lehrreich, es ist vor allem in seiner gesamten sittlichen, religiösen und politischen Auffassung ein köstliches Überbleibsel seiner Zeit, und ich wüßte nichts, was das beginnende 14. Jahrhundert tiefer und unmittelbarer zur Anschauung brächte. (Historik, S. 76)
Der Dichter schafft Gegenstände, die für den Historiker besonders wertvoll sind. Er kann dies, weil er eine besondere Begabung hat: „Die Künstler vergegenwärtigen ihrer Nation ihr eigenstes Empfinden, geben demselben typischen Ausdruck“ (Historik, S. 322). Die Auseinandersetzung mit einer Dichtung vermag also die philologisch-historische Arbeit gewissermaßen abzukürzen, da sich im Werk des Künstlers etwas aussprechen könne, das sein Volk oder seine Epoche insgesamt präge.
Historik, S. 12 und S. 75. Ebd., S. 75. Ebd., S. 185. Vgl. ebd., S. 225 f.: „Ich hätte z.E. gemerkt, daß Aristophanes in mehreren Komödien einen attischen Bauern in den Mittelpunkt des Dramas stellt, ich hätte untersuchend gefunden, daß er es aus den und den Gründen getan, ich wollte das Ergebnis meiner Forschung in untersuchender Darstellung entwickeln“; dabei könnte man auf zwei Arten vorgehen: „In dem einen Fall würde ich mit der Beobachtung beginnen, daß der Bauer in mehreren Komödien erscheint, in dem andern mit der Frage, warum hat es Aristophanes getan.“
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Dieser besondere Wert der Dichtung erkläre sich aus ihrem Wesen: „Das künstlerische Denken […] ist ganz der Empfindung, der Phantasie angehörig, und wenn der Künstler zum Material seiner Mimesis die Sprache selbst nimmt, so braucht er Wort und Gedanke als Mittel, an ihnen die Empfindung, die ihn innerlich bewegte, auszudrücken, das Unsagbare zu sagen.“ (Ebd.) Das bedeutet aber auch: „Das künstlerische Denken ist ohne Logik“ (ebd.). Daher entzücke uns an seinem Werk „nicht der verstandesmäßige Inhalt, […] sondern der Hauch der Schönheit, der Empfindung, der tiefinnersten Seele, welcher das Gedicht umweht, jenes Etwas, das wir empfinden, aber nicht mit dem Wort beschreiben können“ (ebd.). Dichtung ist umso mehr Dichtung, je deutlicher sie die für sie uneigentliche Sphäre des Verstandes hinter sich lässt. Der wirkliche Dichter denke gerade nicht, sondern könne einer Empfindung Ausdruck verleihen, die, aus der Perspektive von Verstand und Sprache, eigentlich ‚unsagbar‘ sei. Sie doch zur Sprache bringen zu können, ist seine Leistung. Durch den Dichter kommen Ideen zum Ausdruck, die über ihm und seinen Zeitgenossen stehen: die Schönheit, der Geist der Nation oder der Zeit. Er übersetzt sie in einmalige, bezaubernde und sprechende Werke. Als Erscheinungen sind diese für den philologisch-historischen Forscher höchst bedeutsam. Der Dichter selbst aber wird als intellektueller Partner ausgeschaltet. Seine Dichtung ist intensiver Ausdruck, er selbst ein Medium der Kräfte, die sich durch ihn aussprechen. In dem Diskurs von Verstand und Erkenntnis mitsprechen kann er nicht. Der Sinn seiner Dichtungen kommt erst durch den Interpreten zur Sprache des Begriffes. Droysen steht mit diesem Bild des Dichters keineswegs allein. Flankierend sei Boeckh zitiert. Poesie erstrebe „die poetische Wahrheit, d. h. die Uebereinstimmung des Bildes mit der künstlerischen Idee; die Prosa dagegen soll die reale Wahrheit, d. h. die Uebereinstimmung des Inhalts mit der realen Wirklichkeit zum Ziele haben.“ (Encyklopädie, S. 248) Boeckh argumentiert hier in der traditionellen Entgegensetzung von (rhetorischer) Prosa und (dichterischer) Poesie. Auch sein Bild des Dichters trennt dessen Vorgehensweise säuberlich von der des Wissenschaftlers. Boeckh unterscheidet zwar den epischen, den lyrischen und den dramatischen Dichter. Aber alle gestalteten von innen nach außen: Die „Anschauung“ des epischen Dichters gehe nicht vom empirischen Material aus, sondern sie sei „die Verkörperung eines Phantasieideals“. Lyrik dann zeige die „Verkörperung einer innern Empfindung, eines die Seele bewegenden Lust- oder Schmerzgefühls. Der Stoff wird nach diesem subjectiven Zweck willkürlich geordnet“ (Encyklopädie, S. 145). Das Drama kombiniere beides, entstehe aber dennoch ganz aus der „Empfindung des Dichters“ (Encyklopädie, S. 146). Anders verfahre dagegen die wissenschaftliche, also auch die philologisch-historische Arbeit. Indem sich hier „der Geist in die sinnliche Wahrnehmung versenkt, ge-
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staltet er sie vermittelst der Phantasie oder des Verstandes selbst zum Ideal seiner Darstellung“ (Encyklopädie, S. 145). Der Forscher gehe vom empirischen Material aus und entnehme diesem selbst das Ideal bzw. die Idee, die er zum Gegenstand seiner Darstellung mache. Dadurch erreiche er, dass „die subjective Einheit des Urbildes ganz der objectiven einwohnt“ (ebd.), also in der Wahrheit der Geschichte selbst geborgen sei. Hier zeigt sich, historisch konkretisiert, ein weiterer Aspekt des Spannungsverhältnisses von philologisch-historischen Wissenschaften und Dichtung, wie es einleitend skizziert worden ist. Jene entwerfen selbst Konzeptionen von Poesie. Dies erlaubt es ihnen einerseits, Dichtung und Dichter zu ihren Gegenständen zu machen – und zwar nicht nur zu beliebigen Objekten, sondern zu besonders herausgehobenen. Diese Bilder vom Dichter aber können den Effekt haben, dass sie ihn selbst vom intellektuellen Diskurs und insbesondere von der historischen Erkenntnis ausschließen. Der Dichter und sein Werk wären sprechende Zeichen der Geschichte. Aber indem sie sich darin erschöpften, Medien des Ausdrucks (und Träger von Schönheit) zu sein, verlören sie ihren Status als Akteure der historischen Reflexion. Sie sind deutungswürdig und bedeutend – aber Deuter sind sie selbst nicht. Erst der Ausleger ist mit Bewusstsein, was der Dichter nur unbewusst sein kann.⁴⁰⁶ Der Preis dafür, Objekt zu werden, ist der Verlust des Subjektstatus. An den oben genannten Beispielen von historischen Dichtern haben wir gesehen, dass sie das ‚Mehr‘ an Einsichtsfähigkeit in die Wahrheit gern in Anspruch nehmen. Allerdings tun sie etwas, womit die philologisch-historischen Wissenschaften nicht zu rechnen scheinen: Sie führen ihre ‚besondere Begabung‘ auf das Gebiet der Geschichte selbst und wenden sie offensiv gegen die philologischhistorischen Wissenschaften – mit der Folge, dass sich von deren Seite kaum ein Argument findet, das grundsätzlich geeignet wäre, die Dichtung, zumindest von ihrem Selbstverständnis her, von der historischen Erkenntnis auszuschließen.
5 Ursprungspoesie in der Moderne Die philologisch-historisch gebildeten Dichter können sich also in die Erkenntnisansprüche der Wissenschaften ‚einklinken‘. Aus der Perspektive der spannungsvollen Beziehungen zwischen beiden gesehen, scheinen sie hier im Vorteil zu sein. Aber es gibt weitere Momente des philologisch-historischen Denkens, von denen her sich Dichtung noch in anderer Weise in Frage stellen lässt.
Dazu auch Gille 1988.
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Das historisierende Denken richtet seine Fragen, das wurde oben angedeutet, mit Vorliebe auf Völker, Nationen und den Staat. Von hier aus verspricht es eine Orientierung für die Gegenwart. Die alte Poesie hat dabei als Gegenstand eine besondere Aura. Wenn sie, wie Droysen sagt, der Nation deren „eigenstes Empfinden“ vergegenwärtigt, ihm den „typischen Ausdruck“ gibt und überliefert (vgl. Historik, S. 322) – sollte dann nicht auch der Gegenwartsliteratur eine Leitfunktion in der gegenwärtigen nationalen Identitätsbildung zukommen? Paradoxerweise ist jedoch genau dies nicht selbstverständlich.Was für die alte Poesie gilt, können die gegenwärtigen Dichter nicht unbedingt für sich in Anspruch nehmen. Der studierte Germanist Egon Friedell (1878 – 1938)⁴⁰⁷ hat seinem Unmut gegen die philologisch-historischen Wissenschaften später, 1911, in einer rasanten Polemik Ausdruck gegeben. Die Germanistik sei nichts als „verlangweilter Journalismus“ plus „Mikrologie und Kleinwissenschaft“. Eines der Argumente lautet: Für „Literaturhistoriker“ gebe es „nichts als die Vergangenheit; man kann sogar sagen: sie haben die Vergangenheit erfunden“.⁴⁰⁸ Friedell kommt es darauf an, dass die Wissenschaft die Dichter nur als tote lieben kann, notfalls, indem sie sie durch ihre wissenschaftlichen Praktiken umbringt. Durs Grünbein wird später ganz ähnlich argumentieren. In diesem Gedanken ist ein zweiter verborgen. Die Dichtung, der die Wissenschaft ihre Liebe zuwendet, ist mit Vorliebe die der Vergangenheit. Sichtlich leidet auch Friedell darunter. Er war 1904 mit einer Arbeit zu Novalis promoviert worden,⁴⁰⁹ hatte aber schon 1902 geschrieben, dass er eigentlich „ein guter Dichter“⁴¹⁰ werden wolle. Nach der Promotion machte er sich dann einen Namen in der Wiener Künstlerszene, stand auf der Kabarettbühne, publizierte in Zeitschriften Kritiken, Satiren, Polemiken und Aphorismen, schrieb Dramolette und Parodien.⁴¹¹ Friedells Polemik gegen die Germanisten kann als Ausdruck des systemischen Spannungsverhältnisses be-
Vgl. zu Friedells Studium oben, S. 37. Seinen unebenen Bildungsgang dokumentiert Denecker 1977. Vgl. Aphorismus gegen die Germanisten von Egon Friedell. In: Die Schaubühne 7 (6. Apr. 1911), H. 14, S. 365 – 367, alle Zitate S. 365. Nachgedruckt in: ders.: Wozu das Theater? Essays, Satiren, Humoresken. Hrsg. von Peter Haage. München 1965, S. 194– 196. Nach nur vier Jahren Studium ließ sich Friedell am 3. Mai 1904 zum Promotionsverfahren zulassen. Seine Arbeit zu Novalis als Philosoph wurde zustimmend begutachtet. Durch die Hauptprüfung fiel er zunächst durch, bestand aber im zweiten Anlauf. Eines der zwei Voten in den Nebenprüfungen war negativ, aber er kam, aufgrund von Jakob Minors positiver Bewertung, durch; die Promotionsschrift erschien noch im selben Jahr; vgl. Denecker 1977, S. 59 – 62. Postkarte an Otto Erich Hartleben, 6. Aug. 1902; zitiert nach: Heribert Illig: Schriftspieler – Schausteller. Die künstlerischen Aktivitäten Egon Friedells. Wien 1987, S. 15. Friedells zahlreiche Publikationen sowie seine Auftritte als Kabarettist und Schauspieler dokumentiert die sorgfältige Bibliographie von Illig (1987).
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griffen werden, aber sie benennt auch eine konstitutive Schwierigkeit, mit der die philologisch-historischen Wissenschaften zu kämpfen haben. Der Dichter der Gegenwart kann von der Wissenschaft gar nicht erkannt sein wollen, denn das würde bedeuten, dass er als Lebender eigentlich bereits den Toten zugehörte. Entsprechendes schreibt Friedell in Ecce Poeta, an dem er parallel zum zitierten Germanisten-Aphorismus arbeitete. Es handelt sich um eine Biographie des noch lebenden Dichters und Szene-Stars Peter Altenberg, die gleichzeitig fundamental fragen will, „was das Wesen eines Dichters“ sei, und eine „Charakteristik des heutigen Geistes“ zu liefern versucht.⁴¹² Der Dichter, so heißt es hier, bleibe immer zukünftig, eine ständige Avantgarde: Er sei der einzige ‚Moderne‘ in seiner Zeit, weil er gar nicht in die Zeit gehört, weil er zu einer Kategorie zählt, die noch nicht existiert, weil er mit Kräften arbeitet, die sich erst entwickeln müssen, durch ihn entwickeln müssen: er ist ja dazu da. Er ist eine gänzlich absurde, gänzlich unerprobte, riskante Angelegenheit. Er ist ein Mensch, den es noch nicht gibt.⁴¹³
Dieses Avantgardebewusstsein ist hier dezidiert modern formuliert und sichtlich an Nietzsche geschult.⁴¹⁴ Es ergibt sich prinzipiell jedoch bereits aus den Umordnungen des historischen Denkens in der ‚Sattelzeit‘ um 1800.Wenn die Zukunft konstitutiv offen ist, dann stellt sich die Frage, wer den Weg in sie weisen kann. Das Beispiel Friedrich Schlegels zeigt, wie das Problem einer Avantgarde sich schon um 1800 stellt und wie sich hier Konkurrenzen um deren konkrete Füllung ergeben können – solche zwischen Poesie und philologisch-historischen Wissenschaften bzw. einer philologisch-historisch orientierten Kritik (Kap. II.1.5.). Die Vorstellung, dass vor allem der Dichtung eine Leitungsrolle in der Kultur zukommen soll, ist auch im 19. Jahrhundert weit verbreitet. Es stellt sich aber die Frage, welche Dichtung diese Aufgabe eigentlich erfüllen kann: die der Gegenwart oder nicht vielmehr die der Vergangenheit? Wenn gegenwärtige Orientierung durch die Erkenntnis der Geschichte geboten werden kann, dann scheint die alte Dichtung einen klaren Vorteil zu haben. Denn von hier sind Werke überliefert, in denen der Geist der Nation oder aber der Humanität rein zum Ausdruck gekommen zu sein scheint. Die Klassische Philologie hängt konstitutiv vom Rang ihrer Gegenstände ab. Aber die Vorstellung von unterschiedlichen Volksgeistern, die prinzipiell eine Konkurrenz unterschiedlicher historischer Richtungen etablieren konnte, führte zur Konstituierung anderer kanonischer Corpora, in denen sich nun
Egon Friedell: Ecce poeta. Berlin 1912, S. [11]. Friedell, Ecce, S. 27. Neben der Titelanspielung bezieht sich Friedell für sein Dichterbild auch explizit auf Nietzsche; ebd., S. 23.
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der Geist etwa der Deutschen manifestiere. Dass die Dichtung ein herausragender Ausdruck dieses Geistes sein könne, folgt nicht zuletzt aus dem Entwicklungsmodell, das das historische Denken des 19. Jahrhunderts ebenfalls fundamental prägt. Denn die Geschichte der Menschheit und damit auch der Völker führe von einfachen, naturnahen Zuständen hin zu solchen, die zivilisatorisch höher stünden. Mit einer weitverbreitete Analogie, die die Phylogenese entsprechend der Ontogenese konzipiert, bedeutet dies: von der Kindheit zum Erwachsenenalter.⁴¹⁵ Dieses Geschichtsmodell wird in verschiedenen Hinsichten weiter ausgefaltet: Anthropologisch verstanden, dominiere in den Anfängen die Phantasie, die dann vom Verstand abgelöst werde; sozial gesehen, stehe am Beginn eine Homogenität der Gesellschaft, auf die Differenzierung und Diversifizierung folgten. Dieses Model stellt ein Erbe aus dem aufklärerischen Geschichtsdenken dar.Während der Aufstieg der Menschheit aus Rohheit und Barbarei zu Kultur und Zivilisation von Aufklärern ‚reinen Wassers‘ aber programmatisch affirmiert wurde, komplizierte sich dieses Verhältnis um 1800. Der Grund liegt unter anderem darin, dass die Naturnähe, die den frühen Stadien der Menschheit zugeschrieben wird, eine Umwertung erfuhr. Die Geschichte dieser Entwicklung, die weit ins 18. Jahrhundert hineinreicht, kann hier nur kurz angedeutet werden.⁴¹⁶ Die Debatten um Homer und die historische Bibelphilologie, wie sie von protestantischen Gelehrten entwickelt wurde,⁴¹⁷ wären hier genauso zu nennen wie das vermehrte Wissen über außereuropäische Völker.⁴¹⁸ Ironischer-, aber auch bezeichnenderweise konnte gerade eine Fälschung weitreichende Wirkung entfalten: James Macphersons Ossian-Dichtungen, an-
Vgl. Stephen Jay Gould: Ontogeny and Phylogeny. Cambridge, MA, London 1977; Gisi 2007; Otfrid Ehrismann: „Die alten Menschen sind größer, reiner und heiliger gewesen als wir“. Die Grimms, Schelling; vom Ursprung der Sprache und ihrem Verfall. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 16 (1986), S. 29 – 57. Gisi (2007) zeichnet detailliert die Entwicklungen im 18. Jahrhundert bis in die ‚Romantik‘ nach; zur Rolle der Homer-Debatte im 18. Jahrhundert: Kirsti Simonsuuri: Homer’s Original Genius. Eighteenth-Century Notions of the Early Greek Epic. Cambridge u. a. 1979; zur Entwicklung säkularer Theorien vom Naturzustand im 18. Jahrhundert vgl. Frank Baudach: Planeten der Unschuld – Kinder der Natur. Die Naturstandsutopie in der deutschen und westeuropäischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Tübingen 1993; Cordula Neis: Anthropologie im Sprachdenken des 18. Jahrhunderts. Die Berliner Preisfrage nach dem Ursprung der Sprache (1771). Berlin, New York 2003; vgl. auch Jörn Garber: Fiktion – Geschichte – Recht. Die Historiographie der deutschen Spätaufklärung zwischen Poetik, Recht und allgemeiner Kulturgeschichte. In: IASL 31 (2006), S. 150 – 176. Zu Robert Lowth und seiner Untersuchung De sacra poesi Hebraeorum (1753) vgl. Gisi 2007, S. 167– 173; zu Eichhorn und Michaelis vgl. Grafton, Most, Zetzel 1985. Gisi (2007, S. 83) betont, dass sich nicht zuletzt dadurch die „Forderung nach einer anthropologischen Historie“ ergab.
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geblich eine Sammlung von alten schottischen Heldenliedern und Epen.⁴¹⁹ Sie usurpierte ursprünglich irische Überlieferungen und erfand damit die Tradition, aus der der moderne schottische Nationalismus ein Herzstück seiner historischen Legitimation bezog. Die ‚Invention of Tradition‘ (Eric Hobsbawm und Terence Ranger)⁴²⁰ durch den philologischen Sammler und gescheiterten Dichter Macpherson lässt aus ‚alten‘ Liedern das Bild eines Volkes entstehen, das zeitgenössischen Bedürfnissen dient.⁴²¹ Die Auratisierung der Ursprünge entspringt auch hier einem philologisch-historischen Blick. Dieses Modell, eine ‚imagined community‘ (Benedict Anderson)⁴²² durch die Sammlung, Edition, Kommentierung und Aktualisierung – notfalls auch die Fälschung – ihres Identitätskerns in der Überlieferung zu formen, wurde im 19. Jahrhundert nur umso erfolgreicher.⁴²³ Es steht von Beginn an in Verbindung mit neuen Konzeptionen von Nation und Nationalismus, wie sie im 18. Jahrhundert entstanden und die folgenden Jahrhunderte prägten.⁴²⁴ Herder kann in mehreren Hinsichten dafür einstehen: als Beispiel, als Vermittler britischer Konzepte von Primitivismus,⁴²⁵ als wesentlicher Ideengeber für das 19. Jahrhundert und als symptomatischer Fall für die Probleme, die auch das kommende Jahrhundert umtreiben werden.⁴²⁶ Denn er ist einer der ersten, die ein Zur deutschen Rezeption: Wolf Gerhard Schmidt: „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“. James Macphersons Ossian und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur. 4 Bde. Berlin, New York 2003 – 2004. Vgl. den Band: The Invention of Tradition. Hrsg. von Eric Hobsbawm und Terence Ranger. Cambridge 1983. Vgl. etwa Hugh Trevor-Roper, beispielsweise: The Invention of Tradition. The Highland Tradition of Scotland. In: Hobsbawm u. a. (Hrsg.) 1983, S. 15 – 41. Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London, New York 21991. Man denke etwa an die Fälschung der Grünberger und Königinhofer Handschriften und ihre Bedeutung für den böhmischen bzw. tschechischen Nationalismus. Den Beziehungen zwischen einem Gedicht der Grünberger Handschrift und Herder geht nach: Birgit Krehl: Die Fürstentafel von J.G. Herder und die so genannte Handschrift Libušin soud (Libušes Gericht): Ein Textvergleich. In: Prozesse kultureller Integration und Desintegration. Deutsche, Tschechen, Böhmen im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Steffen Höhne und Andreas Ohme. München 2005, S. 135– 160. Eine Diskussion des Nationalismus-Begriffs und weitere Literatur: Verf. 2012a, S. 228 – 232. Vgl. zu dieser Bewegung: Simonsuuri 1979, S.75 – 142; Reill 1985, S. 184 f. Auch Matthias Buschmeier (2008, S. 7 und S. 84– 98) deutet Herder als paradigmatisch für das spätere Verhältnis von Philologie und Dichtung. Vgl. außerdem zu Herder aus der reichen Literatur: Schmidt-Biggemann 1991, S. 52– 54; Gerhard Sauder: Herders Ursprungsdenken. In: Le Sturm und Drang: une rupture? Hrsg. von Marita Gilli. Paris 1996, S. 65 – 80; Franz-Josef Deiters: Das Volk als Autor? Der Ursprung einer kulturgeschichtlichen Fiktion im Werk Johann Gottfried Herders. In: Autorschaft. Positionen und Revisionen. Hrsg. von Heinrich Detering. Stuttgart u. a. 2002, S. 181– 201; Jean Mondot: Herder et les matins du monde. L’anthropologie des origines dans
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historisches Denken entwickeln, wie es für die historistische Konstellation des 19. Jahrhunderts bezeichnend ist.⁴²⁷ Sein Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker etwa wertet mit „Enthusiasmus“⁴²⁸ eine Dichtung auf, die ihre Kraft gerade aus ihrer Ursprünglichkeit beziehe. Die „Wilden“,⁴²⁹ die sich in den Liedern alter Völker aussprächen, und die noch lebenden, jedoch ‚unzivilisierten‘ Völker hätten der gebildeten Dichtung genau diese Ursprünglichkeit voraus: Denn diese meine nicht etwa Barbarei, sondern eine Lebendigkeit, die noch nicht durch die gebildete Kultur poliziert und abgetötet worden sei. Hier drücke sich eine unverstellte Einbildungskraft aus,⁴³⁰ zeigten sich Menschen, denen „unsre Sitten noch nicht völlig Sprache und Lieder und Gebräuche haben nehmen können, um ihnen dafür etwas sehr Verstümmeltes oder Nichts zu geben“.⁴³¹ Die Lieder eröffneten den Blick auf eine Menschheit, die zwar urtümlich, aber gerade deshalb lebendig sei. „Immer die Sache, die sie sagen wollen, sinnlich, klar, lebendig anschauend“, redeten und sängen diese Menschen „unmittelbar und genau fühlend“, aus „unmittelbarer Gegenwart, aus unmittelbarer Begeisterung der Sinne, und der Einbildung“.⁴³² Und wie sie sängen, so lebten sie auch. In den Dichtungen spiegelten sich die „daseienden Gegenstände, Hand-
le Traité sur l’origine du langage. In: Herder et les lumières. l’Europe de la pluralité culturelle et linguistique. Hrsg. von Pierre Pénisson und Norbert Waszek. Paris 2003, S. 17– 28; Cord-Friedrich Berghahn: „Mythologische Nationalgesänge vom Ursprunge“. Biblische Poesie, Judentum und europäische Gegenwart bei Johann Gottfried Herder und Moses Mendelssohn. In: GermanischRomanische Monatsschrift 57 (2007), H. 1, S. 113 – 133. Vgl. Fulda 1996, S. 183 – 227, auch wenn Fulda dem späteren Historismus attestiert, die Höhe von Herders geschichtstheoretischer Reflexion wieder zu unterschreiten (S. 226); Buschmeier 2008, S. 95 f. Einen ausgewogenen Überblick über Herders Hermeneutik bietet Hans Dietrich Irmscher: Grundzüge der Hermeneutik Herders. In: Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder 1971. Hrsg. von Johann Gottfried Maltusch. Bückeburg 1973, S. 17– 57. Irmscher zeigt, dass die alte Sicht auf Herder als einen „Virtuose[n] universaler Einfühlung“, der die eigene Gegenwart aus dem Blick verliere, nicht stimmt. Gerade aus der „individualisierende[n] Betrachtungsweise“ (S. 19) ergebe sich ein zentrales Problem Herders, nämlich wie die Erkenntnis der Geschichte für die Gegenwart fruchtbar werden könne: „Das geschichtliche Verstehen aber hat die Aufgabe, diese Zukünftigkeit des Vergangenen zu erkennen und für die jeweilige Gegenwart freizusetzen.“ (S. 52) Bei Herder findet sich demnach in den Grundzügen die Konstellation, die oben mit Blanke als ‚historistisch‘ bezeichnet wurde. Herder: Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker. In: Werke in zehn Bänden. 10 Bde. Frankfurt am Main 1985 – 2000, Bd. 2, hrsg. von Gunter E. Grimm, S. 456; zuerst erschienen in Von deutscher Art und Kunst (1773). Ebd. Zur Umwertung der Einbildungskraft zu einem wahrheitserfassenden und -ausdrückenden Vermögen vgl. Gisi 2007, S. 191– 234. Herder, Auszug, S. 458. Vgl. ebd., S. 476.
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lungen, Begebenheiten“ – „eine lebendige Welt“ der Dinge, Geschehnisse, Empfindungen und Taten, die nicht weniger biete als ein inneres und äußeres Bild vom Leben dieses Volks.⁴³³ Nicht durch Reflexion und Gelehrsamkeit verstellt, erscheine hier der Geist, der das Volk als Ganzes durchwalte (im Sinne einer konstitutiven Gemeinsamkeit seiner Welterfassung).⁴³⁴ Daher durchdrängen sich in diesen Liedern Poesie, Religion und Geschichte des Volks. Sie seien noch nicht auf unterschiedliche funktionale Gruppen der Gesellschaft verteilt und dadurch geschieden worden. Die frühe Poesie ist demnach auch bedeutend, weil sie diese wesentlichen, identitätskonstitutiven Praktiken überliefert.Wolfs Lehrer Christian Gottlob Heyne wird diesen Gedanken wirkungsmächtig auf die antike Mythologie übertragen.⁴³⁵ Herder bezieht wesentliche Impulse für sein Bild von Poesie aus der HomerKontroverse, wie sie gleichzeitig in Großbritannien geführt wurde.⁴³⁶ Die Umwertung Homers vom gebildeten zum urtümlichen, unverbildeten und gerade daher so bedeutenden Dichter sorgt dafür, dass dieses Dichterbild auch in der Klassischen Philologie eine außerordentliche Wirksamkeit erlangt. Friedrich August Wolfs Homer-Hypothese geht noch einen Schritt weiter: Er bestreitet, dass die homerischen Epen, wie sie überliefert sind, von einem Dichter ‚Homer‘ stammten. Gerade deshalb aber kann er sie als kondensierte Erfahrung der gesamten Antike deuten, was eine ungeheure Aufwertung und Auratisierung bedeutet.⁴³⁷
Vgl. ebd., S. 486. Vgl. zum Ursprung der Vorstellung von kollektiver Autorschaft in diesem Sinne bei Herder: Deiters 2002. Vgl. Gisi 2007, S. 220 – 234; er zeigt auch im Folgenden immer wieder die immense Wirkung von Heynes Konzeption vor allem auf die Philosophie und Philologie um 1800; außerdem etwa Muhlack 1986, hier S. 58 – 66. Zu Heyne insgesamt vgl. Vöhler 2002. Simonsuuri 1979. Vgl. zur Homerischen Frage bei Wolf und in seinem Umkreis etwa: Buschmeier 2008, S. 101– 117; außerdem: Fuhrmann 1959, S. 225 – 228; Howard Clarke: Homer’s Readers. A Historical Introduction to the Iliad and the Odyssey. Newark 1981, S. 156 – 224; Joachim Wohlleben: Die Sonne Homers. Zehn Kapitel deutscher Homer-Begeisterung. Von Winckelmann bis Schliemann. Göttingen 1990, S. 45 – 73 u. ö.; ders.: Friedrich August Wolfs Prolegomena ad Homerum in der literarischen Szene der Zeit. In: Poetica 28 (1996), S. 154– 170; Riedel 2001a; Stefan Matuschek: Homer als unentbehrliches Kunstwort. Von Wolfs Prolegomena ad Homerum zur ‚Neuen Mythologie‘. In: Die schöne Verwirrung der Phantasie. Antike Mythologie in Literatur und Kunst um 1800. Hrsg. von Dieter Burdorf und Wolfgang Schweickard. Tübingen 1998, S. 15 – 28; Reinhard Markner: Fraktale Epik. Friedrich Schlegels Antworten auf Friedrich August Wolfs homerische Fragen. In: Begrenzte Natur und Unendlichkeit der Idee. Literatur und bildende Kunst in Klassizismus und Romantik. Hrsg. von Jutta Müller-Tamm und Cornelia Ortlieb. Freiburg im Breisgau 2004, S. 199 – 216.
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6 Melancholie und Chance der Philologen – Distanz, Reflexion, Verstand Die Wirkung, wie sie Herders Volksliedverständnis und Wolfs Homer-Hypothese für das Verhältnis von Dichtung und philologisch-historischen Wissenschaften hatten, kann kaum überschätzt werden. Denn für die geschichtliche Erkenntnis werden in solchen Überlieferungen die Träger von orientierenden Werten sichtbar. In den Volksliedern offenbart sich der Geist des Volkes; in Homer derjenige der Griechen. Gleichzeitig aber rückt die Erkenntnis als historische Erkenntnis den Abstand in den Blick, der zwischen der Moderne und den frühen Zuständen der Völker liegt. Auch dies wird bei Herder deutlich. Denn die Menschen der Volkslieder „schweigen entweder, oder reden im Moment des Interesse [sic!] mit einer unvorbedachten Festigkeit, Sicherheit und Schönheit, die alle wohlstudierte Europäer allezeit haben bewundern müssen, und – müssen bleiben lassen.“⁴³⁸ Diese Situation des ‚Studiums‘ aber ist Herders eigene, sie ist konstitutiv dafür, dass die noch unverbildeten Zustände überhaupt in seinen Blick geraten können. Der philologisch-historische Blick selbst ist ein schlagender Beleg für den Abgrund, der die Moderne von dem trennt, was sie begehrt. Dieses Paradox ist konstitutiv für das Geschichtsdenken des 19. Jahrhunderts. Mit ihm begründet sich die Moderne gewissermaßen als Moderne. Das Pfund, mit dem sie wuchern kann, besteht in ihrer Bildung, ihrem Weitblick, ihren historischen Kenntnissen und Methoden. Aber dies alles trennt sie auch von der selbstverständlichen und fraglosen Identität, die sie ihren historischen Erkenntnisobjekten unterstellt. Leben wir nicht, so fragt der junge Herder immer wieder, in einer „Periode der Prose“?⁴³⁹ Wie die Erkenntnis des Frühen wiederum in die eigene Identität eingebracht werden könne, damit sie der zukünftigen Orientierung zugutekomme,⁴⁴⁰ ist eine Grundfrage dieser historistischen Moderne. Schillers Modell von sentimentalischer und naiver Dichtkunst versucht, eine Antwort zu geben.⁴⁴¹ Der naive Dichter ist Natur, gerade deshalb aber weiß er nichts von ihr. Anders der sentimentalische Dichter. Weil er um seine Trennung von der Natur weiß und dies begrifflich reflektieren kann, hat er die Möglichkeit, Herder, Auszug, S. 473. So etwa in Über die neuere deutsche Literatur (erste Fassung 1767): Herder,Werke, Bd. 1, S. 183; über die Gegenwart vgl. die zweite Ausgabe 1768, ebd., S. 615 – 618 u. ö. Irmscher (1973, S. 42– 57) rekapituliert vier Ansätze Herders, durch die die andere, historische Erfahrung für die Gegenwart fruchtbar gemacht, der „Geist“ übertragen und an die „Kraft“ angeschlossen werden soll. Friedrich Schiller: Über das Naive. In: Die Horen 4 (1795), H. 11., S. 43 – 76; Die sentimentalischen Dichter. In: ebd., 4 (1795), H. 12, S. 1– 55; Beschluß der Abhandlung über naive und sentimentalische Dichter, nebst einigen Bemerkungen einen charakteristischen Unterschied unter den Menschen betreffend. In: ebd., 5 (1796), H. 1, S. 75 – 122.
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die Natur in seinem Verstand als Ideal zu konstituieren und bewusst zum Zielpunkt seines Handelns zu machen. Schillers Reflektionen sind einerseits geschichtsphilosophisch pointiert, andererseits verhandelt er in der Entgegensetzung vom naiven und sentimentalischen Dichter auch sein Verhältnis zu Goethe, den er, trotz Moderne, als ‚naiv‘ versteht. Die Konzeption zeigt eine konstitutive Ambivalenz: Denn einerseits birgt die Reflexion über die verlorene Natur ein nicht zu unterschätzendes Melancholiepotential. Andererseits aber formuliert sie eine Machtgeste, denn der sentimentalische Mensch ist dem naiven durch sein Wissen überlegen, dadurch, dass er über den Kern des Naiven im Modus des Begriffs verfügt. Es ist diese Ambivalenz, die auch in unterschiedlichen Konstellationen die Spannungsverhältnisse von Dichtung und philologisch-historischen Wissenschaften prägt. Denn die Distanz von der Natur, von den Gegenständen, die die wissenschaftliche Betrachtung aufdeckt, macht doch diese Gegenstände in einer Weise verfügbar, mit der die Moderne ‚arbeiten‘ zu können glaubt. Ludwig Tieck reflektiert diese Dialektik der Distanz in der Vorrede seiner Minnesinger-Edition. Die Gegenwart habe es gelernt, „jeden Geist auf seine ihm eigene Art zu verstehn und zu fassen“.⁴⁴² Dadurch erst sei der Begriff einer Poesie als eines lebendigen Substrats zu Bewusstsein gekommen, einer Poesie, die aller Dichtung in ihren geschichtlichen Entwicklungen zugrundeliege. Ja, diese sei „nichts weiter, als das menschliche Gemüth selbst in allen seinen Tiefen, jenes unbekannte Wesen, welches immer ein Geheimnis bleiben wird, das sich aber auf unendliche Weise zu gestalten sucht“.⁴⁴³ Gerade dadurch aber entsteht eine für die Moderne bezeichnende Trennung: „Wenn es uns vielleicht unmöglich fällt, die alte Poesie ganz auf ihre eigenthümliche Art zu verstehen und zu fühlen, so macht wieder die Entfernung ein innigeres Verständniß möglich, als es die Zeitgenossen selbst fassen konnten.“⁴⁴⁴ Diese Figur eines innigeren Verständnisses aufgrund der Distanz birgt in sich den hermeneutischen Grundsatz, dass der Interpret den Autor oder die Zeit besser verstehen könne, als es diesen selbst möglich gewesen sei. Boeckh⁴⁴⁵ entfaltet ihn Vgl. Tieck, Minnelieder, S. I. Ebd., S. II. Ebd., S. III. Encyklopädie, S. 87: „Der Schriftsteller componiert nach den Gesetzen der Grammatik und Stilistik, aber meist nur bewusstlos. Der Erklärer dagegen kann nicht vollständig erklären ohne sich jener Gesetze bewusst zu werden; denn der Verstehende reflectirt ja; der Autor producirt, er reflectirt nur dann über sein Werk, wenn er selbst wieder gleichsam als Ausleger über demselben steht. Hieraus folgt, dass der Ausleger den Autor nicht nur eben so gut, sondern sogar noch besser verstehen muss als er sich selbst. Denn der Ausleger muss sich das, was der Autor bewusstlos geschaffen hat, zu klarem Bewusstsein bringen, und hierbei werden sich ihm alsdann auch
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genauso wie Droysen.⁴⁴⁶ Durch die Erkenntnis kann das Erkannte auf eine höhere Weise zur Wirksamkeit gebracht werden. Hier stellt sich aber nun die Frage, welche Rolle in einer solchen Zeit, die, geschichtsphilosophisch gesehen, ein Zeitalter der Erkenntnis und des Verstandes ist, der Gegenwartsdichtung zukommen kann? Wenn die alte Dichtung in sich dasjenige enthält, was für das Bedürfnis der Gegenwart wichtig ist, etwa den Geist der Nation oder der Humanität; wenn man in ihr „das ursprünglich Deutsche rein und unvermischt“⁴⁴⁷ erkennt, um es sich wieder aneignen zu können – dann wäre diese Erkenntnis zum Zweck der Wiederaneignung eine Aufgabe, die genuin den philologisch-historischen Wissenschaften zukäme. Schaffen die Dichter, wie wir es bei Boeckh und Droysen gesehen haben, aus der Empfindung, nicht aber aus dem Verstand – sind dann in der Gegenwart nicht gerade die philologisch-historischen Wissenschaften gefragt? Wenn schließlich die alte Dichtung deshalb so wertvoll ist, weil sich hier der Volksgeist noch ohne eine moderne Individualisierung, Differenzierung und Verfälschung aussprechen kann – können dann moderne Dichter, denen diese Verflechtung mit dem ‚Volk‘ abgeht, überhaupt etwas für die Identitätskonstitution der Gegenwart leisten? Noch in den 1870er Jahren nimmt Jacob Burckhardt diesen Gedanken auf.⁴⁴⁸ In alter Zeit scheine „der Geist der Völker […] direct, objectiv zu uns zu reden“. Im Gegensatz dazu aber stehe das „Schicksal der neuern Poesie überhaupt: ihr literaturgeschichtlich bewußtes Verhältniß zur Poesie aller Zeiten und Völker. (Nachahmung, Nachklang).“ Die modernen Dichter seien „in einem ganz andern Sinne Kunden ihrer Zeit und Nation als früher; sie offenbaren nicht mehr den objectiven Geist derselben, sondern ihre eigne Subjectivität“. Hier wird deutlich, dass auch die Melancholie der Philologen gewissermaßen eine euphorische Rückseite besitzen kann. Die Aufgabe der Arbeit für die Nation und die Gegenwart wird von ihnen oft dezidiert als Erneuerung durch Erkenntnis
manche Dinge eröffnen, manche Aussichten aufschliessen, welche dem Autor selbst fremd gewesen sind.“ Historik, S. 155: „Wir dürfen sagen, durch die Steigerung derartiger Forschungen ist die spät [ere] Wissenschaft imstand, die Dinge umfassender und eindringlicher darzulegen, als irgendjemand in ihrer historischen Gegenwart vermocht.“ Raumer, Begriff, S. 9. So in seinen Vorlesungen Über das Studium der Geschichte, die posthum von Jakob Oeri bearbeitet und als Weltgeschichtliche Betrachtungen publiziert wurden. Der Abschnitt „Zur geschichtlichen Betrachtung der Poesie“, aus dem die Zitate stammen, wird von Peter Ganz auf das Wintersemester 1871/72 datiert; vgl.: Jacob Burckhardt: Kritische Gesamtausgabe. Bd. 10: Ästhetik der bildenden Kunst. Über das Studium der Geschichte. Aus dem Nachlaß hrsg. von Peter Ganz. München, Basel 2000, S. 653; alle folgenden Zitate S. 191.
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konzipiert. Büsching sieht die Sammler altdeutscher Dinge 1813 geradezu als Emissäre des spezifisch modernen Zeitgeistes.⁴⁴⁹ Heinrich Leo bezeichnet die „eindringende, wahre Erkenntniß der Ursprünge unseres Volkes“ als das „Fundament“ für das gegenwärtige Volk. Freilich legt es erst die „Wissenschaft“.⁴⁵⁰ W. M., der schon zitierte Autor der Deutschen Viertel-Jahrsschrift, kritisiert zwar den konkreten Unwillen der philologisch-historischen Wissenschaften zur Synthese, nicht aber deren prinzipielle Berufung dazu, ein „immer klarer gewordene[s] sittliche[s] Charakterbild unserer Urahnen“⁴⁵¹ zusammenzustellen. Auch Reinhold Bechstein sei noch einmal zitiert, wenn er 1859 beteuert, wie sehr bereits die Deutsche Philologie durch ihre Erkenntnistätigkeit auf den gegenwärtigen „Volksgeist wiederum eingewirkt“ habe.⁴⁵² Aus der Fülle der Überlieferung, die sie durch Sammlung und Edition wieder an die Öffentlichkeit gegeben hat, hebt er insbesondere das Nibelungenlied heraus: ein „wichtiges und der Nation heiliges Denkmal“.⁴⁵³ Der Auratisierung des Alten entspricht die geschichtsphilosophische Situation der Moderne, in der, wie Konrad Hofmann betont, so etwas nicht mehr entstehen könne: Das ganze Mit-
„Wir, die wir zur Förderung der Literatur des Mittelalters uns mit einander verbunden haben, und dahin wirken, können und müssen uns nur als die Werkzeuge betrachten, welche die Zeit selbst sich gewählt und früher, als keiner von uns den andern kannte, auf gleichen Weg, und endlich zusammen leitete.“ Johann Gustav Gottlieb Büsching: Über die Literatur des Mittelalters und deren Studium. In: Zeitung für die elegante Welt 13 (1813), Sp. 785 – 813, hier: Sp. 785 f. Zitat bei Hunger 1994, S. 251. L.[eo], Gestaltung, alle Zitate S. 119. M., Standpunkt, S. 271. Vgl. Bechstein, Philologie, S. 115. Ähnlich argumentiert auch der Germanist Karl Müllenhoff (1818 – 1884), der sich für den Unterricht des Mittelhochdeutschen an den Schulen einsetzt: Eine Blütezeit der deutschen Dichtung habe sich nur mit den großen höfischen Dichtern Hartmann, Wolfram, Gottfried und Walther ergeben. Das Erbe der Dichtung werde dann von der „Wissenschaft“ angetreten. Diese habe nun in der Gegenwart „der Bildung nicht nur eine neue reiche Quelle eröffnet, sondern ihr zugleich auch einen Rückhalt gegeben, um im Stande zu seyn, die Stürme siegreich zu bestehen, die sie etwa noch bedrohen.“ Karl Müllenhoff: Über die geschichtliche Bedeutung und Stellung der höfischen Poesie des deutschen Mittelalters. In: Cottaische Vierteljahrschrift 1852, S. 75 – 109, hier S. 109. Bechstein, Philologie, S. 104. Aus der reichen Literatur zur Nibelungenrezeption sei hier verwiesen auf: die materialreiche Untersuchung von Körner, Nibelungenforschung; die Untersuchung und das Repertorium von Otfried Ehrismann: Das Nibelungenlied in Deutschland. Studien zur Rezeption des Nibelungenlieds von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. München 1975; ders.: Nibelungenlied 1755 – 1920. Regesten und Kommentare zu Forschung und Rezeption. Giessen 1986; John Evert Härd: Das Nibelungenepos.Wertung und Wirkung von der Romantik bis zur Gegenwart. Tübingen, Basel 1996; Die Nibelungen, ein deutscher Wahn, ein deutscher Alptraum. Studien und Dokumente zur Rezeption des Nibelungenstoffs im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Joachim Heinzle und Anneliese Waldschmidt. Frankfurt am Main 2001.
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telalter hatte „nicht die geringste Disposition zur Philologie, wogegen ein mächtiger Strom epischer Poesie es überall durchrauscht. Die Neuzeit hat Riesenfortschritte in der Philologie gemacht,während ihr die Quelle des Nationalepos, wie es scheint, für immer, versiegt ist.“⁴⁵⁴ Diese Unfähigkeit der Gegenwart zu einer Produktion, die mit den alten Überlieferungen konkurrieren könne, kompensieren die philologisch-historischen Wissenschaften. Auf ihre Weise formulieren sie einen Befund, den, mit einer anderen Pointe, Hegel verkündet hatte, wenn für ihn nach dem ‚Ende der Kunst‘ nun die Philosophie den Staffelstab übernimmt: Selbst der ausübende Künstler ist nicht etwa nur durch die um ihn her laut werdende Reflexion, durch die allgemeine Gewohnheit des Meinens und Urteilens über die Kunst verleitet und angesteckt, in seine Arbeiten selbst mehr Gedanken hineinzubringen, sondern die ganze geistige Bildung ist von der Art, daß er selber innerhalb solcher reflektierenden Welt und ihrer Verhältnisse steht und nicht etwa durch Willen und Entschluß davon abstrahieren […] könne. In allen diesen Beziehungen ist und bleibt die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes.⁴⁵⁵
Die philologisch-historischen Wissenschaften halten auf ihre Weise die Möglichkeit offen, dass sich die Gegenwart wieder aus dem „ewig frische[n] Born“ verjünge, als den Karl Müllenhoff das Nibelungenlied und die Volksdichtung bezeichnet.⁴⁵⁶ Boeckhs Spekulation auf eine „dritte grosse Weltperiode“, die „die ächten Elemente des Antiken und des Modernen zu einer höheren Einheit“⁴⁵⁷ verschmelzen mag, wurde schon zitiert. Auch Friedrich Ritschl (1806 – 1876) denkt 1833 an die Möglichkeit einer solchen Synthese, bei der die philologisch-historischen Wissenschaften eine neue, höhere Epoche gebären: Griechenland und Rom hätten zwei „Momente“ des „Geisteslebens“ erschöpft, das „künstlerische Vermögen wie das ethisch-politische“. Für die Gegenwart gelte: „Erst wenn das in freier Besonderheit des Äußern und des Innern durchgebildete Leben zur Einheit zurückkehrt, aber nun zu einer bewußtgewordenen, ist der Kreislauf vollendet; aber dieses Schlußglied der Entwicklungskette fällt unserer Zukunft anheim.“⁴⁵⁸ Hofmann, Gründung, S. 7. So die berühmte Stelle aus den Ästhetik-Vorlesungen (zitiert nach der wirkungsmächtigen Ausgabe von Heinrich Gustav Hotho, Berlin 1835– 1838): Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt am Main 1970, Bd. 13, S. 25. Weiterführend sei nur angegeben: Walter Jaeschke: Der Geist und seine Wissenschaften. In: Hegel-Jahrbuch 2011, S. 11– 21. Vgl. Müllenhoff, Deutsche Philologie, hier S. 284. Vgl. zu ihm IGL, S. 1276 – 1278. Boeckh, Eröffnungsrede 1850, S. 23. Friedrich Ritschl: [Art.] Philologie. In: Brockhaus Conversations-Lexicon der neuesten Zeit und Litteratur 3 (1833), Bd. 3, S. 497– 506, alle Zitate S. 503. Auch in: ders.: Opuscula philologica V. Leipzig 1879, S. 1– 18 (unter dem Titel Über die neueste Entwickelung in der Philologie).
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Auf seine Weise wird auch Ritschls Schüler Nietzsche mit seiner Geburt der Tragödie eine solche Zeitenwende einzuläuten versuchen, freilich jedoch nicht im Zeichen des Bewusstseins. Der Glaube an den Begriff als Konkurrenz, wenn nicht Ersatz für die gerade nicht gedachte Dichtung kann sich auch auf die neuere Literatur beziehen. Klaus Weimar deutet die argumentierende Interpretation, wie sie sich um 1800 als hermeneutische Praxis herausbildet, unter diesem Vorzeichen.⁴⁵⁹ Ein Hegelianer wie Friedrich Wilhelm Hinrichs kann später in seinen Faust-Vorlesungen dekretieren, das deutende „Vertiefen“ in das Kunstwerk könne dessen „vorgestellten Inhalt“ in seiner „Entfaltung in und vermittels der Strenge des Gedankens schöpferisch hervorbringen und darstellen“.⁴⁶⁰ Seine Vorlesungen lieferten daher nicht nur „die wirkliche und deshalb allein wahre Auslegung“ der Tragödie, sondern seien selbst ein „Gedankenkunstwerk“. Als adäquate Weiterführung könnten sie „in der Weise des Gedankens den weitern Inhalt eines etwanigen zweiten Theiles der Tragödie erzeugen“. Sie machten darum „dem Begriffe nach selbst diesen zweiten Theil“ aus.
7 Neue Blütezeit und Epigonentum Natürlich teilen nicht alle diese Meinungen, sei es vom Ende der Kunst durch das Ende der Vormoderne, sei es von der Ersetzbarkeit der Dichtung durch die philologisch-historische Forschung. Denn schließlich war der deutschen Kultur um 1800 das zuteil geworden, worauf die Kritik des 18. Jahrhunderts mit Eifer und Eifersucht hingearbeitet hatte: eine ‚Blütezeit‘ der Literatur, die die Deutschen nun endlich auf eine Höhe mit den beneideten Nachbarnationen England und Frankreich zu heben schien.Vor allem an Goethe – wie vorher schon an Klopstock – entwickelte sich eine Philologie, die ihre Liebe dem zunächst noch lebenden Objekt zuwenden konnte.⁴⁶¹ Nach dessen Tod stand ihr eine Fülle von Material zur Weimar 1987, S. 158. Aesthetische Vorlesungen über Goethe’s Faust als Beitrag zur Anerkennung wissenschaftlicher Kunstbeurtheilung herausgegeben von Dr. H.F.W. Hinrichs, ordentlichem Professor der Philosophie an der Universität zu Halle. Halle 1825, diese und die folgenden Zitate S. VII. Vgl. zu Hinrichs Ansatz: Weimar 1987, S. 163 f.; Kruckis 1994, S. 452 f. Zur Bedeutung Goethes für die Entwicklung der (neueren deutschen) Philologie vgl. HansMartin Kruckis: „Ein potenziertes Abbild der Menschheit“. Biographischer Diskurs und Etablierung der Neugermanistik in der Goethe-Biographik bis Gundolf. Heidelberg 1995; und die Synthese, ders. 1994, S. 451– 493; Martus 2007, vor allem S. 496– 513 zur Germanistik um und seit Scherer. Zu Goethes eigenen Strategien einer philologischen, auf die Philologie abzielenden Werkpolitik vgl. ebd., S. 444– 495; und Buschmeier 2008, S. 203 – 444.
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Verfügung, an dem der philologische Blick seine ‚selektionslose Aufmerksamkeit‘ entfalten konnte.⁴⁶² Es wurde üblich, wie sich Friedell ausdrückt, auf „indiskrete, unfeine Art, dem Dichter auf den Leib zu rücken, seine Taschen nach Briefen und Zettelchen zu durchstöbern“.⁴⁶³ Noch von den Zeitgenossen wurden Konzeptionen erarbeitet, die es denkbar erscheinen ließen, dass auch ein moderner Dichter in seiner Individualität zum Spiegel der Nation oder des Menschen überhaupt werden könne.⁴⁶⁴ Nicht zuletzt Friedrich Schlegel spielte hier von früh an eine wichtige Rolle. Er übertrug das philologische Modell, nach dem die Antike als abgeschlossene Ganzheit studiert werden kann, auf den lebenden Dichter (vgl. Kap. II.1.2.). ‚Leben und Werk‘ wurden zu den verschränkten Entitäten, in denen der große Dichter den in ihm geborgenen Sinn an die Zeitgenossen und Überlebenden preisgab.⁴⁶⁵ Die Frage, ob neuere Literatur auch Gegenstand der Deutschen Philologie sein könnte, ob sie ebenfalls zur Bildung in den Schulen oder sogar an den Universitäten herangezogen werden sollte, war also alles andere als entschieden. In den Schulen wurde die Lektüre muttersprachlicher, neuerer Klassiker schon vor Beginn des Jahrhunderts durchaus praktiziert.⁴⁶⁶ An den Universitäten waren Vorlesungen über neuere Literatur eine Ausnahme.⁴⁶⁷ Erst spät, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, begann sich die universitäre Germanistik entschieden der
Vgl. Martus 2007, pass., bes. S. 467– 476. Friedell, Aphorismus, S. 365. Vgl. etwa Kruckis 1994, S. 459 (Goethe als Spiegel der Natur: Danzel); S. 463 (Goethe als Spiegel des Volksgeistes). Vgl. auch Weimar 1987, S. 161; Kruckis 1994, S. 456; ders. 1995, etwa S. 72; Martus 2007, etwa S. 342. Zweck war vor allem die rhetorische und stilistische Sprachbildung; vgl. Kopp 1994, S. 680 f.; außerdem: Hans-Georg Herrlitz: Der Lektüre-Kanon des Deutschunterrichts im Gymnasium. Ein Beitrag zur Geschichte der muttersprachlichen Schulliteratur. Heidelberg 1964. Herrlitz analysiert vor allem Programmatiken und Verordnungen, nicht jedoch die Unterrichtspraxis selbst. Über Schulpläne und Anthologien berichtet Georg Jäger: Der Deutschunterricht auf Gymnasien 1780 bis 1850. In: DVjs 47 (1973), S. 120 – 147. Horst Joachim Frank (Dichtung, Sprache, Menschenbildung. Geschichte des Deutschunterrichts von den Anfängen bis 1945. 2 Bde. München 1976, Bd. 1, S. 260) weist darauf hin, dass das Preußische Abiturreglement von 1812 die Kenntnis deutscher Autoren verlangte, sie aber, aufgrund der beschränkten Unterrichtszeit in der deutschen Sprache,vor allem als Privatlektüre vorsah. Eine Liste von Vorlesungen, die neuen deutschen Texten galten, bis in die ersten Jahre des 19. Jahrhunderts bei Weimar 2003, S. 162– 166. Danach nahm deren Anzahl ab. Weimar analysiert auch die Interpretationsverfahren und ihre Entwicklung; vgl. ebd., S. 349 – 412; zusammengefasst in ders. 1987. Carl Friedrich Cramer (1752– 1807), der u. a. früh in Kopenhagen und Kiel Vorlesungen über Klopstock hielt (ebd., S. 162), spielt bei Martus (2007, S. 338 – 371) eine wichtige Rolle für den Umschlag von einer kritischen zu einer philologischen Kommunikation.
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neueren Literatur anzunehmen;⁴⁶⁸ hier zeichnete sich die Teilung in eine ältere und eine neuere Abteilung ab. Vorher konnte es zu Kämpfen kommen. So hielt Heinrich Düntzer (1813 – 1901) etwa an der Universität Bonn im Winter 1841/42 eine Vorlesung über Goethes Faust. ⁴⁶⁹ 1843/44 wiederholte er sie noch einmal.⁴⁷⁰ Die „zahlreichen“ Zuhörer änderten nichts daran, dass er von seinen Kollegen als Kuriosum beäugt wurde: Ritschl, damals Dekan, meldete dem Kurator der Universität, das „pikante des Stoffes“ habe dem Publikum ein „flüchtiges Amüsement“ bereitet – nicht mehr.⁴⁷¹ Eine Vorlesung über die Iphigenie untersagte Ritschl dann.⁴⁷² Er konnte das, weil Düntzer als junger Privatdozent für Klassische Philologie habilitiert worden war und sich damit Veranstaltungen zu anderen Gegenständen genehmigen lassen musste. Selbst der Kollege August Wilhelm Schlegel, der ja mit seiner frühromantischen Tätigkeit nicht wenig für die Aufwertung der modernen Literatur getan hatte, ist nicht einverstanden. Er habe sich, so Düntzer, „in gehässiger Weise“ über die Vorlesungen ausgesprochen: „weil zu fürchten stehe, man werde, wenn man mit Goethe’s Werken beginne, später auch Platen’s und Heine’s Gedichte auf der Universität erklären!“⁴⁷³ Diese Reaktion ist bezeichnend, auch wenn man Schlegels persönliche Angst in Rechnung stellt, an seiner Fakultät möchten bald Vorlesungen über seinen ehemaligen Schüler und jetzigen Feind Heine gehalten werden.⁴⁷⁴ Die Gegenwartsliteratur erscheint der wissenschaftlichen Deutung unwert. Düntzer meinte seine Sache durchaus so programmatisch, wie Schlegel sie auffasst. Dies zeigt schon seine erste Erklärung des Faust, die er 1836, noch vor Vgl.Weimar 2003, S. 444– 470, mit einer vergleichenden Übersicht für den Zeitraum von 1850 bis 1884/85 auf S. 445. Für die spätere Fachentwicklung vgl. Holger Dainat: Von der Neueren deutschen Literaturgeschichte zur Literaturwissenschaft. Die Fachentwicklung von 1890 bis 1913/ 14. In: Fohrmann, Voßkamp (Hrsg.) 1994, S. 494– 537. Vgl. zu Düntzer: Hans-Martin Kruckis: Mikrologische Wahrheit. Die Neugermanistik des 19. Jahrhunderts und Heinrich Düntzer. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 41 (1991), S. 270 – 283; IGL, S. 411 f. Vgl. seine Darstellung in: Goethe’s Faust. Erster und Zweiter Theil. Zum erstenmal vollständig erläutert von Heinrich Düntzer. Zweite, vermehrte und verbesserte Auflage. Leipzig 1857, S. VI. Zitate und Darstellung nach Moser 1976, S. 21. Ebd. Düntzer, Faust (1857), alle Zitate S. VIII. Düntzer hatte Schlegel 1836 noch ausdrücklich gegen Heines Angriffe in der Romantischen Schule in Schutz genommen; vgl. Goethe’s Faust in seiner Einheit und Ganzheit wider seine Gegner dargestellt. Nebst Andeutungen über Idee und Plan des Wilhelm Meister und zwei Anhängen: über Byron’s Manfred und Lessing’s Doktor Faust. Von H. Düntzer, Doktor der Philosophie. Köln 1836, S. 8.
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seiner Habilitation, publizierte. In einer Widmung an seinen philologischen Lehrer Friedrich Welcker fordert er, dass die „ästhetische Beurteilung“ von Werken wieder zu einem „Haupttheil der Kritik“ werde möge. Indem er sich hier auf die „Philologie“ bezieht – die Klassische also –, stellt er implizit Goethe als Gegenstand neben die Alten. Er greift denn auch hoch: Die Deutung des Faust sei eine „Lebensfrage […], deren Beantwortung jedem Deutschen am Herzen liegen“ müsse.⁴⁷⁵ Düntzer drängt mit seinem Anliegen an die Universität und in die Öffentlichkeit gleichermaßen. 1857 schreibt er noch entschiedener: Warum sollen die Heroen unserer neuern klassischen Litteratur an den deutschen Hochschulen, welche den Herd wahrer Wissenschaftlichkeit bilden und alle Gegenstände des Wissens umfassen müssen, keine wahrhaft wissenschaftliche Vertretung finden, warum sollen über sie dort meist Halbwissende, deren Seele nicht innerlich von ihrem Gegenstande durchdrungen ist, sich Urtheil und Belehrung anmaßen dürfen?
Er fordert „eine volle Lehrkraft“, die sich diesen Heroen widmen soll.⁴⁷⁶ Goethe und Schiller bieten insbesondere Argumente, die der alten Dichtung entgegengehalten werden können. Dies unterläuft wohl eine strikte, notwendig auch normative Unterscheidung zwischen Natur- und Kunstpoesie, wie sie vor allem Jacob Grimm formuliert (Kap. III.2.3.). Aber es ändert nichts am strukturellen Problem für die aktuelle Gegenwartsdichtung, ob und wie sie der Beobachtung durch die zeitgenössischen philologisch-historischen Wissenschaften überhaupt wert sein könnte. Denn auch wenn man die Dezennien um 1800 als Blütezeit der deutschen Dichtung akzeptiert: Eine Blüte verwelkt, die Zeitgenossen mögen sie noch so sorgsam umhegen. Dies wird auch bei Düntzer deutlich. Als er seine erste FaustDeutung schreibt, war Goethe seit vier Jahren tot. Und in seiner Vorrede gibt er deutlich zu verstehen, wen er mit den deutungswürdigen „Heroen deutscher Kunst“⁴⁷⁷ nicht meint: Der „Sonnengott“ sei nicht mehr – „Wird einer der jungen Dichterhelden, die freche Stirne haben, auf den Ruf dieser Drommete in die Schranken zu treten und sich als solchen darzustellen!“⁴⁷⁸ An der Konstruktion einer zweiten deutschen Blüteperiode nach dem Hochmittelalter beteiligen sich nicht zuletzt die Literaturgeschichten der Zeit. Für
Alle Zitate ebd., Widmung an Welcker, unpaginiert. Düntzer, Faust (1857), alle Zitate S. IX. Ähnlich hatte er 1849 in einem Brief an den Minister Ladenberg seine Bewerbung um eine Professur in Bonn begründet; vgl. das Schreiben bei Meves (Hrsg.) 2011, S. 166 – 173. 1874 wiederholt Düntzer sein Gesuch mit ähnlichen Argumenten; vgl. ebd., S. 978 f. Düntzer, Faust (1836), S. 8. Ebd., S. 9.
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August Friedrich Christian Vilmar (1800 – 1868) ist die Poesie, nach dem philologisch-historischen Konsens, die „älteste und eigentümlichste Sprache […] aller Völker […], da in ihr der Charakter des Volkes an Leib, Seel und Geist am vollständigsten und sichersten sich ausprägt“.⁴⁷⁹ Die deutsche Literatur habe – hier wirkt die Aufwertung der mittelalterlichen Literatur durch die Deutsche Philologie – „nicht wie die Literatur der übrigen Nationen nur eine, sie hat zwei klassische Perioden gehabt“.⁴⁸⁰ In der Disposition der Epochen heißt es dann unmissverständlich: „die zweite klassische Periode unserer Literatur“ beginnt mit Klopstock, und sie endet „mit dem 22. Merz 1832“.⁴⁸¹ Die Gegenwart schließt Vilmar aus der Betrachtung aus, weil sie „noch nicht abgeschloßen“ sei. Einen Namen aber hat er für sie schon: Sie sei „das Zeitalter der Epigonen“.⁴⁸² Nicht anders periodisiert Gervinus: „Von der Zeit an, da nach Goethes und Schillers Wirksamkeit die originelle poetische Produktion, die Tätigkeit der Einbildungskraft in Deutschland aufhörte, trat verständige Beobachtung an ihre Stelle, die sich immer nach diesen zwei Seiten, nach Geschichts- und Naturkunde hin, und nach jener gemeinhin früher wie nach dieser, tätig zeigt und die sich auch in jede andere Kunst und Wissenschaft unvermerkt eindrängte“.⁴⁸³ Man erlebte „den Übergang von Kunst zu Wissenschaft, von Produktivität zu Rezeptivität, vom Darstellen zum Sammeln und vom Wirken in der Gegenwart zum Forschen aus der Vergangenheit für die Zukunft“.⁴⁸⁴ Die „Poesie verfiel“ und „zehrte […] nur noch
August Friedrich Christian Vilmar: Vorlesungen über die Geschichte der deutschen NationalLiteratur. Marburg 1845, S. 1. Vilmar studierte von 1818 bis 1820 in Marburg, ging dann in den Schuldienst. Vgl. IGL, S. 1950 – 1952. Zu seiner Literaturgeschichte vgl. etwa Karl-Heinz Götze: Grundpositionen der Literaturgeschichtsschreibung im Vormärz. Frankfurt am Main u. a. 1980, S. 181– 250; Fohrmann 1989, S. 162– 168. Vilmar, Vorlesungen, S. 2. Ebd., S. 10. Ebd. Zum Bewusstsein der Epigonalität vgl. Kruckis 1994, S. 468. Er zitiert einen Brief von David Friedrich Strauß an Vischer vom 14. Apr. 1848: „Ich lernte mich in diesen Tagen deutlicher als jemals dahin kennen, daß ich ein Epigone jener Periode der Individualbildung bin, deren Typus Goethe bezeichnet, und aus diesen Schranken weder hinaus kann noch will.“ Zur Epigonalität in der zeitgenössischen Literaturgeschichtsschreibung vgl. Matthias Kamann: Epigonalität als ästhetisches Vermögen. Untersuchungen zu Texten Grabbes und Immermanns, Platens und Raabes, zur Literaturkritik des 19. Jahrhunderts und zum Werk Adalbert Stifters. Stuttgart 1994, S. 125 – 139. Georg Gottfried Gervinus: Einleitung. In: Deutsche Jahrbücher zur Aufnahme und Förderung eines gemeinnützigen Zusammenwirkens in Wissenschaft, Kunst und Leben 1 (1835); gedruckt in: Janota (Hrsg.) 1980, S. 196 – 211, hier S. 200. Zu seinen literaturgeschichtlichen Positionen vgl. etwa Götze 1980, S. 251– 356; Seeba 1987; Fohrmann 1989, S. 146 – 154 und pass. Gervinus, Einleitung, S. 201.
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von den Genien, deren Reifung in jene bessere Zeit fällt“.⁴⁸⁵ Umso deutlicher hebt Gervinus hervor, wem es nun zukomme, die Geschicke der Gegenwart zu leiten. Nach dem Ende der Kunst ziehe das Zeitalter der Wissenschaften und der Politik herauf.⁴⁸⁶ Der Verfall der Poesie kann also durchaus ein Zeichen der Zeit sein. So sieht es auch Robert Prutz. Im Rückblick auf die gescheiterte Revolution 1848 bemüht er sich um eine geschichtliche Betrachtung der vergangenen Jahrzehnte. Er teilt die Diagnose, die Gegenwart nach Goethe sei eine „kranke, in sich zerspaltene und darum auch der reinen poetischen Darstellung unfähige Zeit“.⁴⁸⁷ Anders als Gervinus bleibt ihm ‚nach Achtundvierzig‘ die Dichtung aber dennoch interessant: Sie ist ein Symptom für die Misere. Denn in „Zeiten der Gärung und des innern Zwiespalts gleich der unsern“ könne Kunst gar keine gesunden Früchte tragen. Sie bringe „Zwittergeschöpfe“ hervor, „Futter fürs Pulver“.⁴⁸⁸ Die Dichtung sei impotent, weil Ausfluss einer Gegenwart „auf der Grenzmark zweier Zeitalter“.⁴⁸⁹ Prutz bezieht sich selbst als Dichter dabei durchaus ein. Auch hier, in diesem historisierenden Blick auf die Gegenwart, hat die Politik das Primat. Wenn die Dichtung wieder Zeichen einer nationalen Fülle werden solle, dann nur als Folge einer „neuen politischen Epoche“.⁴⁹⁰ An der Dichtung lässt sich der Stand der Zeiten ablesen, aber sie ist nicht selbst Agens der Zeitenwende.
Ebd., S. 202. Vgl. ebd., S. 207. Robert Prutz: Literatur und Literaturgeschichte in ihren Beziehungen zur Gegenwart. In: Deutsches Museum 8 (1858), H. 2, S. 865 – 883, S. 898 – 913, S. 936 – 946, hier S. 881. Prutz’ frühere – und in den Positionen mitunter abweichende – Vorlesungen über die deutsche Literatur der Gegenwart (1847) behandelt ausführlich Ansel 2003, S. 196 – 219. Prutz, Literatur, alle Zitate S. 900. Ebd. Im Zusammenhang zitiert: „Wer also lüstern ist nach einem neuen classischen Zeitalter der deutschen Dichtung, das vermöge seines größern und reichern Inhalts jenes frühere dann allerdings übertreffen wird, […]; wen es verlangt nach einer neuen Blüte unserer Literatur, die dann ebenso realistisch wie idealistisch, ebenso politisch wie ästhetisch sein wird – der wird allerdings zunächst nichts Besseres thun können, als wenn er darauf hinarbeitet, den praktisch politischen Sinn der Nation zu stärken und zu heben und eben dadurch den Eintritt jener neuen geschichtlichen Epoche, von der allein auch der Eintritt einer neuen politischen Epoche anhängig ist, zu beschleunigen.“ Ebd., S. 879.
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8 Dichterische Selbstreflexion (Prutz) und Sprechverbot für die Wissenschaft (Grillparzer) – Die Möglichkeit einer modernen Dichtung Viel eher gilt dies nach Prutz neben der Politik schon für die Wissenschaften. Und dies umso mehr, als schon Goethe und Schiller „den Gipfel ihrer classischen Dichtung auf keinem andern Wege erklommen als auf dem Wege der kritischgeschichtlichen Forschung“.⁴⁹¹ Der Weg der Moderne geht auch hier durch die Erkenntnis: Um „die Harmonie und Einheit des antiken Bewußtseins“ wiederherzustellen, gelte es, den Weg der Erkenntnis zu gehen, auf einen neuen Menschen zu, „der sich als Darstellung des Göttlichen weiß und fühlt und diesem Bewußtsein die Kraft seiner Thaten sowie die Hoheit seiner Gedanken entnimmt. Der Mensch der Alten Welt war ein Kind – an dem Menschen der Neuen dagegen soll sich das Wort des göttlichen Mittlers erfüllt haben, er soll ein Kind geworden sein.“⁴⁹² In der Gegenwart sei daher die Literaturgeschichte viel mehr als die dürftige Dichtung „die getreue Begleiterin unserer beginnenden politischen Bildung“, ja sogar eigentlich ihre „Amme und Nährerin“. In ihr artikulierten sich jene „nationalen Ideen, jene Ideen deutscher Einigkeit, Macht und Größe“, die für das Schicksal der Gegenwart entscheidend seien.⁴⁹³ Die neue Poesie, die aus der neuen politischen Ordnung entstehen kann, wird also ebenfalls nicht mehr naiv sein. Als moderne Dichtung wird sie zu ihrer Größe nicht anders denn „an der Hand der Literaturgeschichte“ aufsteigen; beispielsweise, indem sie aufgreift, was die „deutsche Alterthumswissenschaft“ erschlossen hat: [W]as für neue und fruchtbare Quellen sich aus dem Schachte dieser Wissenschaft noch für unsere Dichtung eröffnen werden, wer will das heute schon ermessen?! Nur daß der Einfluß ebenso gewaltig wie heilsam sein wird und daß,wenn irgendwo, hier der Anfang einer neuen, im höhern Sinne nationalen Dichtung liegt, das allerdings läßt sich schon jetzt voraussagen.⁴⁹⁴
Prutz steht mit seinen Reflexionen – wohl ungewollt – in der Nachfolge Friedrich Schlegels. Als Philologen, aber auch als Dichter versuchen beide, eine zukünftige Poesie zu entwerfen, die dezidiert modern ist. Prutz’ Gedanke ist deshalb interessant,weil er einen Begriff von Dichtung formuliert, deren spezifische Modernität in ihrer sentimentalischen Disposition besteht. Er unterscheidet sich hierin von
Robert Prutz: Die Literaturgeschichte in ihrer Entwicklung als Wissenschaft. In: Deutsches Museum. Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben 6 (1856), S. 422– 439, S. 449 – 468, S. 713 – 727, S. 761– 773, hier S. 424. Ebd., S. 716. Die vorhergehenden Zitate ebd., S. 424. Die vorhergehenden Zitate: Prutz, Literatur, S. 902.
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den Dichtungskonzeptionen anderer philologisch-historischer Wissenschaftler wie etwa Boeckh oder Droysen. Eine moderne Dichtung, die ihre Stärke gerade aus einer literaturgeschichtlichen, philologisch-historischen, ‚sentimentalischen‘ Reflexion gewönne, wäre demnach zukünftig denkbar. Entstehen könnte sie nur, wenn die Dichter ein „Selbstbewußtsein über den eigenen künstlerischen Standpunkt“ entwickelten.⁴⁹⁵ Gerade diese Dichtung aber erhöbe sich auf dem Fundament, das gegenwärtig die philologisch-historischen Wissenschaften erschlössen. Dies ändert nichts daran, dass die Gegenwart das Zeitalter einer Literaturgeschichte sei, die gewissermaßen die Stelle einer fehlenden Dichtung offenhalte. Prutz fordert seine Kollegen daher auf, den beobachtenden Blick wartend auf jenen spezifisch ‚sentimentalischen‘ Ort zu richten, an dem eine neue Dichtung entstehen könnte: „[D]en Ausschweifungen und Irrthümern unserer Poeten sehen wir mit Gelassenheit zu, weil sie das ewige Licht der Schönheit ja doch nicht auf die Dauer verfinstern können.“⁴⁹⁶ Bis es soweit ist, muss man sich in Geduld üben – und Literaturgeschichte betreiben. Die zeitgenössische Dichtung freilich kann sich dem Verdacht der Epigonalität nicht so ohne Weiteres anschließen. Die Debatte um Natur- und Kunstpoesie zwischen Jacob Grimm und Achim von Arnim ist ein Beispiel dafür (Kap. III.2.3.). Auch ein Roman wie Karl Immermanns (1796 – 1840) Epigonen betreibt unter diesem Stichwort eine Diagnose der Zeit insgesamt. „Wir sind, um in einem Worte das ganze Elend auszusprechen, Epigonen, und tragen an der Last, die jeder Erbund Nachgeborenschaft anzukleben pflegt. Die große Bewegung im Reiche des Geistes, welche unsre Väter von ihren Hütten und Hüttchen aus unternahmen, hat uns eine Menge von Schätzen zugeführt, welche nun auf allen Markttischen ausliegen“ – so reflektiert der Charakter Wilhelmi die Situation.⁴⁹⁷ Im Panorama des Romans erscheint natürlich auch ein Philologe; seine Gattin konversiert in Hexametern.⁴⁹⁸ Aber Immermanns Roman selbst versucht, gerade durch seine Reflexion der Epigonalität zu entkommen oder sie zumindest zu einem gültigen, reflektierten ästhetischen Verfahren zu formen.⁴⁹⁹ Ähnlich Gottfried Keller in den Züricher Novellen: Der späte Minnedichter Hadlaub beispielsweise ist Epigone, er
Prutz, Literaturgeschichte, S. 424. Prutz, Literatur, S. 909. Karl Immermann: Die Epigonen. Familienroman in neun Büchern. 1823 – 1835. In: ders.: Werke in fünf Bänden. Hrsg.von Benno von Wiese. Frankfurt am Main 1971– 1977, Bd. 2, Zitat S. 121. Der Roman erschien zuerst 1836. Ebd., S. 166. Vgl. etwa Kamann 1994, S. 118 f. Freilich wurde Immermann schon bald von der zeitgenössischen Kritik selbst Epigonalität zugeschrieben; ebd.
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sammelt die älteren Lieder einer eigentlich schon vergangenen Blütezeit. Gleichzeitig nimmt er den vergangenen Minnesang ernst und wörtlich, beginnt so zu handeln und zu lieben, wie er es in den Liedern findet – dadurch aber realisiert er eigentlich erst den Sinn dieser Kunst. Er wird selbst zu einem Original.⁵⁰⁰ Auf der anderen Seite reflektieren Dichtungen wie diejenigen Schlegels oder Uhlands, die sich gerade nicht als epigonal empfinden, dezidiert ihre Modernität (Kap. II.2. und III.3.). Diese gründet auch hier in dem philologischen Blick auf die Überlieferung, der in die Dichtungen eingeht. Ihnen geht es um Modernität, auch wenn Schlegel nicht verhindern kann, dass sich Philologie und Dichtung gegeneinander ausspielen lassen, auch wenn Uhlands Konzeption blinde Flecken aufweist. Heine wäre ein weiteres Beispiel für eine Dichtung, die aus der bewussten Aufnahme, Ironisierung und Aneignung von philologisch-historischem Material eine spezifische Modernität gewinnen will. Der philologisch-historische Blick ist tief in das Schreiben der ‚studierten Dichter‘ eingedrungen. Nicht zuletzt deshalb verwahren sich nicht Wenige gegen die Ansprüche der zeitgenössischen Wissenschaften, nicht nur, was ihre Eignung zur Gegenwartsorientierung angeht. Auch eine Abschätzung der Gegenwartsliteratur in dem Sinne, wie sie Gervinus und die anderen, oben genannten unternehmen, wird – wenig verwunderlich – abgewiesen. Franz Grillparzer zeigt sich in seinen Tagebüchern als besonders aufmerksamer Beobachter der philologischhistorischen Wissenschaften. Er kennt sie nicht nur durch sein Studium aus eigener Anschauung,⁵⁰¹ sondern betreibt selbst recht engagiert philologisch-historische Studien, im Rahmen seiner dramatischen Tätigkeit, aber auch darüber hinaus. Gervinus’ These, die „Geschichte der Poesie in Deutschland mit Goethe als abgeschlossen“ zu betrachten, ist ihm „lächerlich“;⁵⁰² wenn jener mit einer „gräßlichen Dissertationsprosa“⁵⁰³ selbst Prätension auf Kunst mache, sei das blinde Anmaßung. Der Gedanke, das Zeitalter der Wissenschaft habe die Dichtung einstweilen abgelöst, zeuge von „Eigendünkel“, ja, er sei das Strategem einer Wissenschaft, die sich aufgrund von Unverständnis über die Dichtung erheben wolle: „Über ihren Mangel an Talent trösteten sie sich damit, daß unsere Zeit eine Übergangsperiode sei und ihr Augenmerk ging besonders auf die Zukunft, der sie
Vgl. Gottfried Keller: Hadlaub. In: Züricher Novellen. 2 Bde. Stuttgart 1878; zuerst erschien der Zyklus 1876 – 1877 in der Deutschen Rundschau. Siehe oben, S. 94. Grillparzer, Werke, Bd. 3, S. 713 (Tgb. 4077, 1852/53). Grillparzer: [Zu G.G. Gervinus, Geschichte der deutschen Dichtung, Bd. V, 1842]. In: Werke, Bd. 3, S. 709. Es handelt sich wohl um den Entwurf einer Rezension, entstanden 1844.
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die Richtung vorzeichneten und den Weg pflasterten.“⁵⁰⁴ Auch die „deutsche Sprach- und Altertumswissenschaft“ deutet Grillparzer in dieser Weise. Während die alten Überlieferungen selbst „für jeden Deutschen höchst interessant“ seien, schieße die Wissenschaft doch über das Ziel, indem sie sie maßlos auratisiere: „Man postulierte antediluvianische, mastodontisch-ichtyosaurische Volksepen“ und lasse alles andere in deren Schatten verschwinden.⁵⁰⁵ Die Schuld dafür, dass die Gegenwart poetisch dürftig sei, weist er der Historisierung der Gegenwart und damit auch den philologisch-historischen Wissenschaften selbst zu. Das wachsende Wissen verhindere „Konzentration“. Die Funktion des geschichtlichen Blicks, Prognosen über die Zukunft anzustellen und auf diese Prognosen hin die Zukunft zu gestalten, entziehe der Gegenwart ihre Kraft. Die klassische Epoche der deutschen Dichtung, Goethe und Schiller, sei aus „einem Ruck“ entstanden, nicht durch philologisch-historische Planung.⁵⁰⁶ „Geschichte der Gegenwart“, so Grillparzer, sei „ein Widerspruch“.⁵⁰⁷ Gegen ihn bietet er an anderer Stelle das „Genie“ auf: Dieses sei und bleibe „eine Art Wunder“.⁵⁰⁸ Der philologisch-historische Blick ist für Grillparzer problematisch, weil er die Gegenwart notwendig selbst historisiert. Entweder verkennt er sie, oder er selbst führt zu ihrer Zersplitterung, weil er die „Konzentration“ (s.o.) unmöglich macht. Der Vorschlag, den Grillparzer in dieser Situation zu machen hat, besteht in einer Aussetzung des historischen Denkens – damit aber gewissermaßen der Moderne selbst: „Wie wenn sämtliche Kunstphilosophen, Kunst-Kritiker und Kunst-Historiker funfzig Jahre lang das Maul hielten. Ich zweifle keinen Augenblich, daß das Talent, an dem es in Deutschland nie gefehlt hat, sich auf die erfreulichste Art wieder Bahn brechen würde.“⁵⁰⁹ Ironischerweise ist freilich selbst dies noch eine Prognose, die der Gegenwart aus der Perspektive einer besseren Zukunft den Weg weisen will. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind im historischen Denken des 19. Jahrhundert so eng miteinander verklammert, dass ihre Lösung nur, wie hier, im polemischen Affekt denkbar scheint – oder dadurch, dass mit dem Historismus auch der alte Mensch insgesamt verabschiedet wird. Nietzsche wird diesen Versuch wenige Jahre später
Grillparzer: Zur Literaturgeschichte. In: Werke, Bd. 3, S. 722– 735, hier S. 730. Grillparzer konzipierte den Text um 1860 wohl als Rede, möglicherweise für die Wiener Akademie der Wissenschaften, trug ihn aber nicht vor. Das Vorhergehende ebd., S. 731. Das Vorhergehende ebd., S. 726. Ebd., S. 725. Ders.,Werke, Bd. 3, S. 712 (Tgb. 4077, 1852/53). Es handelt sich um Notizen bei der Lektüre von Gervinus. Ders., Literaturgeschichte, S. 735.
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unternehmen (vgl. Kap. V.). Grillparzers Ausbruch und Nietzsches Versuch der Befreiung werden jedoch nur verständlich vor dem Hintergrund der tiefgreifenden Verschränkung von philologisch-historischen Wissenschaften und Dichtung, die die Zeit prägt und der die folgenden Kapitel im Detail nachgehen wollen.
II Friedrich Schlegels Revolutionen Friedrich Schlegel ist einer der ersten, bei denen die problematische Konstellation von Dichtung und philologisch-historischen Wissenschaften zum Tragen kommt. Dies gilt für die wenigen Jahre in Schlegels Schaffen, die dem literatur- und kulturgeschichtlichen Kanon angehören, den theoretischen Frühromantiker der Athenaeums-Zeit. Es gilt aber darüber hinaus für sein gesamtes Werk, das frühere und das darauffolgende. Auch seine von der Forschung ungeliebten Arbeiten nach der Konversion und dem Umzug nach Wien gehören hierher. Mindestens in dieser Beziehung ist sein Werk von Kontinuität geprägt. Die Erfindung der romantischen Literaturtheorie ist Teil eines Denkens, das wesentlich von einem neuen Verhältnis zu den literarischen Traditionen getragen wird. Ihre Reflexion zielt auf die Gegenwart und deren Kultur. Das allein wäre noch kein Unterschied zum Vorgehen der Aufklärung und ihrer Kritik. Entscheidend ist ein verändertes Verhältnis zur Überlieferung. Die historische Erkenntnis erkennt – wie es, holzschnittartig formuliert, größere Teile der aufklärerischen Kritik taten – im historisch Überlieferten nicht unhistorische Werte, die auch die Gegenwart bestimmen müssen. Vielmehr gilt es nun, durch die Aneignung, die Assimilation fremder und fremdgewordener Gegenstände aus der Vergangenheit des Geistes eine neue Zukunft zu eröffnen. Die Erkenntnis des Anderen, Alten und Fremden formiert sich als Praxis, die der Gegenwart dient. Aber die Dichtung der Gegenwart und Zukunft, ihre Philosophie, ihr Ethos, ihre Religion – sie existieren für Schlegel noch nicht. Die Instrumente, um sie zu schaffen, sind die gleichen, die der Aneignung des Alten, Anderen, Fremden dienen. Die hermeneutisch-philologische Praxis soll zum Schlüssel werden, der der Gegenwart die Tür in eine neue Zukunft öffnet. Der Philologe, wie Schlegel ihn versteht, dient als Geburtshelfer und Avantgarde einer Kultur, die erst noch im Werden begriffen ist. Auf ihm lastet die Verantwortung für die Gegenwart und die Zukunft, denn die Blüte einer Dichtung und Kultur entsteht in der Moderne nicht von selbst. Schlegel ist umso interessanter, als sich bei ihm die systemische Dialektik dieses dienenden philologisch-historischen Blicks voll auswirkt. In seinen frühen Jahren wechselt sich der Stolz des Kritikers und Theoretikers, der die zukünftige Literatur plant, ab mit der Melancholie des dichterisch Unfruchtbaren. Als ihm dann jedoch zur Jahreswende 1799/1800 sein erstes Gedicht gelingt, beginnt eine eifrige poetische Produktion. Man sieht nun Schlegels Dichtungen ihrerseits deutlich ein philologisch-programmatisches Kalkül an. Die Germanistik hat ihnen daher meist die Qualität abgesprochen und sich nicht weiter für sie interessiert. Dabei sind sie gleichermaßen aufschlussreich für die Situation des Philologen wie auch für das Verständnis Schlegels. Gleichsam von innen zeigt sich hier jene Arbeit
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an einer werdenden Poesie, die der Philologe und Kritiker Schlegel vor seinem ‚Durchbruch‘ zur Dichtung immer nur von außen zu sehen verdammt zu sein schien. Schlegels Denken soll daher im Folgenden von diesen beiden Seiten her vermessen werden: von der Kritik und Theorie her genauso wie von der dichterischen Praxis aus. Theorie und Philologie zielen auf die Poesie, die Dichtung aber wiederum auf Theorie und Philologie. Schlegels Philologie unterscheidet sich gewiss in Manchem von dem, was die nachfolgenden Generationen der Brüder Grimm oder Lachmann tun werden. Aber an ihr lassen sich doch Grundkoordinaten des philologisch-historischen Denkens entfalten, wie es die folgenden Jahrzehnte bestimmen wird – und damit auch Grundkoordinaten des schwierigen Verhältnisses von Dichtung und philologischhistorischen Wissenschaften. Ein zentrales Moment ist die literar- und kulturhistorische Hochschätzung der Produktion früherer Zeiten, die Bewunderung für ihre Ursprungsnähe und der Versuch, diese irgendwie für die Moderne produktiv zu machen. Dem entspricht die Konzeption der eigenen Zeit als eines Gegenbildes, einer Moderne, die von ihren Ursprüngen abgefallen ist. Es ist der dritte Schritt in dieser Trias, der dem Philologen seine besondere Aufgabe verleiht und ihn zum (freilich oft genug melancholischen) Konkurrenten des gegenwärtigen Dichters macht: Denn die Erneuerung der gegenwärtigen, der zukünftigen Kultur, ihre Rückkehr zum Alten kann sich nicht anders vollziehen als durch einen Fortschritt durch das Wissen hindurch.¹ Schlegel reflektiert intensiv das geschichtsphilosophische Paradox, das, oft unausgesprochen, weite Teile des 19. Jahrhunderts durchzieht: Weder kann man – aufklärerisch – die Vervollkommnung des Wissens als Abschied von alter Barbarei begreifen noch aber auch die eigene spezifische Modernität – mit Schiller gesprochen: Sentimentalität – leugnen. Der philologisch-historische Gelehrte ist der Mann dieser Stunde. Denn die Reflexion des Historischen wird zur Voraussetzung der eigenen Bewährung in der Gegenwart, sie selbst – die Reflexion der Geschichte, aus der die Geschichte als Erkannte erst entsteht! – enthält das Versprechen einer wiederkehrenden Einheit. Diese Last bürden sich der Philologe, der Kritiker in Schlegels Sinn, der Historiker auf. Diese Last des Historischen und seiner Reflexion ist aber auch dem Dichter aufgegeben. Als Philologe und Dichter muss Schlegel die entstehenden Spannungen von beiden Seiten her aushalten. Wie kann der Philologe und Kritiker Agent in der ‚Revolution‘ der Poesie werden? – so könnte man das Problem bezeichnen, das sich Schlegel als Theo Zum triadischen Geschichtsmodell, vor allem bei Novalis, vgl. Hans-Joachim Mähl: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen. 2Tübingen 1994 (11965), S. 305 – 319 u. ö.
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retiker stellt. Als Dichter dann zielt er auf die ‚Revolution‘ der Poesie durch eine philologische Dichtung. Der Begriff der „ästhetischen Revolution“ stammt aus dem frühen Aufsatz Über das Studium der Griechischen Poesie. ² Er bezieht sich nicht nur auf die Kunst, sondern meint eine umfassende, gleichfalls politische und moralische Wendung.³ In den folgenden Jahren tritt der Begriff zurück. Als Schlegel in Wien seine Werke herausgibt, tilgt er ihn selbst noch aus dem StudiumAufsatz. Er spricht dann aber von einer „Wiedergeburt“.⁴ Die Erwartung einer grundlegenden Wende bleibt konstant. Im Laufe der Jahre bringt Schlegel unterschiedliche Lösungsversuche für das genannte Grundproblem bei.⁵ Einordnen lassen sich hier etwa die Ironie (Athenaeum-Fragmente, 1799), der Dialog (Gespräch über die Poesie, 1800) oder die Literaturgeschichte der ‚modernen‘⁶ europäischen Nationen (Gespräch; Pariser und Kölner Vorlesungen, 1803 – 05).⁷ Auch Schlegels Dichtung versucht, eine spezifische Antwort auf jene Frage zu finden.
Schlegels Werke werden, wo nicht anders angegeben, nach der kritischen Ausgabe zitiert: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Begr. und hrsg. von Ernst Behler, fortgesetzt von Ulrich Breuer. Gepl. 35 Bde. Paderborn u. a. 1958 ff. (‚KFSA‘ mit Band und Seite; der Studium-Aufsatz wird jedoch fortlaufend im Text zitiert: ‚Studium‘ mit Seite), hier Studium, S. 262– 273 und S. 356. Die ästhetische Revolution steht in unmittelbarem Zusammenhang zum sogenannten Bibelprojekt der Athenaeums-Zeit,wo Schlegel – neben einer neuen Kunst – immer noch „eine Moral […] stiften“ will (Brief an Schleiermacher, Juli 1798; KFSA 24, S. 147); vgl. dazu Ethel Matala de Mazza: Der verfaßte Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik. Freiburg/Br. 1999, S. 173 – 264; Hermann Patsch: Friedrich Schlegels „Philosophie der Philologie“ und Schleiermachers frühe Entwürfe zur Hermeneutik. Zur Frühgeschichte der romantischen Hermeneutik. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 63 (1966), S. 434– 472, hier S. 453; mit (ausschließlich) theologischer Pointierung: Hermann Timm: Die heilige Revolution. Das religiöse Totalitätskonzept der Frühromantik. Schleiermacher – Novalis – Friedrich Schlegel. Frankfurt am Main 1978, S. 159 – 172, bes. S. 162. Vgl. etwa Studium, S. 262, S. 356, jeweils im Apparat. Die Forschung betont in Schlegels Entwicklung oft eher die Differenz verschiedener Phasen. Diese soll hier nicht geleugnet werden. Als wie kontinuierlich oder diskontinuierlich man den Gang seines Denkens begreift, hängt (nicht nur, aber auch) davon ab, wie man unterschiedliche Momente zueinander gewichtet. Die hier entfaltete Perspektive soll die Kontinuität stark machen, ohne freilich auszuschließen, dass auch anders gewichtet werden kann. Der Begriff der Moderne meint bei Schlegel stets den gesamten Zeitraum nach der Antike, d. h. vom Mittelalter an; vgl. etwa Ernst Behler: Die italienische Renaissance in der Literaturtheorie der Brüder Schlegel. In: Romantik und Renaissance. Die Rezeption der italienischen Renaissance in der deutschen Romantik. Hrsg. von Silvio Vietta. Stuttgart, Weimar 1994, S. 176 – 195, hier S. 189 f. Zu Schlegels Literaturgeschichtsschreibung vgl. Weimar 2003, S. 258 – 265 und S. 277– 284; Fohrmann 1989, S. 99 – 114; Ernst Behler: Concepts of history in the comparative literary history of the Schlegel brothers. In: Comparative literary history as discourse. FS Anna Balakian. Hrsg. von Mario J. Valdes, Daniel Javitch und A. Owen Aldridge. Bern u. a. 1992, S. 23 – 40; John Neubauer:
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Hier soll zunächst die Konstellation im Zentrum stehen, wie sie sich paradigmatisch aus dem frühen Studium-Aufsatz entfalten lässt. Deren Linien werden dann bis in die ersten Jahre des 19. Jahrhunderts nachgezeichnet. In das entstehende Denkmuster ließe sich auch die Schrift über die indische ‚Ursprungskultur‘ (Über die Sprache und Weisheit der Indier, 1808) einordnen, ebenso die Entscheidung für den Katholizismus und die Wiener Vorlesungen. So weit will die Untersuchung aber nicht gehen. Mehr als auf eine umfassende Werkdeutung kommt es auf das Verständnis einer grundlegenden Gedankenfigur an. In einem zweiten Schritt werden Schlegels Dichtungen als dezidierte philologisch-historische Reflexionen vorgestellt. Sie erscheinen als Akte, die eine solche ‚Revolution‘ befördern sollen.
1 Der Philologe in der Moderne – Schlegels Studium-Aufsatz Der erste Satz des Aufsatzes Über das Studium der griechischen Poesie – sieht man von der zwei Jahre später, 1797, entstandenen Vorrede ab – bietet einen Schlüssel für sein Grundanliegen: „Es springt in die Augen, daß die moderne Poesie das Ziel, nach welchem sie strebt, entweder noch nicht erreicht hat; oder daß ihr Streben überhaupt kein festes Ziel, ihre Bildung keine bestimmte Richtung, die Masse ihrer Geschichte keinen gesetzmäßigen Zusammenhalt, das Ganze keine Einheit hat.“ (Studium, S. 217) Diese Einleitung ist erstaunlich für einen Aufsatz, dessen Titel sich dezidiert auf die antike, insbesondere die griechische Poesie zu richten scheint. Durch ihn verführt, hat die Forschung oft gerätselt, ob Schlegel hier überhaupt schon ‚Frühromantiker‘ oder nicht doch ‚noch‘ ‚Klassizist‘ gewesen sei.⁸ Diese Frage verliert aber an Relevanz,⁹ wenn man beachtet, worauf sich der
Epigenetische Literaturgeschichten bei August Wilhelm und Friedrich Schlegel. In: Kunst – die andere Natur. Hrsg.von Reinhard Wegner. Göttingen 2003, S. 211– 227. Zu den Wiener Vorlesungen: Stefan Matuschek: Poesie der Erinnerung. Friedrich Schlegels Wiener Literaturgeschichte. In: Erinnern und Vergessen in der europäischen Romantik. Hrsg. von Günter Oesterle.Würzburg 2001, S. 193 – 205. Der zum Kryptischen neigende Aufsatz wurde unterschiedlich gedeutet.Viele Interpreten sehen in ihm ein Zeugnis des ‚vor-romantischen‘, klassizistischen Schlegel. Beispielhaft sei genannt: Hans Robert Jauss: Friedrich Schlegels und Friedrich Schillers Replik auf die ‚Querelle des anciens et des modernes‘. In: Europäische Aufklärung. Hrsg. von Hugo Friedrich und Fritz Schalk. München 1967, S. 117– 140. Dass er den frühen Schlegel als Klassizisten einschätzt, ist auch einer der wenigen Vorwürfe, die man der hervorragenden Untersuchung von Klaus Behrens machen kann: Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie, 1794– 1808.Tübingen 1984, etwa S. 27– 67, insbes. S. 45 und S. 58. Die genannten Interpretationen übersehen die idealistisch-transzendentalphiloso-
1 Der Philologe in der Moderne – Schlegels Studium-Aufsatz
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Studium-Aufsatz eigentlich richtet, und wenn man das Grundmuster seiner Argumentation klar in den Blick nimmt. Der erste Satz verdeutlicht: Schlegel geht es nicht nur um die Antike, sondern er zielt im Kern auf die Moderne.¹⁰ Deren problematische Gestalt wird Schlegel aber sein ganzes Leben hindurch umtreiben. Das letzte Kapitel des Studium-Aufsatzes unterstreicht diesen Befund. Es handelt „Von der Wiedergeburt der neuern Poesie“.¹¹ Schon die Gliederung der Abhandlung kapselt damit die Antike ein. Sie bildet sinnfällig die inhaltliche Füllung für eine Klammer, an deren Anfang und Ende die Moderne steht. Diese Moderne ist sich selbst zum Problem geworden. Am Ende des Studium-Aufsatzes formuliert Schlegel die Frage nach der Gegenwart noch einmal anders: „‚Wie lässt sich also über den künftigen Gang der Bildung etwas im voraus bestimmen, da diese vorläufigen Bedingungen selbst von einem glücklichen Zusammenfluß der seltensten Umstände, das heißt vom Ohngefähr abhängen? Wer hat noch der Natur den Handgriff ablernen können, wie sie Genies erzeugt, und Künstler hervorbringt?‘“ (Studium, S. 359) Während der Beginn der Schrift das Problem der Moderne und damit das Anliegen des Aufsatzes emphatisch formuliert, ist die zitierte Frage am Ende bereits in Anführungszeichen gesetzt. Nun stellt sie nicht mehr der Autor selbst; vielmehr fingiert er den Einwurf eines Skeptikers gegen das Modell, das die vorhergehenden einhundert Seiten entworfen haben. Der Studium-Aufsatz präsentiert sich als Lösung des Problems, von dem er ausgegangen ist: des Problems, dass der modernen
phische Gedankenfigur, die dem Aufsatz – wie den späteren, ‚romantischen‘ Schriften Schlegels – zugrundeliegt. Gegen die klassizistische Deutung wendet sich schon Richard Brinkmann: Romantische Dichtungstheorie in Friedrich Schlegels Frühschriften und Schillers Begriffe des Naiven und Sentimentalischen. Vorzeichen einer Emanzipation des Historischen. In: DVjs 32 (1958), S. 344– 371. Als zentral für Schlegels Denken fasst den Aufsatz Franz Norbert Mennemeier in seiner nach wie vor anregenden Untersuchung: Friedrich Schlegels Poesiebegriff dargestellt anhand der literaturkritischen Schriften. Die romantische Konzeption einer objektiven Poesie (zuerst München 1971). 2Berlin 2007. Robert S. Leventhal versteht den Studium-Aufsatz ebenfalls als einen genuin hermeneutischen Entwurf „about the system or discourse of historical cultures“ (ders.: The Disciplines of Interpretation. Lessing, Herder, Schlegel and Hermeneutics in Germany 1750 – 1800. Berlin, New York 1994, hier S. 25, ausführlich: S. 261– 280). Die Kontinuität des ‚graecophilen‘ zum ‚frühromantischen‘ Schlegel betonen auch viele der Beiträge in: Benne u. a. (Hrsg.) 2011. Außerdem: Ernst Behler: Einleitung. In: Friedrich Schlegel: Über das Studium der Griechischen Poesie 1795 – 1797. Hrsg. von Ernst Behler. Paderborn u. a. 1982, S. 13 – 128; Bernd Bräutigam: Leben wie im Roman. Untersuchungen zum ästhetischen Imperativ im Frühwerk Friedrich Schlegels. Paderborn 1986. Vgl. etwa Brinkmann 1958, S. 353; Behler 1982, S. 30 u. ö. Die geschichtstheoretischen Implikationen dieser Intention auf die Gegenwart entfaltet Behrens 1984, S. 24 f. u. ö. So der Titel des fünften Abschnitts (Studium, S. 330 – 367).
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Poesie – und damit der Moderne als Epoche – Einheit, Ziel und Bestimmung zu fehlen scheinen. Indem Schlegel diese Fehlstellen füllt, meint er den skeptischen Einwand widerlegt zu haben, ob sich denn über den „künftigen Gang der Bildung“ überhaupt „etwas im voraus bestimmen“ (s.o.) lasse oder ob dieser nicht vielmehr vom unverfügbaren Zufall abhänge, von der Gnade einer undurchdringlichen Natur. Es gebe ‚Handgriffe‘ – so darf man die Tendenz seiner Schrift pointieren – mit denen sich das „Genie“ (s.o.) hervorbringen lasse. Und die Dichtung wäre nur gleichsam der Scheitelpunkt der Revolution, der diese Praktiken zuarbeiten. Denn Dichtung ist Ausdruck der Kultur insgesamt, und damit wäre eine gelungene Poesie gleichzeitig Zeichen einer Erneuerung der gesamten Kultur der Gegenwart. Mit einer erfüllten Dichtung wären auch die Kunst, Sitten, Gesellschaft, Politik aus ihrer Misere heraus- und in die Blütezeit eingetreten. Das Schicksal der Moderne ist nicht unverfügbar. Es liegt in ihren eigenen Händen – und der Studium-Aufsatz will es aufschließen. Der Anspruch, den der dreiundzwanzigjährige Schlegel anmeldet, ist gewaltig. Zentral für seinen Lösungsversuch aber ist freilich die Antike oder, präziser formuliert, das Studium der Antike. Um dies zu verstehen, gilt es erstens zu bestimmen, was Schlegel unter dem Studium der Antike versteht. Die Entwicklung eines hermeneutisch-philologischen Instrumentariums geht hier einher mit einer Positionsbestimmung der Moderne im Vergleich mit der Antike. Zweitens muss gefragt werden, wie die Moderne mithilfe dieses Studiums Zugriff auf ihr eigenes Schicksal gewinnen kann. Damit verbunden ist das Problem des Verhältnisses von Philologie, Hermeneutik und Kritik zur gegenwärtigen Dichtung, deren Emergenz für Schlegel der Punkt wäre, an dem auch die Moderne zu ihrem Ziel, zu ihrer Einheit gekommen wäre.
1 Was ist „Studium“? Schlegels Aufsatz widmet sich dem Studium der griechischen Poesie. Er richtet sich damit auf einen historischen Gegenstand. Die historische Erkenntnis ist aber, wie bereits gesagt, kein Selbstzweck. Schon der sorgfältig gelesene Titel, der das Studium ins Zentrum stellt,verdeutlicht dies. Die Frage, was die griechische Poesie sei, ist in eine selbstreflexive Bewegung eingelagert, die sich wie folgt paraphrasieren ließe: Was kann die Moderne durch die Beschäftigung mit den Griechen gewinnen, und wie wird dieses Studium auf rechte Weise betrieben?¹² Es geht
Die Beiträge in Benne u. a. (Hrsg.) 2011 betonen die Bedeutung, die sowohl die Antikestudien wie auch die philologische Praxis und Reflexion für den jungen Schlegel besaßen. Der Band stützt
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nicht nur um den historischen Gegenstand, die Griechen; sondern Schlegel denkt vielmehr darüber nach, was dieses Erkennen für den Erkennenden mit sich bringt. Das Interesse der Abhandlung gibt sich damit als transzendentales zu verstehen: Es reflektiert die Bedingungen des eigenen historischen Blicks mit. Der Titel impliziert bereits, dass der Aufsatz nicht nur ein Bild der Griechen zeichnet, sondern im gleichen Zuge auch über das Instrumentarium reflektiert, mit dem dieses Bild entworfen wird. In den Begriff des Studiums ist ein kritisches und philologisches Programm eingefaltet, er formuliert die Notwendigkeit einer Theorie und Praxis der philologisch-historischen Aneignung und skizziert deren Gestalt.¹³ Auf diese Weise schlägt der Studium-Aufsatz von Beginn an einen Bogen über die Zeiten, wie er für Schlegels Konzeption von Kritik wegweisend ist. Dieser Versuch einer transzendentalen Philologie und Kritik ist eminent beachtenswert. Anders als eine historische Erkenntnis, die rein auf den Gegenstand zielt, setzt der Begriff des Studiums sich von Beginn an in eine bewusste Beziehung zu diesem Gegenstand. Einerseits konstituiert er eine Linie der Tradition von der Antike zur Moderne, wie es jede philologische und historische Praxis mindestens implizit mit sich bringt – besteht diese doch in der Entdeckung, Aufarbeitung, Bewahrung von Tradition. Auf der anderen Seite problematisiert er damit auch die Möglichkeit einer solchen Traditionslinie. Denn allein die Tatsache, dass der gegenwärtige Historiker auf seinen vergangenen Gegenstand reflektieren kann, setzt ihn zu diesem in eine Differenz.¹⁴ Der Gegenstand lässt sich gerade deswegen betrachten, weil sein Betrachter nicht Teil von ihm ist; und die wach-
sich auf bislang nicht gedruckte Notizen Schlegels zur Antike aus den Jahren 1796/97 bis 1799. Eine Edition der Texte steht noch aus. Zu Schlegels Philologie vgl. Josef Körner: Friedrich Schlegels „Philosophie der Philologie“. In: Logos 17 (1928), S. 1– 72, hier S. 1– 16; Vittorio Santoli: Philologie, Geschichte und Philosophie im Denken Friedrich Schlegels (zuerst 1930). In: Friedrich Schlegel und die Kunsttheorie seiner Zeit. Hrsg. von Helmut Schanze. Darmstadt 1985, S. 34– 56; Patsch 1966, insbes. S. 445 – 452; Behrens 1984, S. 87– 104; Jure Zovko: Verstehen und Nichtverstehen bei Friedrich Schlegel. Zur Entstehung und Bedeutung seiner hermeneutischen Kritik. Stuttgart – Bad Cannstadt 1990,vor allem S. 18 – 35; Andreas Arndt: „Philosophie der Philologie“. Historisch-kritische Bemerkungen zur philosophischen Bestimmung von Editionen. In: Editio 11 (1997), S. 1– 19, hier S. 1– 13; Buschmeier 2008, S. 117– 166. So auch Kazumi Sakai: Antike und Moderne. Versuch über die Geschichtsauffassung und den Begriff des „Objektiven“ in Friedrich Schlegels Aufsatz Über das Studium der griechischen Poesie. In: Literarische Problematisierung der Moderne. Deutsche Aufklärung und Romantik in der japanischen Germanistik. Hrsg. von Teruaki Takahashi. München 1992, S. 129 – 136, hier S. 136. Für die Notizen zur Philosophie der Philologie arbeitet diesen Gedanken auch Denis Thouard heraus: Der unmögliche Abschluss. Schlegel, Wolf und die Kunst der Diaskeuasten. In: Benne u. a. (Hrsg.) 2011, S. 41– 61, hier S. 57 f. Er scheint ihn allerdings für den Studium-Aufsatz noch nicht annehmen zu wollen. Anders dagegen: Leventhal 1994, S. 263.
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sende Erkenntnis verschärft die Distanz zwischen beiden. Allein durch die Möglichkeit, auf den Gegenstand zu reflektieren, hat sich der ‚Student‘ notwendig von ihm unterschieden. Der Begriff des Studiums scheint die Lage der Modernen zu komplizieren. Denn der Gegenstand, auf den sich die Erkenntnis richtet, kann damit gar nicht mehr als unmittelbares Modell für die eigene Tätigkeit dienen. Ein klassizistischer Blick auf die Antike würde gerade eine Kontinuität von Antike und Moderne voraussetzen. Die Antike erschiene ihm nicht als das Andere, von dem er sich erkennend distanzierte. Sondern seine Bemühung zielte darauf, sich selbst dem Erkannten ein- und unterzuordnen, den Punkt zu entdecken, an dem er sich in die fortlaufende Geschichte der antiken Werte einschreiben könnte. Schlegel betont in seinem Aufsatz über das Studium der griechischen Dichtung zunächst nicht die Nähe, sondern vielmehr die Ferne. Erinnert sei an den schon zitierten ersten Satz.¹⁵ Der Blick auf die Antike macht sie zum Gegenbild der Moderne, nicht zu ihrem Vorbild. Schlegels Begriff des Studiums formuliert eine transzendentale Philologie. Je mehr sie sich ihres Gegenstandes bewusst wird, desto mehr erkennt sie auch sich selbst, erkennt, dass sie mit ihm gerade nicht identisch ist. Sie nimmt damit bewusst alle Möglichkeiten, aber auch die Tragik des philologisch-historischen Blicks auf sich. Die Möglichkeiten liegen in der historischen Erkenntnis, in diesem Falle der Griechen. Der Philologe kann rekonstruieren, was ihre hohe, vorbildliche Kunst und ihre große Kultur ausmacht und wie diese entstanden sind. Die Tragik aber liegt in dem Bewusstsein, dass diese erkenn- und beschreibbare Kultur nicht mehr die dem Kritiker und seiner Zeit eigene sein kann.
2 Die Antike als Ganzes – Der Gegenstand des Studiums Schlegels Konzeption des Studiums setzt voraus, dass die Antike eine Ganzheit bildet. Sie eignet sich als Gegenstand der Erkenntnis, gerade weil sie in sich geschlossen ist – und das bedeutet auch: zur Moderne hin abgeschlossen. Schlegels zitierte, einleitende Worte erwecken zwar den Eindruck, die Moderne könne, gemessen an der Antike, nicht anders als defizitär erscheinen. Aber der Schluss der Abhandlung, der ja in seinem Titel die „Wiedergeburt der neuern Poesie“ in Aussicht stellt, belegt das Gegenteil: Schlegel will keineswegs die Moderne gegenüber dem vergangenen Muster verloren geben. Das Studium der Antike führt die Moderne in die Krise ihres Selbstbewusstseins. Aber gleichzeitig soll es sie
Vgl. oben S. 138.
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daraus befreien. Wie dies geschehen kann, welche Funktion die Antike für den modernen Betrachter gewinnen kann, ist die entscheidende Frage, die der Studium-Aufsatz formuliert. Um seine Antwort zu verstehen, gilt es jedoch zunächst, Schlegels Bild der Antike und seine Vorstellung des Studiums näher zu betrachten – und das bedeutet auch, die philologische, hermeneutische und kritische Konzeption, die dem ‚Studium‘ zugrundeliegt. Was also bedeutet es überhaupt, dass die Antike zum Objekt der Erkenntnis werden kann? Schlegels Begriff des Studiums liegt eine hermeneutische Figur zugrunde, wie sie später etwa von Schleiermacher und Boeckh entwickelt, aber auch von Historikern wie Droysen angesetzt wird. Dieser hermeneutische Grundansatz – mit Variationen in der Ausführung und im Detail – bildet eine der fundamentalen Dispositionen des sogenannten ‚historistischen‘ 19. Jahrhunderts überhaupt. Schlegel hat diese Hermeneutik seit dem Studium-Aufsatz maßgeblich mitformuliert,¹⁶ auch wenn dies in den begrifflichen Verschlingungen der frühen Schrift nicht immer leicht zu erkennen ist. Die Frage nach der Antike zielt letztlich nicht auf ein einzelnes Zeugnis, sondern auf das, was die Gesamtheit der Zeugnisse bestimmt, auf ihren ‚Geist‘. Die Antike ist für Schlegel eine Ganzheit – die Moderne soll es erst werden. Den Zugang zu diesem Ganzen bilden für den ‚Studenten‘ der Antike freilich die einzelnen überlieferten Zeugnisse. Die Erkenntnis der Antike gewinnt damit eine zirkuläre Struktur. Sie oszilliert zwischen dem Einzelnen und dem Begriff des Ganzen, um beide immer weiter zu erhellen. Das Studium durchdringt das Einzelne und perspektiviert es auf das Ganze. Indem man so in der Erkenntnis des Ganzen fortschreitet, versteht man auch wiederum das Einzelne besser. Dieser hermeneutische Zirkel bildet die Seite des Studiums, die sich mit dem Objekt ausein-
Aus den zahlreichen Darstellungen zur Geschichte der Hermeneutik im 19. Jahrhundert seien herausgehoben: Peter Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik. Hrsg. von Jean Bollack und Helen Stierlin. Frankfurt am Main 1975; Hermeneutische Positionen. Schleiermacher – Dilthey – Heidegger – Gadamer. Hrsg. von Hendrik Birus. Göttingen 1982; Frithjof Rodi: Erkenntnis des Erkannten. Zur Hermeneutik des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1990; die Bände: La naissance du paradigme herméneutique. De Kant et Schleiermacher à Dilthey. Hrsg. von André Laks und Ada Neschke-Hentschke. Lille 22008; und: Flashar u. a. (Hrsg.) 1979. Abgesehen vom zuletzt zitierten Band bleibt Schlegels Rolle dort allerdings oft unterbelichtet; Ada NeschkeHentschke beispielsweise betont Schlegels Bedeutung,verortet die Formulierung der Hermeneutik aber dennoch bei Schleiermacher: dies.: Platonisme et tournant herméneutique au début du XIXe siècle en Allemagne. In: Laks u. a. (Hrsg.) 2008, S. 109 – 131, hier S. 110 – 112; anders in: Körner 1928; Patsch 1966; Willy Michel: Ästhetische Hermeneutik und frühromantische Kritik. Göttingen 1982 (mit Forschungsüberblick S. 14– 25); Zovko 1990, pass., insbes. S. 140 – 165; Leventhal 1994, S. 280 – 295. Entschieden führt Hermann Beisler (2001) die zentralen Gedanken der modernen Hermeneutik auf Schlegel (und seinen Bruder) zurück.
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andersetzt, indem es dieses, zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen vermittelnd, erkennend konstituiert. In dieser Intention auf den Geist einer Epoche liegt eine entscheidende Veränderung gegenüber der hermeneutischen und kritischen Tradition in der Philologie bis zum Ende des 18. Jahrhunderts.¹⁷ Nach der Ganzheit einer Epoche fragen zu können, ist keine Selbstverständlichkeit. Schon die Analyse des Studium-Begriffs führt dies vor Augen: Denn der moderne Betrachter wird damit zunächst auf seine eigene Andersheit zurückgeworfen. Schlegel steht mit seiner Position am Punkt einer Emergenz, in der sich Entwicklungen aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in einer neuen Weise formieren. Auf drei Positionen, die für ihn eine entscheidende Rolle spielen, sei kurz hingewiesen: Herders Geschichtstheorie, Winckelmanns Geschichtsschreibung der antiken Kunst und Friedrich August Wolfs Philologie der Homerischen Epen. Die Möglichkeit, eine vergangene Kultur als Ganzheit zu verstehen, entsteht nicht zuletzt auf dem Grund von Herders Kulturhermeneutik. Wenn jede Zeit und jeder Ort ihre eigene Spezifität besitzen, dann gilt es diese zu erforschen. Diese individuellen historischen Konstellationen sind, in Herders Denken, Manifestation des Göttlichen im raum-zeitlichen Kontinuum der Welt. Diese Konkretionen zu verstehen, bedeutet, dem Gang des Göttlichen durch seine geschichtliche Entfaltung zu folgen. Herders Hermeneutik der historischen und kulturellen Vielheit der Welt bildet eine wichtige Grundlage für Schlegels Ansatz.¹⁸ Während Schlegel in der Auseinandersetzung mit Herder vor allem seine eigene Position schärft, bezieht er sich stets emphatisch auf Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums (1764).¹⁹ Sie führt den hermeneutischen Zirkel zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen vor, indem sie die Fülle der Überlieferung in der bildenden Kunst zu einer Geschichte ihrer Entfaltung, Blüte und ihres Niedergangs kondensiert. Das Einzelne verdichtet sich zu der genetischen Reihe einer Geschichte der Kunst und der Antike als ganzer. Dieses Ganze wie-
Leventhal 1994, S. 91, weist auf die Bedeutung Lessings für die Entwicklung dieser Hermeneutik hin. Schlegels Auseinandersetzung mit Herder dokumentiert etwa seine Rezension von: Briefe zur Beförderung der Humanität. Hrsg. von J.G. Herder. In: Deutschland 3 (1796), S. 326 – 336; KFSA 2, S. 47– 54. Allerdings erschöpft sich das Thema nicht in dieser Besprechung. Vgl. etwa Behrens 1984, S. 75 – 77; Ernst Behler: „Die Theorie der Kunst ist ihre Geschichte“. Herder und die Brüder Schlegel. In: ders.: Studien zur Romantik und zur idealistischen Philosophie. Bd. 2. Paderborn 1993, S. 187– 205, insbes. S. 189 – 193; Leventhal 1994, S. 23 f. und pass. Zu Schlegel und Winckelmann: Behrens 1984, S. 31– 34; Behler 1993, S. 190. Zu Winckelmanns Historiographie vgl. Hinrich C. Seeba: Winckelmann: Zwischen Reichshistorik und Kunstgeschichte. Zur Geschichte eines Paradigmenwechsels in der Geschichtsschreibung. In: Bödeker u. a. (Hrsg.) 1986, S. 299 – 323.
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derum wird zum realen Grund für die Erscheinung des Einzelnen in der zeitlichen Folge. Auch aus der Klassischen Philologie gewinnt Schlegel einen unmittelbaren Anstoß für seine Hermeneutik, namentlich aus Wolfs Prolegomena zu Homer.²⁰ Sie sind für Schlegel das Paradestück einer philologisch-historischen Kritik, die das einzelne Werk auf die Ganzheit der Kultur und Zeit, in der es steht, hin erschließt. Wolfs Untersuchung demonstriert aus einer Kritik der einzelnen Überlieferungen heraus, dass die „homerische Poesie nicht das Werk eines Künstlers, aber das Erzeugnis einer Periode der epischen Kunst“²¹ sei. Und im Zuge des kritischen Ganges entsteht ein Bild der ganzen griechischen Kultur, angefangen bei der Entstehung der Epen, über ihre Blütezeit bis hin zu ihrem gelehrten Niedergang bei den Alexandrinern. Wolfs Kritik des Epos setzt für Schlegel paradigmatisch das Einzelne und das Ganze in eine Erkenntnisbewegung, die sowohl der genauen Durchdringung der partikularen Überlieferung gilt wie auch der Manifestation der Gesamtgestalt. Um Schlegels eigenen Ansatz zu konturieren, ist seine Lesart der Prolegomena aufschlussreich. Nicht wenige Zeitgenossen sind entsetzt, dass Wolf das alte Bild Homers als eines genialen Dichter-Individuums zerstört und den Text als Produkt seiner Überlieferungsgeschichte deutet, als Resultat einer jahrhundertelangen kulturellen Arbeit, die ihren letzten Schliff sogar erst von den späten Philologen des Hellenismus bekomme. Schlegel aber sieht darin keineswegs einen Angriff auf die Würde der Dichtung. Diese werde vielmehr erhöht, da die Epen nun gleichsam Produkte des Geschichtslaufs selber würden, der, umgekehrt, aus ihnen wieder erschlossen werden könne. Im überlieferten Text manifestiere sich mittels philologischer Kritik das Ganze einer Epoche der griechischen Kultur.²² Die Auseinandersetzung mit Herder, Winckelmann und vor allem mit den Prolegomena konturiert Schlegels Vorstellung von einer Ganzheit des Zeitalters und seines Geistes sowie von der Möglichkeit, in einem zirkulären Erkenntnisgang das Detail des Textes mit dem Ganzen zu vermitteln. In dieser Philologie rücken Hermeneutik und Kritik engstens zusammen, da nur beide zusammen genommen die Erkenntnis des Einzelnen und des Ganzen leisten können. Um 1800 bilden Kritik und Hermeneutik, neben der Grammatik, die Teildisziplinen der Philolo-
Zu Schlegel und Wolf vgl. zuletzt Thouard 2011; Buschmeier 2008, S. 117– 132; außerdem: Siegfried Reiter: Friedrich August Wolf und Friedrich Schlegel. In: Euphorion 23 (1921), S. 226 – 233; Markner 2004. So in der Geschichte der Poesie der Griechen und Römer (1798), KFSA 1, S. 523. Geschichte der Poesie (1798), KFSA 1, S. 510.
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gie.²³ Bei Schlegel haben die Begriffe viele Schnittstellen, ja, sie gehen ineinander über,²⁴ da sie in einer Zirkelbewegung der Erkenntnis aufeinander bezogen sind. Darüber hinaus verleiht er ihnen einen progressiven Sinn. Einerseits richten sie sich auf die historischen Gegenstände. Gleichzeitig jedoch arbeiten sie der Zukunft zu.²⁵ Kritik hat für Schlegel immer auch die normative Funktion der Prüfung, Beurteilung und Veränderung der Gegenwart. Schlegel stellt der – kritischen und hermeneutischen – Philologie die Aufgabe, die Ganzheit der Antike in ihrer Entwicklung zu erkennen und darzustellen. Dies zielt, wie er in etwas späteren Notizen zur Philologie immer wieder präzisiert, auf die Erkenntnis der Geschichte.²⁶ Die der Antike gewidmeten Passagen des Studium-Aufsatzes zeigen, wie er hier vorgeht. Er identifiziert in einer historischen Rekonstruktion vier Perioden der griechischen Kultur, in denen ihr Gang sich vollziehe: die ionische, dorische, athenische und alexandrinische.²⁷ Die historische Abfolge orientiert sich an der Entstehung bzw. der ‚Blüte‘ der Gattungen: der
Vgl. etwa das Kapitel zur Philologie in Eschenburg, Wissenschaftskunde (21800), S. 15 – 45; auch Erduin Julius Koch in seiner Neubearbeitung von Sulzers Wissenschaftslehre von 1793: Inbegriff, S. 5. Siehe auch Patsch 1966, S. 447; Leventhal 1994, S. 284 f. Jure Zovko (1990, S. 18) stellt fest, dass Schlegel Hermeneutik und Kritik unter den „Oberbegriff der ‚Kritik‘“ subsummiert; vgl. darüber hinaus zum engen Zusammenhang von Philologie, Kritik, Hermeneutik und Geschichte bei Schlegel: Michel 1982, S. 35 – 83; Behrens 1984, S. 67– 112. Im Überblick: Eugeniusz Klin: Die hermeneutische und kritische Leistung Friedrich Schlegels. Wroclaw 1971. Philologie hat als Kritik die Aufgabe, die Antike als das klassische Zeitalter zu erkennen, das sie, entsprechend der Logik des Studium-Aufsatzes, gleichzeitig bereits ist und – durch die Konstruktionsleistung des Studiums – werden soll. Die Kritik ist also eine doppelte: Sie rekonstruiert, gleichzeitig aber ist sie normativ. Sie folgt der regulativen Idee, dass das Klassische sich in der Antike realisiert habe – wie es später in den Notizen zur Philologie heißt: dem „“; KFSA 16/1, S. 47; Nr. 143. Die spitzen Klammern bezeichnen einen Zusatz Schlegels. Die erläuternden Einschübe stammen vom Herausgeber Eichner.Vgl. auch die Interpretation von Zovko (1990, S. 19): Der „durch die hermeneutische Totalisation erschlossene, ‚klassische Sinn‘ darf wiederum nicht als etwas Statisches und Abgeschlossenes angesehen werden, sondern […] soll primär ‚progressiv‘, i. e. sich weiterentwickelnd konzipiert werden“. Vgl. etwa in den Fragmenten zur Philologie: KFSA 16/1, S. 67; Nr. 75: „Die Wissenschaft die aus der πλ[Philologie] entspringt heißt Historie.“ Studium, S. 332– 353. So schon im Aufsatz Von den Schulen der griechischen Poesie (1794). Zur Periodisierung der Antike vgl. Manfred Fuhrmann: Die Geschichte der Literaturgeschichtsschreibung von den Anfängen bis zum 19. Jahrhundert. In: Der Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Wissenschaftsgeschichte als Innovationsvorgabe. Hrsg. von Bernard Cerquiglini und Hans Ulrich Gumbrecht. Frankfurt am Main 1983, S. 49 – 72. Von Winckelmann an vgl. Glenn Most: Die Entdeckung der Archaik.Von Ägina nach Naumburg. In: Die Antike im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Bernd Seidensticker und Martin Vöhler. Stuttgart, Weimar 2001, S. 20 – 39.
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ionische Stil ist episch, die Lyrik dorisch, das Drama athenisch. Die „gelehrte[], künstliche[]“ (Studium, S. 349) Kultur der Alexandriner markiert den Übergang zur Kritik und damit den Verfall der griechischen Kultur.²⁸ Diese Entwicklung ist in jeder ihrer Stufen, auch im Verfall, notwendig. Sie belegt für Schlegel die Einheit der antiken Kultur und zeigt, dass sie in sich selbst ein „Ganzes“ ist, von einem „Geist“ durchwaltet.²⁹
3 Das Bedürfnis erzeugt seinen Gegenstand – Zum idealistischen Grund der Hermeneutik Die Antike hat sich damit dem modernen Betrachter als Ganzheit präsentiert. Ihr Gang ist notwendig, und er ist perfekt im doppelten Sinne des Wortes: vollkommen und in sich abgeschlossen, vergangen. Mit dem Erfolg der philologisch-historischen Arbeit setzt sich jedoch die schon genannte Dialektik in Gang. Der Gewinn an Erkenntnis bringt die Einbuße an Teilhabe. Dass dem modernen Betrachter die Antike als Ganzes in den untersuchenden Blick kommen kann, setzt ihn seiner eigenen Andersheit, seiner eigenen Modernität aus. Denn was folgt auf diesen in sich sinnvollen, klar bestimmten Abschnitt in der Geschichte? Der Moderne geht die vollendete Gestalt der Antike gerade ab. „Wo aber Gefahr ist, wächst / das Rettende auch.“ – dieser Vers aus Hölderlins Patmos-Hymne könnte auch über Schlegels Konzeption von Hermeneutik stehen. Denn der hermeneutische Blick verdeutlicht, wenn er sich vom Gegenbild ‚Antike‘ auf die Moderne selbst richtet, zwar die eigene Krise. Aber – so Schlegels Hoffnung – er übereignet dem selbstreflexiven Betrachter auch den Schlüssel für seine problematische Zeit. Betrachten wir ein letztes Mal den Einleitungssatz der Studium-Schrift, um Schlegels Gedanken nachzuvollziehen: „Es springt in die Augen, daß die moderne Poesie das Ziel, nach welchem sie strebt, entweder noch nicht erreicht hat; oder daß ihr Streben überhaupt kein festes Ziel, ihre Bildung keine bestimmte Richtung, die Masse ihrer Geschichte keinen gesetzmäßigen Zusammenhalt, das Ganze keine Einheit hat.“ (Studium, S. 217) Hier wird, wie es scheint, ein offener Horizont gezeichnet. Die Untersuchung könnte ergeben, dass die Moderne auf eine sinnvolle Erfüllung ihres eigenen Charakters hinausläuft. Es könnte aber auch sein, dass dieser Sinn nicht existiert, dass es ‚die Geschichte‘ als Kollektivsingular nach der In den Schulen der griechischen Poesie: „Gelehrsamkeit“; KFSA 1, S. 15. Vgl. etwa Studium, S. 347: „den Geist des Ganzen – die reine Griechheit soll der moderne Dichter welcher nach echter schöner Kunst streben will, sich zueignen“. Zur Kategorie des Organischen in Schlegels Geschichtsschreibung vgl. Neubauer 2003, S. 216 – 221.
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Ganzheit der Antike nicht mehr gibt, dass sich die Zukunft in eine chaotische Vielheit von Geschichten verlieren wird. Aber diese scheinbar offene Bestandsaufnahme erlaubt auch eine idealistische Lesart. Transzendentalphilosophisch betrachtet, enthält sie selbst schon die Antwort auf die Frage nach dem Schicksal der Moderne, die sie implizit stellt.³⁰ Wenn die menschliche Vernunft die Möglichkeit hat, einen Weg zu skizzieren, der zur Erfüllung der Geschichte führt, dann ist die Frage, ob dieser Weg auch beschritten werden kann, bereits dem Raum des bloß Zufälligen entrissen. Die Frage selbst enthält in sich die Aufforderung, so zu handeln, als ob dies der Fall wäre. Denn dieses Ziel kann sich niemals zufällig realisieren, sondern nur dadurch, dass der Mensch auf es hin handelt. Er brächte es dann nach und nach selbst hervor. Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Transzendentalphilosophie betrachtet, schließt Schlegel sich hier Fichte an. Für Kant wäre die theoretische Unerkennbarkeit des Ideals kategorisch von der praktischen Pflicht, doch auf es hin zu handeln, getrennt.³¹ Fichte jedoch versucht, Theorie und Praxis in seiner Wissenschaftslehre zu vermitteln. Die progressive Bildung von Erkenntnis wird hier selbst zu einem Teil der Praxis, die sich auf die Realisierung des Ideals hin bewegt.³² Dieses Ideal wäre die vollkommen intelligibel durchgearbeitete Welt, in der sich zeigen würde, dass die Struktur der Realität – die empirischen Objekte – dem Erkenntnismodus des Menschen – dem empirischen Subjekt – absolut entspricht. Der Gang der Wissenschaften, also der empirischen Erkenntnis des An-
Einleitend zu Schlegels transzendentalphilosophischer Konzeption: Andreas Arndt, Jure Zovko: Einleitung. In: Friedrich Schlegel: Schriften zur Kritischen Philosophie 1795 – 1805. Hrsg. von dens. Hamburg 2007, S. VII–LXIV. Ausführlich in seiner frühen Auseinandersetzung mit Fichte: Bärbel Frischmann: Vom transzendentalen zum frühromantischen Idealismus. J.G. Fichte und Fr. Schlegel. Schöningh 2005, S. 109 – 216; außerdem: Elizabeth Millán-Zaibert: Friedrich Schlegel and the Emergence of Romantic Philosophy. Albany 2007. Freilich konzipiert Kant die Ästhetik als eine Vermittlung, spricht aber dem ästhetischen Urteil Objektivität ab. Es vermittelt durch sein Urteilsverfahren selbst, nicht aufgrund der Gegenstände. Vgl. – neben der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794) – etwa die pointierte Formulierung in Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten (Jena und Leipzig 1794, S. 17 f.), die Schlegel gut bekannt waren: „Alles vernunftlose sich zu unterwerfen, frei und nach seinem eignen Gesetze es zu beherrschen, ist lezter Endzweck des Menschen; welcher lezte Endzweck völlig unerreichbar ist und ewig unerreichbar bleiben muß, wenn der Mensch nicht aufhören soll, Mensch zu seyn, und wenn er nicht Gott werden soll. Es liegt im Begriffe des Menschen, dass sein leztes Ziel unerreichbar, sein Weg zu demselben unendlich seyn muß. Mithin ist es nicht die Bestimmung des Menschen, dieses Ziel zu erreichen. Aber er kann und soll diesem Ziele immer näher kommen: und daher ist die Annäherung ins Unendliche zu diesem Ziele seine wahre Bestimmung als Mensch, d.i. als vernünftiges aber endliches, als sinnliches aber freies Wesen.“
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deren der Welt, ist integraler Teil der Praxis, durch die der Mensch sich und die Welt dem Ideal ihrer Identität annähert. Auf diese idealistische Vermittlung von Theorie und Praxis setzt auch Schlegel. Freilich erweitert er Fichtes Ansatz, indem er die ganze geschichtliche Welt in die Konzeption einer progressiven Wissenschaft mit einbezieht.³³ Die Frage nach der Moderne zielt auf ihr eigenes Schicksal als historische Epoche, und sie schärft die eigene Identität angesichts des Gegenbildes der historischen Einheit ‚Antike‘. Schlegels Implikation zufolge hieße es die Struktur menschlicher Erkenntnis verfehlen, wenn diese einerseits ein Ziel für ihre Entwicklung konstruieren könnte, gleichzeitig aber an dessen Einlösung verzweifeln wollte. Die Erkenntnis, die sich ein Ziel setzt, gibt sich gleichzeitig die Aufgabe, diesem Ziel handelnd, progressiv zuzuarbeiten. Die transzendentalphilosophische Konzeption, in der Erkenntnis und Praxis zur Deckung kommen sollen, bildet den theoretischen Leitfaden von Schlegels Aufsatz.³⁴ Und sie vertraut auf den hermeneutischen Zirkel und sein idealistisches Fundament: „Wären wir“, so schreibt Schlegel, erst über das Prinzipium [der] Bildung [der modernen Poesie; MGD] aufs Reine, so würde es vielleicht nicht schwer sein, daraus die vollständige Aufgabe derselben zu entwickeln. – Schon oft erzeugte ein dringendes Bedürfnis seinen Gegenstand; aus der Verzweiflung ging eine neue Ruhe hervor, und die Anarchie ward die Mutter einer wohltätigen Revolution. (Studium, 224).³⁵
Insofern unterscheidet sich Schlegels Konzeption radikal von derjenigen Fichtes. Dies bringt beispielsweise seine Selbsteinschätzung von 1800 zum Ausdruck: „Ich für Historie, was Goethe und Fichte für π[Poesie] und φσ[Philosophie]“; KFSA 16/1, S. 323; IX, Nr. 819. Zu Fichte und Schlegel vgl. die konzise Darstellung bei Zovko 1990, S. 42– 49. Einen ausgewogenen Vergleich beider Konzeptionen bietet Frischmann 2005; vgl. außerdem etwa: Brinkmann 1958, S. 358 f.; Kurt Röttgers: Fichtes Wirkung auf die Frühromantiker, am Beispiel Friedrich Schlegels. Ein Beitrag zur „Theoriepragmatik“. In: DVjs 51 (1977), S. 55 – 77, mit der angesichts des Studium-Aufsatzes (siehe dort S. 357 f. und pass.) allerdings unhaltbaren These eines „Desinteresses“ Schlegels an Fichte bis zum Jahr 1796 (Röttgers 1977, S. 57 u. ö.); Hannelore Link: Zur Fichte-Rezeption. In: Romantik in Deutschland. Hrsg. von Richard Brinkmann. Stuttgart 1978, S. 355 – 368; Behler 1982, S. 49 u. ö.; Behrens 1984, S. 77– 80, S. 113 – 121; Sieglinde Grimm: Von der sentimentalischen Dichtung zur ‚Universalpoesie‘. Schiller, Friedrich Schlegel und die ‚Wechselwirkung‘ Fichtes. In: SchillerJahrbuch 43 (1999), S. 159 – 187. So auch Mennemeier (2007, etwa S. 80 f.), wenn er den Begriff der objektiven Poesie im Studium-Aufsatz als regulative Idee beschreibt. Schlegel schließt eine Frage an: „Sollte die ästhetische Anarchie unsers Zeitalters nicht eine ähnliche glückliche Katastrophe erwarten dürfen?“ (Studium, S. 224). Es handelt sich um eine rhetorische Frage, denn der Studium-Aufsatz selbst ist die positive Antwort auf sie. Behrens (1984, S. 66 f.) verkennt dies und kommt so zu einer Fehleinschätzung des frühen Schlegel: Er verfüge
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Die Untersuchung des Charakters der modernen Poesie – also die Hermeneutik und Kritik der noch unabgeschlossenen Gegenwart – fördert einerseits die objektive Struktur ihrer Epoche zutage. Sie scheint in ihrer Mangelhaftigkeit entweder kein Ziel zu besitzen oder dieses erst noch erreichen zu müssen. Aber ihre Analyse und Durchdringung in Form von Erkenntnis legt mit dieser Mangelhaftigkeit gleichzeitig das epochale Bedürfnis frei: den Mangel zu überwinden, die Moderne ihrer Erfüllung entgegen zu bringen. Dadurch eröffnet es die praktische Perspektive auf das Ideal, so dass, wie Schlegel sagt, das Bedürfnis seinen Gegenstand erzeugen kann.³⁶ Die Hermeneutik der Gegenwart hat den Gegenstand, der das Bedürfnis erfüllen könnte, schon zutage gefördert, wenn auch negativ. Er liegt in diesem Bedürfnis selbst beschlossen. Denn das Bedürfnis, so die dem Platonischen Eros abgewonnene hermeneutische Figur,³⁷ weiß immer schon, wovon es befriedigt werden kann. Der Mangel ist der negative Abdruck der Fülle; er enthält eine Intuition der Erfüllung, die Sehnsucht leitet zu ihr hin.³⁸ Das Ideal, im Modus seiner Abwesenheit antizipiert, weist den Weg für die kommende Praxis.
hier, als ‚voridealistischer‘ ancien, noch nicht über einen Geschichtsbegriff, der ihm Prognosen über die Zukunft erlaube; ähnlich Grimm 1999, S. 169, 172. Eine ähnliche Formulierung Studium, S. 269: „Es ist wahrhaft wunderbar, wie in unserm Zeitalter das Bedürfnis des Objektiven sich allenthalben regt; wie auch der Glaube an das Schöne wieder erwacht, und unzweideutige Symptome den herannahenden bessern Geschmack verkündigen.“ Die gleiche Gedankenfigur findet sich auch in Über die Grenzen des Schönen (1794): „Unsere Mängel selbst sind unsere Hoffnungen: denn sie entspringen eben aus der Herrschaft des Verstandes, dessen zwar langsame Vervollkommnung gar keine Schranken kennt. Und wenn er das Geschäft, dem Menschen eine beharrliche Grundlage zu sichern, und eine unwandelbare Richtung zu bestimmen, beendigt hat, so wird es nicht mehr zweifelhaft sein, ob die Geschichte des Menschen wie ein Zirkel ewig in sich selbst zurückkehre, oder ins Unendliche zum Bessern fortschreite.“ KFSA 1, S. 35. Schlegel thematisiert den Platonischen Eros in den Lyceum-Fragmenten, KFSA 2, S. 155; Nr. 69. Vgl. Zovko 1990, S. 79 – 81; der Zusammenhang zur Anámnesis-Lehre ebd., S. 70. Die Rolle der Platon-Rezeption in der Entstehung der Hermeneutik beleuchtet vor allem der Band: Laks u. a. (Hrsg.) 2008. Siehe Kap. I.3.2. zu Droysen und Boeckh.Vgl. auch bei Droysen: „Historisch vermögen wir ein Fragment, eine Spanne dieser ethischen Welt zu erschauen und zu verstehen, aus dem Verständnis des Teils erschließt sich uns eine Ahnung des Ganzen, wovon es ein Teil ist; aus dem Bedürfnis der Totalität formt sich uns das Absolute, das Ewig-Gute, als die Vollendung der ethischen Weltordnung.“ (Historik, S. 38).
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4 ‚Zueignung‘ Schlegels Philologe ist gleichzeitig ein Kritiker der Antike und der Gegenwart. Indem er die Ganzheit der Antike herausarbeitet, konturiert sich die Intuition dessen, was der Gegenwart mangelt und was sie zur Erfüllung bringen würde. Entsprechend hat die Gegenüberstellung von Antike und Moderne im StudiumAufsatz mehrere Funktionen. Sie dient erstens der Erkenntnis der Antike selbst. Zweitens erhebt sie den Charakter der Moderne zu immer deutlicherer Sichtbarkeit. Drittens aber leitet sie zur Vermittlung beider hin, ermöglicht es der Moderne, in ihr Eigenes zu kommen, ihr spezifisches Ideal einer sinnvollen Zeit zu entwerfen und zum Leitfaden der zukünftigen Praxis zu machen. Den Prozess dieser Vermittlung durch die philologisch-historische Arbeit gilt es nun genauer in den Blick zu nehmen. Bislang war hauptsächlich von der Methode des Studiums die Rede, nicht jedoch von dessen Gegenstand. Die Antike ist für Schlegels Vorhaben jedoch kein zufälliges Objekt. Nicht jedes Studium kann die Moderne erfüllen, sondern nur das einer Epoche, die im präzisen Sinn ihr Gegenbild, ihr counterpart ist. Gerade die Konzentration auf die Antike als ein solches Gegenbild, deren exklusive Stellung in Schlegels früher Konzeption haben die Forschung dazu verführt, hier einen Klassizisten am Werk zu sehen. Schlegels Bild der Antike ist freilich emphatisch genug. Er deutet sie entschieden als Raum der Natur. Hier entwickelte sich die Kultur organisch, aus natürlicher Notwendigkeit heraus. Ein Bewusstsein der menschlichen Freiheit prägte sich erst im Laufe der Zeit aus.³⁹ Aber dies brachte die Kultur der Antike nicht in einen Gegensatz zur Natur. Vielmehr stimmte sie aus „eigner freier Neigung“ dem „allgemeinen Gesetze“ der Natur bei (Studium, S. 277). Freiheit und Notwendigkeit glichen sich auf dem Höhepunkt der griechischen Kunst aus, und so entstand das höchste Schöne, ein „Zustand des freien Spiels“ (Studium, S. 267). Auf diese Weise stellten die Griechen „reinste Menschheit“ (Studium, S. 277) nicht nur in der Kunst dar, sondern sie waren diese vollendete Humanität selbst. Der Ausgleich von Freiheit und Notwendigkeit prägte auch die Gesellschaft: Die athenische Demokratie lebte von einer Übereinstimmung des Einzelnen mit der Gesamtheit, der individuellen Neigung mit dem Ganzen. Die Antike ist für Schlegel eine durch und durch organische Kultur. Bis zum Ende gefährdete die entstehende Individualität nicht die Homogenität des Ganzen – und damit die Integrität des übergreifenden ‚Geistes‘ der Antike. Und bis zum Ende der Epoche brachte die Freiheit den naturnotwendigen Lauf der Geschichte nicht aus dem Gleichgewicht.
Vgl. Schlegels geschichtsphilosophische Interpretation der Begriffe Natur und Freiheit, Studium, S. 230.
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Die Entwicklung der Antike ist für Schlegel eine „Naturgeschichte“ (etwa Studium, S. 276), für die eben nicht gilt, was die Moderne prägt: Sie ist nicht primär von Freiheit, Wahl und Reflexion geleitet.⁴⁰ Die Moderne ist genau das, was die Antike nicht ist.Von Beginn an in Freiheit gesetzt (vgl. Studium, S. 232), verhält sie sich nach Begriffen, die sie eingesehen hat, nicht aus einer natürlichen Neigung. Die Natur leitet sie nicht mehr; die Gemeinschaft, das Ganze, fällt auseinander in orientierungslose Individuen und Partikularitäten. Der Preis von Freiheit, Wahl und Reflexion besteht gerade darin, dass ihnen Notwendigkeit und ein eigenes Schicksal zu fehlen scheinen. Die Moderne kann alles tun, was sie will. Nur zum Stillstand, zum Genuss, zur Schönheit, zur Einheit mit sich selbst, zum Bewusstsein von eigener Ganzheit und Abgeschlossenheit scheint sie nicht kommen zu können. Die Freiheit der Moderne erlaubt, ja, fordert eine stete Steigerung: mehr ‚Piquantes‘, ‚Choquantes‘ und ‚Frappantes‘ bietet immer größeren Kitzel.⁴¹ Aber diese Steigerung ist bloß quantitativ, sie lenkt kurzzeitig ab vom konstitutionellen Unwohlsein und vom Leid an der Selbsterkenntnis. Der Wille der Moderne nach Einheit mit sich selbst – ein qualitativer Sprung – scheint nicht befriedigt werden zu können. Schlegels emphatische Aufladung der Antike erklärt sich freilich aus der Musterhaftigkeit, die sie für die abendländische Tradition seit Jahrhunderten besaß. Aber gerade das diametrale Verhältnis beider Zeitalter bildet die Voraussetzung für den hermeneutischen Erkenntnisakt, der die geschichtsphilosophische Wendung der Moderne in die Erfüllung ihres Wesens ermöglicht. Die Entgegensetzung beider Zeiten bringt das Studium in Gang, das das Ziel verfolgt, die Antike als das Andere der Moderne zu durchdringen und zu erkennen, die antike Überlieferung im Detail zu studieren und den Geist des Ganzen zu erfassen. Die philologisch-hermeneutische Tätigkeit des Studiums aktualisiert dabei fortschreitend die Antike als Vorstellung in der Erkenntnis der Modernen. Mehr und mehr konstituiert sich im Studium der Antike ein Begriff von ihr. Die Moderne – so lautet ein zentraler Begriff des Studium-Aufsatzes – eignet sich damit die Antike zu. ⁴² Auf diese Zueignung eines Fremden zielt Schlegels philologisch-historische Reflexion. Die Erkenntnis des Anderen, das die Antike ist, wird bewusst als dessen Nach-Konstruktion im eigenen Denken verstanden, entsprechend Boeckhs spä-
Vgl. die anthropologischen Ausführungen, Studium, S. 229 – 231. Vgl. Schlegels Bestandsaufnahme der Moderne, etwa Studium, S. 255. Schlegel spricht durchgehend von ‚Zueignung‘, etwa Studium, S. 274, S. 282, S. 293 und pass.
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terer, berühmter Formel von der Philologie als ‚Erkenntnis des Erkannten‘.⁴³ Die Konstruktion im Geist aber, das Verstehen, bedeutet gleichzeitig die Realisierung der Antike in der der Moderne eigenen Domäne der Erkenntnis. Das, was die Antike – sich selbst unbewusst – war, kann nun zum Begriff erhoben werden. Als Begriff aber vermag es für das moderne Selbstverständnis leitend zu werden, denn dies ist die Hypothek der Moderne: dass sie sich selbst durch Reflexion bewusst ihre Richtung geben muss und kann. Durch das Verstehen freilich wird die Moderne nicht zur Antike; sie kann es nicht, denn wenn die Antike Schönheit und Objektivität durch natürliches Wachstum hervorgebracht hat, so die moderne Reflexionskultur durch bewusstes Verstehen der Antike. Der Begriff der Zueignung gibt dies präzise an: Denn die Moderne verwandelt sich nicht in ihr Anderes, sondern führt vielmehr dieses Andere mittels des Verstehens in sich ein. Gerade darin aber, dass die Zueignung des Ideals in Freiheit geschähe – und nicht mehr durch natürliche Notwendigkeit – liegt die eigene Würde der Moderne. Durch die Erkenntnis gibt sie selbst sich ihre Natur.⁴⁴ Die Erkenntnis der Antike – in ihrem Geist, als Ganzes, und im vielfältigen Detail, ‚in Masse‘ – soll den Modernen endlich wieder ein Schicksal verleihen; eines, dem sie sich in freier Entscheidung überlassen können. Die neue Mythologie, die Schlegels Ludoviko einige Jahre später im Gespräch über Poesie entwickelt, will in ihrem Kern nichts anderes. Die philologisch-historische Arbeit gibt der Moderne ein Schicksal – nicht mittels Nachahmung, sondern durch Verstehen und Zueignung, durch die Erkenntnis des Erkannten, die Verinnerlichung des Fremden im präzisen Sinne des Wortes. Im Durchgang durch die Reflexion sollen sich die scheinbaren Mängel der Reflexion aufheben. Die Gelehrsamkeit selbst soll die Schwäche des Gelehrten in Stärke umwenden. Aus der Kritik soll eine neue Blüte der Dichtung hervorgehen.
5 Kritische Avantgarde Gerade mit diesem reflexiven Schritt zöge die Moderne mit der Antike gleich: Offen für eine gestaltbare Zukunft, die aber doch durch ihr Ideal gesichert wäre, erschiene auch sie vor sich selbst als ein Ganzes. Schlegel buchstabiert mit seinem Konzept eines der prägenden Phantasmen der Zeit um 1800 aus: den Wunsch, dass
Vgl. oben, Kap. I.1.2., etwa S. 53. Auch Christian Benne deutet Schlegel in diesem Sinne: Nur als ‚Wissen‘, d. h. als ‚Erkanntes‘, hat Empirie für Schlegel eine Bedeutung; vgl. ders.: Friedrich Schlegels unveröffentlichte Sätze. In: ders. u. a. (Hrsg.) 2011, S. 15 – 39, hier S. 26. Als Schlüssel für diesen hermeneutischen Prozess und seine verändernde Kraft im StudiumAufsatz kann der Satz gelten: „Erkenntnis ist eine Wirkung der Natur im Gemüt“ (Studium, S. 267).
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das eigene Leiden an der Erkenntnis mittels der Erkenntnis selbst geheilt werden könne. Für diesen Punkt, an dem sich das Schicksal der Moderne erfüllte, wo die Zukunft als offen, aber doch gleichzeitig auch als geschlossen erschiene, als eine Art von futurum perfectum für die Moderne – für diesen Zeitpunkt prägt Schlegel jenen Begriff, der schon genannt wurde: die ‚ästhetische Revolution‘. Mit ihr verändert die Moderne ihre Gestalt. Die reflexive Haltung, die sich in der Position des Studiums zeigt und die das Signum der Moderne ist, verlöre ihre Ambivalenz: Sie überwände die Tragik, dass der Erkennende das Erkannte zwar reflexiv verfügbar macht, sich aber gleichzeitig als erkennendes Subjekt vom erkannten Objekt unterscheidet. Ästhetik und Dichtung spielen eine Schlüsselrolle auf dem Weg zur ästhetischen Revolution. Diese vollzöge sich einerseits in der Ästhetik; andererseits aber wäre sie auch eine ganzheitliche Revolution durch die Poesie. Dichtung ist nicht nur ein hervorragendes Symptom für den Zustand der Kultur, sondern gleichzeitig ein Agens zur Veränderung der Gesellschaft.⁴⁵ Sie – und hier schließt sich Schlegel Schillers ästhetischer Theorie an – versetzt den Menschen in den Zustand eines zweckfreien Spiels, in dem er, frei von Bedürfnissen, seiner selbst und damit auch seiner Bestimmung gewahr wird. Für Schlegel ereignet sich die Revolution in dem Moment, wo das Bewusstsein für Schönheit von den Einzelnen auf die Masse, auf die gesamte Gesellschaft übergreift, im ‚Ganzen‘ der Gegenwart und ihrem Geist herrschend wird (vgl. Studium, S. 262). Spätestens an diesem Punkt mag man fragen, wie Schlegel sich eigentlich die Einlösung dieser Revolution denkt. Und in der Tat liegt hier der neuralgische Punkt seiner Konzeption, der Punkt, in den sich gewissermaßen die eingangs beschworene Melancholie zurückgezogen und konzentriert hat. Es ist die Melancholie des Kritikers und Philologen, die sich – aufschlussreich genug – gerade als Phantasie seiner Größe manifestiert. Die Emergenz der Revolution geschieht nicht von selbst. Gerade das war die Einsicht Schlegels in die condition der Moderne. Sie hängt vielmehr von einer bewussten Praxis ab, deren Gestalt und Zweck die Moderne sich selbst gibt. Bevor sich die Revolution ereignet, braucht es also etwas, das alle disparaten Kräfte der Moderne zu ihr hinleitet. Schlegel nennt eine „absolute Gesetzgebung“ (Studium, S. 270), die für eine Übergangszeit der Kunst den Weg weisen müsse: „Sie hebt den Streit einzelner Schönheiten, und fordert Übereinstimmung aller nach dem Bedürfnis des Ganzen; sie gebietet strenge Richtigkeit, Ebenmaß und Vollständigkeit; sie verbietet das Manirierte, wie jede ästhetische Heteronomie: Mit einem
Zu den politischen Implikationen von Schlegels Theorie vgl. Behrens 1984, vor allem S. 139 – 159; Bräutigam 1986, S. 44– 76.
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Worte: ihr Werk ist die Objektivität.“ (Studium, S. 270 f.) Erst diese ‚Gesetzgebung‘ gäbe der Kunst die Richtung und führte, darüber hinausgehend, die Einzelnen zur rechten Erkenntnis des eigenen Bedürfnisses. Sie sorgte dafür, dass die Einzelnen sich zum Ganzen einer im Geiste zusammenhängenden Gemeinschaft formten, deren Charakter Objektivität und Schönheit wäre. Eine solche absolute Gesetzgebung für die Kunst wäre das „erste Organ“ (Studium, S. 272) der ästhetischen Revolution, eine veritable Avantgarde. Damit aber meint Schlegel nichts anderes als „die Theorie“ (Studium, S. 272). Aber nicht irgendeine Theorie bildet die Vorhut zur Revolution. Verstandesgeleitet war die moderne Kunst ja schon immer, aber sie ging fehl durch eine falsche, irrtümliche Theorie, die ihr eigenes Wesen, die Bestimmung der Kunst und des Menschen, noch nicht realisiert hatte. Schlegel spezifiziert die geforderte Theorie als „objektive ästhetische“ (Studium, S. 273). Nur sie kann aus sich selbst heraus die nachhaltige Anziehungskraft besitzen, die nötig ist, um nach und nach alle Einzelnen unter sich zu vereinigen. Denn auch, wenn die Theorie polemisch sein muss, um das Falsche zu zerstören – sie darf doch nicht despotisch sein. Die Zustimmung zu ihr muss, entsprechend dem Gesetz der Moderne, in Freiheit und durch Einsicht gegeben werden.⁴⁶ Schlegels ‚Theorie‘ im Studium-Aufsatz enthüllt der Kunst und der Gesellschaft ihr wirkliches Wesen, weist ihnen ihr eigentliches Interesse. In der ästhetischen Revolution gewönnen diese von sich selbst her ein solches Übergewicht, dass die Entwicklung auch ohne die Avantgarde fortschritte. Die Revolution wäre der Punkt der Emergenz, von dem an die Massen der Moderne sich unaufhaltsam zu einem Ganzen formieren würden. Die Theorie als Avantgarde wäre dann überflüssig, sie ginge über in das entstehende Ganze. Bis dieser Punkt eintrifft, diktiert einstweilen der Theoretiker – also der Kritiker im Sinne des aufklärerischen Literatursystems –⁴⁷ dem Künstler. Die Herrschaft der Theorie über die Kunst endete an dem Punkt, wo sich ein „objektive[s] System[] der praktischen und theoretischen ästhetischen Wissenschaften“ (Studium, S. 358) herausgebildet hätte und die objektive ästhetische Theorie in die Kunst
Sie muss „von der Majorität der öffentlichen Meinung anerkannt und sanktioniert“ werden (Studium, S. 273). Dass Schlegel die Theorie als despotisch konzipiert, ist ein verbreitetes Missverständnis der Forschung. Die Tätigkeiten der ‚Theorie‘, die Schlegel auch als „ästhetische[] Theorie“ (etwa Studium, S. 221) qualifiziert, lassen sich implizit aus dem Studium-Aufsatz entfalten: Sie stellt „Gesetze“ auf, die „Gehorsam“ fordern; deren normative Autorität fließt aus der „Erklärung“ der „Natur der Dichtkunst“, also aus ihrer Erkenntnis. Nicht zuletzt die Erkenntnis und „Einteilung ihrer Arten“, also die Theorie der Gattungen, ist eine ihrer Hauptaufgaben. Vgl. dazu Peter Szondis grundlegende Arbeiten: ders. 1978; ders. 1974, S. 7– 184.
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eingegangen wäre. In diesem Gedanken wird Schlegels Ausgang von Fichtes „kritische[r] Philosophie“ (Studium, S. 357 f.) einmal mehr sichtbar. Die vollständige Formulierung eines Wissenssystems überwände gleichzeitig – idealiter – die Trennung von Theorie und Praxis, von Kunst und Kritik. Das von der Theorie zu erfassende Objekt wäre gänzlich im Geiste konstruiert. Damit aber handelte es sich nicht mehr um ‚bloße‘ Theorie, sondern diese würde sich als Realität ausweisen. Sie hätte auch die praktisch verbindliche Kraft einer evidenten Wahrheit gewonnen,⁴⁸ wäre Selbsterkenntnis des Menschen in seiner wesentlichen Eigenschaft, Poesie hervorzubringen. Die Dichtung selbst wäre dann Aktualisierung und Realisierung des menschlichen Wesens, also ebenfalls dessen Erkenntnis und Darstellung. Beide hätten sich, nach einer Vollendung der Theorie der Poesie, identifiziert: Sie wären ineinander übergegangen. In den Fragmenten und den Schriften der folgenden Jahre verfolgt Schlegel diesen Gedanken einer idealen Identität von Theorie, Kritik und Poesie weiter.⁴⁹ Aber es ist freilich nicht die ästhetische Theorie allein, der Schlegel diese Überzeugungskraft und Konvergenzleistung mit der Kunst zutraut. Theorie „allein würde leer sein“ (Studium, S. 273). Sie wäre der Kunst und der Realität nicht angemessen, beruhen beide doch gerade auf „Anschauung“ und „Erfahrung“ (ebd.). Die Theorie bietet eine Matrix für deren „Ordnung“ (ebd.), aber sie liefert nicht Anschauung und Erfahrung selbst. Und als ‚realitätsleere‘, ‚falsche‘ Theorie könnte sie auch nicht die unmittelbare, notwendige Wirkung, die Überzeugungskraft haben, die Schlegel seiner „objektiven Theorie“ (ebd.) zuspricht. Hier sieht er einen wichtigen Grund für das bisherige Scheitern der Moderne. Die wahre Theorie muss mit Anschauung, Erfahrung und Realität gesättigt sein, damit sie sich im Laufe ihrer Vollendung selbst als Realität ausweisen kann. An diesem Punkt greift Schlegels Konzept des Studiums wieder ein. Denn die Theorie würde „nur in Verbindung mit einer vollkommnen Geschichte […] die Natur der Kunst und ihrer Arten vollständig kennen lehren“ (ebd.). Die Theorie braucht die Erfahrung und Anschauung einer Realität, in der sich die objektive Kunst, zu der sie hinführen will, schon einmal verwirklicht hat. Sie braucht, kurz gesagt, die Antike, vermittelt durch deren philologisch-historisches Studium.⁵⁰
Immer wieder formuliert Schlegel auch in den folgenden Jahren den Gedanken, dass der Idealismus einst in einen Realismus übergehen werde, etwa KFSA 2, S. 315 (Gespräch über die Poesie, Ludoviko). So auch sein Bruder August Wilhelm, etwa in den Berliner Vorlesungen von 1801/02 (ders.: Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. In: ders.: Vorlesungen über Ästhetik I. Hrsg. von Ernst Behler. Paderborn u. a. 1989, S. 179 – 472); für diesen Hinweis danke ich Héctor Canal. An seinen Bruder schreibt Schlegel später: „Mich ekelt vor jeder Theorie die nicht historisch ist“ (Brief vom 6. März 1798; KFSA 24, S. 97); pointiert im Gespräch über die Poesie (Andrea): „die
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Diese Theorie lässt sich nicht allein anhand der Beobachtung einer überzeitlichen Vernunft oder der menschlichen Wahrnehmung konstruieren, wie es die rationalistische Poetik und die Ästhetik der Aufklärung wollten. Sondern sie benötigt die Geschichte, das wirklich Geschehene, um in rechter Weise aufgestellt und legitimiert zu werden. Erst dem geschichtlichen Faktum kommt die Evidenz zu, die der idealen Theorie allein abgeht: diejenige des Realen. In der Geschichte hofft Schlegel das notwendige Gegenstück zur theoretischen Idee des menschlichen Bewusstseins zu finden. Wenn Fichtes Idealismus darin besteht, dass die Idee in einem unendlichen Progress in die Wirklichkeit übertragen werden soll, so sucht Schlegel nun eine vorgängige, historische Bekräftigung für diese Anstrengung: das Ideal hat sich bereits einmal realisiert. Erst die Erkenntnis einer vollkommenen Vergangenheit erschlösse einer unglücklichen Gegenwart die Zuversicht auf eine Wendung ihres Schicksals in der Zukunft. Die Gewissheit einer wohlgeordneten, harmonischen Historie verliehe der Gegenwart die Kraft, so zu handeln, als ob ihr eigenes Schicksal ebenfalls in einem harmonischen Lauf geborgen wäre. Erst so könnte sie das Richtmaß gewinnen, das sie braucht, um sich auf diesen Weg zu begeben. Schlegels Modell des Studiums ist also in seinem Kern performativ.⁵¹ Es bringt das Ideal, dem es sich verpflichtet, selbst hervor. Die Performanz kommt nur ‚in Gang‘, wenn es der Moderne gelingt, sich selbst ein Fundament gleichsam zu imaginieren. Der Entschlossenheit, die Geschichte der Gegenwart zu einem sinnvollen Ganzen zu formen, muss der Glaube an einen sinnvollen Lauf der Geschichte vorausgehen; der Mut, das Seiende zu beeinflussen, erfordert die Überzeugung, diesem sei ein entsprechendes Sollen eingeschrieben. Eben die Hervorbringung dieses Glauben an ihr eigenes Schicksal hofft Schlegel der philologisch-historischen Arbeit aufbürden zu können. In der Zeit des Studium-Aufsatzes meinst dies konkret die Antike: Ihr Studium soll nach Schlegel nichts weniger leisten als belegen, dass die Erfüllung der Geschichte, nach der die Moderne zu streben lernen soll, bereits einmal Realität geworden sei. Die Antike, die mittels des Studiums (re‐)konstruiert werden soll, wird für Schlegel zu nichts Geringerem als zu einem Wunder – und dies im strengen Wortsinne. In der Antike, so versichert er, „wandelt die Gottheit […] in irdischer Gestalt“ (Studium, S. 275), sie ist ein „höchste[s] ästhetische[s] Urbild[]“ (Studium, S. 274). Dem philologischhistorischen Studium traut Schlegel zu, in zunehmender Erkenntnis der Antike dieses Wunder zu begreifen, es zu vermitteln und damit seine Kraft auf die Ge-
Wissenschaft der Kunst ist ihre Geschichte“; KFSA 2, S. 290.Vgl. dazu Behler 1993,vor allem S. 196 – 205. So auch Leventhal 1994, S. 263.
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genwart zu übertragen. Das Bild der wandelnden Gottheit kann nicht wörtlich genug verstanden werden: Was kann den modernen Menschen zu dem Glauben bringen, seine eigene Geschichte sei einer Erfüllung fähig – wenn nicht die Epiphanie eines Gottes und die Zeugenschaft seines realen Wandelns auf der Erde? Der „Historiker“, so lautet ein berühmtes Athenaeum-Fragment Schlegels, „ist ein rückwärts gekehrter Prophet“.⁵² Es fasst präzise die Struktur der ästhetischen Revolution in sich. Mit der Erkenntnis der Vergangenheit antizipiert der philologisch-historische Blick die Zukunft. Und durch deren Antizipation will er erreichen, dass die Gegenwart diese Wendung der Geschichte auch tatsächlich auf den Weg bringt. Zur Poesie aber gewinnt Schlegels Kritiker ein entschieden ambivalentes Verhältnis. Der Studium-Aufsatz illustriert dies dort, wo er über die zeitgenössische Dichtung spricht. Schlegel konstatiert für die deutsche Kultur seit dem 18. Jahrhundert insgesamt einen Aufschwung. Winckelmann, Lessing, Herder, Goethe, Klopstock, Wieland und Schiller förderten ihn jeweils auf ihre Weise. Es sei vor allem das „Studium der Griechen“, das ihre Leistungen ermöglicht habe (vgl. Studium, S. 364) und durch das sich die deutsche zeitgenössische Kultur von derjenigen anderer Nationen unterscheide. Insbesondere in Goethe sieht Schlegel ein Ausnahmephänomen. Denn seine Poesie, so postuliert er, stehe „in der Mitte zwischen dem Interessanten und dem Schönen, zwischen dem Manirierten und dem Objektiven“ (Studium, S. 261). In ihr wird also bereits ein Vorschein der zu erstrebenden objektiven Kunst der Moderne sichtbar, ein Lichtstrahl der Revolution. Aber Schlegel lässt keinen Zweifel daran, dass die Gegenwart die ästhetische Revolution noch nicht erlebt hat. Der Zeitpunkt steht noch aus, an dem die Tendenz zum Objektiven genügend Kraft gewonnen haben wird, um sich von selbst fortzuzeugen. Das Studium – die Arbeit der Reflexion, der Philologie, Hermeneutik und Theorie – hat seine Aufgabe erst noch zu leisten. Goethe wird damit nicht zum Agenten der Revolution, sondern zum „Symptom“ (Studium, S. 260), zum Zeichen der Zeit. Die philologisch-historisch fundierte Kritik muss ins Mittel treten, um die Leuchtkraft, jenen Vorschein des Objektiven in Goethes Werk, erst sichtbar zu machen. Das reale Produkt des gegenwärtigen Dichters erhält sein volles Licht erst durch eine Zukunft, die jener Kritiker bereits vorweggenommen hat. Er ist der Prophet einer zukünftigen Dichtung, die vorerst nur durch ihn erscheinen kann. Die romantische Ästhetik der Progression, wie sie Schlegel entwirft, enthält also ein Machtspiel mit dem Dichter. Poesie ist ihr als Medium der ästhetischen
KFSA 2, S. 176; Athenaeum-Fragment Nr. 80. Vgl. oben, Kap. I.3.2., S. 106.
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Revolution unendlich wertvoll. Subkutan aber unternimmt sie eine Apotheose des (philologisch-historischen) Kritikers. Nur er wäre in der Lage, das reale Wandeln des Gottes in der Geschichte progressiv zu erkennen und dem Publikum zu vermitteln. Nur er entwickelt die Theorie, die sich der philologisch-historischen Erkenntnis anschmiegt, sich aus ihr entfaltet. In einer Zeit, wo die Dichtung nicht von selbst ihre zentrale Rolle einnehmen kann, schafft er allein jenen Glauben an die Erfüllung des modernen Schicksals in Gegenwart und Zukunft, der für die performative Wendung dieses Schicksals notwendig ist. Der Kritiker ist ein Lehrer der Dichtung in der Moderne, so wie für Fichte der Gelehrte überhaupt „der Lehrer des Menschengeschlechtes“ ist.⁵³ Erst im Zeitpunkt der ästhetischen Revolution hätte die Kritik ihren Zweck erreicht. Sie wäre dann jedoch mit der Dichtung identisch geworden. Bis dies eingetreten ist, dient der Kritiker einer zukünftigen Poesie der Moderne, indem er der defizitären Dichtung der Gegenwart diktiert.
6 Konzertierte Aktion – Nach dem Studium-Aufsatz Im Studium-Aufsatz bestimmt Schlegel eine Reihe von „Handgriff[en]“ (Studium, S. 359), die es dem Kritiker erlauben, die Zukunft der Moderne auf ihre Gestaltbarkeit hin zu öffnen. Die objektive Theorie soll die Dichtung anleiten und darüber hinaus das Verständnis für Kunst selbst befördern. Komplementär zu ihr verhält sich der philologisch-historische Rückblick auf die Antike. Die Geschichte der antiken Literatur und Kultur zu schreiben und zu studieren, eröffnet die Einsicht, dass Kulturen einen ‚Geist‘ und damit eine Logik besitzen, wie sie die Moderne für sich selbst aktualisieren muss.⁵⁴ Die Philologie – im engen Sinne eines Studiums des Einzelnen – geht vom einzelnen Werk aus, vom konkreten Artefakt. Sie rekonstruiert im Detail seine Entstehung und Überlieferung. Damit bildet sie das mikrologische,⁵⁵ empirische Gegenstück zur Erkenntnis der Geschichte als ganzer. Die Kritik schließlich wendet einen normativen Blick auf die Überlieferung, sie kanonisiert und macht die Kunstwerke für eine Theorie der Gattungen fruchtbar. Hier schließt sich der Kreis wieder. Alle diese Anstrengungen zusammengenom-
Fichte, Bestimmung, S. 91. Vgl. neben der Anm. 7 genannten Literatur noch Günter Niggl: Die Anfänge der romantischen Literaturgeschichtsschreibung. Friedrich und August Wilhelm Schlegel. In: ders.: Studien zur Literatur der Goethezeit. Berlin 2001, S. 247– 263. Niggl rekapituliert die Entwicklung von Schlegels Arbeiten allerdings anachronistisch aus der Sicht einer schon voll entfalteten literaturwissenschaftlichen Praktik; er beschreibt, was Schlegel ‚schon‘ erkennt bzw. was er ‚noch nicht‘ einsieht. Zur Aufwertung der Mikrologie im Kontext der Entstehung eines philologischen Blicks auf noch lebende Autoren vgl. Martus 2007, S. 348 f., zu Schlegel S. 383 f.
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men bilden die Fluchtlinien, an deren Konvergenzpunkt das objektive Schöne leitend werden und schließlich zur ästhetischen Revolution führen kann. Schlegel selbst arbeitet in dieser Zeit intensiv an allen diesen ‚Fronten‘, die der Studium-Aufsatz eröffnet. Er unternimmt geradezu eine konzertierte Aktion, die zu einer neuen Dichtung, zu einer neuen Kultur führen soll. Der Studium-Aufsatz macht kein Hehl daraus, dass er sich selbst als performativ wirksames Moment auf dem Weg zu einer objektiven Theorie versteht. Er soll hervorbringen helfen, wovon er spricht. Der Band Die Griechen und Römer, in dem er 1797 erscheint,⁵⁶ enthält außerdem noch zwei weitere Studien. Die Aufsätze Über die Diotima und Über die weiblichen Charaktere in den griechischen Dichtern stehen in einer Reihe mit anderen Studien Schlegels, die sich vor allem mit der Deutung einzelner Texte und ihrer Übersetzung ins Deutsche befassen.⁵⁷ Diese Arbeiten liefern Fragmente und Paradigmen für das Studium. Sie vertiefen sich in das Detail, gewinnen daraus aber einen Blick auf das Ganze. Bezeichnenderweise sind Die Griechen und Römer als Sammelwerk angelegt, gewissermaßen progressiv. Weitere Bände sollten folgen und Detail an Detail reihen. Das Unternehmen entwirft sich in die Zukunft, auf den Punkt zu, wo die ganze Antike im Detail erkannt und in Masse verstanden sein würde. Nach dem ersten Band erschien jedoch kein zweiter. Die Historischen und kritischen Versuche über das Klassische Alterthum – so der Untertitel – wurden durch das Athenaeum fortgesetzt bzw. ersetzt. In der zweiten Hälfte des Jahre 1797 plante Schlegel eine Reihe von Schriften über die „Philosophie der Philologie“, die er Niethammer für dessen Philosophisches Journal in Aussicht stellte.⁵⁸ Sie kamen nicht zustande. Erhalten haben sich jedoch zwei Notizhefte mit Eintragungen, Gedanken und Vorstudien. Zum Teil sind diese in die Kritischen Fragmente des Lyceum bzw. in die Fragmente des Athenaeum eingegangen. Schlegel bemüht sich hier um eine Philosophie der Philologie: Er will die philologische Arbeit am Detail mit einer Reflexionskraft ausstatten, die sie in die progressive, transzendentalphilosophisch gestützte Bewegung auf den kulturellen Umschwung hin einbindet. Neben vielem anderen skizziert Schlegel hier auch den hermeneutischen Zirkel als Erkenntnismodus der Philologie. Mittels Kritik und Hermeneutik sollen die überlieferten „Urkunden […]
Die Griechen und Römer. Historische und kritische Versuche über das Klassische Alterthum, von Friedrich Schlegel. Erster Band. Neustrelitz 1797. Etwa Der Epitaphios des Lysias und das Kunsturteil des Dionysios über den Isokrates, beide 1796 in Wielands Attischem Museum erschienen; außerdem die Elegien aus dem Griechischen und die Idyllen aus dem Griechischen, die beide im Athenaeum gedruckt wurden. Vgl. Schlegels Brief an Niethammer, 26. August 1797; KFSA 24, S. 11 f. Vgl. zum weiteren Entstehungskontext Hans Eichner in: KFSA 16/1, S. XVI–XVIII. Eichner datiert die Hefte insgesamt auf den Zeitraum von Mitte bis Ende 1797.
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berichtigt und erklärt werden.“⁵⁹ Beide aber sind immer schon aufeinander bezogen: „Antinomie. Sie sollen erst berichtigt und dann erklärt werden und umgekehrt. – Beydes zugleich zu thun ist die Sache des ϕλ[philologischen] Genies.“⁶⁰ Die Zirkelstruktur ist auch im Verhältnis zur Erkenntnis der Geschichte, also des Ganzen, wirksam: „Die historische Kenntniß des Alterth.[ums] erfodert eigentlich, daß die Kritik schon vollendet sey und die Hermeneutik/ Diese beiden Arten der Philologie sind also in Wechselwirkung.“⁶¹ Kern der Philologie ist das „Interesse für bedingtes Wissen“,⁶² für die Überlieferung. Sie ergänze damit die Philosophie, die Wissen des Unbedingten und damit unhistorisch sei.⁶³ Indem sie die Erkenntnis des Details mit einer solchen des Ganzen vermittelte, laufe sie auf Kenntnis der Geschichte, aber auch auf eine Philosophie der Geschichte hinaus: „Der Zweck der Philologie ist die Historie.“⁶⁴ Entsprechend stellt Schlegel neben die Studien zur einzelnen, bedingten Überlieferung und neben die Theorie der Philologie die Geschichtsschreibung. 1798 legt er seine Geschichte der Poesie der Griechen und Römer vor.⁶⁵ Wieder markiert Schlegel den Band als Beginn eines fortschreitenden Großprojektes: „Ersten Bandes erste Abtheilung“, so verheißt das Titelblatt. Schlegel dachte auch tatsächlich in den folgenden Jahren immer wieder über eine Fortsetzung nach – die grundsätzliche Richtung, die er mit seiner Auffassung von den historischen Studien eingeschlagen hatte, behielt er bei. In der Geschichte wird nun detaillierter ausgeführt, was der Studium-Aufsatz knapp skizziert hatte. Sie setzt dazu an, die Entwicklung der antiken Poesie durch ihre unterschiedlichen Gattungen und Stufen tatsächlich zu schreiben. Die Poe-
KFSA 16/1, S. 63; Philologie I, Nr. 39. Zusatz Schlegels zu Nr. 39, wie oben. Einschub vom Herausgeber Hans Eichner. Diese Antinomie stellt Schlegel öfter heraus, so etwa auch KFSA 16/1, S. 55; Philologie I, Nr. 236: „Ueber den Primat der Kritik oder der Hermeneutik findet eine wahre Antinomie Statt [sic!]“, vgl. dazu Santoli 1985, S. 47; Patsch 1966, S. 451; Arndt 1997, S. 6. Zur Genialität des Auslegers vgl. Kap. I.3.2. KFSA 16/1, S. 38; Phil. I, Nr. 44. Der von Eichner eingesetzte Schrägstrich bezeichnet ein Zeilenende; das Satzzeichen fehlt. KFSA 16/1, S. 46; Phil. I, Nr. 137. Zusatz Schlegels zu KFSA 16/1, S. 36; Phil. I, Nr. 18: „“. Die Zusätze notierte Schlegel auf einem freigelassenen Rand seiner Hefte neben der ersten Schicht. Der Schriftduktus der Zusätze scheint nicht wesentlich von demjenigen der Grundschrift abzuweichen (vgl. die Abbildungen in KFSA 16/1, nach S. XVI). KFSA 16/1, S. 37; Phil. I, Nr. 27. Vgl. dazu Guido Naschert: „Klassisch leben“. Friedrich Schlegels Geschichte der Poesie der Griechen und Römer (1798) im Kontext von Altertumswissenschaft und kritischer Philosophiehistorie. In: Kunst und Wissenschaft um 1800. Hrsg. von Thomas Lange und Harald Neumeyer. Würzburg 2000, S. 175 – 193.
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siegeschichtsschreibung, wie Schlegel sie konzipiert, ist ein Versuch, die philologische Detailarbeit zu synthetisieren. Sie liefert eine Hypothese zu dieser Geschichte auf dem Grund des zeitgenössischen Erkenntnisstandes. Schlegels Arbeiten der Jahre nach 1795 bilden also selbst ein Modell für das Studium. Die konzertierte Aktion von Theorie, Kritik, Philologie und Historie soll den Weg zur Revolution ebnen; die emergierende Dichtung wäre ihre Folge, bleibt aber freilich in die Zukunft verschoben. Dieser Gedanke, dass sich unterschiedliche Anstrengungen gegenseitig anregen und ergänzen müssen, um die neue, moderne Dichtung hervorzubringen, ist eine Konstante in Schlegels Denken über die Jahrhundertwende hinweg.
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2 Wandlungen der Kritik – Das Kalkül der Formen 1 Ironie Dennoch besteht zwischen dem Studium-Aufsatz und den Arbeiten der folgenden Jahre ein Bruch. Schlegel benennt ihn selbst in einer Kritik an der eigenen Schrift. Er übt sie nur wenige Monate, nachdem diese erschienen war,⁶⁶ in den LyceumFragmenten: „Mein Versuch über das Studium der griechischen Poesie ist ein manirierter Hymnus in Prosa auf das Objektive in der Poesie. Das Schlechteste daran scheint mir der gänzliche Mangel der unentbehrlichen Ironie und das Beste, die zuversichtliche Voraussetzung, daß die Poesie unendlich viel wert sei; als ob dies eine ausgemachte Sache wäre.“⁶⁷ Schlegel reflektiert hier Momente der Kontinuität und des Bruches im eigenen Werk. Die Hochschätzung der Poesie erscheint ihm als ein haltbarer Zug des Studium-Aufsatzes.⁶⁸ An der Setzung, dass sich das Schicksal der Moderne mit der Entstehung einer ihr gemäßen Poesie wenden könne, hält er fest. Unbehagen erregt ihm jedoch die ‚Maniriertheit‘ seiner vergangenen Arbeit, vor allem aber ihr Mangel an Ironie. Gerade diese bezeichnet er nun als unentbehrlich. Die Selbstkritik richtet sich weniger auf den Gehalt seines Aufsatzes als auf seine Form – und sie gilt gewiss nicht seiner Intention: die Genese jener unendlich wertvollen Poesie in der Moderne befördern zu wollen. Der Begriff der Ironie stand oft im Zentrum des Interesses am frühromantischen, kanonisierten Schlegel. Die Forschung muss hier nicht aufgearbeitet werden.⁶⁹ Entscheidend ist eine andere Frage: Was folgt aus Schlegels Forderung nach Ironie für sein Denken über das Verhältnis von Kritik bzw. Philologie und
Die Griechen und Römer erschien Ende Januar 1797 (vgl. Behler, KFSA 1, S. CIXVII), das zweite Heft des Lyceum im Herbst darauf. KFSA 2, S. 147 f.; Lyceum-Fragment Nr. 7. Elemente einer Theorie der Poesie bzw. Poetik arbeitet heraus: Ernst Behler: Die Poesie in der frühromantischen Theorie der Brüder Schlegel. In: Athenaeum 1 (1991), S. 13 – 40; allerdings blendet er hier die philologisch-historische Reflexion genauso aus wie die technische, künstlerische, metrische Seite. Hervorragend ist die Darstellung von Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen. Frankfurt am Main 1994, S. 287– 379. Darüber hinaus sei verwiesen auf: Uwe Japp: Theorie der Ironie. Frankfurt am Main 1983; Rüdiger Bubner: Zur dialektischen Bedeutung romantischer Ironie. In: Die Aktualität der Frühromantik. Hrsg. von Ernst Behler und Jochen Hörisch. Paderborn 1987, S. 85 – 95. Guido Naschert (2000) plädiert für eine Ablösung des Ironiebegriffs durch das (in gewisser Weise komplementäre) Konzept des Enthusiasmus.Während ich seiner Kritik an der Überbewertung der Ironie ohne weiteres zustimmen kann, scheint mir die Enthusiasmus-These einer weitergehenden Begründung zu bedürfen.
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Dichtung; und welche Rolle weist er in dieser neuen Konstellation seinem eigenen Schreiben zu? Schlegels Selbstkritik bezieht sich zuerst auf die Form, d. h. darauf, wie der Studium-Aufsatz seine Gedanken entwickelt, und auch auf das Wirkungskalkül, das er damit verbindet. Die Revolution sollte durch das progressive Verstehen von Moderne und Antike hervorgebracht werden, außerdem durch eine Theorie der Dichtung, also einen diskursiv entwickelten Begriff von ihr. Der Studium-Aufsatz selbst verstand sich als Ansatz zu einer solchen Theorie. Dagegen stellt Schlegel nicht primär eine neue Konzeption des Zusammenhangs von Kritik und Dichtung, sondern eine andere Art zu sprechen. Im Lyceum heißt es zur Sokratischen Ironie, die Schlegel als Modell ansieht: Sie enthält und erregt ein Gefühl von dem unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und des Bedingten, der Unmöglichkeit und Notwendigkeit einer vollständigen Mitteilung. Sie ist die freieste aller Lizenzen, denn durch sie setzt man sich über sich selbst weg; und doch auch die gesetzlichste, denn sie ist unbedingt notwendig.⁷⁰
Entscheidend ist, dass die Ironie als Sprechakt gleichzeitig etwas sagt und etwas zeigt. Manfred Frank hat dies überzeugend entwickelt.⁷¹ Die ironische Rede stellt eine Behauptung auf, enthält aber gleichzeitig eine gegenläufige Botschaft über das Gesagte. Sie zeigt etwa, dass das, was sie als notwendig behauptet, unmöglich ist (oder umgekehrt). Logisch gesehen, inszeniert die Ironie eine Antinomie; als Sprechakt zielt sie auf das Paradox – jedoch nicht, indem sie das Paradox diskursiv entwickelt, sondern indem sie es im Adressaten als „Gefühl“ „erregt“ (s.o.). Dies ist entscheidend, denn so gewinnt die Ironie für Schlegel ihre transzendentale bzw. kritische Komponente. Mit ihrer Struktur bezieht sie sich grundsätzlich auf die menschliche Sprache und Erkenntnis. Indem sie gleichzeitig die Unmöglichkeit und die Notwendigkeit einer vollständigen Erkenntnis inszeniert, soll sie im Adressaten als Gefühl genau das hervorbringen, was der StudiumAufsatz mit jener voll entfalteten ästhetischen Theorie bewirken wollte: Die Ironie soll die Einsicht ermöglichen in die Notwendigkeit, so zu handeln, als ob eine per se unrealisierbare Idee gleichzeitig doch durch dieses Handeln progressiv verwirklicht werden könne. Was im Studium-Aufsatz theoretisch entwickelt werden
KFSA 2, S. 160; Lyceum-Fragm. Nr. 108. Zu Schlegels Ironie als Interpretation der Sokratischen vgl. Gerhard Kurz: Der Roman als Symposion der Moderne. Zu Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie. In: Wo das philosophische Gespräch ganz in Dichtung übergeht. Platons Symposion und seine Wirkung in der Renaissance, Romantik und Moderne. Hrsg. von Stefan Matuschek. Heidelberg 2002, S. 63 – 79. Vgl. Frank 1994, etwa S. 311.
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sollte, ist in eine Figur des Sprechens eingefaltet worden. Die Ironie vertraut nicht allein auf den erkennenden Nachvollzug einer ausformulierten Theorie, sondern sie setzt vor allem auf die Erfahrung, die sie dem Adressaten vermittelt – die Erfahrung, zwischen den paradoxen Polen der ironischen Mitteilung zu ‚schweben‘, da ihre diskursiven Gehalte sich gegenseitig auflösen. „Hat man nun einmal die Liebhaberei fürs Absolute und kann nicht davon lassen: so bleibt einem kein Ausweg, als sich selbst immer zu widersprechen, und entgegengesetzte Extreme zu verbinden. Um den Satz des Widerspruchs ist es doch unvermeidlich geschehen, und man hat nur die Wahl, ob man sich dabei leidend verhalten will, oder ob man die Notwendigkeit durch Anerkennung zur freien Handlung adeln will“ – so schreibt Schlegel in einem der Blütenstaub-Fragmente aus dem Athenaeum. ⁷² Die neue kritische Sprechweise, die Schlegel entwickelt, nimmt keineswegs den Anspruch des Kritikers zurück, bildend auf die Poesie einzuwirken. Im Gegenteil – indem sie den Aktcharakter des Sprechens stärkt, unterstreicht die Ironie die performative Wirkung der Kritik, die Vorstellung, dass sie entscheidend zu der Emergenz einer genuin modernen Poesie beitragen muss. Ja, als doppelbödiger, wirkungsvoller Sprechakt wird die Kritik selbst poesieförmig: „Poesie kann nur durch Poesie kritisiert werden. Ein Kunsturteil, welches nicht selbst ein Kunstwerk ist, entweder im Stoff, als Darstellung des notwendigen Eindrucks in seinem Werden, oder durch eine schöne Form, und einen im Geist der alten römischen Satire liberalen Ton, hat gar kein Bürgerrecht im Reiche der Kunst.“⁷³ Umgekehrt – so formuliert Schlegel nun aus,was der Studium-Aufsatz bereits implizierte – muss auch der Dichter selbst Kritiker und philologisch-historischer Wissenschaftler werden: Je mehr die Poesie Wissenschaft wird, je mehr wird sie auch Kunst. Soll die Poesie Kunst werden, soll der Künstler von seinen Mitteln und seinen Zwecken, ihren Hindernissen und ihren Gegenständen gründliche Einsicht und Wissenschaft haben, so muß der Dichter über seine Kunst philosophieren. Soll er nicht bloß Erfinder und Arbeiter sondern auch Kenner in seinem Fache sein, und seine Mitbürger im Reiche der Kunst verstehn können, so muß er auch Philolog werden.⁷⁴
Der Schlegel des Athenaeum konzipiert also Kritik und Philologie selbst als Teile der modernen Poesie, die im Werden begriffen ist. Sie zielen auf die vollendete Poesie, da sie im Kern an ihr teilhaben. Umgekehrt zielt die werdende Poesie ihrerseits auf eine Auflösung der Grenzen zwischen den verschiedenen Tätigkeiten
Die Zuschreibung an Schlegel: KFSA 2, S. 164, Blütenstaub-Fragm. Nr. 26. KFSA 2, S. 162; Lyceum-Fragm. Nr. 117. KFSA 2, S. 208 f.; Athenaeum-Fragm. Nr. 255; vgl. dazu Behrens 1984, S. 100
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und Gattungen. Das berühmte Athenaeum-Fragment 116 zur progressiven Universalpoesie zeigt dies: Diese will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren, und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen, und durch die Schwingungen des Humors beseelen.⁷⁵
2 Dialog Neben das Fragment stellt Schlegel im Athenaeum den Dialog. Mehr noch als die Fragmente reflektiert das Gespräch über die Poesie über die Anliegen und Mittel des Studium-Aufsatzes. Es verabschiedet sie, indem es Momente von ihnen in die neue Form aufnimmt. Der Dialog will ebenfalls auf den Gang der Kunst in der Gegenwart wirken, indem er Form und Inhalt in ein bewusstes Wechselverhältnis setzt.⁷⁶ In den einleitenden Absätzen vor dem eigentlichen Dialog formuliert Schlegel zunächst das Grundproblem seines Schreibens, wie es schon im Studium-Aufsatz erschienen war: „Wie der Kern der Erde sich von selbst mit Gebilden und Gewächsen bekleidete […]; so blüht auch die Poesie von selbst aus der unsichtbaren Urkraft der Menschheit hervor“.⁷⁷ Poesie, wenn sie wird, was sie sein soll – „unendlich viel wert“, hieß es in den Lyceum-Fragmenten⁷⁸ –, entsteht nur durch sich selbst. Aber diese Emergenz gilt es zu stimulieren, aus dem gleichen Grund, wie ihn der Studium-Aufsatz entwickelte: Denn in der Moderne, wo der Mensch die Welt bewusst gestaltet, ergibt sich auch dieses ‚von selbst‘ nicht anders als durch bewusste Tätigkeit. Auch das Gespräch über die Poesie kreist um das idealistische Paradox, die Antinomie, dass der Mensch der Moderne auf die Gestaltung dessen, was nur von selber kommen kann, gleichwohl hinwirken muss. Auch hier steht und fällt der Gang von Poesie und Kultur mit dem Kritiker, dem Philologen und dem Philosophen: Die „hohe Wissenschaft echter Kritik“ soll den Menschen „lehren […], wie er sich selbst bilden muss in sich selbst, und vor allem soll sie ihn lehren, auch jede andre selbständige Gestalt der Poesie in ihrer klassischen Kraft
KFSA 2, S. 182; Athenaeum-Fragm. Nr. 116. Zur Form des Gesprächs als Auseinandersetzung mit Platons Symposion vgl. Kurz 2002, vor allem S. 75 – 79; Stefan Matuschek: Die Macht des Gastmahls. Schlegels Gespräch über die Poesie und Platons Symposion. In: ders. (Hrsg.) 2002, S. 81– 96. KFSA 2, S. 285; Gespräch. KFSA 2, S. 148; Lyceum-Fragm. Nr. 7.
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und Fülle zu fassen, daß die Blüte und der Kern fremder Geister Nahrung und Same werde für seine eigne Phantasie.“⁷⁹ Das Grundproblem des Gesprächs ist es, „ob sich Poesie lehren und lernen läßt“⁸⁰ – und damit auch die Frage, in welchem Verhältnis Dichter und Kritiker bzw. Philologe stehen. Allerdings wendet sich Schlegel auch hier gegen die Form des Studium-Aufsatzes. Untauglich sei der Versuch, die Poesie „durch vernünftige Reden und Lehren […] zu erhalten und fortzupflanzen, oder gar sie erst hervorzubringen, zu erfinden, aufzustellen“.⁸¹ Die „strafende[n] Gesetze“ einer „Theorie der Dichtkunst“ seien angesichts der emergenten Natur der Poesie machtlos. Jene „hohe Wissenschaft echter Kritik“ unterscheidet Schlegel nun radikal von der bloßen Theorie. Worin aber bestünde jene rechte Wissenschaft? Die Antwort auf diese Frage ergibt sich, wie bei der Ironie, im Spannungsfeld von Form und Inhalt. Zunächst zur inhaltlichen Ebene. Spricht zu Beginn des Gesprächs der kritische Autor Schlegel, so wandelt er sich bald zum unauffälligen auktorialen Erzähler, der die Verhandlungen verschiedener Dialogpartner über das von ihm eingangs intonierte Thema wiedergibt. Gespräche im eigentlichen Sinne wechseln sich ab mit vier Vorträgen. Andrea nimmt zu den „Epochen der Dichtkunst“ Stellung, Ludoviko hält eine „Rede über die Mythologie“; Antonio verliest einen „Brief über den Roman“, der sich an Amalia richtet, Marcus schließlich bietet einen „Versuch über den verschiedenen Stil in Goethes früheren und späteren Werken“. Die Beiträge ergeben sich aus den Gesprächen, und sie werden dann wiederum im Gespräch diskutiert. Andrea vertritt den philologisch-historischen Gesichtspunkt. Er skizziert eine Geschichte der Poesie, fordert zu ihrem Studium auf, um „eine Kunst durch die Geschichte ihrer Bildung zu begründen“.⁸² Seine Perspektive entspricht derjenigen des Studium-Aufsatzes, wie sie weiter oben entwickelt wurde. Die philologischhistorische Erkenntnis begibt sich in die Überlieferung, sie zielt darauf, diese zu totalisieren, um sich das Wesen der Poesie durch die Reflexion seiner geschichtlichen Entfaltung zuzueignen. Anders als im Studium-Aufsatz geht es Andrea jedoch nicht nur um die Literaturgeschichte der Antike, sondern er setzt die Skizze bis in die Moderne fort. Das Gespräch, das Andreas Vortrag folgt, problematisiert den Zusammenhang der Historie mit der Theorie. Marcus hält dafür, dass eine Theorie der Dichtarten identisch mit ihrer Geschichte sein müsse. Der Gedanke ist aus dem Studium-Aufsatz bekannt: Die vollständige Durcharbeitung der Geschichte mündet in eine vollkommene Theorie.
KFSA 2, S. 284; Gespräch. So Antonio, KFSA 2, S. 311; Gespräch. Dies und das Folgende: KFSA 2, S. 285; Gespräch. KFSA 2, S. 302; Gespräch.
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Ludoviko dann bietet mit seiner „Rede über die Mythologie“ einen dezidiert theoretischen Versuch über die Erneuerung der Dichtung in der Moderne. Er setzt sich ganz über die Geschichte hinweg, argumentiert nicht philologisch und historisch, sondern geht „gleich zum Ziel“.⁸³ Die Pointe seiner Rede liegt in einer Erneuerung der Gegenwart durch eine neue Mythologie, die der Moderne ihre Einheit verleihen würde, so wie es die Mythologie der Alten für die Antike leistete. Aber entsprechend der radikalen Entgegensetzung von Antike und Moderne, wie Schlegel sie im Studium-Aufsatz entwickelt hat, soll die neue Mythologie nicht durch eine Rückentwicklung der Menschheit kommen. Ein Rückschritt in der Geschichte ist nicht möglich. Erhoffen ließe sie sich vielmehr auf „ganz entgegengesetztem Wege“, durch die Steigerung des modernen Charakters. Entsprang die antike Mythologie aus der Natur, so sei die moderne dagegen „das künstlichste aller Kunstwerke“, entwickle sich im Fortschritt der Moderne aus der „Tiefe des menschlichen Geistes“.⁸⁴ Von dort werde sie sich „wie durch sich selbst herausarbeiten“.⁸⁵ Ludoviko setzt in Bezug auf die Moderne das gleiche paradoxe Verhältnis an, in dem das Konzept der ästhetischen Revolution ankerte: Die neue Mythologie entsteht als bewusstes Produkt der modernen Anstrengung, des modernen Wissens und Strebens – und wird doch wie eine spontane Emergenz wirken. Gerade dadurch gewinnt sie den autoritativen Charakter, den auch Ludoviko ihr zuspricht. Sie wird die Moderne als Ganze ergreifen, die Zersplitterung heilen, die disparaten Individualitäten zu ihrer jeweiligen Bestimmung führen – kurz: Sie wird die Zeit erfüllen. Ganz wie der Schlegel des Studium-Aufsatzes sieht auch Ludoviko den Schlüssel zu dieser Wendung im Idealismus: Dieser sei ein „Wink“ und eine „Bestätigung“ für die bevorstehende Erneuerung der Zeiten. Er lasse auf die „Revolution“ der Moderne hoffen, und durch diese Erwartung ebne er den Weg, um auf sie hinzuwirken. Ludoviko fasst den Idealismus als performative Bewegung auf, die sich fortschreitend realisiert.⁸⁶ Während Andrea gewissermaßen die philologisch-historische Seite von Schlegels Anstrengungen formuliert, ist Ludoviko mit der theoretisch-philosophischen Verve ausgestattet, die Schlegel im Studium-Aufsatz entfaltete. Die folgende Diskussion legt dann jedoch den Mangel von Ludovikos Modell frei: Seine Gesprächspartner monieren gerade das Fehlen von Geschichte und Philologie. Antonios „Brief“ bietet darauf eine Kunstlehre der Gattung der Zukunft, des Romans. Sie gehe aus der Kritik gegenwärtiger Romane hervor. Seine Bestimmung des kommenden Romans reflektiert gleichzeitig das Verhältnis von Kritik, Theorie
KFSA 2, S. 312; Gespräch. Ebd. KFSA 2, S. 313; Gespräch. Alle Zitate: ebd.
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und Poesie. Die Theorie des Romans, die Antonio skizziert, trägt die Züge von Schlegels idealer Kritik selbst.⁸⁷ Sie verspricht keine bloße, äußere Anleitung zu einem Roman, sondern eine „geistige Anschauung“,⁸⁸ theoría im Sinne des Griechischen. Die Theorie wäre kritisch und philologisch-historisch fundiert, sie hätte aus der Vergangenheit bereits Gegenstände – Romane, Novellen und Märchen –, aus denen sie ihre Anschauung gewinnen könnte. Diese Beispiele jedoch wären noch unvollkommen. Die Theorie aber würde sie auf das ihnen innewohnende Ideal hin öffnen – nichts anderes meint die „geistige Anschauung“ (s.o.), die eine Art von Erfassung der Idee des Gegenstandes wäre.⁸⁹ Sie würde das leisten, was Schlegel an anderer Stelle als Verfahren der Kritik beschreibt: „Die κρ[Kritik] vergleicht das Werk mit s.[einem] eignen Ideal“.⁹⁰ Als anschauende, philologisch-historisch fundierte Theorie aber wäre sie mehr als nur eine Rede über den Roman: „Eine solche Theorie des Romans würde selbst ein Roman sein müssen.“⁹¹ Roman und Theorie verschmelzen im romantischen Kunstwerk, entsprechend dem berühmten Athenaeum-Fragment 116. Ohne Frage soll sich das Gespräch über die Poesie selbst in diese Richtung bewegen. Angelehnt an Boccaccios Decamerone genauso wie an Platons Symposion, ⁹² redet es über die Poesie, will sie aber auch selbst zur Darstellung bringen. Den letzten Beitrag zum Gespräch leistet Marcus mit seinem Versuch zu Goethe. Sein Ansatz ist auf eine andere Weise kritisch. Mit Goethe steht hier ein einzelner Dichter im Zentrum, nicht, wie in Andreas Abhandlung, die Geschichte der Poesie oder, wie bei Ludoviko, eine über der Geschichte und dem Individuellen schwebende Theorie. Marcus bietet eine Charakteristik, seine Betrachtung lässt sich auf die Individualität eines Dichters ein, sie geht von der konkreten Gestalt aus und zielt darauf, sie paradigmatisch zur Erkenntnis zu erheben. Allerdings setzt Marcus seine Charakteristik Goethes in Analogie zum Verstehen historischer Einheiten. So wie Epochen ihre Einheit und ihren Geist hätten,
Zu Schlegels Theorie des Romans vgl. Helmut Schanze: Friedrich Schlegels Theorie des Romans (zuerst 1968). In: ders. (Hrsg.) 1985, S. 370 – 396. KFSA 2, S. 337; Gespräch. Man vergleiche Rankes (Idee, S. 78) Formulierung von der „geistige[n] Apperzeption“; zu Ranke und Schlegel vgl. Fulda 1996, S. 315 – 331. KFSA 16/1, S. 179; Fragmente zur Litteratur und Poesie, Nr. 1149.Vgl. zu diesem Gedanken Kurt Röttgers: Kritik und Praxis. Zur Geschichte des Kritikbegriffs von Kant bis Marx. Berlin, New York 1975, S. 121. KFSA 2, S. 337; Gespräch. Zu Schlegels Platon Rezeption vgl. Gerrit Walther: „Le Shakespeare de la prose grecque“. Platon et sa philosophie dans la ‚critique‘ de Friedrich Schlegel. In: Laks u. a. (Hrsg.) 2008, S. 155 – 182; Bärbel Frischmann: Friedrich Schlegels Platonrezeption und das hermeneutische Paradigma. In: Athenaeum 11 (2001), S. 71– 92, zur Dialogform insbes. S. 78 f.; Kurz 2002.
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so habe auch der einzelne Dichter seine „Perioden“ und seinen Geist. Dessen Geschichte gelte es zu verstehen.⁹³ Marcus modelliert eine hermeneutische Literaturwissenschaft für moderne Dichter. Denn obwohl Goethe noch lebe, seine Entwicklung also nicht abgeschlossen, das Ganze noch nicht vorhanden sei, gelte es ihn in kritischer Perspektive doch als Ganzes zu betrachten – man müsse ihn beurteilen, „als ob er ein Alter wäre“.⁹⁴ Die Betrachtung Goethes liefert das dezidiert moderne Pendant zur philologisch-historischen Sicht der Antike. Während diese als Ganze ein Individuum darstellt, ist in der Moderne jeder Dichter selbst individuell. Die „Geschichte seines Geistes“ wäre zunächst nur ihm eigen. Aber sie besitze gerade als individuelle Geschichte auch „Universalität“.⁹⁵ Das Verständnis eines einzelnen, herausragenden Dichters bietet daher ein Modell für den Fortschritt der Moderne als Epoche. Die Tendenz, für die Goethe stehe, umfasse „zum erstenmal die ganze Poesie der Alten und der Modernen“, und sie enthalte „den Keim eines ewigen Fortschreitens“.⁹⁶ Der philologisch-historisch operierende Kritiker wird hier zum notwendigen Gegenstück, zum Geburtshelfer des modernen Dichters. Denn erst wenn er dessen Geist erfasst und ihn auf seine epochale Perspektive hin öffnet, kann dieser Geist leitend werden für die Moderne. Der moderne Dichter braucht seinen Deuter, damit ihn „nicht das Schicksal des Cervantes und des Shakespeare“ ereilt. Da ihnen fähige Kritiker fehlten, gingen ihre Impulse für die Moderne verloren. Erst der Kritiker, der Goethe erkennt, erhebt ihn zum „Stifter“ und „Haupt einer neuen Poesie“,⁹⁷ macht seine Saat fruchtbar, indem er sie in der Gegenwart ausstreut. Er kann dies, denn Dichter und Kritiker haben in der Moderne eine entscheidende Affinität: Goethes Dichtungen basierten als moderne Dichtungen notwendig auf „Ideen“.⁹⁸ Wenn der Kritiker diese zur Sichtbarkeit erhebe, sorge er dafür, dass der allgemeine „Geist“ der Kultur, der sich erst andeute, „auch diese Richtung nehmen“ könne.⁹⁹ Der Kritiker trägt wesentlich zur „Ausbildung des Künstlers“¹⁰⁰ in
Zitat KFSA 2, S. 341; Gespräch. Der Gedanke, den Dichter zu verstehen, setze voraus, „die Geschichte seines Geistes“ zu ergründen: etwa ebd., S. 340; Gespräch. Ebd. Vgl. KFSA 2, etwa S. 339; Gespräch; vgl. auch S. 341: Goethes Entwicklung decke sich „theils mit dem Stufengang der durch Umbildungen und Verwandlungen fortschreitenden Entwicklung, welchen wir in der Geschichte der alten Kunst und Poesie wahrnehmen.“ KFSA 2, S. 347; Gespräch. Alle Zitate: ebd. Ebd.; so die gewiss ‚ungoethesche‘ Wendung Schlegels – man denke etwa an die Auseinandersetzung Goethes und Schillers über Dichtung und Ideen, in der Goethe auf seinem ‚realistischen Tic‘ besteht. KFSA 2, S. 347; Gespräch.
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der Gegenwart bei. Er erweckt andere Dichter, die „fähig sein werden zu dichten“ – und das bedeutet: „nach Ideen zu dichten.“¹⁰¹ An seinem Schluss mündet der Dialog wieder in die „große Frage“,¹⁰² die als sein Schlüsselproblem angesehen werden darf: ob Kunst gelehrt werden könne? Die vier Ausarbeitungen im Gespräch entwickeln komplementäre und konträre Ideen dazu, wie sich Poesie und Wissen bzw. Wissenschaft zueinander verhalten. Wenn sie sich auch in der konkreten Auffassung davon, wie dies geschehen solle, konträr verhalten – darin, dass sie Poesie abhängig machen von der Intervention des Wissens (in Form von Literaturgeschichte, Philologie, Philosophie, Charakteristik und Kritik), sind sie sich einig. Es fällt im Gespräch über die Poesie den Frauen Camilla und Amalia zu, diesen Konsens der Männer in Zweifel zu ziehen. Antonio springt ihnen bei,¹⁰³ auch wenn er in seinem Brief über den Roman selbst Kritik und Dichtung verbindet.¹⁰⁴ Das Schlusswort zu diesem bis zuletzt kontroversen Grundproblem bleibt Lothario vorbehalten, der selbst nicht vorgetragen hat: Auch wenn im Einzelnen keine Einigung zu erzielen sei – „ein Wissen in Dingen der Kunst“ bleibe „sehr möglich. Und ich denke, wenn jene historische Ansicht vollendeter ausgeführt würde, und wenn es gelänge, die Prinzipien der Poesie auf dem Wege, den unser philosophischer Freund versucht hat, aufzustellen: so würde die Dichtkunst ein Fundament haben, dem es weder an Festigkeit noch an Umfang fehlte.“¹⁰⁵ Lothario verbindet die philosophische Ansicht Ludovikos mit der philologisch-historischen Andreas; und Marcus fügt dem noch das Exempel Goethes hinzu: Es brauche außerdem das „Vorbild, welches so wesentlich ist, uns in der Gegenwart zu orientieren“.¹⁰⁶
KFSA 2, S. 340; Gespräch. KFSA 2, S. 347; Gespräch. So Antonio, KFSA 2, S. 311; Gespräch. Antonio vermittelt teilweise zwischen den Frauen und den Männern. Er insistiert, dass man „Poesie auch als Kunst behandeln“ solle und ist – zunächst – skeptisch gegenüber einer „Theorie der Dichtarten“; KFSA 2, S. 306. Später im Gespräch aber kann er sich dem Gedanken anschließen, dass im Kern auch die Wissenschaften „nicht ohne einen poetischen Bestandteil“ sein dürfen; KFSA 2, S. 324. Vgl. etwa Amalia auf S. 305 – 307, beispielsweise: „Wie kann aber dieses künstliche Wesen zur Poesie dienen?“ KFSA 2, S. 305; Gespräch. KFSA 2, S. 349; Gespräch. KFSA 2, S. 350; Gespräch. Marcus hatte schon vorher den Gedanken entfaltet, dass Dichtung sich auf „praktischem Wege“ lernen und lehren lasse: durch „eine Schule der Poesie […], wo der Meister den Lehrling wie in andern Künsten tüchtig angriffe und wacker plagte, aber auch im Schweiß seines Angesichts ihm eine solide Grundlage als Erbschaft hinterließe“; KFSA 2, S. 307; Gespräch.
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Die Positionen, die die Freunde im Gespräch entfalten, lassen sich jeweils ohne größere Brüche an diejenigen des Studium-Aufsatzes anschließen. Rein inhaltlich bestehen hier deutliche Kontinuitäten. Die entscheidende Pointe des Gesprächs aber liegt in seiner Form. Denn während der Studium-Aufsatz die verschiedenen Aspekte in einer einheitlichen diskursiven Rede zu entfalten suchte, legt das Gespräch sie zu unterschiedlichen Positionen auseinander und bringt diese zueinander in Beziehung. Einerseits verhalten sie sich komplementär, andererseits aber konträr. Komplementär sind sie in dem gleichen Sinne wie die Bestandteile von Schlegels skizzierter ‚konzertierter Aktion‘.Widersprüche ergeben sich, weil der Dialog zeigt, wie die jeweils anderen Gesprächspartner durch die monologischen Ansichten der einzelnen Sprecher letztlich nicht befriedigt werden. Das Gespräch und die Vorträge der anderen Teilnehmer zeigen jede Perspektive als notwendig beschränkte. Insofern inszeniert der Dialog ein ähnliches Paradox wie die Ironie. Er zielt einerseits darauf, einen Punkt aufscheinen zu lassen, an dem die verschiedenen Ansichten konvergieren. Gleichzeitig markiert er diesen Ort als Ideal, das sich weder durch Philologie und Historie noch durch Theorie, weder durch das Charakteristische noch durch das Ideale allein erreichen lasse. Das Gespräch inszeniert das Paradox, dass seine verschiedenen Teilnehmer die Poesie der Zukunft konstruieren müssen – trotz ihrer Einsicht in den letztlich idealen Charakter dieser Anstrengung. Damit aber bringt der Dialog neben den inhaltlichen Perspektiven etwas anderes zur Darstellung: das Ethos des Gesprächs. Die Positionen der Gesprächspartner beenden die Debatte nicht, sondern stimulieren sie vielmehr. Der Dialog stellt damit dar, wie der Weg zur erfüllten Moderne hin insgesamt beschritten werden kann: als „Spiel der Mitteilung“ und gegenseitige Anregung,¹⁰⁷ als Versuch des Einzelnen, „die Ergänzung seines innersten Wesens in der Tiefe eines fremden zu suchen und zu finden“.¹⁰⁸ Auch das Gespräch ist ein Versuch, die Poesie anders als nur inhaltlich zu bestimmen. Es zeigt, dass sich über Poesie nie erschöpfend sprechen lasse, hofft aber damit gerade selbst, die Poesie in ihrer vollen Kraft zur Darstellung zu bringen. Die kritische Rede über die Poesie ist damit selbst auf dem Weg, zur Poesie zu werden: denn man könne „eigentlich
Diesen Aspekt arbeitet Buschmeier (2008) gut heraus, etwa S. 148; die These, „Geist“ sei bei Schlegel „keine metaphysische Größe“, geht meines Erachtens jedoch zu weit. Alle Zitate: KFSA 2, S. 286; Gespräch. Vgl. dazu die Bruchstücke einer Theorie des philosophischen Dialogs, die sich in Schlegels Werken immer wieder finden, so etwa in der Widmung an Fichte der Lessing-Edition (KFSA 3, S. 48): „Im Gespräch, im dialogischen Kunstwerke zum Beispiel ist es eigentlich die gegenseitige Gedankenmitteilung der Redenden, welche selbst der Gegenstand der Darstellung ist.“
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nicht reden von der Poesie als nur in Poesie.“¹⁰⁹ Schlegels Kritik versucht, sichtbar werden zu lassen, worüber sie spricht. Sie simuliert die Poesie, auf die sie hinarbeitet. Dabei hält der Kritiker in der Gegenwart den Platz des zukünftigen Dichters frei. Aber: Usurpiert er diesen Platz nicht gleichzeitig, indem er die Erfüllung der Poesie in die Zukunft verschiebt – eine Erfüllung, in der darüber hinaus Kritik und Dichtung identisch sein werden? Zugespitzt formuliert, ist dies das Phantasma des frühromantischen Theoretikers und Philologen Schlegel: dass seine philologisch-historisch gebundene Kritik selbst Dichtung werden könne.
3 Fortgesetzte Revolutionen Das Gespräch über die Poesie entwirft wiederum eine konzertierte Aktion der Kritik auf idealistischer Grundlage. In den folgenden Jahren wandelt Schlegel sein Vorgehen als Kritiker nicht grundsätzlich, auch wenn der 1801 erschienene Nachsatz zu seiner Lessing-Charakteristik von 1797¹¹⁰ eine Änderung der Strategie ankündigt. Er stellt in Aussicht, dass die Waffen der Ironie zukünftig im Tempel der Polemik ruhen sollten. Schlegel wolle sich ganz auf die „beiden Zwecke einer Geschichte der Dichtkunst und einer Kritik der Philosophie“ beschränken.¹¹¹ Die zweite Fassung der Lessing-Charakteristik ist tatsächlich ein wichtiges Dokument des Wandels – allerdings in ganz anderer Hinsicht, auf die noch zu kommen sein wird. Was Schlegels zitierte Ankündigung betrifft, so befasst er sich in den nächsten Jahren in der Tat besonders mit der Geschichte der Poesie. Einige Monate vor Erscheinen der Charakteristiken kündigt er eine Fortsetzung der Geschichte der Poesie der Griechen und Römer an. Der zweite Band werde für die „Kunst der Poesie“ das leisten, was Winckelmann für die bildende versucht habe: „die Theorie derselben durch die Geschichte zu begründen“¹¹² – unschwer ist die Kontinuität zum Denkmodell des Studium-Aufsatzes zu erkennen. Zwar erscheint diese Fortsetzung nie. Aber in Paris dann ist Schlegel tief in die Poesiegeschichte KFSA 2, S. 285; Gespräch. Deutlich ausgeführt wird dieser Gedanke in Lessings Gedanken und Meinungen (1804), KFSA 3, S. 48; Schlegel unterscheidet hier zwischen Darstellung des Unendlichen, Unbestimmten und Mitteilung des Endlichen, Bestimmten. Über Lessing erschien zuerst im Lyceum 1 (1797), H. 2, S. 76 – 128; die zweite, veränderte Fassung kam in: August Wilhelm Schlegel, Friedrich Schlegel: Charakteristiken und Kritiken. Erster Band. Königsberg 1801, S. 170 – 221, der nicht mit einem eigenen Titel versehene Nachsatz auf S. 221– 281. Zur Entstehung und zum Druck vgl. Hermann Patsch in KFSA 25, S. LXI–LXIV. KFSA 2, S. 409; Über Lessing (1801). Die Ankündigung Schlegels erschien im Intelligenzblatt der Jenaischen ALZ, 29. März 1800, Nr. 43, Sp. 350; abgedruckt ist sie in Hans Eichners Einleitung zu KFSA 6, S. XVII; dort findet sich auch eine Chronologie von Schlegels poesiegeschichtlichen Arbeiten.
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der Antike und der Moderne eingedrungen. Im Winter 1802 hält er zunächst für ein größeres Publikum ein Kolleg „Über die deutsche Sprache und Literatur“.¹¹³ Vor den Brüdern Boisserée, Johann Baptist Bertram und Helmina von Hastfer spricht er dann über die „Geschichte der europäischen Literatur“ insgesamt.¹¹⁴ Diese Vorlesungen wiederholt Schlegel – ohne die Antike – im Sommer 1804 in Köln.¹¹⁵ Überhaupt liest er in den folgenden Jahren regelmäßig als „Professeur à l’école supérieure“.¹¹⁶ Er hofft sogar, in Köln die Wiedererrichtung der Universität mit eigenem Lehrstuhl anstoßen zu können.¹¹⁷ Nach seinem Umzug nach Wien schließlich und seiner Konversion folgen dann die berühmten Wiener Vorlesungen.¹¹⁸ An die Beschränkung, die er 1801 in der Lessing-Charakteristik ankündigt hatte, hält sich Schlegel freilich nicht. Immer wieder geht er über die Kritik der Philosophie und die Geschichte der Literatur hinaus. Die Zeitschrift Europa beispielsweise, die er im Herbst 1802 gründet,¹¹⁹ sollte laut Vorrede an allem Anteil nehmen, „was die Ausbildung des menschlichen Geistes“¹²⁰ betrifft. Der einleitende Aufsatz Literatur spitzt einmal mehr die Gegenwart zum Augenblick einer epochalen Wendung im Zeichen des Idealismus zu.¹²¹ Die Zeitschrift schließt entschieden an Schlegels frühere, universale Programmatiken an.¹²² Vor allem aber zeigt die Lessing-Edition, die Schlegel von September 1803 bis Mai 1804 in Druck gibt, dass sein Denkmodell einer Revolution durch die kon-
Vgl. Behlers Einleitung in KFSA 11, S. XXXIII; zur Entstehung der Vorlesungen insgesamt ebd., S. XXIX–XXXVI; auch Hans Eichner zu KFSA 6, S. XVII; er zitiert Arnim, der die Vorlesung mit „ungefähr 25“ weiteren Zuschauern hört, sie aber „sehr langweilig“ findet; vgl. Arnims Brief an Brentano, Paris den 17. Februar [1803] (Zitat aus einem auf den 7. März datierten, späteren Briefteil); in: Achim von Arnim und Clemens Brentano. Freundschaftsbriefe. 2 Bde. Hrsg. von Hartwig Schulz. Frankfurt am Main 1998, Bd. 1, S. 110. Vgl. Behler in KFSA 11, S. XXX. Vgl. KFSA 11, S. XXXVII. Vgl. KFSA 11, S. XXXVI. Vgl. ebd. Vgl. dazu die Einleitung in KFSA 6. Das erste Heft wurde im Februar 1803 ausgeliefert; zur Zeitschrift vgl. Ernst Behler: Die Zeitschriften der Brüder Schlegel. Darmstadt 1983, S. 59 – 99, hier S. 91; Eichner in KFSA 3, S. XIV– XXV. KFSA 3, S. 329; Vorrede [zur Europa]. Vgl. KFSA 3, S. 3 – 16; Literatur. Schlegel liefert neben zwei im engeren Sinne literaturgeschichtlichen Beiträgen auch eine Übersetzungsprobe aus Racines Bajazet; die Einleitung KFSA 3, S. 38 – 41; die Übersetzung selbst KFSA 5, S. 263 – 278.
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zertierte Aktion der Gelehrsamkeit im Kern konstant bleibt.¹²³ Schon als Edition ist sie das Ergebnis einer philologischen Praktik. Da sie dem Leser außerdem ein Gesamtbild Lessings vermitteln soll, steht sie in Kontinuität zur Gattung der Charakteristiken. Indem Schlegel schließlich Lessings Schriften zum Teil nicht integral publiziert, sondern sie fragmentarisiert, wandelt er sie zu polemischer, ironischer Kritik im Sinne der Theorie des Fragments um. Vor allem aber fügt Schlegel den drei Bänden reichlich programmatisches Beiwerk hinzu.¹²⁴ Die Texte formulieren einmal mehr – und nun äußerst präzise – das Programm, das er im Studium-Aufsatz als ‚ästhetische Revolution‘ bezeichnet hatte. Wieder stellt er die philologisch-historisch fundierte Kritik ins Zentrum der kulturellen Tätigkeit.¹²⁵ Zweierlei Aufgaben habe sie: Erstens solle sie sich über eine Sonderung der Gattungen und die philologisch-historische Erkenntnis zur Grundautorität in der Kunst machen. Der Gedanke des Studium-Aufsatzes ist immer noch virulent: dass eine objektive und die Gegenwart verändernde Theorie nur im Durchgang durch eine „historische Konstruktion des Ganzen der Kunst“¹²⁶ gebildet werden könne. Kritik beinhaltet in dieser Hinsicht Ästhetik (im Sinne von Kunsttheorie), Geschichte und Philologie. Zweitens solle die Kritik das Echte vom Unechten absondern. Diese genuin philologische Bestimmung der Kritik beinhaltet für Schlegel ein normatives Moment. Denn das Unechte ist nicht nur das Gefälschte, sondern auch das, was der für sich selbst verantwortlichen Moderne eine falsche Tendenz verleihen würde. Kritik in dieser Beziehung wäre Polemik, die sich aber wiederum auch als Philologie versteht. Die Zerstörung falscher Tendenzen ist für Schlegel durchaus eine Wissenschaft.¹²⁷ Auch der Grundgedanke der Revolution fehlt in den Lessing-Einleitungen nicht. Bedeutungsträchtig ist er ganz am Ende der Edition platziert, in einer Fortsetzung von Lessings Ernst und Falk. Die Welt könne, so Schlegels Falk, durch fortgesetzte Wissenschaft fortschreitend, wieder zu ihren Ursprüngen gelangen: „Zu diesen ältesten Geheimnissen göttlicher Wahrheit führt die vollendete Wissenschaft notwendig zurück“.¹²⁸ Getragen wird diese Zuversicht auch hier durch den idealistischen Grundgedanken: Der Mensch habe „sich selber entdeckt“,¹²⁹
Lessings Gedanken und Meinungen aus dessen Schriften zusammengestellt und erläutert von Friedrich Schlegel. 3 Teile. Leipzig 1804; zur Entstehung vgl. Eichners Einleitung in KFSA 3, S. XXVI–XXXIV. Die insgesamt neun Beigaben Schlegels sind abgedruckt in KFSA 3, S. 46 – 102. Vgl. die Allgemeine Einleitung. Vom Wesen der Kritik, KFSA 3, S. 51– 60. KFSA 3, S. 58; Vom Wesen der Kritik. Vgl. ebd. KFSA 3, 98; Ernst und Falk. KFSA 3, 96; Ernst und Falk.
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und so dürfe er die „Hoffnung“¹³⁰ einer Einlösung des von ihm antizipierten Ideals hegen. Der Weg, auf dem die Moderne sich durch das Wissen vollende, werde durch das performative Modell einer progressiven Entfaltung der Erkenntnis gebahnt. Dieser fortschreitenden Erkenntnis werde das erkannte Objekt mehr und mehr entsprechen, seien doch Mensch und Welt im Grunde identisch: „Tue nur erst was du kannst und was du sollst, so wird das übrige schon von selbst zufallen.“¹³¹ Die Kontinuitäten zum Modell des Studium-Aufsatzes sind evident, trotz des Wandels seiner Aktivitäten, den Schlegel 1801 in der Lessing-Charakteristik verkündete. Aber viel wichtiger ist ein anderer Aspekt, der ebenfalls in der LessingCharakteristik deutlich wird. Er verändert nicht Schlegels kritisches Programm, wohl aber die Wahrnehmung seiner eigenen Position innerhalb des kulturellen Geschehens der Gegenwart.
KFSA 3, 98; Ernst und Falk. Ebd.
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3 Anch’io son poeta 1 Der schlechte Dichter Lessing Anders als bei ihrem ersten Erscheinen 1797 wird die Lessing-Charakteristik 1801 von zwei Gedichten eingerahmt: Etwas das Lessing gesagt hat und Herkules Musagetes. Diese Geste ist bedeutend. Durch sie gibt Schlegel zu verstehen, was er als die eigentliche Epoche in seiner Laufbahn begreift: die Metamorphose zum Dichter. Dass Schlegel eine Schrift über Lessing nutzt, um diese Wandlung zu verkünden, ist bezeichnend. Lessing spielte für ihn die ganzen Jahre über eine wichtige Rolle. Schlegel begriff ihn früh als „Leitstern“¹³² für sein eigenes kritisches Schaffen, als Vorbild für eine Offenheit von Denken und Kommunikation, wie sie auch Teil seines Programms war. Freilich: Es ist ein durchaus eigenwillig geformter ‚Lessing‘, den Schlegel da als Modell für sich erschafft.¹³³ Aber darauf kommt es hier nicht an. Vor 1800 ist Lessing für ihn nicht zuletzt auch deshalb bedeutend, weil er, wie Schlegel betont, kein Dichter war. Dieses Argument ist der Angelpunkt der ‚alten‘ Charakteristik von 1797.¹³⁴ Lessing ist kein Dichter und doch fruchtbar für die Gegenwart – mit dieser Denkfigur führte Schlegel 1797 seine eigene Sache. Da sprach der Kritiker und Philologe, der Historiker und Philosoph, der die Poesie für unendlich bedeutsam ansah, der selbst aber vor dieser ‚Schlüsselpraxis‘ der ästhetischen Revolution kapitulieren musste. Indem Schlegel Lessing trotz seiner (angeblich) schlechten Dichtung verteidigte, beharrte er auch auf seiner eigenen Bedeutung für die Revolution: ohne Kritik, Philologie, Geschichte und Philosophie keine Entfaltung der
KFSA 2, S. 398; Über Lessing (1801). Zu Schlegels Lessing-Bild vgl. Johanna Krüger: Friedrich Schlegels Bekehrung zu Lessing. Weimar 1913; Timm 1978, S. 132– 140; Ingrid Strohschneider-Kohrs: Die Vorstellungen vom ‚unpoetischen‘ Dichter Lessing. In: Das Bild Lessings in der Geschichte. Hrsg. von Herbert G. Göpfert. Heidelberg 1981, S. 13 – 35; Anne Lagny, Denis Thouard: Schlegel, lecteur de Lessing. Réflexions sur la construction d’un classique. In: Études germaniques 53 (1997), H. 4, S. 609 – 627. Die Öffentlichkeit halte Lessing für „einen der größten Dichter“; er aber zweifle, ob er überhaupt einer „gewesen sei, ja ob er poetischen Sinn und Kunstgefühl gehabt habe“; KFSA 2, 113; Über Lessing (1797). Schlegel zitiert die letzte Lieferung der Hamburgischen Dramaturgie: „Ich bin weder Schauspieler noch Dichter“; 101.–104. Stück. In: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in 12 Bänden. Hrsg. von Wilfried Barner u. a. Frankfurt am Main 1985 – 2003, Bd. 6, hrsg. von Klaus Bohnen, S. 680. Die Fortsetzung der Lessing-Charakteristik von 1801 erinnert eingangs an dieses Anliegen, Lessing entgegen dem „Unverstand“ der Öffentlichkeit aus der „Poesie und poetischen Kritik ganz wegheben“ zu wollen; KFSA 2, S. 397.
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Dichtung. 1801 aber hat sich das Blatt gewendet. Schlegel ist in der Zwischenzeit selbst zum Dichter geworden. Dichter im vollen Sinne – das meint für ihn weder das Formkalkül der Fragmente oder des Gesprächs. Es meint auch nicht den Roman Lucinde, in der Gestalt, in der sein erster (und einziger) Band 1799 erschienen war.¹³⁵ In vollem Sinne ist Schlegel vor sich selbst dadurch zum Dichter geworden, dass er Verse hervorzubringen vermochte. Als wie epochemachend, wie beglückend er es empfunden haben muss, dass ihm in den ersten Januartagen 1800, mit dem neuen Jahrhundert, sein erstes Gedicht gelang – dies spiegeln die Briefe, die am 6. Januar 1800 das Haus verließen. Feierlich sendet Schlegel an Schleiermacher etwas, „was Du wohl noch nicht erwartest, ein Gedicht von mir.“¹³⁶ Und seine spätere Frau Dorothea Veit schreibt gleich hinterher: „Was sagen Sie zu den Stanzen? […] Und was werden Sie erst sagen, wenn Sie hören, daß ich, ich selbst diese Stanzen Wuth und Gluth, über unser Haus gebracht habe!“ Sie habe für ihren Florentin ottave rime improvisiert, und es sei nicht nur Schelling angesteckt, sondern eben auch Friedrich vom furor poeticus ergriffen worden: „und nun gar der heilige Friedrich! der mit seinen [sic!] Glanz uns so verdunkelt, daß wir uns schämen auf derselben Bahn mit ihm zu treten.“¹³⁷ Diese ‚Interna‘ schärfen den Blick für die Untertöne der Lessing-Fortsetzung von 1801. „So schrieb ich vor beinah vier Jahren“ – „Laßt mich also den Faden neu aufknüpfen“¹³⁸: Schlegel markiert eingangs die Zäsur, die er in der Zwischenzeit erfahren hat. Und indem er neu anknüpft, lässt er Lessing hinter sich. Sein Aufsatz zeigt dies deutlich: erstens, indem er den (vorläufigen) Abschluss des LessingThemas zum Ausgangspunkt einer neuen Programmatik nimmt; zweitens, indem Schon der Bescheidenheitstopos seines Prologs lässt deutlich die Melancholie dessen durchscheinen, der die Dürftigkeit seines Werkes erkennt: „Aber was soll mein Geist seinem Sohne geben, der gleich ihm so arm an Poesie ist als reich an Liebe?“ KFSA 5, S. 3; Lucinde. Vgl. Hans Eichner in der Einleitung, S. LVI, mit weiteren Belegen für Schlegels Ansicht, dass die Lucinde keine Poesie und damit eben auch noch kein Roman sei; auch Schanze 1985, S. 391 f. Der Prolog erläutert dies durch ein ambivalentes Bild: Nicht der „königliche Adler allein darf das Gekrächz der Raben verachten; auch der Schwan ist stolz, und nimmt es nicht wahr.“ (KFSA 5, S. 3; Lucinde). Anders als der Adler kann der Schwan nicht fliegen. Aber er beharrt auf seinem Recht: darauf zu sinnen, dass auch er „alles was sterblich ist an ihm, in Gesänge“ aushauchen werde. Die Lucinde versteht sich als Antizipation der Poesie, die darauf hofft, zu Poesie zu werden (oder es zu sein, auch wenn sie selbst sich nicht dafür hält). Schlegels Ambivalenz wird hier sehr deutlich. Brief Schlegels an Schleiermacher, 6. Januar 1800; KFSA 25, S. 41. Der Herausgeber Hermann Patsch weist auf die Bedeutung hin, die dieses Ereignis für Schlegel hatte: ebd., S. XLVf. Brief Veits an Schleiermacher, 6. Januar 1800; KFSA 25, beide Zitate S. 39. Vgl. dazu Eichner, Einleitung KFSA 5, S. LVf.Vgl. insgesamt zu den Kontexten der Jahre 1799 bis 1802 die vorzügliche Einleitung von Hermann Patsch zu KFSA 25. KFSA 2, S. 397; Über Lessing (1801).
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er, gleichsam als überwundene Form, noch einmal eine Reihe von eigenen Fragmenten in den Text aufnimmt;¹³⁹ drittens, indem er den Versuch über den schlechten Dichter Lessing nun mit eigenen Gedichten rahmt. Das eröffnende Gedicht, Etwas das Lessing gesagt hat, präsentiert diesen als Verkünder des „neue[n] Evangelium[s]“, einer „neuen Zeit“ und einer Erneuerung der „Künste“.¹⁴⁰ Lessing prophezeit die ästhetische Revolution. Im Zentrum des schließenden Gedichtes, des Herkules Musagetes, steht dann nicht mehr Lessing, sondern das selbstbewusste Ich des Dichters – Schlegels selbst. Nach „[…] des alten Wunsches Erfüllung, / Daß nun melodische Kraft brausend der Lippe entströmt“ (VV. 49 f.), kann dieser seine „Lehren“ (V. 79) nun in elegischen Distichen entfalten.¹⁴¹ Der Sohn hat den unfruchtbaren Vater überwunden. Im Sinne der typologischen Struktur des ersten Gedichtes gesprochen: Der alte Prophet hat mit der kommenden neuen Zeit seine Rolle erfüllt. Im Licht von Schlegels Metamorphose zum Dichter gewinnt nicht nur die Lessing-Charakteristik eine andere Bedeutung. Beobachtet man aufmerksam, dann verwandeln sich damit auch die anderen Projekte, die Schlegel um 1800 unter der Feder hat. Dies gilt etwa für das Gespräch über die Poesie. Schlegel schrieb den Schlussteil im Laufe des Januar 1800, nach seinem ersten Gedicht.¹⁴² Hier werden nun Dichtungspläne debattiert.¹⁴³ Die biographische Wendung erlaubt dem Gespräch an seinem Ende eine besondere Pointe: Es spielt auf den
In Eisenfeile stellt Schlegel Fragmente aus dem Athenaeum und Lyceum zusammen. Teils sind die Texte verändert,Weniges ist hinzugekommen; vgl. dazu die Erläuterungen Eichners in KFSA 2, S. 399 – 409. Die Denkform seiner Fragmente verbindet Schlegel hier explizit mit Lessing; Eisenfeile biete eine „Anthologie eigner Gedanken, die im Innern und Äußern“ auf dessen Denken „zielen“. Wenn Schlegel die Fragmente als „Totenopfer“ (KFSA 2, S. 398) für Lessing bezeichnet, dann wird deutlich, dass hier eine zweifache Trennung vorliegt: von Lessing und von der Form. KFSA 2, S. 397, VV. 9, 7 und 5; Über Lessing (1801). Zur Stellung Lessings in Schlegels Projekt einer ‚Revolution‘ vgl. Timm 1978, S. 132– 140 und S. 160 – 163; allerdings verfolgt Timm nur die theologische Seite. Vgl. die erste Fassung des Herkules Musagetes, wie sie in den Charakteristiken und Kritiken abgedruckt ist: KFSA 2, S. 416 – 419,VV. 49 f. und S. 79; Über Lessing (1801). Armin Erlinghagen hat allerdings gezeigt, dass weder der Erstdruck den Intentionen Schlegels entsprach, noch die KFSA eine in allem verlässliche Grundlage für die Deutung der Gedichte darstellt: ders.: Poetica in nuce. Friedrich Schlegels poetologisches Vermächtnis: die Elegie Herkules Musagetes. Historisch-kritische Ausgabe / editorischer und exegetischer Kommentar. 1. Teil. In: Euphorion 97 (2003), H.2, S. 193 – 234. Vgl. den undatierten Brief Schlegels an Schleiermacher, den Hermann Patsch auf Ende Januar 1800 datiert: KFSA 25, S. 52. KFSA 2, S. 350 f.: Lothario hält in der Zukunft sogar antike Tragödien wieder für möglich; die Freunde schlagen ihm daraufhin Stoffe vor: Niobe, Prometheus, Apollo und Marsyas. Damit endet das Gespräch.
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Dichter Schlegel an und damit auf die Erfüllung der Hoffnung auf eine gewendete Zukunft, die das Gespräch insgesamt artikuliert. Ähnliches gilt für das Athenaeum insgesamt. Die beiden abschließenden Hefte verkünden dem Publikum deutlich genug die Wandlung, die sich mit einem der Herausgeber vollzogen hat.¹⁴⁴ Das erste Stück des dritten Bandes bringt 1800 den Beginn des Gesprächs über die Poesie und eröffnet gleichzeitig mit dem Gedicht An Heliodora. Am Anfang des zweiten Heftes, in dem das Gespräch abgeschlossen wird, steht Schlegels lange Dichtung An die Deutschen. Und im Inhaltsverzeichnis zu III, 1 wird erstmals, entgegen der in der Vorerinnerung genannten Praxis der Zeitschrift, der volle Name des neuen Dichters genannt: „Von Friedrich Schlegel“¹⁴⁵ heißt es dort, für alle sichtbar. Das Programm einer ‚ästhetischen Revolution‘, das wurde deutlich, ist immer noch virulent, auch wenn der Begriff des Studium-Aufsatzes weggefallen ist. Aber der Unterschied ist gewaltig: Denn nun steht Schlegel selbst an der vordersten Spitze der poetischen Erneuerung. Die analysierten Selbstinszenierungen zeigen, dass er den Durchbruch zur Dichtung geradezu als Bestätigung seines kritischen, philologisch-historischen und philosophischen Denkens verstand. Ist es nicht das, was der Gedanke eines idealistischen Fortschritts mit sich bringt, so wie ihn beispielsweise Falk wenige Jahre später fasst? – „Tue nur erst was du kannst und was du sollst, so wird das übrige schon von selbst zufallen.“¹⁴⁶ Ist nicht die eigene Inspiration ein Beleg für die Möglichkeit, Gedichte aus „Ideen“¹⁴⁷ entstehen zu lassen, was Lothario am Schluss des Gesprächs über die Poesie ausdrücklich für möglich erklärt? – „Doch weiß ich selbst aus eigner Erfahrung […], daß einigemal der Erfolg meinen Erwartungen von einem bestimmten Gedicht entsprochen hat, was auf diesem oder jenem Felde der Kunst nun eben zunächst notwendig oder doch möglich sein möchte.“¹⁴⁸ Schlegels Dichtungen sind von der Forschung fast durchgehend vernachlässigt worden – ohne Zweifel deshalb, weil die Bedeutung, die das Dichten für ihn selbst gewonnen hat, nie ernst genommen wurde. Dabei stellt diese Wandlung zum Dichter für ihn eine mindestens ebenso große Zäsur dar wie die spätere Zur Zeitschrift vgl. Behler 1983, S. 13 – 58; zu den beiden letzten Heften vor allem S. 42– 45. Vgl.: Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm und Friedrich Schlegel 3 (1800), H. 1, unpag. Inhaltsverzeichnis (= S. 729 der durchlaufenden Seitenzählung im Ndr. hrsg. von Bernhard Sorg. 2 Bde. Dortmund 1989). In der Vorerinnerung vor dem ersten Heft 1798 heißt es, die beiden Schlegels würden ihre Beiträge mit der jeweiligen Initiale ihres Vornamens zeichnen; vgl. ebd., 1 (1798), H. 1, S. IV (= S. 12 des Nachdrucks). Friedrich Schlegel selbst bittet um die volle Nennung seines Namens; vgl. seinen Brief an Schleiermacher, 6. Januar 1800; KFSA 25, S. 43. KFSA 3, S. 98; Ernst und Falk. KFSA 2, S. 350; Gespräch. Ebd.
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Konversion. Schlegels Dichtungen sind dabei keine Gelegenheitsgedichte, sondern sie sind ebenso stark aufgeladen wie seine theoretischen und kritischen Schriften. Sie bilden aufschlussreiche Gegenstücke zu seiner kritischen und philologisch-historischen Reflexion. Während für den Kritiker Schlegel der Gelehrte in der Fluchtlinie der entstehenden Poesie selbst zum Dichter wird, so verhält es sich für den modernen Dichter umgekehrt: Er muss Gelehrter, muss Philologe sein: „Denn nur aus einer durchdringenden, ganz umfassenden Kenntnis des griechischen Altertums,verbunden mit einer ebenso gründlichen des romantischen Wesens, kann eine dauerhafte und gründliche Nachahmung, oder vielmehr Wiederbelebung und Einverleibung der großen Ideen des Altertums in unser eignes Wesen hervorgehen“¹⁴⁹ – so heißt es, bezogen auf die Dichter, 1804 in der Lessing-Edition. Und in einer Notiz von 1797 schrieb Schlegel zugespitzt: „Der vollkommne Poet muß auch ein φλ[Philolog] sein“.¹⁵⁰ An drei zentralen Beispielen aus allen drei Großgattungen soll dieses komplementäre Denken des Dichters Schlegel erschlossen werden: zunächst an der Lyrik, dann am Drama Alarcos, schließlich am Roland-Epos.
2 Antike und Moderne in Schlegels Lyrik Viele von Schlegels Gedichten sind poetologischer Art.¹⁵¹ Sie entfalten die Denkfigur einer kulturellen, ästhetischen Wendung. Aber viel mehr noch als in den vorherigen, kritischen Schriften steht diese Wendung nun in Reichweite des Subjektes, das in den Gedichten spricht. Deutlich vermengt sich das Glück über die eigene Inspiration mit dem entschiedenen Selbstbewusstsein, wie es das Ich von hymnischer Dichtung traditionell auszeichnet. So beispielsweise in An Heliodora, Schlegels Erstling, dem er nach der Publikation im Athenaeum ¹⁵² stets einen der
KFSA 3, S. 64; Bruchstücke aus Briefen. KFSA 16/1, S. 108; V, Nr. 285; vgl. das Athenaeum-Fragment 255; KFSA 2, S. 208 f. Als Text wird der von Hans Eichner herausgegebene Bd. 5 der KFSA zugrundegelegt. Ihm kommt das große Verdienst zu, Schlegels Gedichte in großem Umfang zugänglich zu machen. Editorisch aber ist der Band nicht unproblematisch. Dies betrifft schon die Entscheidung, die Texte in der Fassung der Wiener Gedichtsammlung (Friedrich Schlegel’s sämmtliche Werke. Achter und neunter Band. Wien 1823) vorzulegen. Daher wurden stets die Erst- und Originaldrucke hinzugezogen; im Falle der Lyrik ziehe ich sie oft der KFSA vor. Die Kritik Erlinghagens (2003, bes. S. 209 – 211) an den Editionen des Herkules Musagetes in der KFSA ließe sich auf andere Gedichte Schlegels übertragen. Athenaeum 3 (1800), H. 1, S. 1– 3 (S. 731– 733 im Ndr.). Hiernach wird im Folgenden zitiert.
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vordersten Plätze in seinen Gedichtsammlungen einräumt:¹⁵³ Das Ich beschreibt zunächst seinen alten, unbefriedigten Zustand, wo die Liebe aus seinem Herzen dringen wollte, es aber nicht konnte. Erst kraft des „Strahls“ (V. 9) der Inspiration erneuert sich das Ich: „Da wird ein Feuer aus den alten Funken“ (V. 17). Das Präteritum der ersten Verse weicht nun dem Präsens des begeisterten Sängers. Die inspirative Erkenntnis entfaltend, findet das Ich zu seiner Sendung. Sie beinhaltet Schlegels Programm einer Erneuerung der Kultur durch Reflexion und Wissenschaft – nun zugespitzt auf die Vereinigung von Wissen und Poesie in der Dichtung: Da kämpf ich Werke bildend sonder Wanken, Entreiße jeder Wissenschaft das Siegel, Verkündge Freunden heilige Gedanken, Und stifte allen Künsten einen Tempel, Ich selbst von ihrem Bund ein neu Exempel. (VV. 44– 48)
Unschwer ist zu erkennen, wie sich Poetologie und Autobiographie verweben. Der „heilige Friedrich“, wie Dorothea schreibt,¹⁵⁴ hat im Kreis der Freunde, im „Bund“,¹⁵⁵ eine neue Rolle gefunden. Die Zukunft ist nun Sache der Dichtung. Anlass zur Bescheidenheit hat der „neu[e]“ Sänger nicht. Das zweite Gedicht, das Schlegel schreibt, präzisiert dieses alt-neue Programm: Es richtet sich An die Deutschen. ¹⁵⁶ Das Glück über die eigene Inspiration erscheint hier („Auch ich sprachs aus“,V. 67) und auch der neue Bund: „(Auch mir seys höchstes Ziel, den Eid erfüllen!)“ (V. 78). Das inspirativ vermittelte Wissen besteht in einer Erkenntnis der idealistischen Einheit der Welt: „In sich hat sich der Geist von sich gefodert / Des Wissens Tief’ entsteigt neugrün die Erde“
In den Gedichten von 1809 (Berlin, S. 4 f.) folgt es gleich auf die Zueignung und Die Weise des Dichters. Die Werke von 1823 drucken Die Weise des Dichters und An Heliodora nach dem Roland, der den Band hier nun eröffnet: Schlegel, Werke, Bd. 8, S. 102– 104. Vgl. den oben schon zitierten Brief von Veit an Schleiermacher, 6. Januar 1800; KFSA 25, S. 39. Die Formierung eines Bundes von Gleichgesinnten durch den inspirierten Sänger ist ein klassischer Topos der Hymnendichtung; vgl. zu Klopstock und Hölderlin: Martin Vöhler: „Danken möcht’ ich, aber wofür?“ Zur Tradition und Komposition von Hölderlins Hymnik, München 1997, S. 51– 60 u. ö. Er sendet es am 16. Januar 1800 an Schleiermacher; vgl. den Brief an dens., KFSA 25, S. 47. Friedrich notiert dazu: „Daß ich Verse gemacht, damit ist auch ein großer Berg überstiegen: fürs Innere zunächst, und auch fürs Aeußre ist es gut und nützlich.“ Ebd., S. 48. Dorothea schreibt in der gleichen Sendung: „Friedrich hat wunderwürdige Tercinen gemacht“; ebd., S. 45. Das Gedicht wird zitiert nach Athenaeum 3 (1800), H. 2, S. 165 – 168 (S. 899 – 902 im Ndr.).
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(VV. 58 f.).¹⁵⁷ Der Sänger stiftet einen neuen Heldenbund, der die Kultur durch Wissen und Poesie erneuern soll, nun nicht in Kritik und Philologie, sondern durch das „Lied“: Was Hellas schlau ersann, was Indien blühte, Germanscher Männer Lied wirds neu entfalten (VV. 25 f.) […] die Heldenschaar ergießt Sich überall, erhebt den raschen Franken, Den Italiäner zur Natur, und Rom Wird wach und Hellas, dessen Götter sanken. (VV. 96 – 99)
Dass die freie, anarchische, durch Kunst geprägte Moderne sich durch Erkenntnis eine neue, ihr angemessene Natur schaffen möge – dies war die Hoffnung des Studium-Aufsatzes. Die Antike, an die Schlegel diese Hoffnung band, steht nun nicht mehr allein: Indien ist, als neuer Ort des Ursprungs, neben sie getreten. Aber immer noch ist die Antike das Paradigma, dem die Moderne auf ihre Weise gleichziehen muss. Unschwer erkennt man im Erwachen der versunkenen Götter jene Vorstellung einer neuen, aus Reflexion geborenen Mythologie. Der Weg dorthin führt nun dezidiert über eine Reflexion der Moderne, des romantischen Erbes der Franken und Italiener, das es in der Gegenwart zur „Natur“ zu erheben gelte. Es ist Schlegels altes Programm einer Erneuerung der Kultur durch eine Verbindung von Poesie, Philologie, Philosophie und Geschichte, einer Revolution der Dichtung durch die philologisch-historische Erkenntnis. Grabe du tief in das Buch, bis Du gefunden den Kern. Jegliches werde zur Kunst Dir, gebildeter was Du berührest. […] Wirket denn, Freunde, mit fröhlichem Mut; und zum Garten der Musen Wandelt herkulische Kraft noch die germanische Flur (VV. 96 f. und VV. 129 f.)¹⁵⁸
– so variiert Schlegel im Herkules Musagetes.
Schlegel scheint hier den ‚Heraklitischen Satz‘ aus Platons Symposion aufzunehmen: „Das Eine, sagt er [Heraklit] nämlich, das in sich entzweit ist, versöhnt sich mit sich selbst [διαφερόμενον αὐτὸ αὑτῷ συμφέρεσθαι] wie die Harmonie eines Bogens und auch einer Leier.“ Platon, Symposion, 187a; zitiert nach: dass. Hrsg. von Barbara Zehnpfennig. Hamburg 2000, S. 38 f. Zitiert nach KFSA 2, S. 418 f.; Über Lessing (1801).
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Im zweiten Heft der Europa heißt es 1803 prägnant zu dieser Verschmelzung von Philologie und Poesie: So zeigt sich nun jetzt der hohe Geist der Deutschen in einer edlen Rastlosigkeit und Tätigkeit, die gleich unermüdet ist, neue Quellen der Wahrheit und der Schönheit zu entdecken und zu ergänzen, und auch die, welche schon in alten Zeiten bei andern Nationen sich ergossen haben, von neuem zu beleben und auf die vaterländischen Fluren zu leiten. Die deutsche Literatur wird, nach dem gegenwärtigen Anfange zu urteilen, in nicht gar langer Zeit, alle andren ältern Literaturen verbannt, sich einverleibt und in sich aufgenommen haben. –¹⁵⁹
Die Dichtung eröffnet Schlegel einen neuen Weg der ‚Zueignung‘ der anderen, älteren Literaturen als das bloße kritische Studium. In der Reflexion der alten Dichtung in neuer Poesie würde die defizitäre Vergangenheit der Moderne „verbannt“. Ihre Dichtung würde der Gegenwart, dem fruchtbaren Augenblick der Moderne „einverleibt“, sie wäre aufgehoben im doppelten Sinne. Die Moderne bekommt hier einen deutlich nationalen Index: Deutschland ist die Speerspitze der Gegenwart.¹⁶⁰ Schlegels Programm einer philologisch-historisch reflektierten Dichtung legt nahe, die literaturhistorischen Vorlesungen in Paris und Köln als einschlägige Resonanzräume für seine Dichtungen zu verstehen. Aber von der Energie, mit der er die „ältern Literaturen“ studiert, um sie der Gegenwart einzuverleiben, sie ‚aufzuheben‘, zeugen auch die zahllosen Schemata, Skizzen und Bemerkungen in seinen Notizheften.¹⁶¹ Diese sind angefüllt mit technischen Reflexionen, metrischen Schemata und Überlegungen zur Prosodie. Sein Bruder hatte ihm schon vorher metrische und prosodische Hilfestellung geleistet, etwa mit den Betrachtungen über Metrik an Friedrich Schlegel und Ueber die Regeln des deutschen Jamben.¹⁶² Schlegels Spekulation verbindet sich auf eminente Weise mit der dichterischen Praxis. Die oben analysierten Gedichte verdeutlichen, dass für Schlegels philologische Dichtung das bewusste Formkalkül eine besondere Rolle spielt. An Heliodora beispielsweise besitzt die Struktur einer Hymne, wie sie in der Antike geprägt und in der Neuzeit aufgenommen wurde: Prooimion mit Empfang der Inspiration, Aretalogie, Parainese, am Ende der Ausklang im Jubel.¹⁶³ Die Form aber ist nicht
Schlegel: Beiträge zur Geschichte der modernen Poesie und Nachricht von provenzalischen Manuskripten (An A.W. Schlegel). In: Europa 1 (1800), 2. Stück, S. 49 – 71; KFSA 3, S. 17– 37, hier S. 17 f. Zur Ausnahmestellung Deutschlands vgl. schon Studium, S. 364. Vgl. KFSA 16/1, passim. August Wilhelm von Schlegel’s Sämmtliche Werke. Hrsg.von Eduard Böcking. 12 Bde. Leipzig 1846 – 1847, Bd. 7, S. 156 – 184 und S. 184– 196. Böcking datiert auf die zweite Hälfte der 90er Jahre. Vgl. Vöhler 1997, pass.
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antik, sondern dezidiert modern: Schlegel benutzt als Vers die gereimten Stanzen der italienischen Dichtung. Auch An die Deutschen ist von Struktur und Gestus her hymnisch. Hier nun dichtet Schlegel in Danteschen Terzinen.¹⁶⁴ Ein weiteres Beispiel für das Kalkül, antike und moderne Elemente zu verbinden, bieten die Hymnen von 1801.¹⁶⁵ Es handelt sich um drei Anrufungen antiker Gottheiten: des Apollo, der Diana und der Isis. Das Ich der Gedichte fordert von jeder der Gottheiten eine spezifische Gabe: von Apollo den Gesang,von Diana die Einweihung in die Mysterien, von Isis schließlich ihren unverschleierten Anblick. Das Wissen, dass die Erfüllung des Wunsches jeweils zum Tod des Sängers führen wird, ist die Pointe der Gedichte. Diese Hymnen nun kommen jedoch nicht in antiker Form daher – sondern als strenge Sonette, deren Terzette in kunstreicher Variation voneinander abweichen. In den zitierten Beispielen geht es jeweils um zweierlei. Erstens inszenieren diese Gedichte eine Verbindung von antiken und modernen, d. h. hier romanischen Elementen, sie bilden eine Synthese. Damit eignen sie zweitens diese Elemente insgesamt der Gegenwart und der deutschen Kultur zu. Die romanischen Formen, hier Stanze, Terzine und Sonett, treten von der philologischen Dichtung Schlegels und seines Kreises aus – vor allem natürlich August Wilhelms – ihren Siegeszug im deutschen 19. Jahrhundert an.¹⁶⁶ Sie stehen jedoch im Dienst der ästhetischen Revolution durch Reflexion und Zueignung der antiken und modernen Literaturen. Die genannten Beispiele sind von ihrer Struktur her recht einfach. Welche Komplexität jedoch diese ‚Einverleibung‘ und Aufhebung von Antike und romantischer Moderne in der Gegenwart annehmen kann, lässt sich beispielsweise am Gedicht Der welke Kranz nachvollziehen. Die ersten beiden Strophen seien hier zitiert: Der welke Kranz Es war noch Mai, da hast du sie gebrochen, In Blumen ausgesprochen, selber Blüte, Was blühend im Gemüte schon sich regte, Und heilig sich bewegte,
In den ersten Tagen des Januar 1800 las man im Hause Schlegel Dante; vgl. den Brief Schlegels an Schleiermacher, 6. Januar 1800; in: Aus Schleiermacher’s Leben. Zum Druck vorbereitet von Ludwig Jonas, nach dessen Tode hrsg. von Wilhelm Dilthey. 4 Bde. Berlin 1858 – 1863, Bd. 3, S. 146. Gedruckt zuerst in: Musen-Almanach für das Jahr 1802. Hrsg. von A.W. Schlegel und L. Tieck. Tübingen 1802, S. 235 – 237; KFSA 5, S. 306 f. Einflussreich war etwa: August Wilhelm Schlegel: Blumensträusse italiänischer, spanischer und portugiesischer Poesie. Berlin 1804. Bekanntlich hatte Gottfried August Bürger einige Jahre vorher das italienische Sonett zuerst wieder zu Ehren gebracht.
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Was kindlich ach! der Freund so gerne hegte, Wenn sie ihr Herzchen legte an das seine, Wo ich nun ewig weine. Die Veilchen sandte mir das Kind zum Zeichen, Die so mein Herz erweichen, daß die Augen Den Schmerz, den sie nun saugen, nie vollenden, Sich oft noch zu ihr wenden, Und finden welk den Kranz dann in den Händen. Wie der, hat sie zu enden früh erkoren, Sich unbewußt verloren. […]¹⁶⁷
Das Gedicht besteht insgesamt aus vier siebenversigen Strophen dieser Art. Die fünfte, abschließende umfasst nur fünf Verse. Sie wiederholt formal die dritte bis siebte Zeile des etablierten Musters. Die Editionsgeschichte des Gedichtes ist kompliziert. Entstanden ist es 1800, Schlegel gab es seiner Lebensgefährtin Dorothea Veit am 24. Oktober, ihrem Geburtstag.¹⁶⁸ Außerdem übersandte er es seinem Bruder für den Musenalmanach, den dieser gemeinsam mit Tieck herausgeben wollte.¹⁶⁹ Eine Intervention Caroline Schlegels aber verhinderte den Druck. In dem Kind des Gedichts, das dem Sprecher einen Veilchenkranz sandte und dann starb, konnte sie ihre Tochter Auguste Böhmer erkennen, die am 12. Juli 1800 gestorben war. Als skandalös aber musste es Caroline empfunden haben, dass das Gedicht sich ab der dritten Strophe an eine weitere Person wendet: die ihr verhasste Dorothea. Sowohl der Erstdruck des Gedichtes, der erst 1808 erfolgte,¹⁷⁰ als auch die Fassung, die Schlegel kurze Zeit später in die Sammlung seiner Gedichte aufnahm, sind verkürzt.¹⁷¹ Erst die Werkausgabe von 1823 druckt den Text vollständig. Der Sinn des Gedichtes mutet in der Tat skandalös an. Der Tod des Mädchens, den die ersten Strophen beklagen, leitet über zur Liebesvereinigung mit der
Text nach KFSA 5, S. 160 f. Eine ausführliche Deutung des Gedichtes bietet Hermann Patsch: „Wir dichten in italiänischen und in spanischen Weisen“. Friedrich Schlegels Gedicht Der welke Kranz und der Cancionero General. In: Geistiger Handelsverkehr. Komparatistische Aspekte der Goethezeit. Hrsg. von Anne Bohnenkamp und Matías Martínez. Göttingen 2008, S. 357– 376. In der Entstehungsgeschichte und den biographischen Bezügen folge ich Patsch 2008; hier S. 365; vgl. außerdem die Briefe von Schlegel an Tieck (5. Nov. 1801; KFSA 25, S. 304) und von Veit und Schlegel an Schleiermacher (25. Sept. 1801; KFSA 25, S. 297 f.). Vgl. Friedrich im Brief vom 20. Februar 1801 an August Wilhelm; KFSA 25, S. 236. In: Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1809. Tübingen [1808], S. 278. Vgl. Patsch 2008, S. 359 – 364; die Edition von Eichner beschreibt die Drucke ungenau, sie verzeichnet auch keine Varianten.
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zweiten Adressatin: „Uns, die in Lust des Todes Leben fanden, / Kühn die Natur verstanden in den Flammen / […] / Uns sei die Stirn umwunden“ (VV. 22– 25).¹⁷² Wie lässt sich diese Pointe deuten? Die biographische Ebene, die das Gedicht ohne Frage ausspielt, ist in eine philosophisch-literaturgeschichtliche Reflexion eingebettet. Die unbedingte Liebe, die sich in der Todeserfahrung erst erfüllt, ist für Schlegel eine genuin moderne Empfindung. Die Lucinde stand ganz in ihrem Zeichen:¹⁷³ dem der Sehnsucht nach einer Vereinigung von Mann und Frau.¹⁷⁴ In den Pariser Vorlesungen erhebt Schlegel die Liebe zum unterscheidenden Merkmal von Antike und Moderne: Sie sei ein „eigenes, sozusagen universales Gefühl […], welches bei allen einfacheren Nationen nicht vorhanden ist“.¹⁷⁵ Die Liebe ist Prinzip des modernen Strebens, sie gibt dem modernen Menschen seine „Richtung zum Geistigen, Unendlichen und Göttlichen“.¹⁷⁶ Sie ist unmittelbar verbunden mit der modernen Religion, dem Christentum.¹⁷⁷ Diese Liebesphilosophie setzt der Welke Kranz inhaltlich in Szene, wenn sich aus dem Tod des Mädchens die Hoffnung auf eine Vereinigung mit dem geliebten Du entfaltet. Gleichzeitig aber bemüht sich Schlegel, für dieses dezidiert moderne Thema auch eine genuin moderne Form zu entwickeln. Aufschlussreich ist ein Brief, den er an seinen Bruder schickt: […] ich habe eine neue Combination versucht, aber die Elemente sind freylich alle altromantisch. Nun bin ich zwar darin meiner Sache sehr gewiß daß grade hier die Stelle ist im System der romantischen Sylbenmaaße wo sich etwas ergänzen und neu erfinden läßt. […] Ich ging von der Idee aus, daß die Lyra und die Coplas de arte mayor dem innern Charakter des Alkäischen und Sapphischen Maaßes wie ihrem Ideal genähert werden müßten, indem ich diesen Dualismus für die Ode oder [bei] dem lyrischen (Pindarischen) Gedicht was zwischen der großen Canzone und dem Liede in der Mitte liegt für objektiv halte. – Um der Lyra diese musikalische Weichheit zu geben, glaubte ich wäre ein starker Gebrauch der encadenadas das beste, und da ich einmal so weit gegangen war erlaubte ich mir auch noch
Vgl. zur Deutung Patsch 2008, S. 359 – 364. Vgl. etwa die schon zitierten Worte des Prologs: „Aber was soll mein Geist dem Sohne geben, der gleich ihm so arm an Poesie ist als reich an Liebe?“ KFSA 5, S. 3. Die Lehrjahre der Männlichkeit im ersten Teil beschreiben die Läuterung des Julius nach einer Periode der Verwirrung und Haltlosigkeit. Die Analyse der Moderne, die Schlegel im StudiumAufsatz unternimmt,wird hier auf die Biographie des Helden übertragen: das falsche Streben nach ‚Interessantem‘ und ‚Pikantem‘, wie es im Studium-Aufsatz hieß, erhält hier eine Parallele in Julius’ leidenschaftlicher Haltlosigkeit. Die Krise gebiert aus sich eine Liebe, die nun nach Vereinigung mit ‚dem Weiblichen‘ strebt; KFSA 5, S. 35 – 58. Von Petrarca sagt Andrea im Gespräch über die Poesie, dass er „die Sprache der Liebe gleichsam erfunden“ habe; KFSA 2, S. 297; Gespräch. Alles: KFSA 11, S. 65; Geschichte der europäischen Literatur. Vgl. KFSA 11, S. 66; Geschichte der europäischen Literatur.
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einen guebrado in der letzten Zeile zu brauchen,welches ich in Lyras nie gefunden, aber oft in Coplas wo es herrliche Wirkung thut. Der Envoy ist dann wieder nur ein größerer Guebrado fürs Ganze.¹⁷⁸
Deutlich wird zunächst, welche zentrale Rolle Schlegel der formalen Arbeit zuweist. Sie steht eigentlich im Zentrum des Gedichtes. Dichtung begreift er als „System“, dessen Ausfaltung und Vervollständigung die Aufgabe der Gegenwart sei. Es geht auch hier um das Ganze, um die Formung der Moderne zu einer ihrer selbst bewussten Ganzheit, zur Epoche sui generis. Die Dichtung steht an der Spitze dieser Bewegung. Ihre Modernität liegt in der Reflexion ihrer Geschichte. Der historische Gegenstand dieser Reflexion ist die moderne Vergangenheit selbst, die romantische, romanische, hier: die spanische Dichtung.¹⁷⁹ Mit deren Aneignung vervollständigt die Gegenwart das ‚System‘ ihrer Dichtung. Entsprechend erfindet Schlegel im Welken Kranz eine Strophenform, die er aus romanischen Elementen zusammensetzt. Die siebenversige Strophe ist gereimt, sie setzt sich aus fünf Lang- und zwei Kurzzeilen zusammen, wobei die ersten jeweils elf Silben umfassen, die zweiten aber sieben. Neben dem Endreim fügt Schlegel Binnenreime ein, die er als „encadenadas“ (s.o.) bezeichnet. Sie verketten die Verse ineinander. Die Blaupause für dieses Schema findet sich – neben einer Fülle weiterer Entwürfe – in Schlegels Notizheften der Zeit: a b c
a b c c
d¹⁸⁰
c d
Brief Friedrichs an August Wilhelm, Ende Dezember 1800; KFSA 25, S. 214. Patsch korrigiert am Manuskript der Sächsischen Landesbibliothek (Mscr. e 90, XIX, Bd. 24.c, Nr. 158, non vidi) die offenbar fehlerhafte Transkription Walzels (Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder. Hrsg. von Oskar Walzel. Berlin 1890, S. 452), die auch in die früheren Bände der KFSA Eingang gefunden hat: dort: KFSA 5, S. LXVIII, und KFSA 16/1, S. 585. Das „[bei]“ scheint ein Einschub des Herausgebers zu sein. Schlegels Auseinandersetzung mit Spanien dokumentiert Ricardo Blanco Unzué: Die Aufnahme der spanischen Literatur bei Friedrich Schlegel. Frankfurt am Main u. a. 1981. Leider beschränkt er sich auf die Literaturgeschichte und -theorie, ohne die eigentliche Auseinandersetzung mit der spanischen Dichtung (etwa der Metrik) einzubeziehen; auch waren Blanco Unzué die meisten der Notizen aus Band 16/1 der KFSA unbekannt, die die intensive poetische Reflexion Schlegels dokumentieren. KFSA 16/1, S. 356; X, Nr. 118.
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Diese neue Form bezeichnet er als „Lyra“,¹⁸¹ also als Strophenform, die in Spanien erstmals im 16. Jahrhundert erscheint. Allerdings transformiert Schlegel die spanische Lira, die aus fünf endgereimten Versen mit zwei Elf- und drei Siebensilbern nach dem Schema aBabB besteht.¹⁸² Der Welke Kranz nimmt die Verslängen auf, erhöht aber die Anzahl der Verse, verändert ihre Abfolge sowie das Reimschema. Die Binnenreime fügt Schlegel hinzu. Sie sollen die „musikalische Weichheit“ (s.o.) seiner Lira erhöhen. Das Gedicht über die Erneuerung der Liebe im Tod adaptiert und verändert eine spanische Form. Aber damit ist die poetische Reflexion Schlegels noch nicht am Ende. Die Form hat noch einen weiteren Sinn, den Schlegel im zitierten Brief ebenfalls benennt. Die Transformation der romantischen Form eignet auch ein antikes Muster an: die Sapphische Ode. Der Brief ist an dieser Stelle nicht einfach zu verstehen. Schlegel unterscheidet mit „Lyra“ und „Copla[] de arte mayor“ (s.o.) zwei Hauptformen der spanischen Dichtung voneinander¹⁸³ und ordnet sie der Sapphischen resp. der Alkäischen Ode zu.¹⁸⁴ Diese beiden bilden für ihn einen „Dualismus“ (s.o.), der für die Ode¹⁸⁵ insgesamt unhintergehbar sei. Er interpretiert die modernen, romanischen Formen vor dem Hintergrund der antiken Muster.¹⁸⁶ Diese seien in gewisser Beziehung deren „Ideal“ (s.o.), der antike Dualismus „objektiv“ (s.o.) – der Gedanke, dass für den modernen Betrachter die Dichtungen der Antike die Theorie der Gattung gleichsam ‚seien‘, zieht sich schon seit dem Studium-Aufsatz durch Schlegels Denken. Er kehrt auch hier wieder,wo es um die Gewinnung moderner Formen geht.
Hier weiche ich in meiner Deutung von Patsch (2008, S. 368 f.) ab, der die Strophenform nicht als Lira fasst, sondern als Canzone bzw. als Kombination aus verschiedenen Elementen. Der Brief an August Wilhelm scheint mir aber eindeutig: „Um der Lyra diese musikalische Weichheit zu geben […]“. Die Darstellung der Lira folgt Rudolf Baehr: Spanische Verslehre auf historischer Grundlage. Tübingen 1962, S. 273 f. Vgl. zur copla de arte mayor: ebd., S. 198 – 201; Belege für Schlegels Beschäftigung mit dem Romancero General liefert Blanco Unzué 1981, S. 55 – 57. Walzel transkribiert die beiden Formen in umgekehrter Reihenfolge: „Sapphischen und Alkäischen Maaßes“; Friedrich Schlegels Briefe, S. 453. Dies würde der Zuordnung „Lyra“ – ‚sapphisch‘ und „Copla“ – ‚alkäisch‘ entsprechen. Hier wie auch an anderen Punkten weicht meine Interpretation der Form von derjenigen ab, die Patsch (2008) bietet. Dem Zusammenhang mit der antiken Dichtung geht er nicht weiter nach; mir scheint jedoch gerade auch dieser Aspekt wichtig zu sein. Der Ode entspreche dabei ein lyrisches Gedicht, das in der Mitte zwischen der großen Canzone und dem (kleinen) Lied liege. Schon im Entwurf Von den Zeitaltern, Schulen und Stylen der griechischen Poesie von 1795 heißt es, beide seien „die einzige Anschauung für zwei Hauptgattungen der lyrischen Poesie und Musik“; vgl. KFSA 11, S. 253; Geschichte der europäischen Literatur.
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Welches ist der „Dualismus“ (s.o.), der in den Oden Sapphos und Alakaios’ erscheint und der auch für die Gegenwart Geltung beanspruchen kann? In den Notizen aus dieser Zeit benennt ihn Schlegel immer wieder: Die Sapphische Ode sei die Grundform der Weiblichkeit, die alkäische diejenige der Männlichkeit.¹⁸⁷ Der Charakter der Sapphischen Ode sei dabei „zugleich wollüstig und schmerzlich elegisch“.¹⁸⁸ Während die antiken Formen den Dualismus rein repräsentierten, sei dies in der modernen, reflektierten Dichtung nicht mehr möglich. Denn die Wollust und der elegische Ausdruck zielten in der Moderne auf die Liebe, verstanden als universales Streben nach Vereinigung. Schlegel betont daher, dass in der Moderne unmöglich ein Sapphisches oder Alkäisches Gedicht unmittelbar nach antikem Muster gedichtet werden könne.¹⁸⁹ Aufgabe der Gegenwart sei es vielmehr, das Wesen der antiken Odenformen zu verstehen, sie aber gleichzeitig in den Horizont der Moderne zu übersetzen, also auf das moderne Ideal einer Vereinigung in der universalen Liebe hin zu führen: Das Ich im Welken Kranz strebt inhaltlich im Durchgang durch die Trauer um das tote Mädchen nach Vereinigung mit seiner Geliebten. Auch formal verändert Schlegel die antike Form, indem er sie mit einer modernen verschmilzt. Im zitierten Brief ordnet Schlegel die Lira dem Geist der Sapphischen Ode zu, die copla de arte mayor demjenigen der alkäischen. Im Kranz modifiziert Schlegel entsprechend die traditionelle Lira, indem er Momente der Sapphischen Ode in sie integriert. Der endecasílabo der Langverse entspricht der Silbenanzahl, die die ersten drei Verse des Sapphischen Schemas aufweisen. Vor allem aber die Umstellung der Lang- und Kurzverse in der Strophe nähert den Kranz dem Sapphischen Maß an. Denn anders als in der eigentlichen Lira über-
Beispielsweise: „Unter all[en] Liederformen zur Luc[inde] vorzügl[ich] Alk[äische] und Sapph.[ische] passend, wegen der Beziehung auf Männlichkeit und Weiblichkeit.“ KFSA 16/1, S. 247; VIII, Nr. 187. Schlegel hat auch diesen Gedanken in den schon zitierten Skizzen Von den Zeitaltern, Schulen und Stylen der griechischen Poesie ausführlicher entwickelt; vgl. auch KFSA 11, S. 253 f.; Geschichte der europäischen Literatur. Er bezieht sich dort auf Herders Abhandlung Alcäus und Sappho. Von zwei Hauptgattungen der lyrischen Dichtkunst, in: Terpsichore. Von J.G. Herder. Zweiter Theil. Lübeck 1795, S. 443 – 485. KFSA 16/1, S. 346; X, Nr. 40. So etwa im undatierten Brief an Schleiermacher (KFSA 25, S. 132), den Patsch auf den 1. Juli 1800 datiert, also kurz vor die Entstehungszeit des Welken Kranzes (Auguste Böhmer, deren Tod das Gedicht reflektiert, starb am 12. Juli): „Ich glaube, man sollte keine antiken Sapphischen Oden machen, weil das was man damit wollen kann, durch romantische Formen (die freylich bis jetzt im Deutschen noch nicht versucht sind außer von mir) für uns besser erreicht werden kann.“ Dies gelte jedoch nicht von den Elegien, sagt Schlegel im Anschluss, ohne weitere Gründe zu liefern. Er dichtete am Beginn des folgenden Jahres selbst seine Elegie Herkules Musagetes; vgl. den Brief Friedrichs an August Wilhelm, 16. Januar 1801; KFSA 25, S. 218.
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wiegen hier die Langverse. Die Kurzverse stehen dabei nicht an erster, dritter und vierter Stelle, sondern Schlegel rückt sie an die vierte und die siebte. Die ersten vier Verse adaptieren damit den charakteristischen Ausklang der Sapphischen Strophe mit dem Adoneus (‐vv-v): Auf drei Elfsilber folgt ein Kurzvers. Die Verse fünf bis sieben wiederholen diesen Effekt noch einmal in Abbreviatur: Die Strophe schließt mit zwei weiteren Langversen und einem letzten Kurzvers. Diesen quebrado (Kurzvers) hebt Schlegel in seinem Brief explizit heraus. Und während der Adoneus in der Sapphischen Ode den Daktylus und Trochäus aus den vorhergehenden Langversen anklingen lässt (V. 1– 3: -v-v-vv-v-v;V. 4: -vv-v), so transformiert Schlegel diesen rhythmischen Gleichklang in einen Reim: Die Kurzverse verweben sich bei ihm jeweils mit dem vorhergehenden Langvers durch einen Paarreim am Ende (Endschema: ABCcCDd). Inhaltlich und formal ist der Welke Kranz nichts weniger als Schlegels Versuch, die Sapphische Form in die Gegenwart zu übersetzen. Insofern zielt der Welke Kranz nicht nur auf die Vereinigung von Mann und Frau im Tod, sondern nach wie vor auf eine Verbindung von Antike und Moderne. Indem Schlegel die spanische Form der Lira variiert, begibt er sich bewusst in die Position, die er der italienischen und spanischen, der romantischen, modernen Dichtkunst als Literaturhistoriker zuweist.¹⁹⁰ Deren Formen, so entwickelt er in den Pariser und Kölner Vorlesungen, hätten, anders als diejenigen der Antike, ihren Ausgang nicht von der Natur genommen, sondern von der Kunst.¹⁹¹ Die romanischen Sprachen seien nicht von selbst entstanden, sondern „ganz wissenschaftlich“¹⁹² von den Gelehrten aus der lateinischen abstrahiert worden. Eine solche künstliche, moderne Sprache aber könne nicht anders „zur Poesie gebildet werden“ als durch ein wiederum künstliches Mittel: „Dieses Medium ist nun der Witz.“¹⁹³ Aus ihm seien, durch bewusstes, gelehrtes Kalkül, die Formen der romanischen Dichtung hervorgegangen, ihre Silbenmaße und Gedichtarten wie Sonett, Terzine, Kanzone. Diese Theorie des Witzes, wie Schlegel sie in Paris entwickelt, schließt an die früheren Überlegungen zur Ironie, zum Fragment und zu Lessings undichterischem, kritischem Charakter an.¹⁹⁴ Der Witz ist für Schlegel ein genuin modernes
Zu Schlegels Begriff von der italienischen Renaissance: Behler 1994; Überblick: Karlheinz Stierle: Italienische Renaissance und deutsche Romantik. In: Italien in Germanien. Deutsche Italien-Rezeption von 1750 – 1850. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann. Tübingen 1996, S. 373 – 404. Über die italienische Literatur bei beiden Schlegels berichtet Helmut Meter: Die italienische Literatur in den Schriften von August Wilhelm und Friedrich Schlegel. In: ebd., S. 150 – 168. Zur Kontinuität der Moderne von den Italienern an: Behler 1994, S. 189 f. KFSA 11, S. 146; Geschichte der europäischen Literatur. KFSA 11, S. 147; Geschichte der europäischen Literatur. Vgl. dazu Frank 1994, S. 294 f.
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Mittel, da er aus (gelehrtem) Wissen hervorgehe und sich auf das Wissen, die Erkenntnis, richte. Er habe damit den gleichen Gegenstand wie die Wissenschaft – besitze aber doch eine andere Form.¹⁹⁵ Während diese streng entwickle, treibe der Witz ein „Gedankenspiel“, er sei „absolut freie“ Tätigkeit des – gleichwohl wissenschaftlichen – Geistes. Und gerade hierin liege sein poetisches Moment. Er vermeide in der Form „das streng Bestimmte, Philosophische, Wissenschaftliche“ und setze an dessen Stelle „eine kühne, freie Versetzung aller jener Elemente“: „eine schöne phantastische Unordnung“.¹⁹⁶ Der Witz gleiche daher der „Divination“¹⁹⁷: Durch seinen „weissagenden Blick“ errate er „alles, was sich auf unendliche Fülle bezieht“. Das Hybrid der Form im Welken Kranz ist eine solche Arbeit des Witzes. Er ‚versetzt‘ antike und moderne „Elemente“ (s.o.), die das philologisch-historische Wissen bereitstellt. Insofern ist der Kranz eine bewusst philologische Dichtung, gemäß dem Diktum, dass der moderne Dichter gleichzeitig Philologe sein müsse. Schlegel stellt sich mit seiner Poesie dezidiert in die Position einer reflektierten Modernität.¹⁹⁸ Die moderne Dichtung geht durch die Gelehrsamkeit hindurch und ‚verleibt‘ sich damit die Tradition der bisherigen Dichtung ‚ein‘: hier den objektiven Charakter der Sapphischen Ode, wie er in der Antike rein erscheine. Diese Akte der Zueignung zielen auf eine Füllung des ‚Systems‘ der modernen Dichtung. Indem der Welke Kranz die Literaturen der Vergangenheit in die deutsche Gegenwart hinübersetzt, will er ein Schritt sein auf dem Weg zu einer progressiven Entfaltung der Moderne als Epoche.
3 Aischyleische Moderne – Das Drama Alarcos Schlegels philologisch-historische Dichtung bildet keinen bloßen Nebenaspekt seines Werkes. Wenn die spätere Rezeptionsgeschichte den romantischen Theoretiker kanonisierte, den Dichter aber vergaß, dann beruht das auf einem Missverständnis. Für die Beschäftigung mit Schlegel stellt es gerade keinen Einwand dar, dass, wie Hans Eichner urteilt, seine „Neigung“ zur Theorie für die Dichtung
KFSA 11, S. 147; Geschichte der europäischen Literatur. Die vorhergehenden Zitate ebd. Dies und das Folgende in den philosophischen Notizen der Kölner Zeit, abgedruckt in KFSA 11, S. 301, Anm. 192; Geschichte der europäischen Literatur. Behler zitiert dort andere Stellen zum Witz auch aus früheren Schriften Schlegels. Vgl. Behler 1994, S. 183; allerdings würde ich der dortigen Interpretation des Studium-Aufsatzes nicht zustimmen.
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insgesamt „ungünstig“¹⁹⁹ gewesen sei. Sein Dichten beansprucht eine zentrale Stelle in seinem Denken – und zwar gerade aufgrund des Verfahrens, das Eichner moniert: „Versmaße abstrakt auf dem Papier zu konstruieren“.²⁰⁰ Rekonstruiert man Schlegels Verfahren, so zeigt sich, dass Eichner seinen Gedichten mindestens eines zu unrecht abspricht: den „tiefere[n] Gehalt“.²⁰¹ Wie ernst Schlegel seine Poesie nahm, verdeutlicht das Gedicht Mahomets Flucht. ²⁰² Es erschien zuerst 1807 im Dichter-Garten, ²⁰³ wahrscheinlich aber entstand es im Umkreis von Schlegels Reise nach Paris Ende Juli 1802.²⁰⁴ Der verkannte Mohammed stößt hier eine Suada gegen seine Landsleute aus, die ihn aus der Heimat vertrieben haben. Er verwirft, was die Unverständigen ihm vorhalten: Das ist Lug nur und Verleumdung, Daß ich Neues stiften wollte, Mich nur meinend, wie ihr sprachet, Einzig dienen meinem Stolze. (VV. 38 f.)
Nicht Eitelkeit aber und Neuerungssucht trieben ihn um. Die Neuerung, die er wirke, gelte vielmehr der höchsten Wahrheit; und sie bringe nur das Alte, Ehrwürdige und in der Gegenwart scheinbar Verlorene wieder: Die ich dichte, meine Rede Quillt hervor aus dem Verborgnen, Schwingt sich ruhig fort im Sturme, Flammend steigt sie auf zur Sonne, Und ich darf mich kühnlich stellen
KFSA 5, S. LXVIII. Ebd. So Hans Eichner in KFSA 5, S. LXVII. KFSA 5, S. 304 f. Eichner ordnet das Gedicht fälschlicherweise der Rubrik „Scherzgedichte“ zu; sowohl der Kolumnentitel der KFSA ist fehlerhaft (S. 305) als auch die Einleitung (S. XCIII). Das Gedicht steht in den Sämmtlichen Werken von 1823 vielmehr unter den „Kunstgedichten“ (vgl. dort, S. 23 – 25) – es handelt sich also keineswegs um einen Scherz. August Wilhelm Schlegels anonyme Rezension des Dichter-Gartens unterstreicht dies: „‚Mahomets Flucht‘ athmet hohen Unwillen in überströmender Fülle der Rede. Wem eine andere Auslegung zu kühn und stolz dünkt, der sehe darin nur was der Name aussagt“; abgedruckt in: A.W. Schlegel, Werke, Bd. 12, S. 206 – 216, hier S. 215. Dichter-Garten. Erster Gang. Violen. Herausgegeben von Rostorf. Würzburg 1807, S. 67– 69. ‚Rostorf‘ ist der Bruder des Novalis, Karl Gottlob Albrecht von Hardenberg.Vgl. zu dem Almanach die Einführung von Gerhard Schulz in seinem Neudruck, Bern u. a. 1979. So datiert Eichner bestimmt, aber ohne Belege (KFSA 5, S. XCIII); sein Verweis auf A.W. Schlegels Werke trägt zur Datierung nichts bei.
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Zu den Alten unsers Volkes. (VV. 28 – 33)
Unschwer erkennt man hinter der Maske Mohammeds Schlegel und sein Programm einer ästhetischen Revolution, einer Erneuerung der Gegenwart durch die Reflexion der Vergangenheit. Und es ist weder Zufall noch eine Kleinigkeit, dass Schlegel hier durch die Maske des Propheten spricht – eines Propheten, der, wie der Leser weiß, nach seinem Exil in Medina siegreich nach Mekka zurückkehren und seine Religion stiften wird. Mahomets Flucht lässt zornig den verkannten Propheten sprechen; und das Gedicht gibt im gleichen Zuge zu verstehen, worin sich sein Urheber besonders gekränkt fühlt. Es ist dies die Form – und zwar speziell die Aneignung der spanischen Metrik, die Schlegel mit Eifer betrieb. Mahomets Flucht umfasst 65 trochäische Vierheber ohne Strophengliederung. Die Verse sind nicht gereimt – aber sie sind durch Assonanzen verbunden. Jeder zweite Vers endet mit einem Wort, dessen letzte betonte Silbe den Vokal ‚o‘ trägt, dem ein ‚e‘ nachfolgt: „wollte“ – „sprachet“ – „Stolze“ – „Glauben“ – „gestorben“ – “ kamen„ – “wollen“ etc. (VV. 39 – 45). Die Assonanz bildet nach 1800 einen weiteren zentralen Gegenstand von Schlegels Reflexion. Ihre ‚Zueignung‘ betreibt er ebenso intensiv wie die der romanischen Gedichtformen – allerdings mit ungleich geringerem Erfolg, ja, eben sogar nicht selten zum Spott der Zeitgenossen. Eine einschlägige Kränkung, die mit der Assonanz verbunden war, hatte Schlegel an einem Großprojekt erfahren, an dem er seit dem Frühjahr 1801 arbeitete.²⁰⁵ Gemeint ist das Drama Alarcos. ²⁰⁶ Gerade ihn hebt er in den folgenden Jahren immer wieder als Dichtung der romantischen Avantgarde hervor. In der Europa etwa reflektiert er über die eigenen Anstrengungen. Im Aufsatz Literatur historisiert sich Schlegel selbst als Dichter und als Kritiker, er liefert eine Bestandsaufnahme des Erreichten, eine Aufforderung, weiteres zu leisten, und einen Beleg, dass die Anstrengung fruchte und die Zeit ihrer Wendung entgegen schreite. Einerseits nennt er dort das Athenaeum als Organ und Zeichen für den Fortschritt der Kritik. Andererseits stellt er neben Goethes Iphigenie, Schiller und den Ion
Vgl. den Brief Schlegels an Schleiermacher, 17. April 1801; KFSA 25, S. 258. Zur Entstehungsgeschichte des Alarcos vgl. Hans Eichner in KFSA 5, S. LXXI–LXXVI; und, mit neuen Akzenten, Hermann Patsch in KFSA 25, S. LXVII–LXX. Der Alarcos wird im Folgenden zitiert nach der Ausgabe: Friedrich Schlegel: Alarcos. Ein Trauerspiel. Historisch-kritische Edition mit Dokumenten. Hrsg. von Mark-Georg Dehrmann unter Mitarbeit von Nils Gelker. Hannover 2013 (‚Alarcos‘ mit Seite, es folgt die Verszählung). Die folgende Deutung ist dort in meinem Nachwort in z.T. substantiell erweiterter Fassung zum ersten Mal erschienen (Dehrmann 2013).
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seines Bruders das eigene Drama. Diese Werke bewiesen, dass die Dichtkunst „zur ernsten Wissenschaft geworden“²⁰⁷ sei. Eine Deutung des Alarcos muss die Emphase ernst nehmen, die Schlegel seinem Stück verleiht. Sie darf dabei seine Form nicht vernachlässigen. Auch der Alarcos ist eine Dichtung des Witzes, bewusst kombinatorisch, philologisch-historisch. Es gilt jedoch auch hier, diese philologische Reflexion präzise zu rekonstruieren: Alarcos ist nicht bloß allgemein eine Dichtung, sondern er ist ein Drama, genauer noch: ein „Trauerspiel“.²⁰⁸ Seine Gesamtstruktur muss daher auf Schlegels Reflexion zum Drama bzw. zur Tragödie als Gattung hin gedeutet werden, so wie Der welke Kranz sich auf jenen objektiven Dualismus bezieht, den Schlegel in der Ode für objektiv hält. Wenn der Alarcos in der Forschung als Ideendrama gewertet wird, so ist das gewiss insofern zutreffend, als dadurch ein psychologischer Konflikt des Helden aus dem Zentrum gerückt wird.²⁰⁹ Aber auch hier gilt es zu präzisieren: Die Ideen, die die dramatische Handlung entfaltet, haben einen historischen Index. Sie sind reflektierte Momente, die die hermeneutische, philologische, historische Arbeit sich angeeignet hat und die im Drama zu einer neuen, modernen Form synthetisiert werden sollen. Die Elemente, die Schlegels künstlicher Witz kombiniert, erschließen sich nicht nur auf der Handlungsebene. Sondern sie finden sich auch in der Form des Dramas, in seinem Aufbau, der Behandlung der Charaktere, in den Vers-, Reim- und Strophenformen. Eine Gesamtdeutung des Alarcos soll hier nicht unternommen werden. Aber es gilt zu zeigen, wie er in Schlegels Programm einer ästhetischen Revolution durch Philologie und Dichtung eingebunden ist. Auch der Alarcos ist ein Hybrid, das auf die Erfüllung der Moderne durch eine reflektierte Synthese von Antike und Moderne zielt.²¹⁰ Einen Hinweis darauf liefert
Athenaeum: KFSA 3, S. 9 f; Literatur (in der Europa, 1803); die Dramen: ebd., S. 14. So lautet der Untertitel des Stückes. So die neueren Deutungen von Albert Meier („Gute Dramen müssen drastisch sein“. Zur ästhetischen Rettung von Friedrich Schlegels Alarcos. In: Goethe-Yearbook 8 [1996], S. 192– 209, insbes. S. 201) und Monika Ritzer (Das Experiment mit der romantischen Tragödie: August Wilhelm Schlegels Ion und Friedrich Schlegels Alarcos. In: Grenzgänge. FS Hans-Jürgen Knobloch. Hrsg. von Helmut Koopmann und Manfred Misch. Paderborn 2002, S. 59 – 90, insbes. S. 84). Diese Intention Schlegels wurde in der älteren Forschung zum Alarcos stets mitgeführt, aber kaum entfaltet; vgl. etwa Allen W. Porterfield: The Alarcos Theme in German and English. In: Germanic Review 6 (1931), H. 2, S. 125 – 143, hier S. 136 f.; Eichner, KFSA 5, S. LXXI. Erst Meier (1996, S. 200 f.) nimmt diesen Punkt auf, betont aber die Absetzung vom Antiken wie vom Romantischen, die er in der Konstruktion des Helden verortet: Alarcos kenne weder die „‚innere Freiheit‘ antiker Heroen“ noch die christliche Erlösung Calderóns. Das Drama demonstriere vielmehr die modernromantische „Defizienz des Subjekts“. Meiers Argument ist generell gemeint, als eine Bestandsaufnahme der Moderne. Mir scheint dagegen, dass der Sinn des Alarcos sich spezifisch aus
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die genannte Selbstdeutung in der Europa, die 1803, ein Jahr nach dem Alarcos, erscheint: „Der Zweck des Alarkos [sic!] kann niemandem undeutlich sein; es soll ein Trauerspiel sein, im antiken Sinne des Wortes*, aber in romantischem Stoff und Costum.“²¹¹ Eine Anmerkung präzisiert: „*Vorzüglich nach dem Ideale des Aeschylus.“ Die Trennung von antikem „Sinn[]“ und romantischem „Stoff und Costum“ verhält sich analog zu dem Verfahren im Welken Kranz, der eine in der antiken Dichtung erscheinende Idee in eine romantische Strophenform transformieren sollte. Um dieses Verfahren hier, im Trauerspiel, zu verstehen, gilt es, Schlegels Auffassung vom antiken Drama nachzuvollziehen.²¹² Der Schlüssel liegt hier wiederum in seinen Pariser Vorlesungen. Das griechische Drama wird dort, wie die anderen Gattungen und Formen auch, aus der ‚Naturgeschichte‘ der antiken Dichtung entwickelt. Immer noch liegt der Gedanke des Studium-Aufsatzes zugrunde, dass die Antike sich aus der Natur entfaltet habe, die freie, reflektierte Moderne dagegen als eine offene Geschichte des Künstlichen und der Kunst. Das griechische Drama sei daher an seinen spezifischen Ort in jener anderen, der Moderne entgegengesetzten Kultur gebunden. Es entstehe aus der Religion, sein Gehalt sei mythologisch, seine Tendenz rhetorisch, seine Funktion auch politisch.²¹³ Die Moderne darf es nicht lediglich nachahmen. Aber ihre Stärke besteht darin, dass sie dieses Drama innerhalb der Entwicklung der griechischen Kultur verstehen kann. Die hermeneutische Bewegung richtet sich nicht nur auf die äußere Gestalt, sondern auf seinen Geist. So erscheint wiederum ein „allgemein anwendbare[s] Objektive[s]“²¹⁴ – mit einer Wendung des Studium-Aufsatzes gesprochen: Aus der Anschauung der Einzelwerke und ihrer Geschichte geht die Theorie des Dramas hervor, die sich auch die Moderne zueignen kann.
der Reflexion auf seine Gattung ergibt. Die Anthropologie – wenn man so will – des Dramas hat spezifische Geltung in Bezug auf die Gattung der Tragödie. Der Alarcos wäre dann eine reflektierte Tragödie und nicht so sehr eine allgemeine Reflexion über die condition des modernen Menschen an sich. Ritzers Interpretation (2002, S. 84 f.) erscheint mir plausibler: Ehre als das moderne Prinzip werde mit antiker, tragischer Notwendigkeit ausgestattet. KFSA 3, S. 14; Literatur (in der Europa, 1803). Schlaglichter auf Schlegels Dramentheorie wirft: Michele Cometa: Die Theorie des romantischen Dramas bei Friedrich Schlegel. In: Das romantische Drama. Produktive Synthese zwischen Tradition und Innovation. Hrsg. von Uwe Japp. Tübingen 2000, S. 21– 43. Vgl. KFSA 11, S. 74 f.; Geschichte der europäischen Literatur. Zur Theorie der Tragödie bei beiden Schlegels vgl. Ernst Behler: Die Theorie der Tragödie in der deutschen Frühromantik (1978). In: ders.: Studien zur Romantik und zur idealistischen Philosophie. [Bd. 1] Paderborn u. a. 1988, S. 196 – 207. KFSA 11, S. 77; Geschichte der europäischen Literatur.
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Diese gesetzgebende Anschauung besitzt für Schlegel zwei Momente: „Das Objektive in der Form“ und das „Objektive in der Materie“. Jenes liege in der „hohen Vollendung des Stils, [der] Würde, Kraft, Pracht und Erhabenheit der Sprache“, dieses im „Pathos“, in der Darstellung von „Leiden und […] Schmerz“.²¹⁵ Beide Momente gilt es im Alarcos aufzusuchen. Zunächst zum Pathos: Alarcos spielt in den spanischen ‚mittleren Zeiten‘.²¹⁶ Der Protagonist ist Ritter am Hofe des Königs. Gleich zu Beginn schlingt Schlegel den tragischen Knoten. Solisa, die Tochter des Königs, ist heftig in Liebe zu Alarcos entbrannt. Leichtfertig hatte dieser ihr vor seiner Heirat mit Clara die Ehe versprochen. Der König, dem dies hinterbracht wird, fordert, dass er seinem Wort treu bleibe. Alarcos’ Ehre steht auf dem Spiel, und der König lässt keinen Zweifel, wie diese wieder herzustellen wäre: durch den Mord an Clara. Der – gewiss forciert konstruierte – tragische Konflikt ist maximal: Denn Alarcos hat nun keine andere Wahl, als zur Tat zu schreiten. Dass ihn dies innerlich zerreißt, ändert nichts an der Unausweichlichkeit, mit der Schlegel diese Situation ausstattet. Selbst die liebende Donna Clara sieht die Notwendigkeit ihres Todes ein, als Alarcos seine Lage offenlegt.²¹⁷ Sie verletzt sich zunächst selbst, Alarcos vollendet dann den Mord. Sterbend prophezeit Clara die göttliche Rache, die binnen dreier Tage die Schuldigen dahinraffen werde. Wer damit gemeint ist, ob sich die Prophezeiung auch auf Alarcos bezieht, sagt sie nicht. Cornelia freilich, Claras Mutter, malt Alarcos in einer wilden, gleichfalls „prophet’sche[n]“ Rede das Inferno aus, in dem er in Ewigkeit leiden wird. Als daraufhin Boten zunächst die Nachricht vom Tod Solisas und des Königs bringen, die beide, rasend und wahnsinnig, vom plötzlichen Tod ereilt wurden, spricht Alarcos selbst das Urteil über sich: Er bringt sich um. Sein Geschlecht und das des Königs sind ausgelöscht, in einer so raschen wie fürchterlichen Wendung: „OCTAVIO: In blut’gen Thränen reden diese Leichen / von Unschuld, Schuld, Verzweiflung, Gottes Rache.“²¹⁸ Alarcos zielt auf die Unausweichlichkeit der Katastrophe. Die ‚Freiheit‘ des Helden liegt darin, dass er seinen tragischen Konflikt bewusst, in voller Intensität
KFSA 11, alle Zitate S. 77 f.; Geschichte der europäischen Literatur. Die Umschichtungen in der zeitgenössischen Tragödientheorie, die zu einer verstärkten Rezeption vor allem Calderóns führten, arbeitet Marie-Christin Wilm heraus: Calderón in Weimar. Tragödientheoretische Begründungen seiner Rezeption zu Beginn des 19. Jahrhunderts (Tieck, A. W. Schlegel, Schelling, Goethe). In: Von Spanien nach Deutschland und Weimar-Jena. Verdichtungen der Kulturbeziehungen in der Goethezeit. Hrsg. von Dietrich Briesemeister und Harald Wentzlaff-Eggebert. Heidelberg 2003, S. 305 – 325. Alarcos, S. 35: „CLARA: So laß es uns muthig vollenden. / Es kann ja die Schickung nicht Hoffen noch Furcht von uns wenden!“ (VV. 815 f.) So auch Ritzer 2002, S. 84– 86. Alarcos, S. 50; VV. 1274 f.
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realisiert und sich zu ihm verhalten muss.²¹⁹ Sein Selbstmord ist ein Akt dieser Freiheit im Unausweichlichen. Alarcos gibt sich selbst den Tod, bevor Gott ihn richtet.²²⁰ Die Ideen, in denen sich diese Unausweichlichkeit vollzieht, sind modern: der rächende, Gerechtigkeit übende christliche Gott und die Ehre, die Schlegel wiederholt als eines der Hauptelemente der ‚romantischen‘ spanischen Literatur bezeichnet.²²¹ „Ehre selbst gebietets, Ehre wandelt Lieb’ in Haß“, so spricht Alarcos kurz vor dem Mord zu Donna Clara; und diese, ganz einverstanden, entgegnet: „Weh der Liebe, steht sie mit der hohen Ehr’ in Kampf!“²²² In der tragischen Konstellation nach einem möglichen Ausgleich zu suchen – und damit etwa Alarcos’ ‚falsches Verhalten‘ zu kritisieren – wäre verfehlt.²²³ Seine hamartía liegt nicht darin, dass er an der Ehre festhält; sondern sie geht allenfalls aus seinem Wort hervor, das er einst leichtfertig an Solisa gegeben hatte. Schlegels Trauerspiel zielt auf das Pathos, das sich durch die von Beginn an unausweichliche Lage ergibt. Entwickelt wird dieses Pathos – als antikes ‚Objektives‘ – in einer modernen Konstellation, im „romantischen Stoff“.²²⁴ Diesen hat Schlegel dabei nicht erfunden. Dem Alarcos liegt eine spanische Romanze zugrunde, aus der bereits Lope de Vega die Handlung für sein Drama La fuerza lastimosa gewonnen hat. Auszüge daraus druckte Friedrich Justin Bertuch 1782 unter dem Titel Der schmerzliche Zwang in seinem Magazin der spanischen und portugiesischen Literatur. ²²⁵ Bertuch fügt nicht nur eine kurze Analyse des Dramas
Vgl. Ritzer 2002, S. 88: Alarcos bestätige sich „in allen Stadien des Geschehens als Subjekt seines Tuns und Leidens.“ So Dagobert: „Freiwillig ging von dannen so der stolze Held, / Er wart’te nicht, bis seiner Freiheit Schmach geschehn.“ (VV. 1276 f.) Alarcos, S. 50. Diese Konstruktion erinnert an den Sophokleischen Aias. Die Ehre ist ein zentrales Motiv im Theater des Siglo de Oro; vgl. die Notiz in KFSA 16/1, S. 308; IX, Nr. 650: „In der τραγ[Tragödie] muß wohl alles auf Ehre beruhn.“ So auch in den Pariser Vorlesungen KFSA 11, S. 155; vgl. Ritzer 2002, S. 84; Meier 1996, S. 196. Alarcos, S. 32; VV. 737 f. Die Passage ist eine von zwei Stichomythien im Alarcos. Der Held und Clara sind sich einig in der Notwendigkeit ihres Todes, die stichomythische Auseinandersetzung führt sie jedoch als Repräsentanten der Begriffe gegeneinander: Alarcos repräsentiert die Position der Ehre, Clara diejenige der Liebe. Dies versucht Beatrice Osdrowski: Die Brüder Schlegel und die ‚romantische‘ Dramatik. Ein typologischer Vergleich von Theorie und Praxis des ‚romantischen‘ Dramas in Deutschland und Spanien. Diss. Jena 2004 (http://www.db-thueringen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-7733/ Dissertation_Osdrowski.pdf [Sichtung am 28. April 2011]), S. 207: Alarcos sei zum Scheitern verurteilt, weil er sich „nicht endgültig für die absolute Liebe entscheidet“; auch S. 212 f. KFSA 3, S. 14; Literatur (in der Europa, 1803). Der schmerzliche Zwang. Schauspiel aus dem Spanischen des Lope de Vega. Auszugsweise von Herrn B.v.S. In: Magazin der Spanischen und Portugiesischen Literatur 3 (1782), S. 1– 101. Ausführliche Untersuchungen anderer Bearbeitungen des Stoffes und möglicher Quellen Schle-
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hinzu, sondern auch die Übersetzung der spanischen Romanze vom Grafen Alarcos und Infantin Solisa. ²²⁶ Egidio Gorra konnte überzeugend diesen Druck als wichtige Quelle für Schlegel nachweisen, und zwar das Gedicht, nicht aber Lopes Stück, das dem Stoff ein untragisches Ende verleiht.²²⁷ Insbesondere in zwei Momenten zeigt sich dies. Die Romanze gründet ebenfalls in einem unlösbaren Konflikt der Ehre: Der König kann die seine nur bewahren, wenn Alarcos seine Gattin umbringt, und Alarcos verspricht „auf Ritter-Ehre“,²²⁸ dass er dies tun wolle, obwohl die Tat ihm widerstrebt. Zweitens führt das Gedicht, genauso wie Schlegel, Alarcos ein, wie er den anderen Rittern gegenüber seinen Begriff von Beständigkeit, Treue und Ehre entwickelt.²²⁹ Indem er den Stoff seines Dramas aus einer Romanze nimmt, entspricht Schlegel einer Forderung, die Antonio im Gespräch über die Poesie aufstellt. Während die antike Tragödie Mythen aufgenommen habe, ruhe das moderne Drama, ja, die „romantische Poesie“ insgesamt, „auf historischem Grunde“.²³⁰ Als Beispiel führt Antonio Boccaccio an, dessen Novellen im Decamerone „wahre
gels bieten: Egidio Gorra: Un dramma di Federigo Schlegel. Parte Prima. In: Nuova antologia 149 (1896), S. 431– 459, und 150 (1896), S. 692– 762; Porterfield 1931. Bertuch (Übs.): Romanze vom Grafen Alarcos und Infantin Solisa. In: Magazin der Spanischen und Portugiesischen Literatur 3 (1782), S. 102– 128. Vgl. Gorra 1896, S. 709 f. Schlegel schätzt Lope insgesamt nicht, vgl. etwa die Vorlesungen, KFSA 11, S. 164 f.; Geschichte der europäischen Literatur. Dennoch ist es bedeutsam, dass der Alarcos sich in der Grundtendenz diametral zu Lopes untragischer Lösung verhält. Der Alarcos ist ein Gegenentwurf zur Fuerza lastimosa und auch zu Bertuchs Analyse des Stückes, die auf den Druck folgt: „Ehrgeiz und menschliche Schwachheit war [sic!] es, die ihn [Alarcos] in einer unglücklichen Stunde fallen machte“ (Bertuch [Übs.], Romanze, S. 127). Dagegen wendet Schlegel die ganze Wucht seines Pathos. Insofern kann man Hans Eichners Beobachtung widersprechen, dass Schlegel Bertuchs Magazin „keine oder nur unbedeutende Anregungen“ verdanke (KFSA 5, S. LXXII). Er findet darin seine Quelle und gleichzeitig eine Negativfolie für die eigene Bearbeitung. Darüber hinaus hatte Schlegel jedoch auch ein spanisches Original der Romanze zur Hand; vgl. den Brief an Schleiermacher, 20. April 1802; KFSA 25, S. 357. Bertuch (Übs.), Romanze, S. 111. Vgl. ebd., S. 107; Alarcos, S. 232: „So lebt’ ich liebend stets in treuem Bunde, / Das mag ich bei dem Theuersten beschwören.“ (VV. 304 f.) In der Rezeption wurde dieser Widerspruch im Charakter des Alarcos öfter als mangelhafte Motivierung moniert; so beispielsweise Eichner, KFSA 5, S. LXXIV; Meier (1996, S. 201) wendet den Vorwurf in die These, dass Schlegel hier den Glauben an die „zureichende Motiviertheit menschlichen Handelns“ aufkündige. KFSA 2, S. 334; Gespräch. An seinen Bruder schreibt Schlegel am 16. September 1802, nach der Drucklegung des Alarcos: „Möchtest Du doch auf meine Ueberzeugung genug achten, um im Drama auch das romantische besonders zu constituiren. Ich überzeuge mich immer mehr, daß dieses der einzige wahre Weg ist, und das sogar für die Komödie. Das antike bleibt flach oder wird gelehrt und kann nur mythologisch genommen bedeutend sein“; Friedrich Schlegels Briefe, S. 496. August Wilhelm hatte Ende des vorherigen Jahres seinen Ion abgeschlossen.
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Geschichte zum Grunde liegt, wenngleich vielfach umgebildet.“²³¹ Dem entspricht die zeitgenössische Theorie der Romanze, wie sie auch Schlegel formuliert: Diese sei ein „kurzes episches Gedicht“ mit lyrischem Ton, das sich, ursprünglich als „Naturpoesie“ im Munde des Volkes entstanden, aus wirklichen „Gegenständen und Begebenheiten“ entsponnen habe.²³² Den romantischen Stoff transformiert Schlegel in eine Tragödie. Während die Romanze von Alarcos und Solisa in melancholischem Ton und durchaus lakonisch die schreckliche Tat berichtet, öffnet Schlegel das Geschehen für den Affekt. Die Gestalten der Romanze werden zu Figuren des Pathos. Schon dies nähert den Stoff jener objektiven Idee der Tragödie an, wie Schlegel sie in der Antike findet. Bei den Griechen, so heißt es in den Vorlesungen, hatte „das Leiden […] einen göttlichen Charakter. Ein göttliches Leiden aber erfüllt uns zwar mit Furcht und Schrecken, jedoch auch mit Bewunderung und gibt eine hohe würdige poetische Anschauung.“²³³ Diese poetische Anschauung aber, die sich durch das Leiden ergibt, zielt in gattungsspezifischer Weise auf das, was Schlegel zum Zweck aller Poesie erklärt: „Darstellung der Natur und Gottheit“.²³⁴ Der Alarcos transformiert auch dies in die Moderne. Er zielt auf die Darstellung der Gottheit, hier nun freilich des christlichen Gottes. Dieser begründet den tragischen Gegensatz von Ehre und ewiger Gerechtigkeit. Die „Drastik“,²³⁵ mit der sich dieser Gott zeigt, ist erstens der Erregung des Pathos geschuldet, wie sie die Tragödie fordert. Zweitens liegt in ihr das spezifisch aischyleische Moment, das Schlegel dem Alarcos zuschreibt. Denn Aischylos ist für ihn in der Pariser Vorlesung der Dichter des „göttlichen Leidens“ überhaupt: „Alles, die unsichtbare und die sichtbare Welt, nimmt bei ihm einen tragischen Charakter an.“²³⁶ Hieraus seien „das hohe Pathos, die Erhabenheit und Härte zu deduzieren, die wir in ihm finden.“²³⁷ Die geradezu ins Abstrakte verknappte Form des Alarcos setzt dies formal um: Die karge Gliederung in zwei Akte stellt die nackte Wucht des Unausweichlichen deutlich aus. Der erste schürzt den Knoten, der zweite zieht ihn
Ebd. Ähnlich, wenngleich nicht mehr so entschieden formuliert, findet sich dieser Gedanke in den Vorlesungen: KFSA 11, S. 85 f.; Geschichte der europäischen Literatur. In den Vorlesungen, KFSA 11, S. 154 f.; Geschichte der europäischen Literatur. Der Gedanke ist freilich Gemeingut. KFSA 11, S. 78; Geschichte der europäischen Literatur. KFSA 11, S. 79; Geschichte der europäischen Literatur. So Meier (1996, insbes. S. 203) mit Bezug auf das Athenaeum-Fragment Nr. 42: „Gute Dramen müssen drastisch sein.“ KFSA 2, S. 171. KFSA 11, S. 79; Geschichte der europäischen Literatur. Ebd.
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zu.²³⁸ Dass gerade das schroffe Pathos, die Intention auf Leid, Schmerz und Schrecken, antiken Charakter haben sollen, stellt die Erstausgabe des Alarcos auch bildlich vor Augen. Das Titelblatt schmückt als Frontispiz ein Stich der Medusa.²³⁹ Mit besonderer Emphase sind ihre Augen gestaltet: Sie blicken den Betrachter direkt an.²⁴⁰ Neben dem inhaltlichen Pathos hat die Tragödie noch ein zweites objektives Moment. Dies liegt, wie Schlegel sagte, in der Form, der „hohen Vollendung des Stils, [der] Würde, Kraft, Pracht und Erhabenheit der Sprache“. Die Pariser Vorlesung spezifiziert dies noch weiter. Die griechische Tragödie verdanke die formale und sprachliche Vollendung ihrem „Ursprung aus der lyrischen Poesie“, aus dem „lyrisch-musikalischen“ Moment, wie sie es sich aus den enthusiastischen Festgesängen ihrer chorischen Anfänge bewahrt und weiter ausgebildet habe.²⁴¹ Der Alarcos nimmt auch dieses zweite objektive Moment der Tragödie auf, indem er es in spezifisch moderner Weise transformiert.²⁴² Schlegel gebraucht zwei dramatische Grundverse, einen fünfhebigen Jambus mit weiblicher Kadenz und einen sechshebigen Jambus mit männlicher Kadenz. Der moderne Blankvers
Auch die Zweiaktigkeit kann als Teil des romantischen „Costums“ (vgl. den oben zitierten Brief) gesehen werden: Die Romanze, so wie Bertuch sie abdruckt, ist in zwei Teile geteilt, anders als die spanischen Originaldrucke; vgl. Bertuch (Übs.), Romanze, S. 111: „Zweeter Theil“. Vgl. die Abbildung in Alarcos, S. [5]. Entwurf von Friedrich Tieck (ungenannt), Stich von Johann Meno Haas; vgl. den Brief Schlegels an Friedrich Majer, 29. April 1802; KFSA 25, S. 360. Zu Haas vgl. Thieme/Becker 15 (1922), S. 391. Es ist sicher kein Zufall, wenn August Wilhelm 1808 in seinen Wiener Vorlesungen die Wirkung des Aischylos mit der eines Medusenhauptes vergleicht: „Nicht die sanfteren Rührungen, das Schrecken herrscht bei ihm: das Haupt der Medusa wird den erstarrenden Zuschauern entgegengehalten. Seine Behandlung des Schicksals ist äußerst herbe: in seiner ganzen düstern Herrlichkeit schwebt es über den Sterblichen.“ A.W. Schlegel: Kritische Schriften und Briefe. Hrsg. von Edgar Lohner. 6 Bde. Stuttgart u. a. 1962– 1967, Bd. 5.1: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, S. 73. August Wilhelm mag sich dabei auf den dritten Teil der Orestie beziehen. Aischylos soll darin als erster die Eumeniden mit Schlangenhaar dargestellt und so die Zuschauer schockiert haben; dies diskutiert etwa Lessing: Leben des Sophokles. In: ders.: Werke, hrsg. Barner, Bd. 5/1, S. 264. In A.W. Schlegels Berliner Vorlesung von 1802/03 hieß es zu den Eumeniden: „der Chor, der, wie man weiß, schwarz gekleidet war, mit einem purpurnen Gürtel und Schlangen in den Haaren, die Masken etwa wie furchtbar schöne Medusenköpfe […]“; ders.: Kritische Ausgabe der Vorlesungen. Hrsg. von Ernst Behler und Frank Jolles. Bd. 1. Paderborn 1989, S. 736. KFSA 11, S. 77; Geschichte der europäischen Literatur. Eine ausführliche Interpretation der Metrik in Dehrmann 2013b, S. 201– 208. Die formale Seite des Dramas wird in der Forschung allenfalls knapp erwähnt, aber nicht für die Interpretation fruchtbar gemacht; so Wolfgang Paulsen: Friedrich Schlegels Alarcos und die Umbildung der Frühromantik. In: Modern Language Notes 56 (1941), S. 513 – 521, hier S. 518; Eichner, Einleitung, S. LXXIf.; Ritzer 2002, S. 70 und S. 83; Osdrowski 2004, S. 221. Eine Ausnahme bildet Gorra 1896, S. 716 – 718.
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kreuzt sich mit dem antiken jambischen Trimeter. Beide Verse werden dabei meist durch Assonanzen gebunden und dadurch ‚romantisch‘ reflektiert. Analog zum spanischen Drama integriert Schlegel aber eine Fülle von anderen Formen, die jeweils einen spezifischen Sinn innerhalb der Handlung entfalten. Wo Alarcos der Unausweichlichkeit seines Schicksals sinnend, reflektierend, aber machtlos gegenübersteht, fällt er dreimal in die Form des Sonetts.²⁴³ Terzinen gebraucht Schlegel als Vers der Verklärung: für Cornelia, deren Trauer um ihren Bruder Don Garcia sich bildlich in eine „Dornenkrone“²⁴⁴ verwandelt, und für die Prophezeiung der sterbenden Clara, die den Schuldigen das Inferno ankündigt, sich selbst aber die Erlösung verheißt.²⁴⁵ In Claras letzten Worten vor dieser Prophezeiung variiert Schlegel wiederum die Lira.²⁴⁶ Cornelias Höllenvision, inhaltlich dantesk, entfaltet sich nicht im ruhigen Fortgang der Terzinen, sondern wild und unruhig drängend, in fünf- bis siebenfüßigen Versen, mal jambisch, mal daktylisch.²⁴⁷ Eine Reihe anderer Formen und Varianten ließe sich herausheben und beschreiben. Sie sind jeweils präzise auf ihre Situation abgestimmt. Selbst die Phonetik ist in die Konzeption eingebunden. Die in den Assonanzen und Reimen verwendeten Vokale sind auf die Affektlagen ihrer Sprecher abgestimmt. Die Intensität, mit der Schlegel den affektiven und idealen Wert verschiedener Laute zu bestimmen versuchte, dokumentieren die zahlreichen Schemata in seinen Notizheften der späteren Pariser Zeit.²⁴⁸ Während der Alarcos einerseits drastische Darstellung von Schmerz und Leid ist, fügt sich dieses Leiden auf formaler Ebene zu einer sprachlich-musikalischen Harmonie. Das Pariser Kolleg benennt die Pointe dieser Struktur. An der antiken Tragödie könne man studieren, wie die beiden objektiven Momente der Materie und der Form ineinandergriffen und sich vereinigten. Hier sehe man „auf der inneren Seite den menschlichen Geist durch Leiden und Schmerz zerrüttet“; aber indem man im „Ausdruck des Leidens, in der Form die höchste Vollendung und Harmonie aller geistigen Kräfte“ finde, werde „diese Zerrüttung des Geistes hergestellt und ausgeglichen“: „Die Schönheit der Form“ überwinde „die Materie des Schmerzes“.²⁴⁹ Vgl. Alarcos, S. 26 f., 38, 46 f.; VV. 581 ff., 902 ff., 1181 ff. Alarcos, S. 24; V. 502. Vgl. Alarcos, S. 36 f.; VV. 855 – 876. Vgl. Alarcos, S. 35 f.; ab V. 825. Zur Lira vgl. Baehr 1962, S. 273 f. Schlegel übernimmt ihre fünfzeilige Strophe, ordnet aber die Sieben- und Elfsilber anders an als in der Grundform. Außerdem verwendet er nicht zwei Reime, sondern reimt die Verse durch. Vgl. Vgl. Alarcos, S. 43 f.; ab V. 1063. Vgl. beispielsweise die Notizhefte in KFSA 16/1: XI, Nr. 136 (S. 380); XI, Nr. 238 (S. 392); XIII, Nr. 14 (S. 454). KFSA 11, alle Zitate S. 80; Geschichte der europäischen Literatur.
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Freilich – Alarcos führt diese Bändigung des Leidens in der Harmonie nicht vollständig durch. Leiden und Schönheit streben zueinander, indem sie auf die moderne Vorstellung eines christlichen Gottes perspektiviert sind. Da sich dieser hier jedoch gleichzeitig verklärend und fürchterlich rächend zeigt, ohne dass beide Dimensionen vermittelt wären, ohne dass die Protagonisten eine Wahl hätten,wiegt gleichsam die Schroffheit schwerer als die Harmonie. Auch in diesem Sinne bezeichnet Schlegel das Stück in der Europa als „Trauerspiel“, „vorzüglich nach dem Ideale des Aischylos“²⁵⁰ gearbeitet. Die vollständige Überwindung des Schmerzes durch die Harmonie, der Materie durch die Form habe erst Sophokles geleistet.²⁵¹ Auch Alarcos ist ein hybrides Drama, eine Tragödie des Witzes. Sein Sinn erschließt sich, wenn man das Zusammenspiel von Inhalt und Form betrachtet und Schlegels Theorie der (antiken) Tragödie einbezieht. Das Stück reflektiert die Antike und die romantische Moderne, um sie für die Gegenwart zu erschließen und so – Schlegels Formulierung anlässlich des Welken Kranzes aufnehmend – eine andere „Lücke“ (s.o.) im System der modernen Poesie zu schließen. Aus der – überwiegend ungünstigen – zeitgenössischen Rezeption hat ein Rezensent diesen Anspruch erfasst. Mit dem Alarcos, so postuliert 1803 die Zeitschrift Apollon, „beginnt eine neue Epoche in der Geschichte der Poesie.“ Und „Friedrich Schlegel ist derjenige, welcher sie hervorgerufen hat“.²⁵²
KFSA 3, S. 14; Literatur (in der Europa, 1803). Schlegel scheint in der Einordnung seines Stückes jedoch zu schwanken, wenn er im Dezember 1802 in Paris notiert: „Zum Alarkos [sic!] vielleicht ein Gegensatz d.[er] d[em] Sophocles entspräche? – Oder das wie schon Sophocles?“ KFSA 16/1, S. 433; XII, Nr. 153. In seiner Konstruktion besitzt der Alarcos deutliche Parallelen zum Aias (Freitod als Konsequenz aus dem eigenen Handeln). Letztlich bleibt der Sinn des zweiten zitierten Satzes freilich dunkel. In seinem Aufsatz Schlegel, Schlegel und die Geburt eines Tragödienparadigmas (in: Poetica 25 [1993], S. 155 – 175) zeigt Glenn Most, wie unter anderem die Auffassung von einer dreistufigen Entwicklung der griechischen Tragödie, die das 19. Jahrhundert beherrschte, auf Friedrich Schlegel und seinen Bruder zurückgehe. Zur Rezeption insgesamt vgl. Nils Gelker: Die Rezeption des Alarcos. In: Alarcos, S. 211– 219. Die Rezension erschien anonym: [An.:] Ueber Friedrich Schlegel’s Alarcos. In: Apollon. Eine Zeitschrift herausgegeben von Julius Werden, Adolph Werden und Wilhelm Schneider. Bd. 1. Penig 1803, S. 32– 50, S. 106 – 123, S. 248 – 270, hier S. 120; abgedruckt in Alarcos, S. 115 – 145, hier S. 131. Der Rezensent entwickelt – öfter naiv hochfliegend – eine Deutung des Dramas, die eine erstaunliche Kenntnis des Programms der Schlegels und ihres Kreises verrät. Hinter den pseudonymen Herausgebern, den Brüdern ‚Werden‘, verbergen sich Johann Gottlieb Winzer und Friedrich Theodor Mann, zwei junge, enthusiastische Anhänger der Berliner Frühromantiker. Beide waren Schüler von August Ferdinand Bernhardi, der am Friedrichwerderschen Gymnasium in Berlin unterrichtete. Wenige Jahre später arbeitete Winzer am Berliner Stadtgericht, wo er eine für Bernhardi vorteilhafte Entscheidung auf den Weg bringen konnte (vgl. den Brief von Sophie
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4 Imagination einer Tradition – Das Roland-Epos Im Frühjahr 1805 arbeitet Schlegel an einer weiteren großen Dichtung: dem Roland. Der Untertitel zeigt, dass sie in die Richtung einer Gattung tendiert, von der bislang noch nicht die Rede war: des ‚Heldengedichtes‘, also des Epos. Schlegel nimmt das Heldengedicht in Romanzen nach Turpins Chronik in das Poetische Taschenbuch auf, das er zum Jahr 1806 in Berlin bei Johann Friedrich Unger herausbringt.²⁵³ Der Untertitel bezeichnet auch den philologischen Charakter dieser Dichtung. Zwei Gattungen werden hier in Beziehung gesetzt und eine Quelle angegeben. Der Roland wäre demnach ein episches Heldengedicht, entstanden aus der Transformation eines alten Werkes in die romantische Form der Romanze. Hans Eichner hat aus der Beobachtung, dass der Roland sich „eng“ an seine Quelle halte, das Verdikt abgeleitet, hier liege keine dichterische Leistung Schlegels vor. Es handele sich lediglich um eine „bearbeitende Übersetzung“, ein Werk, das darüber hinaus „heute niemand mehr mit Vergnügen lesen“ könne.²⁵⁴ Auch wenn der Roland rasch entstanden ist²⁵⁵ – Schlegel selbst nimmt ihn ernst genug, um 1823 seine Wiener Gedichtsammlung mit ihm zu eröffnen. Entsprechend schreibt er an August Wilhelm, dieser werde ihm „das Lob geben, gezeigt zu haben wie viel mit wenigem zu leisten sei.“²⁵⁶ Roland mag, wie Alarcos
Bernhardi-Tieck an A.W. Schlegel, 13. Sept. 1806; in: Josef Körner [Hrsg.]: Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis. 3 Bde. Bern, München 21969, Bd. 1, S. 360). Es ist nicht auszuschließen, dass man ihnen aus dem Berliner Kreis Anregungen und ‚Insider‘-Informationen zugespielt hatte, dass die Rezension also lanciert wurde. Man müsste dann allerdings jemand anderen als Friedrich Schlegel als treibende Kraft annehmen, etwa Bernhardi. Friedrich, der sich in Paris befand, erfährt von der Rezension durch eine Zeitschrift, sein ironischer Kommentar lässt eine eigene Beteiligung unwahrscheinlich erscheinen; vgl. den Brief an August Wilhelm, Paris, 15. Januar 1803; Friedrich Schlegels Briefe, S. 509; Walzel sieht in der kryptischen Stelle fälschlicherweise eine Anspielung auf Hegel (vgl. ebd., Anm. 2). Meine folgende Deutung ist zuerst erschienen in: Verf.: Eine „neue Epoche in der Geschichte der Poesie“. Friedrich Schlegels philologische Poesie der Moderne am Beispiel des Roland-Epos. In: Friedrich Schlegel und die Philologie. Hrsg. von Ulrich Breuer, Remigius Bunia und Armin Erlinghagen. Paderborn 2013, S. 203 – 217. KFSA 5, S. LXXXVIf. Die einzige umfangreichere Untersuchung urteilt vorsichtiger: Ernst Wieneke schätzt den Roland nach differenzierterer Analyse als „freie[] Nachübersetzung“ ein; ders.: Patriotismus und Religion in Friedrich Schlegels Gedichten. Diss. München 1913, S. 53. Edith Höltenschmidt fasst in ihrer ansonsten verdienstvollen Studie lediglich die Ergebnisse der beiden zusammen; vgl. dies.: Die Mittelalter-Rezeption der Brüder Schlegel. Paderborn u. a. 2000, S. 72 f. Vgl. den Brief an August Wilhelm, 15. Juli 1805; Körner (Hrsg.) 1969, Bd. 1, S. 214; Schlegel ist „recht wohl mit [sich] zufrieden“, obwohl er den Roland in kurzer Zeit geschrieben hat. Brief Friedrichs an August Wilhelm Schlegel, 1. Jan. 1806; in: Körner (Hrsg.) 1969, Bd. 1, S. 269.
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und die Gedichte Schlegels, dem Leser auf den ersten Blick missglückt erscheinen. Aber einmal mehr verbirgt sich im scheinbar Reizlosen der Versuch, die Poesie aus der Reflexion wieder herzustellen. Wie die anderen Gedichte Schlegels auch, ist der Roland nicht bloß ein ‚Gedicht‘, sondern er formuliert erneut ein Modell, das ‚zeigt‘, wie für die Gegenwart zu dichten sei. Er ist Bestandteil des ‚Systems‘ moderner Poesie, an dem Schlegel arbeitet. Innerhalb seines Denksystems betrachtet, gewinnt der Roland entschieden an Faszination. Schlegels Vorlage ist die Historia Caroli Magni et Rotholandi. ²⁵⁷ Sie ist literaturgeschichtlich interessant, weil sie von dem Helden Roland berichtet, seinen Kämpfen in Karls Heer und schließlich seinem Tod in Ronceval. Zugeschrieben wurde sie traditionell dem Turpin, Erzbischof von Reims, der vor 800 gestorben ist.²⁵⁸ Die Chronik gibt sich als Augenzeugenbericht²⁵⁹ von den Feldzügen, die Karl der Große in Spanien gegen die Mauren führte. Forschungen des späteren 19. Jahrhunderts freilich datieren auf das späte 12. Jahrhundert, nach der Kanonisation Karls.²⁶⁰ Auch um 1800 entsprach die alte Zuschreibung nicht mehr dem Konsens. Man nahm eine Entstehung gegen Ende des 11. Jahrhunderts an.²⁶¹
Nach der Angabe von Ernst Wieneke (1913, S. 50 f.) lag die Chronik in Drucken von 1564 [recte: 1556], 1584, 1619 und 1726 vor. Plausibel ist es, mit ihm die Benutzung einer der zahlreichen Handschriften auszuschließen. Er führt überzeugend die Lesart „clava“ statt „clavis“ an, die die Drucke haben, anders als die ihm bekannte Handschrift von Montpellier (ediert von Ferdinand Castets: Turpini Historia Caroli Magni et Rotholandi. Paris 1880): Schlegel stattet das Bildnis „Mahomas“ in seiner zweiten Romanze mit einer Keule statt einem Schlüssel aus (KFSA 5, S. 103;V. 41). Der Vergleich der seither bekannt gewordenen Handschriften hat zwar ergeben, dass sich „clava“ auch anderwärts findet. Cyril Meredith-Jones macht zwei Kodizes mit dieser Lesart ausfindig (A 10 und A 11 nach der von ihm eingeführten Bezeichnung: Historia Karoli Magni et Rotholandi ou Chronique du Pseudo-Turpin. Textes revus et publiés d’après 49 manuscits. Paris 1936, S. 100 – 103). Aber weitere Abweichungen von den Handschriften lassen es als sicher erscheinen, dass Schlegel einen der Drucke verwendete: Bei ihm fehlt, wie in allen Drucken, das 3. Kapitel der Chronik (vgl. [Ps.-Turpin:] Die Chronik von Karl dem Großen und Roland. Ediert, kommentiert und übersetzt von Hans-Wilhelm Klein. München 1986, S. 41– 43), wo die Namen der von Karl eroberten Städte aufgezählt werden. Auch fehlt bei ihm die ausführliche Beschreibung des Bildprogramms von Karls Burg, die nur der Druck von 1726 bringt. Da die ersten drei Drucke im Text weitgehend identisch sind, kann offen bleiben, welchen Schlegel letztlich zugrunde legte. Ich verwende Reubers Ausgabe von 1584: Veterum scriptorvm, qvi Caesarvm et Imperatorvm Germanicorvm res per aliqvot secvla gestas, literis mandarvnt. Tomus vnus. Ex bibliotheca Justi Reuberi Iureconsulti, Palatinatus consiliarii. […] Francofvrti Apud hæredes Andreæ Wecheli, Anno M D LXXXIIII. Ps.-Turpin, Reuber (Hrsg.), Bl. (:) iiijv druckt eine kurze Vita des Turpin. Im Text selbst nennt sich Turpin immer wieder beim Namen: „ego Turpinus“; etwa ebd., S. 84 (hier Cap. XXV). Vgl. knapp Klein, in: Ps.-Turpin, Klein (Hrsg.), S. 9; vor allem aber die Forschungen von Adalbert Hämel: Überlieferung und Bedeutung des Liber Sancti Jacobi und des Pseudo-Turpin.
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Schlegel selbst weist der Chronik eine ausgezeichnete Stellung in der Überlieferung zu. In seinen Pariser Vorlesungen vom Winter 1803/04 betont er die bedeutende Rolle, die die neulateinische Literatur des Mittelalters – insbesondere die „Chroniken“ – für die Entstehung der „neueren romantischen“ Dichtung gespielt hätten. Sie enthielte nichts weniger als deren „erste[n] Keim“.²⁶² Das Manuskript der folgenden Kölner Vorlesungen hat an dieser Stelle einen aufschlussreichen Einschub: „Die älteste ist von Bischof Turpin geschrieben.“²⁶³ Mit dem Roland nach der Chronik des Turpin eignet Schlegel seiner Gegenwart also das zu, was er als „älteste“ Keimzelle der Rolandsepik bzw. der romantischen Moderne begreift.²⁶⁴ Die literaturgeschichtliche Bewegung des Roland ist damit eine andere als beim Alarcos und den oben analysierten Gedichten. Hier kommt es Schlegel nicht auf eine Synthese von Antike und Romantischem an. Vielmehr könnte man von einer Archäologie der Moderne selbst sprechen. Dieser Schritt von der Antike weg zeugt von einer Schwerpunktverlagerung in Schlegels Werk.²⁶⁵ Neben den romanischen Überlieferungen beschäftigen ihn nun intensiver die nordische und auch die deutsche Dichtung, aber auch Sprache und Weisheit der Indier. Das Poetische Taschenbuch von 1806 enthält neben dem Roland Bearbeitungen von Liedern Friedrich Spees. Der Horizont von Schlegels Griff an den Beginn der Moderne erschließt sich weiter mithilfe der Vorlesungen. Zwar sei der Rolandsstoff Teil des „allumfassenden Zyklus“ der altfranzösischen „Fabeln, Helden- und Rittergeschichten“²⁶⁶ geworden. Während den Franzosen das „Verdienst“ der Erfindung an diesem
München 1950; ders.: Der Pseudo-Turpin von Compostela. Aus dem Nachlaß hrsg. von André de Mandach. München 1965. Erduin Julius Koch spricht 1798 vom „vorgeblichen Turpin“ und schreibt ihn einem „um das Jahr 1095 lebenden Mönche, Namens Robert“, zu; ders., Grundriss, Bd. 2, S. 217. Joseph Görres bezeichnet diese Datierung 1807 als „allgemein“ angenommen; ders., Volksbücher, S. 121. KFSA 11, alle Zitate S. 140; Geschichte der europäischen Literatur. Ebd. Für die neuere Forschung ist der Pseudo-Turpin freilich nicht die Keimzelle der Rolandsepik, sondern schöpft selbst aus dieser Tradition. André de Mandach (Naissance et développement de la chanson de geste en Europe. Bd. 4: Chanson de Roland. Transferts de mythe dans le monde occidental et oriental. Genf 1993, S. 26) bezeichnet ihn als „un véritable ‚musée epique‘ comprenant divers chapitres distincts remontant à des époques différents“. Der entscheidende Anstoß zu dieser Umwertung kam von Gaston Paris (De Pseudo-Turpino, 1865). Vgl. etwa Behrens 1984, S.44 und S. 160 – 164; allerdings betont Behrens die Diskontinuität zu stark. Auch seiner These, dass Poesie und Bildung in den Pariser Vorlesungen nicht mehr Entwürfe für eine noch offene Zukunft seien (ebd., S. 180 – 184), lassen sich – wenn nicht die Vorlesungen selber! – die Einleitungen zur Lessing-Edition entgegenhalten. KFSA 11, S. 141; Geschichte der europäischen Literatur.
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Zyklus zukomme, so bleibe dessen dichterische Gestaltung doch defizitär. Die „Form“ der überlieferten Gedichte konnte der „Tiefe ihrer Erfindung“ nicht gerecht werden. „Unförmigkeit, Barbarei, Rohheit, Weitschweifigkeit im Stil und in der Sprache“ verhinderten, dass die Gedichte sich zur Poesie erhoben hätten. Ihnen mangele ein Element, das erst die späteren, gelehrten Dichter Italiens diesen Stoffen zu geben vermocht hätten: die „höhere, schönere Kunstform“.²⁶⁷ Schlegels Abqualifizierung der altfranzösischen Dichtung erklärt sich mit Blick auf den zeitgenössischen Kenntnisstand zum Rolandsstoff.²⁶⁸ Denn die ‚eigentliche‘ Chanson de Roland, das um 1100 entstandene Epos, war den Zeitgenossen noch unbekannt. Erst wenige Jahre vor Schlegels Bearbeitung hatte Thomas Tyrwhitt die Oxforder Handschrift eingesehen. Er erwähnt sie in seiner Chaucer-Edition kurz als „Romance“ ohne Titel und vermutet, dass sie mit einem Gedicht zusammenhänge, das Du Cange unter dem Titel „Le Roman de Roncevaux“ zitiere.²⁶⁹ Ob Schlegel die spärlichen Nachrichten über diesen ‚roman‘ kannte, ist nicht überliefert. Erst in den Jahrzehnten nach Schlegels Rolandsdichtung bildete sich die Vermutung heraus, dass es ein bedeutendes Epos über die Taten Karls und Rolands gegeben haben müsse. Zu ihr leitete allerdings kein Textfund, sondern eine philologische Vermutung. Uhland ist 1812 einer der ersten, der sicher von der Existenz eines altfranzösischen Rolandslieds ausgeht: Folge man der Hypothese von der Epenentstehung, wie sie in der Folge von Wolfs Homer-Forschungen entwickelt worden war, so müsse den noch erhaltenen späteren, schlechteren Dichtungen dieses Sagenkreises ein großes Epos zugrunde gelegen haben.²⁷⁰ Ein
Alle Zitate ebd. Zur Rekonstruktion der verwickelten Genese der Rolandsforschung ist ungemein hilfreich: Emil Seelmann: Bibliographie des altfranzösischen Rolandsliedes mit Berücksichtigung nahestehender Sprach- und Litteraturdenkmale. Heilbronn 1888. Ndr.Wiesbaden 1969. Die Beiträge vor 1830 rekapituliert Léon Gautier: Les épopées françaises. Étude sur les origines et l’histoire de la littérature nationale. Seconde édition, entièrement refondue. Bd. 3. Paris 1880, S. 516 – 522. Vgl. Thomas Tyrwhitt: The Canterbury Tales of Chaucer. To which are added, an essay upon his language and versification, an introductory discourse, and notes. 4 Bde. London 1775 – 1778, Bd. 4, S. 318 f. Er bezieht sich auf Charles du Fresne, Sieur Du Cange: Glossarium ad scriptores mediae latinitatis […]. Paris 1678. Du Cange hatte aber keinen Fundort für jenen „Roman“ angegeben. „Daß in der alten nordfranzösischen Sprache ein Cyklus wahrhaft epischer Gedichte sich gebildet habe: dieses auszuführen und zu belegen, ist der Gegenstand des folgenden Versuches.“ Der in sich zusammenhängende Stoff von Karl berechtige zu der Hoffnung, dass sich „für jeden bedeutenderen Moment“ des Fabelkreises „eine epische Darstellung auffinden“ lasse, die sich zu einem „umfassende[n], aus großen Rhapsodien bestehende[n] fränkische[n] Heldenbuch“ fügen würden. „Mit ähnlicher Hoffnung“ müsse man sich „vorderhand“ auch im Falle des Untergangs der Helden in Ronceval begnügen; vgl. Ludwig Uhland: Über das altfranzösische Epos. In: Die
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solches vermutet Uhland schließlich in jenem „Roman de Roncevaux“. ²⁷¹ Erst in den 1830er Jahren wurden die Mosaiksteine schließlich zusammengesetzt. Es ist wenig verwunderlich, dass nun auch die französischen Philologen die nationale ‚Karte‘ ausspielten. Paulin Paris bezeichnete 1832 die Sagen des fränkisch-karolingischen Kreises als die eigentlichen nationalen, französischen.²⁷² Erst 1834 aber wurde die Oxforder Handschrift durch Francisque Michel erschlossen und 1837 als La chanson de Roland publiziert.²⁷³ Noch 1833 monierte der Wiener Philologe Ferdinand Wolf, dass der „wichtigste Theil“ der nordfranzösischen Literatur, „die großen epischen Gedichte, […] so gut als unbekannt“²⁷⁴ sei. Auch die deutschen Dichtungen zum Rolandskreis waren den Zeitgenossen nur lückenhaft zugänglich.²⁷⁵ Vollständig kannte man das Heldenlied des Strickers; das ihm zugrundeliegende Rolandslied des Pfaffen Konrad war nur in Fragmenten bekannt.²⁷⁶
Musen. Hrsg. von Friedrich Baron de la Motte-Fouqué und W. Neumann. Berlin 1812, H. 3, S. 59 – 109 (hier S. 59, S. 65, S. 76) und H. 4, S. 101– 155. Der Aufsatz ist abgedruckt in: ders.: Werke. Hrsg. von Hartmut Fröschle und Walter Scheffler. 4 Bde. München 1980 – 1984, Bd. 4, hier S. 7, S. 9 und S. 13. Leider nimmt die Ausgabe nicht Uhlands Übersetzungsproben aus französischen Manuskripten auf, die in Fouqués Musen folgen. Uhland hat 1810 intensiv in Pariser Bibliotheken geforscht und dort Material für seine bedeutende Studie gesammelt. Die verschiedenen Funde werden in seinen Briefen dokumentiert. Eine Zusammenstellung der Forschungen bietet Hartmut Fröschle in seinem Kommentar zu Bd. 4 der Werke, S. 746 f. Er bezieht sich allerdings auf Du Cange (vgl. Uhland, Epos, S. 77; UW 4, S. 752). Tyrwhitt kennt er nicht, also auch nicht den Hinweis, dass in Oxford ein entsprechendes Manuskript liege. Vgl. Paulin Paris: Li Roman de Berte aus Grans Piés, précédé d’une dissertation sur les Romans des Douze Pairs. Paris 1832, etwa S. VIII und pass. La Chanson de Roland ou de Roncevaux du XIIe siècle publiée pour la première fois d’après le manuscrit de la Bibliothèque Bodléienne a Oxford. Hrsg. von Francisque Michel. Paris 1837. Louis Henri Monin hatte 1832 bereits eine erste ausführliche Darstellung der Chanson geliefert. Er legte zwei Pariser Handschriften zugrunde, die weder Schlegel noch Uhland kannten: L. H. Monin: Dissertation sur le Roman de Roncevaux. Diss. Paris 1832. Ferdinand Wolf: Über die neuesten Leistungen der Franzosen für die Herausgabe ihrer National-Heldengedichte insbesondere aus dem fränkisch-karolingischen Sagenkreise; nebst Auszügen aus ungedruckten oder seltenen Werken verwandten Inhalts. Ein Beitrag zur Geschichte der romantischen Poesie. Wien 1833, S. 2. Koch (Grundriss, Bd. 2, S. 217) zählt 1798 bis zum 15. Jahrhundert fünf deutsche Bearbeitungen auf. Abdrucke von beiden bei Johann Schilter: Thesaurus antiquitatum Teutonicarum […]. 3 Bde. Ulm 1727– 1728, Bd. 2, mit jeweils eigener Paginierung. Hans Karl Dippoldt (Leben Kaiser Karls des Großen. Stuttgart 1810, S. 247 f.) rekapituliert die zeitgenössische Textlage. Koch nennt das Lied Konrads „Ein Fragment von dem Kriege Karls des Gr. gegen die Saracenen“; Grundriss, Bd. 2, S. 217. Büsching und Hagen kennen die Heidelberger Handschrift nicht; den Namen des „pfaffen Cunrad“ tragen sie (erstmals?) in einer Anmerkung zum Hauptteil ihrer Bibliographie nach; Friedrich Heinrich von der Hagen, Johann Gustav Büsching: Literarischer Grundriß der Geschichte der Deutschen Poesie von der ältesten Zeit bis in das sechzehnte Jahrhundert. Berlin 1812, S. 164 und
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Präsent waren den Zeitgenossen Schlegels jedoch spätere Bearbeitungen des Stoffes und Lieder.²⁷⁷ Schlegel selbst hatte in der Pariser Bibliothek eine „unermeßliche Menge“²⁷⁸ späterer nordfranzösischer epischer Dichtungen gefunden. Sie waren es, die ihm nicht als Dichtungen beachtenswert erschienen, sondern lediglich in Bezug auf ihren Stoffkreis.²⁷⁹ Von 1802 bis 1805 gibt er Übersetzungen und Bearbeitungen solcher Handschriften heraus, die von Dorothea Veit und Helmina von Chézy (geb. Hastfer) angefertigt wurden.²⁸⁰ Vor allem aber die spanischen Romanzensammlungen, die Schlegel gut kannte, enthielten eine Reihe von Gedichten zu Karl und Roland.²⁸¹ Die Turpinsche Chronik nun, die dem Roland zugrundeliegt, sahen die Zeitgenossen als Hauptzeugnis für diesen Sagenkreis an. Und die Widerlegung von Turpins Autorschaft änderte nichts daran, dass die Chronik als maßgebliche Quelle für die bekannten Gedichte galt.²⁸²
S. 539. Uhland versteht im selben Jahr die Lieder des Strickers und Konrads als „ein altes Gedicht […] in zweierlei Versionen“ (ders., Epos, S. 77; UW 4, S. 13). Wilhelm Grimm gibt Konrads Gedicht 1838 heraus: Roulandes liet. Hrsg. von Wilhelm Grimm. Mit einem Facsimile und den Bildern der Pfälzer Handschrift. Göttingen 1838. Vgl. LexMA 7 (1995), Sp. 962. Paraphrasen finden sich in: H.: Karl der Große und die zwölf Pairs von Frankreich. In: Bibliothek der Romane [Hrsg. von Heinrich August Ottokar Reichard]. Bd. 4. Berlin 1779, S. 5 – 41. Thomas Warton schreibt in seiner History of English Poetry (From the close of the eleventh to the commencement of the eighteenth century. 3 Bde. London 1774– 1781): „And it might easily be shewn that just before the commencement of the thirteenth century, romantic stories about Charlemagne were more fashionable than ever among the French minstrels.“ (Bd. 1, Dissertation I, unpag. Bl. mit der Bogenzählung cv). So in: Beiträge zur Geschichte der modernen Poesie und Nachricht von provenzalischen Manuskripten (1803); KFSA 3, S. 33. Auch Uhland betont beispielsweise, dass der roman des Girart von Amiens, der die Geschehnisse von Ronceval behandelt, „ohne episches Leben“ sei (Uhland, Epos, S. 76; UW 4, S. 13). Freilich versteht er diese Dichtung als Spur früherer, wertvoller epischer Behandlungen. Vgl. KFSA 33. Vgl. die bibliographische Aufstellung bei Seelmann 1888, S. 22 f. Vgl. etwa H., Karl, S. 10; oder die oben schon genannte Passage bei Koch: Trotz seiner Datierung auf das Ende des 11. Jahrhunderts hält er den Pseudo-Turpin für die Quelle der deutschen Gedichte. Vom „Roman de Roncevaux“ schreibt er nichts, Tyrwhitts Nachricht von der Oxforder Handschrift (wie oben, S. 208) ist ihm unbekannt. Auch Dippoldt (Kaiser Karl, S. 237) setzt den Pseudo-Turpin an den Anfang der Dichtungsgeschichte. Uhland gehört wiederum zu den ersten, die diese Auffassung bestreiten (Uhland, Epos, S. 18 f.). Noch Ferdinand Wolf (Leistungen, S. 27) muss 1833 dieser „Erbsünde der Literaturgeschichten“ mit Entschiedenheit entgegentreten. Für sie verantwortlich sei nicht zuletzt die wirkungsmächtige History of English Poetry von Warton, wo es heißt: „a fabulous history ascribed to Turpin is the ground work of all the chimerical legends which have been related concerning the conquests of Charlemagne and his twelve peers.“ (Warton, History, Bd. 1, Dissertation I, unpag. Bl. mit der Bogenzählung cr). Wartons Ausführungen werfen ein Licht auf den weiteren zeitgenössischen Kenntnisstand.
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Gemessen am heutigen Wissensstand,²⁸³ war die Kenntnis der Rolandüberlieferung noch äußerst lückenhaft, ja, sie entbehrte ihres zentralen Werkes, der Chanson de Roland. Schlegel dagegen erschien nicht die Überlieferung lückenhaft, sondern vielmehr die poetische Entfaltung des Stoffes defekt. Als Folge der genannten Formschwäche der nordfranzösischen Dichtung habe dieser sich gar nicht zu einer poetischen Blüte entfalten können.²⁸⁴ Erst die spanischen Romanzen und dann Ariost hätten ihn zu künstlerischer Form erhoben.²⁸⁵ Schlegels Roland setzt sich in diese ‚defekte‘ Entfaltungsgeschichte, indem er die imaginäre Lücke einer nie zustande gekommenen Dichtung füllt. Vor dem Horizont der Literaturgeschichte zeigt sich noch eine weitere Bedeutungsebene des Roland. Die Gegenwart ist nach Schlegels Vorlesung von der mittelalterlichen Dichtung abgeschnitten. Dies gründe in einer Fehlstelle der modernen Kulturen: Zwar habe die moderne „romantische Zeit“ einen Reichtum an Poesie hervorgebracht; aber diese sei unmittelbar an das zeitgenössische Leben geknüpft gewesen. Mit der historischen Veränderung, mit dem Wandel dieses Lebens sei auch diese Dichtung vergessen worden. Die Poesie ging unter, weil auf ihre Blütezeit, anders als in Griechenland, kein „Zeitalter der Kritik“²⁸⁶ folgte, das die Poesie bewahrt, kanonisiert, gedeutet und transformiert, das die Sprache gepflegt und den alten Geist präsent gehalten hätte.²⁸⁷ Die Folge davon sei kultureller Gedächtnisverlust gewesen: „Die provenzalischen Gesänge, die altfranzösischen Erfindungen, und die herrlichen Werke altdeutscher Dichtkunst sind verschollen, und die fast unbekannt gewordne Poesie harret meist noch im Staube der Büchersammlungen auf einen Befreier.“²⁸⁸ Der Roland überbrückt auch diese Lücke in der modernen Kulturentwicklung. Er holt nach, was in Ermanglung einer lebendigen Traditionskette ausgeblieben ist. Zusammengefasst, greift Schlegel in einem genuin poetisch-philologischen Akt auf die (scheinbar) älteste Chronik zurück und befreit ihren Stoff aus dem
Zur Entstehung und Verbreitung des Roland-Stoffes vgl. Mandach 1993. Schlegel versucht dies auch zu begründen: vor allem mit der „schlechte[n] Beschaffenheit der französischen Sprache selbst, die unter allen aus der römischen abgeleiteten die am ärgsten verstümmelte“ sei; KFSA 11, S. 142; Geschichte der europäischen Literatur. Vgl. KFSA 11, S. 151; Geschichte der europäischen Literatur. Vgl. KFSA 3, beide Zitate S. 54 f.; Vom Wesen der Kritik. Schlegel nimmt die italienische Dichtung aus. Sie gehe durch den Witz von Beginn an aus der Gelehrsamkeit hervor, wie er beispielsweise an Dante zeigt, der zwischen dem volgare und der neulateinischen Sprache geschwankt habe (KFSA 11, S. 140; Geschichte der europäischen Literatur). Die italienische Dichtung habe sich auch danach gehalten, dank der Kritik, die zumindest ihre frühen Meisterwerke stets gepflegt und bewahrt habe (KFSA 3, S. 54; Vom Wesen der Kritik). Ebd.
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Vehikel der neulateinischen, „toten Sprache“.²⁸⁹ Mittels Verkünstlichung, Poetisierung durch Wissenschaft, Witz und Kritik setzt er den Stoff in das Deutsche hinüber. Erst die reflektierte Form aber erhebt ihn zur Poesie.²⁹⁰ Welche Form aber gewinnt diese Reflexion in der konkreten Dichtung? Dies lässt sich insbesondere im Umgang mit der Vorlage zeigen, und zwar auf mehreren Ebenen. So ändert Schlegel die Anordnung der Chronik. Er zieht deren 33 Kapitel zu 15 Romanzen zusammen. Der Pseudo-Turpin unterbricht immer wieder den eigentlichen Bericht der Taten. Zwischen zwei Feldzüge Karls, die jeweils in sich geschlossen sind, fügt er ein „Exempel“²⁹¹ ein. Ein sterbender Soldat vermacht sein Pferd den Armen. Als ein Verwandter den Erlös unterschlägt, erscheint ihm der Geist des Toten. Die Höllenstrafen, die ihm dieser verheißt, werden durch die göttliche Gerechtigkeit sofort exekutiert: Nach Einbruch der Nacht zerreißen Dämonen den habgierigen Verwandten, sein entstellter, lebloser Körper wird am nächsten Morgen auf einer unzugänglichen, fernen Klippe wiedergefunden. Schlegel integriert dieses herausgelöste moralische Exempel in den Feldzug selbst. Ähnlich verfährt er mit der Beschreibung eines heidnischen Götzenbildes bei Cadiz.²⁹² Durch die Integration der episodischen und berichtenden Partien des Pseudo-Turpin stärkt er die Einheit der Handlung. Während die Chronik Material zusammenträgt, das die Heiligkeit Karls belegt, formt Schlegel aus ihr ein Heldenlied, das von den Schlachten gegen die Heiden berichtet und in dessen Zentrum nun Roland steht. Der Einheit des ganzen Liedes steht bei Schlegel ein anderes Gliederungsmoment entgegen. Das Heldenlied entsteht erst durch die Kette der 15 Romanzen. Diese aber sind jeweils in sich geschlossen. Sie besitzen einen je eigenen Handlungskern, ihre je eigene Pointe. Die erste Romanze etwa berichtet von der Vision Karls, die seinen Feldzug veranlasst;²⁹³ die zweite gestaltet die Schlacht gegen Agolante;²⁹⁴ die dritte die Belagerung von Agen;²⁹⁵ die vierte Romanze zieht das
KFSA 11, S. 140; Geschichte der europäischen Literatur. Dazu fügt sich, dass Schlegel in seinem Roland auch auf Ariosts Orlando Furioso anspielt, wie Ernst Wieneke (1913, S. 60 – 62) nachweist. Dies ist Teil der reflektierten Gestalt, die Schlegel dem Stoff verleiht. Ariost flicht auch Turpin in seinen Orlando ein, etwa: „Turpin, che tutta questa istoria dice, / […]“ (Buch 23, Stanze 38); vgl. Ludovico Ariosto: Orlando Furioso e Cinque Canti. Hrsg. von Remo Ceserani und Sergio Zatti. 2 Bde. Turin 1997, Bd. 1, S. 804. Ps.-Turpin, Reuber (Hrsg.), S. 69: De exemplo eleemosynæ mortui, hier Cap.VII; bei Schlegel in Romanze 4. Ps.-Turpin, Reuber (Hrsg.), S. 68: De idolo Mahumeth, hier Cap. IV („IIII“); bei Schlegel Romanze 2. Die Bearbeitung Schlegels analysiert umfassender Wieneke 1913, S. 52– 59. Ps.-Turpin, Reuber (Hrsg.), S. 67 f., hier Cap. II. Ebd., S. 68 – 70; hier Cap. III–VI und VIII. Ebd., S. 70 – 72; hier Cap. IX und XI.
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genannte Exempel mit einem anderen Wunder zusammen und zeugt so von der Macht Gottes.²⁹⁶ Der Sinn dieser Struktur eines Ganzen, das aus in sich geschlossenen Einzelteilen zusammengesetzt ist, erschließt sich durch einen erneuten Rückgriff auf Schlegels literaturhistorische Überlegungen. Als historischen Reflexionsraum für sein Heldengedicht wählt er die spanische Dichtung, wie sie seit dem 15. Jahrhundert entstanden war. Zwar ist von hier eine Reihe von Romanzen zu Karl und Roland überliefert; doch bleiben diese vereinzelt, sie bilden keine zusammenhängende Handlung. Schlegel bezeichnet diese Romanzen in seinen Vorlesungen als im höchsten Sinne romantisch, dabei aber „ganz kunstlos“.²⁹⁷ Sie sind moderne Naturpoesie im höchsten Sinne. Dieses Modell der spanischen Romanze unterzieht der Roland einer kunstvollen, künstlichen Bearbeitung. Die Verse werden einer einheitlichen metrischen Gestaltung unterworfen;²⁹⁸ die einzelnen Taten gliedern sich zu einzelnen Liedern, die sich wiederum zu einem Ganzen zusammensetzen. Der Roland simuliert die Entstehung einer epischen Dichtung, zu der der Stoff sich seiner Auffassung nach gerade nicht verdichtet hat.²⁹⁹ Er versucht, spanische Naturpoesie in die Kunst-
Ebd., S. 69 und S. 71; hier Cap. VII und X. Vgl. KFSA 11, S. 156; Geschichte der europäischen Literatur: Das ‚Romantische‘ im Sinne einer Naturpoesie, die die Poesie und das Leben vereinige, sei in der spanischen Dichtung „in der höchsten Vollkommenheit“ vollendet; vgl. Blanco Unzué 1981, S. 188 und S. 392 f. Wie in Mahomets Flucht wählt Schlegel den Romanzenvers, den er trochäisch rhythmisiert. Meistens hält er dessen ‚klassische‘ Länge mit acht Silben ein. Die geraden Verse assonieren durchgehend mit Vokalen, die von Romanze zu Romanze wechseln. Die ungeraden Verse haben keine Reimbindung. Ausnahmen in der Verslänge bilden die dritte, fünfte und siebte Romanze; hier wechseln regelmäßig acht- und siebensilbige Verse, wobei die letzten assonieren. Folgt man Baehrs Spanischer Verslehre (1962, S. 141 f.), so versteht Schlegel jedoch den Romanzenvers nicht richtig. Baehr weist darauf hin, dass man die ungereimten und die gereimten Verse eigentlich zu Langzeilen zusammensetzen müsse. Jacob Grimm druckt die Romanzen in seiner Ausgabe entsprechend ab (Silva de romances viejos. Publicada por Jacobo Grimm. Wien 1815, vgl. seine Begründung in der Vorrede S. VII: Er stellt fest, „que el genero epico, a mi me perece, exige verso luengo y largo y que le repugna todo cortamiento o entrelazo, como que le destorbarian de su equilibrio y tranquilidad“). Der eigentliche Begriff des Epos ginge freilich für den Roland zu weit. Schlegel unterscheidet in seinen Vorlesungen die „kleinere[] epische Form“, die einzelne „Romanze“, vom großen Epos, das „die heroischen Traditionen einer Nation allumfassend behandeln soll“ und daher „ein Werk“ sein muss, „ein Ganzes […], damit alles im Mittelpunkte konzentriert werden könne.“ Das moderne Modell dafür sieht er in den Lusiaden des Camões (vgl. alles KFSA 11, S. 158 f.; Geschichte der europäischen Literatur). Der Roland verleiht seinem Stoff nun die geforderte Einheit, aber er ist nicht allumfassend. Er tendiert daher gleichsam nur zum Epos.
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poesie einer reflektierten Moderne zu transformieren und so beide zu vereinigen.³⁰⁰ Die vierzehnte Romanze enthält noch eine weitere Pointe. Sie ist poetologischer Natur: Also blühet, also grünet, Von jedwedem Mund gerühmet, Manches Heldenherz entzündend, Und in manchem Lied verkündet, Rolands Tod und Heldenkühne (VV. 15 – 19)³⁰¹
Eingangs wird hier beschrieben, wie sich nach Rolands Tod in Ronceval und nach seinem Begräbnis ein Lied herausbildet, das sein Gedächtnis lebendig erhält. Dieses „Lied“ geht unmittelbar aus den Geschehnissen hervor, es „blühet“ und „grünet“ von selbst bei den Helden, die weiter für die Sache streiten. Das Lied hat keinen Autor, sondern lebt in „jedwedem Mund“. Schlegel reflektiert hier die Entstehung dessen, was er in den Pariser und Kölner Vorlesungen als moderne „Naturpoesie“ bezeichnet: Diese unmittelbar an das Leben gebundene Poesie sei „nicht in einem einzelnen Kunstwerke zusammengedrängt“, sondern lasse sich „bloß hier und da bei Menschen vernehmen […], die ohne alle künstliche und gelehrte Bildung sich einzig damit begnügen, ihr durchaus poetisches Leben und Gefühl auszusprechen.“³⁰² Schlegels Romanze von der Entstehung des Liedes aus der Schlacht spricht nicht nur über dieses Lied, sondern sie zitiert es auch. Im abweichenden Metrum kürzerer Verse werden die Geschehnisse um Roland noch einmal in 12 vierzeiligen Strophen dicht zusammengedrängt.³⁰³
Das Programm des Roland klingt damit an die beiden berühmten Fragmente des Athenaeum an. In Nr. 116 hieß es zur progressiven Universalpoesie, sie wolle unter anderem „Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen.“ Das Fragment 252 entwarf eine „Kunstlehre der Poesie“, die mit der „absoluten Verschiedenheit“ von „Kunst und rohe[r] Schönheit“ beginne, dann ihren Kampf darstelle, um schließlich „mit der vollkommnen Harmonie der Kunstpoesie und Naturpoesie [zu] endigen“; KFSA 2, S. 182 und S. 207. Die Assonanz geht hier durch alle Verse hindurch. Vgl. KFSA 11, die vorhergehenden Zitate S. 154; Geschichte der europäischen Literatur. Die Pointe der 14. Romanze läge also in ihrer philologischen Reflexion und gerade nicht darin, dass Schlegel hier „seine Phantasie frei ausströmen“ ließe; so aber Wieneke 1913, S. 63. Die Verse erscheinen auf den ersten Blick nicht als regelmäßig, sie sind jedoch kunstvoll gebaut. Meistens sind sie dreihebig und fast durchgehend trochäisch (‐v-v-v). Abweichungen ergeben sich nur in den Partien, die als Refrain wiederkehren – auch insofern handelt es sich um ein Lied, nicht um eine Romanze. Zuerst sind hier die beiden Eingangsverse zu nennen. Sie weichen vom Metrum ab, indem sie die ersten beiden Trochäen durch einen Daktylus ersetzen:
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Was soll nun diese Dichtung in der Dichtung? Wichtig für diese Frage ist zunächst, dass es sich dabei nicht selbst wieder um eine Romanze handelt. Diese hätte ja episch berichtenden Charakter. Es handelt sich vielmehr um ein Lied im engeren Sinne: Die Geschehnisse um Roland rekapitulierend, fordern sich in ihm die Sänger selbst zum weiteren Kampf auf: „Lied nun gesungen, / Kampf wird begunnen.“ (VV. 76 f.)³⁰⁴ Um den Sinn dieses Liedes zu verstehen, gilt es, noch einmal zu der zeitgenössischen Diskussion um den Rolandstoff zurückzukehren. Es sei daran erinnert, dass die große französische Chanson de Roland den Zeitgenossen noch nicht bekannt war. Allenfalls das Stichwort des „Roman de Roncevaux“ fand sich an entlegenen Orten. Gleichwohl wusste man aber schon seit langem von der Existenz eines Liedes von Roland. Denn verschiedene mittelalterliche Chroniken berichten von ihm.³⁰⁵ Die ausführlichste Stelle findet sich im Roman de Rou des Richard Wace: Taillefer, qui mult bient chantout, sor un cheval qui tost alout, devant le duc alout chantant de Karlemaigne e de Rollant, e d’Oliver è des vassals qui morurent en Rencevals.³⁰⁶
Nach dem Roman de Rou und den Chronisten sang der Held und Sänger Taillefer 1066 in der Schlacht von Hastings das Lied von Karl, Roland, Oliver und den in
„Líed wird gesúngen, / Kámpf dann begúnnen“: -vv-v / -vv-v (VV. 1 f.; Betonungszeichen von MGD). Sie kehren, leicht modifiziert, zweimal wieder (VV. 60 f. und 76 f.). Das zweite Refrainverspaar erscheint zuerst am Ende der vierten Strophe, also genau nach einem Drittel des zwölfstrophigen Liedes: „Hőret wie Róland áll / Fíel dort in Róncisváll.“ -vv-v- / -vv-v- (VV. 46 f.) Sie verbinden sich, ebenfalls leicht modifiziert, in der achten und zwölften Strophe mit den beiden Eingangsversen und bilden diese dadurch zu vollständigen Refrainstrophen aus. Schlegel selbst ist stolz auf seine Dichtung, er fragt seinen Bruder ausdrücklich, wie ihm „Rhythmus oder Metrum“ des Schlachtliedes gefallen hätten; vgl. den Brief Friedrichs an August Wilhelm Schlegel, 1. Jan. 1806; in: Körner (Hrsg.) 1969, Bd. 1, S. 269. KFSA 5, S. 144. Die Passagen bei William of Malmesbury, Albericus Monachus und anderen sammelt Wolf, Leistungen, S. 16. Es handelt sich um die Verse 8013 – 8018 in der Ausgabe: Le Roman de Rou de Wace. Hrsg. von A.J. Holden. 3 Bde. Paris 1970 – 1973, Bd. 2, S. 183. Ein Manuskript des Roman de Rou lag in der Pariser Bibliothek; vgl. Uhland, Epos, S. 92; UW 4, S. 755. Die entsprechenden Verse aber waren mehrfach gedruckt worden, so z. B. vom Abbé de Vertot: Dissertation dans laquelle on tâche de démêler la véritable origine des François, par un parallele de leurs mœurs avec celles des Germains. In: Mémoires de littérature, tirez des registres de l’Académie Royale des Inscriptions et Belles Lettres 2 (1736), S. 567– 602, hier S. 590.
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Ronceval gefallenen Helden. Dieser Überlieferung folgend, forschte man schon lange vor Uhland sehr wohl nach einer Chanson de Roland – dachte dabei aber nicht an eine epische Langdichtung. Man suchte vielmehr das Lied, das Taillefer und die Helden in der Schlacht gesungen hatten.³⁰⁷ Auch Uhland unterscheidet 1812 zwischen dem „Schlachtgesange“, der wohl „für immer verloren“ sei, und einem Epos.³⁰⁸ Ferdinand Wolf bezeichnet noch 1833 dieses trotz der „emsigsten Nachforschungen“ unauffindbare Lied als „Zankapfel der Gelehrten“.³⁰⁹ Mit seinem Lied in der Romanze aber, das genau auf den Roman de Rou abgestimmt ist,³¹⁰ imaginiert Schlegel genau diese lacuna der Überlieferung. Neben dem Heldengedicht von Roland füllt er auch die Lücke einer Chanson de Roland, wie sie die Zeitgenossen erwarteten. Schlegels ‚Chanson de Roland‘ birgt noch eine weitere Reflexionsebene. Nicht nur schlägt er mit Taillefer eine Verbindung zur provenzalischen Dichtung. Sondern er bindet den Rolandsstoff auch zurück in den nationalen, deutschen Kontext. Wieneke konnte zeigen, dass Schlegels Lied noch auf eine weitere Quelle zurückgreift.³¹¹ Sowohl das Metrum, das er wählt, als auch der Refrain nehmen Elemente des Liedes König Ludwig auf, wie Herder es in seinen Volksliedern abgedruckt hatte.³¹² Das Ludwigslied ist eine der ältesten in althochdeutscher Sprache überlieferten Dichtungen. Seit Schilters Edition von 1696³¹³ wurde es hoch gehandelt. Erduin Julius Koch beispielsweise stellte es 1795 in seiner chronologischen Liste
Der Comte De Tressan beispielsweise hielt 1777 die Chanson de Roland in diesem Sinne für verloren, imaginierte aber zum Ersatz ein Lied „que nous croyons que chantoient nos soldats, il y a sept ou huit cens ans, en allant au combat“; [Louis-Élisabeth de la Vergne, Comte de Tressan (Hrsg.):] Bibliothéque universelle des romans […], Décembre 1777, S. 210; das Lied ist abgedruckt auf S. 211– 215. Uhland, Epos, S. 76; UW 4, S. 13. Wolf, Leistungen, S. 15 f. Schlegel nennt beispielsweise neben Roland auch „Oliver“ und alle die „Starken“, die Karl fallen sieht; KFSA 5, S. 144; VV. 52– 55. Wieneke 1913, S. 63 f. Vgl. die Analyse von Schlegels Gedicht oben in Anm. 303. Der metrisch auffällige Refrain „Lied wird gesungen, / Kampf dann begunnen“ zitiert zwei Verse des König Ludwig, die dort freilich kein Refrain sind: „Sang war gesungen, / Schlacht ward begonnen“ (Volkslieder. Nebst untermischten andern Stücken. [Hrsg. von Herder]. Zweiter Theil. Leipzig 1779, S. 227– 232, hier S. 231). Das Lied, wie Herder es abdruckt, ist metrisch uneinheitlich. Schlegel unterzieht die Vorgabe einer bewussten, systematischen Gestaltung. Johann Schilter: Epinikion Rhythmo Teutonico Ludovico Regi acclamatum, Cum Nortmannos an. DCCCLXXXIII. vicisset […]. Straßburg 1696. Die spätere zweite Ausgabe wurde auch im Thesaurus gedruckt (Bd. 2, eigene Paginierung).
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II Friedrich Schlegels Revolutionen
der deutschen „Epischen Gedichte vermischten Inhalts“³¹⁴ obenan. Es handelt vom Sieg des Königs Ludwig über die Normannen 881 und über die Uneinigkeit der fränkischen Herrscher, die zur Teilung des Reiches in ein östliches und ein westliches Herrschaftsgebiet führte. Das Lied betrifft also die Nachgeschichte Karls des Großen, wenige Generationen später. Allein, welcher König Ludwig ist gemeint? Unter Ludwig dem Frommen, dem Sohn Karls des Großen, begann die Teilung des Frankenreichs. 880 aber herrschten zwei Ludwigs: Ludwig III. von Frankreich, Sohn Ludwigs des Stammlers, hatte das westfränkische Reich unter sich, Ludwig II. (heute: III.), genannt ‚der Jüngere‘ und Sohn Ludwigs des Deutschen, das ostfränkische. Heute – und später im 19. Jahrhundert – ist sich die Forschung einig, dass das Lied dem westfränkischen Ludwig gilt.³¹⁵ Als Schlegel seinen Roland schrieb, bestand dieser Konsens aber keineswegs. Schilter plädierte ebenfalls für den westfränkischen König. Aber 1807, fast zeitgleich mit Schlegels Roland, kommentiert Johannes von Müller in seiner Ausgabe von Herders Stimmen der Völker in Liedern: „Es betrifft Ludwig, Sohn des Deutschen, Enkel des Frommen, Urenkel Carls des Großen.“³¹⁶ Und 1812 setzen von der Hagen und Büsching in ihrem Grundriß die Entscheidung aus: Das Lied gelte „entweder Ludwig II., Sohn Ludwigs des Deutschen, oder dem Gallischen Ludwig III., dessen Neffen“.³¹⁷ Die Frage, welcher Ludwig gemeint sei, ist bedeutender, als es zunächst scheinen mag. Denn aus dem westfränkischen Reich entwickelte sich Frankreich, aus dem ostfränkischen aber Deutschland. Die Zuschreibung ist also politisch äußerst heikel. Denn wenn das Lied dem ‚deutschen‘ Ludwig gilt, dann handelt es sich nicht nur um eines der ältesten Denkmäler in deutscher Sprache, sondern gleichzeitig auch um ein poetisches Gründungsdokument des Deutschen Reiches. Herders Einschätzung als „älteste[s] Deutsche[s] Lied“³¹⁸ erschiene damit zusätzlich in einem politischen Licht. Wenn Schlegel nun in seine Chanson de Roland Züge des König Ludwig verwebt, dann muss man dies vor diesem Hintergrund verstehen. Seine poetische Reflexion besitzt eine nationale Dimension. Deutlich wird dies an einem anderen Text Schlegels, der zusammen mit dem Roland im Poetischen Taschenbuch pu-
Koch, Grundriss, Bd. 1, S. 121. Zum Kontext des Liedes vgl. Robert Müller: Der historische Hintergrund des althochdeutschen Ludwigsliedes. In: DVjs 62 (1988), S. 221– 226. Johann Gottfried von Herder’s sämmtliche Werke.Teil 20: Stimmen der Völker in Liedern. Neu hrsg. von Johann von Müller. Tübingen 1807, S. 473. In der Erstauflage (Herder [Hrsg.]: Volkslieder, S. 227) fehlt dieser Verweis. Hier heißt es im Inhaltsverzeichnis lediglich: „Das älteste Deutsche Lied. Schilters thesaur. rer. germ.“ (S. 310). Hagen, Büsching, Grundriß, S. XXX. Vgl. Anm. 316.
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bliziert wurde. In seinen Briefen auf einer Reise durch die Niederlande, die Schweiz, und einen Theil von Frankreich versucht Schlegel entschieden, Karl den Großen zu ‚repatriieren‘. Er und die Karolingischen Fürsten überhaupt, so heißt es dort, seien nicht „Könige von Frankreich“ gewesen, sondern „Deutsche“.³¹⁹ Die Berichte von Karl und Roland überhaupt werden so zu einem nationalen Stoff, wie Schlegel es in seinen Vorlesungen für das moderne epische Gedicht fordert.³²⁰ Hierzu fügt sich die Integration des König Ludwig. In den wiederholten Kämpfen gegen die Normannen spiegeln sich die alten Taten, die im Lied des Taillefer neuen Ausdruck gefunden haben. Schlegel suggeriert damit eine (fiktive) mündliche Traditionskette von den Schlachten Karls zu den ein Jahrhundert späteren Taten seines Großenkels Ludwig. Das erste deutsche Lied stammt in direkter Linie ab von den Taten um den ‚eigentlich deutschen‘ Karl und seinen Helden Roland. Das Heldengedicht stiftet so insgesamt eine Verbindung vom Rolandsstoff zur Entstehung des Deutschen Reiches. Schlegel trennt den Rolandsstoff aus der französischen Geschichte heraus und reklamiert ihn für die deutsche. Schlegels Roland ist nicht bloß eine „bearbeitende Übersetzung“.³²¹ Das Heldengedicht etabliert eine philologisch-historische Fiktion mit einem wiederum nicht geringen Anspruch. Es reflektiert bewusst ex post über die poetischen Traditionen, in die Schlegel es stellt. Einmal mehr geht es Schlegel im Roland darum, Fehlstellen der Überlieferung zu füllen – wenn auch in anderer Weise als im Alarcos und den früheren Gedichten. Die Antike spielt hier nun keine Rolle. Die Intention ist vielmehr eine nationale. Karl der Große als Gründungsfigur und die Rolandstradition sollen der modernen deutschen Dichtung einverleibt werden.
5 Gescheiterte Revolution – Zusammenfassung Schlegels Dichtungen bilden die komplementäre Seite zu seinem Denken, wie es sich in den Jahren bis zur Konversion 1808 vollzieht. Beide Seiten sind erfüllt von einer hochgespannten Erwartung. Die kritischen, theoretischen, philologischen und literarhistorischen Schriften perspektivieren eine Epochenzäsur, die Schlegel auf dem Grund seines idealistischen Denkens in die Zukunft verlegt: Das Wissen zielt auf den Punkt ab, an dem es als bloßes Wissen überwunden sein wird. Es antizipiert diese Epoche, indem es progressiv auf sie zuläuft. Der Begriff der Briefe auf einer Reise durch die Niederlande, die Schweiz, und einen Theil von Frankreich; in: Schlegel, Taschenbuch, S. 257– 390, hier S. 297; KFSA 4, S. 153 – 204. Vgl. KFSA 11, S. 158. Vgl. Hans Eichner in KFSA 5, S. LXXXVIf.
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II Friedrich Schlegels Revolutionen
‚ästhetischen Revolution‘, den Schlegel in seinen frühen Schriften prägt, bezeichnet diese Denkfigur. Sie bestimmt aber seine Arbeiten auch noch da, wo er den Begriff durch andere ersetzt. Dem kritischen und philologisch-historischen Denken schreibt Schlegel dabei eine weltgeschichtliche Bedeutung zu. Es antizipiere die Revolution und statte die Dichtung erst mit den Qualitäten aus, die diese dann zur eigentlichen Agentin des Umbruchs werden ließen. Der Kritiker Schlegel trägt die Ambivalenz des philologisch-historischen Wissenschaftlers voll aus. Denn einerseits ist es nicht seine eigene Tätigkeit – die Kritik und die Philologie, die Wissenschaft des Historischen –, in der der weltgeschichtliche Umbruch stattfinden wird. Deren Organ und Ausdruck ist die Poesie. Aber um diese Poesie zu ermöglichen, sind Kritik und Philologie unabdingbar. Sie erst können die Dichtung der Modernen zur Kunst erheben, zu einer bewusst aus den Bedingungen der Moderne entstehenden Poesie. Der Kritiker und Philologe ist nichts Geringeres als der Prophet dieser Revolution – und zwar ein Prophet auf idealistischem Fundament: „Wie ist aber eine Geschichte a priori möglich? – Antwort: wenn der Wahrsager die Begebenheiten selber macht und veranstaltet, die er zum voraus verkündigt.“³²² Kants Beobachtung, dass der Prophet in der Moderne vor allem praktisch, performativ agiert, trifft Schlegels Selbstbewusstsein in seinem Kern. Ohne den Propheten gibt es keinen Messias, der die Zeit wendet; und ohne Kritik und Philologie kann die Dichtung ihrer weltgeschichtlichen Aufgabe nicht gerecht werden. Nimmt man den prophetischen Gestus ernst, der im Zentrum von Schlegels Denken steht, dann ist es nur konsequent, dass sich die Zeitenwende an ihm selbst auch in anderer Weise manifestiert als nur im Denken: Schlegels Dichterwerdung in den ersten Tagen des 19. Jahrhunderts bekommt für ihn ohne Zweifel die Bedeutung einer solchen Erfüllung des Prophezeiten.Von nun an tritt er auch auf die andere Seite jener Doppelfigur von Dichtung und philologisch-historischen Wissenschaften über. Seine Dichtungen erweisen sich als Versuche, selbst zum antizipierten Schicksal der modernen Dichtung beizutragen. Als dezidiert moderne Dichtungen sind sie intensive Reflexionen über den historischen Gang der Gattungen und Formen, die sie aufgreifen. Aber auch sie sind mehr: Sie verstehen sich als Akte einer modernen Poesie, die sich auf dem Weg zur Zeitenwende befindet. Sie sind Bausteine im System der modernen Poesie,Versuche, die Moderne zu sich selbst zu bringen: durch die Reflexion ihrer Bedingungen und ihres Verhältnisses zu ihrer Vergangenheit. Kant, Streit der Fakultäten, S. 351; vgl. dazu die Deutung von Koselleck vor dem Hintergrund des neuen Geschichtsdenkens: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: ders. 1979, S. 38 – 66, hier S. 61; ferner: Ders.: Über die Verfügbarkeit von Geschichte. In: ebd., S. 260 – 277, hier S. 267 f.
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Gemessen am Horizont einer ‚ästhetischen Revolution‘, die Schlegels ganzes Schaffen bestimmt, bleibt beiden Figurationen ihr Scheitern eingeschrieben. Der Kritiker Schlegel hofft, dass seine Kritik in Dichtung übergehen möge, um die Moderne in ihr eigenes Schicksal zu setzen. Der Dichter Schlegel dann konstruiert seine Dichtungen auf der Grundlage eines präzisen philologisch-historischen Kalküls, um als gelehrter – und damit dezidiert moderner – Dichter die Wendung der Zeiten zu befördern. Die Moderne jedoch wurde zwar auch in ihren Poesien gelehrt; sie brachte ‚studierte Dichtung‘ hervor. Die Revolution – zumindest die, die Schlegel erhoffte – blieb aber aus.
III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung Philologische Konzeptionen, das zeigte sich bei Schlegel, bewegen sich nicht per se auf einer anderen Ebene als die Dichtung. Zwar vollzieht sich das Nachdenken über Poesie, Tradition und die eigene Position einerseits auf einer Meta-Ebene zur Dichtung, indem es über diese spricht. Aber andererseits nimmt es zu den Möglichkeiten und Notwendigkeiten eines zeitgenössischen Dichtens Stellung. Dies belegt schon die Verbindung von philologisch-historischer und ästhetischer Kritik bei Schlegel, d. h. der Zusammenhang der Rekonstruktion von Vergangenheit und des Versuchs, die Dichtung der Gegenwart zu stimulieren, sie normativ zu bestimmen. Umgekehrt hält bei Schlegel auch die philologisch-historische Reflexion Einzug in die Dichtung. Dass beide Praktiken aufeinander bezogen sind, gründet in der geschichtsphilosophischen Reflexion und ihrer Analyse der Moderne bzw. der Gegenwart. Einer Zeit, die sich ihrer selbst, ihrer Vergangenheit und der Offenheit ihrer Zukunft bewusst ist, bleibt – für Schlegel – keine andere Wahl: Sie muss versuchen, aus dieser condition moderne ihre eigentliche Stärke, die Erfüllung ihres Schicksals zu entwickeln. Schlegels Nachdenken über die Bedingungen der Moderne zeigt Grundlinien, die auch für die philologisch-historische Reflexion der kommenden Jahrzehnte bestimmend sein werden. Die Dringlichkeit, mit der er dabei vorgeht, teilen die folgenden Protagonisten in der Regel jedoch nicht. Dazu gehört etwa der dringende Bezug auf ein – der paradoxe Ausdruck sei gestattet – innerhistorisches éschaton, das Schlegel in die Figur der ‚Revolution‘ bzw. der Wiedergeburt fasst. Dennoch bleibt die philologisch-historische Reflexion ein „Pendant“¹ zur Dichtung. Sie kann sich als ebenso entscheidend für das Schicksal der Moderne begreifen wie die Poesie. Denn die moderne Dichtung unterliegt den gleichen Bedingungen, aus denen das philologisch-historische Bewusstsein hervorgegangen ist. Die alte Dichtung dagegen kann für die Gegenwart erst wieder wirksam werden, wenn sie durch das verstehende Bewusstsein der Modernen hindurchgegangen ist. Insofern eröffnet sich eine Bandbreite von Konstellationen, in die philologisch-historische und dichterische Zugänge treten können. An Schlegel zeigen sich zwei Möglichkeiten: Erstens kann die philologisch-historische Reflexion die Dichtung der Gegenwart und Zukunft gleichsam von außen bestimmen wollen. Vgl. Martus 2007, S. 496.
III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
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Zweitens können sich beide in philologisch-historischen Dichtungen verbinden. Eine solche Poesie wäre dann der eminente Ort, von dem das Schicksal der Moderne abhinge. In der Frühzeit der Germanistik – wenn man die ersten Jahrzehnte nach 1800 als solche fassen will – entwickeln sich jedoch noch andere Modelle, die die Ansprüche von philologisch-historischen Wissenschaften und Dichtung formulieren und vermitteln wollen. An Friedrich Heinrich von der Hagen, den Brüdern Grimm und Ludwig Uhland sollen verschiedene Varianten dieses Verhältnisses gezeigt werden. Hagen entwickelt 1807 ein Modell, das in Grundzügen der Konzeption Schlegels ähnelt. Der Philologe soll selbst zum lebendigen Teil jener alten Überlieferung werden, von deren Wiedererweckung die Gegenwart abhängt. Gleichzeitig verdeutlicht Hagens Kommunikation mit Goethe die Ansprüche, die der Philologe an die Gegenwartsdichtung richten mag. Er weist einen Weg, dessen Beschreitung den großen Dichter der Gegenwart erst zum wirklichen Nationaldichter machen würde. Hagen teilt zwar die Diagnose der Gegenwart als einer Krisenzeit, die ihrer Wendung harrt. Aber sein Geschichtsmodell errichtet keine qualitativen Schranken zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Die Vermittlung beider ist möglich, sie zu leisten bleibt die Aufgabe moderner Reflexion und bewusster, moderner Praxis. Anders die Grimms, vor allem Jacob: Ihre Entgegensetzung von Naturpoesie und Kunstpoesie legt einen konstitutiven Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Jacob versteht diesen Abgrund zwischen den Zeiten so prinzipiell, dass er als grundsätzliches Verdikt gegen die gegenwärtige Dichtung überhaupt gedeutet werden kann. Die philologisch-historische Theorie gefährdet hier die zeitgenössische Dichtung in ihrem Kern. Dieses implizite Provokationspotential wurde durchaus auch so verstanden, wie die Debatte zeigt, in die Achim von Arnim mit Jacob Grimm eintritt. Auch an Ludwig Uhland wird deutlich, wie die philologisch-historische Konzeption von Dichtung und Geschichte sich unmittelbar auf die Gegenwartspoesie auswirken kann. Als Dichter und als Philologe tätig, entwickelt er in seinen gelehrten Schriften und in seinen Gedichten ein Modell, das die Konzeption der Grimms aufzubrechen versucht. Er stellt Philologie und Dichtung in ein wechselseitiges Austauschverhältnis. Die folgenden drei Analysen rücken daher philologisch-historische Perspektiven ins Zentrum. Es soll untersucht werden,welche Auswirkungen deren Begriffe von Dichtung auf die Poesie der Gegenwart haben können. In den dargestellten Entwürfen wird verhandelt, wem die Vorreiterstellung für die Bedürfnisse der Gegenwart zukomme – ein zentraler Aspekt des Spannungsverhältnisses von philologisch-historischen Wissenschaften und Dichtung. Die philologisch-historischen Wissenschaften nehmen unmittelbar teil an der Konkurrenz um die Frage,
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
wer die Gegenwart gestalten könne: sei es, indem sie plausibel zu machen versuchen, selbst die Vermittlung von Vergangenheit und Gegenwart im Begriff zu leisten; sei es, indem sie die alten, wertvollen Texte wieder herstellen und an die Öffentlichkeit geben.
1 Diaskeuast des Nibelungenliedes, Mentor des Nationaldichters – Friedrich Heinrich von der Hagens philologische Rollenfiktionen Für die Frage, wie sich Dichtung und philologisch-historische Wissenschaften in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zueinander verhalten, ist Friedrich Heinrich von der Hagen eine aufschlussreiche Gestalt. Er ist dies umso mehr, als er lange Zeit von der germanistischen Wissenschaftsgeschichte marginalisiert wurde. Wenn Wilhelm Scherer in seiner Biographie Jacob Grimms immer wieder die „rührige Tätigkeit“ Hagens betont, wenn er die „Schnelligkeit“ herausstellt, mit der dieser den „Neigungen des Publicums“ entgegengekommen sei und sich damit in der Öffentlichkeit „zum eigentlichen Vertreter der altdeutschen Studien“ zu machen gewusst habe, dann besitzt diese Würdigung eine deutliche Ambivalenz.² Erst in den letzten Jahrzehnten hat die Forschung Hagens Rolle in der Frühzeit der Germanistik gewürdigt.³ Scherer und seine Nachfolger übernahmen die Perspektive der historischen ‚Sieger‘. Denn das ungünstige Urteil über Hagen stammt ursprünglich von den Brüdern Grimm, Lachmann und anderen zeitgenössischen Protagonisten der altdeutschen Studien.⁴ Ihnen wurde von der Fachgeschichtsschreibung die Rolle der Gründer zugesprochen, Hagen repräsentierte dagegen den Dilettantismus, gegen den die ‚echten‘ Wissenschaftler angetreten seien. Die Emsigkeit allein, mit der Hagen Felder der philologischen Arbeit markierte, um sie gleichzeitig für sich zu reklamieren, setzt ihn jedoch noch nicht von
Wilhelm Scherer: Jacob Grimm. Zweite verbesserte Auflage. Berlin 1885. Ndr. Hildesheim u. a. 1985, S. 69 f. Vor allem muss hier die sorgfältig angelegte Neubewertung von Eckehard Grunewald genannt werden: Friedrich Heinrich von der Hagen 1780 – 1856. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Germanistik. Berlin, New York 1988; darüber hinaus: Jens Haustein: Der Helden Buch. Zur Erforschung deutscher Dietrichepik im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Tübingen 1989, S. 37– 66 und pass.; zu den Streitigkeiten mit den Brüdern Grimm: Bluhm 1997, S. 315 – 360; Andreas Poltermann: „Grundstoff einer neuen Poesie“. Das Nibelungenlied als kultureller Text und als kanonische literarische Übersetzung. Friedrich Heinrich von der Hagens Übersetzung aus dem Jahre 1807. In: Literaturkanon – Medienereignis – Kultureller Text. Formen interkultureller Kommunikation und Übersetzung. Hrsg. von dems. Berlin 1995, S. 245 – 269; Bluhm 1999. Vgl. die Urteile bei Grunewald 1988, S. 1– 5.
1 Von der Hagens philologische Rollenfiktionen
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den Brüdern Grimm ab. Lothar Bluhm hat deren durchaus analoge Strategien der Selbstpositionierung beschrieben.⁵ Während aber ihre vielfältigen Projekte zum kanonischen Bestandteil der Wissenschaftsgeschichte aufstiegen, wurde Hagens Regsamkeit gegen ihn ausgespielt. Gewiss haben sich seine Forschungen retrospektiv oft als unzureichend erwiesen. Aber die ‚Wahrheit‘ eines Ergebnisses wäre ein fragwürdiges Kriterium für die wissenschaftsgeschichtliche Forschung. Zeitgenössisch betrachtet, vertritt Hagen andere Konzeptionen von Philologie als die später kanonisierten. Seine Modelle sind nicht von vornherein unterlegen, sondern sie stehen zu jenen in Konkurrenz. Auch im Laufe des Jahrhunderts blieben philologische Methoden und Positionen Gegenstände von Debatten und Schulkämpfen. Umso mehr gilt es, die ersten Jahre des 19. Jahrhundert als offenen Prozess zu verstehen. Kämpfe, Konkurrenzen und Abgrenzungsversuche ergaben sich gerade deshalb, weil unterschiedlichste ‚Wissenschaftsmöglichkeiten‘⁶ nebeneinander standen.⁷ Manche selbstreflexive Einlassung von philologisch-historischen Gelehrten formuliert diese agonale Verfassung der Wissenschaft explizit. Mone beispielsweise betont 1818, dass „bey einer entstehenden Wissenschaft, wie die der altteutschen Gelahrtheit, […] der Widerstreit der Meinungen zum Fortschreiten der Wissenschaft selber nothwendig und wohlthätig“ sei.⁸ Das, was sich nicht durchgesetzt hat, hilft, die Denk- und ‚Wissenschaftsmöglichkeiten‘ des zeitgenössischen Diskurses besser zu verstehen. Als Konkurrent in den altdeutschen Studien war Hagen in den ersten Jahrzehnten ernst zu nehmen. Er bewirkte 1810 die Einrichtung einer der ersten ‚germanistischen‘ Professuren. Seine Gesuche an das preußische Kultusministerium waren erfolgreich, so dass er zum außerordentlichen Professor für deutsche Sprache an der Berliner Universität ernannt wurde.⁹ Bis zu seinem Tod 1856 blieb er akademisch tätig.¹⁰ Adolf Holtzmann widmete ihm noch 1854 seine wichtige Studie zum Nibelungenlied,¹¹ Reinhold Bechstein nahm ihn 1859 neben den Grimms und Lachmann in die Riege der germanistischen Gründerfiguren auf.¹²
Vgl. Bluhm 1997, pass., die Konkurrenz zu Hagen: ebd., S. 315 – 360; ders. 1999. Vgl. die Formulierung von Ulrich Hunger 1987, S. 45*. Ausführlich: Bluhm 1997. Franz Joseph Mone: Einleitung in das Nibelungen-Lied zum Schul- und Selbstgebrauch. Heidelberg 1818, S. V. Vgl. die Dokumente in Meves (Hrsg.) 2011, S. 4– 11. Von Berlin aus ging er schon 1811 nach Breslau, er war zunächst a.o. Professor und Bibliothekar, ab 1817 dann Ordinarius. 1824 war sein Gesuch um Versetzung nach Berlin erfolgreich, wo er sogar Lachmann vorgezogen wurde (vgl. Grunewald 1988, S. 25). Hier lehrte er bis 1856; vgl. die Liste der Professuren bei Meves 1994, S. 199 – 201; zur Biographie: Grunewald 1988, S. 10 – 28. Adolf Holtzmann: Untersuchungen über das Nibelungenlied. Stuttgart 1854, S. [I]f.
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
Hagens Wirken kann – vielleicht gerade aufgrund seiner eiligen Betriebsamkeit – als Philologie in progress verstanden werden. Mehr als seine Konkurrenten verwirft er im Laufe der unterschiedlichen Arbeiten immer wieder alte Ansprüche, ändert Begriffe und Techniken. Gerade dadurch zeugt auch sein Werk von dem Versuch der Formierung gegenstandsadäquater Standards. Er steht hier in Konkurrenz zu den Grimms und Lachmann, wie sich in zahlreichen Debatten und polemischen Scharmützeln zeigt, aber auch darin, dass man in Institutionen gegeneinander arbeitete.¹³ Und wie seine ‚germanistischen‘ Konkurrenten befindet sich auch Hagen in Spannungsverhältnissen zu den gleichzeitigen Aktivitäten, mit denen etwa Tieck oder Arnim und Brentano sich der alten Überlieferungen annehmen. Er setzt sich seinerseits von diesen ‚Dichterphilologen‘ ab, die ebenfalls einen der Gegenwart adäquaten Umgang mit den alten Überlieferungen beanspruchen.
1 Friedrich August Wolf und der deutsche Alexandrinismus Bevor die Untersuchung sich weiter Hagen zuwendet, muss sie noch einmal zu Friedrich August Wolfs Prolegomena zurückkehren. Sie sind in gewisser Weise eine Grundschrift der modernen Philologie. Von ihnen aus ergeben sich mögliche Positionierungen von philologisch-historischen Wissenschaften und Dichtung. Die Option, die Hagen 1807 in seiner ersten Edition des Nibelungenliedes wählt, wird nur vor dem Hintergrund der Prolegomena verständlich. Auch für das Verständnis der Brüder Grimm und Uhlands, denen die folgenden Teilkapitel gelten, ist Wolfs Epostheorie bedeutsam. Auf die Wirkung, die Wolfs Untersuchung auf die Zeitgenossen hatte, wurde schon verwiesen. Für Friedrich Schlegel spielte sie eine zentrale Rolle. Wie sich eine philologisch-historische Konzeption auf Begriff und Möglichkeit von gegenwärtiger Dichtung auswirken kann, belegen dabei die Reaktionen Schillers und Goethes. Scharf wies jener die „barbarisch[e]“¹⁴ These zurück, dass die Homerischen Epen nicht von einem großen Dichter stammten. Bezeichnend ist aber
Siehe Bechstein, Philologie, S. 83 und S. 96. Hagen sei zwar nicht eigentlich ein Kritiker und Philologe, aber die Verankerung der deutschen Philologie an den Universitäten gehe maßgeblich auf sein Wirken zurück. Vgl. etwa Hagens Gutachten bei der Neubesetzung von Lachmanns Professur, wo er sich vehement gegen dessen Schüler Moriz Haupt verwahrt; Meves (Hrsg.) 2011, S. 59 – 61 und S. 76 f. Vgl. den Brief Schillers an Goethe, 27. April 1798; Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hrsg. von Karl Richter. 21 Bde. München 1985 – 1998. Bd. 8.1. Hrsg. von Manfred Beetz, S. 559.
1 Von der Hagens philologische Rollenfiktionen
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auch Goethes Haltung, die im Laufe der Zeit immer wieder schwankte.¹⁵ 1795 reagierte er zunächst verärgert über den Philologen, der „die fruchtbarsten Gärten des ästhetischen Reichs“¹⁶ verwüstet habe. Zwei Jahre später würdigte er Wolfs Leistung, reklamierte aber doch das Recht, einen anderen Blick auf Homer zu behalten; aus der Arbeit des Philologen folge nicht, „daß ein solches Gedicht auf keine Weise vollständig, vollkommen und Eins werden könne noch solle“.¹⁷ 1807/1808 versuchte er die Belegkraft einer philologisch-historischen Untersuchung systematisch zu relativieren.¹⁸ Zwischenzeitlich aber fruchtete Goethes Beschäftigung mit den Prolegomena. Sie stimulierten 1797/98 nicht nur seine neuerliche Auseinandersetzung mit Homer, sondern auch den Versuch, als Moderner nun selbst in die epische Tradition zu treten. Das moderne, ‚idyllische Epos‘ Hermann und Dorothea, aber auch der Plan einer Achilleis ¹⁹ sind Folgen von Wolfs Anregung.Wenn die Homer-Hypothese eine konsistente Autorschaft bei einem der zentralen Texte des Kanons negiert, dann mag einerseits fraglich werden, ob ein einzelner Dichter – zumal in der Moderne – etwas Vergleichbares schaffen könnte. Andererseits aber bietet die Theorie auch die Möglichkeit, sich selbst in einen Traditionsprozess einzuordnen, gleichsam zum Teil eines Werkes zu werden, dessen kultureller Sinn sich dadurch entfaltet, dass es sich progressiv in der Zeit fortschreibt. Auf die philologisch-historischen Aktivitäten der kommenden Jahre und Jahrzehnte hatte Wolfs These eine gewaltige Wirkung. Es findet sich kaum jemand, der sich nicht mit ihr auseinandergesetzt hat. Wilhelm von Humboldt beispielsweise war mit dem Gedanken einverstanden.²⁰ Goethes Schwager Schlosser entwarf dagegen ein polemisches Epyllion mit der These, dass hinter der kritischen Destruktion nichts anderes als der Neid der Philologen auf das Genie Homer stehe.²¹ Sofort zeichnete sich die Debatte ab, die die Klassische Philologie und, an anderen Texten, auch die übrigen Philologien noch über Jahrzehnte beschäftigen sollte: der Streit zwischen Analytikern und Unitariern um die Frage nach der Autorschaft solcher frühen, ursprünglich mündlichen Überlieferungen. Unmittelbar nach Erscheinen der Prolegomena wurde das Deutungsmodell auf andere
Vgl. Riedel 2001a, S. 81– 83; von hier auch die folgenden Zitate. Brief Goethes an Schiller, 17. Mai 1795; Goethe, Münchner Ausgabe, Bd. 8.1, S. 79 f. Brief Goethes an Schiller, 28. April 1797; ebd., S. 341. Vgl. die Beyläufigen Gedanken über historische Critik; dazu oben, Kap. I.3.2., Anm. 380. Vgl. dazu die eingehende Untersuchung von Elke Dreisbach: Goethes Achilleis. Heidelberg 1994. Vgl. den Brief Humboldts an Wolf, 30. Jan. 1795; Humboldt, Briefe (Hrsg. Mattson), S. 110 – 113. [Johann Georg Schlosser:] Homer und die Homeriden. Eine Erzählung vom Parnaß. Hamburg 1798, hier S. 18 f.
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
Textkorpora übertragen. Ludwig Tieck etwa adaptierte in der Vorrede zu seiner Minnesinger-Edition die Hypothese an das Nibelungenlied. ²² August Wilhelm Schlegels Berliner Vorlesungen vom Winter 1802/03²³ sind Wolf genauso verpflichtet wie die Liedertheorie, die Lachmann ab 1816 vorlegte.²⁴ Hagen schließlich berief sich in seiner Beschäftigung mit dem Nibelungenlied ebenfalls emphatisch auf seinen Lehrer. Er hatte während seines Jura-Studiums in Halle intensiv Vorlesungen in der philosophischen Fakultät gehört, insbesondere bei Wolf.²⁵ Eines der Grundargumente Wolfs wurde schon genannt, im Zusammenhang mit der Möglichkeit, den ‚Geist‘ einer Kultur zu denken: Kein genialer Einzeldichter ‚Homer‘ erscheine in den ihm zugeschriebenen Epen, sondern vielmehr die Arbeit einer ganzen Kultur.²⁶ Wolf begründet seine These unter anderem mit der Beobachtung, dass sich in den Gesängen kein Verweis auf Schrift finde. Daher müsse man ihre Entstehung unter Bedingungen der Mündlichkeit begreifen, die sich von denen einer Schriftkultur grundlegend unterschieden. Er gehört mit Heyne und Herder zu den ersten, die versuchen, Mündlichkeit nicht als defizitären Zustand zu begreifen, mit dem eine noch rohe, ungebildete Kultur das Fehlen von Schrift und den Mangel an Gelehrsamkeit und Wissenschaft kompensiere, sondern sie als Modus einer Tradierung zu verstehen, die eigenen Gesetzen gehorcht. Die auf den ersten Blick konsistent erscheinenden Epen bricht Wolf auf, um sie als Kristallisationen ihrer Überlieferungs- und Entstehungsgeschichte verständlich zu machen. Diese reiche durch mehrere Jahrhunderte, und sie umfasse unterschiedliche kulturelle Praktiken. Am Beginn stünden Sänger (aoidoí), die mündlich Lieder vortrügen. Ihre Praxis und Produktionsweise erschließt Wolf aus den besser überlieferten Berichten über Rhapsoden, die ihre Nachfolge angetreten
Vgl. Tieck, Minnelieder, S.VI; dazu Körner 1911, S. 39. Tieck hatte in Halle studiert und bei Wolf zumindest über römische Altertümer gehört. Seine Vorlesungsmitschrift hat Achim Hölter gefunden und beschrieben: ders.: Der Romantiker als Student. Zur Identität von zwei TieckHandschriften. In: DVjs 61 (1987), S. 125 – 150. Vgl. A.W. Schlegel, Vorlesungen (Hrsg. Behler), S. 557– 568. Vgl. Karl Lachmann über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth. Berlin 1816, S. 3. Zu Homer siehe: ders.: Betrachtungen über Homers Ilias. Mit Zusätzen von Moriz Haupt. Berlin 1847. Vgl. Grunewald 1988, S. 11; er verweist auf zwei Nachschriften zu Wolfs Vorlesungen in der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt Halle. Vgl. etwa Prolegomena, S. 92, wo Wolf feststellt, dass wir den „ganzen zusammenhängenden Text und die Liederreihe zweier in sich geschlossener Gedichte nicht eigentlich dem Dichtergenie des Mannes, dem wir sie gewöhnlich zuschreiben, sondern vielmehr der Kunstfertigkeit eines gebildeten Zeitalters und den vereinten Bemühungen vieler [im Orig.: „sollertiae politioris aevi et multorum coniunctis studiis“] verdanken“.
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hätten (Prolegomena, S. 128). Er rekonstruiert sie wie folgt: Der Stand der Sänger befasste sich demnach mit der Technik des Dichtens und der Überlieferung von Gesängen (Prolegomena, S. 133). Bei bestimmten Anlässen, Festen oder Wettkämpfen, trugen sie Lieder vor, die sie selbst gedichtet oder von anderen Sängern gelernt hatten. Sie dichteten aus dem Gedächtnis, aber nicht ‚auswendig‘, denn die Lieder lagen nie schriftlich fixiert vor. Vielmehr aktualisierte sich jeweils im Vortrag ein Lied in einer konkreten Gestalt (Prolegomena, S. 134 f.). Man unterschied nicht zwischen Liedern, die man ‚selbst gemacht‘, und solchen, die man von anderen gelernt hatte. Auch die Rhapsoden waren dabei nicht nur Vortragende, sondern zugleich ebenfalls Dichter (Prolegomena, S. 130). Aufgrund der mündlichen Situation musste ihr Name gar nicht im Lied selbst überliefert werden – denn die Zuhörer sahen schließlich, wer vor ihnen stand und sang. Beifall und Lob waren der Lohn für ihre Tätigkeit, nicht die (schriftliche) Fixierung ihres Namens für eine ‚Ewigkeit‘ – eine solche Perspektive konnte sich nur in einer Schriftkultur herausbilden (Prolegomena, S. 128). Die Gesänge hatten die Gestalt und die Länge, wie sie die überlieferten ‚Homerischen Hymnen‘ aufweisen. An ein langes Epos konnte niemand denken, denn für den Vortrag in einer zeitlich beschränkten Aufführungssituation wäre es schließlich ungeeignet (Prolegomena, S. 136 und S. 139). In einen Zusammenhang seien diese Lieder, wie Wolf vermutet, zumindest in Attika erst durch Solon gekommen (Prolegomena, S. 159 f.). Er habe verschiedene Rhapsoden nacheinander auftreten lassen; die einzelnen Lieder seien so zu Episoden einer zusammenhängenden Handlung geworden. Der Gesetzgeber und Lyriker wird damit auch zu einem an den Epen beteiligen Akteur. Unter Peisistratos, seinem Nachfolger, habe sich dann der Übergang in die Schrift vollzogen. Die zusammengestellten Lieder seien aufgezeichnet und in übergreifende Handlungen eingeordnet worden. Wolf beschreibt dies als das Werk der Diaskeuasten, der Ordner (Prolegomena, S. 165). Sie stünden an einer weiteren Schlüsselstelle in der Genese der Gesänge, denn mit der Verschriftlichung leisteten sie die epische Integration, wie sie dann der weiteren Textgeschichte zugrundeliege. Wolf betont, dass die Diaskeuasten keine bloßen Kritiker waren, die die ‚authentische‘ Gestalt eines Textes wiederherstellen wollten, sondern vielmehr seine ‚Vollender oder Zubereiter‘.²⁷ Der ‚Urtext‘ der mündlichen Produktion wäre damit nicht eigentlich verloren; als einheitlicher, stabiler und zusammenhängender Text hätte er sich vielmehr als bloße Fiktion erwiesen, die aus einer anachronistischen Fehldeutung des Status und der Geschichte der Epen entstanden wäre.
Im Original der Prolegomena heißt es „Exactores seu politores“ (Wolf, Prolegomena 1795, S. CLI); Hermann Muchau (Prolegomena, S. 165) übersetzt mit „Vollender oder Überarbeiter“.
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
An den schriftlich zusammengestellten Zyklen entwickelte sich nach Wolf dann die Textkritik, zunächst auf der materiellen Grundlage von Büchersammlungen. Denn wenn mehrere, unterschiedene Fassungen der Zyklen in einer Bibliothek vorhanden gewesen seien, auf ihrer Grundlage aber eine neue Abschrift hergestellt werden sollte – dann habe sich das Problem gestellt, welche Varianten es zu übernehmen gelte. Wiederum regierte für Wolf hier nicht das Kriterium der Authentizität, sondern das der Schönheit. ‚Kritik‘ sei eine verbessernde Tätigkeit gewesen, in dem Sinne, dass sie ‚Fehler‘ und Unklarheiten der disparaten Überlieferung durch Glättungen und Korrekturen geheilt, nicht aber einen ‚ursprünglichen‘ Text restituiert habe. Es habe ein „Mann von Bildung, der zugleich auch selbst Dichter war oder wenigstens nicht unbewandert in der dichterischen Tätigkeit“, (Prolegomena, S. 179) entschieden, welche Variante passend sei. Die Intention der antiken Kritiker sei darauf gegangen, dass „der Text an jeder einzelnen Stelle sich selbst ähnle und des Homer würdig erscheine, indem sie oft viele Verse fortließen und anderswo eine glänzende Darstellung, wo eine solche fehlte, hinzufügten.“ (Ebd.) Das kritische Urteil sei ein „künstlerisches“ (ebd.) gewesen, Kriterium für die ‚Echtheit‘ einer Stelle ihre Schicklichkeit. Auch die alexandrinische Kritik habe so operiert. Der große Aristarch habe in seiner Verbesserung des Homer nicht danach gestrebt, einen authentischen – und vielleicht dichterisch schlechteren – Wortlaut wieder herzustellen. Nicht, „was Homer gedichtet habe“, sei entscheidend gewesen, sondern „was er hätte dichten müssen.“ (Prolegomena, S. 209) Aristarch habe schließlich durch Ausscheidung und Arrangement die epischen Zyklen der Einheit zugeführt, in der sie dem neuzeitlichen Leser vor dem Auge stünden. Der überlieferte „Vulgärtext“ zeige nichts weniger als seine „Rezension“ der Epen (Prolegomena, S. 211). Das Eingreifen der Kritiker hat für Wolf also die Gestalt hervorgebracht, in der die damals schon hunderte von Jahren alten Lieder auf die Gegenwart gekommen sind. Auf diese Fassung der Epen könne auch die philologische Rekonstruktion allenfalls zielen. Wolfs Argumente sind für die Frage nach der Rolle von Kritikern, Philologen und Dichtern auch im kulturellen Prozess der Gegenwart entscheidend. Er relativiert die Vorstellung vom Dichtergenie, das ein übermenschliches Werk wie die Homerischen Epen rein aus sich selbst schaffen könne. Das große Exempel der Vorzeit, der König aller Dichter ‚Homer‘, entsteht aufgrund einer optischen Täuschung, die aus schlecht justierten Beobachtungsinstrumenten resultiert. Was als Angriff auf die Möglichkeiten eines einzelnen Dichters – und auf das Genie – gelesen werden kann, richtet sich jedoch nicht auf den Text. Zwar gebe dieser, recht gelesen, Kunde von seiner Geschichte. Aber indem er dies tut, auratisiert er sich für Wolf noch weiter. Denn die Homerischen Schriften werden zu geschichteten Produkten unterschiedlicher Akteure, der Sänger, Rhapsoden, Diaskeuasten und Kritiker.Wolf versteht sie als Zeugnisse der ganzen griechischen
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Kultur, gleichzeitig beförderten sie die Entwicklung neuer Praktiken wie der kritischen Untersuchung. An die Stelle des großen Dichters rückt ein Kollektiv, ein kultureller Prozess, ja, eine ganze Kultur. Dieses Argument gewinnt einen potentiell fundamentalen Wert durch die historische Differenz zwischen Antike und Moderne, die Wolf deutlich macht: Die Kultur, aus der die Epen entstanden sind, unterscheidet sich grundlegend von derjenigen der Moderne. Die Zeit solcher Werke ist vorbei. Und obwohl Wolf dies nicht tut und vielleicht auch nicht intendiert: Es ließe sich die Frage stellen, ob ein einzelner, moderner Dichter in der Lage sein könnte, ein Werk zu schaffen, das an die überlieferten auch nur annähernd heranreiche. Wolfs Hypothese von der Entstehung von Epen wurde, wie gesagt, rasch auf die ‚altdeutsche‘ Überlieferung übertragen. Auch sie historisiert und auratisiert sich in analoger Weise. Aber paradoxerweise bedeutet dies nicht unbedingt, dass ihre modernen Betrachter sich ihr mit den gleichen Praktiken nähern müssen wie den Homerischen Epen. Die Zeit der Griechen ist eine vergangene, die philologisch-historische Distanzierung daher geboten, da die geschichtliche Differenz nur in der Erkenntnis wieder vermittelt werden kann. Die Beschäftigung mit der eigenen Überlieferung aber könnte geradezu als Fortsetzung der kulturellen Tradition gesehen werden, die sich in ihr sedimentiert hat. Wo ein klassischer Philologe daher sein Seziermesser schärft, da mag dem altdeutschen Kritiker ein anderer Zugang obliegen. Wolf selbst deutet diese Differenz dort an, wo er den Unterschied zwischen der gelehrten Kritik in Antike und Moderne expliziert. Während die ästhetische Kritik der Alten für den gegenwärtigen Umgang mit antiker Überlieferung unzulässig sei, werde sie bei altdeutschen Texten vielleicht gerade gefordert: Ganz wie die antike Kritik müsse „heutzutage“ ein „kunstsinniger und geistvoller Forscher, der zugleich ein vorzüglicher Kritiker ist, mit einem uralten Dichtwerk unsrer deutschen Literatur verfahren“ (Prolegomena, S. 180). Wolfs Direktive an die altdeutschen Forscher ist nicht ironisch gemeint, auch wenn er dem Wert der modernen europäischen Nationalliteraturen skeptisch gegenübersteht.²⁸ Das Argument legitimiert vielmehr einen anderen kritischen Umgang mit der eigenen Überlieferung und damit auch eine alternative Praxis der altdeutschen Philologie. Auf die Antike blickt man von außen, auf das Mittelalter dagegen gleichsam von innen. Freilich: Die Urdichtungen der Moderne sind bereits vorhanden. Aber die Gegenwart befände sich nun in der alexandrinischen Periode ihres Zeitalters. Anders als der Klassische Philologe nähme der altdeutsche Forscher noch an demselben kulturellen Prozess teil, aus dem auch seine Gegenstände hervorgegangen wären.
Etwa Wolf, Darstellung, S. 138; vgl. dazu Fuhrmann 1959, S. 233.
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
Während der Klassische Philologe die fremde Überlieferung aneignen müsste, befasste sich der altdeutsche mit den eigenen, noch lebendigen Wurzeln. Diese Konsequenz folgt nicht notwendig aus Wolfs Worten. Aber dass sie aus ihnen gezogen werden konnte, zeigt nicht zuletzt Hagens Selbstverständnis in seinen frühen Arbeiten. Von dieser möglichen Perspektive der Prolegomena her lässt sich auch verstehen, wie ein ästhetisch-kritischer Umgang mit der eigenen Überlieferung um 1800 nach wie vor als gelehrte Praxis verstanden werden konnte, ja, wie er Manchem als eigentliche Aufgabe eines (‚altdeutschen‘) Philologen erscheinen durfte. Zwar trifft Wolf eine Unterscheidung zwischen philologisch-historischer und ästhetischer Kritik. Aber die Doppeldeutigkeit des Kritik-Begriffes hat eine lange Geschichte, die noch hier nachwirkt. Beide Bedeutungen halten noch aneinander fest.²⁹ Auch bei Schlegel hatte sich gezeigt, wie beide Praktiken sich durchdringen: die ästhetische Beurteilung bzw.Verbesserung von Schriften und die Bestimmung von Echtem und Unechtem. Denn die philologisch-historische Kritik forscht zwar nach historischer Wahrheit. Aber wenn sie hofft, mit ihrer Hilfe Gegenstände zu erkennen, die auf die Gegenwart und Zukunft eine Auswirkung haben sollen, dann kommt der philologisch-historischen Kritik eine normative Komponente zu, wie vermittelt sich diese auch immer ausnehmen mag. Umgekehrt ist die ‚ästhetische‘ Kritik, die die Dichtung beurteilt und verbessert, um der Poesie der Gegenwart den Weg zu zeigen, auf die Kenntnis der Geschichte angewiesen. Denn wenn die Poesie, wie alle Phänomene, geschichtlich vermittelt ist, dann kann die ästhetische Kritik ihren Maßstab nicht aus überzeitlichen Normen gewinnen, sondern allein aus der historischen Erkenntnis. Noch Boeckh expliziert in seiner Enzyklopädie-Vorlesung die normative Funktion der philologisch-historischen Kritik und stellt daher nicht nur einen Zusammenhang zur „ästhetischen Kritik“ her, sondern auch zur Literaturkritik im modernen Sinne.³⁰
2 Der Philologe als Diaskeuast – Hagen und das Nibelungenlied Hagen überträgt Wolfs alternative ‚Wissenschaftsmöglichkeit‘ für den altdeutschen Kritiker auf das Nibelungenlied. Dieses und die zu seinem Stoffkreis gehörenden Überlieferungen waren für ihn sein ganzes gelehrtes Leben hindurch zentral. Davon zeugen die zahlreichen Übersetzungen und Editionen, die er von
Vgl. Horstmann 1978, S. 38. Er spricht von der „literarischen Kritik“ und von der „Recension im modernen Sinne“, d. h. der Buchbesprechung; Encyklopädie, S. 250.
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1807 an vorlegt. Hierher gehören etwa auch seine Ausgaben des Heldenbuches ³¹ und eine Edition der Edda-Lieder, an der er in scharfer Konkurrenz zu einem ähnlichen Projekt der Brüder Grimm arbeitete.³² Bei Hagen zeigt sich ein entschiedener Zug zur Kanonisierung,³³ dem ein später autobiographischer Bericht prägnante szenische Kontur verleiht. 1855 berichtet er, wie er in seiner Jugend allerhand Altdeutsches gesammelt habe. Dann aber sei ihm das Nibelungenlied entgegengetreten, und er habe ein Büchergericht über seine Sammlung gehalten: Sie wurde dem Antiquar übergeben.³⁴ Das Urteil hinterlässt den einen auratischen Text, gegenüber dem das Übrige wertlos erscheint. Auch dies ist eine mögliche philologische Ordnungsstrategie. 1807 legt Hagen eine erste Ausgabe dieses kanonischen Textes vor.³⁵ Es handelt sich um eine Übertragung des Epos in eine modernisierte Sprache. Erst drei Jahre später publiziert Hagen eine mittelhochdeutsche Edition. Schon die Widmungsrede der „Verjüngung“ (Nibelungen Lied, Widmung, unpag.) und „Erneuung“ (Nibelungen Lied, S. 476) ist eine bewusst gesetzte Geste. Er eignet sie Johannes von Müller zu, der als einer der ersten dem Nibelungenlied eine zentrale Stellung im deutschen Kanon zugewiesen hatte.³⁶ Systematisch nennt Hagen andere Autoritäten des Gebiets.³⁷ Er, der im gleichen Jahr seine Stellung als Jurist im Staatsdienst verlassen hat,³⁸ um sich – zunächst privatim – den altdeutschen
Zuerst: Der Helden Buch. Herausgegeben durch Friedrich Heinrich von der Hagen. Bd. 1 [mehr nicht erschienen]. Berlin 1811. Hagens Beschäftigung mit dem Heldenbuch, die bis in seine Schulzeit zurückreicht, rekonstruieren: Grunewald 1988, S. 123 – 157; Haustein 1989, S. 37– 67 und pass. Vgl. Lieder der älteren oder Sämundischen Edda. Zum erstenmal herausgegeben durch Friedrich Heinrich von der Hagen. Berlin 1812. Hier positioniert sich Hagen wie so oft zu der „Kollision dieser Sammlung mit den Ankündigungen der Gebrüder Grimm“ (S. XI). Vgl. zu seinen Edda-Studien: Grunewald 1988, S. 247– 258; die Konkurrenz zu den Grimms behandeln: Bluhm 1997, S. 324– 328; Gunhild Ginschel: Der junge Jacob Grimm 1805 – 1819. Berlin 21988, S. 47– 49. Vgl. zu diesem Aspekt: Poltermann 1995. So in der teils autobiographischen Vorrede zu Hagens letzter großer Edition: Heldenbuch. Altdeutsche Heldenlieder aus dem Sagenkreise Dietrichs von Bern und der Nibelungen. Meist aus einzigen Handschriften zum erstenmal gedruckt oder hergestellt durch Friedrich Heinrich von der Hagen. 2 Bde. Leipzig 1855, Bd. 1, S. [VII]. Auf die Passage verweist Grunewald 1988, S. 10. Der Nibelungen Lied herausgegeben durch Friedrich Heinrich von der Hagen. Berlin 1807. Nachweise erfolgen im Text unter der Sigle ‚Nibelungen Lied‘. Vgl. Körner 1911, S. 17 f.; Ehrismann 1975, S. 40 – 43. Hagen dankt Jeremias Jakob Oberlin, Johann Christoph von Aretin, Albrecht Georg Walch, Johann Joachim Eschenburg, Christian Gottlob Heyne, Karl Wilhelm Daßdorf, Johann Daniel Wilhelm Otto Uhden, Johann Erich Biester, Friedrich Nicolai, Erduin Julius Koch, Johann Gustav Büsching und Bernhard Joseph Docen; vgl. Nibelungen Lied, Widmung, unpag. Vgl. Grunewald 1988, S. 14.
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
Gegenständen zu widmen, stellt sich in die Mitte eines Verbundes von Gelehrten. Widmung und Dank heischen Akklamation von den Koryphäen des Faches, gleichzeitig reklamiert Hagen seine Zuständigkeit für den kanonischen Text. August Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck etwa hatten in den vergangenen Jahren ebenfalls Pläne zu einer Edition oder Übersetzung verlautbart.³⁹ Der kanonische Charakter des Nibelungenliedes erlaubt es Hagen aber auch, eine Herangehensweise zu entwickeln, die diesem Text spezifisch gerecht werden soll.⁴⁰ Die Widmung und die umfangreiche Abhandlung im Anhang skizzieren das Programm einer auf diesen Text zentrierten Philologie. Sie entfalten das Funktionsmodell, das auch Hagens eigene Rolle definiert. Nationalpolitische und wissenschaftliche Momente gehen darin Hand in Hand.⁴¹ Die Forschung hat dabei oft Hagens Popularisierungsinteresse konstatiert.⁴² Der Nachvollzug des Modells zeigt dabei jedoch, dass er die erhoffte – auch populäre – Wirkung gerade nicht von einem schon definierten ‚streng‘ wissenschaftlichen Ansatz absetzen muss. Für ihn bildet sein Herangehen an den Text 1807 einen adäquaten philologischen Umgang mit dem Nibelungenlied. Die Kritik an seinem Ansatz und die polemischen Klagen gegen seinen logistischen Vorsprung bei der Erforschung der alten Literatur⁴³ tragen erst mit zur ‚Verwissenschaftlichung‘ der altdeutschen Studien bei. Die Widmung beschreibt eine Variante jener Kreisbewegung von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, die für die philologisch-historischen Wissenschaften insgesamt zentral ist. Die Beschäftigung mit der deutschen Geschichte, Sprache und Literatur gelte demnach der Suche nach etwas, was der Gegenwart und ihren „zerreißenden Stürmen“ abgehe (Nibelungen Lied, Widmung, unpag.). Hagen bezieht seine Edition unmittelbar auf die politische Situation: Napoleon, den Rheinbund und den Zerfall des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Es sind inhaltliche Werte des Deutschtums, die das Nibelungenlied in der Gegenwart reaktivieren soll. Dieser auratische Text stelle den deutschen Charakter deutlicher als alle anderen Überlieferungen vor Augen. Aus „Deutschem Leben und Sinne“ erwachsen (ebd.), gestalte sich in ihm das deutsche Streben. Wenn sich über den
Belege ebd., S. 39 und S. 45 – 50. Zu Tiecks Nibelungenstudien vgl. Ehrismann 1975, S. 64; Hölter 1989, S. 45 f. Vgl. Poltermann 1995. Eine umsichtige Deutung, die ich an vielen Punkten stützen kann, bei Grunewald 1988, S. 59 – 64. Vgl. etwa Ehrismann 1975, S. 52 f. Grunewald (1988, S. 59 f.) wendet sich gegen die Annahme einer einfachen Popularisierung. So etwa Wilhelm Grimm in einem Brief an Jakob vom 18. Sept. 1809; zitiert bei Grunewald 1988, S. 15; ähnlich Bluhm 1997, S. 321 f.
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Helden ein „Verhängnis“ zusammenziehe und alles „unaufhaltsam in den Untergang“ reiße, dann offenbarten sie gerade in „diesem Sturze die herrlichsten männlichen Tugenden“ (ebd.). Im Angesicht bevorstehender Vernichtung wachse der Deutsche der Vergangenheit zu seiner vollen moralischen und kämpferischen Größe heran. Das unausweichliche Schicksal der Helden – so deutet Hagen die Handlung des Liedes – bewähre das „Vertrauen auf Vaterland und Volk“, die „Hoffnung auf dereinstige Wiederkehr Deutscher Glorie und Weltherrlichkeit“ (ebd.). Den tatsächlichen Untergang der Helden spart Hagen in seiner Übertragung auf die Gegenwart allerdings aus. Diese Tugenden in der Gegenwart zu erneuern, ist die Aufgabe der Edition. Einen Vorschein auf die zukünftige Wendung des Schicksals sieht Hagen dabei in der philologisch-historischen Tätigkeit selbst. Das Forschen, das „tröstliche Streben“, ist ihm bereits eine „lebendige Urkunde des unvertilgbaren Deutschen Karakters“, ein „Pfand“ für die „Verheißung“ einer anderen, besseren Zukunft (ebd.). Derjenige, der sich diesen Studien widme, wirke auf das hin, was Hagen als „Revoluzion“ bezeichnet (ebd.). Der Gedanke, wie ihn Friedrich Schlegel im Studium-Aufsatz formuliert hatte, scheint auch bei Hagen auf, hier allerdings abgetrennt von der Antike und bezogen auf die eigene Überlieferung: Die philologischhistorische Tätigkeit bildet eine Avantgarde, und das Streben, das sich in ihr kund tut, antizipiert die erfüllte Zukunft, weil es bereits deren „Ausfluß“ (ebd.) ist. Es ist sicher kein Zufall, dass Hagen 1803/04 mit Begeisterung die Berliner Vorlesungen August Wilhelm Schlegels zum Nibelungenlied gehört hat.⁴⁴ Im Nibelungenlied entsprechen sich Gegenstand und erschließende Praxis: Es stellt den deutschen Charakter am reinsten dar, und daher bildet es den adäquaten Gegenstand einer Philologie, deren Praktiken selbst nichts anderes als transformierte heroische Tugenden sind. Hagens lange Abhandlung im Anhang führt diese Gedanken weiter aus. Sie expliziert, wie sich der deutsche Nationalcharakter mit seiner heroischen philologisch-historischen Disposition von dem ‚Geist‘ anderer Völker unterscheide; sie bestimmt die Position, die sich Hagen selbst als Philologe in dem gefährdeten Kontinuum von glorreicher Vergangenheit, defizitärer Gegenwart und zukünftiger Rettung zuschreibt; schließlich legitimiert Hagen hier seine „Verjüngung“ (Nibelungen Lied, Widmung, unpag.) des Heldenliedes als genuin philologische Tätigkeit und setzt sie von einem dichterischen Umgang mit dem Text ab. Am Beginn seiner Abhandlung nimmt Hagen die geschichtsphilosophische Figur der Widmung wieder auf. Die gegenwärtige „Durchdringung und Aneignung alles schon Gebildeten“ befördere die Wendung zu einer „schönere[n] Zeit“ (Ni-
Vgl. Grunewald 1988, S. 13 und S. 38 f.
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
belungen Lied, S. 467) für Deutschland. Die goldene Vergangenheit werde sich in der Zukunft durch „Rückkehr zu sich selbst aktualisieren, durch Stärkung und Verjüngung aus dem inneren, unversieglichen Born ihrer Ursprache und Belebung ihrer uralten und mannichfaltig gebildeten Nazionalpoesien“ (ebd.). „Übersetzung“ und „Kritik“, die in Deutschland zu einer „Kunst“ (ebd.) fortgebildet worden seien, böten die Mittel dazu. Gerade die philologisch-historische Wendung deutet Hagen als Ausfluss des deutschen Nationalcharakters, der ihn von allen anderen Völkern unterscheide. Dieser Vorzug gründet für ihn in einer speziellen Stellung der Deutschen zu ihrer Überlieferung. Mit allen anderen Völkern hätten sie gemein, dass die Blütezeit ihrer Poesie vergangen sei, „todt und vorüber“ (Nibelungen Lied, S. 468). Aber was den anderen Nationen in der Perspektive der Aufklärungskritik zum Vorteil gereichte – dass sie an ihr jeweiliges goldenes Zeitalter anknüpften –, hemmt für Hagen die Fortentwicklung ihrer Kulturen. Die Italiener, Spanier und Portugiesen versuchten wider den Lauf der Zeit ihre alte Poesie und Sprache in der Gegenwart noch zu „fixieren“ und zu „halten“ (ebd.). Sie stemmten sich gegen die historische Entwicklung, verkennten den geschichtlichen Prozess. Am Alten festhaltend, seien sie unfähig, die überkommenen Formen von neuem „wiederzugebären“ (ebd.). Die Franzosen hätten gar durch ihre Akademie ein falsches Siècle d’or postuliert und die einzige bei ihnen jemals wirklich lebendige Tradition verdrängt: die Provencalische. Aber auch England, das ja nicht zuletzt durch Macphersons ‚Ossian‘ oder Percys Reliques auch in Deutschland maßgeblich zur Aufwertung der ‚bardischen‘ und sonstigen ‚eigenen‘ Traditionen beigetragen hatte, fällt für Hagen weit hinter Deutschland zurück. Dort sei die Nationalpoesie, wenngleich sie „herrliche Stücke“ vorzuweisen habe, gar nicht zu einem „Umfang“ (Nibelungen Lied, 470) gediehen, der sich dem der deutschen vergleichen lasse. Hagens Ansatz hat auch hier Schnittmengen mit Friedrich Schlegels Programm. Aber er bewertet die verschiedenen nationalen Traditionen abweichend. Während Schlegel die Moderne als Gesamtprozess versteht, dessen Fäden sich gegenwärtig in Deutschland zusammenzögen, trennt Hagen die nationalen Traditionsverläufe voneinander ab. Zwar stünden sie alle unter dem Signum der Moderne, aber die Nationalcharaktere entwickelten sich nach einer jeweils eigenen Logik. Auch die Antike spielt für ihn als normative Überlieferung keine Rolle. Hier lässt sich beobachten, wie das philologisch-historische Denkmodell Schlegels ohne große Mühe noch stärker national abgeschottet werden kann, als es bereits ist. Seine Pointe gewinnt Hagen aber aus einem Gedanken, den Schlegel ganz analog formuliert hatte und der das philologisch-historische Denken des 19. Jahrhunderts insgesamt grundiert. Die scheinbare Schwäche der Deutschen – dass für sie die Blütezeit der Nationalliteratur „todt und vorüber“ zu sein scheint –
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mache eigentlich ihre Stärke aus. Denn sie müssten sich nun um die „fern scheinenden“ (Nibelungen Lied, S. 474) Werke bemühen, diese – das war Schlegels Begriff – ‚studieren‘. Dass die Deutschen zu ihrer alten Überlieferung „in einem nur gelehrten und literarischen Verhältniße“ stünden, ermögliche es ihnen, den historischen „Abstand“ (Nibelungen Lied, S. 470) zu erkennen. Es kommt auch Hagen darauf an, dass die Distanz gerade durch ihre „Anerkennung und Benutzung“ vermittelt werden könne (vgl. ebd.). Mit „ächt historischem“ und reflektiert „poetischem Geist“ (Nibelungen Lied, S. 471) auf diese Werke zuzugehen – darin liegt für ihn die adäquate Praxis der deutschen Moderne: „Historiker und Philologen“ müssten genauso tätig werden wie eine poetische Praxis, „welche durch schöpferische Aneignung ein solches altes Werk […] in seiner Art nur zu einer höheren Vollkommenheit ausbildet“ (Nibelungen Lied, S. 474). Als Beleg für die bereits begonnene Arbeit stellt Hagen lange Listen von Namen zusammen. Hierher zählt er neben manchem anderen auch die Sammlungen von Sagen, Legenden, Märchen und Liedern: Arnim und Brentano mit dem Wunderhorn, Otmars VolcksSagen,⁴⁵ Musäus, Jung-Stilling und Kosegarten. Vor allem an Arnim und Brentano rügt er jedoch den Mangel an „historische[m] Sinn und Achtung für das Alterthum“ (Nibelungen Lied, S. 473). Tiecks Volksmährchen und Romantische Dichtungen nimmt er auch in die Reihe auf; erstaunlicherweise findet er am Blonden Eckbert, am Ritter Blaubart und am Gestiefelten Kater jedoch nichts zu kritisieren.⁴⁶ Für die dichterische Aneignung dagegen stehen ihm Goethes Faust, Reineke Fuchs, Tiecks Octavian und eine Reihe von neueren Beispielen ein. Hagen unterscheidet die Bemühungen um die alte Überlieferung in philologisch-historische und dichterische. Im gleichen Zug aber nimmt er das Nibelungenlied entschieden von dieser Aufteilung der Kompetenzen nach unterschiedlichen Praktiken aus.⁴⁷ Der Grund liegt in seinem auratischen Status. Dem Dichter sei die Fortbildung dieses Textes verwehrt. Während mindere Dichtungen ihm Gelegenheit gäben, das in ihnen enthaltene, aber nicht vollständig entwickelte Werk zu vervollkommnen, stehe das Nibelungenlied für sich selbst. Dieses „Nazionalwerk“ sei schon ein „Klaßiker“, als Kunstwerk habe es „ein Höchstes“ bereits erreicht (Nibelungen Lied, S. 476).
Volcks-Sagen, nacherzählt von Otmar [d.i. Johann Karl Christoph Nachtigal]. Bremen 1800. Enthalten in: Volksmährchen herausgegeben von Peter Leberecht [d.i. Ludwig Tieck]. 3 Bde. Berlin 1797. Mit geringerer Entschiedenheit zählt er zu diesen Ausnahme-Werken noch die Dichtungen der Minnesinger und das Heldenbuch (Nibelungen Lied, S. 477). Grunewald (1988, S. 62) fasst diesen Unterschied zwischen den wenigen großen Werken und der restlichen Überlieferung nicht deutlich auf.
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
Für Schlegel stand stets die Poesie am Horizont der Zukunft, auch bevor er sich selbst als Dichter verstehen konnte. Die ästhetische Revolution sollte mit einer Erneuerung der modernen Dichtung kommen. Hagen dagegen sistiert diese poetische Progression. Für ihn bringt es die philologisch-historische Signatur der (deutschen) Moderne mit sich, dass die Dichtung der Gegenwart und Zukunft von der Höhe des Nibelungenliedes abgeschnitten scheint. Der zentrale Text der Deutschen wurde schon gedichtet, eine zentrale Stelle des nationalen Kanons ist bereits ausgefüllt.Wer hier anschließen wollte, könnte dies nur auf eine bestimmte Weise, auf die weiter unten noch zurückzukommen ist. Die Aufgabe der Gegenwart läge zunächst darin, diesem Text auf adäquate Weise zu dienen und ihn auf angemessene Art wieder zum Sprechen zu bringen. Aber auch die rein kritische Behandlung würde dem Nibelungenlied nicht gerecht. Hagen fordert zwar nachdrücklich, dass es „nach der Art der alten und neuen Klaßiker“ (Nibelungen Lied, S. 475) kritisch behandelt werde. Aber auch dies könne nicht das höchste Ziel erreichen: das „Nazionalwerk“ wieder in „lebendigen Verkehr“ (Nibelungen Lied, S. 476) zu bringen. Dazu sei eine spezifische Herangehensweise gefragt, die eine „genaue und getreue, jedoch poetisch freie Übertragung“ mit einer Wahrung der „Originalität“ verbinde (ebd.). Die dichterische und die philologisch-historische Praxis wären in ihr vereint, aber auch überboten. Diese dem Gegenstand im höchsten Sinne angemessene Tätigkeit glaubt Hagen, mit seiner Edition geleistet zu haben.⁴⁸ Entsprechend bemüht er sich in seinem Anhang intensiv darum, die Kriterien seiner Praxis darzustellen. Eingebettet ist sein Vorgehen in eine Theorie der Kulturentwicklung und die Bestimmung seiner eigenen Rolle in diesem historischen Prozess. Beide fußen auf Wolfs homerischen Forschungen. Wie Wolf es für die Ilias und die Odyssee gezeigt habe, so könnten auch die Gesänge des Nibelungenliedes „ganz für sich selbst bestehen“ (Nibelungen Lied, S. 481). Bodmers Behandlung von drei Teilen der Dichtung als „Romanzen“ habe sie „unbewußt ihrer ursprünglichen Gestalt wieder genähert“ (Nibelungen Lied, S. 482). Allerdings geht es Hagen nicht darum, die vermeintlichen Einzellieder wieder voneinander zu trennen und so eine ältere und ‚authentischere‘ Stufe sichtbar zu machen. Er interessiert sich vielmehr für die überlieferte ‚Endgestalt‘ des Liedes. Ihr komme Klassizität zu, gerade weil sie im Verlauf der Zeit zu einer Einheit gefügt worden sei. Hagens Kriterium für den Wert der Dichtung ist also nicht das möglichst hohe Alter – wie es vor allem die Grimms ansetzen⁴⁹ –, sondern die ästhetische Voll-
Eigentlich, so Hagen, müsse das Nibelungenlied als höchstes Werk „in vorliegender Bearbeitung sich selber“ bereits „verkündet und beurkundet“ haben (Nibelungen Lied, S. 478). Vgl. Kap. III.2.
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endung. Insofern ergreift er später entschieden Partei gegen Lachmanns ‚Destruktion‘ des Epos, als dieser die einzelnen Gesänge des Epos zu extrahieren versucht.⁵⁰ Anders als die Grimms nimmt Hagen eine kollektive Genese des Epos in der Zeit an und vertritt dennoch die Auffassung, dass ein letzter, starker Autor ihm seine vollendete Gestalt verliehen habe. Das Nationalwerk habe sich in ‚aufsteigender Linie‘ entwickelt – und nicht etwa als progressiver Abfall von eigentlich wertvollen Ursprüngen. Daher kann sich Hagen nun selbst in das Entstehungsmodell einer epischen Dichtung einschreiben, wie es Wolf rekonstruiert hat. Entscheidend für die Rolle, die Hagen für sich entwirft, ist, dass er gerade nicht die distanzierte philologisch-historische Perspektive übernimmt, aus der Wolf die Textgeschichte bis in den Abgrund des nicht mehr zu Rekonstruierenden verfolgt. Er ergreift vielmehr die von Wolf angedeutete Möglichkeit, sich als Gelehrter des noch lebendigen Deutschen in die Entwicklungsgeschichte der eigenen Sprache und Kultur hineinzustellen. Hagen wird in einem noch fortlaufenden Kulturprozess zum „Diaskeuasten“ (Nibelungen Lied, S. 488, Anm. 59), der den poetischen und den philologisch-historischen Zugang verbindet.⁵¹ Denn bei einer solchen „Erneuung“, wie sie dem klassischen Text allein angemessen sei, gelte es, den Lauf der Zeit nachzuholen, dem das Werk in den Jahrhunderten nach seiner Vollendung entzogen war. Der Erneuerer setze „auf künstliche Weise gleichsam nur die stätige Fortbildung“ (Nibelungen Lied, S. 477) ins Werk, die die lebendige Überlieferung selbst geleistet hätte, wenn sie nicht, wie bei den Deutschen, unterbrochen worden wäre. Er simuliert die natürliche Arbeit der Generationen an dem Gedicht, holt die Anpassungen an die jeweilige Zeit nach, die sich unter idealen Bedingungen der Überlieferung im Geschichtsprozess selbst ergeben hätten. Er führt vor Augen, wie das klassische Werk „überliefert sein würde[]“ (ebd.), wenn es als solches erkannt und behandelt worden wäre. Durch den modernen Diaskeuasten wird der Zeitraum, der zwischen den Handschriften und der Gegenwart liegt, „übersprungen“ (ebd.). Der Erneuerer, der sowohl den Dichter als auch den kritischen Philologen übertrifft, personifiziert gleichsam das
Vgl. Grunewald 1988, S. 119 – 121. Hagens Rolle als aktiver Teilhaber im Kulturprozess beschreibt auch Grunewald (1988, S. 61). Allerdings übersieht er die Bedeutung Wolfs und die Richtung, in die Hagens Selbstbezeichnung als „Diaskeuast“ weist. Nach Grunewald stellt sich Hagen den „spätmittelalterlichen Kopisten und frühen Buchdruckern“ an die Seite. Allerdings sind für Hagen gerade diese „Ab- und Umschreiber und nachher noch mehr […] die Drucker“ Schuld an der Verschlechterung des Textes (Nibelungen Lied, S. 477); sie hätten bewirkt, dass er sich im realen historischen Prozess „endlich ganz aufgelöst“ habe. Das Selbstverständnis als Diaskeuast hebt dagegen heraus: Poltermann 1995, S. 250 – 255.
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ideale Volk in der Geschichte, da er die Gefahren der Überlieferung – Verschlechterungen durch Abschriften etc. – ausblendet. Die ‚ratio‘ von Hagens „Erneuung“ ist dabei keine bloße dichterische Fähigkeit. Denn die adäquate Sprachbehandlung hängt vom philologisch-historischen Wissen ab. Sie setzt voraus, die Entwicklung des Deutschen und den Verlauf des Überlieferungsprozesses genau zu kennen, also sprachgeschichtliches Studium und eine kritische Rezension der vorhandenen Handschriften. In seinem Anhang bemüht sich Hagen, diese philologischen Voraussetzungen als erfüllt darzustellen. Der umfangreiche grammatische Kommentar zur ‚altdeutschen’ Sprache und das Glossar legen gewissermaßen die philologisch-historischen Stützpfeiler seiner Arbeit frei.⁵² Hagen berichtet etwa von dem gründlichen Handschriftenvergleich, den er unternommen habe.⁵³ Vor allem aber entfaltet er seine Kenntnis der Sprachgeschichte. Der Diaskeuast des Nationalwerks müsse vertraut sein mit der „Luthersche[n] Sprache“, dem „Altschwäbischen“, der „Volkssprache“, mit den Liedern, Märchen und Volksbüchern (alles Nibelungen Lied, S. 499), der „Oberdeutsche[n] Mundart“, dem Niederdeutschen, dem „Kurial- und Kanzleistyl“ (Nibelungen Lied, S. 500) und mit noch so manchem anderen. Dies alles gelte es bei der „Erneuung“ (ebd.) zu berücksichtigen, um die Formen des Originals historisch adäquat zu verändern. Hagen beschreibt im Folgenden minutiös seine Entscheidungsprozesse, indem er die mittelhochdeutsche Originalsprache in unterschiedliche Elemente zerlegt, die vom „Ton“ (ebd.), den Vokalen und Konsonanten, über die Wortarten, die Flexion bis hin zur Grammatik des Satzes reichen. Die Kriterien, die seine Balance zwischen Konservierung der „Alterthümlichkeit“ (ebd.) des Originals und Neuerung regeln, beschreibt er konsequenterweise als solche, die im Text und in der Sprachgeschichte selbst zu finden seien. Was verändert und belassen werden müsse, könne sich nur „durch sich selbst, oder doch in Beziehung auf das Ganze“ (ebd.) ausweisen. Der hermeneutische Zirkelschluss, bei dem die Erkenntnis des Details und des Ganzen zusammenwirken, soll die organische Textveränderung im Geiste des Geschichtsprozesses garantieren. Seine ‚organische Philologie‘ habe, wie Hagen nicht eben bescheiden meint, eine „neue, freie, lebendige und kräftige Sprache“ geschaffen. In ihr träfen „beide Zeiten“ – Mittelalter und Gegenwart – „überraschend zusammen[…]“; „absichtlich in Wechselwirkung gesetzt“, müssten sie „sich gegenseitig fortwährend anregen und zuvoreilen, bewähren und übertreffen.“ (Nibelungen Lied, S. 491) Die neue
Grunewald (1988, S. 50 – 53) stellt Hagens Verfahren der Übertragung im Detail dar. Freilich hat Hagen genau dies nicht geleistet, selbst am Kenntnisstand der Zeit gemessen; die Handschriftenlage beschreibt: ebd., S. 48 f.
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Sprache wird gleichsam selbst zum Entwicklungsraum einer erneuerten deutschen Identität. Hagen stellt seine philologisch-historisch fundierte Spracherfindung in dieser Hinsicht gleichwertig neben die Produkte der „größten Autoren“; denn dass sie sich in ständiger Anregung befinde, darin liege „der wahre progreßive Begriff einer lebenden Sprache“ (ebd.).⁵⁴ Wenn Hagen angibt, der Text sei nur durch die Veränderung in seiner „alte[n] ächte[n] Gestalt […] wieder herzustellen“ (Nibelungen Lied, S. 490), wird deutlich, dass er selbst seine Praxis nicht als bloße Popularisierung versteht. Denn die Herstellung einer ‚echten‘ Gestalt wäre schließlich auch das Ziel einer kunstgerechten philologischen Kritik – aber diese allein würde dem Nibelungenlied nicht gerecht. Der Diaskeuast jedoch kann sich dem Kern des Textes nähern, er bekommt dessen ‚Geist‘, seine „innerste Organisazion“ (Nibelungen Lied, S. 524) zu greifen und aktualisiert diese in einer der Gegenwart angemessenen „Gestalt“. Denn nur indem sich die Gestalt gemäß dem jeweiligen „Geist der Zeit“ (Nibelungen Lied, S. 493, Anm. 67) wandelt, kann sie das ‚Eigentliche‘ des Werkes adäquat repräsentieren. Als Diaskeuast also legt Hagen das Werk wieder vor, das wie kein anderes den deutschen Nationalcharakter repräsentiere. Entsprechend gibt er an, nach seiner Tat wieder in die Anonymität eingehen zu wollen, die sich, in Wolfs Modell, für eine ‚rechte‘ Epengenese schicke: „Das Werk gehört der Nazion […] nicht einem Einzelnen an; und ich will gern dahinter verschwinden: denn nur der Ruhm des Vaterlandes ist mein Ziel.“ (Nibelungen Lied, S. 496) Wie dies freilich unter den Bedingungen des Buchdrucks und der strategischen Notwendigkeit, sich in den philologisch-historischen Studien ‚einen Namen machen‘ zu müssen, möglich sein soll – diese Erklärung bleibt Hagen schuldig.
3 Kampf um den modernen Nationaldichter: Hagen, Karl Ernst Schubarth – und Goethe Der Dienst des Diaskeuasten mit seiner behaupteten Anonymität ist die einzige Haltung, die der auratische Text des Nibelungenliedes erlaubt. Wolfs HomerTheorie ermöglicht es dem philologisch-historischen Wissenschaftler, seine ei-
Die Entwicklung der Sprache vollziehe sich durch eine doppelte Bewegung. Einerseits konsolidierten sich einzelne Mundarten zu überwiegenden, herrschenden Schriftsprachen, andererseits würden diese durch Dichter, Philosophen und Übersetzer wieder aufgebrochen. Lessing, Goethe, Bürger, Voß, Tieck und auch Fichte hätten die Sprache durch Rückgriff auf alte Formen wieder lebendig gemacht. Dies sei, in Bezug auf die Sprache, die eigentliche Tat des Genies (Nibelungen Lied, S. 493).
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gene Tätigkeit in den Entwicklungsprozess zu integrieren, an dessen Ende das große Werk steht. Er nimmt nicht nur an der Deutung des nationalen Epos teil, sondern ist auch für seine Produktion unerlässlich. Neben dieser Dichtung treten alle anderen Werke in den Schatten; auch für die modernen Dichter sind dieses Monument und seine Größe unantastbar. Hier weitermachen zu wollen, würde bedeuten, sich zu einer „Ilias post Homerum“ (Nibelungen Lied, S. 478) zu versteigen. Der Diaskeuast ist der Mann der Stunde. Aber dennoch räumt Hagen ein, dass ein großer Dichter sich wohl nach seiner Weise in den Dienst des ‚Nibelungischen‘ stellen könnte. Eine „würdige Umgestaltung“ (ebd.) des großen Werks im poetischen Sinne vollzöge sich auf ähnliche Weise wie seine Diaskeuase. Auch der Dichter müsste sich in den organischen Entwicklungsgang einer Kultur nach ihrem epischen Zeitalter einreihen. Es gälte, aus der unmöglich gewordenen Gattung des Epos herauszutreten und, analog zum zeitgenössichen Verständnis der griechischen Tragiker, „uns die große Geschichte in einer Reihe von Tragödien vor Augen“ (Nibelungen Lied, S. 479) zu stellen. So könnte dann ein echtes „nazionales Drama“ (ebd.) entstehen: durch Transformation des Nibelungenliedes in eine geschichtsphilosophisch ‚spätere‘ Gattung,⁵⁵ aber auch durch fortgesetzten Dienst am ‚Nibelungischen‘ des deutschen Charakters. Das Drama wäre ohne Zweifel ein weiterer Schritt auf Hagens ‚Revolution‘ zu. Eine solche Dichtung freilich bliebe einem Dichter vorbehalten, der selbst die mythische Größe eines Heros hätte: „Der Bogen liegt da; spanne ihn, wer mag“ (ebd.) – so schreibt Hagen. Wer aber könnte die Rolle eines deutschen Odysseus übernehmen, der, nach langer Abwesenheit, den fremden Freiern seine Pfeile zu schmecken gibt und das Vaterland zu sich selbst bringt? Hagen hat hier bestimmte Autoren im Blick.⁵⁶ In seiner „Erneuung“ nennt er „vielleicht“ Tieck.⁵⁷ Vor allem aber versucht er, Goethe für die Sache zu gewinnen. Dies zeigt das Anschreiben, das er am 9. Oktober 1807 zusammen mit seiner „Erneuung“ an ihn schickt. Ihm empfiehlt er das „Nationalepos“ genauso wie seine ‚Verjüngung‘, die das Werk „in der That auf seine ursprüngliche Gestalt und Form zurückgeführt“ habe. Und er trägt dem „größte[n] Deutsche[n] Meister“ an, diese „‚größeste Geschicht’, die je zur Welte geschach‘, in einer Reihe von Tra-
Poltermann (1995, S. 256) verweist hier auf August Wilhelm Schlegels Berliner Vorlesungen, ebenso Ehrismann 1975, S. 65. So auch Grunewald 1988, S. 63; Ehrismann 1975, S. 84. Nibelungen Lied, S. 488, Anm. 60: „Vielleicht ist es auch Tieck, der ächt- und Altdeutsche Dichter, durch den uns die Hoffnung auf eine ächt deutsche Tragödie in Erfüllung geht.“ Vgl. Grunewald 1988, S. 63.
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gödien“ dazustellen.⁵⁸ Ihm hatte Hagen die Rolle zugedacht, durch eine Transformation der Gattung in die Nachfolge des Nibelungendichters zu treten und der „Sophokles des altdeutschen Homers“⁵⁹ zu werden. Goethes Antwort fällt dementsprechend vorsichtig aus. Er würdigt Hagens Leistung, die „Betrachtung“ des Liedes „um so viel bequemer“ gemacht zu haben.⁶⁰ Der Anhang schaffe Aufschluss, nun aber erwarte er noch die versprochene „Einleitung“,⁶¹ damit sie das Nibelungenlied weiter erläutere. Im Moment sei er noch nicht sicher, „wohin ich es der Form und dem Gehalt nach einrangiren soll“. Das zentrale Anliegen Hagens lässt Goethe in der Schwebe, wenn er lediglich einräumt, dass die „Frage allerdings bedeutend [sei], ob aus dieser so reichen epischen Dichtung sich Stoff zur Tragödie heraus heben lasse.“⁶² Goethe beschäftigt sich in den folgenden Monaten tatsächlich mit dem Gedicht. Hagens „Erneuung“ zugrundelegend, improvisiert er in einer Vortragsreihe vor der Weimarer ‚Mittwochsgesellschaft‘ eine Übersetzung des Epos.⁶³ Goethe dichtet nichts Neues, sondern nimmt gewissermaßen die Rolle des Rhapsoden ein, über die er schon vorher, im Zuge seiner ersten Beschäftigung mit Wolf, reflektiert hatte.⁶⁴ Begleitend erläutert er seinen Zuhörern den immer noch dunklen Text. Offenbar bereitete er seine Vorträge gründlich vor, fertigte ein Personenverzeichnis an, notierte Beobachtungen über „Lokalität und Geschichtliches, Sitten und Leidenschaften, Harmonie und Inkongruitäten“.⁶⁵ Schließlich zeichnete er zwei Karten, um sich räumlich in der Handlung zu orientieren.⁶⁶ Ergebnis der durchaus intensiven Studien ist jedoch, dass Goethe die Homerischen Epen und das Nibelungenlied einander entgegensetzt:Von der Humanität der Griechen finde sich in
Brief Hagens an Goethe, 9. Okt. 1807; gedr. in: Max Hecker: Aus der Frühzeit der Germanistik. Die Briefe Johann Gustav Büschings und Friedrich Heinrich von der Hagens an Goethe. In: GoetheJahrbuch 1929 (= Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 15), S. 100 – 179, alle Zitate S. 108. Hagen zitiert hier die Verse 3480 f. aus der Nibelungenklage. Zum Verhältnis Goethes zu Hagen vgl. Hartmut Fröschle: Goethes Verhältnis zur Romantik. Würzburg 2002, S. 458 – 468. Brief Hagens an Goethe, 9. Okt. 1807; in: Hecker 1929, S. 108. Brief Goethes an Hagen, 18. Okt. 1807; WA IV.19, S. 437. Ebd. Hagen hat sie in seinem Brief vom 9. Okt. 1807 in Aussicht gestellt; in: Hecker 1929, S. 108. Brief Goethes an Hagen, 18. Okt. 1807; WA IV.19, alle Zitate S. 438. Vgl. Gunter E. Grimm: Goethe und das Nibelungenlied (2006), S. 2. Zugänglich unter: Germanistik im Netz. URL: http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/volltexte/2008/111323/ [Sichtung am 9. Nov. 2011]. Vgl. Goethe und Schiller in: Über epische und dramatische Dichtung (entst. 1797); Goethe, Werke, Münchner Ausgabe, Bd. 4.2, S. 126 – 128. Siehe auch den Briefwechsel der beiden aus dem April und Mai 1797; ebd., Bd. 8.1, S. 330 – 347. So in den Tag- und Jahres-Heften 1807; Goethe,Werke, Münchner Ausgabe, Bd. 14, S. 199; auch bei Grimm 2006, S. 5 f. Die Karten sind erhalten, vgl. den Abdruck ebd., S. 11 f.
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dem erhabenen ‚heidnischen‘⁶⁷ Epos keine Spur. Während sich dort die Menschenwelt in derjenigen der Götter spiegle, herrsche hier ein „eherner Himmel. […] Es ist bloß der Mensch auf sich gestellt“.⁶⁸ Einige Jahre später, im Diwan, rät er, die Nibelungen genauso wenig wie Firdausi an Homer heranzurücken: „So höchst erfreulich sie sind, wenn man sich in ihren Kreis recht einbürgert und alles vertraulich und dankbar aufnimmt, so wunderlich erscheinen sie, wenn man sie nach einem Maßstabe mißt, den man niemals bey ihnen anschlagen sollte.“⁶⁹ Goethe fühlte sich wohl zur Beschäftigung mit dem Nibelungenlied angeregt – vereinnahmen ließ er sich nicht. Hagens Antrag an ihn, im Anhang zur „Erneuung“ expliziert, beinhaltete freilich eine Zumutung. Dieser versucht, als Philologe auf den zeitgenössischen Dichter auszugreifen, der ihm als einziger fähig scheint, neben den Vollender des Nibelungenliedes zu treten. Die Bitte, sich des Stoffes anzunehmen, hätte es freilich mit sich gebracht, Hagens Kanonvorstellung zu bestätigen: Eine wahrhaft große Dichtung, auch von einem exzeptionellen Meister, würde nur zustande kommen, wenn dieser sich ebenso wie der Philologe in den Dienst des paradigmatischen, nationalen Stoffs stellte. Goethe mochte daran manches auszusetzen haben. Neben dem ‚Heidnischen‘ des Stoffes, das ihm im Gegensatz zu den antiken Überlieferungen zu stehen schien, mag ihm die nationale Perspektive Hagens unpassend erschienen sein – ganz abgesehen von der Zumutung, sich in seinen Dichtungen nicht bloß anregen, sondern geradezu anleiten zu lassen. Pointiert formuliert, versuchte der Philologe Hagen, die Poesie der Zukunft zu gestalten, indem er dem modernen, großen Dichter den einzigen Weg wies, auf dem er ein wahrer ‚Nationaldichter‘ werden könnte. Dieser verschmähte es jedoch, seine ‚Aufgabe‘ zu ergreifen. Hagen rückte zwar in den Jahren nach 1807 von seiner Selbststilisierung als Diaskeuast ab.⁷⁰ Sein Anspruch an Goethe blieb aber
So bezeichnet er die Nibelungen, und zwar dezidiert im Gegensatz zu Homer; vgl. den Gesprächsbericht Riemers vom 16. Nov. 1808 und den Brief Henriette von Knebels an ihren Bruder Carl Ludwig vom 19. Nov. 1808; beide bei Grimm 2006, S. 8 f. Goethe im Gespräch zu Friedrich Wilhelm Riemer, 16. Nov. 1808; abgedruckt bei Grimm 2006, S. 8. Westöstlicher Diwan. Noten und Abhandlungen; in: Goethe, Werke, Münchner Ausgabe, Bd. 11.1.2, S. 189; abgedr. bei Grimm 2006, S. 26. 1810 publiziert er eine kritische Ausgabe des Nibelungenliedes. In ihr stuft er nun seine frühere „Erneuung“ zu einer „Uebersetzung“ herunter (Der Nibelungen Lied in der Ursprache mit den Lesarten der verschiedenen Handschriften hrsg. durch D. Friedrich Heinrich von der Hagen. Zu Vorlesungen. Berlin 1810, S. VII). 1824, als die zweite Auflage der „Erneuung“ erscheint, unterscheidet Hagen dann deutlich verschiedene Zielgruppen für seine unterschiedlichen Aktivitäten. Die „Erneuung“ wird den Nicht-Gelehrten zugedacht, sie sei „vornähmlich“ für „die Frauen und die Künstler.“ Als Funktion gibt er die „Vermittlung für den größten Theil der Leser“ an (Der
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bestehen. Entsprechend erscheint in seinen folgenden Schriften, soweit sie Goethe berühren, eine Ambivalenz. Einerseits ist dieser für ihn nach wie vor der größte lebende Dichter. Andererseits aber setzt er ihn zum Nibelungenlied und dessen Vollender in einen Gegensatz, der Goethe nicht zum Vorteil gereicht. Hagen spielt seinen Kanon des Alten gegen den neuen Dichter aus, der sich in diese nationale Traditionslinie nicht einreihen will. Deutlich wird dies beispielsweise in einer Debatte, die Hagen mit einem Bewunderer Goethes führt: Karl Ernst Schubarth (1796 – 1861). Sie streift eine Reihe von Fragen: etwa wie die altdeutsche Dichtung zur Antike und zu der der Gegenwart gewichtet werden könne, worin dichterische Größe bestehe, schließlich die, welche Stellung eine Deutung zur Poesie selbst einnehme, also nach dem Verhältnis vom philologisch-historischen Wissenschaftler zum Dichter. Hagen eröffnet diesen Streit nicht, sondern er reagiert. Seine einschlägige Monographie von 1819 verdeutlicht dabei schon im Titel ihre Position: Die Nibelungen: ihre Bedeutung für die Gegenwart und für immer – hier geht es offenkundig um Prinzipielles. Das üblicherweise der Widmung vorbehaltene Blatt nach dem Titel bezeichnet den Kontrahenten: „Gegen Herrn Karl Ernst Schubarth“.⁷¹ Schubarth gehört in die Frühgeschichte der Goethe-Philologie; seine Arbeiten werden in der Forschung meist knapp übergangen,⁷² sind aber äußerst lesenswert. Sie versuchen, einen Deutungsmodus für die moderne Dichtung zu finden, der erstens ästhetisch fundiert ist und aus der Form und Entwicklung der Werke selbst hervorgeht und zweitens auch der Modernität dieser Dichtung, also ihrer Eigenständigkeit im Verlauf der Tradition, gerecht werden kann. Goethe selbst förderte das literaturgeschichtliche Streben Schubarths, das ihm als dessen Gegenstand durchaus adäquat erschien.⁷³ Er begrüßt es, dass sich Schubarth an ihm, Goethe,
Nibelungen Lied. Erneuet und erklärt duch Friedr. Heinr. von der Hagen. Frankfurt am Main 1824, S. VII). Hier nun kann legitimerweise von einer Popularisierung die Rede sein. Hagens Begriffe differenzieren sich progressiv, sie reagieren auf den Verwissenschaftlichungsdruck, der unter anderem von seinen Konkurrenten, den Grimms und Lachmann, ausgeht. Die Nibelungen: ihre Bedeutung für die Gegenwart und für immer.Von Friedrich Heinrich von der Hagen, ordentl. Prof. an der Universität zu Breslau. „Es ist die größeste Geschicht’, / die zur Welte je geschach.“ Breslau 1819. Nachweise daraus erscheinen direkt im Text unter der Sigle ‚Bedeutung‘; hier S. [3]. Ausnahmen: Wolfgang Baumgart: Karl Ernst Schubarth. Aus der Frühzeit schlesischer Goetheverehrung. In: Goethe-Jahrbuch 1940 (= Goethe. Viermonatsschrift der Goethe-Gesellschaft 5), S. 198 – 217; Alexander Rudolf Hohlfeld: Karl Ernst Schubarth und die Anfänge der Fausterklärung. In: Internationale Forschungen zur deutschen Literaturgeschichte. FS Julius Petersen. Leipzig 1938, S. 101– 126. Vgl. den Brief Goethes an Johann Heinrich Meyer vom 25. Sept. 1820: „Schubarth ist bey mir, ein sehr merkwürdiger Mensch, von dem wir uns noch mannichfaltig werden zu unterhalten
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selbst zu einem beispielhaften Individuum zu bilden begonnen habe.⁷⁴ Zeitweise erwog er sogar, ihm die Bearbeitung der geplanten großen Werkausgabe in die Hand zu geben.⁷⁵ Der junge Mann wird für eine Zeit lang Teil von Goethes eigener ‚Werkpolitik‘, mit der er seine Schriften für eine deutungswillige und deutende Öffentlichkeit aufbereitete.⁷⁶ 1796 geboren, hatte Schubarth von 1815 bis 1817 in Breslau studiert, pikanterweise bei Büsching und bei Hagen selbst.⁷⁷ 1818 ging er nach Leipzig, wo er sich in die juristische Fakultät einschrieb, unter anderem aber auch bei Gottfried Hermann hörte.⁷⁸ Hier wurde er 1822 zum Doktor der Philosophie promoviert; von 1830 an lehrte er am Gymnasium in Hirschberg,⁷⁹ seit 1831 auf einer „planmäßigen Stelle für Geschichte und deutsche Literatur“.⁸⁰ In seinem letzten Breslauer Studienjahr trat Schubarth mit einer Monographie zu Goethe hervor.⁸¹ Daraufhin ermöglichte ihm Goethe die Publikation einer Arhaben, denn er hält auf eine wunderbare Weise fest an dem, was wir auch für recht und gut achten.“ WA IV.33, S. 256. Vgl. auch die Empfehlung an Christoph Ludwig Friedrich Schultz vom 26. Juli 1820: „Zum Schluß darf ich wohl einen jungen Breslauer, Carl Ernst Schubarth, Ihrer Aufmerksamkeit empfehlen! Es ist zwar, als wenn ich mich selbst empföhle, dieß aber selbst wäre ja nicht einmal zu tadeln. Er ist durch die Thüre, an der ich gerade Pförtner bin, in meines Vaters Haus gekommen und beträgt sich darin ganz gut; wie sollt ich ihm abhold seyn!“ WA IV.33, S. 130. So etwa im Brief an Schubarth vom 8. Juli 1818: „Es ist ganz einerley, in welchem Kreise wir unsere Kultur beginnen, es ist ganz gleichgültig, von wo aus wir unsere Bildung in’s fernere Leben richten, wenn es nur ein Kreis, wenn es nur ein Wo ist. Verharren Sie bey’m Studium meines Nachlasses: dieß rathe ich, nicht weil er von mir ist, sondern weil Sie darin einen Complex besitzen von Gefühlen, Gedanken, Erfahrungen und Resultaten, die auf einander hinweisen, wie Sie schon selbst so freundlich und einsichtig dargestellt haben.“ WA IV.29, S. 228. Dies dokumentiert Baumgart 1940, S. 207. Vgl. Martus 2007; zu Schubarth S. 447 f. Vgl. seine autobiographischen Aufzeichnungen: Karl Ernst Schubarth: Persönliches in biographischen Notizen. In: ders.: Gesammelte Schriften philosophischen, ästhetischen, historischen, biographischen Inhalts. Hirschberg 1835, S. 235 – 267, hier S. 249: Er habe „die altdeutschen Studien, in jener Zeit durch von der Hagen und Büsching auf der Breslauer Universität in ihrer Blüthe, insofern sie die historische Aufklärung über ältere Zustände beabsichtigten, mit Antheil betrieben“. Er hörte außerdem philosophische, philologische, historische und literaturhistorische (bei Wachler), kirchenhistorische und juristische Vorlesungen. Vgl. ebd., S. 257 f. Hermann Hettner war dort sein Schüler; vgl. den Artikel zu Schubarth von Daniel Jacoby. In: ADB 32 (1891), S. 606 – 612, hier S. 609. Hettner hat dann den Briefwechsel Schubarths und Goethes herausgegeben: Hermann Hettner: Briefe Goethes an K. E. Schubarth: Deutsche Rundschau 5 (1875), S. 23 – 40; ergänzt durch Robert Hering: Über Goethe und Karl Ernst Schubarth. In: GoetheJahrbuch 1935 (= Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 21), S. 282– 303. Vgl. Baumgart 1940, S. 210. Karl Ernst Schubarth: Zur Beurtheilung Goethes. Breslau 1818. Nachweise erscheinen direkt im Text unter der Sigle ‚Goethe‘.
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tikelserie im Journal für Literatur, Kunst, Luxus und Moden. Bei seinem Mentor beginnend, griff Schubarth darin in die Weltliteratur aus, zu Shakespeare, Aristophanes, Hans Sachs, Schiller und schließlich zum Nibelungenlied. ⁸² Hagens Ärger bezog sich auf diese beiden Arbeiten.⁸³ Er mag teilweise persönlich motiviert gewesen sein. Sein Student hatte sich gegen ihn gewendet und wurde dabei auch noch durch den Dichter unterstützt, den Hagen seinerseits durch Briefwechsel und Besuche⁸⁴ recht beharrlich für die altdeutsche Sache zu gewinnen trachtete. Vor allem aber provozierten ihn Schubarths literaturgeschichtliche Positionen. Dieser will Goethe weder klassizistisch aus der Dichtung und Kultur der Alten begreifen, noch möchte er bloß dem Stoff und seinen „Details“ (Goethe, S. 12) nachgehen. Als Zielpunkt seiner Interpretation schwebt ihm vor, einen „Standpunkt“ (ebd.) zu gewinnen, von dem aus sich die Grundrichtung des Gesamtwerks und damit auch die Dichterpersönlichkeit erschlössen. Dass Goethe im Zentrum einer solchen Betrachtung stehen müsse, begründet er mit dessen herausragender Stellung: Da er nicht nur ein individuelles „Leben lebt“ (Goethe, S. 46 f.), sondern mit seinem Dasein an „das Leben der ganzen vorhandnen Welt“ reiche, komme in ihm die „Menschheit, als Menschheit“ (ebd.) zur Darstellung. Die Werke werden für Schubarth zum progressiven Ausdruck eines beispielhaften Bildungsprozesses. Diesen deutet er vom Werther, der an seinem Willen, in der Natur aufzugehen, scheitere, bis zum Wilhelm Meister und den Wahlverwandtschaften. Hier gestalteten sich nun ein rechtes Verhältnis von Mensch und Natur und damit die Ideen der Bildung und der Beschränkung. Goethe wird zum paradigmatischen Dichter und Menschen. Aber Schubarth ist kein Klassizist. Freilich habe sich in der griechischen Antike zuerst die ‚Menschlichkeit‘ entfaltet. Aber er versteht sie nicht als normatives Ideal für die Modernen. Denn die Plastizität und Konzentration („concentrirt“) der antiken Kunst, einerseits Ausdruck der alten Humanität, seien andererseits, aus gegenwärtiger Sicht, beschränkt und klein (vgl. Goethe, S. 43). Der Moderne blieben sie daher inkommensurabel. So bewundernswert die Antike sei – aus ihr könne der moderne Mensch keinen Maßstab für sich selbst gewinnen.
Karl Ernst Schubarth: Mancherlei in der Folge von Aufsätzen über Göthe, Shakespeare, Aristophanes, Hans Sachs, Schiller, Lessing, u.s.w. In: Journal für Literatur, Kunst, Luxus und Moden 19 (1819), S. 3 – 25, S. 69 – 92, S. 133 – 156, S. 205 – 214; im Folgenden direkt im Text nachgewiesen unter der Sigle ‚Mancherlei‘. Nach Hagens Gegenschrift legte Schubarth noch einmal nach: ders.: Nibelungen. In: ebd, S. 655 – 670. Vgl. Bedeutung, S. 8. Die Debatte von Schubarth und Hagen stellt dar: Körner 1911, S. 206 – 209. Zuletzt war Hagen gemeinsam mit Friedrich von Raumer am 14. August 1817 in Weimar gewesen. Vgl. Goethes Tagebuch, WA III.6, S. 94.
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Auch Goethe setze daher nicht einfach die Antike fort; vielmehr sei er „entschieden modern“ (ebd.). An ihm zeige sich, dass das Schicksal der Moderne allein in der Bildung zur freien Tätigkeit liege. Der Mensch erhebe sich zur Menschlichkeit, indem er sich das, was ihm die Natur anbiete, durch Tat und Kunst gestalte und es so aneigne.⁸⁵ Insofern erklärt Schubarth auch ein Verständnis Goethes aus den Gattungen und Formen der Antike heraus für verfehlt. Auch von Goethes Selbsteinschätzung setzt sich Schubarth ab.⁸⁶ Der gegenwärtige Mensch müsse sich durch die Verarbeitung des Vergangenen, Überlieferten selbst bestimmen; seine Aufgabe finde er im „Abentheuer moderner Bildung“,⁸⁷ nicht aber in der Vergangenheit selbst. Auch hier werden Elemente der Gedankenfigur deutlich, die Friedrich Schlegel als ‚Studium‘ bezeichnet hatte, allerdings anders gewendet.⁸⁸ Entsprechend kritisiert Schubarth auch die altdeutschen Studien, die er insbesondere an Hagen und Büsching kennengelernt hatte. Sie verfielen ebenfalls dem Fehler, den modernen Menschen aus einem Vergangenen heraus bestimmen zu wollen. Jede Philologie, die ein bewundertes Altertum normativ auf die Gegenwart beziehe, glaube, dass alles, was es in der Zukunft erst zu leisten gelte, schon getan und durch die Betrachtung der alten Werke ans Licht gehoben sei. Schubarths Gesichtspunkt einer unbedingten Modernität, die sich durch schöpferische Tätigkeit bewusst ergreift, gefährdet die Studien Hagens. Denn der höchste Gegenstand für die Deutung wäre demnach allein der große moderne Dichter. Nur in ihm drücke sich die zeitgemäße „Natur“ aus; nur in seinem Werk finde „fast alles, was der ganzen Zeit angehöre, sich beisammen“ (Goethe, S. 41).
Die Natur werde „der höchste Anlaß […], durch das unendliche Material, das sie liefert, daß die geistige schaffende Kraft des Menschen zu all ihrer möglichen Wirksamkeit gelange. Und so gewinnt der Mensch, was die Natur verliert. Ihm wendet sich dasjenige zu, was an dem Bestreben einer unmittelbaren Naturanschauung sich mindert, bei welcher der Mensch ohnedieß in dem Sinne, dem glühendsten Leben der Natur ganz nahe gerückt zu sein, seine Menschlichkeit nur völlig lassen, und in Natur selbst sich verwandeln müßte.“ (Goethe, S. 16 f.). Auch ihn zählt Schubarth in der zweiten Auflage seiner Arbeit zu den „Verehrern der Alten“. Er selbst teile aber nicht deren Meinung, dass „in der Welt für eine hohe, vollendete Bildung der Menschheit nichts ähnlich Günstiges sich hervorgethan habe, wie bey den Griechen […], während wir Neuern auf den zweckmäßigen Gebrauch einzelner Kräfte, oder doch nur höchstens auf die Verbindung mehrere Fähigkeiten beschränkt sind.“ Schubarth: Zur Beurtheilung Goethe’s mit Beziehung auf verwandte Litteratur und Kunst. 2 Bde. Breslau 1820, Bd. 1, S. 296 f. So die spätere Formulierung: Schubarth, Persönliches, S. 254. Die Reflexion der Vergangenheit wird bei Schubarth zu einem Bildungselement neben anderen, und die alte Überlieferung verliert ihren Status als Ausdruck eines zu transformierenden und zu reflektierenden Ideals; entsprechend äußerst er in seiner Autobiographie auch Skepsis gegen die „historische und kritische Richtung“, zu der er neben Wolf und Fichte auch Schlegel zählt; vgl. ders., Persönliches, S. 246.
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Wenn man „Göthe verstehe“, lerne man „so ziemlich die ganze Zeit zu verstehen […], zur Einsicht über die Höhe der ganzen Zeit zu gelangen.“ (ebd.) Schubarth ergreift Partei für die Auslegung des Zeitgenossen; eine Philologie des Vergangenen ordnet er ihr entschieden unter.⁸⁹ Das Altertum, das antike wie das deutsche, ist aus geschichtsphilosophischen Gründen der Gegenwart nachgeordnet. Aber Schubarth wertet die altdeutsche Überlieferung darüber hinaus noch inhaltlich gegenüber der antiken ab. Auf der Grundlage seiner Reflexionen zu Goethe skizziert er in Bertuchs Journal seine Deutung des Nibelungenliedes. Ähnlich wie bei Goethe will er sich nicht auf dessen „Stoff“, „Inhalt“ und Entstehung konzentrieren, sondern „Sinn“, „Gehalt und Behandlung“ des Epos in den Blick nehmen (Mancherlei, S. 206). Wie Hagen setzt er einen individuellen Dichter als Produzenten des Werkes an; aber indem er die Entstehungsgeschichte ausblendet, agiert er als reiner Unitarier. Es geht ihm um den „Gehalt“ des Werkes selbst, darum, wie es „concipirt und gestaltet“ sei (Mancherlei, S. 209). Der Stoff des Nibelungendichters erscheint Schubarth dabei allerdings denkbar ungünstig. Homer habe eine erblühte, in klarer Abgeschlossenheit strebend bemühte Kultur in seine Dichtung konzentriert; so habe er einen „Gipfel des Lebens“ erreicht, wie er der Antike möglich gewesen sei (Mancherlei, S. 207). Im Nibelungenlied dagegen zeige sich die „Anarchie“ (ebd.) der Völkerwanderung und damit die Verwirrung und Unrast, der Mord und Totschlag, die ein solcher Zustand mit sich bringe. Diese historische Situation hebe der Dichter durch seine Gestaltung zwar ins Menschliche, indem er im zweiten Teil – Kriemhilds Rache – die „milde[n]“, menschlichen Charaktere Rüdiger, Dietrich und Etzel einfüge (Mancherlei, S. 210). Damit lege der Dichter in die germanische Welt eine Perspektive der Humanität, ja, er versuche sein Zeitalter mittels seiner Dichtung selbst zu humanisieren. Durch den Untergang der Nibelungen am Ende aber verurteile er letztlich seine Zeit. Er zeige, dass sie „im Ganzen genommen auf einem hohlen, unmenschlichen, unnatürlichen Grunde“ (ebd.) ruhe. Die Dichtung zeugt für Schubarth durch ihren Gehalt von der „Unhaltbarkeit dieses Germanischen We-
In seiner Autobiographie formuliert Schubarth prinzipiell: Er habe schon in seiner Studienzeit das „Herüberziehen“ von Altem „in die Gegenwart nicht gut geheißen, weil keiner Zeit ihr Charakter von außen her verliehen werden kann und die schlechteste Gegenwart in ihrer eigenen angestammten Weise unendliche Vorzüge vor jenen akademischen Zeitaltern hat, da man in ein fremdes Vortreffliche sich zurück versetzt und hineinträumt, wie es die Alexandriner bei den Alten und die neuern Italiener des 14ten, 15ten und 16ten Jahrhunderts, als übertriebene Verehrer des Classischen sattsam beweisen und selbst unsere antikisirenden Alterthumsforscher.“ Schubarth, Persönliches, S. 249 f.
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sens“ (Mancherlei, S. 212), und gerade dies sei die Intention der dichterischen, für das Menschliche offenen Gestaltung. Hagen musste sich provoziert fühlen: von der uneingeschränkten Kanonisierung des Modernen auf Kosten der Altertümer, von der inhaltlichen Abwertung des Nibelungenliedes zu einem Verdikt über das ‚germanische Wesen‘, schließlich von der Marginalisierung seiner Philologie, die durch die Behandlung des Alten zur Zukunft beitragen will. Seine nervöse Parade erscheint nur wenige Monate nach Schubarths Artikelserie. Dessen Charakterisierung der Griechen und der Germanen kehrt Hagen kurzerhand um, indem er eine zentrale Argumentationsfigur der Querelle um 1700 aufgreift. Er spielt nun die christliche Offenbarung gegen die Griechen und ihre zeitgenössische neuhumanistische Deutung aus. Die Schriften der Alten bewiesen „Kälte, Härte, Lieb- und Gemüthlosigkeit, Gottesund Menschen-Verachtung und Verhöhnung, gräuelvollste Ausschweifung, Hochmuth und Anmaßung“ (Bedeutung, S. 10). Ihre Menschlichkeit und Heiterkeit seien bloß scheinbar, hinter ihnen lägen „das dunkele Grauen und die tiefe Trauer, mit welcher selbst ihre herrlichsten Götterbilder uns anblicken.“ (ebd.) Unter der heiteren Oberfläche lauerten „alte grauen- und gräuelvolle Mysterien“ (Bedeutung, S. 19).⁹⁰ Schubarths Argument von den sich selbst zerstörenden Germanen gegen die Griechen wendend, konstatiert Hagen das „Selbstzerstörende“ (ebd.) der schrecklichen antiken Kultur. Sie sei ja auch tatsächlich untergegangen. Zwar stamme die germanische Kultur von denselben, aus dem Ursprung der Menschheit hervorgegangenen Mythen ab wie die Griechen; aber jene habe die christliche Offenbarung dankbar aufgenommen und in ihre Geschichten integriert. Das Nibelungenlied sei das höchste Zeugnis dieser Symbiose. Sein Dichter habe Volksüberlieferung der vorzeitlichen Mythen mit der unmittelbaren Gegenwart seiner christlichen Ritterzeit verbunden und so alles ins „Menschliche, Herzliche, Wahre, Wahrscheinliche und Geschichtliche seiner Zeit“ verwandelt (Bedeutung, S. 176). Hagen vollführt in seiner Abhandlung das Kunststück, das Nibelungenlied sagengeschichtlich auf einer vorderasiatischen Uroffenbarung aufruhen zu lassen und es gleichzeitig einem individuellen Dichter zuzuschreiben. Dessen „tiefe[s] und unergründliche[s] Gemüth“ (Bedeutung, S. 175 f.) bewahre den Mythos und vermenschliche ihn zugleich. Er greife bis in die Ursprünge seines Volkes zurück und spiegle doch die zeitgenössische Realität wider. Gerade aufgrund dieses Brückenschlags zwischen Vergangenheit und Gegenwart sei er gleichzeitig Individuum und überindividuelle „Stimme seines ganzen Volkes und Zeitalters“
So deutet Hagen etwa die Titanen im Tartaros: „furchtbare Kräfte werden von den Olympiern in der Tiefe gefangen gehalten“ (Bedeutung, S. 19).
1 Von der Hagens philologische Rollenfiktionen
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(Bedeutung, S. 180). Der Dichter transformiere und aktualisiere damit in einer vom Individuum geschaffenen Form die kulturelle Tradition des Mythos. Er bewahre und erneuere; darin liege seine Größe. In dieser Verbindung von völkischer Vergangenheit und Gegenwart findet sich die Grundfigur von Hagens Philologie wieder. Sie wollte er durch seine „Erneuung“ des Nibelungenliedes selbst leisten; und sie hatte er von dem klassischen Gegenwartsdichter Goethe eingefordert. Dass Goethe nicht in dieser Weise zum Erneuerer der altdeutschen Vergangenheit werden wollte, gereicht ihm nun zum Tadel. Der Nibelungendichter erlangte „Objektivität“ (ebd.), indem er die Geschichte seines Volkes mit der Gestalt seiner Gegenwart verband. Goethe – für Schubarth die Inkarnation der Moderne – habe genau dies verfehlt. Zwar verdeutliche er als modellhafte Persönlichkeit das Streben des Menschen. Seien Schriften zeigten „die Höhe dieser Persönlichkeit, deren Versuche die höchsten, immer wiederkehrenden Aufgaben des Menschen selber darstellen“ (Bedeutung, S. 6). Aber was Schubarth als erfüllte Bestimmung des modernen Menschen ansieht, bleibt für Hagen mit einem Makel behaftet. Denn die Schriften Goethes seien „nur praktisch und lehrreich“, sie kämen nicht hinaus über „mehr oder minder unverblümte Bekenntnisse: alles bezieht sich auf seine Persönlichkeit.“ (Ebd.) Hagen meint damit nicht zuletzt die von 1811 an erschienenen autobiographischen Schriften Goethes. Und es kann nicht verwundern, dass er nun vor allem dessen „Schauspiele“ (ebd.) kritisiert – hätte doch im Nibelungendrama seine eigentliche Aufgabe gelegen. Die Objektivität eines Nationaldichters erreiche Goethe daher nicht. Seine „Schöpfungskraft“ (ebd.) – und damit sein Potential zur objektiven Gestaltung – verbleibe im Subjektiven. Ihr Gegenstand sei die eigene Persönlichkeit, nicht der Geist der Nation. Aber, so räumt Hagen auch hier noch ein: „Noch ist dieses unablässige Bilden nicht vollendet.“ (Bedeutung, S. 6 f.) Immer noch hält Hagen seinen Wunsch offen, dass sich Goethe der nationalen Aufgabe annehmen möge. Aber dieser wird sich freilich bis zu seinem Tod nicht zum Medium der Hagenschen Literaturgeschichte machen lassen. Das Druckmittel des Philologen – die Anerkennung der letzten Größe solange zu verweigern, bis der Dichter seinem Programm folgt – versagt.
4 Philologisches Nachspiel Erst nach Goethes Tod wende sich die Situation wieder. Hagen gab von 1836 bis 1853 im Namen der Berlinischen Gesellschaft für Deutsche Sprache und Altertumskunde die Zeitschrift Germania heraus. Die erste Nummer enthält bezeich-
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nenderweise einen Beitrag mit dem Titel Goethe und die Nibelungen. ⁹¹ Der kurze Text rekapituliert Goethes Beschäftigung mit dem Epos, die Hagen nicht ohne Stolz auf die Übersendung seiner ersten „Erneuung“ zurückführt. Aus den Tagund Jahresheften ⁹² bringt er manches Material bei, bedauert etwa, dass Goethes rhapsodierende, mündliche Übersetzung von 1808 der Gegenwart nicht erhalten geblieben sei. In „Mund“ und „Geist“ des „urverwandten Dichters“ müsse das Lied „die höchste poetische und volkmäßige Lebendigkeit gewonnen“ haben.⁹³ Dass Goethe Schubarth brieflich in dessen Einschätzung der Nibelungen beigestimmt hatte, wusste Hagen wohl nicht.⁹⁴ Gewissermaßen emblematisch erinnert sich die kleine Abhandlung der glücklichen Konstellation: Der große Gegenwartsdichter, das Nationalwerk und sein Philologe stehen hier beisammen. Aber gleichzeitig muss sie einräumen, dass diese Chance ungenutzt verging. Der große Dichter ist tot – wer soll nun den Bogen spannen? Hagen nimmt diese Frage nicht mehr auf. Stattdessen publizierte er in den folgenden Jahrgängen der Germania nicht weniger als zehn eigene Beiträge zu dem jüngst Verstorbenen: Studien zur Genese einzelner Werke wie der Iphigenie, zu Quellen Goethes oder zur Biographie, frühere Werkfassungen und Dokumente. Andere Autoren liefern weitere Beiträge, so etwa Ernst Ferdinand Yxem zu Hermann und Dorothea. ⁹⁵ Nur der Stoffkreis der Nibelungen bekommt in der Germania noch größere Aufmerksamkeit. An die Nibelungen mag Goethe nicht heranreichen. Aber der tote Dichter kann nun trotz seiner Verweigerung in den Kanon der nationalen Literatur einrücken.
Hagen: Nibelungen. Goethe und die Nibelungen, die Nibelungen-Handschrift der Königlichen Bibliothek in Berlin und Kaiser Maximilians Urkunde über die Wiener Handschrift. (Vorgetragen am 28sten August 1835). In: Germania 1 (1836), S. 248 – 275. Erstdruck 1830 als Bde. 31 und 32 der Ausgabe letzter Hand. Hagen, Goethe und die Nibelungen, S. 249 „Was Sie über die Nibelungen sagen trifft mit meiner Vorstellung völlig überein, und Ihnen bleibt das Verdienst, das was ich mir im Allgemeinen dachte bis in’s Einzelne verfolgt zu haben.“ Brief Goethes an Schubarth, 13. Nov. 1819; WA IV.32, S. 95. Ernst Ferdinand Yxem: Ueber Goethe’s idyllisches Epos Hermann und Dorothea (gelesen am 28. August 1835). In: Germania 2 (1837), S. 98 – 137.
2 Naturpoesie, moderne Dichtung, Philologie – Die Grimms
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2 ‚Die moderne Kunst kann niemals absolut vollkommen sein‘ – Naturpoesie, moderne Dichtung und philologische Autorschaft bei den Grimms Aus der Konkurrenz mit Hagen sind die Grimms für die Nachwelt als Sieger hervorgegangen.⁹⁶ Auch sie haben in diesem Kampf harte Bandagen angelegt und entschieden die Marginalisierung der ‚Dilettanten‘ und ‚Liebhaber‘ betrieben, zu denen sie auch Hagen zählten.⁹⁷ Die Grimms lieferten dabei unermüdlich Editionen und Darstellungen zu zentralen Problemen der philologisch-historischen Wissenschaften. Herausgehoben seien hier Jacobs bahnbrechende Deutsche Grammatik und Wilhelms Sammlung zur Deutschen Heldensage. ⁹⁸ Jacobs Deutsche Rechtsalterthümer und die Deutsche Mythologie sind weitere Monumente einer mikrologischen Akribie,⁹⁹ die sich entschieden der ‚Andacht zum Unbedeutenden‘ hingibt,¹⁰⁰ um in musivischer Kleinarbeit auf ein Bild des Ganzen hinzuarbeiten. Ähnliches ließe sich zum Deutschen Wörterbuch der beiden Grimms sagen: Der Versuch, die Wörter der deutschen Schriftsprache in ihren historischen Bedeutungen und Entwicklungen zu dokumentieren, ist ohne Frage verwegen. Aber gerade, dass man diesem Projekt und seiner Ausführung die Verwegenheit nicht ansieht, macht die bleibende Faszinationskraft dieses und der anderen Unternehmen aus. Der internationale Ruhm, den sich die Brüder Grimm durch die Kinder- und Hausmärchen erworben haben, hebt sie schließlich für die Nachwelt vollends aus dem Gros ihrer Philologen-Kollegen heraus. Sicher ist die Vermutung nicht abwegig, dass der Name der Grimms weltweit gegenwärtig bekannter ist als derjenige Goethes. Die Grimms schreiten mit ihrer Praxis ein Forschungsfeld aus, dessen immense Ausdehnung an ihren Dokumentationen und Sammlungen deutlich wird. Sie selbst treiben in der ‚Germanistik‘ die mikrologische Sammlung und Verknüpfung von Details fort, die dazu führt, dass, wie Welcker und Boeckh für die
Dieses Kapitel ist eine grundlegend umgearbeitete und erweiterte Fassung meines Beitrags zur Konferenz Das Potential Europäischer Philologien (2007): Verf.: Philologische und dichterische Autorschaft. Epos, Lied, Märchen bei den Brüdern Grimm. In: Das Potential europäischer Philologien. Geschichte, Leistung, Funktion. Hrsg. von Christoph König. Göttingen 2009, S. 240 – 254. Vgl. die schon zitierte Studie von Bluhm 1997. Der erste Band der Deutschen Grammatik erschien in erster Auflage 1819 in Göttingen, er wurde durch die zweite, vollständig umgearbeitete Ausgabe in vier Teilen von 1822 bis 1837 ersetzt. Wilhelms Deutsche Heldensage erschien 1829 in Göttingen. Jacob Grimm: Deutsche Rechtsalterthümer. Göttingen 1828; ders.: Deutsche Mythologie. Göttingen 11835; 2 Bde. 21844. Zu der Formulierung vgl. Ulrich Wyss: Die wilde Philologie. Jacob Grimm und der Historismus. München 1979, S. 14; Martus 2009, S. 196.
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Klassische Philologie sagen,¹⁰¹ nur noch die Wissenschaft als Ganze für die Synthese ihrer Daten einstehen kann, nicht mehr aber der einzelne Forscher. Die Grimms erweitern entschieden das Feld ihres Faches – gleichzeitig aber halten sie es noch zusammen. Ohne Zweifel trug auch dies zu ihrer schon früh einsetzenden Heroisierung bei. Sie schienen noch zu bewältigen, was Einzelne eigentlich gar nicht mehr überblicken zu können schienen. Es kann hier allerdings nicht darum gehen, diesen Gründungsmythos der Germanistik zu vertiefen. Ulrich Wyss hat gründlich rekonstruiert, wie sich die Heroisierung der Grimms im Fach vollzog¹⁰² – um dann einen ganz anderen Jacob Grimm zu präsentieren, den ‚wilden Philologen‘, der die überbordende Fülle an Details genauso liebe wie den nie erkennbaren Ursprung der Dinge; und der daher in seiner Praxis weniger Ordnungen aufstelle als sie vielmehr subvertiere. Wie auch immer man zu Wyss’ faszinierender Deutung Jacobs steht – die Grimms, und vor allem der ältere Bruder, pointieren die geschichtsphilosophische Situation der Gegenwart anders als Schlegel und anders als Hagen.¹⁰³ Sie bringen damit eine weitere Facette des Spannungsverhältnisses von Dichtung und philologisch-historischen Wissenschaften zum Vorschein. Hagens Konzeption der nationalen Geschichte erscheint durchlässig. Die Gegenwart ist von ihrer Vergangenheit nicht konstitutiv abgeschlossen. Sie vermag an die Überlieferungen anzuschließen und deren eigentlichen Sinn für sich zu reaktivieren. Der Philologe kann dies leisten, weil seine Tätigkeit selbst Anteil hat an den heroischen Tugenden, von denen die epische Überlieferung berichtet; und der große Gegenwartsdichter wäre ebenfalls zu ihrer Erneuerung imstande – wenn er sich nur in den Dienst der kanonischen Überlieferung stellen wollte, um sie in die geschichtsphilosophisch angemessene Gattung der Tragödie zu transformieren. Dass Hagen bei Goethe die Individualität des modernen Autors gegen die Forderung nach Objektivität ausspielt, gründet in dessen Verweigerung, nicht in der Annahme einer grundsätzlichen historischen Differenz zwischen alter und neuer Dichtung. Hagens Konzeption ruhte auf dem Wolfschen Modell der Epenentstehung. Aber aus ihm können auch andere Konsequenzen gezogen werden. Es birgt die Möglichkeit einer so entschiedenen Auratisierung der Ursprünge, dass die Gegenwart zu ihnen in eine unüberbrückbare Distanz rückt. Weiter oben (Kap. I.3.5.) ist dieser Gedanke an Herder skizziert worden. Die frühen Kulturen und ‚Kulturstufen‘ mit ihrer Mündlichkeit, Natürlichkeit und Ursprungsnähe verhielten sich Vgl. Kap. I.2.4., Anm. 221. vgl. Wyss 1979, S. 1– 45. So auch Wyss: Der Schlaf der Geschichte. Über Jacob Grimms Hermeneutik. In: Die Grimms, die Germanistik und die Gegenwart. Hrsg. von Volker Mertens. Wien 1988, S. 49 – 63, hier S. 51.
2 Naturpoesie, moderne Dichtung, Philologie – Die Grimms
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dann zur gegenwärtigen, gebildeten Schriftkultur fundamental gegensätzlich. Diese Option entwickeln die Grimms. Die Begriffe von Naturpoesie und Kunstpoesie, wie sie sie formulieren, setzen einen harten historischen Bruch zwischen die Frühzeit der Völker und die Moderne.¹⁰⁴ Dies zeitigt andere Folgen für das Verhältnis von Dichtung und philologisch-historischen Wissenschaften als bei Hagen oder Schlegel; und sie wären weitreichend. Denn ob sich diese Differenz durch Studium und philologisch-historische Wissenschaften auf der Ebene der Reflexion wieder einholen ließe, wäre sehr fraglich.¹⁰⁵ Wie sollte darüber hinaus unter Bedingungen der Moderne überhaupt eine Dichtung entstehen können, die über das Subjektive, Individuelle hinausreichte? Und würden dann nicht erst recht die philologisch-historischen Wissenschaften zu den eigentlichen Trägern der modernen Kultur? Die Grimms unterscheiden sich freilich auch dadurch von Schlegel und anderen zeitgenössischen Protagonisten, dass sie sich mit expliziter geschichtsphilosophischer Reflexion zurückhalten. Dies gilt genauso für grundsätzliche methodische Reflexionen. Eine Explikation der hermeneutisch-kritischen Bewegung sucht man bei ihnen vergeblich. Ihre Intention richtet sich auf das Individuelle der Texte. Sie stehen damit gleichsam in einem Trend, der sich im Laufe des Jahrhunderts und der Entwicklung der philologisch-historischen Wissenschaften – insbesondere der Germanistik – verstärken wird. In Kap. I. war verschiedentlich auf den Befund eines Mangels an methodischen und theoretischen Grundlegungen verwiesen worden. Oft genug zieht sich die Wissenschaft auf Begriffe wie den ‚Takt‘ zurück, ein zur inkommensurablen Fähigkeit geronnenes Erfahrungswissen, das gegen Dilettanten ausgespielt, aber kaum weiter begründet wird. An August Boeckh¹⁰⁶ war deutlich geworden, wie der ‚Takt‘ analog zur dichterischen Begabung gefasst werden kann: einerseits als ars, als explizierbares Methodenund Sachwissen, zweitens aber als unverfügbares, angeborenes ingenium. Dem Wissenschaftler verleiht der Begriff eine eigene Aura, die seinen Zugriff gegen andere absetzt, gerade weil sich die ‚ratio‘ seiner Erkenntnis nicht vollständig operationalisieren lässt. Für die Herausgabe der Märchen, so Wilhelm Grimm etwa 1837, sei „ein Takt nötig, der sich erst mit der Zeit erwirbt, um das Einfachere, Reinere, und doch in sich Vollkommnere, von dem Verfälschten zu unterschei-
Vgl. Buschmeier 2008, S. 198 – 203, auch mit Bezug auf Herder; Klausnitzer 2001, S. 528. So für die Grimms auch Martus 2009, S. 114 f.; Lothar Bluhm (1997, S. 109) spricht etwas abweichend von einer „Kulturreform, […] getragen von der Idee einer sich selbst organisierenden Volksbildung“. Vgl. Kap. I.3.2., S. 102 f.
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
den“.¹⁰⁷ Dies bedeutet freilich nicht, dass sich die Praxis der Grimms nicht doch auf bestimmte Grundannahmen zurückführen ließe. Es gilt also, die philologisch-historische Praxis der Grimms auf ihre Konsequenzen hin zu befragen, insbesondere diejenigen, die ihr Spannungsverhältnis zur zeitgenössischen Dichtung betreffen. Der Akzent soll dabei vor allem auf den jungen Grimms liegen, d. h. auf den 1810er Jahren, der Zeit vor der sogenannten grammatischen Wende Jacobs.¹⁰⁸ Beide Brüder entwickeln hier analoge Konzeptionen von Natur- und Kunstpoesie, in denen die Begriffe mit vergleichbarer Radikalität einander gegenüberstehen. Jacob wendet diese Theorie dann grundsätzlich gegen den Dichter Arnim, während Wilhelm eher vermittelnd zu wirken versucht. Potentiell aber ließen sich beider Konzeptionen in gleicher Weise gegen die Gegenwartsliteratur ausspielen. Das Kapitel versucht daher, zu rekonstruieren, was für einen Begriff von dichterischer Autorschaft die Grimms entwickeln, wie sie ihn gegen die moderne Dichtung in Stellung bringen und welche Funktion dagegen der philologischhistorischen Autorschaft zugesprochen wird. Zuerst sollen dabei das Kulturmodell und der Dichtungsbegriff der Grimms skizziert werden. Die Grundlage bildet ein früher Aufsatz Wilhelms zur ‚altdeutschen‘ Dichtung. In einem zweiten Schritt wird das Spanungsverhältnis zur Dichtung vermessen, wie es in der Debatte zwischen Jacob und Arnim sichtbar wird. Drittens werden die philologischen Praktiken der Grimms selbst beispielhaft untersucht: Ihre konkrete Arbeit erscheint nicht als (philologisch-historisches) Supplement zur Dichtung in der Gegenwart, sondern vielmehr als Ersatz für sie in einer konstitutiv dürftigen Zeit.
1 Epische Autopoiesis Theoretische Überlegungen haben im Werk der Grimms einen geringen Stellenwert. Dennoch durchzieht die Frage nach den Bedingungen literarischer Autorschaft von Beginn an ihre Arbeit. Sie formiert ihr Bild von der alten Überlieferung, also dem Gegenstand, dem sie sich widmen; und nach ihr richten sie die Deutungsstrategien und Praktiken aus, mit denen sie die alten Texte erfassen und ordnen, befragen und zum Sprechen bringen. Die Frage nach dem, „der es ge-
[Wilhelm Grimm:] Vorrede. In: Kinder- und Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm. Dritte, vermehrte und verbesserte Auflage. 2 Bde. Göttingen 1837. Für die KHM 3 lege ich zugrunde: dass. Vollständige Ausgabe auf der Grundlage der dritten Auflage (1837). Hrsg. von Heinz Rölleke. Frankfurt am Main 1985, hier S. 18. Vgl. dazu Ginschel (1988, S. 375 – 384), die die ‚Wendung‘ Jacobs auf das „spachwissenschaftliche[] und mythologische[] Gebiet“ einschränkt.
2 Naturpoesie, moderne Dichtung, Philologie – Die Grimms
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macht hat“,¹⁰⁹ nach den Urhebern und Trägern der alten Dichtungen, prägt ihre Heuristik und Hermeneutik, so wenig beide auch theoretisch expliziert werden. Die bekannte Wendung aus Jacobs Abhandlung Ueber die Nibelungen von 1815 zeigt jedoch schon an, dass zwischen moderner Autorschaft und der alten Dichtung ein konstitutiver Unterschied bestehe. Denn die Aufforderung, „findet den, der es gemacht hat!“, ist ironisch. Sie weiß von der Unmöglichkeit, den Verfasser des Nibelungenliedes zu finden oder die Urheber der „an sich eben so epischen vielen und trefflichen Volkslieder“.¹¹⁰ Wolf hatte an den Homerischen Epen auf diesen Befund verwiesen. Und dieser scheinbare Defekt der Überlieferung, die die Namen der Urheber nicht der Nachwelt übermittelt hat, war auch in den Prolegomena weder zufällig noch nebensächlich. Vielmehr verwies er auf konstitutive Unterschiede von frühen zu gebildeten, literalen Kulturen, durch die das Dichten und seine Funktionen in schriftlosen Gesellschaften erst verständlich würden. Die Grimms setzen hier an. Sie formulieren die Kulturtheorie aus, die sich aus diesen Differenzen ergeben kann, und sie radikalisieren sie. Märchen, Sagen, Lieder und das Epos sind die literarischen Formen, um die sie sich in dieser und in anderen Hinsichten konzentriert bemühen. Diese sind für die Grimms vielfach untereinander verbunden.¹¹¹ Sie reichten in die Urzeit des Menschengeschlechtes hinein, in eine Periode der Ursprungsnähe,¹¹² in der sich die Gesellschaften noch nicht differenziert hätten, sondern die Völker in sich einheitlich und homogen gewesen seien. Für die ‚noch kindlichen‘ Menschen erfüllten die verschiedenen Formen jeweils fundamentale Funktionen.
Jacob Grimm: Ueber die Nibelungen. In: Altdeutsche Wälder 2 (1815), S. 145 – 180, hier S. 153. Ebd. Beispielsweise spricht die Vorrede der Kinder- und Hausmärchen in der ersten Auflage vom „epischen Grund“ der Volksdichtung und dem neuen Licht, das die Märchen auf die „uralte Heldendichtung“ würfen; Kinder- und Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm. Bde. [1] und 2. Berlin 1812 und 1815, hier Bd. 2, S. VI. Die KHM1 zitiere ich nach dem Faksimile des Handexemplars der Grimms: Kinder- und Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm. Vergrößerter Nachdruck der zweibändigen Erstausgabe von 1812 und 1815 nach dem Handexemplar des Brüder Grimm-Museums Kassel mit sämtlichen handschriftlichen Korrekturen und Nachträgen der Brüder Grimm sowie einem Ergänzungsheft: Transkriptionen und Kommentare in Verbindung mit Ulrike Marquardt [hrsg.] von Heinz Rölleke. 3 Bde. Göttingen 1986. Etwa Jacob Grimm: „Die alten Menschen sind größer, reiner heiliger gewesen, als wir, es hat in ihnen und über sie noch der Schein des göttlichen Ausgangs geleuchtet“; Brief Jacob (und Wilhelm) Grimms an Achim von Arnim, 20. Mai 1811. Der Briefwechsel wird zitiert nach: Roland Reuß: „Lieder[…], die nicht seyn sind“. Der Briefwechsel zwischen Jacob Grimm,Wilhelm Grimm, Achim v. Arnim und Friedrich Carl v. Savigny aus dem Jahre 1811 und das Problem der Edition. Einführung und Faksimile-Edition mit diplomatischer Umschrift. In: Text. Kritische Beiträge 7 (2002), S. 1– 227, hier S. 59.
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
Die Märchen sind, nach der Vorrede zu den KHM1, unmittelbarer Ausdruck lebensweltlicher Phänomene, die sich in der Phantasie mythisch darstellen. Furcht vor dem dunklen Wald oder vor Tieren, Hungersnöte, die insgesamt belebte Natur – alles dies manifestiert sich in der einfachen und zugleich verzauberten Welt der Märchen. Wenn hier „Pflanzen, Steine reden und […] ihr Mitgefühl auszudrücken“ wissen, wenn „das Blut selber ruft und spricht“, dann drückt die Phantasie in unmittelbarer Anschauung und zugleich unnachahmlicher Anschaulichkeit die organische Einheit alles Lebendigen aus.¹¹³ Die Poesie der märchenschaffenden und märchenglaubenden Phantasie hat durch die innere Notwendigkeit ihrer Entstehung selbst Teil an dieser organischen Einheit. Die Märchen überliefern Momente des mythischen Denkens der ‚urtümlichen’ Gemeinschaften. Sie sind dabei „poetischer“, die Sage dagegen „historischer“.¹¹⁴ Während jene „den reinen Gedanken einer kindlichen Weltbetrachtung […] fassen“ und ihn ohne Ortsbezug ausdrücken, binden sich die Sagen an bestimmte Namen, Orte und Sitten, die sie gleichzeitig überliefern.¹¹⁵ Sie verweben diese dabei nicht minder in phantastische Deutungen. Auch sie sind Produkte jener urtümlichen Welterfassung noch kindlicher Menschen. Während die Märchen eher die geschichtslose Alltäglichkeit fassen und die Sagen einzelne bedeutsame Namen überliefern, werden in Heldenliedern die die Gemeinschaft bewegenden, gewissermaßen ‚historischen‘ Vorfälle besungen. Sie entstehen gleichfalls aus jener unmittelbar mythischen Anschauung, die sich mit dem Geschichtlichen verwebt; auch hier werden die mythische Anschauung und Überlieferung zum Medium, in dem sich die geschichtliche Tat deutet und zur Darstellung kommt. Aus diesen Gesängen bildet sich nach und nach durch Anreicherung und Zusammenwachsen verschiedener Lieder das Epos heraus.¹¹⁶ In solche urtümlichen, homogenen Gemeinschaften führen die Grimms den Ursprung jeder Poesie zurück. Die frühe Dichtung ist dabei gerade nicht nur
KHM1, Bd. 1, S. X (Vorrede). Vgl. dazu etwa Ginschel 1988, S. 111– 122. Brüder Grimm: Vorrede. In: Deutsche Sagen herausgegeben von den Brüdern Grimm. 2 Bde. Berlin 1816 und 1818. Zitiert nach: dass. Ausgabe auf der Grundlage der ersten Auflage. Hrsg. von Heinz Rölleke. Frankfurt am Main 1994, S. 11. Ebd. Vgl. etwa Wilhelm Grimm: Ueber die Entstehung der altdeutschen Poesie und ihr Verhältnis zu der nordischen. In: Studien. Hrsg.von Carl Daub und Friedrich Creutzer. Bd. 4. Heidelberg 1808, S. 75 – 121 und S. 216 – 288. Auch gedruckt in: ders.: Kleinere Schriften. Hrsg. von Gustav Hinrichs. 4 Bde. Gütersloh 1881– 1887, Bd. 1, S. 92– 170. Zitate werden im Folgenden nach dieser Ausgabe direkt im Text nachgewiesen: ‚Entstehung‘ mit Seite, hier S. 100: „Die ursprüngliche Form der Nibelungen, wie überhaupt einer jeden Nationalpoesie, war das kurze Lied, oder mit einem uneigentlichen Ausdruck die Romanze.“
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Dichtung, sondern gleichzeitig Religion, d. h. Mythos, und Geschichte; sie hat daher eine zentrale, identitätskonstitutive und -bewahrende Funktion. Die Grimms stehen mit dieser Auffassung nicht allein. Auf Heynes und Herders Rolle für die Entwicklung dieses weitverbreiteten Gedankens wurde schon verwiesen.¹¹⁷ In seinen Grundzügen teilen ihn auch Wolf, Schlegel, Hagen und viele andere Zeitgenossen. Die Grimms erheben aber radikaler als sie die Moderne zum Gegenbild dieser ‚poetischen‘ Gemeinschaft. Denn während die frühe Poesie an allem Lebendigen unmittelbar organisch teilhabe, könne spätere Dichtung diesen Bezug nur noch distanziert auszusprechen streben, „in Gleichnissen“.¹¹⁸ Der organische Zusammenhang der Gemeinschaft ist in der Gegenwart zerbrochen.Verantwortlich dafür seien vor allem Schrift, Gelehrsamkeit, Bildung und ‚gelehrter‘ Kulturtransfer aus anderen Völkern¹¹⁹. Diese Faktoren führten zu einer Differenzierung innerhalb der Gemeinschaft. Das Volk spalte sich auf in unterschiedliche, nicht mehr verbundene und kommunizierende Klassen. Es entstehe die moderne Individualität, die auf sich und ihre eigene Ausbildung achte, nicht mehr aber auf die Gemeinschaft. Durch ihre eruditen Kulturtechniken ziehe sie Tradition und Überlieferung an sich und marginalisiere das Volk. Überlieferung werde nicht mehr im Gedächtnis, sondern in der Schrift bewahrt. Dichtung verliere das Leben, das sie in der konstanten mündlichen Tradition besitze. Lediglich Märchen, Sagen und Volkslieder blieben im Volk, sie entgingen der Verschriftlichung der Kultur, zu dem Preis, dass sie von den Gebildeten verachtet würden, während das Volk wiederum die schöne Literatur der Gelehrten nicht zur Kenntnis nehmen könne und wolle. Dies ist die Kulturentwicklungstheorie, wie sie die Grimms weitgehend übereinstimmend in ihren frühen Jahren, aber auch noch später vertreten. Mit ihr sind zentrale Gemeinsamkeiten der drei Dichtungsformen benannt: Sie stammen aus einem Volk vor aller Differenzierung und vor der Herausbildung selbstbe-
Vgl. Kap. I.3.5. KHM1, Bd. 1, S. XI (Vorrede). Vgl. etwa Wilhelm Grimm, Entstehung, S. 108: „Überhaupt nichts ist misslicher, als wenn die Cultur einer Nation nicht in ihrer eignen Natur gegründet, sondern durch eine fremde gewaltsam fortgetrieben wird: es entsteht dann eine Spaltung zwischen den Einzelnen, die auf einen höheren Punkt durch fremde Hülfe sich gearbeitet, und zwischen der Totalität der Nation, welche auszufüllen jene sich umsonst bemühen, die vielmehr immer grösser wird, da das Fortschreiten des Einzelnen ungleich leichter ist.“ Ausführlicher zur „ausländerei“ etwa in Jacobs Vorrede zum Deutschen Wörterbuch von 1854, Sp. XXVIII: „Man darf überhaupt nicht vergessen, dasz es keineswegs die mitte des volks ist, die das fremde in unsere sprache heran schwemmte,vielmehr dasz es ihr zugeführt wurde durch die dem ausländischen brauch huldigenden fürstenhöfe, durch den steifen und undeutschen stil der behörden, kanzleien und gerichte, so wie durch das bestreben aller wissenschaften ihre kunstausdrücke den fremden zu bequemen“.
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
wusster Gelehrsamkeit; sie werden mündlich überliefert und erst im Übergang zu einer differenzierten, gelehrten Kultur fixiert. Auch hier sind die Argumente der Grimms in ihren Grundzügen weder neu, noch gehören sie ihnen alleine zu. Wo es aber beispielsweise Schlegel oder Hagen um die Vermittlung des Gegensatzes durch Reflexion des Bruches ging, da laden die Grimms die Ursprünge und die frühe Dichtung mit einer Aura auf, die für die Moderne uneinholbar ist. Diese Auratisierung zeigt sich in dem spezifischen Verständnis der Dichtungsentstehung, das die Grimms formulieren. Eine moderne, individuelle Autorschaft entsteht demnach überhaupt erst im Zuge der gesellschaftlichen Differenzierung und ihrer Schriftlichkeit. Die Volksdichtungen dagegen wurden nicht durch individuelle Urheber hervorgebracht. Dass sie anonym überliefert wurden, deuten die Grimm nicht als bloßen Defekt der Tradition. Vielmehr weise dies auf einen konstitutiven Unterschied, der die Menschen in schriftlosen, homogenen Gemeinschaften gegen ihre modernen Nachfahren auszeichne: die Abwesenheit von trennender Individualität. Die Märchen, Lieder und Epen sind für die Grimms daher in einem keineswegs bloß metaphorischen Sinne ‚autorlos‘. Sie entstehen vielmehr durch ein „Sichvonselbstmachen“:¹²⁰ Die Märchen „wachsen“¹²¹ wie die Ähren auf dem Feld, und sie ‚erzeugen‘¹²² sich beständig neu; die „Heldengesänge“ singen sich „von selber an und fort[…]“;¹²³ auch das „Ganze“ des Nibelungenliedes hat „sich“ selbst gedichtet (Entstehung, S. 100). Für alle Formen lässt sich beobachten, wie die Grimms diesen selbst Subjektstatus verleihen, nicht aber ihren Produzenten.¹²⁴ Sie verstehen das Fehlen von Autornamen als Zeichen für die Autopoiesis der Dichtungen, die durch die Abwesenheit einer sich unterscheidenden Individualität möglich wird. Dieser selbsterzeugte Ursprung der ältesten Poesie macht sie für die Grimms so besonders wertvoll. Die botanische Bildlichkeit, die allenthalben zum Einsatz kommt, ist durchaus ernst gemeint, und sie birgt einen programmatischen Sinn. Denn so, wie die Grimms die frühe Poesie in die Naturprozesse integrieren, trennen sie die spätere Dichtung aus ihnen heraus. Anders als etwa Schlegel geht es ihnen auch nicht um die geschichtsphilosophische Vermittlung dieses Ge So Jacob Grimm im Brief an Arnim, 20. Mai 1811; Brüder Grimm (Hrsg. Reuß), S. 60. KHM1, Bd. 1, S. V (Vorrede). Vgl. KHM1, Bd. 1, S. XIII (Vorrede). Jacob Grimm: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen 1811, S. 6. Er lässt die Formulierung hier durch ein „so zu sagen“ ins Uneigentliche hinüberspielen; der briefliche Kommentar zu der Stelle, den er an Arnim sendet, nimmt dies aber wieder zurück; vgl. Brief Jacob Grimms an Arnim, 20. Mai 1811; Brüder Grimm (Hrsg. Reuß), S. 59 – 62. Vgl. dazu Körner 1911, S. 85 f.; Stefan Matuschek: Dichtender Nationalgeist. Vom Spiel zum Ernst literarischer Anonymität. In: Anonymität und Autorschaft. Zur Literatur- und Rechtsgeschichte der Namenlosigkeit. Hrsg. von Stephan Pabst. Berlin, New York 2011, S. 235 – 247.
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gensatzes von Natur und Freiheit.¹²⁵ Die Melancholie des Späten setzt bei den Grimms vielmehr ein umso eifrigeres Interesse für das Frühe frei, eine beharrliche philologisch-historische Arbeit auf die Ursprünge hin. Der Mangel an geschichtsphilosophischer Reflexion, den man bei ihnen konstatieren mag, betrifft auch die Konkretion jener ‚autorlosen‘ Produktion der Poesie. So beharrlich von einem „Sichvonselbstmachen“ die Rede ist, so wenig erklären die Wendungen, wie man sich diesen Vorgang zu denken habe. Eine Konkretion enthält er nur an wenigen Stellen der frühen Schriften. Ein vergleichsweise helles Licht fällt auf ihn in Wilhelm Grimms schon zitiertem Aufsatz zur Entstehung der altdeutschen Poesie von 1808. Neben Jacobs Abhandlung über Minnesang und Meistersang stellt er mit Abstand die umfangreichste Arbeit der frühen Grimms zur mittelalterlichen Literatur dar. Darüber hinaus bemüht er sich, die unterschiedlichen ‚altdeutschen‘ Überlieferungen in einen historischen Zusammenhang zu bringen.¹²⁶ Ohne Frage war er Baustein für ein Projekt, an dem die Grimms in den nächsten Jahren arbeiteten: eine Geschichte der Poesie, die sie gemeinsam schreiben wollten, schließlich aber beiseiteließen. Fast in allen Publikationen und Arbeiten dieser Jahre finden sich Verweise auf dieses Vorhaben.¹²⁷ Von Wilhelms Aufsatz ausgehend, soll die Theorie der Autopoiesis näher entfaltet werden.¹²⁸
Vgl. Wyss 1988, S. 51 f. Wyss vertritt dann allerdings die These, dass Jacob Grimm auch den historischen Unterschied zwischen Natur- und Kunstpoesie wieder subvertiere. Körner (1911, S. 115 – 118) hält ihn daher zu Recht für sehr bedeutend, ebenso Klausnitzer 2001, S. 525 f. Beispiele: Jacob Grimm erklärt 1807 (Ueber das Nibelungen Liet. In: Neuer literarischer Anzeiger 1807, N. 15 und 16. Zitiert nach: ders., Schriften, Bd. 4, S. 1– 7, hier S. 4) die Frage, „wann es [das Nibelungenlied] ursprünglich entstanden“ sei, zum Kern einer zu scheibenden „Geschichte der Poesie“; sein Bruder versucht, diese Frage mit seinem Aufsatz zur Entstehung ein Jahr später zu beantworten. Auch die Arbeit an den Märchen und den Sagen stand ursprünglich in diesem Zeichen; die Sagenkonkordanz, die die Grimms von 1809 an erstellten, sollte auch als Instrument für die Geschichte der Poesie dienen (ediert in: Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm. Hrsg.von Heinz Rölleke. Teil 2: Zusätzliche Texte, Sagenkonkordanz. Stuttgart 2006); vgl. auch den Sammelaufruf, den Jacob Grimm 1811 verfasste, gedruckt in: Heinz Rölleke: Die Märchen der Brüder Grimm. Eine Einführung. Stuttgart 2004, S. 69 – 75, hier S. 69 und S. 73 f. Auch die Altdeutschen Wälder nennen das Projekt: vgl. die Vorrede, Bd. 1 (1813), S. VIf. Vgl. Ginschel 1988, S. 39 – 45. Freilich stimmt Jacob nicht mit allem überein, was Wilhelm hier für die Geschichte der altdeutschen Poesie annimmt; so geht er etwa von einer stärkeren Präsenz der nordischen Kultur in der ‚Deutschen‘ aus (vgl. die Briefe von Jacob an Wilhelm, 4. Aug. 1809 und 16./17. Aug. 1809; Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm. Hrsg. von Heinz Rölleke. Bd. 1.1. Stuttgart 2001, S. 158 und S. 163 f.). Aber die Theorie der Epos-Entstehung dürfte zum gemeinsamen Grundbestand von Annahmen gehören.
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
Im Zentrum seiner poesiegeschichtlichen Überlegungen steht das Nibelungenlied. Es ist für die Grimms nicht weniger zentral¹²⁹ als für Hagen, der es an die Spitze seines Kanons der deutschen Literatur überhaupt stellt.¹³⁰ Wie an Homer, so manifestieren sich innerhalb der ‚altdeutschen‘ Überlieferung hier die zentralen philologischen Probleme.¹³¹ An den Nibelungen schärfen sich die methodischen und inhaltlichen Differenzen. Wichtig ist etwa die Frage, wie angesichts der vielfältigen motivischen Parallelüberlieferungen beispielsweise in den EddaLiedern oder in den dänischen Kæmpe Viser die Einbindung des deutschen in einen nordischen Volks- und Kulturraum zu rekonstruieren sei; hierzu zählt auch das Problem, wie der ‚germanische‘ Mythos mit den Ursprungsmythen des menschlichen Geschlechts überhaupt zusammenhänge, deren Entstehung nicht wenige der Zeitgenossen in Indien ansiedelten; schließlich gehört auch die Frage nach der Autorschaft hierher: Wo in diesen Traditionsprozessen verortet man die entscheidenden Kulminationspunkte, an denen die Überlieferung eine für die ‚Deutschen‘ und ihren ‚Volksgeist‘ entscheidende Qualität gewinnt? Haben individuelle Dichter – vermittels ihrer Individualität – etwas Bedeutendes für das Gedicht geleistet, oder zeugte sich die Überlieferung gerade dann lebendig fort, wenn kein starkes Individuum in sie eingriff, sondern sich die Mythen und Lieder ‚von selbst‘ ineinander fügten? Der Streit um das Nibelungenlied fragt im Kern also auch nach dem Verständnis von Autorschaft, dem Verhältnis von Tradition und individueller Leistung.¹³² Hagen sah hinter den überlieferten Fassungen eine starke Dichterindividualität; August Wilhelm Schlegel versuchte das Epos in seiner maßgeblichen Gestalt sogar auf namentlich überlieferte Verfasser zurückzuführen, wobei „Klingsor von Ungerland, und Heinrich von Ofterdingen“¹³³ hoch im Kurs standen. Beide Grimms dagegen wandten sich entschieden gegen die Annahme einer konsistenten, individuellen Autorschaft im Prozess der lebendigen Tradition.
Vgl. auch Jacob Grimm, Nibelungen Liet, S. 1. Wilhelms Aufsatz richtet sich dabei dezidiert gegen Hagen; eine Vorrede der Verleger Mohr und Zimmer zum Band der Studien (4 [1808], H. 2, unpag.) bezeichnet ihn als weiterführende Fortsetzung des Verrisses von Hagens ‚Erneuung‘, den Wilhelm kurz darauf publiziert: [Rez.] Der Nibelungen Lied, herausgegeben durch Friedrich Heinrich von der Hagen. In: Heidelbergische Jahrbücher der Literatur für Philologie, Historie, schöne Literatur und Kunst 2 (1809), H. 4, S. 179 – 189 und H. 5, S. 238 – 252; zitiert nach: ders., Schriften, Bd. 1, S. 61– 91. Grundlegend ist immer noch die Studie von Körner 1911. Vgl. die Systematisierung der verschiedenen Positionen ebd., S. 225 f. So etwa in: Aus einer noch ungedruckten historischen Untersuchung über das Lied der Nibelungen. In: Deutsches Museum 1 (1812), H. 1, S. 9 – 36; H. 6, S. 505 – 536; 2 (1813), H. 7, S. 1– 23, hier H. 7, S. 19. Vgl. dazu Höltenschmidt 2000, S. 743 – 763.
2 Naturpoesie, moderne Dichtung, Philologie – Die Grimms
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Wilhelm rekonstruiert vom Nibelungenlied her die Frühgeschichte der deutschen Dichtung und ihre Autopoiesis. Subjekt seiner eigenen Entstehung, habe das Epos „sich gedichtet“ (Entstehung, S. 100; Hervorhebung MGD), in einer „Unschuld“ und „Bewusstlosigkeit“, die „es gar nicht anders denken konnte“ (ebd.). Es entsteht mit innerer Notwendigkeit. Aber wie? Die facettenreiche Geschichte der deutschen Poesie, die Wilhelm hier skizziert, soll auf einige Punkte zugespitzt werden. Der autogenetische Prozess hat im Grunde zwei Stufen. Die Urform des Epos sind, entsprechend Wolfs Hypothese, „kurze Lied[er]“ (ebd.). Theoretisch ließen sich diese sehr wohl auf einzelne Produzenten zurückführen. Denn wen auch immer in jener Urzeit die „innere Lust und Kraft dazu antrieb“, der „besang die Helden der Nation“ und war daher Dichter (Entstehung, S. 101). Will man in diesem Produktionsprozess die Figur der Inspiration am Werk sehen, so muss man sie anders verstehen: Denn wer dichtet, verkündet keineswegs als poeta vates ein arkanes Wissen, das er den anderen Angehörigen der Gemeinschaft voraus hätte. Die Begeisterung fußt vielmehr auf dem natürlichen Charakter des Volkes. Ihm gehören die Gegenstände an, die die Dichtenden in ihre Lieder fassen. Daher unterscheidet sich der Dichtende auch nicht von seiner Gemeinschaft,wenn ihn – das Wort ‚Gabe‘ wird vermieden – „Lust“ oder „Kraft“ (s.o.) ergreifen. Jeder, der sie verspürt, mag ein Lied singen. Eine abgesonderte Klasse von Sängern – wie sie Wolf schon mit den aoidoí annimmt – setzt Wilhelm am Beginn der Poesie nicht an. Jeder Einzelne kann zur Stimme des kollektiven Volkes werden. Entsprechend gewinnen die Lieder ihre Gestalt auch nicht durch besondere, den Dichtern exklusive Techniken des Gesanges. Ihre Form folgt vielmehr notwendig aus dem Akt der Dichtung selbst: Dass der jeweilige Dichter „sich nicht anders bewegen konnte“, verlieh dem Lied mit anthropologischer Notwendigkeit einen „gewissen Takt“, unterzog es einem „ordnenden Gesetz“ (Entstehung, S. 101). Die Form ergab sich aus der Lust und Kraft selbst, unbewusst; sie wurde nicht erst durch bewusste Bearbeitung an den ‚Stoff‘ herangetragen.¹³⁴ Wilhelm resümiert diesen Prozess des urtümlichen Dichtens, indem er es nun grammatisch nicht mehr auf seinen Akteur bezieht, sondern dem Lied als autopoietischem Produkt selbst Subjektstatus verleiht: „So erzeugte sich das Lied mit Rhythmus und Reim“ (ebd.).
Wilhelm präzisiert in einer Anmerkung, es sei lächerlich, den Reim als Erfindung zu verstehen: „er führte sich von selbst ein, um den Satz zu einem Ganzen zu beschliessen“ (Entstehung, S. 101). Wilhelm denkt hier ohne Frage an den Endreim, nicht an den Stabreim, dessen höheres Alter Jacob erst kurze Zeit später behauptet; vgl. unten, Anm. 188. Im Grundsatz aber argumentiert auch Jacob analog, etwa im Brief an Arnim, 20. Mai 1810; Brüder Grimm (Hrsg. Reuß), S. 60: „die alte Poesie hat eine innerlich hervorgehende Form von ewiger Giltigkeit“.
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
Der Ursprung der Lieder bildet die erste Stufe der Epenentstehung, wie sie Wilhelm formuliert. Aber sie müssen noch zum Ganzen eines Epos zusammenschießen – und auch auf dieses Ganze soll die autopoietische Formulierung ja zutreffen. Dies leistet in einem zweiten Schritt eine „Klasse von Sängern“. Sie erweitern die Lieder, verbinden sie zu dem „grösseren Ganzen“ (ebd.), bewahren es im Gedächtnis und tradieren es mündlich. Die Gestalt der Gesänge liegt dabei nicht fest, sie verändert sich im mündlichen Prozess stetig – gerade darin aber liegt die ‚Lebendigkeit‘ dieser Poesie (vgl. Entstehung, S. 102). Wilhelm fasst diese Sänger dabei jedoch nicht als individuelle Dichter eigenen Rechts¹³⁵ – obwohl sie sich zu einer Klasse zusammengefunden, also gewissermaßen professionalisiert haben. Denkt man an Wolf zurück, der Dichtertum und Eigenleistung sowohl der aoidoí als auch der Rhapsoden betonte,¹³⁶ so erstaunt dies zunächst. Es profiliert aber auch den Begriff, den die Grimms von Charakter und Natur der Überlieferung haben. Obwohl die Sänger die Einzellieder zu einem größeren Ganzen verbinden, erfinden sie nichts, was ihnen als dezidierte, individuelle Eigenleistung zugeschrieben werden dürfte. Die Lieder bilden für die Grimms also bereits vor ihrer Verbindung eine Einheit, wenn auch eine zunächst bloß virtuelle.¹³⁷ Auch auf der ersten Stufe waren sie nicht bloß vereinzelte, abgerissene Gesänge, sondern sie hingen immer schon zusammen. Die besungenen
Ebenso Jacob (Nibelungen Liet, S. 4): „Demnach wäre der verfasser des N.l. unbekannt,wie es gewöhnlich bei allen national-gedichten ist und sein musz, weil sie dem ganzen volke angehören, und alles subjective zurücksteht.“ Vgl. Kap. III.1.1., S. 226. Vor allem der spätere Briefwechsel mit Lachmann, der sich über weite Strecken mit der Entstehung des Nibelungenliedes befasst, drängt Wilhelm zur Klärung seiner Position. „Wir fangen beide damit an“, so schreibt er am 31. Mai 1820, „daß wir die Sage selbst voraussetzen und zwar, wie Sie richtig anmerken, wenigstens verstehe ich Sie so, nicht in einer festbestimmten Form, sondern als eine lebendige Idee. Wenn hier von einem Schöpfer oder Dichter derselben die Rede ist, so wird das Volk darunter verstanden, welches aber nicht etwa der Dämos, sondern der Inbegriff des geistigen Lebens ist. […] Die Sage befindet sich ietzt in einem schwebenden Zustande d. h. ein jeder faßt sie nach seiner Eigenthümlichkeit und seinen Fähigkeiten auf […], da er aber zugleich in der Eigenthümlichkeit seines Volks steht, so wird auf der andern Seite die Dichtung doch immer, dem Inhalt, dem Ton der Darstellung nach, eine gewisse feste Manier und etwas übereinstimmendes beibehalten.“ Es müsse, so heißt es am 3. Juli 1820, „in der Idee“ des Nibelungenliedes – also in der Sage – „ein Ganzes nothwendig vorhanden seyn […]. Ob die Idee jemals ist völlig ausgesprochen worden, ist hier einerlei, es ist auch irdischer Weise zu bezweifeln, ich behaupte aber nur, daß alle Äußerungen die ich ein Ganzes nenne strebten vollständig zu seyn, das Ganze darzustellen.“ Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit Karl Lachmann. Hrsg. von Albert Leitzmann. 2 Bde. Jena 1927, Bd. 2, S. 740 f. und S. 757. Vgl. zu diesem Aspekt des Briefwechsels: Körner 1911, S. 216 – 225; Bluhm 1997, S. 226 – 232; bezogen auf die Grimms allgemein: Ginschel 1988, S. 55 f.
2 Naturpoesie, moderne Dichtung, Philologie – Die Grimms
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Helden, der Mythos, die geschichtliche Erinnerung betreffen den Stamm als ganzen, weil sie sich auf Erleben und Identität der Gemeinschaft insgesamt beziehen. Jeder findet sich selbst in diesen Liedern, so wie auch jeder zu ihrem Dichter werden kann. Die virtuelle Ganzheit der einzelnen Lieder ankert in der kollektiven Identität der Gemeinschaft, und zwar bereits vor ihrer Realisierung zum Epos; diese Vorstellung einer vorgängigen Sage hängt unmittelbar zusammen mit der Vorstellung vom ‚Geist‘ eines Volkes.¹³⁸ Auch die Sänger manifestieren also bloß das, was den einzelnen Liedern eigentlich, idealiter, immer schon vorausging: eine große, zusammenhängende Erzählung von der gemeinsamen Erfahrung und Erinnerung aller. Daher schaffen auch sie nicht als Individuen, sondern wiederum als ‚Organe‘ des Ganzen. Ihnen geht es im Dichten nicht um sich selbst, um eine Selbstautorisierung innerhalb ihrer Gemeinschaft; sie ‚erfinden‘ auch nichts, sondern sie gestalten die Sage, in der ihre Gemeinschaft lebt.¹³⁹ Trotz ihrer ‚Spezialisierung‘, die sie funktional von der restlichen Gemeinschaft sondert, sind auch sie noch Teil des naturpoetischen Prozesses. Erst der Einzug der Schrift beendet diese ‚organische‘ Überlieferung. Die anfangs „zufällige, das Gedächtnis eines Einzelnen unterstützende Aufzeichnung“ (Entstehung, S. 107) entfaltet individuierende Kraft. Sie entfernt die Dichtungen aus der lebendigen Tradition, der lebendigen Selbstverhandlung des Volkes. Blieben die Namen der ursprünglichen Dichter und Sänger aufgrund des gemeinsamen ‚Besitzes‘ an den Liedern bedeutungslos, so schiebt sich jetzt die Leistung des Einzelnen, Schriftkundigen vor die homogene Kollektivität. Die Schrift ermöglicht es dem Individuum, sich selbst als Urheber seiner Produktion zu entdecken – aber dadurch wird das, was er schreibt, „fremdartig“ (Entstehung, S. 108). Es gerät in einen Gegensatz zum Volk, zur „Totalität der Nation“ (ebd.). Gleichzeitig bildet sich eine kulturell herrschende Klasse, die sich über ihre gelehrten Kulturtechniken bestimmt und Einflüsse anderer Nationen aufnimmt (vgl. ebd.). Die mediale Fixierung führt dazu, dass die mündliche Tradition marginalisiert wird und versickert. Vgl. Kap. I.2.4. Die historische Rekonstruktion der Völker bringt das Problem mit sich, wo und wie im eigentlich kontinuierlichen Geschichtsprozess sich jeweils solche Entitäten und Identitäten herausbilden, die dann ein Volk wesenhaft von anderen unterscheiden. Wilhelm Grimm setzt solche Punkte dort an, wo sich ein Volk durch Taten historisch gründet und sich damit gleichzeitig seine eigene Sage bildet: „Bei jeder Nation blickt der Moment einer neuen Grundbildung eines neuen Entstehens durch, in hellerem oder trüberem Lichte, wie verschieden die Umgebungen und Motive sind.“ (Entstehung, S. 94). Vgl. Entstehung, S. 95: Die Sänger waren „gerade nicht die Dichter dieser Lieder, und sie nahmen sie auch nicht zu ausschliessendem Besitze dem Volke ab, aber sie waren besonders fähig zu dem Absingen derselben.“
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
Diese Erläuterung der Autopoiesis der Lieder und des Epos erschließt eine Seite des Problems der Autorschaft der national bedeutsamen Dichtung. Das Postulat der ‚von selbst‘ entstehenden Dichtungen ist hier in eine Konkretisierung diesseits der Metapher gebracht; gleichzeitig gibt es seinen metaphysischen Kern preis. In den einzelnen Dichtern und Sängern manifestiert sich keine individuelle Tätigkeit, sondern der ‚Volksgeist‘.¹⁴⁰ Das poetische Sprechen kommt aus dem Ganzen des Volks, der Einzelne ist sein Medium. Dass der Name der Sprecher nicht mitmemoriert wird, spiegelt die tatsächlichen ‚Besitzverhältnisse‘ an dem Gedicht: Die anonyme Überlieferung der Lieder verweist auf ein Wesensmerkmal einer Gemeinschaft, in der sich das Individuum noch nicht von seiner Gemeinschaft unterschieden hat.
2 Abdrücke Die Reflexion über das Problem der naturpoetischen Autorschaft umfasst noch einen zweiten Aspekt. Denn wenn in diesen Dichtungen nicht die Produzenten im Mittelpunkt stehen, was ist dann eigentlich an ihnen das Entscheidende? Wodurch beziehen sie Verbindlichkeit für die gesamte Gemeinschaft? Welche anderen Momente treten an die Stelle der negierten individuellen Autorschaft? Viele Arbeiten der Grimms postulieren übereinstimmend, dass der Wert der Dichtungen auf einem doppelten Gehalt beruhe: einem geschichtlichen und einem mythischen. Wilhelm betont in seinem Aufsatz besonders die geschichtliche Dimension, während Jacob in seinen gleichzeitigen Arbeiten verstärkt dem Verhältnis von Mythos und Geschichte nachgeht. Beide Grimms positionieren sich damit in der Frage, ob die Heldengedichte gesunkene Göttersagen seien oder nicht vielmehr Lieder von menschlichen Taten, deren Urheber dann, mit der Zeit, vergöttlicht wurden.¹⁴¹ Im ersten Fall läge der Kern des Epos in einer ursprünglichen Religion der Menschheit, einer Uroffenbarung Gottes; im zweiten hätte es einen rein geschichtlichen Grund.¹⁴² Beiden
So auch die These von Matuschek 2011. Vgl. dazu etwa Körner 1911, S. 171 f.; Joachim Heinzle: Wilhelm Grimm und die deutsche Heldensage. In: Aspekte der Romantik. Zur Verleihung des „Brüder Grimm-Preises“ der PhilippsUniversität Marburg im Dezember 1999. Hrsg.von Jutta Osinski und Felix Saure. Kassel 2001, S. 31– 50, hier S. 36 – 41. Diese beiden Möglichkeiten entfaltet Jacob Grimm: Gedanken über Mythos, Epos und Geschichte. In: ders., Schriften, Bd. 4, S. 74– 85, etwa S. 75 und S. 84 (Zitate hieraus). Zuerst in: Deutsches Museum (hrsg. von Schlegel) 3 (1813), S. 53 – 75.
2 Naturpoesie, moderne Dichtung, Philologie – Die Grimms
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Grimms geht es um die Verbindung dieser Positionen: Die Naturpoesie ruht auf mythischem wie auf geschichtlichem Grund. Zunächst zum Mythos: Beide Grimms verlegen die Entstehung der Menschheit in den indischen Raum. Hier entstand mit den Menschen eine erste Religion. Momente dieser Religion und Erinnerungen an ihren Ursprungsort führen die vorzeitlichen Völker auf ihrer Wanderung aus Asien in den Norden mit. Deren Spuren bleiben bei allen Wandlungen des Mythos, bei allen Transformationen der Geschichten und Volksidentitäten doch in die Überlieferung eingelagert. Sie bilden ein gemeinsames Substrat, das die Überlieferungen verschiedener Völker teilen, auch wenn es sich jeweils im Laufe der Geschichte unterschiedlich entwickelt. Wilhelm hebt in seinem Aufsatz heraus, dass alle Sagen der Edda „durchdrungen von dieser Mythologie“ (Entstehung, S. 128) seien.¹⁴³ Jacob geht dezidiert von einer Präsenz des alten Substrats in Sprache und Dichtung aus: Die göttliche Uroffenbarung informiere die alten Sprachen und Poesien; zwar wandelten sich diese über die Zeiten, die alten Wurzeln blieben jedoch weiterhin sichtbar.¹⁴⁴ Aber die Naturpoesie hat eben nicht nur diesen mythischen Grund.Wenn dem so wäre, dann besäße die Poesie eine rein religiöse Funktion, sie bewahrte lediglich einen lange vergangenen Ursprung, und die menschlichen Taten selbst hätten für sie keine Bedeutung. Geschichte wäre damit geradezu negiert, in ihr zeigte sich lediglich der Verfall einer ursprünglich verständlichen, dann aber zunehmend verschütteten Urüberlieferung. Die Urgeschichte wäre zu einer „übermenschlichen erklärt“; alle Späteren könnten ihr nur immer „entfremdeter“¹⁴⁵ gegenüberstehen. Den Grimms kommt es daher auf die Verbindung beider Deutungsmöglichkeiten an. Die Naturpoesie sei, so Jacob, Produkt einer ständigen „durchdringung“¹⁴⁶ von Mythos und Geschichte. Daher bleibt sie, solange sie existiert, lebendig, denn nur so kann sie zum adäquaten Identitätsträger von Gemeinschaften werden, die sich durch Wanderungen und aufgrund von Taten verändern. Wie er sie in die Entstehung des Nibelungenliedes einbettet, wird dabei nicht ganz klar. Die Wanderung der Asiaten nach Skandinavien ist für ihn aufgrund der Edda evident. Die Germanen im deutschen geographischen Raum lässt er von ihnen abstammen, allerdings seien sie in einen Naturzustand zurückgefallen, wobei die asiatische Überlieferung wieder vergessen wurde. Hier seien die ersten Lieder entstanden, aus denen dann das Nibelungenlied geformt wurde. Im Prozess dieser Formung sei aber aus Skandinavien die alte Überlieferung wieder eingedrungen; vgl. Entstehung, S. 122 – 125. Jacob teilt diese Rekonstruktion nicht, vor allem widerspricht er dem kulturellen Rückfall; vgl. die Briefstellen oben, Anm. 128. Vgl. etwa Jacob Grimm, Gedanken (1813). Ebd., S. 75. Ebd.
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
Wie die Geschichte in die Dichtungen eindringt, erläutert Wilhelm in seinem Aufsatz. Das Nibelungenlied beruhe, so insistiert er, auf „Wahrheit“, und zwar nicht auf rein religiöser, sondern auch auf historischer: „Attila, Dietrich von Bern, Günther, Hagen, Siegfried haben gelebt, die grossen Taten,von denen diese Lieder singen, sind geschehen, und Chriemhildens entsetzliches Schicksal hat jene Helden ins Verderben gezogen.“ (Entstehung, S. 98) Diese ‚Wahrheit‘ liegt freilich nicht in einer historisch akkuraten Überlieferung von Geschehenem. Danach zu fragen, wäre Angelegenheit einer fortgeschrittenen, gelehrten Kultur, die die Verbindung zur urtümlichen Gesellschaft bereits verloren hat (vgl. Entstehung, S. 92). Wenn der alten Poesie „durchaus Geschehenes zum Grund“ (Entstehung, S. 98) liegt, dann gerade nicht in der Form eines unbeteiligten, an der Überlieferung von objektiven Fakten interessierten Berichts. Sie überliefert etwas, das wesentlich von der bloßen Bewahrung eines Faktums unterschieden ist, nämlich eine Spur der Kraft selbst, die in der Tat wirksam war. Die alte Poesie ist ein intensiver „Abdruck des Angeschauten“ (ebd.). Das anonyme Epos weist auf die Geschichte nicht durch bloße Zeichen, sondern es speichert den historischen Moment in seiner vollen, affektiven Realität und Unmittelbarkeit. Die Lieder reichen selbst in den Moment des Geschehens zurück, den sie besingen. Poesie und Geschichte sind dabei gleichursprünglich. In Aufregung und Kampf sprudeln die „Quellen des Lebens“ (Entstehung, S. 93), und aus ihnen strömen die Taten genauso wie die Poesie.¹⁴⁷ Die lebendigen Erzählungen der Helden selbst werden zu Liedern, in denen sich die Erfahrung des Kampfes, die „beständige Anregung“ und „Gährung“ (ebd.) aufbewahrt. Die ersten Sänger, so führt Wilhelm seine Auffassung 1811 in der Übersetzung der dänischen Kæmpe Viser aus, wurden nicht durch spätere Erinnerung inspiriert, sondern sie singen das, „wozu die frische Gegenwart begeisterte“.¹⁴⁸ Der ‚Abdruck‘ setzt sich für den Hörer – bzw. den späteren Leser – als Eindruck wieder in einer Unmittelbarkeit frei, die dem gelehrten historischen Bericht abgeht. Bei Homer wie in den Nibelungendichtungen, so Wilhelm, bewege sich die „Heldenschar […] vor uns, und wir ziehen mit ihr in den Kampf, wir stehen mitten in ihrer Versammlung, wir sehen die Zucht edler Frauen und eine ganze schöne Menschheit in Lust und Trauer“ (Entstehung, S. 93). In den Kæmpe Viser erklärt er die Worte selbst zu Taten: Die „Reden“ der Helden seien „wie Schwertschläge von
Entstehung, S. 93: „Wenn es aber wahr ist, dass Poesie und Geschichte nur zu gleicher Zeit sich erzeugen, so kann jene nicht mehr sein, wo diese aufhört; nur da wird sie geboren, wo der Mensch in freiem Ringen mit der Welt die Glieder übt und muthig das Leben umarmt.“ Wilhelm Grimm: Altdänische Heldenlieder, Balladen und Märchen übersetzt von Wilhelm Carl Grimm. Heidelberg 1811, S. XIII.
2 Naturpoesie, moderne Dichtung, Philologie – Die Grimms
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starken Armen gegeben, treffend und entscheidend“.¹⁴⁹ Und vergleichbar den Helden, von denen sie singen, werfen die Worte selbst „wie ein Bergstrom Felsenstücke herunter“.¹⁵⁰ Die Poesie speichert diese auratische Spur von Gegenwart auch über die Prozesse einer lebendigen, d. h. mündlichen, Überlieferung hinweg: „jede Nachahmung selbst durch viele Gründe hindurch weist immer zurück auf das Ursprüngliche und bleibt in so fern wahr“ (Entstehung, S. 98). Daher bewahrt die Naturpoesie geschichtliche und mythische Erinnerungen in sich auf. Aber sie bleibt nicht auf die ursprünglichen Taten beschränkt. Die Lieder sind jederzeit aufnahmebereit für Neues. Sie verändern sich stetig, indem sie „Gestalt, Ton und Colorit“ der neuen Landschaften annehmen, in die das Volk zieht (vgl. Entstehung, S. 107); und sie integrieren stets neue Taten. Eine weitere „Gährung“, die entstehen mag, amalgamiert sich unmittelbar mit den alten Geschichten, sie wird in die Überlieferung integriert und verändert wiederum deren Gestalt. Alles wird anders „zusammengerückt und verknüpft“ (Entstehung, S. 102). Die Lieder sind Gefäße für das jeweils neue Geschehen, das die Gemeinschaft umtreibt. Darüber hinaus wird die Naturpoesie auch selbst historisch produktiv. Die Lieder speichern mit der Erinnerung auch das Ethos eines Volks; daher bilden sie wieder den Ausgangspunkt für neue Taten. Diese geschichtsschaffende Lebendigkeit der Naturpoesie versucht Jacob in seinen Gedanken über Mythos, Epos und Geschichte am Zusammenwirken von Mythos und Geschichte zu belegen. Einerseits setze sich an eine neue Tat die überlieferte „göttliche Sage“¹⁵¹ und verändere die Gestalt der Überlieferung. Andererseits sei diese Tat aber selbst schon durch die vorgängige Überlieferung informiert worden: Tradition und gegenwärtiges Handeln sind in der Naturpoesie jederzeit „durch einander bedingt“.¹⁵² Wenige Jahre später weisen die Grimms in ihrer gemeinsamen Edition von Hartmanns Armem Heinrich auf einen neueren Fall hin, in dem sich ein solcher Kreislauf von Überlieferung und Tat zeige. Sie zitieren ein Flugblatt des 17. Jahrhunderts: „Geschichte und Bestrafung einer Mörderin durch deren boshafte Anschläge acht und zwanzig junge Mädchen in Ungarn einen schaudervollen Martertod sterben mußten.“¹⁵³ Es berichtet von einer Edelfrau, die junge Mädchen entführen ließ, um sich mit deren Blut zu salben und so ihre Schönheit zu erhalten. Die Koinzidenz dieser neueren Greueltat mit Motiven mittelalterlicher Dichtung
Ebd., S. XIV. Ebd., S. XV. Jacob Grimm, Gedanken (1813), S. 75. Ebd. Der arme Heinrich von Hartmann von der Aue. Aus der Straßburgischen und Vatikanischen Handschrift herausgegeben und erklärt durch die Brüder Grimm. Berlin 1815, S. 182.
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
deuten die Grimms als Aktualisierung der alten Überlieferung. Im Handeln der Gräfin sei eine im Volk bewahrte mythische Überlieferung wieder wirksam geworden, habe „zur wirklichen That geleitet“¹⁵⁴ und damit den Gehalt des Mythologems erneuert. Von hier aus ist es zu verstehen, dass Jacob Grimm 1814 fordert, es gelte eigentlich, „nicht über das geschichtliche im Nibelungenliede, sondern über das Nibelungische in der altdeutschen geschichte“¹⁵⁵ zu schreiben. Denn die Naturpoesie als „inkräftiges korn“ könne „in mehr denn einer zeit, an mehr denn einem ort, aufgehen und auferstehen, damit es seinem erdtheil gewinne“.¹⁵⁶ Die Poesie ist Speicher und zugleich Movens nationaler Geschichte. Von hier aus fällt wiederum ein neues Licht auf die Frage nach der Funktion ihrer Produzenten. Denn wenn die Poesie mythische und geschichtliche Elemente aufbewahrt, dann kann die Rolle von Dichtern und Sängern keine andere sein, als diese Elemente zu tradieren; sie eigenmächtig und individuell zu verändern, würde ihnen jede Verbindlichkeit nehmen. Für die Grimms steht es außer Frage, dass die Dichter und Sänger der Volkspoesie daran kein Interesse gehabt haben können. Sobald in den Prozess der Tradition eigenmächtige Individuen eingreifen, verfällt die Naturpoesie. Dadurch ergibt sich eine so merkwürdige wie bezeichnende Umkehrung. Die Deutung des Dichtens als ‚Abdruck‘ von Geschichte macht die Dichter zu Tradenten eines Gehaltes, der ihnen nicht zugerechnet werden kann. Die Stelle des ‚Urhebers‘ im Autordispositiv wird damit frei für andere Akteure. Im Kern der Poesie steht dann nicht der, der die Lieder aktualisiert und weitergibt, sondern vielmehr derjenige, der in ihnen besungen wird. Die ‚eigentlichen‘ Autoren der Lieder wären erstens der Volksgeist selbst, zweitens aber die ‚Autoren‘ der Geschichte, diejenigen also, die für ihr Volk große Taten vollbringen. Einige Formulierungen Wilhelm Grimms bringen diese Umgewichtung auf den Punkt: Carl der Grosse erschuf Frankreich und lebte viele Jahrhunderte lang in der Poesie desselben. Um aus spätern Zeiten ein Beispiel anzuführen: wie der Cid Spanien erst Sicherheit und Dauer gegen die Araber, so gab er ihm auch eine Nationalpoesie, welche das Andenken an sein Ritterthum in schönen Liedern bewahrte. (Entstehung, S. 94)
Es ist der Cid selbst, der den Spaniern ihre Nationalpoesie ‚gibt‘ – Gegenstand und, durch seine Handlungen, auch Auslöser der Lieder, die seine Taten verzeichnen. Ebd. Jacob Grimm: [Rez.von] K.W. Göttling: Über das Geschichtliche im Nibelungenlied. In: Wiener allgemeine Literaturzeitung 1814. Zitiert nach: ders., Schriften, Bd. 4, S. 85 – 91, hier S. 91. Ebd.
2 Naturpoesie, moderne Dichtung, Philologie – Die Grimms
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Die Stelle des ‚Autors‘, also desjenigen, auf den hin sich die Praktiken des Dichtens und des Auslegens richten, gebührte demnach nicht dem Produzenten der Lieder, sondern demjenigen, der sich in ihnen ‚abdrückt‘. Analog verhält es sich im Falle der Mythologeme: Die Grimms interessieren sich für die mythischen Elemente selbst, wie sie sich fortzeugen, gleichzeitig aber auf ihre ältesten, wesentlichen Gestalten verweisen.¹⁵⁷ Die Logik der Autorschaft hat sich in diesem Modell umgekehrt.
3 Naturpoesie und Kunstpoesie – Die Debatte mit Achim von Arnim Eine solche Konzeption, die individuelle Autorschaft negiert, muss von Dichtern als Provokation empfunden werden, vor allem dann, wenn sie unmittelbar auf die Möglichkeiten der Poesie in der Moderne bezogen wird. Der Gegensatz von Naturpoesie und Kunstpoesie erscheint daher auch als polemische Stellungnahme der Grimms in einer Situation, wo die ‚Protogermanistik‘ ihren Gegenstandsbereich und ihre spezifischen Techniken in der Reibung mit der zeitgenössischen Literatur herausbildet, etwa indem diese ihrerseits Anspruch auf die alten Texte erhebt. Dabei gilt es festzuhalten, dass auch in dieser Frage Unterschiede zwischen Wilhelm und Jacob bestehen. Beiden weitgehend gemeinsam ist in den frühen Jahren die Trennung zwischen einer auratischen, kollektiven Naturpoesie und einer modernen, individuellen Kunstpoesie. Dieses Modell legt ein historisches Gefälle zwischen Frühzeit und Moderne, an dem beide Grimms durch die Jahre hindurch festhalten. Wilhelm versucht dabei jedoch immer wieder, die Kunstpoesie ‚wohlwollender‘ ins Verhältnis zur Naturpoesie zu setzen. In seinem Aufsatz zur Entstehung der altdeutschen Poesie etwa räumt er ein, „Kunstpoesie, d. h. die mit Bewusstsein und Absicht gedichtete,“ sei „in ihrer Idee eben so vortrefflich, als Natur- oder Nationalpoesie“ (Entstehung, S. 114). Gleich darauf aber schränkt er ein: Dies gelte nur, insofern sie „echt“ sei, wenn also sich die „Indi-
Vgl. Jacob Grimm: [Rez. von] Hagen und Büsching (Hrsg.): Deutsche Gedichte des Mittelalters […]. In: Heidelberger Jahrbücher 2 (1809); zitiert nach: ders., Schriften, Bd. 4, S. 22– 52, hier S. 27 f.: „Die geschichte der alten poesie soll nichts anders vorhaben, als die verschiedene gestalt zu erläutern und zu beschreiben, worin die sage erschienen ist, und sie so weit als möglich auf ihren ursprung zurückzuführen. […] Es liegt uns viel weniger daran zu wissen, welcher sprache oder form etwa ein gedicht nachgebildet worden sei, welchen urheber es gehabt habe, in so fern dies nicht dazu beitragen musz, über alter und gestalt der sage selbst aufschlüsse zu verschaffen, sondern es kommt darauf an, entweder die ursprünglichkeit derselben oder ihre veränderung sammt dem verhältnis zum ursprung klar zu sondern.“
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vidualität des Dichters“ wieder auflöste und „gänzlich in derjenigen der Nation“ (ebd.) verlöre. Ist die Naturpoesie das selbstverständliche Medium der mündlichen Kulturen, so wird sie in der Moderne zumindest rar,¹⁵⁸ da diese vor allem Individualität aufzubieten hat. Dass ein neuer Dichter seine Individualität ganz „verliert“ (ebd.), hält Wilhelm Grimm zwar nicht für unmöglich. Aber er träte nur als inkommensurables Ereignis in den Horizont der Gegenwart: Das Nibelungenlied, so hält er etwa Hagens ‚Erneuung‘ von 1807 entgegen, könnte nur „im Geiste eines grossen Dichters wiedergeboren werden“. Wie dies aber geschehen möge, bleibt der Gegenwart unvorstellbar – man kann nur hoffen: „das ist aber eine Eigenschaft grosser Dichter, dass sie uns mit dem überraschen, was andern unerreichbar scheint.“¹⁵⁹ Dieses ‚überraschende‘ Ereignis selbst fördern zu wollen, wie etwa Schlegel oder Hagen, wäre verfehlt. Die Poesie ist mindestens selten geworden, auch wenn Wilhelm immer wieder betont, sie könne in der Welt ebenso wenig versiegen wie das Leben selbst. Zwar habe jede Zeit das Recht, sich auf ihre Weise auszudrücken; auf einer Höhe mit der alten Poesie stehe sie damit aber noch nicht. Selbst wenn ein großer Dichter käme, so heißt es weiter in der Entstehung, wäre damit noch nicht die Frage beantwortet, „ob die Poesie unserer Zeit besser sei, als jene“ alte (Entstehung, S. 114). Und in der Rezension von Arnims Gräfin Dolores würdigt Wilhelm den Roman auf ambivalente Weise: „In diesen Zeiten […] einer unendlichen Spaltung kann jede ausserordentliche einzelne Kraft sich kaum anders äussern, als so, dass sie den meisten Seltsamkeit ist“; sie werde „einsam stehend, festgedrängt nach einer Seite hin aufsteigen und ohne Mass sein.Wer will es aber dem Dichter verdenken, wenn er zu diesen Erscheinungen sich wendet, die immer eine lebendige Kraft voraussetzen, also poetisch sind, in dieser gar nicht poetisch reichen Zeit?“¹⁶⁰ Zwar drängt in Arnims Roman das Leben der Gegenwart zur Darstellung, aber es nimmt in der dürren Zeit bizarre Formen an. In einem Brief an Brentano schließlich wählt Wilhelm deutliche Worte zu dem Roman. Sein „Glaube[]“ sei es, daß die moderne Kunst niemals absolut vollkommen sein kann. Es wird immer an einer Stelle hapern und geflickt werden müssen, oder geleimt nach Göthes Ausdruck. Nur die Natio-
Vgl. Bosse 1978. Wilhelm Grimm, [Rez.] Hagen, alle Zitate S. 71 f. Wilhelm Grimm: [Rez. von] Achim von Arnim: Armut, Reichthum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores. In: Heidelbergische Jahrbücher der Literatur 3 (1810), H. 2; zitiert nach: ders., Schriften, Bd. 1, S. 289 – 297, hier S. 295. Den Briefwechsel der Grimms, Arnims und Brentanos zur Gräfin Dolores dokumentiert: Reinhold Steig: Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm. Stuttgart, Berlin 1904, S. 53 – 93. Auszüge in: Eberhard Lämmert u. a. (Hrsg.): Romantheorie. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland 1620 – 1880. Köln, Berlin 1971, S. 232– 241.
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naldichtung ist vollkommen, weil sie ebensowohl, wie die Gesetze auf dem Sinai, von Gott selber geschrieben ist: sie hat keine Stücke, wie ein Menschenwerk.¹⁶¹
Jacob dann wendet den Gegensatz von Natur- und Kunstpoesie noch weiter ins Prinzipielle. Deutlich wird dies in den Briefen, die 1810 und 1811 zwischen den Grimms, Arnim und Savigny gewechselt wurden. Die zu Recht berühmte Korrespondenz profiliert nicht nur das genannte Begriffspaar, sondern sie greift auch Grundprobleme der Übersetzungs-, Literatur- und Editionstheorie auf. Roland Reuß hat die Briefe daher kürzlich neu herausgegeben und ihren programmatischen Charakter für die moderne Philologie aktualisiert.¹⁶² Hier kann nicht die gesamte Diskussion der Briefpartner rekonstruiert werden. Wichtig ist, wie Jacob die Auffassung von Natur- und Kunstpoesie auf Arnims Anspruch als Gegenwartsdichter bezieht.¹⁶³ Seine Reflexionen setzen das fort, was oben entwickelt wurde. Die Kunstpoesie ist ihm das genaue Gegenbild der Naturpoesie. Der Unterschied entwickelt sich historisch: Naturpoesie ist die alte, notwendig entstandene und anonym überlieferte Dichtung, die durch die Differenzierung der Kultur seit dem hohen Mittelalter zunehmend unmöglich gemacht wurde; lediglich in Form von Liedern und Märchen lebt sie noch in der nun kulturell und politisch marginalisierten Bevölkerung, dem ‚Volk‘ im starken Sinne, weiter. Kunstpoesie dagegen bringen individuelle Dichter hervor. Kein Abdruck der Geschichte, wird sie vielmehr bewusst von Einzelnen ‚gemacht‘. Sie zeugt von deren Gefühlen, drückt deren Individualität aus, nicht mehr aber das Leben einer Gemeinschaft. Der Dichter reflektiert bewusst Traditionen, durch Kunstfertigkeit muss er erst einen Stil entwickeln. Die Naturpoesie steht einfach da, sie ist „unschuldig und weiß von nichts; sie will nicht lehren […] oder fühlen“.¹⁶⁴ Gerade deshalb freilich tut sie dies alles und noch viel mehr. Die Kunstpoesie dagegen muss die Dichtung bewussten Intentionen aussetzen. Der moderne Dichter ‚will‘ etwas, und sei es auch, dass er um die Wahrheit ‚ringt‘: „gewiß hat Luther nach Wahrheit gerungen im Glauben, wie Göthe nach der in der Dichtkunst und keiner von ihnen umsonst; aber dieses Bewußtseÿn und Ringen des Einzelnen kann nicht
Brief Wilhelms an Brentano, 15. Dez. 1810; gedruckt in: Steig 1904, S. 89 f. Vgl. die Einleitung in: Brüder Grimm (Hrsg. Reuß), S. 1– 23. Die Edition faksimiliert auch die Dokumente, allerdings ist die Transkription nicht fehlerfrei. Gute Deutungen der Korrespondenz unter diesem Gesichtspunkt bei: Bluhm 1997, S. 287– 300; Klausnitzer 2001, S. 528 – 532; Buschmeier 2008, S. 189 – 202; auch Martus 2009, S. 179 f. Vgl. bereits Oskar Walzel: Jenaer und Heidelberger Romantik über Natur- und Kunstpoesie. In: DVjs 14 (1936), S. 325 – 360. Brief von Jacob (und Wilhelm) Grimm an Arnim, 20. Mai 1811; Brüder Grimm (Hrsg. Reuß), S. 60.
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soviel seÿn, als die unbewußt dastehende Wahrheit“.¹⁶⁵ Die Auratisierung der Naturpoesie zu einer Dichtung ohne individuelle Produzenten erlaubt es Jacob, sie grundsätzlich gegen jede individuell zuschreibbare Autorschaft auszuspielen. Arnim ist damit, wenig verwunderlich, nicht einverstanden.¹⁶⁶ Er versteht genau, dass Grimms Konzeption „auch meine Beschäftigungen trifft“.¹⁶⁷ Daher argumentiert er von seinem Dichten her. Den radikalen, im Verlauf der Geschichte begründeten Gegensatz von Natur- und Kunstpoesie will er nicht gelten lassen. Außer im Moment der Schöpfung habe es immer schon Geschichte gegeben; ihr sei also auch die von Jacob so gefasste Naturpoesie unterworfen, die sich immer mit der Kunstpoesie vermische.¹⁶⁸ „Leere Künstlichkeiten“ und „Flickreime“ zeugten von der Unvollkommenheit auch Homers und des Nibelungenliedes. ¹⁶⁹ Arnim betrachtet jede Dichtung als Produkt von Individuen, auch wenn sich seine Hervorbringung kollektiv in einer noch nicht differenzierten Gemeinschaft vollziehe, als „Zusammendichten“ mehrerer von der Gemeinschaft „anerkannt[er]“ einzelner „Dichter“.¹⁷⁰ Arnim räumt dabei zwar ein, dass die Geschichte eine zunehmende Individualisierung zeitige, die auch an den Dichtern sichtbar werde. Aber dies führe nicht zu deren Entfremdung vom Volk. Denn auch in der Moderne rücke das „Ganze eines Volkes durch gewisse Zustände fort, die alle ergreifen“, also nicht minder die Dichter.¹⁷¹ Sie hätten daher ebenso einen Bezug zu diesem Ganzen – dem ‚Volksgeist‘ – wie die alten Sänger, die im „gemeinschaftlichen Sinne“ dichteten.¹⁷² Auch Arnim braucht diese metaphysische Konzeption, um seine Leistung zu plausibilisieren. Weil der Volksgeist wirksam ist, kann der moderne Dichter etwas produzieren, das von „allen begriffen“¹⁷³ wird. Die namenlose Überlieferung von Dichtungen deutet Arnim dabei als bloßes Rezeptionsphänomen, das auch zeitgenössisch noch gang und gäbe sei. Kritiker ausgenommen, mache sich niemand viel daraus, den Urheber eines Gedichtes zu
Ebd., S. 63. So auch Bluhm 1997, S. 288 f. Auch Tieck widerspricht; vgl. Hölter 1989, S. 239. Brief von Arnim an Jacob Grimm, 14. Juli 1811; Brüder Grimm (Hrsg. Reuß), S. 164; die Edition gibt fälschlicherweise Wilhelm als Adressaten an. Vgl. ebd., S. 160: „weil es keinen Moment ohne Geschichte giebt als den absolut ersten der Schöpfung, so ist keine absolute Naturpoesie vorhanden“. Ebd. Jacob hält die Flickreime, wenn Arnim solche finden sollte, für ein Verfallsmoment der überlieferten, ‚späten‘ Fassung: „hätten wir aber die Nibelungen aus dem zehnten oder elften Jahrhundert, so würde doch noch manches vortrefflicher seÿn“; Brief Jacob Grimms an Arnim, Juli 1811; Brüder Grimm (Hrsg. Reuß), S. 183 – 185. Ebd. Ebd., S. 163. Ebd., S. 160. Ebd., S. 163.
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kennen. Sein Name werde vergessen, das Lied aber gesungen. Als Beispiel führt er ein Gedicht an, das ihm bei der Sammlung für das Wunderhorn begegnet sei. Nachdem er es „in allen Dörfern auf hundert Meilen herum“¹⁷⁴ gehört habe, konnte erst der Verleger ihm sagen, dass es von Schubart stamme. Und das Reiterlied von Schiller werde allenthalben von den französischen Trompetern geblasen, obwohl ihnen ohne Frage der Dichter unbekannt sei. Sie glaubten wohl, „Gott habe es ihnen zum Trost in Spanien verliehen, wenn sie nichts zu fressen haben.“¹⁷⁵ Arnim stellt Jacob ein Konzept von Autorschaft entgegen, das auf einem unmittelbaren Bezug zum Volk insistiert – zumal dann, wenn der moderne Autor selbst sammelnd, pflegend und adaptierend die Volkstraditionen aufnimmt. Die Kommunikation mit dem Volk leide durch die Individualität und ‚Gelehrsamkeit‘ der Dichter keinen Abbruch.Wenige Tage nach der Schlacht von Jena etwa sei er im Braunschweigischen einem Bauern begegnet. Dieser habe ihm berichtet, wie der Herzog kurz vor dem Kampf einem unheimlichen Reiter begegnet sei, der, als er zum Gruß den Hut zog, einen Totenschädel sehen ließ. Arnim habe daraufhin ein Lied gemacht – „Das wäre dir Kunstpoesie“,¹⁷⁶ schreibt er an Jacob. Er selbst dagegen besteht darauf, dass er als moderner Dichter in der Lage sei, „ein Lied durch meinen Kopf zu führen, das ein Volk ergriffe“.¹⁷⁷ Arnim beansprucht, seine Individualität durchaus in den Dienst des Ganzen stellen zu können. Aber auch eine dezidiert individuelle Autorschaft sei legitim. Neben die Volkslieder setzt er andere Dichtungen, die „so in meiner eignen Natur bestimmt und empfunden [sind], daß sie von wenigen mitempfunden werden“¹⁷⁸ können. Sie ergriffen vielleicht nicht das Volk; ironischerweise aber entsprächen gerade sie der Grimmschen Naturpoesie darin, dass er in ihnen kein Metrum bewusst ‚gesucht‘ habe.¹⁷⁹
4 Philologische Praxis als moderne Autorschaft Der zeitgenössische Dichter also bemerkt durchaus das Spannungsverhältnis zu seiner Tätigkeit, wie es sich aus der philologisch-historischen Konzeption der Grimms ergibt. Es betrifft erstens die Möglichkeit einer zeitgenössischen Dichtung von mehr als bloß individuellem Wert. Zweitens besteht Arnim darauf, auch dem
Ebd. Ebd. Ebd., S. 176. Ebd., S. 163. Ebd., S. 164. Vgl. ebd.
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Dichter eine Zuständigkeit für die alten Überlieferungen zuzuweisen, wie er selbst sie mit dem Wunderhorn, der Zeitung für Einsiedler oder den zahlreichen, in die Gräfin Dolores verwobenen Texte übt. Teil der Aufgabe des modernen Dichters wäre es demnach, die Überlieferung zu sammeln und zu dokumentieren, sie übersetzend, bearbeitend und arrangierend in das eigene Œuvre zu überführen. Die spezifische Individualität des modernen Dichters würde zum Medium, durch das die Überlieferung neu verlebendigt und ‚ins Volk‘ gebracht werden könnte. Umgekehrt stünde auch die philologisch-historische Praxis der Grimms in einem Konkurrenzverhältnis zur zeitgenössischen Dichtung. Pointiert formuliert: Die Abwertung individueller Autorschaft ermöglicht es der Philologie, eine eigene, verschwiegene, aber irreduzible Form der Autorschaft innerhalb der literarischen Kultur zu behaupten. Die Entgegensetzung von Natur- und Kunstpoesie verschafft den philologisch-historischen Wissenschaftlern einen Freiraum gegenüber den Dichtern, in dem ihre eigene Tätigkeit einen irreduziblen Beitrag für die Gegenwart behaupten kann. Sie sind zuständig für die Poesie in einer Zeit, wo diese aufgrund der defizitären Individualität versiegt ist. Mittels Edition und Deutung erschließen sie die autorlose Poesie für die Gegenwart neu. Ohne sie und ihre Konstitutionstechniken wären diese Texte in ihrer authentischen, auratischen Gestalt verloren. Der ‚Dichter‘ ist dabei eine Kategorie, die an den Rand gedrängt wird. Denn die Poesie gehört nicht ihren Produzenten: „Man muß“, so Jacob, „auch fragen: wer es denn übernehme, die Poesie zu verwalten? wer sie gleichsam anzugreifen wage, weil sie doch da ist, und den Klang zu rühren, der in der Saite verborgen ruht? Die Poesie ist kein Eigenthum der Dichter, und das zu keiner Zeit weniger gewesen als in der epischen, da sie, ein Blut, den ganzen Leib des Volks durchdrungen.“¹⁸⁰ Bei Wilhelm nimmt dieser Gedanke die Form des hermeneutischen Besser-Verstehens an. Ein „organisches Kunstwerk“ lasse „verschiedene Auslegung“ zu „und richtige, die der Dichter gerade nicht vor Augen gehabt“.¹⁸¹ Der Sinn der Poesie liegt in den überindividuellen Strukturen. Daher richtet sich die philologische Tätigkeit der Grimms auf die kollektiven Momente, die in einer Dichtung zur Erscheinung kommen. Es gilt, durch die Texte hindurch in ein unmittelbares Verhältnis zu Mythos, Geschichte und zur Sprache als System zu treten, und zwar jeweils auf die älteste, am stärksten auratische Gestalt hin. Wie die Grimms selbst ihre philolo-
Jacob Grimm, Meistergesang, S. 7. Erläuternd setzt er hinzu, dass die naturpoetische Überlieferung keine Sage kenne von einem „durch Schlauheit entwundenen, von der stärkeren Kunst des Dichters aber wieder behaupteten Liedereigenthum“. Die Vorstellung, eine Dichtung gehöre ihrem Urheber, komme erst dort auf, wo individuelle, auf ihren Namen bedachte Dichter aufträten. Sie versuchten durch diesen Mythos ihr je individuelles Interesse zu sichern. Als Beispiele nennt er den „indischen Hofsänger“ Kalidasa, Vergil und den provenzalischen Dichter Arnaut Daniel. Wilhelm Grimm, [Rez.] Gräfin Dolores, S. 293.
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gische Autorschaft gestalten, soll an drei Beispielen aus ihrer philologisch-historischen Praxis gezeigt werden: (a.) der Edition von Dichtung, (b.) deren Kommentierung und Deutung und schließlich (c.) dem Umgang mit den Märchen.
a Edition Die vielfältigen editorischen Projekte der Grimms können hier nur gestreift werden. Die Edition hat für sie wie für die Zeitgenossen einen wichtigen Stellenwert. Durch sie werden die verschollenen Texte wieder verfügbar. Insofern eröffnet sie der gelehrten Moderne erst wieder den Zugang zu den Zeugnissen, in denen die Naturpoesie zur Erscheinung kommt. In den ersten Jahrzehnten ihres Wirkens vertreten beide Grimms die Auffassung, dass einzelne Textzeugen jeweils für sich abgedruckt werden sollen.¹⁸² Die Aufgabe einer Edition bestünde also nicht darin, aus verschiedenen Handschriften einen Text erst herzustellen, der dem Archetyp nahekäme. Im Gegenteil soll sie jedes historische Zeugnis in seiner Eigenheit präsentieren, wobei dies freilich die kritische Behandlung des Textes mit einschließt.¹⁸³ 1815, in der Edition von Hartmanns Armem Heinrich, betonen die Grimms das „individuelle Recht jeder alten Quelle“.¹⁸⁴ Von einer solchen adäquaten Edition hängt es ab, dass dem kundigen Leser die Aura des historischen Textes selbst entgegentreten kann. Diesen Grundgedanken setzen die Grimms schon 1812 in ihrer Ausgabe von Hildebrandslied und Wessobrunner Gebet um.¹⁸⁵ Sie bieten die Texte in vier Formen dar, die jeweils unterschiedliche Aspekte des Originals herauskehren und es so aus verschiedenen Perspektiven erschließen. Zunächst drucken sie den „Urkundliche[n] Text“¹⁸⁶ der Handschriften. Im Fall des Hildebrandslieds erscheinen hier die (z.T. altenglischen) Schriftzeichen und der Zeilenfall der Kasseler Handschrift, die das Gedicht nicht metrisch gliedert, sondern als Fließtext durchschreibt. Erst die „Wiederherstellung des Textes“¹⁸⁷ löst die Zeichen in das moderne Alphabet auf. Vor allem belegt sie eine These der Grimms, indem das In der Vorrede zur zweiten Auflage der Grammatik von 1822 ändert Jacob seine Position und schließt sich Lachmann an; vgl. Ginschel 1988, S. 210. Schreib- und Druckfehler etwa gilt es sehr wohl zu berichtigen; vgl. zu den Editionsprinzipien im Gegensatz zu denen Lachmanns: ebd., S. 173 – 193. Brüder Grimm (Hrsg.), Armer Heinrich, S. 145. Als Text drucken sie die Straßburger Handschrift, die Vatikanische wird in Form von Varianten dokumentiert. Die beiden ältesten deutschen Gedichte aus dem achten Jahrhundert: Das Lied von Hildebrand und Hadubrand und das Weißenbrunner Gebet zum erstenmal in ihrem Metrum dargestellt und herausgegeben durch die Brüder Grimm. Kassel 1812. Vgl. dazu Ginschel 1988, S. 45 f. Brüder Grimm (Hrsg.), Hildebrand, S. (1). Ebd., S. (3).
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Gedicht nun entsprechend seiner metrischen Ordnung abgedruckt wird. Hier bewährt sich ihre Beobachtung, dass der Text alliteriert, also eine stabgereimte Versstruktur besitzt, die älter und ursprünglicher sei als der Endreim.¹⁸⁸ Die Stabreime sind dabei im roten Druck hervorgehoben. Zwei Übersetzungen schließen die Edition ab: eine interlineare verdeutlicht die Wortstellung des Textes, eine prosaische „Umschreibung“¹⁸⁹ fasst seinen inhaltlichen Sinn. Es folgen grammatische Anmerkungen und Abhandlungen über den Reim, die Handschrift, den Zusammenhang des Gedichts mit dem Nibelungenlied und seine Transformationen in der späteren Tradition. Der Text erscheint an sein Schriftzeugnis gebunden. Erst von diesem ausgehend, ergibt sich seine intensive Bedeutung, die aber nur in verschiedenen Anläufen expliziert werden kann. Wilhelm Grimm ist in den folgenden Jahren besonders experimentierfreudig. 1828 gibt er die 1824 in Celle aufgefundenen Fragmente des Graf Rudolf heraus. Einzelne Manuskriptseiten waren in Einbänden anderer Bücher weiterverarbeitet worden. Der Druck trägt dieser spezifischen Überlieferungslage Rechnung. Er folgt dem Zeilenfall der Originale. An den Handschriften war durch Beschneidung Textverlust entstanden, der teils die Endreime der binnenreimenden Verse betraf, teils deren Anfang, mitunter aber auch ganze Zeilen am unteren Rand der Seiten. Wilhelm ergänzt die fehlenden Stellen durch Konjekturen, hebt diese aber durch Rotdruck hervor. Einige Emendationen, die er an der Handschrift anzubringen hat, vermerkt er im Vorwort; den edierten Text jedoch belässt er im Wortlaut der Handschriften. Zwei Jahre später publiziert er eine weitere Ausgabe des Hildebrandsliedes. ¹⁹⁰ Er zeichnet dazu die beiden überlieferten Blätter offenbar mittels eines Pauspapiers ab, wie es Botaniker zur Dokumentation von Pflanzen benutzten. Als Farblithographie lässt er diese Kopie drucken. Löcher im Pergament der Originalhandschrift werden dabei durch schraffierte Flächen markiert. Man könne sie, so schreibt Wilhelm, ausschneiden, um die Kopie vollkommen zu machen. Die
Jacob Grimm hatte zuerst in einem Aufsatz im Museum für altdeutsche Literatur und Kunst 2 (1811), S. 314, darauf hingewiesen (vgl. Ginschel 1988, S. 45). Früheren Interpreten war dies entgangen. Auf die Präsenz der Alliteration in der altnordischen und altsächsischen Dichtung war er durch Hagen aufmerksam geworden; vgl. den Brief Jacobs an Wilhelm, 4. Aug. 1809; Briefwechsel Jacob und Wilhelm (Hrsg. Rölleke), Bd. 1.1, S. 158. Wilhelm ist die Alliteration bereits bekannt, er hält sie aber vorerst noch für eine gelehrte Zutat der Skalden, den Endreim dagegen für ursprünglicher; vgl. Wilhelm an Jacob, 13. Aug. 1809; ebd., S. 161. Jacob insistiert und setzt sich schließlich durch. Brüder Grimm (Hrsg.), Hildebrand, S. (7). De Hildebrando antiquissimi carminis teutonici fragmentum edidit Guilelmus Grimm. Göttingen 1830.
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Aura des individuell überlieferten Textes drängt zum Faksimile, und sie stimuliert neue Techniken der adäquaten Reproduktion. Das Beharren auf der Individualität eines jeden Zeugnisses – nicht freilich seines Urhebers – setzt offenbar eigene Formen der Kreativität frei. Es bringt eine eigene Autorschaft hervor, die dem Historischen gerecht zu werden versucht, indem sie sich als dessen Medium versteht und inszeniert. Die Authentizität des Materials gilt es möglichst unverstellt weiterzugeben. Dann kann dieses Material durch Kommentare und weitere Hilfsmittel erschlossen werden, die vom Leser jedoch immer auf das Original zurückbezogen werden müssen. Die Edition bringt den modernen Betrachter in eine ähnliche Unmittelbarkeit zu den Zeugnissen, wie es die Naturpoesie als ‚Abdruck‘ ihrer Gehalte auszeichnet. Allerdings künden die edierten Dokumente selbst immer nur noch als Spuren von der lebendigen Poesie. Sie sind Sedimente dieser mündlichen Tradition, indem sie sie in der Schrift fixiert haben. Die einzelnen Textzeugnisse zeigen die spezifische Gestalt, die ein Werk zu einem bestimmten Zeitpunkt, durch die Arbeit eines oder mehrerer Diaskeuasten oder Schreiber angenommen hat. Das Begehren des Philologen aber reicht eigentlich hinter das reproduzierte Dokument zurück in den lebendigen Prozess der mündlichen Überlieferung bis an den Ursprung. Die Aura der diplomatischen Edition verweist auf etwas Verlorenes jenseits des Textes, den sie zu fassen bekommt. Hier wird eine paradoxe Figur deutlich; denn die konsequente historische Dokumentation dient dazu, sich selbst als Schwundstufe einer ursprünglichen Präsenz sichtbar zu machen. Sie bietet sich in höchster Authentizität zur Erkenntnis an, um zugunsten des ‚Älteren‘, Imaginären überwunden zu werden.
b Kommentar und Deutung Jacob Grimm formuliert in dem Briefwechsel mit Arnim,Wilhelm und Savigny eine Theorie des Textes, die sich von der seines Bruders unterscheidet. Dieser vertritt die Position, dass jedes Gedicht seine Form erst im jeweiligen Leser gewinne, sich also gleichsam durch die Rezeption immer neu aktualisiere. Für Jacob dagegen ist die Form jedes Textes ein historisch Gegebenes: Jedes Gedicht „wächst in einer gewissen Form auf, die deswegen für dasselbe individuell notwendig seyn muss, weil es ohne sie nicht lebendig geworden wäre, und bloßer Gedanke hätte bleiben müssen.“¹⁹¹ Form und Gehalt liegen hier im Zeugnis selbst. Sie konstituieren die Individualität eines Textes. Um diesen verstehen zu können, müssen sie bewahrt und erkannt werden. Der Text ist ein starker Gegenstand, auf dessen Spezifik und Fremdheit sich der Interpret mit höchster Umsicht und Kenntnis einlassen muss.
Jacob und Wilhelm Grimm an Arnim, 20. Mai 1811; Brüder Grimm (Hrsg. Reuß), S. 74.
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Trotz der Unterschiede in der Theorie entspricht auch Wilhelms Editionspraxis dem starken Verständnis von der Individualität jedes Zeugnisses. Beide Grimms finden auch zu einer einheitlichen Praxis der Kommentierung und Deutung von Texten. Dies zeigt sich etwa bei den Märchen und der gemeinsamen Edition des Armen Heinrich, aber auch in anderen kritischen Arbeiten dieser Jahre. Die Kommentare zu den Kinder- und Hausmärchen lassen erkennen, worauf sich das deutende Interesse der Grimms richtet. Denn entsprechend ihrer Auffassung, dass Märchen Zeugen einer urtümlichen mythischen Sicht seien, richten sich die Kommentare auf einzelne Momente und Motive. Die Grimms isolieren sie aus der Erzählung und ziehen Linien zu motivisch ähnlichen Passagen anderer Texte. Das Ziel ist, über den Vergleich unterschiedlicher Manifestationen eines Motivs seine Urform im Sinne des zugrundeliegenden Mythologems herauszuarbeiten. Konsequenterweise verweben die Kommentare der Kinder- und Hausmärchen diese mit den anderen naturpoetischen Überlieferungen. Immer wieder etwa bemühen sich die Grimms, Motive aus dem Nibelungenkreis in den Märchen zu identifizieren. Eine solche Koinzidenz bezeugt dann das Alter und die archaische Würde beider Texte, des Märchens wie des Nibelungenliedes. Die Bewegung der Deutung kann dabei unterschiedliche Formen annehmen. So vermag etwa eine Konstellation des Nibelungenliedes die ‚Bedeutung‘ eines Märchens zu erläutern. In Der König vom goldenen Berg ¹⁹² wird eine Prinzessin in eine Schlange verwandelt. Die Grimms interpretieren dies als Figuration der Kriemhild und der vom Drachen bewachten Jungfrau: „Die Königstochter, die er [der Jüngling des Märchens] befreit, ist nach der deutschen Sage Chrimhild auf dem Drachenstein, sonst aber, besonders nach der nordischen Sage, Brunhild […]. Der Drache, der sie gefangen hält, kommt darin vor, daß sie selbst in eine Schlange verwandelt worden.“¹⁹³ Die Verwandlung der Prinzessin in eine Schlange erscheint als Transformation des Mythologems der von einem Drachen geraubten Jungfrau. Beide Motive werden miteinander identifiziert. Dies erlaubt es, weitere Zusammenhänge zu entdecken. Der Jüngling gibt sich als Siegfried zu erkennen, da er „auf dem Wasser fortgetrieben“¹⁹⁴ wird; der Goldberg, den er gewinnt, „ist“¹⁹⁵ der Hort der Nibelungen. Selbst dass der Held aus Amsterdam stammt, verweist auf seine Identität mit Siegfried, ist doch dessen Vater „König in Niederlanden“.¹⁹⁶
KHM1, Bd. 2 (1815), S. 44– 53. Ebd., S. XII. Ebd. Ebd. Heinz Rölleke hat darauf hingewiesen, dass die Grimms in das Dornröschen aufgrund einer vergleichbaren Koinzidenz Details aus der Edda einbringen: ders.: Die Stellung des Dornröschen-
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Umgekehrt kann aber auch das Märchen ein Motiv in der anderen Überlieferung erhellen. Ein Beispiel findet sich ebenfalls in Der König vom goldenen Berg. Wird dort eine Erbschaft unter drei Riesen geteilt, so scheint darin die Teilung des Schatzes im Nibelungenlied auf. Da dies aber im Märchen ausführlicher auseinandergesetzt wird, dient es als „aufklärende“ Erläuterung für das „dunkle“ Geschehen im Epos.¹⁹⁷ Die Motive der unterschiedlichen Texte erhellen sich also wechselseitig in ihrem ‚ursprünglichen‘ mythischen und historischen Gehalt. Von dieser älteren, eigentlichen Bedeutung her erschließt sich dann wiederum die spezifische Tradierung und Aktualisierung der Mythologeme in dem jeweiligen Text. In ihm entsteht eine neue Kohärenz, die gerade nicht in seiner eigenen Erzählstruktur liegt, sondern in dem übergeordneten Mythos, von dem das Motiv ‚eigentlich‘ zeuge. Eine erste Summe dieses Deutungsinteresses zieht die ‚Sagenkonkordanz‘, die die Brüder Grimm im Zuge ihrer gemeinsamen Märchenarbeit erstellt haben. Sie isoliert systematisch Motive und Mythologeme, um sie quer zu den Texten untereinander zu verbinden. Auf einer Vielzahl von Zetteln und Karten verzeichnet sie Koinzidenzen von nahezu eintausend Motiven.¹⁹⁸ Die Autorposition ist in dieser Perspektive auf die Texte konsequent ausgeschaltet. Der Deutung geht es um die Identifikation von Mythologemen. Diese werden als dynamische Kerne aufgefasst, deren Fähigkeit, sich an neue Kontexte zu adaptieren, auf ihrer archaischen Aussagekraft und ihrer Lebendigkeit im Sinne der Volkspoesie beruhe. Eine intentionale Bearbeitung der Mythologeme durch einen ‚starken‘ Autor liefe Gefahr, sie perspektivisch und individuell zu brechen. Sie lieferte einen gebildeten Kommentar zu einer Tradition, stünde aber eigentlich selbst nicht mehr in ihr. Die Grimms halten ihre Perspektive auch dort durch, wo es um die Werke individueller Autoren geht. Der extensive Kommentar zu Hartmanns Armem Heinrich geht ähnlich vor wie der zu den Märchen. Hartmann lässt sich dabei als individueller Dichter nicht leugnen. Das Konzept einer anonymen Naturpoesie gerät hier in ein Spannungsverhältnis zur Frage nach kunstpoetischer Produktion. Die Interpretation der Grimms trägt es aus. Schon die Charakterisierung des Autors überrascht. Denn sie erklärt Hartmann zu einem der wenigen individuellen Autoren, denen eine der Naturpoesie analoge Produktion gelinge. Verantwortlich sei erstens seine zeitliche Nähe zur mündlichen Dichtung. Aber das Lob wird auch ästhetisch begründet, obwohl dies eigentlich die historische Konzeption der Grimms unterläuft: Die Einheit von Form Märchens (KHM 50) zum Mythos und zur Heldensage. In: ders.: Die Märchen der Brüder Grimm. Quellen und Studien. Gesammelte Aufsätze. Trier 2000, S. 157– 169, hier S. 167. Ebd., S. XIII. Vgl. oben, Anm. 127.
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und Inhalt gründe in naturpoetischer Einfachheit.¹⁹⁹ Die Erklärung dafür, dass ein einzelner Dichter so etwas hervorbringen könne, wird einem Bild aufgebürdet: Solche Einfachheit sei „nur den größten Dichtern aller Zeiten gegeben; mit ihren reinen Händen können sie (wie nach einer indischen Sage unschuldige Seelen) das Wasser zu Kugeln ballen, welches andere um es zu tragen in irdische Gefäße schütten müssen.“²⁰⁰ Die Allegorie entstammt der indischen Sagenüberlieferung, sie ist selbst mythisch. Sie stützt das Argument, aber nur, indem sie eine präzise ästhetisch-historische Begründung verweigert. Aber ihre eigentliche Absicherung erfährt die Wertung, indem Hartmanns Erzählung in eine naturpoetische Tradition zurückgebunden wird. Er habe seine Dichtung nicht erfunden, sondern „folgte“ einer „deutschen, bescheidenen einfachen Sage“.²⁰¹ Die Grimms greifen hier auf, was in der Erzählung selbst über den Verfasser berichtet wird;²⁰² die dort genannte Quelle ist allerdings bis heute nicht erschlossen worden. Während die Einleitung den Text so als Sonderfall markiert, wendet der Kommentar die skizzierte mythologische Deutungsmethode auf ihn an. Der Arme Heinrich wird in der charakteristischen Weise als Amalgam von historischen und mythischen Bestandteilen gedeutet: „So gründlich und menschlich diese Geschichte zusammenhält, daß man an ihrem wirklichen Ereigniß kaum zweifeln sollte, treten doch bei näherer Betrachtung sagenhafte Bestandtheile genug hervor.“²⁰³ Auf diese mythischen Elemente richten die Grimms ihre Aufmerksamkeit. Der Aussatz Heinrichs etwa oder seine Heilung durch Blut werden isoliert. Auf ihre mythische Tradition hin perspektiviert, zeigen sich hier wiederum alte, ursprüngliche Elemente der naturpoetischen Überlieferung. Die Aufopferung der Jungfrau beispielsweise wird an die „Sage“ der Blutsbrüderschaft zurückgebunden, da „der Mythus von dem sich aufopfernden Freund mit dem andern, wo sich Gemahlin für Gemahl hingiebt, in einer höheren Bedeutung völlig gleichsteht. Es
Hartmanns Erzählung sei uneingeschränkt poetisch, weil „die Erzählung durch weg so gründlich gehalten und geführt, und jedes Einzelne so musterhaft gefügt ist,wie sonst nirgends bei einem Meister der Zeit. Dadurch wird unsere Dichtung von der einseitigen Weise derselben, welche das frische Leben der Sage durch an sich noch so geschmückte Stellen und Gedanken unterbricht, erhoben und sie stellt die tugendhafte Handlung, die sie erzählt, zu einer so vollkommenen ungestörten Entwicklung anschaulich dar, daß ihr gar nichts fehlt, abgeht, noch überfließt und sie ein eben gestrichenes Maas von Rede und Sache zeigt.“ Brüder Grimm (Hrsg.), Armer Heinrich, S. 137. Ebd. Ebd. Hartmann nennt, nach dem Text der Grimms, „ein rede, die er geschriben vant.“ Ebd., S. 32 (V. 17). Ebd., S. 154.
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ist eine und dieselbe Treue, zu der sich Freund und Frau gelobt und verbunden haben und in dieser Hinsicht scheint die Bemerkung nicht unwichtig, daß die zu der Sage stets stimmende Sprache auch hier gleichen Schritt hält und für Freund wie für Gemahlin dieselben Wörter hat. Schon Frau und Freund sind wortlich nahe.“²⁰⁴ Der Text also ist in seinem Kern und von seiner eigentlichen Bedeutung her eine „uralte Opfersage“.²⁰⁵ Ihrem christlichen Gewand zum Trotz lässt sie sich über eine richtige Perspektivierung der Mythologeme auf ihre älteren Formen hin entschlüsseln. Nun, da die archaische Autorität der ‚Sage‘ dargetan ist, wird diese durch einen weiteren Beleg erhärtet. Denn auch durch den Namen „armer Heinrich“ lasse sich die „sagenmäßige Natur“ des Gedichtes „vollkommen darthun“.²⁰⁶ Eine etymologische Argumentation versucht nachzuweisen, dass „das Wort Heinrich […] einen viel allgemeineren mythischen Sinn gehabt zu haben“ scheint.²⁰⁷ Der Verweis auf den ‚eisernen Heinrich‘ des Märchens vom Froschkönig (KHM 1) sichert diesen Schluss ab.²⁰⁸ Die Deutung verfährt hier zirkulär. Einerseits darf der Name Heinrich erst durch die vorhergehende Anbindung der Motive an die ‚uralte Sage‘ gleichfalls seinen archaischen Sinn preisgeben. Denn freilich macht nicht jede literarische Verwendung des Namens ‚Heinrich‘ die erzählte Geschichte zu einer alten Sage. Andererseits belegt er wiederum das Alter der Motive in Hartmanns Erzählung. Die Grimms isolieren die traditionellen, ‚anonymen‘ Bestandteile des individuellen Textes, um von diesen her seinen ‚eigentlichen‘ Sinn zu erschließen. Das Wissen um diesen Sinn aber entzieht sich der Intention des Autors. Die Deutung ist klüger als der Urheber des Textes, dessen individuelle Autorschaft durch die Interpretation sukzessive negiert wird. Zugespitzt wird diese Hegemonie des Philologen über den Sinn des Textes in einer kurzen Deutung Shakespeares: Die „Sage vom Kaufmann von Venedig“ finde „ihren Grund“ in dem Mythologem der Heilung durch Blut. Der „alte Jude“ beanspruche in der mythischen Wirklichkeit des Textes nicht das Fleisch Antonios, sondern er wolle „eigentlich Herzblut kaufen“. Shakespeare selbst sei sich über diesen eigentlichen Sinn des von ihm gestalteten Motives nicht im Klaren; denn er „erklärt es“ in seinem Drama abweichend und durchaus unrichtig „aus angeborner Bosheit und Christenhaß.“²⁰⁹
Ebd., S. 197. Ebd., S. 205. Ebd., S. 208. Ebd., S. 213. Vgl. dazu weiter unten. Alle Zitate ebd., S. 174.
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
c Märchen Die Philologen sehen tiefer in den Sinn der Texte als die Dichter oder auch die jeweiligen Texte selbst.Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt dahin, dass sie ihr Wissen ihrerseits in einer verschwiegenen Form von Autorschaft gestalten. Auch diese Konsequenz haben die Grimms gezogen. Die Rede ist von den Märchen. Vor allem Heinz Rölleke hat sie in den letzten Jahrzehnten philologisch erschlossen.²¹⁰ Viel entschiedener als die vorherige Märchenforschung hat er sie als Werk der Grimms sichtbar gemacht und philologisch ernst genommen. Seiner These, dass die Grimms mit ihrer Sammlung selbst erst das ‚Volksmärchen‘ als Gattung geprägt haben, kann kaum widersprochen werden. Durch sukzessive Bearbeitung entwickelte sich jener kohärente und charakteristische Stil, der als typischer, scheinbar authentischer Märchenton seinen weitreichenden kulturgeschichtlichen Einfluss bis heute nicht verloren hat. Die Konstitution der ‚Gattung Grimm‘ vollzog sich nach Rölleke endgültig in den Überarbeitungen der zweiten Auflage, die 1819 in zwei Bänden erschien.²¹¹ Freilich ist die Textgeschichte der Märchen, wie Rölleke ebenfalls betont, von Beginn an ‚im Fluss‘. Für einige Texte der Erstausgabe von 1812 (Band 1) und 1815 (Band 2) werteten die Grimms schriftliche Quellen aus; der Vergleich zeugt hier von deutlichen Eingriffen.²¹² In anderen Fällen lassen sich die bedeutenden Veränderungen aufgrund einer früheren, handschriftlichen Sammlung ermessen. Die sogenannte ‚Urfassung‘ bietet Notate beider Brüder, die neben Stoffen aus gedruckten Quellen auch Märchenerzählungen ihrer ersten mündlichen Gewährleute festhalten: vor allem der Hassenpflugs und der Wilds, beides Familien aus dem gehobenen Kasseler Bürgertum.²¹³ Das Manuskript blieb erhalten, weil
Rölleke hat nicht zuletzt auch die verschiedenen Auflagen und Textstufen der KHM durch zahlreiche Editionen erst verfügbar gemacht und so das Fundament für jede weitere Forschung gelegt. Die einzelnen Ausgaben werden im Folgenden an ihrem jeweiligen Ort zitiert. Vgl. Heinz Rölleke: Zur Biographie der Grimmschen Märchen. Mit besonderer Berücksichtigung der Ausgabe von 1819. In: Märchen der Brüder Grimm. Nach der zweiten vermehrten und verbesserten Auflage von 1819, textkritisch revidiert und mit einer Biographie der Grimmschen Märchen versehen. Hrsg. von Heinz Rölleke. 2 Bde. Reinbek bei Hamburg 1993 (zuerst München 1982), Bd. 2, S. 636 – 704, hier S. 686 und pass. Nach dieser Neuedition erfolgen Zitate aus der zweiten Auflage der KHM (Kinder- und Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm. Zweite vermehrte und verbesserte Auflage. 2 Bde. Berlin 1819). Vgl. die synoptische Darstellung bei: Heinz Rölleke (Hrsg.): Grimms Märchen und ihre Quellen. Die literarischen Vorlagen der Grimmschen Märchen. Trier 1998. Vgl. Rölleke 2004, S. 76 – 79. Über die unterschiedlichen Erzähler der Märchen vgl. ders.: Von Menschen, denen wir Grimms Märchen verdanken. In: ders. 2000, S. 23 – 36.
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die Grimms es 1810 an Brentano schickten. Sie behielten – und zerstörten – eine Abschrift, das Original kam aber nie an sie zurück.²¹⁴ Dass die Märchen sich nicht erst zu einem späteren Zeitpunkt zu verändern beginnen, ist bedeutsam, um die Arbeit beider Brüder einzuschätzen. Denn während die Sammlung bis zum Druck der Erstausgabe ein gemeinsames Projekt von Wilhelm und Jacob war, übernahm von der zweiten Auflage an Wilhelm nahezu allein die Gestaltung der Texte. Die weiterhin bedeutenden Veränderungen von der dritten Auflage 1837 bis zur siebten von 1857 sind sein Werk. In der Forschung wurde dies gerne auf jene gegensätzlichen Textbegriffe der beiden Brüder zurückgeführt, die oben skizziert wurden: Der streng historische Jacob habe sich aus der transformierenden Arbeit des weniger ‚rigiden‘ Wilhelm herausgenommen. Ohne Frage kann festgehalten werden, dass von der zweiten Auflage an neben dem philologischen Zweck verstärkt auch Rücksichten auf das Publikum die Bearbeitungen Wilhelms prägen.²¹⁵ Aber nicht nur hat sich Jacob Grimm niemals von der Arbeit des Bruders distanziert; sondern die ‚Urfassung‘ und die Erstausgabe belegen, wie sich auch Jacob entscheidend an der Konstitution der Märchen beteiligt hat. Seine Eingriffe unterscheiden sich nicht von denen Wilhelms. Neben Heinz Rölleke²¹⁶ hat vor allem Gunhild Ginschel nachdrücklich die einheitlichen Tendenzen der beiden Grimms herausgearbeitet.²¹⁷
Es wurde 1926 in Brentanos Nachlass entdeckt. Vgl. zur ‚Urfassung‘ überblicksweise Rölleke 2004, S. 79 – 81. Heinz Rölleke hat die ‚Urfassung‘ herausgegeben: ders. (Hrsg.): Die älteste Märchensammlung der Brüder Grimm. Synopse der handschriftlichen Urfassung von 1810 und der Erstdrucke von 1812. Cologny-Genève 1975. Eine populäre Ausgabe ist bei Reclam erschienen: Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Die handschriftliche Urfassung von 1810. Stuttgart 2007. Die philologische Intention geriet in eine Spannung zur pädagogischen; vgl. etwa den Brief Wilhelms an Savigny vom 12. Dez. 1814, zitiert und interpretiert bei Rölleke 1993, S. 659 f. Wilhelm versuchte, beide Ansprüche zu verbinden; dies zeigt sich auch daran, dass die Kommentare zu den Märchen in der zweiten Auflage bedeutend anwuchsen, nun aber in einen eigenen, dritten Band ausgelagert wurden, der zum ersten Mal 1822 erschien; er erlebte erst 1856 eine zweite Auflage. Die Einzelanmerkungen zu den Märchen von 1822 (nicht aber der gesamte Anmerkungsband) sind ediert in KHM 3. Die zweite Auflage liegt im Faksimile vor: Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen. Hrsg. von Heinz Rölleke. 3 Bde. Stuttgart 1980, Bd. 3. Vgl. etwa Rölleke 1993, S. 662– 667. Vgl. Ginschel 1988, S. 212– 278; und ihren Aufsatz: Der Märchenstil Jacob Grimms, ebd. S. 421– 466. Siehe auch den Abschnitt in: Hans-Jörg Uther: Handbuch zu den Kinder-und Hausmärchen der Brüder Grimm. Entstehung – Wirkung – Interpretation. Berlin, New York 2008, S. 504– 512.
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
Die Bearbeitungen stehen nicht nur in einem Spannungsverhältnis zu jenem editorischen Credo des diplomatischen Abdrucks, dem Wilhelm sogar länger als Jacob folgte. Sie widersprechen auch der Vorrede zur ersten Ausgabe der Märchen. Während Wilhelm in den folgenden Auflagen Veränderungen einräumt,²¹⁸ sprechen die Grimms 1812 noch von einem adäquaten und treuen Druck der meist mündlich gelieferten Fassungen: Sie hätten sich „bemüht, diese Märchen so rein als möglich war aufzufassen […]. Kein Umstand ist hinzugedichtet oder verschönert und abgeändert worden, denn wir hätten uns gescheut, in sich selbst so reiche Sagen mit ihrer eigenen Analogie oder Reminiscenz zu vergrößern, sie sind unerfindlich.“²¹⁹ Die Diskrepanz zwischen den programmatischen Äußerungen der Grimms und ihrer Praxis lässt sich nicht vollständig auflösen. Damit, diesen Widerspruch zu konstatieren, ist es jedoch nicht getan. Denn die Art und Weise, wie er sich äußert, beleuchtet wiederum die Vorstellung, die die Grimms von den philologisch-historischen Wissenschaften und ihrer Stellung zur Dichtung hatten. Die Bearbeitung ist planvoll, und manche ihrer Tendenzen stehen in Verbindung mit den Begriffen von Poesie, wie sie oben entwickelt worden sind. Die KHM lassen sich, wie Jens E. Sennewald gezeigt hat, als Ausdruck einer ‚Poetik‘ der Brüder Grimm lesen; die Vorstellung von einer Naturpoesie wäre eines ihrer zentralen Momente.²²⁰ Die Grimms bringen sich zwar einigermaßen verschwiegen in die Texte ein, aber ihre Praxis erfährt im Lichte ihres Poesiebegriffs eine gewisse Legitimation – wobei im Folgenden vor allem von der Erstauflage der KHM ausgegangen werden soll. Die Gestaltung der Märchen folgt hier nicht zuerst ästhetischen oder pädagogischen Kriterien, sondern philologischen. Gerade dass diese Philologie Teil der ‚Poetik‘ (Sennewald) der Märchen wird, ist aufschlussreich für das Spannungsverhältnis, in dem die Grimms zur zeitgenössischen Dichtung stehen. Die verschiedenen Tendenzen der Bearbeitung können hier nur exemplarisch angedeutet werden.²²¹ Aufschlussreich ist beispielsweise Der Froschkönig oder der Vgl. etwa KHM3 (1837),Vorrede, S. 18: „Was die Weise betrifft, in der wir gesammelt haben, so ist es uns zuerst auf Treue und Wahrheit angekommen. Wir haben nämlich aus eigenen Mitteln nichts hinzugesetzt, keinen Umstand und Zug der Sage selbst verschönert, sondern ihren Inhalt so wiedergegeben, wie wir ihn empfangen; daß der Ausdruck großentheils von uns herrührt, versteht sich von selbst“. Auch hier betont Wilhelm die Authentizität der Märchen, die für ihn auf dem „Inhalt“ basiert; der „Ausdruck“ erscheint demgegenüber sekundär und durchaus veränderbar – wenn er nur seinerseits mit philologischem „Takt“ (ebd.) vorgenommen wird. KHM1 (1812), Bd. 1, S. XVIII. Vgl. Jens A. Sennewald: Das Buch, das wir sind. Zur Poetik der Kinder- und Hausmärchen, gesammelt durch die Brüder Grimm. Würzburg 2004. Vgl. Ginschel 1988, S. 216 f.
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eiserne Heinrich. Die Textkonstitution und die Veränderungen gehen offenbar durchgehend auf Wilhelm Grimm zurück; den Eintragungen in das Handexemplar der Erstauflage nach zu urteilen, war es Jacob, der sich um den Kommentar kümmerte.²²² Beide – Texterstellung und philologische Erschließung – gehen aber Hand in Hand. Der Froschkönig hat eine besondere Funktion: Er eröffnet die KHM und besitzt gleichsam programmatischen Wert.²²³ Die ‚Urfassung‘ beruht dabei auf einem mündlichen Bericht, der wohl auf die Kasseler Familie Wild zurückgeht;²²⁴ Wilhelm hat ihn niedergeschrieben. Allerdings enthält die Grundschicht des Manuskriptes bereits Verse, die Jacob vorher auf einem separaten Zettel notiert hatte. Deren fast buchstäbliche Entsprechung mit Wilhelms ‚Urfassung‘ legt nahe, dass sein Text kein ‚Hörprotokoll‘ darstellt, sondern nachträglich entstanden ist.²²⁵ Der Vergleich mit der ersten Auflage belegt die erzählerische Funktion, die die Veränderungen mitunter haben. Sie betreffen zum Teil Ökonomie, Gestalt und Stil des Erzählten. Die ‚Urfassung‘ ist erzählerisch sehr einfach gehalten. Sie steigt unmittelbar in die Handlung ein: Die jüngste Tochter des Königs ging hinaus in den Wald, und setzte sich an einen kühlen Brunnen. Darauf nahm sie eine goldene Kugel und spielte damit, als diese plötzlich in den Brunnen hinabrollte.²²⁶
KHM1 lautet abweichend: Es war einmal eine Königstocher, die ging hinaus in den Wald und setzte sich an einen kühlen Brunnen. Sie hatte eine goldene Kugel, die war ihr liebstes Spielwerk, die warf sie in die Höhe und fing sie wieder in der Luft und hatte ihre Lust daran. Einmal war die Kugel gar hoch geflogen, sie hatte die Hand schon ausgestreckt und die Finger gekrümmt, um sie wieder zufangen, da schlug sie neben vorbei auf die Erde, rollte und rollte und geradezu in das Wasser hinein.²²⁷
Vgl. die Zuordnung der Handschriften im Handexemplar von KHM1, Bd. 3 (Ergänzungsheft), S. 11 und S. 37 f. Vgl. Rölleke 1993, S. 694. Die folgende Deutung basiert an vielen Stellen auf der philologischen Erschließung und Kommentierung durch Heinz Rölleke,versucht aber doch, eigene Akzente zu setzen. So vermutet Rölleke, in: Brüder Grimm, Älteste Märchensammlung, S. 365. So überzeugend Rölleke, ebd., S. 365 f.; er beschreibt hier den Zettel Jacob Grimms.Vgl. zu den Versen und ihrer Herkunft weiter unten, S. 292. Brüder Grimm, Älteste Märchensammlung, S. 144. KHM1, Bd. 1, S. 1.
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
Zunächst fügt die Druckfassung die topisch gewordene Klausel „Es war einmal“ hinzu. Sie gestaltet die Handlung dann weiter aus, indem sie sie an verschiedenen Stellen präzisiert. Das Geschehen wird auch emotional erschlossen: Die Königstochter hat „Lust“ an ihrem Tun, die Kugel ist „ihr liebstes Spielwerk“. Dieser Zug motiviert gleichzeitig, dass das Mädchen die Kugel überhaupt bei sich hat. Das Werfen und Fangen wird durch die Nennung der gekrümmten Finger auf eine fast groteske Weise detailliert geschildert. Auch die zeitliche Logik des Geschehens fasst die Erstauflage gegenüber der ‚Urfassung‘ präziser. Das Spielen bildet hier ein iteratives Moment; in Gang kommt das eigentliche Geschehen erst, als „einmal“ etwas vom Gewohnten und Gewünschten abweicht und das Mädchen die Kugel verfehlt. Die ‚Urfassung‘ dagegen deutet die Iteration nur in dem Verb „spielte“ an; das logisch widersprüchliche temporale „als“ lässt dabei offen, wie sich das „plötzlich“ eintretende, einmalige Ereignis zu dem wiederholten Geschehen verhält. Der publizierte Text legt die Vorgänge auseinander, indem er eine zeitliche Logik in sie einführt, die vorher nur angedeutet war. Die folgenden Auflagen von 1819 und 1837, die den Text auch in anderen Punkten fundamental verändern, stärken diese Scheidung sukzessive. 1819 wird aus dem „Einmal“ ein „Es geschah aber“.²²⁸ KHM 3 trennt iteratives und einmaliges Geschehen dann in zwei Absätze.²²⁹ Der erste berichtet, wie die Königstochter an heißen Tagen vorzugsweise an den Brunnen geht und spielt. Das
KHM2, Bd. 1, S. 9. Es kann nicht auf alle Unterschiede eingegangen werden, da es hier vor allem auf das Verhältnis von ‚Urfassung‘ und KHM1 ankommt; immerhin sei die Passage vollständig zitiert: „Es war einmal eine Königstochter, die wußte nicht was sie anfangen sollte vor langer Weile. Da nahm sie eine goldene Kugel, womit sie schon oft gespielt hatte und ging hinaus in den Wald. Mitten in dem Wald aber war ein reiner, kühler Brunnen, dabei setzte sie sich nieder,warf die Kugel in die Höhe, fing sie wieder und das war ihr so ein Spielwerk. Es geschah aber, als die Kugel einmal recht hoch geflogen war und die Königstochter schon den Arm in die Höhe hielt und die Fingerchen streckte, um sie zu fangen, daß sie neben vorbei auf die Erde schlug und gerade zu ins Wasser hinein rollte.“ KHM3, S. 23: „In alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle schön, aber die jüngste war so schön, daß sich die Sonne selber, die doch so vieles gesehen hat, darüber verwunderte so oft sie ihr ins Gesicht schien. Nahe bei dem Schlosse des Königs lag ein großer dunkler Wald, und in dem Walde unter einer alten Linde war ein Brunnen: wenn nun der Tag recht heiß war, so ging das Königskind hinaus in den Wald, und setzte sich an den Rand des kühlen Brunnens, und wenn sie Langeweile hatte, so nahm sie eine goldene Kugel, warf sie in die Höhe und fing sie wieder; und das war ihr liebstes Spielwerk. Nun trug es sich einmal zu, daß die goldene Kugel der Königstochter nicht in das Händchen fiel, das sie ausgestreckt hatte, sondern neben vorbei auf die Erde schlug und geradezu ins Wasser hinein rollte.“
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in der Urfassung rudimentäre und nur im Bericht der Handlung angedeutete ‚setting‘ aus Wald und Brunnen ist hier nun einer idealtypischen Topographie aus Schloss,Wald und Brunnen gewichen, in der sich die iterative Handlung vollzieht. Erst der zweite Absatz wendet sich zum abweichenden, einmaligen Geschehen: „Nun trug es sich einmal zu […]“. Deutlich wird in den verschiedenen Fassungen sukzessive ein Grundmoment von Erzählen überhaupt ausgestaltet: Erzählenswert ist schließlich nicht die wiederholte Alltäglichkeit, sondern das Neue, das die Gewohnheit unterbricht. Die Grundhandlung der ‚Urfassung‘ wird also ausgestaltet, ohne dass in der Handlungsstruktur selbst Änderungen angebracht werden. Deutet man, wie die Grimms, diese Handlung als Ausdruck auratischer, mythischer Elemente, so könnten die Hinzufügungen als Ausfaltungen von Momenten erscheinen, die in diesen Mythologemen selbst bereits impliziert sind. Dies beschränkt sich nicht auf Personal und Handlung; auch beschreibende Adjektive, die in der ‚Urfassung‘ die Atmosphäre markieren, werden unmittelbar in die folgenden Texte übernommen: die Kugel bleibt ‚golden‘, der Brunnen ist weiterhin ‚kühl‘ – eine Eigenschaft, die in KHM 3 sogar in weitere atmosphärische Momente und in eine Motivierungsstruktur ausgefaltet wird: Die Königstocher sucht die Kühlung des Brunnens nun üblicherweise an heißen Tagen. Auffällig ist auch die Veränderung des Stils, etwa die Reihung von Hauptsätzen²³⁰ durch Kommata und Konjunktionen oder die Wiederholung des Verbs „rollte“ in KHM1, die später wieder gestrichen wird. Der Ton simuliert eine Naivität, die sich im Ausgangstext anders zeigt, nämlich durch die knappe Erzählweise. Auch die auf diese Weise ‚explizierte‘ Naivität von KHM1 ließe sich so vielleicht als Entfaltung von etwas deuten, das der Ursprungstext gleichsam nur implicite enthielte. Freilich gälte es bei einer solchen Deutung zu beachten, dass die konkrete Ausgestaltung der mündlichen Erzählung, wie sie der ‚Urfassung‘ zugrundelag, nicht überliefert ist. Möglicherweise simuliert Wilhelm in KHM1 einen Erzählstil, wie er ihn mündlich bei einer seiner Erzählerinnen beobachten konnte. In jedem Fall erscheint den Grimms nicht die tatsächliche, individuell geprägte Erzählung durch eine Erzählerin dokumentierenswert; vielmehr aktualisierten sie selbst erst das Potential, das in der Logik einzelner Erzählmomente
Im Handexemplar des Erstdrucks verändern die Grimms „die warf sie in die Höhe“ in „sie warf sie in die Höhe“; sie achten darauf, einem ‚einfachen‘ Hauptsatz den Vorzug zu geben vor einem Relativsatz, der durch den Rückbezug auf das weit zurück liegende Satzsubjekt grammatisch komplexer ist (vgl. KHM1, Bd. 1, S. 1). Möglicherweise machen die Grimms eine der unautorisierten Veränderungen rückgängig, die durch den Verleger Reimer bzw. den Satz in das Manuskript gekommen waren; vgl. im Falle von Machandelboom: Rölleke in: Brüder Grimm, Älteste Märchensammlung, S. 364.
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
verborgen liegt: Die ‚goldene‘ Kugel deutet den Wert an, den der Gegenstand für die Königstocher hat – also kann er ausgestaltet werden; die Unterbrechung eines alltäglichen Geschehens fordert die Sonderung von iterativem und einmaligen Momenten; der ‚kühle‘ Brunnen deutet auf einen ‚heißen‘ Tag. Die Veränderungen entfalten an solchen Stellen Momente der Erzählung, die auf ältere, abgeschliffene und verlorene Elemente hin deuten. Sie restituieren gleichsam ältere Kerne, die die gegenwärtige Erzählung, ihrer unbewusst, noch mit sich führt. Diese Interpretation darf ihre hypothetische Natur nicht ableugnen. An anderen Stellen des Froschkönigs aber zeigt sich eine Logik der Bearbeitung, die diese Tendenz belegen kann. Ein kleineres Beispiel bietet etwa der Brunnen, in den die goldene Kugel fällt. Die ‚Urfassung‘ charakterisiert ihn indirekt: Die Prinzessin sieht, wie ihr Spielzeug „in die Tiefe fiel“. Das Motiv des Brunnens gehört dabei zu den Elementen des Märchens, die den Grimms im Kommentar der Erstausgabe deutenswert erscheinen. Anlass sind alte schottische Überlieferungen des Froschmärchens, von denen sie durch John Leydens Edition des Complaynt of Scotland von 1801 erfahren haben. Ein Mädchen wird dort von ihrer Stiefmutter an den „well of the world’s end“ geschickt, wo ihr der Frosch entgegentritt.²³¹ Diesen Brunnen identifizieren die Grimms als Mythologem des „Weltbrunnen[s]“, das „recht gut in verschiedene Sagen eingreifen kann“.²³² Die mythische Vertiefung des Brunnens wird auch im Text umgesetzt. Der Drucktext von KHM1 lautet nun: „der Brunnen war aber so tief, daß kein Grund zu sehen war“.²³³ Die Veränderungen kehren aber noch an anderen Stellen die (vermutete) mythologische Dimension des Märchens hervor. Wilhelm hat die ‚Urfassung‘ mit dem Titel „die Königstochter vnd der verzauberte Prinz“ versehen.²³⁴ Der prägnante Titel in KHM stammt also offenbar nicht von der ursprünglichen Erzählerin. Ob sie der Erzählung jenen anderen, recht unspezifischen Namen gegeben hat oder ob dieser von Wilhelm in seiner nachträglichen Niederschrift ergänzt wurde, muss dabei offen bleiben. Erst Jacob notiert nachträglich auf dem Manuskript den Begriff „Froschkönig“.²³⁵ Diesen neuen Titel bezieht er aus einer zweiten Quelle.²³⁶ Er stammt aus
John Leyden: Preliminary Dissertation. In: The Complaynt of Scotland written in 1548.With a Preliminary Dissertation and Glossary. [Hrsg. von dems.]. Edinburgh 1801, S. 234 f.; die Stelle wird ausführlich zitiert in KHM1, Bd. 1, S. IIIf. KHM1, Bd. 1, S. III. KHM1 Bd. 1, S. 1. Vgl. Druck und Beschreibung des Manuskriptes von Rölleke in: Brüder Grimm, Älteste Märchensammlung, S. 144. Vgl. ebd., S. 144; dass Jacob einen anderen Titel nachtrug, kam gelegentlich vor.
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Georg Rollenhagens Froschmeuseler. Die Adaption der Pseudo-Homerischen Batrachomyomachia eröffnet, entsprechend der späthellenistischen Vorlage, mit der „Ersten Kuntschafft des Meusekönigs Sohns Bröseldiebes / mit dem Froschkönige Baußbacken“, wie die Überschrift des ersten Teils lautet.²³⁷ Die Begegnung der beiden Könige geht dem Krieg ihrer Völker voraus; mit der Handlung des Märchens hat sie nichts zu tun. Die Legitimation, den Begriff zu übertragen, liegt offenbar in einer Koinzidenz. Denn Rollenhagen bezieht sich in der Vorrede zu seinem Epos auf die „wunderbarlichen Hausmehrlein“, die „ohne schrifft jmmer mündlich auff die nachkommen geerbet werden“.²³⁸ Unter ihnen nennt er nun zwar keinen ‚Froschkönig‘, wohl aber führt er einen „Eisern Heinrich“²³⁹ auf. Neben vielen anderen Belegen aus der Überlieferung sollen die Märchen zeigen, dass die Erfindung von „Fabulen“ zur Weckung von „Gottesfurcht / fleiß in sachen / Demut / Gedult / vnd gute[r] hoffnung“ legitim sei.²⁴⁰ Offenbar vermutet Jacob in Rollenhagens Nennung des ‚Froschkönigs‘ eine zweite Spur jenes ‚Hausmehrleins‘, das in der Vorrede genannt wird, nur eben unter dem anderen Namen. Die Koinzidenz beider Motive veranlasst ihn, so darf man annehmen, den Begriff des Froschkönigs aus dem Froschmeuseler auf das Märchen zu übertragen – obwohl er freilich die Abhängigkeit von der Pseudo-Homerischen Quelle kennt. Im Märchen selbst erscheint die Handlung von Königstochter und Prinz nur schwach verbunden mit der Gestalt des Heinrich. Freilich, es ist der Diener, der den
Vgl. zum Folgenden auch Röllekes Deutung in: Brüder Grimm, Älteste Märchensammlung, S. 365 f. Georg Rollenhagen: Froschmeuseler. Hrsg. von Dietmar Peil. Frankfurt am Main 1989, S. 43. Rollenhagen, Froschmeuseler, S. 22. Ebd. Ebd. Dabei kann nicht entschieden werden, ob Rollenhagen die Märchen nennt,weil in ihnen „von verwandlung der Menschen / in mancherley Thier / Beume vnd andere dinge“ die Rede ist oder weil sie grundsätzlich Geschichten erzählen, um „etwas nützlichs [zu] lehren“. Die Nennung der Märchen steht an der Stelle, wo Rollenhagens Argumentation von einer Verteidigung der Tierfabel zu einer von Dichtung allgemein übergeht. Vorher bringt er spezifische Belege für Verwandlungen bei, während er sich danach auf die Aufgabe von Erdichtungen richtet, nützliche Sachen in einer angenehmen Form vorzutragen. Die Stelle ließe sich als Hinweis interpretieren, dass in den genannten Märchen („von dem verachten fromen Aschenpössel / vnd seinen stoltzen spöttischen Brüdern. Vom albern vnd faulen Heintzen / vom Eisern Heinrich / von der alten Neydhartin“; ebd.) in Tiere verwandelte Menschen vorkommen; sie ließe sich aber auch so deuten, dass sie durch erfundene Geschichten allgemein „Gottesfurcht / fleiß in sachen / Demut / Gedult / vnd gute hoffnung lehren“ (ebd.). Freilich muss außerdem offen bleiben, welche Gestalt der Märchen Rollenhagen jeweils im Sinn hatte. Wenn es sich bei dem „Eisern Heinrich“ um eine Variante des ‚Froschkönigs‘ gehandelt haben sollte, wie er uns durch die Grimms bekannt ist, so wäre es freilich ungewöhnlich, das gesamte Märchen von der Randfigur des Dieners her zu benennen.
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
Wagen beibringt, damit sich das glückliche Paar vom väterlichen Schloss entfernen kann. Aber seine Erleichterung über die Rückverwandlung des Prinzen steht außerhalb des Kerngeschehens. Die spätere Märchenforschung hat aus diesem und anderen Gründen mitunter die Zusammenstellung von ‚Froschkönig‘ und ‚Heinrich‘ als Verbindung zweier unterschiedlicher Stoffe gedeutet.²⁴¹ Aus der Manuskriptlage bei den Grimms heraus gibt es jedoch keinen Grund, anzunehmen, dass sie selbst beides kontaminiert hätten²⁴² – auch wenn an anderen Stellen der KHM solche Kontaminationen nachgewiesen werden können.²⁴³ Wahrscheinlich kam ihnen das Märchen in dieser Zusammenstellung zu. Die Übertragung des Namens ‚Froschkönig‘ legitimierte sich dann aufgrund eines philologisch-historischen Schlusses: Die Koinzidenz mit dem „Eisern Heinrich“ bei Rollenhagen hat die Übertragung plausibel erscheinen lassen. Dieser interpretative Akt der Grimms versucht, die mündlich aktualisierte Fassung der zeitgenössischen Erzählerin in die Vergangenheit der Erzählung selbst zurückzuverfolgen. Diese Vergangenheit ergibt dann Hinweise auf die ältere, ‚eigentliche‘ Gestalt des Märchens. Der Name ‚Heinrich‘ hat dabei für die Grimms eine besondere Bedeutung. Auf die Interpretation, der sie ihn in ihrer Ausgabe des Armen Heinrich unterziehen, wurde schon verwiesen. Auch dort liefert er ein wichtiges Argument, um die Erzählung Hartmanns an die naturpoetische, mythische Überlieferung anzu-
So referiert Lutz Röhrich: Froschkönig. In: Enzyklopädie des Märchens 5 (1987), S. 410 – 424, hier S. 418. Röhrich teilt diese Position offensichtlich nicht, aber er hält die Variante für plausibler, die die Grimms in den Anmerkungsband von KHM 2 aufnehmen; vgl. dazu Anm. 249 weiter unten. Rölleke, dessen Arbeiten sonst für meine Darstellung der Überlieferung grundlegend sind, scheint gleichwohl davon auszugehen: „Tertium comparationis für die Kontamination der Erzählungen vom verzauberten Frosch und dem Eisernen Heinrich war der Titel des Rollenhagenschen Werks (Froschmeuseler)“; in: Brüder Grimm, Älteste Märchensammlung, S. 365 f. Er gibt für diese starke Vermutung jedoch keine weiteren Gründe an. In die (populäre) Neuausgabe der Urfassung bei Reclam hat Rölleke seine Vermutung nicht mehr aufgenommen; vgl. Brüder Grimm, Urfassung, S. 115 – 117. Wenngleich eine Kontamination durch die Grimms durchaus möglich erscheint, so müsste sie doch mit weiteren Argumenten belegt werden. Ungeklärt wäre dabei, woher die Grimms die dann notwendig unverbundene Gestalt des Heinrich mitsamt seinen Versen bezogen hätten; die Gestalt besitzt zwar in der Handlung keine notwendige Funktion, aber sie bringt dementsprechend auch selbst kaum eigentliche ‚Handlung‘ mit sich. Um überhaupt erzählt werden zu können, benötigt sie einen fremden Handlungskern, an den sie angebunden werden konnte. Es ist, von der Logik mündlichen Erzählens her gesehen, nur schwer vorstellbar, dass jemand den Grimms den ‚eisernen Heinrich‘ als losgelöste Gestalt geliefert haben könnte. Eine alternative Quelle für die Gestalt und die Verse wurde aber noch nicht gefunden. Ein prominentes Beispiel ist Das tapfere Schneiderlein; vgl. Rölleke 1993, S. 695 f., und ders.: Das tapfere Schneiderlein in Wilhelm Grimms Märchenwerkstatt (KHM 20). In: ders. 2000, S. 86 – 91.
2 Naturpoesie, moderne Dichtung, Philologie – Die Grimms
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schließen. Seine archaische Gravitationskraft entfaltet er aber schon in KHM1. Der Kommentar zum Froschkönig eröffnet mit Nachweisen zu Heinrich und den eisernen Banden vor seinem Herzen. Sie begründen, dass das Märchen hier als eines der „allerältesten und schönsten“²⁴⁴ bezeichnet werden kann. Die Anmerkungen berichten erst an zweiter Stelle über jene alte schottische Fassung des FroschMärchens, in der freilich kein Diener erscheint. ‚Heinrich‘ hat, in der philologischen Perspektive des Kommentars, die eigentlich im Zentrum der Erzählung stehende Königstochter und den Prinzen an die zweite Stelle gedrängt. Im Textteil selbst zeugt nun auch der Titel von dieser Umgewichtung. Aus „Die Königstocher und der verzauberte Prinz“ bzw. „Froschkönig“ ist hier Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich geworden. Der Titel sorgt dafür, dass Heinrich ‚gebührend‘ in den Blick des Lesers rückt. Er unterstreicht auch die Zusammengehörigkeit beider Motive in der Erzählhandlung. Im zweiten Band von KHM1 sprechen die Grimms dann mitunter auch nur vom „Eisernen Heinrich“.²⁴⁵ Die Grimms haben, wie gesagt, die Kontamination der Stoffe – wenn hier eine solche vorliegen sollte – wohl nicht vorgenommen. Die Anordnung der KHM zeigt aber, dass das Märchen ihnen gerade deshalb so wichtig war, weil hier der ‚eiserne Heinrich‘ erscheint. Denn der zweite Band der Erstausgabe druckt 1815 als Nr. 13 noch eine andere Variante des Froschkönig-Stoffs.²⁴⁶ Sie weicht in der Haupthandlung ab, kennt vor allem aber keinen ‚Heinrich‘. Zwar haben die Grimms diese Fassung erst nach Erscheinen des ersten Bandes von KHM1 bekommen.²⁴⁷ Aber während Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich nach wie vor KHM 2 von 1819 eröffnet, wird diese Fassung nun ausgeschieden und rückt in den 1822 erschienenen Anmerkungsband ein.²⁴⁸ Hier wird noch eine dritte Fassung „aus dem Paderbörnischen“ paraphrasiert. In ihr zerspringen zwar auch Banden, allerdings liegen diese nicht um das Herz eines Heinrich, sondern vielmehr der Königstocher selbst.²⁴⁹ Heinrich begründet die editorische Entscheidung dieser Auflagen, die der ersten Kasseler Fassung den Vorzug vor den anderen Varianten einräumt.
KHM1, Bd. 1, S. III. Vgl. KHM1, Bd. 2, S. XXI. Der Froschprinz, in: KHM1, Bd. 2, S. 91– 93; vgl. den Kommentar von Rölleke in KHM7, Bd. 3, S. 442. Sie ist ihnen offenbar 1813 von Marie Hassenpflug erzählt worden; vgl. den Vermerk im Handexemplar, KHM1, Bd. 1, S. IV. Vgl. den Text der Anmerkungen von 1822 in der Edition von KHM 3, S. 863 – 865. Der Prinz wählt nach der Verwandlung und weiteren Verwicklungen unter den Schwestern des Mädchens die falsche zur Braut. Als er, getäuscht, mit ihr fortreisen will, krachen die Banden vor dem Herzen der echten Prinzessin; so erkennt der Prinz dann seine wahre Braut. Es ist diese Variante, der Röhrich den Vorzug gibt (vgl. oben, Anm. 241); seine Gründe sind plausibel, denn die Reaktion der Erleichterung verbleibt so bei dem Hauptpersonal des Märchens. Von der anhalt-
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
‚Heinrich‘ erscheint als archaisches Element, dem die Grimms für die Erschließung und Gewichtung des ganzen Märchens eine wichtige Rolle zuweisen. Diese Deutung wirkt sich auch auf die Gestaltung des Textes in KHM1 aus. Entsprechend der Titeländerung stärkt die Erzählung Heinrichs Rolle. In der ‚Urfassung‘ nennen erst die Verse ihn bei seinem bedeutungsvollen Namen. Das Prosanotat bezeichnet ihn nur als „treue[n] Diener“.²⁵⁰ KHM1 aber rücken den Namen in die Erzählung selbst ein und verwandeln den ‚Diener‘ in den „treue[n] Heinrich des Prinzen“.²⁵¹ Und während die ‚Urfassung‘ zwar „drei eiserne Bande“ nennt, dann aber mit den Versen schließt,²⁵² wird das dreimalige Brechen in KHM1 auserzählt: „Noch einmal und noch einmal hörte es der Prinz krachen, und meinte: der Wagen bräche, aber es waren nur die Bande, die vom Herzen des treuen Heinrich absprangen, weil sein Herr erlöst und glücklich war.“²⁵³ Hier wird wiederholt, was die Verse berichten, nun aber bezogen auf die Perspektiven des Prinzen und seines Dieners. KHM1 inszenieren den mythologischen ‚Sinn‘ des ‚treuen‘, ‚eisernen‘ Dieners, indem sie ihn noch einmal in der Erzählung selbst explizieren. Heinrich tritt neben, wenn nicht vor die Königstochter, indem sein mythologisches ‚Potential‘ herausgearbeitet wird. Eine Kontamination ist dies wohl nicht, aber eine bewusste Entscheidung für diese Fassung. Auch im Froschkönig findet sich jedoch eine Kontamination. Sie betrifft die erste Verspartie des Märchens: die Worte, mit denen der Frosch Einlass in den Speisesaal begehrt.²⁵⁴ Diese Verse finden sich von der ‚Urfassung‘ an im Märchen.²⁵⁵ Wilhelm legt für sie den genannten Zettel Jacob Grimms zugrunde, der die Verse wiederum, leicht abwei-
endenden Wirkung der Grimms in der späteren Märchenforschung zeugt dabei die Systematisierung von Antti Aarne und Stith Thompson. Hier erscheint als Typus 440 „The Frog King Or Iron Henry“. Auch in der Neubearbeitung der Märchen-Klassifikation von Hans-Jörg Uther wird dieser Titel beibehalten. Während die Froschhandlung in vielen Varianten nachgewiesen werden kann, scheint die Version der Grimms die einzige zu sein, in der auch der eiserne Heinrich auftaucht; „some variants“ dagegen könnten von der vorher genannten Variante nachgewiesen werden, in der die eisernen Banden das Herz der Braut umschließen; vgl. Hans-Jörg Uther: The Types of International Folktales. A Classification and Bibliography. Based on the System of Antti Aarne and Stith Thompson. 3 Bde. Helsinki 2004, Bd. 1, S. 262. Brüder Grimm, Älteste Märchensammlung, S. 146. KHM1, Bd. 1, S. 5. Brüder Grimm, Älteste Märchensammlung, S. 146. KHM1, Bd. 1, S. 5. „Königstochter, jüngste, / mach mir auf, / weißt du nicht was gestern / du zu mir gesagt / bei dem kühlen Brunnenwasser? / Königstochter, jüngste, / mach mir auf.“ KHM1, Bd. 1, S. 3. Vgl. oben, S. 285.
2 Naturpoesie, moderne Dichtung, Philologie – Die Grimms
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chend, aus Gräters Zeitschrift Bragur abschreibt und die Quelle auch nachweist.²⁵⁶ Die Übernahme in die ‚Urfassung‘ ist Wilhelms Werk. Scheinbar plausibilisiert wird sie nicht nur durch den Sinn der Verse selbst, sondern auch durch Gräters nähere Beschreibung ihres Kontextes, den Jacob ebenfalls auf dem Zettel paraphrasiert. Denn Gräter bezeichnet sie als Teile aus einem „Ammenmährchen“, bei dem die „ganze Erzählung in Prosa, die Gespräche mit dem Frosche und seine Forderung aber in Versen“ gehalten seien. Er habe die Verse in seiner Kindheit oft auch singen gehört.²⁵⁷ Die Übernahme Wilhelms legitimiert sich also dadurch, dass Gräter die Verse deutlich als zum Märchen von der Königstochter und dem verzauberten Prinzen gehörig ausweist. Die Interpolation der Verse wird für die Grimms umso wünschenswerter gewesen sein, da sie gerade auf solche Passagen großen Wert legten.²⁵⁸ Als gebundene Rede besitzen sie, wie Sprichwörter,²⁵⁹ eine besondere Konstanz, da sie sich dem Gedächtnis besser einprägen als eine Prosaerzählung. Mit der Übernahme der Verse hoffen die Grimms also gewissermaßen, ein zum Märchen gehöriges Moment in einer besonders würdigen und authentischen Form zu restituieren. Auch dieser Akt vertieft die von der Kasseler Erzählerin aktualisierte Fassung auf ihren früheren, mythischen Sinn hin. Aufschlussreich ist allerdings, dass die Grimms dabei über ein Moment hinwegsehen, das Gräter unmissverständlich anführt.²⁶⁰ Seine Beschreibung bezeichnet das „Ammenmährchen[…]“ explizit als solches „von den drey Königstöchtern und dem in einen Frosch verzauberten Prinzen“.²⁶¹ Jacobs Zettel vermerkt auch dies. Die Fassung, die Gräter im Sinn gehabt hat, entspricht offensichtlich nicht derjenigen, die die Grimms zuerst empfangen hatten; denn während die ‚Urschrift‘ im ersten Satz zwar von der „jüngste[n] Tochter“ des Königs spricht, spielen die anderen Töchter darin keine Rolle. Sehr wohl ist dies jedoch in jenen weiteren Fassungen der Fall, die oben genannt wurden. In Nr. 13 des zweiten
Auch in Arnims und Brentanos Wunderhorn waren die Verse eingegangen, hier als „Fragment“; auch dies vermerkt Jacob auf dem Zettel; vgl. Rölleke in: Brüder Grimm, Älteste Märchensammlung, S. 365. Vgl. Friedrich David Gräter: Ueber die teutschen Volkslieder und ihre Musik [erster Teil]. In: Bragur 3 (1794), S. 207– 284, alle Zitate S. 241 f. Vgl. KHM1, Bd. 1, S. XVIII: Gerade die Märchen mit Versen seien „die ältesten und besten“. Sprichwörter arbeiten die Grimms systematisch in ihre Märchen mit ein; vgl. den Band: „Redensarten des Volks, auf die ich immer horche“. Märchen – Sprichwort – Redensart. Zur volkspoetischen Ausgestaltung der Kinder- und Hausmärchen durch die Brüder Grimm. Hrsg. von Lothar Bluhm und Heinz Rölleke. Neue Ausgabe. Stuttgart u. a. 1997, vor allem die Einleitung, S. 11– 36. Auf diesen Zusammenhang verweist Rölleke in seinem Kommentar zu KHM3, S. 1194. Gräter, Volkslieder, S. 241.
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
Bandes von 1815 und der 1822 im Anmerkungsband paraphrasierten, dritten Fassung bietet sich der Frosch zunächst den beiden älteren Töchtern zum Geliebten an. Sie verschmähen ihn aber, und erst die jüngste verspricht ihm Zuwendung. Gräters Verse müssen aus einer Variante dieses Subtypus stammen. In ihr kann entsprechend auch nicht das aparte Requisit der goldenen Kugel vorkommen; daß diese in den Brunnen fällt, ist schließlich zu sehr ein einmaliges Ereignis, das nur einer Tochter widerfahren kann. Das Versprechen, das der Frosch fordert, muss sich auf eine Leistung beziehen, die er allen Schwestern anbieten kann. In Nr. 13 ist dies ein Trunk Wassers, den der Frosch den durstigen Schwestern aus dem Brunnen reichen will.²⁶² Die Kontamination einer Fassung mit Versen aus einer anderen Variante wirkt sich auch auf den übrigen Text aus. In der ‚Urfassung‘ klingt das Motiv der anderen Schwestern aufgrund der montierten Verse des Frosches an: Hartnäckig ruft er „Königstochter jüngste“; zusammen mit dem ersten Satz der ‚Urfassung‘, in dem die Prinzessin als „jüngste Tochter“ bezeichnet worden war, konstituiert sich hier ein blindes Motiv in der Erzählung. KHM1 dann bemüht sich, es auszuscheiden; der Anfangssatz beginnt nun: „Es war einmal eine Königstochter“. Die Worte des Frosches freilich bleiben, als besonders ‚wertvolle‘ und alte Verse, konstant. Das blinde Motiv ist weniger auffällig geworden, gänzlich eliminiert aber wurde es nicht. Die dritte Auflage gibt der Sache wohl nicht zuletzt daher noch eine andere Wendung. Offensiv werden die anderen Töchter nun im Anfangssatz genannt: „In alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle schön, aber die jüngste war so schön, daß sich die Sonne selber, die doch so vieles gesehen hat, darüber verwunderte so oft sie ihr ins Gesicht schien.“²⁶³ Abgesehen von den massiven übrigen Veränderungen, treten hier nun die anderen Töchter wieder auf. Die jüngste aber wird aufgrund ihrer Schönheit herausgehoben. Das spätere Insistieren des Frosches auf der ‚jüngsten‘ Tochter erscheint in dieser Fassung daher mehrfach motiviert: erstens durch ihre besondere Schönheit, von der selbst die Sonne beeindruckt ist, also auch wohl der Frosch; zweitens dadurch, dass der Frosch seine Verse vorbringt, als die Jüngste „mit dem König und allen Hofleuten an der Tafel saß“,²⁶⁴ er also recht daran tut, zu sagen, welche Tochter er zu sprechen wünscht. Die Kontamination der Erzählung mit den Versen setzt offensichtlich eine gewisse Dynamik frei. Den Grimms kann das kaum entgangen sein; in jedem Fall werten auch sie die Märchen-Variante mit drei Töchtern als „eigenthümliche Die Grimmsche Paraphrase der dritten Fassung 1822 setzt erst nach der Verwandlung ein. Es steht aber zu vermuten, dass es hier auch um Wasser ging. KHM3, S. 23; vgl. den Kommentar von Rölleke, ebd., S. 1194. KHM3, S. 24.
2 Naturpoesie, moderne Dichtung, Philologie – Die Grimms
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Verschiedenheit“.²⁶⁵ Jene Dynamik zu bändigen, wird ebenfalls zu einer Aufgabe, die die Bearbeitung leisten muss. Dass die Grimms sowohl an den Versen des Frosches wie auch an dieser Variante der Erzählung festhielten, erklärt sich dabei zweifellos wiederum aus der Heinrich-Partie und dem besonderen Wert, der ihr zugeschrieben wird. Sowohl die Verse mit der von ihnen implizierten Kernhandlung (dem Versprechen am Brunnen) wie auch Heinrich (mit seinen Versen) sind die zwei mythischen Gravitationspunkte, um die das Interesse der Grimms kreist. Die beispielhafte Analyse des Froschkönigs sollte zeigen: Es gilt, die Veränderungen, Bearbeitungen und Kontaminationen der Grimms wo möglich insgesamt vor dem Hintergrund ihrer gelehrten Arbeit und ihrer Reflexion zur Geschichte und Natur der Poesie zu deuten. An vielen Stellen lässt sich belegen, wie sie gerade nicht einem bloß ‚ästhetischen‘ Interesse folgen, sondern philologischhistorische Entscheidungen umsetzen. Dass diese nicht mit den Begriffen einer ‚modernen‘, gegenwärtigen Wissenschaft übereinstimmen, fällt hier nicht ins Gewicht. Gerade die Differenz zwischen späteren Entwicklungen der Philologie bzw. Märchenforschung und der Praxis der Grimms hilft, ihre wissenschaftliche Konzeption deutlicher zu konturieren. Die Konzeption der Poesie und ihre Umsetzung in den philologischen Praktiken ist es aber auch, die das Spannungsverhältnis zu anderen zeitgenössischen Ansätzen eröffnet, seien diese nun selbst philologisch, dichterphilologisch oder dichterisch wie bei Arnim und Brentano. Die Debatte zwischen ihnen und Jacob kann entstehen, weil die philologisch-historische Konzeption von Jacob – aber auch von Wilhelm – gleichzeitig die Möglichkeiten einer zeitgenössischen Dichtung beschneiden, ja ihre Stelle einnehmen will. Die Arbeit an den Märchen zeigt zwar, wie auch die Grimms in diesem Fall eine produktive Philologie ins Werk setzen, die ihre Gegenstände verändert. Aber diese Veränderung wird von ihnen selbst unterschieden von den Ansätzen, die sie bei ihren Konkurrenten beobachten. Sie betrachten ihre eigene Arbeit als eine methodisch kontrollierte. Durch die Reflexion auf den ‚ursprünglichen‘ Sinn der Motive gäben diese ihr Altertum frei. Frühere Stufen des Mythos rückten in den Blick. Die Argumentationsform der Interpretationen und Kommentare wird zum regulativen Moment einer produktiven Autorschaft, die aber auf ihrem philologisch-historischen Charakter besteht. Die verschwiegene Autorschaft, die sie ins Werk setzen, ist eine, die dem Wissenschaftler vorbehalten wäre. Dass die Gegenwart und ihre geschichtsphilosophische Signatur diese Arbeit fordern, dass sie dem Philologen gegenüber dem frei, aber daher auch ‚lediglich‘ individuell arbeitenden Dichter eine besondere Aufgabe auferlegt – dies ist die konsequente Pointe dieses Ansatzes. Ironischer-
So der Kommentar zu KHM1 13 in: KHM1, Bd. 2, S. XXI.
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
weise konnten die Grimms damit rezeptionsgeschichtlich einen gewissen Erfolg erzielen. Zwar hat sich die moderne ‚Kunstpoesie‘ entgegen ihrer Vermutung als überaus ‚lebendig‘ erwiesen; aber mitunter verliehen spätere Germanisten den Schriften Jacob Grimms die Weihe des Dichterischen. Sie bewunderten nun seine „unter gelehrtem Apparate“ versteckte „Poesie“.²⁶⁶
So Bechstein, Philologie, S. 95.
3 Die Kette der Tradition – Ludwig Uhland
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3 Die Kette der Tradition – Dichtung und philologisch-historische Wissenschaft bei Ludwig Uhland 1 Dichterphilologie Um die Poesie in Jacob Grimms gelehrtem Apparat zu entdecken, musste man im 19. Jahrhundert sicher selbst zu den philologisch-historisch Gelehrten gehören. Ludwig Uhland dagegen war ein Liebling des Publikums insgesamt.²⁶⁷ Zu Lebzeiten erschienen nicht weniger als 46 Auflagen seiner Gedichte. ²⁶⁸ Ihre Popularität verdankte sich dem leichten, geschliffenen Ton genauso wie ihren Themen. Auch Uhland entwirft, wie nicht wenige andere Dichter seines Jahrhunderts, Phantasmen eines Mittelalters, in dem Gesang, Liebe, Heldentum und Nationalität eine unauflösliche, quasi naive Verbindung einzugehen scheinen. Seine Lieder und Balladen schlagen jenen nationalen und historischen Bogen, der das historistische 19. Jahrhundert in hohem Maße prägt. Auch sie zielen nicht nur auf die Entdeckung eines historisch Anderen, sondern sie versprechen sich von diesem hermeneutischen Akt eine Wirkung auf die Gegenwart und die Zukunft. Die Popularität Uhlands beruht dabei nicht zuletzt auch darauf, dass sein Œuvre neben der dichterischen eine extensive philologisch-historische Seite besitzt. Sie fließt in die Dichtungen unmittelbar ein. Die Balladen und Lieder sind keine unverbindlichen Erfindungen, sondern sie fußen auf der wissenschaftlichen Erschließung von Vergangenheiten, die in ihnen präsentiert und aktualisiert werden sollen.
Dieses Kapitel ist eine erweiterte Fassung von: Verf.: Des Sängers Fluch. Dichtung und Philologie bei Ludwig Uhland. In: ders., Nebrig (Hrsg.) 2010, S. 83 – 100. 1815, mit 28 Jahren, hatte Uhland im renommierten Verlag der Cottaschen Buchhandlung die Sammlung von Gedichten publiziert, auf der sein Ruhm gründet: Gedichte von Ludwig Uhland. Stuttgart, Tübingen 1815. Schnell folgten weitere Auflagen in unterschiedlichen Verzweigungen: 1835 brachte Cotta die neunte Auflage heraus, 1845 erschien eine Miniaturausgabe, die zehn Jahre später ihrerseits die 13. Auflage erreichte. Eine ‚Wohlfeile Ausgabe‘ der Gedichte wurde 1857 publiziert und ging 1861 in die achte Auflage. Die nach Uhlands Tod erschienene 47. Auflage druckte einen Text, den Wilhelm Ludwig Holland anhand der Handschriften durchgesehen hatte: Gedichte von Ludwig Uhland. Siebenundvierzigste Auflage. Stuttgart, Tübingen 1863. Holland gab dann nicht nur Uhlands philologische Schriften heraus (Uhlands Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage. Hrsg. von Wilhelm Ludwig Holland, Adelbert von Keller und Franz Pfeiffer. 8 Bde. Stuttgart, Tübingen 1865 – 1873), sondern schrieb auch eine Abhandlung Über Uhlands Ballade ‚Merlin der Wilde‘ (Stuttgart, Tübingen 1876).
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
Zwar ist Uhlands Gedichtsammlung im Wesentlichen vor 1817 entstanden.²⁶⁹ Danach dichtete er nur noch sporadisch; er pflegte, erweiterte, veränderte und überarbeitete die erfolgreiche Sammlung,²⁷⁰ während er vor allem philologischhistorischen Forschungen nachging und politisch tätig war. Aber schon vorher bildeten die philologische und die dichterische Tätigkeit zwei Seiten eines zusammenhängenden Interesses. Während des Studiums in Tübingen von 1801 bis 1808²⁷¹ bewegten Uhland nicht nur die Pandekten. Der junge Student stand im Kreis der sogenannten Tübinger Romantik, wo er eng mit Justinus Kerner, Heinrich Köstlin, Christoph Friedrich von Kölle und Karl Mayer verkehrte.²⁷² Einerseits sandte er Gedichte zunächst an die Freunde, dann an Almanache und Zeitungen. Andererseits widmete er sich der philologisch-historischen Erschließung der deutschen Vergangenheit. In einem Brief an Leo Freiherr von Seckendorff formuliert er schon 1806 ein Desiderat, das beide Tätigkeiten zusammenbringt: Der teutsche Dichter, dem es um die wahre, in rüstigem Leben erscheinende Poesie zu thun ist, fühlt einen auffallenden Mangel an vaterländischer Mythologie […]; er findet so wenig alte Kunden seiner Nation, die sich der bildenden Kraft ohne Sträuben hingäben und doch auf der andern Seite das tieffste Leben der Seele zur objektiven Erscheinung förderten.²⁷³
Diese Klage enthält gleichzeitig ein Programm, das den beklagenswerten Zustand überwinden helfen soll. Die gegenwärtige Poesie braucht, um in „rüstigem Leben“ zu erscheinen, einen historisch-nationalen Grund. Dieser liegt nicht in den bloßen Daten äußerer Geschichte, sondern im geistigen Produkt der vergangenen Zeiten selbst, in der vaterländischen Mythologie. Diese aufzusuchen ist die historische Aufgabe der Zeit. Auch die gegenwärtige Dichtung würde so erneuert, denn die poetische Aufnahme der Mythologie förderte etwas zutage, in dem sich Vergan-
Der Schwerpunkt von Uhlands dichterischer Produktion fällt in die Jahre bis 1817; vgl. die Aufstellung bei Hartmut Fröschle: Ludwig Uhland und die Romantik. Köln, Wien 1973, S. 62 f. Die Veränderungen werden zum Teil dokumentiert im ersten Band der Werke: hrsg. von Hartmut Fröschle und Walter Scheffler. 4 Bde. München 1980 – 1984. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden, wenn nicht anders angegeben, zitiert (‚UW‘ mit Band und Seite). Nachweise erscheinen direkt im Text. Zu Uhlands Studium vgl. oben, Kap. I.3.1., S. 84. Vgl. Heinz Otto Burger: Schwäbische Romantik. Studie zur Charakteristik des Uhland-Kreises. Stuttgart 1928; Fröschle 1973, S. 19 – 24; Otto Borst: Die Tübinger Romantik. In: Ludwig Uhland. Dichter, Politiker, Gelehrter. Hrsg.von Hermann Bausinger. Tübingen 1988, S. 39 – 61. Der Kreis gab von Januar bis März 1807 eine handschriftliche Wochenzeitung heraus, deren Titel sich ironisch gegen Cottas Morgenblatt für gebildete Stände wandte: das Sonntagsblatt für gebildete Stände (Edition: Hrsg. von Bernhard Zeller. Marbach 1961). Brief Uhlands an Seckendorff, Ende 1806; Uhlands Briefwechsel. Hrsg. von Julius Hartmann. 4 Bde. Stuttgart, Berlin 1911– 1916, Bd. 1, S. 15.
3 Die Kette der Tradition – Ludwig Uhland
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genheit und Gegenwart wieder verbänden: So käme das „tieffste Leben der“ – vaterländischen – „Seele zur objektiven Erscheinung“. Die dichterische Aufgabe geht einher mit einem Forschungsprogramm, das den alten Überlieferungen des eigenen Volkes nachspürt, um auf diese Weise den in ihnen geborgenen geistigen, seelischen Gehalt – die Idee des Nationalen – wieder auf die Gegenwart zu bringen. Uhland entwirft in dem Brief den Weg, den er dann verfolgen wird. Während er einerseits dichtet, während er andererseits sein Juraexamen ablegt, promoviert wird, im Staatsdienst und zunächst als freier Advokat arbeitet, sichtet er handschriftliche Überlieferungen und versucht, die vaterländische Dichtung und Mythologie zu rekonstruieren.²⁷⁴ Er schreibt seine Abhandlung über das altfranzösische Epos.²⁷⁵ Etwas später legt er die erste Monographie über Walther von der Vogelweide überhaupt vor.²⁷⁶ 1830 wird er als besoldeter Professor für deutsche Sprache und Literatur an die Universität Tübingen berufen. Zu diesem Zeitpunkt hat er bereits 10 Jahre lang an einer umfangreichen Geschichte der deutschen Poesie im Mittelalter gearbeitet, die er seinen Vorlesungen zugrundelegt, letztlich aber unpubliziert lässt. Auch nach dem politisch motivierten Rückzug aus dem Amt arbeitet er als Privatgelehrter weiter. Er veranstaltet etwa eine zweibändige Edition deutscher Volkslieder, deren ausgreifender Kommentar jedoch gleichfalls nicht zu Lebzeiten gedruckt wird.²⁷⁷ Zwar ist Uhland in den letzten Jahrzehnten aus dem Kanon der germanistischen Forschung einigermaßen herausgefallen.²⁷⁸ Hartmut Fröschles Gesamt-
Vgl. die Bände 3 und 4 von UW. Die Chronologie von Uhlands philologisch-historischen Interessen zeichnet Fröschle nach (1973, S. 181– 192). Wichtige Arbeiten sind dabei neben seiner Monographie unter anderem: Hermann Schneider: Uhland. Leben, Dichtung, Forschung. Berlin 1920; Hugo Moser: Ludwig Uhland. Der Dichtergelehrte (zuerst 1971). In: Deutsche Dichter der Romantik. Ihr Leben und Werk. Hrsg. von Benno von Wiese. Berlin 21981, S. 563 – 588; Günther Schweikle: Ludwig Uhland als Germanist. In: Bausinger (Hrsg.) 1988, S. 149 – 181; Rolf Wilhelm Brednich: Der Volksliedforscher Ludwig Uhland. In: ebd., S. 183 – 200; Fritz Wagner: Zur Mittelalterrezeption Ludwig Uhlands. In: „daß gepfleget werde der feste Buchstab“. FS Heinz Rölleke. Hrsg. von Lothar Bluhm und Achim Hölter. Trier 2001, S. 226 – 237. Uhland, Epos; Druck ohne die beigefügten Übersetzungsproben in UW 4, S. 7– 24.Vgl. zu der Schrift Kap. II.3.4., S. 207 f. Walther von der Vogelweide, ein altdeutscher Dichter, geschildert von Ludwig Uhland. Stuttgart, Tübingen 1822; abgedruckt in UW 4, S. 31– 108. Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder in fünf Büchern hrsg. von Ludwig Uhland. Erster Band [Abt. 1 und 2 = alles zu Lebzeiten Erschienene]. Stuttgart, Tübingen 1844– 1845. 1866 gab Franz Pfeiffer Uhlands Abhandlung zu den Volksliedern im Rahmen der Schriften zur Geschichte der Dichtung (vgl. Anm. 268) erstmals heraus. Vgl. zu Uhlands Bedeutung vor allem in Schule und Literaturgeschichtsschreibung seit dem 19. Jahrhundert: Ilonka Zimmer: Uhland im Kanon. Studien zur Praxis literarischer Kanonisierung im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2009.
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
darstellung Ludwig Uhland und die Romantik ²⁷⁹ und die von ihm gemeinsam mit Walter Scheffler verantwortete Werkausgabe des Winkler-Verlages²⁸⁰ schienen sich eher als Epitaphe zu erweisen denn als Impulsgeber für neue Forschungen. Erst jüngst regt sich ein neues Interesse.²⁸¹ Wenn aber die historische Konstellation und nicht die gegenwärtige Kanonizität infrage stehen, dann ermutigt allein schon Uhlands Bedeutung für das deutsche 19. Jahrhundert zu einem erneuten Blick auf ihn. Als Dichterphilologe repräsentiert er jenen Typus, der für den kulturellen Haushalt des Jahrhunderts von eminenter Bedeutung ist.²⁸² An Schlegel war beispielsweise deutlich geworden, welche programmatischen Hoffnungen sich mit der Verknüpfung von Dichtung und Philologie verbinden können. Als Philologe beteiligt er sich an der Herausbildung von Kriterien für einen wissenschaftlich adäquaten Umgang mit den alten Überlieferungen. Gleichzeitig tritt er in seinem dichterischen Werk dezidiert als gegenwärtiger Dichter auf. Einerseits kann der Dichterphilologe als ideale Kombination erscheinen in einer Situation, in der die Identitätsfindung über die Reaktivierung von historisch Vergangenem gefordert ist. Er verfügt mittels wissenschaftlich erhobener Kenntnisse über die Vergangenheit, besitzt aber doch die Möglichkeit, sie mit dem Nachdruck poetischer Formen zu reflektieren, zu verlebendigen und einem Publikum nahezubringen, das dem wissenschaftlichen Diskurs nicht folgen mag. Gleichzeitig aber trägt der Dichterphilologe gewissermaßen in seiner Person das Spannungspotential aus, das sich im Verhältnis von philologisch-historischen Wissenschaften und Poesie ergibt. Die Debatte zwischen Jacob Grimm und Achim von Arnim um Naturpoesie und Kunstpoesie hat gezeigt, wie radikal sich dieses Spannungsverhältnis formulieren lässt. Der Anspruch der Philologie kann in Frage stellen, ob Gegenwartsdichtung überhaupt für die imaginäre Gesamtheit des ‚ganzen Volkes‘ relevant – und das heißt im Sinne der Naturpoesie identitätsstiftend – sein könne. Jacob Grimm hat seine Position bereits 1809 in Arnims Zeitschrift für Einsiedler formuliert.²⁸³ Schon dort mag sich nicht nur Arnim ge-
Fröschle 1973. Vgl. Anm. 270. Vgl. etwa Georg Braungart, Stefan Knödler, Helmuth Mojem, Wiebke Ratzeburg (Hrsg.): Ludwig Uhland. Tübinger linksradikaler Nationaldichter. Tübingen 2012; Barbara Potthast, Stefan Knödler (Hrsg.): Provinzielle Weite. Württembergische Kultur um Ludwig Uhland, Justinus Kerner und Gustav Schwab. Heidelberg 2014. Vgl. dazu Verf., Nebrig 2010. Schon dort hieß es: „nichts ist verkehrter geblieben, als die Anmaßung epische Gedichte dichten oder gar erdichten zu wollen, als welche sich nur selbst zu dichten vermögen.“; Gedanken: wie sich die Sagen zur Poesie und Geschichte verhalten, von Jakob Grimm. In: [Arnim (Hrsg.)],
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troffen gefühlt haben. Auch der Dichter Uhland, der vier Lieder in der Zeitschrift publiziert,²⁸⁴ wird dadurch infrage gestellt. Der angehende Dichterphilologe also, der, wie Uhland in dem zitierten frühen Schreiben an Seckendorff schreibt, die Dichtung und die Nation durch die Erforschung ihrer Wurzeln wieder neu beleben will, nimmt mit seinem Programm auch dieses Problem in sich auf. Als Philologe hat er an der auratisierenden Aufwertung der alten, eigensprachlichen Überlieferung teil. Gleichzeitig aber droht sich die philologische Gegenstandskonstitution gegen die gegenwärtigen Dichter zu wenden. Gerade in Bezug auf diese Janusköpfigkeit, die dem Dichterphilologen eingezeichnet ist, mag es erlaubt sein, Uhland als unterschätzt zu bezeichnen. Denn die Forschung neigte entschieden dazu, seine Person gleichsam aufzutrennen. Sie befasste sich entweder mit dem Dichter oder mit dem Philologen, ohne den Zusammenhang beider ernst zu nehmen. Beide Aspekte zu verbinden, kann aber verdeutlichen, wie die philologische Gegenstandskonstitution mit der Dichtung zusammenhängt, hier nun in der Weise, dass die Dichtung ein philologisches Fundament in sich aufnimmt, die Philologie ihren Begriff von Poesie aber so ausrichtet, dass ein zeitgenössisches Dichten sich durchaus in Kontinuität zur Überlieferung vollziehen kann.
2 Dichterische Reflexionsfiguren – Nibelungenlied und Walther von der Vogelweide Uhlands Dichtung und seine Philologie zielen, aus dieser Perspektive betrachtet, darauf, die Möglichkeit gegenwärtiger Dichtung mit der Relevanz der alten zu vermitteln. Dies lässt sich auf der philologischen wie der poetischen Ebene beobachten. Vor dem Hintergrund von Jacob Grimms radikaler Position können einige besonders neuralgische Fragen skizziert werden, um Uhlands Vermittlungsversuch dagegen abzuheben. Erstens: Wie verhalten sich Volksdichtung und Gelehrsamkeit – und damit auch mündliche Weitergabe von Dichtung und ihre schriftliche Fixierung – zueinander? Stirbt die Dichtung als lebendiges, ein Volk vereinendes Medium ab, wenn sie in Berührung mit Gelehrsamkeit und Schrift kommt? Zweitens: Wie ist die Autorschaft der Volksdichtungen zu fassen? Sind es die Sage selbst, der Geist des Volkes, die sie hervorbringen? Und drittens: Sind
Zeitung, 4.–7. Juni 1808, Sp. 152– 156. Vgl. zur Zeitschrift die kommentierende Erschließung des Nachdrucks; außerdem: Moering 1999; Ziolkowski 2009, S. 132– 138. Die drei Lieder (Nr. 14 der Zeitschrift), Der Traum (Nr. 17), Der Königssohn und die Schäferin (Nr. 24 und 25), Fräuleinswache (Nr. 31).
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
Individualität und Volksdichtung ausschließende Gegensätze, oder lassen sich die beiden vermitteln? In den vorherigen Kapiteln ist deutlich geworden, dass die Antworten auf diese Fragen sich vor allem in der Auseinandersetzung mit dem Nibelungenlied herauskristallisierten. Auch Uhlands philologisches Interesse richtet sich von Anfang an darauf, diesen kanonischen Text im Zusammenhang mit der übrigen deutschen und nordischen Überlieferung zu fassen.²⁸⁵ Die Frage nach der ‚vaterländischen Mythologie‘, die er im zitierten Brief von 1806 stellt, bildet eines der Zentren auch seiner Forschungen. Die frühe Beschäftigung mit dem Nibelungenlied und der altfranzösischen Epik steht im Kontext einer umfassenden Geschichte der Heldenepik als Ausdruck und Vehikel der Sage. Uhland will erkennen, auf welche Weise diese „bald nur in einzelnen, aber mächtigen Kunden erscheint, bald sich zum wahren Epos gebildet hat“, das „nach den verschiedenen Völkerstämmen verfolgt werden muß“.²⁸⁶ Zehn Jahre später beginnt er mit der Niederschrift einer umfassenden Darstellung der Geschichte der Poesie im Mittelalter,²⁸⁷ in der die Sagengeschichte und die Entwicklung der Heldenepik Schwerpunkte bilden. 1831/32 zieht er daraus eine Vorlesung zur Sagengeschichte der germanischen und romanischen Völker. ²⁸⁸ Uhlands Ausgangspunkt befindet sich dabei auf einer Linie nicht nur mit Jacob Grimm, sondern mit der damaligen Philologie der unterschiedlichen Sprachen und Sprachgemeinschaften insgesamt. Er fasst die Sage als das zentrale identitätsverhandelnde Medium von schriftlosen Kulturen. Sie ist nicht bloße Poesie, neben der noch andere Weisen der sprachlichen Welterschließung existierten, sondern vereint im Akt der poetischen Gestaltung die „Grundzüge des Volkscharakters“ (UW 4, S. 112), die Geschichte, Religion und Ethik eines Stammes. Poetische Praxis und Wissen haben sich noch nicht in Dichtung und Gelehrsamkeit geschieden. Als „Bilderschrift poetischer Gestaltungen“ (UW 4, S. 110) enthält die gedichtete Sage alles, was die Gemeinschaft betrifft und bewegt. Durch „Phantasie und Gemüt“ (ebd.) erhält sie ihre Gestalt. Bewahrt wird sie durch mündliche Weitergabe.
Vgl. Ehrismann 1975, S. 128 f. Brief an Fouqué, 19. Dezember 1810; Uhlands Briefwechsel, Bd. 1, S. 213. Vgl. Fröschle 1973, S. 184. Uhland hielt seine Ausarbeitungen zur Sagengeschichte nicht zuletzt aufgrund des Erscheinens von Wilhelm Grimms Die deutsche Heldensage (1829) zurück. UW 4, S. 109 – 184, bietet einen Auszug aus dem Erstdruck: Uhlands Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage. Bd. 7. Hrsg. von A. von Keller. Stuttgart 1868. Vgl. den Kommentar UW 4, S. 791 f., und Fröschle 1973, S. 185 f.
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Auch für Uhland drückt sich in der Sage und damit in der Volksdichtung unmittelbar und organisch die Volksidentität aus. Aber dennoch hat er ein deutliches Interesse daran, zu klären, wie die Sage in einer Gemeinschaft von Menschen zu ihrer auratischen Gestalt gelangen kann. Die Sage ist für Uhland Volkspoesie, weil hier Produktion und Rezeption unmittelbar ineinandergreifen. Im Raum der Mündlichkeit werden die allbekannten Mythen präsent gehalten, indem Einzelne sie immer wieder vor der Gemeinschaft hervorbringen und gestalten. Talentierte Dichter sind für ihre jeweilige Produktion und Tradierung notwendig, der Gesang ist auch hier an Individuen gebunden. Wenn ein Inhalt der Sage oder eine Art der Gestaltung den Hörern aber nicht mehr einleuchten, nicht gefallen oder unverständlich sind, so schleift sich das Unpassende jeweils ab. Denn es gibt für die Sänger keinen Grund, ihre Individualität gegen die Gemeinschaft herauszustellen, im Gegenteil. Sie erfüllen ihre Rolle dann, wenn sie der Gemeinschaft entsprechen. Individuelle Züge einzelner Sänger werden entweder in die Tradition aufgenommen und verlieren damit ihr Individualitätskriterium, ‚Eigentum‘ eines Einzelnen zu sein; oder sie werden von den folgenden Sängern wieder ausgeschieden und damit vergessen. Die dichterische Fähigkeit Einzelner verschmilzt mit dem Überlieferungsprozess: Die „Tätigkeit der Begabteren [bleibt] unverloren, aber sie mehrt und fördert nur unvermerkt das gemeinsame Ganze“ (UW 4, S. 111). Nur insofern kann auch Uhland davon sprechen, dass die Sage ein Produkt der Ganzheit des Volkes ist, das aus dem Kollektiv hervorgegangen ist und seinen Charakter spiegelt: „Dichter, als Individuen von eigentümlicher Persönlichkeit, kommen nach dem, was über das Wesen der Volkspoesie gesagt worden, hier nicht vor; handeln wir von den Stimmen, durch welche der poetische Geist der Völker in Sang und Sage sich aussprach, so kann nur von ganzen Klassen der Sänger und Sagenerzähler die Rede sein.“ (UW 4, S. 117) Aber aufgrund seiner Vergegenwärtigung der Produktions- und Rezeptionsszene transformiert Uhland die Rede von der sich selbst dichtenden Sage zurück auf den Status einer Metapher. Seine Argumentation ähnelt derjenigen, die Arnim gegen Jacob Grimm vorbringt. Die Anonymität der überlieferten Sagen, ihr nicht an Autornamen gebundenes Weiterleben, resultiert aus dem Traditionsprozess der Dichtungen und aus der Funktion, die sie für die Gesamtheit des Volkes haben. Uhland öffnet den auratisch geschlossenen Begriff der Naturpoesie, ohne dass er ihm sein auratisches Moment nimmt, gültiger Ausdruck der Volksidentität zu sein. Sein Postulat eines Volksgeistes folgt einer methodischen Reflexion des Vorgangs und der gemeinschaftlichen Funktionen mündlicher Dichtung. Individuelle Dichtung wird darin nicht abgewertet, sie bleibt aber für den Philologen aufgrund des ephemeren mündlichen Traditionsverfahrens unerkennbar.
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
Das Ineinander von Individualität und Ganzheit wird bei Uhland durchsichtiger in Bezug auf das Nibelungenlied. In seiner ebenfalls als Vorlesung vorgetragenen Geschichte der deutschen Poesie im Mittelalter ²⁸⁹ inszeniert er eine Debatte zwischen einem Philologen und einem Dichter, deren Anlage man fast allegorisch nennen könnte. Auf der einen Seite rekapituliert er die Position Wilhelm Grimms, eines Philologen also, der nicht selbst dichtet. Er bezieht sich auf dessen Ausführungen in der Deutschen Heldensage. ²⁹⁰ Hinsichtlich der Trennung von Natur- und Kunstpoesie unterscheidet sich deren Position nicht von der, die im vorigen Kapitel entwickelt wurde. Für Grimm ist das Nibelungenlied volksmäßig, da es im Prozess seiner Entstehung noch keine Trennung des Volkes in voneinander unterschiedene, abgesonderte Sphären gegeben habe. Das Nibelungenlied sei „aus der Mitte des ganzen Volkes hervorgegangen, keine abgesonderte Erscheinung.“²⁹¹ Freilich legt Grimm sein Augenmerk dabei auf die hypothetische Entstehungsgeschichte des Nibelungenliedes, die er anhand anderer Überlieferungen aus dem Sagenkreis zu rekonstruieren strebt.²⁹² Die überlieferten Handschriften zeugen für ihn noch von der erhabenen Gestalt der lebendigen Sage, sind dabei selbst aber schon defizitär.²⁹³ In ihnen zeichneten bloße Schreiber mit allenfalls verfälschenden Änderungen auf, was vorher in lebendiger Form im Volk umgelaufen sei. Die Schreiber könnten dabei nicht Dichter genannt werden; diejenigen aber, auf die die Sagen zurückgingen, seien „niemals durch die geringste Eigenthümlichkeit ausgezeichnet und bedeute[n] in der That nichts anders als den lebenden Mund der Sage.“²⁹⁴ Wilhelm Grimm nimmt hier die Vorstellung einer sich selbst dichtenden Sage auf und spielt sie gegen die späteren ‚Kunst‘-Dichter aus.²⁹⁵ Die Rolle der alten Sänger bestehe in der notwendigen Aktualisierung eines Höheren: der Sage und des Volksgeistes. Ein guter, dem Geist des Ganzen angemessener Dichter ist für Wilhelm einer, in den der Geist des Ganzen eingegangen ist und der selbst gerade keine Gestalt gewinnt.
Die Vorlesung ist publiziert in UW 3. Die deutsche Heldensage von Wilhelm Grimm. Göttingen 1829. Wilhelm Grimm, Heldensage, S. 368. Vgl. den Abschnitt Ursprung und Fortbildung, ebd., S. 335 – 399. Vgl. Uhlands Zitat und Paraphrase, UW 3, S. 390; Wilhelm Grimm, Heldensage, S. 64. Vgl. Wilhelm Grimm, Heldensage, S. 368 f. Vgl. ebd., S. 335: „es scheint nicht, als ob spätere, wenn auch in anderer Hinsicht geistig begabte Zeiten, in welchen jener einfache Zustand und das Gefühl frischer Jugend verschwunden ist, fähig seyen, Werke dieser Art hervorzubringen.“
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Grimm gegenüber stellt Uhland einen Aufsatz Ludwig Bauers,²⁹⁶ eines Dichters, der mit den „gelehrten Beziehungen“ (UW 3, S. 385) nicht vertraut sei. Dafür aber würdige er das Nibelungenlied in seiner vorliegenden Gestalt als Gedicht. Seine Bemerkungen gehörten, so Uhland, zum Besten, was er in dieser Beziehung über das Epos gelesen habe. Bauer will dem gegenwärtigen Leser das alte deutsche Lied in die Hand geben, an Stelle der „schottischen oder nordamerikanischen“²⁹⁷ Romane (Scotts und Coopers), in denen man allenthalben schwelge. Entsprechend nimmt er einen ästhetischen Standpunkt ein und deutet das Epos wie einen Roman. So, wie es vorliegt, ist es für ihn eine in sich vollendete Dichtung. Es organisiere sich um die Gestalt der Kriemhild als Mittelpunkt.²⁹⁸ Alle Charaktere seien mit wenigen, aber plastischen Strichen lebendig gezeichnet.²⁹⁹ In den kräftigen Zügen liege jeweils der „Keim ganzer Anschauungen“.³⁰⁰ Bauers Kriterien sind solche der Form und Gestaltung. Dass der Dichter die Leser „in Wahrheit zu Augenzeugen“ mache, trägt für ihn, anders als für die Grimms, nicht zuerst eine geschichtsphilosophische Signatur, sondern ist eine Frage der poetischen Technik.³⁰¹ Die ästhetische Beobachtung des Verfahrens, wie es der Nibelungendichter anwendet, dient für Bauer der Schulung des modernen Dichters, dem Kampf gegen „moderne[…] Künstelei“.³⁰² Und ganz entsprechend ist sein Schluss: In der Auffassungs- und Gestaltungsweise des Nibelungenliedes zeige sich die genuine Arbeit eines bewusst schaffenden Geistes. Auf wen auch immer es zurückgehe – er habe damit ein „vollgültiges Zeugniß seines Dichterberufes abgelegt“.³⁰³ Dem Philologen Grimm erscheint das Nibelungenlied als dichterlos. Es hängt für ihn von der gelehrten Arbeit ab, die Überlieferung von den bloß individuellen Zutaten zu reinigen, um sie in ihrer autorlosen Ursprünglichkeit, als Manifestation der Sage wieder erkennbar zu machen. Der philologische Zugang setzt sich an die Stelle, die in der Moderne für den Urheber einer wahrhaft umgreifenden, das Volk
Ludwig Bauer: Das Lied der Nibelungen ein Kunstwerk. Erster Artikel. In: Morgenblatt für gebildete Stände 1830, S. 413 f. (Nr. 104, 1. Mai); S. 419 f. (Nr. 105, 3. Mai); S. 422 f. (Nr. 106, 4. Mai); S. 425 f. (Nr. 107, 5. Mai); S. 430 f. (Nr. 108, 6. Mai); dass. Zweiter Artikel. In: ebd., S. 441 f. (Nr. 111, 10. Mai); S. 446 f. (Nr. 112, 11. Mai); S. 450 f. (Nr. 113, 12. Mai); dass. Dritter und letzter Artikel. In: ebd., S.481 f. (Nr. 121, 21. Mai); S. 486 f. (Nr. 122, 22. Mai); S. 489 (Nr. 123, 24. Mai). Ebd., S. 414. Vgl. ebd., S. 419. Auch hier hält er Coopers Charaktergestaltung gegen die Kunst des Nibelungendichters und erklärt sie für defizitär; vgl. ebd., S. 430. Ebd., S. 431; vgl. Uhlands Paraphrase, UW 3, S. 387. Bauer, Lied, S. 431.Vgl. zur Dichtung als unmittelbarem ‚Abdruck‘ bei Wilhelm Grimm: Kap. III.2.2. Bauer, Lied, S. 490. Ebd., S. 419; vgl. Uhlands Paraphrase, UW 3, S. 386.
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
konstituierenden Dichtung frei geworden ist: die des Herausgebers. Der Dichter Bauer dagegen sieht in dem Epos, wie es vorliegt, das Produkt eines Könners, der seinem hohen Beruf in der Gestaltung und Formung auf geniale Weise gerecht geworden sei. Der Dichterphilologe Uhland zielt auf eine dritte Position, die die beiden anderen vermittelt und überwindet. Anders als Grimm, anders auch als Bauer unterscheidet er zwischen der Sage und der dichterischen Gestalt des Nibelungenliedes. Auch für ihn reicht die Sage als Ineinander von Mythos und Geschichte bis in Urzeiten hinab. Sie bilde einen ganzheitlichen Zusammenhang von Gestalten und Handlungen mit historischem und mythologischem Substrat. In ihr drücke sich das kollektive Gedächtnis eines Volkes aus. Ständig aktualisiere es sich in mündlichem Sagen und Singen. Diese Dichtungen brächten Ausschnitte des Ganzen in poetische Form. Die beschriebene Durchdringung von Produktion und Rezeption verleihe den einzelnen Elementen einen Schliff, der dem Volk entspreche. Heraus komme die gemeinschaftliche Poesie eines Volkes, das darin seinen Geist und seine Identität wiedererkenne. Auch die Plastizität der Charaktere führt Uhland auf diesen andauernden Gestaltungsprozess zurück. Sie seien in poetischer Verfassung im kollektiven Gedächtnis vorhanden und schon längst vor dem Nibelungenlied „fertig […], als selbständige Persönlichkeiten begründet und anerkannt“ (UW 3, S. 392). Insofern ist der Urheber des Nibelungenliedes für Uhland weder der Erfinder der Sage, der Handlungen oder Charaktere noch der „gestaltende[] Bearbeiter eines vorher noch nicht poetisch zugebildeten geschichtlichen oder sagenhaften Stoffes“ (ebd.). Auch der zeitgenössische Leser Bauer spreche, ohne es zu realisieren, mit seinem ästhetischen Lob auf die „längst im Volke wirkende dichterische Gesamtkraft“ an (UW 3, S. 392), wenn er die Plastizität der Charaktere lobe. Aber Uhland betont auch, dass weder der Kosmos der Sage noch die Gesamtheit vorheriger Lieder mit dem Nibelungenlied identisch seien. Er nimmt hier eine Ebene des Epos in den Blick, von der die an den Ursprüngen der Sage interessierten Philologen gerne absahen: die zeitgenössische hochmittelalterliche Welt, in die das Nibelungenlied seine Handlungen versetzt. Hagen und sein Gegner Schubarth hatten, wenn auch mit unterschiedlichem Interesse, diese Ebene des Liedes stark gemacht. Die „Beschreibungen von Ritterfesten, Werbungen und andern Botschaften, gastfreundlichen Empfängen, selbst von Gefechten, z. B. denen im Sachsenkriege“, auch die dargestellte „Sitte des häuslichen und öffentlichen Lebens“ könnten nicht Teile einer tradierten Sage gewesen sein (UW 3, S. 395).Von ihrem höfischen Charakter her seien sie dem Wesen des Volksgesangs fremd, auch entsprächen diese Momente der historischen Wirklichkeit, in der das Nibelungenlied gedichtet worden sei. Dies belege die Tätigkeit eines individuellen Dichters, der seine Welt zur Darstellung bringen wolle.
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Die Gestalten und Handlungen der Sage blieben dabei diesem zeitgenössischen Rahmen nicht äußerlich, sondern sie seien unmittelbar und organisch mit ihm verbunden. Kostüm, Handlung und die die „Handlung beseelende[] Idee“ (UW 3, S. 398) bildeten eine „Einheit“ (UW 3, S. 396), die in der „Anschauungsweise“ (ebd.) des Urhebers gründe. Obwohl das Epos auf jahrhundertealter Tradition ruhe, sei es in der vorliegenden Gestalt das zusammenhängende, meisterhaft aufgefasste Gedicht eines Einzelnen. Die Individualität, die überall sichtbar werde, stehe dabei keineswegs im Gegensatz zum kollektiven Dichtungsprozess der Volkspoesie. Denn der Autor erfülle denselben Zweck wie jene. Seine Tätigkeit führe zu einer Symbiose von Tradition und Gegenwart, von Individualität und Kollektiv. Sie stifte Kontinuität von Vergangenheit und Jetztzeit, womit sie gleichzeitig auf die Zukunft weise. Es sei die Leistung des Dichters, sowohl die Gegenwart als auch den „großen Gegenstand“ des kollektiven Mythos in sich aufzufassen, beide zu verbinden und im „Geist der Sage“ wiederum die „Begrenzung“ seines „Werkes“ zu finden (UW 3, S. 398). Gerade durch seinen individuellen Beitrag werde der Nibelungendichter ein integraler Teil der durchgehenden Überlieferung. Er mache „seine Zeit in den alten Mären geltend“ (UW 3, S. 396). Die radikale Unterscheidung von Naturpoesie und Kunstpoesie, wie sie die Grimms entwickeln, gründet nicht zuletzt medientheoretisch in der Einführung der Schrift in die Dichtung. Sie ziehe die Poesie aus dem mündlichen Prozess und damit aus der Sphäre des Lebendigen heraus. Gleichzeitig etabliere sie eine hierarchische Trennung von Gelehrten und Ungelehrten. Nicht zuletzt diese Entgegensetzung von Schrift und Wort hat Uhland in seinen philologischen Arbeiten zu unterlaufen versucht. Die Schrift ist für ihn kein Bruch der lebendigen Tradition. Vielmehr könne die Traditionskette den Medienwandel in sich aufnehmen. Schon in seiner Abhandlung zur altfranzösischen Heldenepik trennt Uhland den – auch für ihn historisch erfolgten – Verfall von Dichtung nach dem Mittelalter von dem Einzug der Schrift. Dichtung und das Verständnis von Kultur hätten sich in der frühen Neuzeit vom Volk entfernt, aber der Medienwechsel trage daran keine ursächliche Schuld. Im französischen 12. Jahrhundert stehe mündliche Dichtung der Jongleurs neben der Verschriftlichung durch Gelehrte – jedoch nicht im Sinne eines „innere[n] Zwiespalt[s], welcher durch Streit des toten Buchstabs mit dem Leben der Sage“³⁰⁴ entstehe. Vielmehr bildeten sich gerade in diesem medialen Austausch aus den Heldengesängen die umfassenderen, schriftlichen Epen. Die „Wechselwirkung“ dieser Zeit entspricht strukturell der Situation des Nibelungendichters, der ebenfalls als Gebildeter und als Individuum
UW 4, S. 20; Altfranzösisches Epos.
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
mithilfe der Schrift das große Werk vollbringt. Auch die französischen Gelehrten nutzten die Schrift auf den mündlichen Gesang hin, sie arbeiteten, um die Dichtungen „wirklich durch Gesang in das Leben“³⁰⁵ zurückzuführen. Uhland gewichtet gegenüber Wilhelm Grimm nicht nur philologisch die verschiedenen Ebenen des Nibelungenliedes anders. Sondern in der Frage nach seinem Urheber verhandelt er gleichzeitig die Rolle des individuellen Dichters im kulturellen Prozess von Vergangenheit und Gegenwart. Gewönne das bedeutendste Werk der altdeutschen Überlieferung seine Bedeutung daraus, auf keine individuelle Autorschaft rückführbar zu sein, dann stünde es schlecht um die Möglichkeiten gegenwärtiger Poesie. Uhland beharrt also darauf, dass ein individueller Dichter diese entscheidende Blüte der zugleich epischen und sagenhaften Überlieferung geschaffen habe. Damit formuliert er gleichzeitig eine Aufgabe des Dichters auch für die Gegenwart. Sie liegt nicht in der Schöpfung von Neuem, Originärem, sondern in der Stiftung einer lebendigen historischen Kontinuität des Volkes. Diese Rolle erfüllt für Uhland der Dichter des Nibelungenliedes zur Vollkommenheit. Und nicht an dessen Größe, wohl aber an dessen kultureller Funktion richtet er auch seine eigene Rolle als Dichter aus. Der Nibelungendichter stellt innerhalb der philologischen Arbeit Uhlands auch eine Reflexionsfigur für den modernen Dichter bereit. Dies gilt, obwohl Uhland seine Position erst Jahre nach Entstehung des Hauptteils seiner Gedichte formuliert: Ihre Formierung reicht bis in die Anfänge seiner dichterisch-philologischen Tätigkeit zurück. Ein analoger Zug lässt sich in einem Werk beobachten, das Uhland 1819³⁰⁶ beginnt: seiner Monographie zu Walther von der Vogelweide.³⁰⁷ Auch Walther bildet einen Spiegel für Uhlands eigenes, für das zeitgenössische Dichten. Er liefert den Modellfall eines auch als Person bekannten Dichters. In der Vorrede stellt Uhland seine Deutung dezidiert in den Dienst einer Erkenntnis dichterischer Individualität: Bisher habe sich die Forschung vor allem mit dem „poetischen Gesamteigenthum[]“ befasst, dabei aber das „Besondre“ ausgeblendet, das,was „aus der Eigenthümlichkeit von Zeit und Ort, aus der persönlichen Anlage und Neigung des Dichters, hervorgeht“ (UW 4, S. 31). Beide Richtungen aber seien gleich notwendig. Auch der Walther tritt als Korrektiv der Forschung auf. Uhland begibt sich mit seiner Arbeit wiederum in eine Debatte. Die zeitgenössischen Deutungen des Minnesangs führen zwar gegenüber denen zum Nibelungenlied vergleichsweise ein Schattendasein, doch sind auch hier die ‚alt Ebd. So in Uhlands Tagebuch, zitiert bei Fröschle 1973, S. 184. Walther von der Vogelweide, ein altdeutscher Dichter, geschildert von Ludwig Uhland. Stuttgart, Tübingen 1822. Im Folgenden zitiert nach UW 4, S. 31– 108.
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deutschen Studien‘ nicht müßig geblieben. Nach Ludwig Tiecks Übersetzung von 1804 hatte sich ein Disput zwischen Bernhard Joseph Docen, Hagen und Jacob Grimm entwickelt. Man stritt um das Verhältnis des Minnesangs, also der höfischen Lieddichtung des 12. und 13. Jahrhunderts, zum späteren Meistersang. Grimms Argumentation gewinnt ihre Energie auch hier aus dem Begriffspaar von Natur- und Kunstpoesie. Docen hatte den Minnesang vom späteren Meistersang unterschieden; während er den letzten als eine handwerksmäßige Verfallsform der Poesie wertet, hebt er dagegen erstens die Vielfalt des Minnesangs heraus; zweitens macht er dessen lyrische Qualität stark. Die Lieder folgten zwar jeweils einer Form, seien dabei aber keineswegs künstlich im Sinne eines erstarrten Handwerks.³⁰⁸ Für Grimm dagegen sind Minnesang und Meistersang im Wesentlichen identisch: Man verfahre „falsch […], wenn man die Meistersänger von den früheren Minnedichtern trenne“³⁰⁹ – so spitzt er seine Grundthese zu, als er die Debatte 1811 mit seiner ersten Monographie überhaupt zu entscheiden versucht. Es geht Grimm dabei nicht nur um eine Begriffskorrektur, die die Bezeichnung ‚Meister‘ auch für die Minnesänger vorschlägt, weil sie in den Liedern und großen Handschriften selbst benutzt wird (vgl. Meistergesang, S. 83 – 106).Vielmehr will er den Minnesang durch Anschluss an den Meistersang insgesamt aus der Sphäre der Naturpoesie herausrücken und der „Künstlichkeit“ (Meistergesang, S. 13) zuordnen. Minnesang sei keine Poesie mehr, die „unter dem ganzen Volk lebt“ (ebd.). Sie gehöre einer anderen Stufe der Entwicklung an, in der sich „das Nachsinnen der bildenden Menschen“ an die Stelle setze, die in der Naturpoesie die notwendige, bewusstlose und kollektive Produktion einnehme (vgl. Meistergesang, S. 5). Den Minnesang präge von Beginn an der „Hang zu dem subjectiven, lyrischen Prinzip“ (Meistergesang, S. 29) und damit auch die reflektierte, künstliche Zurechtmachung der Form in Metrik und Strophik (vgl. Meistergesang, S. 36). Der Minnesang hat sich insgesamt von der Natur und vom Volk entfernt. Der Unterschied zu späteren Formen des Meistersangs kann für Grimm daher bloß graduell sein. Gerade diese kategorische Unterscheidung von Natur- und Kunstpoesie aber kann Docen nicht zugeben, ja, sie scheint ihm in ihrer Tragweite gar nicht verständlich geworden zu sein. Während Docen immer wieder die lyrische Qualität und echte dichterische Leistung der Minnesinger anspricht, hebelt Grimm diese durch sein Geschichts-
Docen rekapituliert die erste Phase der Debatte in: ders.: Ueber den Unterschied und die gegenseitigen Verhältnisse der Minne- und Meistersänger. Zur Karakteristik der frühen Zeitalter der Deutschen Poesie. In: Museum für altdeutsche Literatur und Kunst 1 (1809), S. 73 – 125. Jacob Grimm, Meistergesang, S. 13; Nachweise im Folgenden direkt im Text (‚Meistergesang‘ mit Seite).
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modell aus. Schon der soziale Ort des Minnesangs mache es unmöglich, ihn jenseits der entscheidenden Zäsur von Natur- und Kunstpoesie anzusiedeln. Es handle sich um Dichtung des Hofes und des „Ritterthums“ (Meistergesang, S. 170), die Poesie einer vom Volk unterschiedenen Elite. Sie entstehe durch eine soziale Spaltung und entziehe sich dem Volk. Die geschichtsphilosophischen und bewusstseinsgeschichtlichen Implikationen, die dies für Grimm hat, sind schon entwickelt worden. Die Geschichte der Poesie wende sich mit der Entstehung der höfischen Dichtung ins Pathologische: „Es ist, als ziehe sich eine große Einfachheit zurück und verschließe sich in dem Maße, worin der Mensch nach seinem göttlichen Treiben sie aus der eigenen Kraft zu offenbaren strebt.“ (Meistergesang, S. 5) Grimm widmet sich dem Thema daher auch mit ostentativer Lustlosigkeit: Der Gegenstand sei einer „der trockensten und verwickeltsten in der altdeutschen Poesie überhaupt“; lieber hätte er sich dem Studium der „überall erfreuenden und im Resultat viel reicher lohnenden […] poetischen Sagen“ gewidmet (Meistergesang, S. 4) – so heißt es in der Einleitung. Nicht zuletzt diese Deutung des Minnesangs ist es, gegen die der Dichterphilologe Uhland anschreibt. Sein Walther geht dazu unauffällig, aber bestimmt in Stellung. Schon der biographisch-monographische Ansatz formuliert einen Vorbehalt. Er stellt das Leben eines Dichters ins Zentrum und weigert sich damit, die Individualität des Minnesangs als Form eines summarischen Verfalls zu verstehen. Zwar macht die Quellenlage zu Walther Uhlands Unternehmen alles andere als einfach. Er muss die Spärlichkeit von Lebenszeugnissen zugestehen. Aber Minnesang und Spruchdichtung werden ihm zu Medien, aus denen sich Walthers Biographie und vor allem die Durchdringung von individuellem Dichten mit dem Leben der Gemeinschaft rekonstruieren lassen. Uhland zeigt einen Walther, der konsequent ‚Ich‘ sagt und dieses ‚Ich‘ im Medium der Dichtung zur Darstellung bringt. Aber in dieser Individualität tritt gleichzeitig das Allgemeine zutage. In Walthers Werk konzentriere sich die Fülle des Mittelalters, um als Geist der Zeit und auch des Volkes sichtbar zu werden. Nicht nur lasse sich aus den geographischen Angaben seiner Gedichte eine „Landkarte des poetischen Deutschlands im Mittelalter entwerfen“ (UW 4, S. 32). Auch die historische Signatur des Mittelalters sei in ihnen enthalten: Denn Walther stehe, ebenso wie Uhland es für den Nibelungendichter sagen wird, entschieden in seiner Zeit, und zwar gerade, indem er diese mit der Vergangenheit zu vermitteln verstehe. In seinen Liedern – in der Sangspruchdichtung genauso wie in der Minnedichtung – gingen die gleichzeitig lebendige, aber ebenfalls tief in die Vergangenheit reichende Volksdichtung und die Welt der Höfe mit ihren Ansätzen von Schriftkultur eine Symbiose ein. Möglich sei dies gerade deshalb, weil Walther seine Individualität behaupte, sie zum Medium dieser Vermittlung mache: Er habe „nicht seine Persönlichkeit in der
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alten Heldensage des deutschen Volkes untergehen lassen“, sondern vielmehr sie und die „Gegenwart ergriffen“ (UW 4, S. 36). Walther wird für Uhland nicht zuletzt auch in Bezug auf das politische Engagement seiner Dichtung wichtig. Gegenüber seiner Deutung des Nibelungendichters ist dies ein neuer Aspekt. In der Sangspruchdichtung manifestieren sich für Uhland auch die politischen Funktionen der mittelalterlichen Dichter. Deren Abhängigkeit von Gunst und Freigebigkeit der Fürsten hat für ihn eine dialektische Rückseite, die ihre Macht begründet. Indem sie reales gegen symbolisches Kapital tauschen, herrschen die Dichter über die Überlieferung. Damit aber besitzen sie Gewalt über den Nachruhm: Wo die Fürsten den Dichtern nicht willfahrten, machten diese „ihr Lied zur Waffe des Tadels und des Spottes. Sie werfen dem unmilden Herrn einen Stein in den Garten und eine Klette in den Bart“ (UW 4, S. 54 f.). Als etwa der Herzog von Österreich Walther eine persönliche Gunst vorenthalte, memoriere Walther seine Unzufriedenheit und das geschehene Unrecht in einem Lied: „Daß ich nun singen müsse in dieser Weise also, / Wer höfischen Sang und Freude störe, daß der werde unfroh!“ (UW 4, S. 73). Der Dichter ist ein Individuum, in dem seine Zeit zur Erscheinung kommt; und in seiner Dichtung besitzt er ein Instrument, um auf diese Zeit selbst zu wirken. Mit diesen zwei Elementen – der Vermittlung von Gegenwart und Vergangenheit einerseits und der politischen ‚Waffe‘ einer Herrschaft über die Überlieferung andererseits – treten zwei Momente hervor, die auch Uhlands eigene Dichtungen prägen.
3 Symbiose der Zeiten und Sängerfluch – Uhlands Gedichte Lieder und Balladen bilden einen Schwerpunkt in Uhlands Dichten. Insbesondere die erzählende Gattung nimmt große Teile seiner Gedichtsammlung ein. Thematisieren die Lieder als eigentlich lyrische Dichtungen eher die Empfindungen des Sängers, so berichten die Balladen ein Geschehen. Als erzählende Kurzgedichte stünden sie auch dem Epos am nächsten, wenn man Wolfs Homer-Hypothese folgt. An Friedrich Schlegel, Hagen und den Grimms war dies deutlich geworden. Im Epos realisiert sich der vorher bereits im Sagenkreis vorhandene Zusammenhang in einer großen Dichtung. Es ist gleichsam die voll entfaltete Blüte der Volkspoesie, wie auch immer man dann kollektive und individuelle Dichtung ins Verhältnis setzt. Die Ballade bildete also einerseits das Grundelement des umfassenden Epos, gleichzeitig wäre sie die eigentliche Form der Volksdichtung. Uhland schreitet in seinen Balladen den ganzen Kreis der Gattung aus. Übersetzungen aus altdeutschen wie provenzalischen Heldenliedern bietet er genauso wie Lieder über die großen mittelalterlichen Themen Liebe, Kampf und
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Herrschaft oder Schauerballaden. Aufschluss über die Frage, auf welche Weise sich der Dichter Uhland mit seinen Balladen in eine als kontinuierlich aufgefasste Überlieferung stellt, kann aber insbesondere eine Untergruppe seiner Dichtungen bieten: Balladen, in denen der Gesang selbst thematisiert wird.³¹⁰ Die Gedichte über den Gesang reflektieren die Stellung des gegenwärtigen Dichters zur Vergangenheit, zu seiner Gegenwart und auch zur Zukunft. Ein Beispiel dafür liefert die Ballade Die drei Schlösser, die 1811 entstand und im Poetischen Almanach von Kerner gedruckt wurde.³¹¹ Drei Schlösser sind in meinem Gaue, Die ich mit Liebe stets beschaue; Und ich, der wohlbestellte Sänger, Durch Feld und Wald der rasche Gänger, Wie sollt ich schweigen von den dreien, Die sich dem Gau zum Schmucke reihen? (VV. 1– 6)
Der „wohlbestellte Sänger“ will von drei Schlössern berichten, die in seinem Wanderungsgebiet liegen. Sie schmücken die Heimat, entsprechend sind sie Orte einer Betrachtung, eines Schauens, das für den Sänger in Liebe mündet. Deutlicher noch als der lokalhistorische Bezug, den die Herausgeber der UhlandWerkausgabe betonen,³¹² ist dabei die allegorische Anordnung des Gedichtes. Die drei Schlösser markieren die Begegnung mit drei verschiedenen historischen Ebenen: Das erst ist kaum ein Schloß zu nennen, An wenig Trümmern zu erkennen, Versunken dort am Waldeshange, Sein Name selbst verschollen lange (VV. 7– 10)
Das älteste Schloss stammt aus einem lange vergangenen Altertum. Das Gedicht vergegenwärtigt nicht diese Zeit selbst, sondern nur noch die wenigen Fragmente, die in die Gegenwart herüberreichen. Während der Stein hartnäckig der verge-
Eine Auswahl interpretiert Sandra Pott: Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Berlin, New York 2004, S. 120 – 124. Poetischer Almanach für das Jahr 1812. Besorgt von Justinus Kerner. Heidelberg [1811], S. 162– 165. An ihm beteiligten sich auch Fouqué, Kerner selbst, Gustav Schwab und Varnhagen. Im Folgenden mit Angabe der Verszählung zitiert nach UW 1, S. 183 – 185. Sie beziehen sich auf einen Brief Uhlands an Körner vom 22. Febr. 1810 und ein Zeugnis seiner Frau; vgl. UW 1, S. 570.
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henden Zeit trotzt, erweist sich das Wort als flüchtiger: Der Name des Schlosses ist längst vergessen. Doch weiß der Sänger ein Mittel gegen dieses Vergessen. Er fordert den Leser auf, sich durch „Waldes Dichte“ zu den Überresten zu begeben und in einen betrachtenden Dialog mit den Ruinen zu treten: Dort kannst du Wundermär erfragen, Von Mauern, welche nicht mehr ragen. Ja, setzest du im Mondenscheine Dich aufs verfallene Gesteine, So wird die Kund, auch unerbeten, Dir vor die stille Seele treten. (VV. 17– 22)
Der Sänger fordert den Leser zu jenem liebenden Schauen auf, wie er selbst es pflegt. Die Steine gewinnen dann ihre Sprache zurück und geben Kunde von ihrer Geschichte: eine Wundermär aus längst vergangenen Zeiten. Was einerseits wie ein inspiratives Wissen erscheint, das an die poetische Betrachtung gebunden wäre, ist andererseits doch exakt gearbeitet. In der inspirativen Ruinenromantik erscheint eine zweite, philologische Ebene. Denn das Vergessen hat seinen Grund. Es stellt sich ein, weil das Schloss nicht mehr sichtbar ist: „Denn seit nicht mehr die Türme ragen, / Verging nach ihm der Wandrer Fragen.“ (VV. 11 f.) Name und Geschichte verlieren sich aufgrund der Eigenart von mündlicher Überlieferung. Die Kunde versiegt, weil kein Grund für ihre Weitergabe mehr besteht. Und auch das Wissen des Sängers findet eine Begründung diesseits der Inspiration durch einen genius loci. Er ist derjenige, der sich wieder einen Weg zu den spärlichen Mauern bahnt. Die Kunde aus der Vergangenheit ist Frucht eines Wiederentdeckungsinteresses. Romantische Be-geisterung und Interesse für die Altertümer sind vereint. Der Mondschein evoziert einerseits Stimmung, andererseits sorgt er doch dafür, dass die Ruinen für den stillen, gleichsam archäologischen Betrachter sicht- und rekonstruierbar bleiben. Uhlands Sänger erweist sich als ein altertumskundiger Dichter, der die Stimme des Geistes aufgrund eines gekonnten Umgangs mit der Vergangenheit vernimmt. Die Liebe, mit der er betrachtet, ist poetische und philologische Tugend zugleich. Das erste, altertümliche Schloss hat zu seiner Wiederbelebung nur noch archäologische Überreste zu bieten, keine flankierende Parallelüberlieferung. Das zweite ist historisch weniger weit entfernt. Es ist noch sichtbar und könnte weiterhin als Inzitament für jene mündliche Tradition fungieren: Du siehst vom hohen Bergesrücken Es stolz im Sonnenstrahle blicken. (VV. 25 f.)
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
Aber dieses Schloss hat noch anderes zu bieten. Es ist nicht nur architektonisch integer, auch wenn es nun Zugvögel und Efeuranken beheimatet. Sondern es birgt auch Artefakte, die Kunde von seinem einstigen Leben übermitteln, stehen doch „Heldenbilder“ allerorten und „zween Marmorlöwen an der Pforte“ (VV. 29 f.). Die Überlieferung ist soweit intakt, dass die Erzählungen und die Realien ineinandergreifen und die Erinnerung auch nach dem Untergang des Lebens wahren: Doch wie noch die Geschichten melden Der Herrscher Namen und der Helden, So sieht man auch die Türm und Mauern Mit ihren Heldenbildern dauern. (VV. 51– 54)
Entsprechend kann der Sänger hier das vergangene Leben selbst vergegenwärtigen: Er erzählt vom Streiten der Herrscher und Helden, von „der Burg Getümmel“ (V. 43), schließlich vom sagenhaften Untergang des Schlosses: Da fuhr ein Feuerstrahl vom Himmel, Der reiche Schatz verging in Flammen, Gemach und Treppe fiel zusammen. (VV. 44– 46)
Am zweiten Schloss wird eine höfische Heldenzeit inszeniert, die in eine mittlere Distanz gerückt ist. Legendenhafte Überlieferung mit Geschehnissen und Namen, genealogische Kunde über die Herrscher, aber auch Parallelüberlieferungen aus „Geschichten“ (V. 51) von Heldenkämpfen andernorts sowie die architektonischen Überreste des Ortes selbst bilden ein reiches Geflecht von Quellen, die der Sänger zu seiner Vergegenwärtigung nutzen kann. Er nennt diese Zeugnisse, markiert ihre jeweilige Natur und Herkunft, bindet sie aber dennoch zu einer Verlebendigung des Ortes und seiner Vergangenheit zusammen. Nach Vorzeit und Heldenzeit führt das dritte Schloss in die Gegenwart. Entsprechend ist es noch kaum ein Schloss: „Es ist zu klein für die Geschichte, / Zu jung für Sagen und Gedichte.“ (VV. 67 f.) Damit hat der Sänger eine zweite Aufgabe gefunden. Denn neben der Deutung und Bewahrung der Vergangenheit gilt es, dieses dritte Schloss erst in die Überlieferung zu bringen: Doch ich, der wohlbestellte Sänger, Durch Feld und Wald der rasche Gänger, Ich sorge redlich, daß nicht länger Das Schlößlein bleibe sonder Kunde. (VV. 69 – 72)
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Der Beruf des Sängers liegt darin, die Kontinuität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durch seinen Gesang zu wahren. Hat er vorher die Vergangenheit in die Gegenwart eingebracht, so öffnet sich die Kreisbewegung der Überlieferung nun auf die Zukunft hin. Er übermittelt auch seine Gegenwart dem Gedächtnis einer Zukunft, die er in seinen Worten bereits antizipiert: So will in mir die Hoffnung sprießen, Daß eine Kunde, drin Geschichte, Sich schön verwoben mit Gedichte, Daß solche Kunde bald beginne […] (VV. 77– 80)
Diese Reflexion über die Entstehung und Tradierung von Geschichten entstammt einem philologisch-dichterischen Wissen von der Überlieferung, das der Sänger an den beiden Vergangenheiten erhoben und expliziert hat. Aber während er selbst das Sprachrohr der beiden untergegangenen Schlösser war, nimmt sich seine Verantwortung für die Gegenwart anders aus. Denn in Bezug auf seine Zeit ist er nicht so sehr Sänger als vielmehr Akteur. Nicht nur sein Lied soll die neue Tradition stiften, sondern auch seine Tat. Gegenstand der zukünftigen Lieder wird nicht er als Sänger sein, aber als Liebender, und die Geschichten werden nicht nur um den Dichter kreisen, sondern um seinen Liebesdienst an der Bewohnerin des Schlosses: Geschichten „von Klelias und Sängers Minne“ (V. 81). Hier soll nicht so sehr die altertümelnde Form des Minnedienstes hervorgehoben werden, durch die die Gegenwart ihre geschichtliche Bedeutung für die Zukunft gewinnen soll.Wichtig ist vielmehr die Dynamik der Tradition, wie sie der Sänger thematisiert. Er verbindet durch seinen Gesang die Vergangenheit und die Gegenwart. Dies beruht auf einer Einheit von philologisch-historischer Rekonstruktion und dichterischer Vergegenwärtigung, durch die er sich in eine als kontinuierlich begriffene Zeitfolge stellt. Aber sein Gesang transformiert sich in der Gegenwart. Durch seine Lieder konserviert er nicht nur Geschichte – er ‚macht‘ sie gleichzeitig auch. Seine Lieder sind Taten, durch die das dritte Schloss und der Minnedienst wiederum für eine Zukunft überlieferungswürdig werden. Eine Kette von Sängern ließe sich imaginieren, die immer wieder die Tradition aufgreifen und in ihrer Zeit zu neuer Geltung auch in der Tat bringen. Der Dichter ist ein bewahrendes, aber auch selbst tätiges Glied in der Traditionskette. Sie überschreitet ihn, aber er ist doch für ihren Zusammenhalt verantwortlich. Als singendes und handelndes Individuum wird er Teil einer durch die Zeiten reichenden Kollektivität. Uhlands literaturgeschichtliche Ballade setzt die Konstellation um, in der ihm später der Nibelungendichter und Walther erscheinen werden.
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
Weitere Momente, die diese Traditionskette und die Schaffung von Kontinuität ausprägen, fasst Uhland in anderen Gedichten expliziter ins Auge. Die Kette der Überlieferung nimmt er beispielsweise in seiner provenzalischen Ballade vom Sänger Taillefer auf. Sie schließt in den Gedichten eine Reihe von Balladen um den Helden Roland ab.³¹³ Während einige Lieder sich um Roland drehen, zeigt Taillefer, wie sein Titelheld der Schlacht von Hastings mit jenem schon genannten Lied von Roland auf den Lippen den entscheidenden Impuls gibt.³¹⁴ Die Kette der Überlieferung verbindet Vergangenheit und Gegenwart, und sie ist eine Option auf die Zukunft. Taillefers Lied wird Teil der Rolandsepik werden, deren Kernstück den Zeitgenossen noch unbekannt war, deren Existenz Uhland in seinem Aufsatz von 1812 aber entschieden hypostasiert.³¹⁵ Der Balladenzyklus inszeniert die zeitgenössische Epentheorie, und der individuelle Sänger Taillefer wird ausdrücklich zum Glied in der Überlieferungskette. An Taillefer wird ebenfalls deutlich, dass die Kette der Überlieferung auch die Einheit von Dichtung und Tat voraussetzt. In anderen Gedichten stellt Uhland dieses Motiv ins Zentrum. Die Ballade von den Drei Liedern ³¹⁶ erzählt die Geschichte eines jungen Harfners, der zum König Sifrit gerufen wird und ihm singen soll. „Die Harf in der Hand, das Schwert an der Lende“, tritt er vor ihn. Er singt nicht ein Lied, sondern drei: Das erste ruft dem König ins Gedächtnis, dass er den Bruder des Sängers „meuchlings erstochen“. Das zweite fordert den König dafür zum Kampf. „Da lehnt’ er die Harfe wohl an den Tisch, / Und sie zogen beide die Schwerter frisch“. Als der König fällt, stimmt der Sänger sein drittes Lied an, das nun von der vollzogenen Rache und vom toten König berichtet. Dichtung und Tat sind hier unmittelbar verwoben, die Lieder ruhen auf Taten, sie memorieren sie und fordern so zur Verantwortung. Das dritte Lied gar kann erst gesungen werden, wenn die Forderung der ersten Lieder vollzogen ist.
Die Reihenfolge dort seit 1815: Klein Roland, Roland Schildträger, König Karls Meerfahrt und Taillefer. Auch im Deutschen Dichterwald (von Justinus Kerner, Friedrich Baron de la Motte Fouqué, Ludwig Uhland und Andern. Tübingen 1813), in dem Taillefer 1813 zuerst gedruckt wurde, gehen ihm Roland Schildträger und König Karls Meerfahrt voraus. Klein Roland erschien mit anderen Gedichten Uhlands zuerst im Pantheon 2 (1810), S. 421. Vgl. zur zeitgenössischen philologischen Konstellation Kap. II.3.4. „Er sang so herrlich, das klang über Hastingsfeld, / Von Roland sang er und manchem frommen Held. // Und als das Rolandslied wie ein Sturm erscholl, / Da wallete manch Panier, manch Herze schwoll, / Da brannten Ritter und Mannen von hohem Mut, / Der Taillefer sang und schürte das Feuer gut.“ (UW 1, S. 222– 224, hier S. 224). Uhlands Quelle für die Ballade ist der Roman de Rou; vgl. dazu Kap. II.3.4., S. 214. Anmerkungen zum Bezug der Ballade zum Roman de Rou bei Paul Eichenholtz: Quellenstudien zu Uhlands Balladen. Berlin 1879, S. 35– 42. UW 1, alle Zitate S. 132 f. Das Lied entstand 1807 und wurde in Arnims Einsiedlerzeitung zum ersten Mal gedruckt.
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Uhland nutzt dieses Funktionsmodell dabei nicht nur zur Projektion eines besseren Mittelalters und damit in einer Haltung, die sich als sentimentalisch verstehen ließe. Er macht es auch für die gegenwärtige Politik geltend. 1815, als Württemberg dem Deutschen Bund beitreten sollte, entbrannten Streitigkeiten um die Verfassung. Friedrich I. legte einen neuen Entwurf vor, der den Tübinger Vertrag von 1514 ersetzen und die weitreichenden Rechte der Landstände kassieren sollte. Uhland wandte sich mit den Landständen massiv dagegen. Neben dem unmittelbaren Engagement publizierte er anonym zwei Sammlungen von Vaterländischen Gedichten (1816 und 1817). Sie fordern das „gute alte Recht“ der alten Verfassung ein. Dessen Geltung wird aus politischen und aus historischen Gründen stark gemacht. Nicht wenige der Gedichte gingen als Flugblätter um und trugen zur Politisierung der Bevölkerung bei, so dass Friedrichs Vorhaben schließlich scheiterte. Die Lieder erfüllten damit gewissermaßen, was Uhland 1813 in dem Gedicht Freie Kunst entworfen hatte: Sie sind fliegende Blätter – wer mag, erhascht sie und singt sie weiter.³¹⁷ Sie sind weder an ihren Wortlaut gebunden noch an ihre Autoren, sondern an den Geist, der dem Ganzen des Volkes innewohne. Hier erscheint die Position, die Uhland später den Sängern im Prozess des Nibelungenliedes einräumen wird. Die ‚Freiheit‘ der Weitergabe und Aufnahme von Liedern lässt sich dabei auch politisch konnotieren, denn das Volk – so ein Tenor der Vaterländischen Gedichte – sei es, das in den Kriegen gegen Napoleon gesiegt habe, nicht die Fürsten. Die Verbindung von Kollektivität und Anonymität und die Kette der Überlieferung begründen diese politischen Stellungnahmen genauso wie die Identifikation von Dichtung und Tat. Das neue Märchen, ebenfalls 1816 anlässlich des Verfassungsstreits geschrieben,³¹⁸ aktualisiert eine mythische Situation und transformiert damit auch die Aufgabe des Sänger-Helden in die Gegenwart: Das neue Märchen Einmal atmen möchte ich wieder In dem goldnen Märchenreich, Doch ein strenger Geist der Lieder Fällt mir in die Saiten gleich.
„Nicht an wenig stolze Namen / Ist die Liederkunst gebannt; / Ausgestreuet ist der Samen / Über alles deutsche Land. // […] // Kann man’s nicht in Bücher binden, / Was die Stunden dir verleihn: / Gib ein fliegend Blatt den Winden! / Muntre Jugend hascht es ein.“ Das Gedicht eröffnet programmatisch den Deutschen Dichterwald von 1813; vgl. UW 1, S. 34 f. Dazu Pott 2004, S. 120. UW 1, S. 60; das Gedicht entstand 1816, zuerst gedruckt wurde es in der 2. Auflage der Gedichte von 1820 (vgl. den Kommentar UW 1, S. 541).
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
Freiheit heißt nun meine Fee, Und mein Ritter heißet Recht; Auf denn, Ritter, und bestehe Kühn der Drachen wild Geschlecht.
Die genannten Momente bilden, zusammengenommen, zentrale Elemente des Funktionsmodells von Uhlands Balladen- und Lieddichtung, wie es sich auch an zahlreichen anderen seiner Gedichte nachweisen lässt. Die mittelalterlichen Phantasien formulieren ein Modell von Kultur und Tradition, das fundamental auf Prozessen der Überlieferung beruht. Die Verantwortung für die Kontinuität trägt der Sänger – ein Sänger, der die Traditionsprozesse gewissermaßen studiert hat und sie mit in seine poetisch-philologische Gestaltung von Gegenwart und Zukunft einbezieht. Hier spricht die dichterische Seite des Dichterphilologen, der nicht nur märchenhafte Vergangenheiten imaginiert, sondern ihre Überlieferungsund Wirkungsmodi mit in sein Kalkül zieht, das dabei auch durchaus politisch sein kann. Die philologische Reflexion, die in die Dichtungen eingelassen ist, verleiht der poetischen Stimme Uhlands dabei eine konzeptionelle Legitimität, die von der Forschung gerne übersehen wird. Auch Uhlands berühmtestes Gedicht erschließt sich vor diesem Hintergrund als Aktualisierung eines dichterisch, philologisch und auch politisch ausgerichteten Traditionsmodells. Des Sängers Fluch berichtet in der neuen Nibelungenstrophe vom Geschick eines reisenden Sängerpaars am Hof eines Herrschers, der in seiner Macht erstarrt ist.³¹⁹ […] Nun sei bereit, mein Sohn! Denk unsrer tiefsten Lieder, stimm an den vollsten Ton! Nimm alle Kraft zusammen, die Lust und auch den Schmerz! Es gilt uns heut, zu rühren des Königs steinern Herz. (VV. 13 – 16)
So spricht der alte Sänger zu seinem jungen Gefährten. Das Gedicht thematisiert in der Situation der fahrenden Sänger die politische Rolle von Dichtung. Rührung durch die ästhetische Verabreichung von Schmerz und Lust ist zunächst ihr Programm. Die Sänger selbst sind frei, da sie nicht dem Hof angehören. Gerade
Zitiert nach UW 1, S. 252– 254, mit Verszählung; Erstdruck in Gedichte1 (1815). Neuere Interpretationen bieten Fritz Martini: Macht und Ohnmacht des Gesangs. Zu Ludwig Uhlands Ballade Des Sängers Fluch. In: Gedichte und Interpretationen. Bd. 3. Hrsg. von Wulf Segebrecht. Stuttgart 1984, S. 322– 333; Georg Braungart: Ludwig Uhland: Des Sängers Fluch – Versuch einer Rettung. In: Lese-Erlebnisse und Literatur-Erfahrungen. Annäherungen an literarische Werke von Luther bis Enzensberger. FS Kurt Franz. Hrsg. von Günter Lange. Hohengehren 2001, S. 128 – 139.
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deshalb können sie hoffen, ihre befreiende Wirkung auszuüben: Ihr Gesang handelt von „Lenz und Liebe, von sel’ger goldner Zeit, / Von Freiheit, Männerwürde, von Treu und Heiligkeit“ (VV. 25 f.). Der Gesang zeitigt die gewünschte Wirkung. Feile Höflinge und gestählte Krieger beugen sich vor Gott, und die Königin zerfließt in Lust. Zum Herzen des Königs aber dringen die Lieder nicht vor. Im Gegenteil: Er sieht die Macht des Gesangs, die Hofstaat und Weib verführt, und ersticht den jungen Sänger. Der Alte spricht nun den Sängerfluch: Weh euch, ihr stolzen Hallen! Nie töne süßer Klang Durch eure Räume wieder, nie Saite noch Gesang, Nein! Seufzer nur und Stöhnen und scheuer Sklavenschritt, Bis euch zu Schutt und Moder der Rachegeist zertritt! Weh euch, ihr duft’gen Gärten im hohen Maienlicht! Euch zeig ich dieses Toten entstelltes Angesicht, Daß ihr darob verdorret, daß jeder Quell versiegt, Daß ihr in künft’gen Tagen versteint, verödet liegt. (VV. 45 – 52)
Wo kein Platz ist für Gesang, da sei der Verfall vorprogrammiert – der Fluch des Alten verlässt sich auf den ersten Blick auf eine symbolische Relation von Menschlichkeit und Dichtung. Der vorausgesagte Verfall des Schlosses und seiner Gärten erscheint zunächst als Folge einer magischen Kommunikation zwischen dem Lebendigen und dem Toten. Der Anblick des getöteten Sängers soll auch das Leben des Schlosses, den ganzen Ort verdorren lassen. Die Macht der Dichtung scheint sich auf den frommen – und damit realiter machtlosen – Wunsch zurückgezogen zu haben, dass, wer nicht menschlich ist, schon von selbst dem Untergang geweiht sei. Der Sängerfluch wirkt wie eine Allmachtsphantasie, in der der Dichter Uhland ein erfundenes Mittelalter zur Wunscherfüllung nutzt. So deutlich die politische Dimension von Dichtung und die politische Rolle des Dichters hervortreten – sie wirken zunächst verfehlt. Aber ein zweiter Blick auf den Sängerfluch zeigt, dass auch hier, wie in jenem Gedicht von den Drei Schlössern, weitere Ebenen eingezogen sind. Schon der Beginn des Fluchs bindet Gesang und Menschlichkeit enger aneinander: Weh euch, ihr stolzen Hallen! Nie töne süßer Klang Durch eure Räume wieder, nie Saite noch Gesang, […] (VV. 45 f.)
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
Der Fluch verlässt sich nicht nur auf die magische Verbindung von vermenschlichender Kunst und königlicher Prosperität. Sondern es sind zunächst einmal die freien Sänger, die durch ihre Gedichte und die Empfindungen, die sie wecken, die Menschlichkeit an die Orte der Herrschaft tragen. Wenn die Sänger nicht mehr kommen, weil der König sie exekutiert, wenn den Höflingen keine Frömmigkeit mehr verabreicht wird und der Königin keine Lust, dann mag es um den Ort auch auf andere Weise nicht mehr gut bestellt sein. Dem Fluch ist also auch ein psychologisch-wirkungsästhetisches Kalkül eingeschrieben. Wo die bildenden Wirkungen der Kunst nicht zugelassen sind, dort hat die Menschlichkeit einen schweren Stand. Diese Interpretationsebene rückt schon näher an zeitgenössische Auffassungen von der Macht der Dichtung heran. Auch wenn sich die Konzeption einer ästhetischen Erziehung in dieser knappen Fassung einem gewissen Trivialitätsverdacht aussetzen mag, so nimmt sie doch in den zeitgenössischen Wertedebatten eine zentrale Stellung ein. Aber neben der magischen und der ästhetischen ist dem Sängerfluch noch eine dritte Ebene eingelagert. Weh dir, verruchter Mörder! du Fluch des Sängertums! Umsonst sei all dein Ringen nach Kränzen blut’gen Ruhms, Dein Name sei vergessen, in ew’ge Nach getaucht, Sei wie ein letztes Röcheln in leere Luft verhaucht! (VV. 53 – 56)
Der alte Sänger führt den Ruhm und das Nachleben an. ‚Vergessen‘ ist das letzte Stichwort seines Fluchs. Mit ihm bringt er die philologische Frage nach der Bildung von Tradition ins Spiel, also das, was oben als Kette der Überlieferung bezeichnet wurde. Auf dieser dritten Ebene nimmt der Sängerfluch eine gewissermaßen medientheoretische Färbung an. Denn unter den Bedingungen der Mündlichkeit, die das Gedicht mit seiner idealisierend-historischen Szene mitentwirft, liegt hier die entscheidende Macht der Sänger. Sie tragen nicht nur Lieder an die Höfe und ins Volk, sondern bringen auch die Kunde von dort an andere Orte. Mit ihrer dichterisch-symbolischen Tätigkeit verbindet sich eine nachrichtliche und historiographische Funktion. Die Macht der Bewahrung und des Vergessens beruht in philologischer Perspektive auf Vorzeit und Mittelalter nicht zuletzt auf der Traditionsleistung der Dichtung. An Walther hat Uhland dies kurze Zeit später herausgearbeitet. Ein Ort, an den keine Dichter kommen – so das Kalkül hinter dem Sängerfluch – fiele demnach dem Vergessen anheim, gleich dem ersten Bauwerk in der Ballade von den Drei Schlössern. Der dritte Sinn des Sängerfluchs betrifft das kollektive Gedächtnis. Der Alte antizipiert seine Rolle als Glied in einer Traditionskette, das die Gegenwart mit der Zukunft verbindet, damit aber auch die
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Macht hat, diese Verbindung durch Verschweigen zu kappen. Das Ende der Ballade rückt diese kommunikative Seite des Fluchs ins Zentrum: Der Alte hat’s gerufen, der Himmel hat’s gehört, Die Mauern liegen nieder, die Hallen sind zerstört, Noch eine hohe Säule zeugt von verschwundner Pracht, Auch diese, schon geborsten, kann stürzen über Nacht. Und rings statt duft’ger Gärten ein ödes Heideland, Kein Baum verstreuet Schatten, kein Quell durchdringt den Sand, Des Königs Namen melde kein Lied, kein Heldenbuch; Versunken und vergessen! das ist des Sängers Fluch. (VV. 57– 64)
Aus einer fernen Zukunft sieht die Ballade den Fluch erfüllt. Zwar wird der Untergang einerseits sagenhaft der dichterischen Magie zugeschrieben, indem der Himmel sofort für die Zerstörung gesorgt habe. Aber diese Magie wird flankiert durch die archäologisch-philologische Erklärung des Vergessens. Die Steine können keinen Namen künden, und die Dichter haben den Namen des Königs offenbar nicht in die Sammelpunkte der Überlieferung, in Lieder und Heldenbücher, hineingetragen. Ihre Weigerung, die eigene symbolische und kommunikative Macht in den Dienst des Herrschers zu stellen – diese Weigerung ist die philologische Seite des Sängerfluchs. Auch hier lässt sich Uhlands Funktionsmodell des Dichters identifizieren. Dieser ist mit seinem politischen, ästhetischen und historischen Auftrag das entscheidende Glied in der Kette von Tradition. Die Überlieferung fortzusetzen, seine Individualität in den Dienst einer kollektiven Geschichte zu stellen, ist seine erste Aufgabe. Die Tradition zu unterbrechen, wäre die komplementäre zweite Wahl, die dem Dichter bleibt. Im Dichterphilologen Uhland erhellen sich die poetische und die philologische Seite wechselseitig. Die Philologie erkundet über die Vergangenheit kulturelle Funktionen von Dichtung. Und die Kontinuität zwischen den alten und den gegenwärtigen Dichtern legitimiert die Möglichkeit einer Gegenwartspoesie, die die philologische Aufgabe in sich aufgenommen hat: eine Traditionskette zwischen Vergangenheit, Gegenwart und – mittels der Dichtung als Tat – der Zukunft zu schaffen. Freilich zeigt die Ballade von Des Sängers Fluch auch potentielle Störungen in diesem Modell. Es war deutlich geworden, dass Uhland in die scheinbar altertümelnde Ritterromantik mit ihrer Aktivierung magischer und symbolischer Muster andere Ebenen einzieht. Sie liefern für die sagenhaften Geschehnisse eine parallele Erklärung, die sich aus dem philologischen Wissen um die Dynamik von Überlieferung speist. Dem Vorwurf von unverbindlichen Mittelalterphantasien
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III Philologen unter sich? – Philologisch-historische Provokationen der Dichtung
setzt er sich also nicht aus. Aber freilich ließe sich fragen, inwiefern eine Fortsetzung dessen, was er philologisch als mittelalterliche Tradition fasst, in der Gegenwart überhaupt möglich ist. Die Brüder Grimm setzen durch ihre kategoriale Unterscheidung von Naturpoesie und Kunstpoesie die Möglichkeiten moderner Dichtung herab. Aber gleichzeitig bieten sie dadurch Einsichten in die Macht medialer Umstellungen wie der von Mündlichkeit auf Schrift und damit in die Alterität historisch anderer Verhältnisse. Uhlands Einspruch gegen das Modell der Grimms ist nicht zuletzt notwendig, um sein eigenes Dichten vor dem Vorwurf zu schützen, lediglich Teil einer gelehrten Spätzeit zu sein. Aber das Funktionsmodell seines Dichtens produziert doch auch Anachronismen, durch die Uhland sein eigenes dichterphilologisches Projekt – zumindest punktuell – dem Vorwurf eines die Gegenwart verkennenden Rückzugs in das Phantasma einer Vergangenheit aussetzt. Beispielsweise bezieht Des Sängers Fluch seine Überzeugungskraft gerade aus der von der Gegenwart radikal abweichenden Verfahrensweise von Dichtung in mündlicher Zeit. Die Ausscheidung eines üblen Herrschers aus der Überlieferungskette erscheint plausibel aufgrund der spezifischen Überlieferungspraxis in weitgehend oralen Kulturen. Innerhalb der poetischen Ordnung des Gedichtes freilich besitzt das Schweigen eine sinnreiche Pointe: Die Ballade selbst berichtet vom Fall des hartherzigen Königs, sie nimmt jedoch die Strategie des alten Sängers auf, indem sie gerade keinen Namen nennt und keinen Ort angibt. In der abgeschlossenen Sphäre des Gedichtes gewinnt der Fluch so an zusätzlicher Evidenz.³²⁰ Aber gerade dort, wo der Sängerfluch als Modell von Tradition historische Plausibilität gewinnt, erscheint die Übertragbarkeit auf den gegenwärtigen Dichter fraglich. Denn in einer Zeit, in der Druckerpressen eine Vielzahl von Büchern, Zeitschriften, Zeitungen und Flugblättern produzieren, wäre nicht das Schweigen das angezeigte politische Instrument des Dichters, sondern eher Debatten, Kritik und Agitation. Freilich hat Uhland als Abgeordneter, Dichter und Redner auch den Weg des zeitgemäßen politischen Engagements beschritten. Aber an solchen Stellen seiner Gedichte wie in Des Sängers Fluch wendet sich bei ihm die Philologie gewissermaßen gegen die Poesie. Hier schleicht sich ein sentimentalischer Zug in das Funktionsmodell des Dichterphilologen und fördert die Anachronismen der mittelalterlichen Spiegelungen zutage. Als Philologe, dessen Geschäft das Erinnern und Bewahren ist, hat der moderne Sänger sich wohl der Funktionsweise alter, mündlicher Dichtung erinnert. Deren konstitutive Differenz zur Moderne aber scheint er vergessen zu haben.
Diese Pointe hebt Braungart 2001 (S. 139) heraus.
4 Zusammenfassung
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4 Zusammenfassung ‚Unter sich‘ bleiben die Philologen also nicht. Ihre Tätigkeit bewegt sich in dem gleichen kulturellen Feld wie die Dichtung. Die unterschiedliche Sprechhaltung führt nicht dazu, dass der ‚Wissenschaft‘ eine eigene, von anderen kulturellen Entwicklungen abgetrennte Logik zugesprochen werden muss.Vielmehr bildet das philologisch-historische ‚Register‘ selbst einen komplementären, wenn nicht einen Gegenentwurf zu Funktionen, die der Poesie zugeschrieben werden bzw. die die Dichtung für sich in Anspruch nimmt. Zum einen sind es Debatten wie die zwischen Hagen und Schubarth um Goethe oder von Jacob Grimm und Arnim, die die spannungsvolle Verzahnung von Dichtung und philologisch-historischen Wissenschaften zeigen. Darüber hinaus greifen aber die philologische Praxis, ihre Gegenstandskonstitution und das damit verbundene Selbstverständnis auf die Dichtung aus.Wenn Hagen versucht, Goethe für sein Projekt zu gewinnen, dann trägt sich hier auch ein Machtkampf zwischen beiden aus. Denn Goethe wäre damit zu einem Element in Hagens philologischhistorischem Kalkül geworden, das beansprucht, das Schicksal der Nation und der ‚deutschen Moderne‘ insgesamt bestimmen zu können. Eine geschichtsphilosophische Konzeption ist es auch, die für die Grimms einen Epochenwechsel begründet, in dem die zeitgenössische Dichtung gegen die alte Poesie notwendig zurückstehen muss. Wohin es mit der prosaischen Gegenwart gehen kann, bleibt für die Grimms eine offene Frage. Aber im Zeitalter der Individualität und der Reflexion wird es zur philologisch-historischen Aufgabe, die Urquellen der Menschheit und der nationalen Identität dem Vergessen abzuringen. Das Beispiel des Dichterphilologen Uhland zeigt, dass sich die Legitimierung zeitgenössischer Dichtung einerseits ebenfalls auf einem philologisch-historischen Grund ergeben kann; zweitens aber modifiziert das eigene Dichten wiederum die philologische Erschließung der Gegenstände. Das Verhältnis von Dichtung und Philologie ist also keineswegs erschöpfend beschrieben, wenn man jener einen popularisierenden Zugriff zuweist, dieser aber einen wissenschaftlich adäquaten, jedoch weniger wirkungsvollen. Das Stichwort der Popularisierung trifft auf die angesprochenen Spannungen nicht zu, jedenfalls dann nicht, wenn es meint, dass jemand in der Behandlung eines Gegenstandes bewusst Abstriche macht, um ihn einem größeren Publikum zu vermitteln.³²¹ Keineswegs bestehen einerseits anerkannte Maßstäbe wissenschaftlichen Arbeitens, gegenüber denen andere Formen der gegenstandsbezogenen Auseinandersetzung eingestandenermaßen andere Prioritäten setzten. Vielmehr basieren die
So etwa Bluhm 1997, S. 94– 100.
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verschiedenen Zugänge zu den geschichtlichen Phänomenen auf der Annahme, sie seien jeweils dem Gegenstand und dem Zweck, den dieser für die Gegenwart erfüllen könne, adäquat. Hieraus ergeben sich unterschiedliche Deutungsansätze, methodische Streitigkeiten unter den Philologen sowie auch die Spannungsverhältnisse zu dichterischen Arbeiten. Hagens ‚Erneuung‘ des Nibelungenliedes etwa erfolgt aus dem großen Selbstbewusstsein heraus, mit ihr dem Text in seiner Eigenart als nationalem Klassiker gerecht zu werden. Genauso würde Arnim etwa seine Praxis keinesfalls als bloß populäre und damit epistemologisch defizitäre verstehen wollen. Die Spannungen entstehen, weil sich vergleichbare Ansprüche mit unterschiedlichen Konzeptionen, Methoden und Praktiken verbinden. Nur daher können sie zueinander in Konkurrenz treten. Möglich aber wird dies aufgrund von Annahmen, die die unterschiedlichen Akteure teilen: die Vorstellung vom Geschichtslauf als signifikant wichtiger Dimension menschlichen Lebens, von deren Erkenntnis die Zukunft abhänge; die historische Ideenlehre, mit der sich auch die Vorstellung vom Volksgeist verbindet; oder aber die Annahme, dass sowohl Poesie – unter welchen Bedingungen auch immer – als auch die philologisch-historische Erkenntnis eine eminent wichtige Rolle für diesen Geschichtslauf spielten oder zumindest spielen könnten.
IV Vom Detail zur Ganzheit der Geschichte – Zum historischen Roman Alle Gattungen der Dichtung wurden im 19. Jahrhundert gerne als Reflexionsmedien für die Geschichte genutzt. Sie entfalteten ein je eigenes philologischhistorisches Kalkül, das sich in spannungsvolle Bezüge zu den philologisch-historischen Forschungen setzte. An Schlegels Dichtungen wurde dies genauso deutlich wie an Uhlands Balladen. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Ein besonderes Erfolgsmodell ist der historische Roman. Die Gattung konstituierte sich am Beginn des 19. Jahrhunderts, und bis heute gehört sie fest zum Bestand der publikumswirksamen belletristischen Genres. Dass ihre Erfolgsgeschichte im 19. Jahrhundert begann, ist kein Zufall. Der historische Roman versucht auf seine Weise, der Frage zu begegnen, welche Stellung der Mensch in der sich wandelnden Geschichte einnimmt. Er ist zugleich Symptom des ‚Historismus‘, wie er oben (Kap. I.2.) beschrieben worden ist, und Versuch, Antworten zu geben auf das fundamentale Problem der Orientierung in einer geschichtlichen Welt. Der historische Roman findet sich dabei in einer besonderen Nähe zur wissenschaftlichen Form der Geschichtsschreibung. Als langes episches Werk kann er sich die Aufgabe stellen, eine Fülle von Details zu einer Totalität zu formen,¹ wie es sich analog auch die erzählende Gattung der Geschichtsschreibung vornimmt. Die Frage, auf welche Weise sich Geschichte darstellen lasse, gehört ihrerseits zum Grundbestand der philologisch-historischen Probleme. Die Konturen des Spannungsfeldes zwischen den Wissenschaften und der Dichtung in diesem Punkt wurden schon umrissen.² Was aus philologisch-historischer Perspektive zur Unterscheidung von Dichtung und Wissenschaft hervorgebracht wurde, erschien kaum geeignet, die Ansprüche der Dichter auf die Erkenntnis und Darstellung der Geschichte wirkungsvoll zurückzuweisen: Man denke etwa an die Behauptung der irreduziblen Eigenart von philologisch-historischer gegenüber dichterischer Darstellung, die Annahme eines spezifisch philologisch-historischen ‚Genies‘, den Versuch, Dichtung als „Verkörperung eines Phantasieideals“ (Boeckh, Encyklopädie, S. 145) gegen die ‚objektive‘ philologisch-historische Erkenntnis und Darstellung zu positionieren. An Brentano und Grillparzer wurde deutlich, dass Poetiken des Historischen sich diesen Vorwürfen
Das Ganzheitspostulat des historischen Romans stellt Barbara Potthast ins Zentrum ihrer Analysen: Die Ganzheit der Geschichte. Historische Romane im 19. Jahrhundert. Göttingen 2007. Vgl. Kap. I.2.3.
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mühelos entziehen konnten. Der Grund lag in tieferen Gemeinsamkeiten des Geschichtsverständnisses, von denen sowohl die philologisch-historischen Wissenschaften ausgingen wie auch die Ansprüche der Dichter.³ Zentral war hier die historische Ideenlehre mit dem hermeneutisch-kritischen Verfahren der Geschichtsdeutung und der Frage nach der Darstellung. Die historische Erkenntnis sollte vom Einzelnen – vom Faktum, vom historischen Individuum – ausgehen, um die Bedingungen seines Daseins und seiner Veränderung im Lauf der Geschichte zu untersuchen. Ein zentrales Problem jedoch stellte sich in der Frage, wie sich aus dem Einzelnen zu dessen höherem Sinn innerhalb des Kollektivsingulars der ‚Geschichte‘ vordringen lasse. Die hermeneutisch-kritischen Verfahren versprachen, diesen Weg zu ebnen. Der Sinn der Geschichte schien sich in einer Erkenntnisbewegung zu ergeben, die im Individuellen das allgemeine Prinzip seiner Existenz zu verstehen vermochte, um dieses Allgemeine dann in der Summe der Individuen wieder zu entdecken. Die Darstellung dieser erkannten Geschichte stellte ein analoges Problem. Sie musste ebenfalls das in Quellen gebotene Individuelle mit jenem Allgemeinen vermitteln, nun aber als Konstruktionsleistung, als ‚Schöpfung‘ des Historikers, die ein adäquates Bild der Geschichte herstellt, indem sie es sukzessive erzählt. Daniel Fulda hat gezeigt, wie die Probleme von Geschichtserkenntnis und Geschichtsschreibung nicht nur in Analogie zu denen der Dichtung stehen, sondern dass sich die historischen Lösungsversuche auch aus einer dezidiert ästhetischen Reflexion ergaben. Ranke etwa strukturiert, Fuldas Analyse zufolge, seine Historiographie emphatisch nach Goethes Symbolbegriff; Friedrich Schlegels auf die Idee der Poesie bezogene Literaturgeschichte lieferte ihm ein Modell für die historiographische Korrelation von Besonderem und Allgemeinem.⁴ Ranke begreift sich nach frühen dichterischen Ambitionen zwar schon bald als philologisch-historischen Wissenschaftler.⁵ Aber dies bedeutet gerade keine Abwendung vom common ground mit der Dichtung. Er überträgt einen im Kern identischen Anspruch, den er in der Poesie nicht leisten zu können glaubt, auf das Feld der philologisch-historischen Wissenschaften. Philipp Müller vertieft diese Befunde, indem er Rankes Diskussion mit dem (nichthegelianischen) Philosophen Heinrich Ritter (1791– 1869) rekon-
Zur Genese des Konkurrenzverhältnisses zwischen Dichtung und Geschichtsschreibung vgl. neben dem in Kap. I.1.6. und I.3.3. Genannten auch Michael Meyer: Die Entstehung des historischen Romans in Deutschland und seine Stellung zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung. Die Polemik um eine Zwittergattung (1785 – 1845). Diss. München 1973. Vgl. Fulda 1996, S. 299 – 343; zu Schlegel im Zusammenhang mit Fichte: Müller 2008, S. 62– 70. Bezeichnenderweise tritt Ranke zuerst mit einem literaturgeschichtlichen Werk hervor, der Geschichte der romanischen Literaturen; vgl. dazu Müller 2008, S. 75 – 94.
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struiert, in der beide gleichfalls über die notwendige Verbindung von Wissenschaft und Ästhetik reflektieren.⁶ Die Einleitung hatte gezeigt, dass sich Droysen dann umso mehr von der Dichtung absetzt, nicht zuletzt vom historischen Roman. Er wendet sich auch ab von der erzählerischen Darstellung als einzigem Modus der Geschichtsschreibung. Aber seine Konzeption von historischer Erkenntnis behält, bei allen Modifikationen gegenüber Ranke und Boeckh, ebenfalls entscheidende Schnittmengen zu einer Dichtung, die sich als historische versteht. Insofern wäre es verfehlt, den Abgrenzungsversuchen der philologisch-historischen Wissenschaftler einfach Glauben zu schenken. Der historische Roman teilt mit ihren Arbeiten und Ansprüchen einen gemeinsamen Problemhorizont. Dass er zur Philologie und zur Geschichtsschreibung nicht in der Unverbindlichkeit eines bloß dichterischen Zurechtmachens stehen will, gilt vom Beginn seiner Hochzeit um 1800 an.⁷ Nicht zufällig hat Walter Scott (1771– 1832) selbst seine literarische Karriere als Sammler und Editor begonnen. 1802 bis 1803 gab er unter dem Titel Minstrelsy from the Scottish Border eine Sammlung von Volksliedern heraus – Relikte jener schottischen Vergangenheit, die zum Thema von zahlreichen seiner Romane werden sollte. In diesen legt Scott dann allerdings großen Wert darauf, sich von der antiquarischen Sammlung von Altertümern abzusetzen. In zahlreichen Paratexten markiert er seine historischen Ansprüche.⁸ Um Geschichte zu verlebendigen, fordert er gegenüber der antiquarischen Geschichte die Lizenz einer dichterischen Einbildungskraft. Bewusst erlaubt er es sich, die Forderung nach Anschaulichkeit über diejenige nach einer durchgängigen historischen Wahrheit zu stellen.⁹ Es komme auf die historische Treue der Szenerie (scene) und der Sitten (manners) an. Die Romane seien ein fiktionales Pendant zur antiquarischen, vornehmlich sammelnden Geschichtstätigkeit; sie seien dieser an historischer Akkuratesse zwar unterlegen, überböten sie aber an Lebendigkeit.
Vgl. Müller 2008, S. 53– 75. Freilich beginnt die Geschichte des historischen Romans nicht mit Scott, genausowenig wie die Debatten um das Verhältnis von Roman und Geschichtsschreibung; vgl. dazu vor allem Meyer 1973; außerdem den Überblick in: Hugo Aust: Der historische Roman. Stuttgart 1994, S. 52– 57. Die Vorreden, Einleitungen etc., in denen er sich mit der selbstbewussten Ironie des Romanciers gegen die antiquarische Geschichtsschreibung absetzt, wurden meist allerdings nicht in die deutschen Übersetzungen übernommen, sehr wohl jedoch in die englischsprachigen Editionen deutscher Verleger; vgl. etwa die Complete Edition of the Waverley Novels with introductory notes by the author (29 Bde.), gedruckt bei Otto Wigand (Pest, Leipzig, London 1831– 32). Vgl. Laurence Templeton [d.i. Walter Scott]: Dedicatory Epistle to the Rev. Dr. Dryasdust, F.A.S. In: [Walter Scott:] Ivanhoe; a Romance. 3 Bde. Edinburgh 1820, Bd. 1, S. III–XXXIII, hier etwa S. XVI: Sein Verfahren sei „intermingling fiction with truth“.
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Das Rezept war erfolgreich. Scotts Romane exportierten das ganze Jahrhundert hindurch Wissen über Schottland und England und deren Geschichte. Allerorten wird sein Modell als Muster für die Gattung neben die Geschichtsschreibung gestellt. Sei es bei Wolfgang Menzel (1798 – 1873), bei Wilhelm Hauff ¹⁰ (1802– 1827) oder Willibald Alexis (1798 – 1871) – immer wieder findet sich der Romanschreiber neben dem Historiker, ergänzend oder in regelrechter Konkurrenz zu ihm. Für Menzel etwa ist der „Roman […] nur eine freiere Form der Geschichtsschreibung, aber eine Form, worin sich der Geist der Geschichte oft treuer spiegelt, als in bloßen trocknen Berichten.“¹¹ Der Grund liegt darin, dass der historische Roman eine Fülle von Details zu einem lebendigen Bild totalisieren könne. Willibald Alexis fasst diesen Punkt in seiner bedeutenden Rezension zu den Werken Scotts näher ins Auge.¹² Der Roman fasse nicht nur die großen, in Chroniken und Urkunden überlieferten Haupt- und Staatsaktionen ins Auge; auch konzentriere er sich nicht primär, wie das historische Drama, auf die wirklichen Gestalten der Geschichte, um sie als Charaktere auf die Bühne zu stellen. Stattdessen füge er alles dies in ein Panorama ein, in dem der Leser die „Eigenthümlichkeiten, die Sitten, die Ansichten und Meinungen“¹³ einer Zeit erfahren könne. Gerade damit aber bringe er das eigentümliche – und eigentliche! – Leben einer Zeit und ihrer Menschen zur Darstellung. Er biete nichts weniger als einen Zugang zum „Wesen jener Zeiten“.¹⁴ Damit aber rückt auch Alexis den historischen Roman in den Horizont der historischen Ideenlehre, wie sie in Kap. I. skizziert worden ist. Der Vorteil, der hier nun den Dichtern zugesprochen wird, markiert deutlich ihren gemeinsamen Ausgangspunkt mit den philologisch-historischen Wissenschaften. Denn die Insistenz auf dem Ausgang vom historischen Detail, vom Einzelnen, wirklich Überlieferten, fundiert ja auch deren Zugriff auf die Geschichte
Vgl. das erste Kapitel von Lichtenstein (1826); in der Ausgabe hrsg. von Paul Michael Lützeler und Margarete Berg. Stuttgart 2002, S. 5 – 11. Wolfgang Menzel: Die deutsche Literatur. 2 Bde. Stuttgart 1828, insbes. Bd. 2, S. 186. Auszüge in: Lämmert u. a. (Hrsg.) 1971, S. 277– 283. W.[illibald] A.[lexis]: [Rez. von] The Romances of Walter Scott. In 60 Vol. […] Zwickau, Gebr. Schumann. In: Jahrbücher der Literatur 1823, H. 2, S. 1– 75; Auszüge ebenfalls in Lämmert u. a. (Hrsg.) 1971, S. 274– 277. Alexis’ Rezension bietet eine faszinierende und einsichtsvolle Analyse von Scotts Technik. Sie nimmt in vielen Punkten die Interpretation vorweg, die Wolfgang Iser 1964 vorgelegt hat: ders.: Möglichkeiten der Illusion im historischen Roman. Sir Walter Scotts Waverly [sic!] (1964). In: ders.: Der Implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett. München 1972, S. 132– 167. A.[lexis], Romances, S. 13. Ebd.
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als Totalität. Scott, so betont Alexis, „reflektirt als Historiker, indem er uns das ganze Bild einer Zeit […] aufstellt“¹⁵ – und er tue es besser als die Historiker, weil er diese Totalität unmittelbar anschaulich werden lasse. Der historische Roman eignet sich daher besonders gut, um den Spannungen nachzugehen, die die Dichtung und die philologisch-historischen Wissenschaften austragen. Während im vorherigen Kapitel Wissenschaftler im Zentrum standen, sind es nun zwei Dichter: Joseph Victor von Scheffel (1826 – 1886) mit seinem Roman Ekkehard und Adalbert Stifter (1805 – 1868) mit dem Witiko. Die Analyse der beiden Werke konzentriert sich jeweils auf zwei komplementäre Bereiche. Erstens: Wie sedimentiert sich in den Romanen philologisch-historisches Wissen, d. h. welche ‚Forschungs‘- und Quellenarbeit geht in sie ein? Und wie nehmen die Romane damit Stellung zu philologisch-historischen Problemen? Zweitens: Wie positionieren sich die Werke als historische Romane zur Arbeit der philologischhistorischen Wissenschaften selbst?
1 Eine doppelbödige Freundschaft – Joseph Victor von Scheffels Ekkehard und die philologisch-historischen Wissenschaften Joseph Victor von Scheffel legt im Vorwort zu seinem ehemals berühmten Roman Ekkehard beherzt die Karten auf den Tisch: „Dies Buch ward verfaßt in dem guten Glauben, daß es weder der Geschichtschreibung noch der Poesie etwas schaden kann, wenn sie innige Freundschaft miteinander schließen und sich zu gemeinsamer Arbeit vereinen.“¹⁶ Der Roman solle als „ebenbürtiger Bruder der Geschichte“ anerkannt werden (Ekkehard, S. 432). Scheffel positioniert sein Werk zu der „allseitige[n] Forschung“ zum Mittelalter, die eine „in sich abgeschlossene Literatur“, eine „Fülle von Denkmalen bildender Kunst“, vor allem aber das „organisch in sich aufgebaute politische und soziale Leben“ jener Zeit zutage gefördert habe (Ekkehard, S. 431). Das Vorwort stellt den Roman damit dezidiert neben die ‚Sachphilologie‘, wie Boeckh sie gefordert hatte: „in Bezug auf ein bestimmtes Volk in einem verhältnismäßig abgeschlossenen Zeitalter die geschichtlich wissenschaftliche Erkenntniß der gesammten Thätigkeit, des ganzen
Ebd., S. 10. Ekkehard. Eine Geschichte aus dem 10. Jahrhundert von Joseph Victor Scheffel. Frankfurt am Main 1855. Nachweise aus dem Ekkehard erfolgen unter Angabe der Sigle ‚Ekkehard‘ direkt im Text nach der Ausgabe: Joseph Victor von Scheffel: Ekkehard. Zürich 1985, hier S. 431. Der hier als „Nachwort“ abgedruckte Text ist in der Originalausgabe das Vorwort.
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Lebens und Wirkens des Volkes“¹⁷ zu leisten. Scheffel plädiert dafür, dass die Romanform den Leistungen der gelehrten philologisch-historischen Erkenntnis gleichberechtigt sei. Der Ekkehard besitzt die typische panoramatische Struktur des historischen Romans, von der schon die Rede war.¹⁸ Der Handlung zur Seite steht die Breite der Beschreibung, die sich um die Erfassung unterschiedlichster Lebensbereiche bemüht. Die Geschichte des Mönchs Ekkehard, der von der schwäbischen Herzogin Hadwig vom Kloster St. Gallen auf ihre Burg Hohentwiel abgeordnet wird, um sie Latein zu lehren und vielleicht auch zu galanten Dingen zur Verfügung zu stehen – diese Geschichte entwickelt sich zunächst äußerst gemächlich. Scheffel führt seinen vielfach verschlungenen roten Faden durch das Leben des Klosters, der Mönche und Reklusen, der benachbarten Reichenau und des herzoglichen Hofstaates. Systematisch fügt er anekdotische, nicht zur Handlung gehörige Szenen ein. Die Einbuße an Dramatik erlaubt die Zeichnung eines Panoramas der Welt, in der Ekkehard und Hadwig leben – nach der Poetik des historischen Romans wird die langsame Handlung durch das Sittengemälde mehr als aufgewogen. Nicht wenige seiner Verfechter muten es dem historischen Roman daher zu, in der Moderne an die Stelle des totalisierenden Epos zu treten.¹⁹ In 285 Anmerkungen führt Scheffel die geschilderten ‚Sitten‘ auf mittelalterliche Quellen zurück und spielt damit zumindest für den ersten Blick einen Effekt der philologisch-historiographischen Authentizität aus. Scheffels Roman ist jedoch nicht nur ein historischer, sondern gewissermaßen ein literaturhistorischer Roman. Es geht ihm um mehr als das Sittengemälde eines vergangenen Lebensraumes. Der Plot des Romans steuert auf die Dichterwerdung des Mönchs Ekkehard zu, an deren Höhepunkt die Entstehung des Walthariliedes steht. Der Roman nimmt das mittellateinische Epos sogar in sich auf: Er druckt es
Boeckh, Logisten, S. 41. In den letzten Jahren sind einige wichtige Studien zu Scheffel und seinem historischen Roman erschienen,vor allem:Werner Wunderlich: „Wer war der Greis, den Worms solch Lied gelehrt?“ Der erfundene Dichter. Joseph Viktor von Scheffels Version vom Autor des Nibelungenliedes. In: Euphorion 89 (1995), S. 239 – 270; ders.: Medieval Images. Joseph Viktor von Scheffel’s Novel Ekkehard and St. Gall. In: Medievalism in the modern world. FS Leslie J.Workman. Hrsg. von Richard Utz und Tom Shippey. Turnhout 1998, S. 193 – 225; ders.: „Gepräge der Aechtheit“ – Scheffels Ekkehard und St. Gallen. In: Joseph Victor von Scheffel (1826 – 1886). Ein deutscher Poet – gefeiert und geschmäht. Hrsg. von Walter Berschin und dems. Ostfildern 2003, S. 73 – 98; Michael Rupp: Ein Stück nationaler Geschichte in der Auffassung des Künstlers. Joseph Victor von Scheffel und die Mediävistik. In: ebd., S. 109 – 134; Barbara Potthast: Zu Signaturen ästhetischer Erinnerung in Joseph Viktor von Scheffels Ekkehard (1855). In: Euphorion 94 (2000), S. 205 – 224. So etwa Alexis (Romances, S. 5); vgl. auch Scheffel in der Vorrede (Ekkehard, S. 432) und Adalbert Stifter (s. dazu das Kap. IV.2.).
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in deutscher Übersetzung in seinem vorletzten, dem 24. Kapitel ab.²⁰ Das Geschehen um den Mönch Ekkehard, der durch Kloster, Krieg und Krisen geht, um im Exil das Waltharilied zu verfassen, ist auf mehreren Ebenen als Reflexion des Verhältnisses von Gelehrsamkeit und Dichtung angelegt. Zwei Aspekte sollen im Folgenden im Zentrum stehen. Der erste betrifft die Konzeption des Dichters Ekkehard und seines Walthariliedes, also den literaturgeschichtlichen Anspruch von Scheffels Roman. Dieser Aspekt schließt an die Debatten über den Status von Autoren und mittelalterlicher Dichtung an, wie sie Thema des vorhergehenden Kapitels waren. Der zweite Aspekt betrifft den Rang, den Scheffel der philologisch-historischen Erkenntnisleistung seines Romans zuspricht, also den literaturgeschichtlichen Anspruch. Hier wird sich zeigen, dass die Freundschaft zwischen Wissenschaften und Dichtung einen doppelten Boden hat: Eigentlich hält Scheffel die dichterische Form nicht nur für ebenbürtig, sondern für überlegen.
1 Privatdozent und Proletarier? Scheffel schrieb seinen Roman Ekkehard an einer Wegscheide. Er hatte von 1843 bis 1847 in München, Berlin und Heidelberg Jura studiert,²¹ um sich dann der staatlichen Prüfung und dem Doktorexamen (1849) zu unterziehen.²² Die folgenden drei Jahre hindurch absolvierte er das Rechtspraktikum. Schon während des Studiums aber hatte er neben der juristischen eifrig die philosophische Fakultät besucht²³ – insbesondere von Gervinus zeigte er sich beeindruckt.²⁴ Das 24. Kapitel verweist auf die homerischen Epen, die nach dem griechischen Alphabet in ebensoviele Gesänge geteilt wurden. Scheffels Studienplan rekonstruieren Johannes Proelß (Scheffel’s Leben und Dichten. Berlin 1887, S. 37– 86) und Eugen Wohlhaupter 1953 – 1957, Bd. 3, S. 190 – 284, hier S. 194– 200. Vgl. ebd., S. 205 f. In München hörte Scheffel bei Friedrich Thiersch über Pindar, Ästhetik und neuere Kunstgeschichte, bei Konstantin Höfler über mittelalterliche Geschichte und bei Carl Prantl über griechische und römische Philosophie (vgl. Proelß 1887, S. 38 f.). In Berlin besuchte er Gustav Friedrich Waagens Vorlesung über neuere Kunstgeschichte (vgl. ebd., S. 42) und verkehrte im Umfeld des ‚Tunnels über der Spree‘, er traf Franz Kugler und verkehrte schon seit seiner Münchner Zeit mit dem späteren Kunsthistoriker Friedrich Eggers. Mit Paul Heyse befreundete er sich auf seiner ersten Italienreise 1853 (vgl. ebd., S. 276). In seinem Heidelberger Jahr besuchte Scheffel Vorlesungen Eduard Roeths über Hegels Philosophie und Emil Ruths über Dante (vgl. ebd., S. 41). Vgl. Scheffels Brief an Schwanitz, 27. Dez. 1846; in: Josef Victor von Scheffel’s Briefe an Karl Schwanitz. Leipzig 1906, S. 71. Scheffel berichtet ausführlich über Gervinus und dessen „Vorlesungen über Politik“ (ebd.) aus dem Heidelberger Wintersemester 1846/47. Von Gervinus’ These,
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Überdies aber malte Scheffel. Kaum in den juristischen Staatsdienst eingetreten, sehnte er sich danach, ihn wieder zu verlassen. Entweder wollte er als Maler sein Brot verdienen oder eine akademische Laufbahn einschlagen.²⁵ Eine Reise nach Italien sollte die Entscheidung bringen. Allerdings trug er bei seiner Rückkehr aus Neapel nicht die erhoffte Bestätigung seiner bildnerischen Ambitionen im Ranzen, sondern ein komisches Epos, den Trompeter von Säkkingen. ²⁶ Dem Maler in spe hatte sich unversehens die Möglichkeit eröffnet, Dichter zu werden. Dennoch misstraute Scheffel dieser Perspektive offenbar. Er strebte eine Habilitation an der Universität Heidelberg an, obwohl er die Aussicht auf ein kümmerliches Dasein als „Privatdozent und Proletarier“ nicht verklärte.²⁷ Die Rechtsgeschichte schien ihm einen Weg zu bahnen von seiner juristischen Ausbildung zur altdeutschen Vergangenheit, für die sich Scheffel interessierte. In dieser Zeit unterhielt er Kontakte mit der Heidelberger Philosophischen Fakultät, etwa mit Ludwig Häusser (1818 – 1869),²⁸ Emil Ruth²⁹ (1809 – 1869) und Adolf Holtzmann (1810 – 1870),³⁰ der 1852 eine Professur für ältere deutsche Sprache und Literatur³¹ in Heidelberg angenommen hatte. Dieser bereitete gerade die Publikation einer gegen Lachmann gerichteten Theorie zum Nibelungenlied vor, auf die noch zurückzukommen sein wird. Scheffel seinerseits nahm sich das alemannische Volksrecht vor und studierte unter anderem die Klosterchroniken St. Gallens. die Zeit müsse durch Revolution oder Evolution von einer „vorherrschend litterarischen“ in eine „politische“ übergehen, zeigt sich Scheffel sichtlich beeindruckt. Er kreidet ihm allein an, dass er über die „soziale Frage unserer“ Zeit den Stab breche und die „materielle Not“ leugne. Scheffels eigene politische Biographie bricht nach dem gescheiterten Frankfurter Parlament nahezu idealtypisch in politische Resignation um; am 21. Juli 1851 schreibt er wiederum an Schwanitz: „Wie’s in Altdeutschland draußen zugeht, kümmert mich nicht mehr viel.“ (ebd., S. 175). Vgl. Wohlhaupter 1953 – 1957, Bd. 3, S. 225. Der Trompeter von Säkkingen. Ein Sang vom Oberrhein von Joseph Victor Scheffel. Stuttgart 1854. Nichts anderes, so vermeldet Scheffel 1853 wenig begeistert, bleibe ihm nach dem Ausscheiden aus dem Staatsdienst; vgl. den Brief an Schwanitz, 10. Juni 1853; in: Scheffel, Briefe an Schwanitz, S. 191. Die „hoffnungslose[] Privatdozenten-Karriere“ zu beschreiten, sei ein wohl notwendiger, aber „dumme[r] Streich“; Brief an Schwanitz, 18. Okt. 1853; ebd., S. 192. Vgl. Wohlhaupter 1953 – 1957, Bd. 3, S. 231. Häusser war seit 1849 Ordinarius für Geschichte; vgl. Proelß 1887, S. 119 – 121. Gemeinsam mit ihm publizierte Scheffel eine Reisebeschreibung in der Augsburger Allgemeinen Zeitung, Oktober 1851. Vgl. zu Häusser den Artikel von Paul Kluckhohn in: ADB 11 (1880), S. 100 – 112. Ruth war von 1844 bis 1867 Privatdozent für neuere Sprachen; als er Extraordinarius wurde, blieben ihm kaum noch zwei Jahre; vgl. Alexander M. Kalkhoff: Romanische Philologie im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Institutionsgeschichtliche Perspektiven. Tübingen 2010, S. 33 f. Scheffels Eltern waren mit denen Holtzmanns befreundet, so dass der Kontakt der beiden wohl nicht erst in den 1850er Jahren zustande kam; vgl. Proelß 1887, S. 306 f. Vgl. IGL, S. 799 – 801.
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Die zweiten Casus des Mönches Ekkehard (genannt ‚der Vierte‘) und Holtzmanns Studien zur Dichtung des 10. Jahrhunderts führten ihn zum Waltharilied. Er fasste den Plan zu einer Zweitverwertung seiner akademischen Arbeiten: Eine weitere historische Dichtung nach dem Trompeter sollte auf der Grundlage der anekdotenreichen Chronik die Entstehung des Waltharius behandeln. Scheffel schrieb seinen Roman im Jahr 1854;³² gleichzeitig änderte er die Richtung seiner wissenschaftlichen Ambitionen: Er bewarb sich auf die am neuen Zürcher Polytechnicum eingerichtete Dozentur für Ästhetik und deutsche Literatur.³³ Wenngleich unhabilitiert, so hoffte er doch, neben seiner juristischen Ausbildung mit den dichterisch-philologischen Arbeiten zum Waltharilied eine hinreichende Qualifikation vorweisen zu können. Er wolle „den Ernst und stofflichen Gehalt der historischen Wissenschaft mit den Gesetzen künstlerischer Schönheit […] verschmelzen“³⁴ – so schreibt er an Wilhelm Meyer-Ott, der seine Bewerbung fördern soll. Er reichte seine Walthari-Übersetzung ein,³⁵ gleichzeitig flankierte er das druckfertige Manuskript des Ekkehard mit jenen 285 Anmerkungen. Als der Roman im Sommer 1855 erschien, war Scheffels Bewerbung bereits erfolgslos verlaufen. Er beschließt jedoch, einstweilen weiter zu dichten. Das Honorar für den Ekkehard investiert er in eine erneute Italienreise. Verschiedene historische Dichtungsprojekte wälzend, verspricht er nach seiner Rückkehr dem Großherzog von Sachsen-Weimar, einen Roman über den Sängerkrieg auf der Wartburg zu schreiben.³⁶ Dieses Projekt lag ihm in den folgenden Jahrzehnten schwer auf der
Erste Notizen stammen aus dem Jahr 1852; vgl. Wunderlich 2003, S. 77. Vgl. oben, Kap. I.3., S. 92. Scheffels Mutter schreibt wohl irrtümlicherweise, dass er am „hiesigen“ – also Karlsruher – Polytechnikum als „Lehrer der Geschichte, Literatur und Rechtswissenschaft“ Anstellung suchen wolle (Brief von Scheffels Mutter an Schwanitz, 5. Jan. 1854; in: Scheffel, Briefe an Schwanitz, S. 195).Vgl. zur Bewerbung Rüdiger Krohn: Mittelalter hausgemacht: Scheffels Schaffen zwischen Historie und Poesie. In: Berschin u. a. (Hrsg.) 2003, S. 35 – 55, hier S. 45 f. Brief Scheffels an Wilhelm Meyer-Ott, 30. Nov. 1854; in: Scheffel: Briefe an Schweizer Freunde. Hrsg. von Adolf Frey. Zürich 1898, S. 45. Am 2. Dezember 1854 kündigt Scheffel Johann Konrad Kern die Sendung an; dieser war Präsident des schweizerischen Schulrats und für die Berufung zuständig (vgl. den Brief an denselben, 2. Dez. 1854; in: Scheffel, Schweizer Freunde, S. 48). Einen Tag später schickt er das Manuskript nach; vgl. den Brief an Kern, 3. Dez. 1854; ebd., S. 52 f. Auszüge aus den Vorarbeiten: Joseph Victor von Scheffel: Aus Scheffels Wartburgroman. Des Meisters Konradus Aufzeichnungen. Hrsg. von Werner Kremser. In: Der Türmer 26 (1923), H. 1, S. 14– 23; Friedrich Panzer: Scheffels Wartburgroman. 1. Teil: Wartburggeschichten. Für den Deutschen Scheffel-Bund aus dem Nachlaß des Dichters herausgegeben von dems. Karlsruhe 1937; vgl. Günther Mahal: Joseph Victor von Scheffel. Versuch einer Revision. Karlsruhe 1986, S. 109 – 123.
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Seele, eifrig sammelte er Materialien, die ihn wiederum in den Umkreis des Nibelungenliedes brachten. Aus Sängerkrieg und Nibelungenentstehung wurden zwei Projekte,³⁷ die er jedoch beide unabgeschlossen hinterließ. Ein Auskommen fand er zwischenzeitlich durch den Auftrag, die handschriftlichen Bestände der Donaueschinger Bibliothek zu verzeichnen.³⁸ Als seine Arbeit abgeschlossen war,³⁹ publizierte er neben zwei Erzählungen unter anderem eine Reihe von Gedichtsammlungen, von denen insbesondere die Wander- und Studentenlieder Gaudeamus (1867) sich als lukrativ erwiesen. Der von Beginn an durchaus erfolgreiche Ekkehard ⁴⁰ wurde dann mit der Reichsgründung zu einem der beliebtesten Romane überhaupt. Scheffel stieg damit endgültig zu den poetae laureati auf. Sein großer Erfolg gründete auf einem schmalen Werk, das sich gleichwohl in weiten Teilen auf einer dichterisch-philologischen Grundlage erhob. Das Scheitern der Romane zum Sängerkrieg und zum Nibelungenlied lässt sich nicht zuletzt auf den Umfang der Studien zurückführen, die Scheffel betrieb. Und 1873 flankierte er den Erfolg des Ekkehard im neugegründeten Deutschen Reich mit einer zweisprachigen, wissenschaftlichen Edition des Walthariliedes, die er gemeinsam mit dem Philologen Alfred Holder⁴¹ (1840 – 1916) herausgab.⁴²
Vgl. Scheffels Brief an Schwanitz, 31. Aug. 1860; in: Scheffel, Briefe an Schwanitz, S. 229: „Meine Arbeit zerfällt in zwei selbständige Partien … Die Geschichte des Nibelungenliedes und seiner Entstehung, … sodann, was vielfach auf Thüringer Boden sich bewegt, die Zeit des Sängerkrieges auf der Wartburg.“ Vgl. insgesamt zu diesem Komplex: Wunderlich 1995. Vgl. Ludger Syre: Der Dichter als Bibliothekar. Joseph Victor von Scheffel in Donaueschingen. In: Berschin u. a. (Hrsg.) 2003, S. 135– 163. Die Handschriften altdeutscher Dichtungen der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek zu Donaueschingen. Geordnet und beschrieben von J. Vict. Scheffel. Stuttgart 1859 (in 50 Expl. gedruckt). Öfter liest man, der Ekkehard sei erst mit der Reichsgründung zum bestseller geworden (etwa: Mahal 1986, S. 183 – 192). Freilich stiegen die Auflagen dort in schwindelerregende Höhen. Aber Joseph Ettlinger argumentiert in einer Anmerkung zu den Briefen an Schwanitz (S. 206) einleuchtend, dass angesichts einer in sechs Jahren verkauften Erstauflage von 10.000 Exemplaren (21862) kaum von einem ‚Ladenhüter‘ die Rede sein könne. Hartmut Eggert setzt fälschlicherweise die Zahl von 1.000 Exemplaren für die EA an: ders.: Studien zur Wirkungsgeschichte des deutschen historischen Romans 1850 – 1875. Frankfurt am Main 1971, S. 164. Holder hatte von 1858 bis 1862 in Bonn und Heidelberg nicht zuletzt bei Adolf Holtzmann studiert, vor allem Klassische und Deutsche Philologie. Seit 1867 arbeitete er in der Hof- und Landesbibliothek Karlsruhe, deren Leiter er 1904 wurde. Vgl. den Artikel von Hans Lülfing in der NDB 9 (1972), S. 425 f. Waltharius. Lateinisches Gedicht des zehnten Jahrhunderts. Nach der handschriftlichen Ueberlieferung berichtigt, mit deutscher Uebertragung und Erläuterungen von Joseph Victor Scheffel und Alfred Holder. Stuttgart 1874.
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2 Waltharius – Das philologische Problem und seine poetische Lösung Ekkehard bildete für Scheffel selbst so etwas wie ein – zunächst nur persönliches, später auch nationales – Erfolgsmodell. Die schon zitierte Vorrede und der Anmerkungsapparat präsentieren eine Dichtung, die sich, was die Erfassung ihres Gegenstandes angeht, nicht vor der Wissenschaft und ihren Erkenntnisansprüchen verstecken möchte. Nicht zuletzt während der Arbeiten zu seiner Habilitation hatte sich Scheffel in die Quellen vertieft. In seinen Casus Sancti Galli liefert Ekkehard ‚der Vierte‘ ein lebendiges Bild vom Leben des Klosters im 10. Jahrhundert.⁴³ Er schreibt keine primär an großen Ereignissen orientierte Chronik und schon gar keine Annalen. Die Casus berichten über eine Zeit, die selbst schon ein Jahrhundert zurückliegt; sie beruhen oft wohl auf mündlicher Überlieferung. In ihrer verschlungenen Erzählchronologie schildern sie kleine wie große Vorkommnisse im Kloster genauso wie Anekdoten und Viten der Mönche. Es geht ihnen darum, mit der Darstellung der alten, großen Zeit das gegenwärtige Kloster zu rechtfertigen.⁴⁴ Scheffel kam dies alles sehr entgegen. Denn Ekkehard bietet ihm nicht nur kulturgeschichtliche Details, wie er sie für seinen Roman brauchen kann, sondern auch ein eminent lebendiges Bild vom 10. Jahrhundert – anders etwa als es eine strenge Chronik getan hätte. Der Ekkehard berichtet nicht nur über St. Gallen; vor allem stellt er das Kloster als Ursprungsort des Waltharius dar, jenes lateinischen Epos, das eines der frühesten Zeugnisse für Erzählelemente aus dem Umkreis der Nibelungensage bietet. Scheffels Biograph Johannes Proelß berichtet, dass die Lektüre und Übersetzung des Walthariliedes am Beginn des Projektes standen.⁴⁵ Die Struktur des Romans unterstreicht dies. Er verbindet das historische Panorama mit der Handlungsstruktur eines Künstlerromans. Scheffel selbst weist gleichfalls in diese Richtung. Ein Brief aus dem Jahr 1855 stellt das „Hauptproblem“ des eben erschienenen Werkes heraus: „wie und unter welchen Umständen kommt ein Mann im zehnten Jahrhundert dazu, epischer Dichter zu werden?“⁴⁶ Vgl. zu Stil und Rhetorik etwa Hans F. Haefele: Untersuchungen zu Ekkehards IV. Casus Sancti Galli. 2. Teil. In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 18 (1962), S. 120 – 170; ders.: [Art.] Ekkehard IV. von St. Gallen. In: Verfasserlexikon 1 (1978), S. 455 – 465. Vgl. Hans F. Haefele: Einleitung. In: Ekkehard IV.: Casus Sancti Galli. St. Galler Klostergeschichten. Ediert und übersetzt von dems. Darmstadt 1980 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 10), hier S. 8 f. Zitate aus den Casus werden im Folgenden im Text nachgewiesen (‚Casus‘ mit Seite). Vgl. Proelß 1887, S. 311 (ohne Quellennachweise). Gedruckt bei Werner Kremser: Studien über Scheffel. Salzburg 1913, S. 32 f. Als Adressaten des Briefes vermutet er in dieser philologisch unzureichenden Blütenlese aus Scheffels Nachlass den Kirchenhistoriker Julius Hartmann. Wahrscheinlicher aber ist der Pfarrer und eifrige Mitarbeiter
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Der Roman stellt die literaturgeschichtliche Frage nach der Genese des Werkes, indem er den historischen Kontext seiner Entstehung mit der psychologisch-produktionsästhetischen Disposition des Autors kombiniert. Indem er den anonym überlieferten Waltharius in den Kontext des St. Galler Klosters stellt, trifft Scheffel darüber hinaus eine philologische Entscheidung. Er folgt einer Angabe der Casus, denn der Chronist zählt in der Lebensbeschreibung seines Namensvetters, des späteren Klosterdekans Ekkehard I., eine ‚vita Waltharii manu fortis‘ zu dessen Jugendwerken.⁴⁷ Was Scheffels Zuschreibung bedeutet, ergibt sich im Kontext der zeitgenössischen Philologie. Jacob Grimm hatte den Waltharius 1838 herausgegeben. Die gemeinsam mit Andreas Schmeller verantworteten Lateinischen Gedichte des X. und XI. Jhs. stellen ihn neben den Ruodlieb und eine Reihe von kürzeren Gedichten.⁴⁸ Grimms Edition löste die älteren von Christoph Jonathan Fischer (1780) und Friedrich Valentin Molter (1798) ab.⁴⁹ Molter hatte das Epos übersetzt (1782),⁵⁰
des Morgenblattes J.F. Faber. Er rezensierte Scheffels Roman im November 1855 für Cottas Zeitschrift. Dabei übernahm er nicht nur die zitierte Formulierung wortgetreu in seine enthusiastische und auch theoretisch beachtliche Rezension; sondern diese liest sich insgesamt wie eine Auseinandersetzung mit Scheffels Brief. Faber scheibt etwa: „Im vorliegenden Roman z. B. ist das Hauptproblem dieses: wie und unter welchen Umständen kommt ein Mann im zehnten Jahrhundert dazu, epischer Dichter zu werden? Dieses Problem ist zunächst ein psychologisches, dann aber wesentlich auch ein historisches“; ders.: Der moderne Roman. In: Morgenblatt für gebildete Leser 1855 (4. Nov. 1855), Nr. 45, S. 1073 – 1076, hier S. 1075; vgl. zu der Rezension und zur Rezeption insgesamt: Eggert 1971, S. 164– 172, bes. S. 166. Scheffel versuchte offenbar, nach Erscheinen des Buches gezielt die Rezeption zu steuern. In einem weiteren Brief, adressiert an Adolf Freiherrn von Leutrum-Ertringen, formuliert er fast identisch: „wie und unter welchen Verhältnissen kommt im X. Jahrhundert Einer dazu, ein epischer Dichter zu werden“ (ebenfalls bei Kremser 1913, S. 33). Der Beginn der Passage: „Scripsit et in scolis metrice magistro, vacillanter quidem, quia in affectione, non in habitu erat puer, vitam Waltharii manufortis.“ In der Übersetzung von Haefele: „Ferner schrieb er in der Schule für den Lehrer in metrischer Form – in unsicherer Weise allerdings, da er als Knabe noch im Wollen, nicht im Können war – das Leben des Walther Starkhand“ (Casus, S. 168 f.). Lateinische Gedichte des X. und XI. Jh. Hrsg. von Jac. Grimm und Andr. Schmeller. Göttingen 1838. De prima expeditione Attilae regis Hvnnorvm in Gallias ac de rebvs gestis Waltharii Aqvitanorvm principis carmen epicvm saecvli VI. […] Hrsg. von Friedrich Christoph Jonathan Fischer. Leipzig 1780; Friedrich Molter (Hrsg.): Beiträge zur Geschichte und Litteratur. Aus einigen Handschriften der Markgraflich Baadschen Bibliothek. Frankfurt am Main 1798, S. 212– 268. Molter war Leiter der Karlsruher Hofbibliothek, die eine der Waltharius-Handschriften besaß. Prinz Walther von Aquitanien. Ein Heldengedicht aus dem sechsten Jahrhunderte. Aus einem lateinischen Codex der Markgräfl. Badischen Bibliothek metrisch übersetzt von Friedrich Molter. Karlsruhe 1782.
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ebenso Gustav Schwab (1822/23)⁵¹ und Gustav Friedrich Klemm (1827).⁵² Unmittelbar vor Scheffels Roman hatte 1853 Albert Schulz (1802 – 1893) unter seinem Pseudonym San-Marte eine umfangreich kommentierte Übertragung vorgelegt.⁵³ Anders als seine Vorgänger konnte Grimm auf sechs Handschriften zurückgreifen, deren Abschriften ihm Joseph von Laßberg (1770 – 1855) zur Verfügung stellte. Dieser hatte den Waltharius ursprünglich selbst für die Monumenta Germaniae Historica edieren und kommentieren wollen, ließ dann jedoch davon ab.⁵⁴ Bezogen auf das Problem der Autorschaft ergeben sich in Grimms Ausgabe zwei Fragen: erstens die nach dem Urheber des überlieferten Liedes; zweitens diejenige nach dessen Status als Autor. Laßberg hatte 1820 entschieden jenen Mönch Ekkehard, von dem die Casus berichten, zum Urheber des Textes erklärt.⁵⁵ Der Bibliothekar des St. Galler Klosters Ildefons von Arx (1755 – 1833) meldete jedoch brieflich Zweifel an. In seiner Edition der Casus für die Monumenta erklärte er die Identifikation der Vita Waltharii manu fortis mit dem überlieferten Hexameterepos aber immerhin für möglich.⁵⁶ Laßbergs Zuschreibung sollte sich für die folgende Forschung – bis heute – als folgenreich erweisen.⁵⁷ Allerdings schien ein Teil der Handschriften dieser Hypothese zu widersprechen. Ihnen ging eine Widmung voran, mit der der Mönch Geraldus das Erschienen als: Walther und Hiltgund, epische Dichtung. Nach dem Lateinischen des Ekkehard. In: Gedichte von Gustav Schwab. 2 Bde. Stuttgart, Tübingen 1828 – 1829, Bd. 2, S. 197– 269. Als Teil einer Abhandlung über Attila: Attila nach der Geschichte, Sage und Legende dargestellt durch Gustav Friedrich Klemm. Leipzig 1827, S. 3 – 58. Die Zuschreibung an Ekkehard IV. ist Klemm offenbar unbekannt. Walther von Aquitanien. Heldengedicht aus dem Lateinischen des zehnten Jahrhunderts, übersetzt und erläutert durch San-Marte […]. Magdeburg 1853. Vgl. zu Schulz: IGL, S. 1681– 1683. Die ‚Poetae‘ wurden, entgegen dem ursprünglichen Plan, doch nicht in die MGH aufgenommen. Laßberg traute sich, obwohl er die Aufgabe übernommen hatte, auch die Kritik der lat. HS wohl nicht zu; vgl. Eduard Studer: Laßberg und Ildefons von Arx. In: Joseph von Laßberg. Mittler und Sammler. Aufsätze zu seinem 100.Todestag. Hrsg.von Karl S. Bader. Stuttgart 1955, S. 157– 210, hier S. 196. [Joseph von Laßberg (Hrsg.):] Lieder Saal. Das ist: Sammelung altteutscher Gedichte, aus ungedrukten Quellen. Erster Band. 1820, S. IX. Casus sancti Galli. Hrsg. von Ildefons von Arx. In: Monvmenta Germaniae Historica […] edidit Georgivs Heinricvs Pertz. Scriptores Bd. 2. Hannover 1829, S. 59 – 183, hier S. 118.Von Arx’ St. Galler Geschichte, in der das Kloster zentral ist, stellt noch keine Verbindung zum Waltharilied her: Geschichten des Kantons St. Gallen durch Ildefons von Arx. 3 Bde. St. Gallen 1810 – 1813, Bd. 1, S. 272 f. Zur Debatte mit Laßberg vgl. ausführlich Studer 1955, S. 198 – 209. Zur heutigen Forschungslage vgl. Paul Klopsch: [Art.] Waltharius. In: Verfasserlexikon 10 (1999), Sp. 627– 638; Karl Langosch: ‚Waltharius‘. Die Dichtung und die Forschung. Darmstadt 1973, S. 49 – 96; Gregor Vogt-Spira: Einführung. In: Waltharius. Lateinisch/Deutsch. Übs. und hrsg. von dems. Stuttgart 1994, S. 5 – 20.
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Gedicht seinem Bischof Erckambaldus überreichte. Hier ergab sich eine zweite, konkurrierende Möglichkeit der Zuschreibung. Ihr folgend, hatte Claude Fauriel (1772 – 1844) versucht, einen französischen Ursprung des Walthariliedes nachzuweisen.⁵⁸ Es kann nicht verwundern, dass dem von deutscher Seite entschieden widersprochen wurde.⁵⁹ Aber dies bedeutete doch nicht notwendig, die Zuschreibung an Ekkehard I. zu bestätigen. Grimm selbst mochte Laßberg nicht uneingeschränkt folgen. Er diskutiert die Ekkehard-These, geht aber genauso Geraldus und Erkanbald nach, den er als Straßburger Bischof (im Amt von 965 bis 991) identifiziert. Beide Möglichkeiten bergen für ihn Widersprüche, und er schließt, dass „alle diese ergebnisse nur für unsichere […] gelten“⁶⁰ dürfen. SanMarte, dessen Kommentar in wesentlichen Teilen auf Grimms Arbeiten aufbaut, kommt hier zu einem anderen Schluss. Er plädiert dafür, in den „auf uns gekommenen Mss. nur die Arbeit Gerald’s zu erkennen, Ekkehard’s I. Schülerarbeit“ aber als „verloren zu achten“.⁶¹ Ekkehard ist für ihn „aus dem lange innegehabten Besitz der Autorschaft […] zu setzen.“⁶² Angesichts dieser Debatten kann kaum die Rede davon sein, dass – wie Michael Rupp meint – der erwähnte Passus der Casus „im XIX. Jahrhundert als Beweis dafür [galt], daß Ekkehart I. das Waltherilied [sic!] verfaßt habe“.⁶³ Scheffel beteiligt sich mit seinem Roman an einer keineswegs Claude Fauriel: Histoire de la poésie provençale. Cours fait à la faculté des lettres de Paris. 3 Bde. Paris 1846, Bd. 1, S. 344– 418. Die Vorlesung erschien postum zwei Jahre nach Fauriels Tod. Fauriel bezieht sich auf einen handschriftlichen Vermerk, der im Pariser Codex mss. lat. 8488a den Geraldus als Mönch von Fleury („Floriacensis“) identifizieren sollte. Dieser Vermerk geisterte im 19. Jahrhundert durch die Forschung auch der Gegner einer französischen Zuschreibung. Von Arx erwähnt ihn (ders. [Hrsg.], Casus, S. 118), ebenso Grimm (Lateinische Gedichte, S. 60). Allerdings beruht die Annahme eines Vermerkes auf einem Missverständnis. Die Zuschreibung stammt aus einer 1690 von Étienne Baluze erstellten Beschreibung des Manuskriptes, von wo sie wörtlich in die Histoire littéraire de la France der französischen Akademie (Bd. 6 [1742], S. 438) und den Handschriftenkatalog der Pariser Bibliothek (1744) übernommen wurde. Dass es sich um eine Aufschrift des Manuskriptes selbst handele, scheinen zuerst von Arx und Grimm angenommen zu haben. Möglicherweise hing dies mit Laßbergs Abschrift des Textes zusammen, die beide benutzten. Vgl. zur Geschichte des angeblichen Fleury-Vermerks: Elisabeth Pellegrin: Membra disiecta Floriacensia. In: Bibliothèque de l’école des chartes 117 (1959), S. 5 – 56. Auch Grimm hatte bereits 1838 gegen eine solche Deutung des Walthariliedes Stellung genommen: ders., Lateinische Gedichte, S. 60. Aber man sah die ‚Gefahr‘ wohl nicht als vollständig gebannt an: Auch San-Marte wählt 1852 scharfe Worte, um den französischen Zugriff abzuweisen: ders., Walther, S. 9. Grimm, Lateinische Gedichte, S. 64. San-Marte, Walther, S. 9. Ohne ihn in diesem Punkt zu nennen, schließt sich San-Marte damit an die Hypothese von Edélestan du Méril an (vgl. ders.: Poésies populaires latines antérieurs au douzième siècle. Paris 1843, S. 316). San-Marte, Walther, S. 166 f. So in dem ansonsten sehr instruktiven Aufsatz: Rupp 2003, S. 120.
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beigelegten Streitfrage, und er setzt sich entschieden für eine Zuschreibung entsprechend den Casus ein.⁶⁴ Bedeutender noch als das Problem der Zuschreibung ist jedoch das des Status, den der Urheber des überlieferten Textes beanspruchen darf. Wenn Grimm die Frage nach dessen Namen unentschieden beiseitelässt, so wohl nicht zuletzt deshalb, weil die Klärung dieser Angelegenheit für sein Grundanliegen erlässlich ist. Der Urheber des lateinischen Textes ist für ihn keine entscheidende Figur. Auch hier richtet sich sein Interesse auf die Geschichte der deutschen Sage,von der das lateinische Epos Zeugnis ablege, nicht jedoch auf den Text als spezifische Leistung eines individuellen Autors. Wie die Märchen oder Hartmanns Armer Heinrich gilt ihm der Waltharius als Zeugnis für die Existenz einer lebendigen Volkspoesie – und auch dieses Zeugnis gewinnt seinen Wert gerade deshalb, weil durch es hindurch die lebendige Sage sichtbar wird. Die gelehrte Dichtung eines Mönches zeige lediglich, dass „neben ihren geistlichen dichtungen“ die „adern der einheimischen sage“ immer noch pulsierten, dass auch hier Elemente aus dem Sagenkreis der Nibelungen umliefen.⁶⁵ Wenn Grimm daher die Handlung des Waltharius in ihrem Gang und Zusammenhang rekapituliert und ihre „vollkommen episch[e]“⁶⁶ Natur herausstreicht, wenn er der „schönen und fesselnden gleichmässigkeit“ gedenkt, die „epische wärme“ preist, „deren kraft selbst ältere formgewaltigere werke der römer überbieten könnte“⁶⁷ – dann nicht, um dies alles dem Urheber des überlieferten Liedes zugutezuhalten. Vielmehr wird es für Grimm zum Argument, ihn vollständig aus der Verantwortung zu setzen: „Eine dichtung, so fest in einander gefügten inhalts, kann nicht von einem mönche ersonnen sein, sie muss vorher schon als deutsches gedicht unter dem volk gelebt haben“.⁶⁸ Er entzieht dem Walthariautor dabei nicht nur die Erfindung des Stoffes, sondern auch dessen Disposition und Verdichtung im konkreten Arrangement des Textes. Dem Mönch könnten nicht lediglich Sagen zu Ohren gekommen sein, sondern er müsse ein vollständiges Gedicht als unmittelbare Vorlage vor Augen gehabt haben, ein „deutsches“ Lied, das auch wirklich „unter dem volk gelebt“ habe. Was sich im
Die Walthari-Edition, die er 1873 gemeinsam mit Holder herausgab, zeigte sich noch zwanzig Jahre später in diesem Punkt entsprechend engagiert – galt es nun doch nicht zuletzt auch, seinen eigenen Roman durch die philologische Rekonstruktion zu stützen. Vgl. den Kommentar in: Scheffel, Holder (Hrsg.), Waltharius, insbes. S. 121– 142. Grimm, Lateinische Gedichte, S. IX. Ebd., S. 99. Ebd., S. XI Ebd., S. 99.
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Waltharilied sedimentiert habe, ist leicht als Teil jener „volkspoesie“⁶⁹ zu identifizieren, um die es Grimm insgesamt geht. Zahlreiche Querbezüge, die er vor allem zur skandinavischen Überlieferung und zum Fundus der Deutschen Mythologie zieht, verdeutlichen auch hier die ‚Ausschaltung‘ des Autors. Der Mönch ist konsequenterweise gar kein Dichter, sondern sein Epos bildet den „versuch der halbgelehrten umarbeitung“ einer Volkspoesie, eine „nachahmung“⁷⁰ oder gar eine „uebersetzung[]“⁷¹. Das ‚Eigentum‘ des Mönches dagegen reduziert sich auf die lateinischen Hexameter und die zahlreichen Bezüge zur römischen Literatur, vor allem Vergil – für Grimm allesamt gelehrtes Nebenwerk. Insofern ist es ein zweifelhaftes Kompliment, wenn er ihm zugesteht, dass seine „verse […] geschickter gebildet“⁷² seien als diejenigen des Ruodlieb. Dieses Beiwerk gilt es für den Philologen vom Text abzulösen, um an das ‚eigentliche‘ Lied zu gelangen. Auch hier zeigt sich Grimms spezifischer Ansatz, der von der Dichotomie von Natur- bzw. Volks- und Kunstpoesie ausgeht und durch die Texte hindurch auf die mündliche – und damit ‚lebendige‘, ‚ursprüngliche‘ – Überlieferung zielt. Grimms Argumentation erweist sich auch in der weiteren Forschung zum Waltharius als einflussreich. Alfred Schulz’ (San-Martes) Kommentar zu seiner Übersetzung von 1853 trifft zwar in Bezug auf die Autorschaft eine andere Entscheidung. Aber sein sachliches Interesse am Epos folgt der gleichen Grundtendenz wie Grimm: Auch er sucht nach den „letzten Spuren des deutschen Urbildes“. „[A]llzusehr schon von der virgilischen Form des lateinischen Dichters getrübt“,⁷³ ist die Eigenlogik des überlieferten Textes für ihn uninteressant. Auch für ihn hat der Mönch „ein deutsches Original vor sich gehabt“, dem er in seiner ‚Übersetzung‘ „treu“ gefolgt sei.⁷⁴ Das Lied ist damit ein Zeugnis der deutschen Mythologie, und zwar ein aufgrund seines Alters besonders wertvolles: stehe es doch „ zwischen“⁷⁵ den altnordischen Sagen, wie sie die Edda aufbewahrt habe, und dem Nibelungenlied. Die Bezüge zu diesen anderen Zeugnissen nehmen dann bei San-Marte einen breiten Raum ein. Angefeuert durch den kritischen Scharfsinn, den Lachmann am Nibelungenlied gezeigt hatte, geht er darauf aus, mithilfe dieser Zeugnisse auf die älteren Formen der Walther-Sage zu schließen. Aber er will auch rekonstruieren, welche Elemente der ‚germanischen‘ Mythologie der Waltharius enthalte – „aus
Ebd., S. XI Ebd., S. 100. Ebd., S. XI Ebd., S. XIX. San-Marte, Walther, S. I. Ebd., S. 13. Ebd.
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welchem Thon das Gefäß geformt“⁷⁶ ward. Indem er beispielsweise Hiltgunde als Walkyre identifiziert,⁷⁷ folgt er der Hypothese, dass die Heldendichtung eine gesunkene Göttersage sei. Auch Grimm hatte Einsatzstellen für eine solche mythologische Deutung des Walthariliedes aufgewiesen, gleichzeitig aber zu Zurückhaltung gemahnt.⁷⁸ Scheffels Roman reagiert mit seiner Entscheidung für Ekkehard als Autor also ebenfalls auf die philologische Kollektivierung der Autorschaft, von der in den vorhergenenden Kapiteln die Rede war. Explizit kommentiert er die Debatte um Nibelungenlied und Volkspoesie in einer der Anmerkungen zum Roman. Hier verwirft er entschieden die „Hirngespinste einer zerstörungsfrohen Kritik“, die „sich wie am Homer so an den Nibelungen nicht eher erfreuen konnte, als bis sie in eine Anzahl von verschiedenen Sängern an verschiedenen Orten verfaßter Volkslieder auseinander genagt waren“.⁷⁹ Aber der Widerstand gegen jene Tendenzen der zeitgenössischen Philologie zeigt sich vor allem im Roman als Ganzem. Ostentativ eng an den historischen Quellen gehalten, will er mit seiner produktionsästhetisch-historischen Anlage plausibilisieren, dass dem historischen, individuellen Dichter Ekkehard (I.) der entscheidende Anteil an dem Waltharilied zukomme. Das Provokationspotential des philologischen Umgangs mit der alten Dichtung besteht auch zur Jahrhundertmitte fort. Scheffels Roman legitimiert ebenfalls den Wert zeitgenössischer Autorschaft, wie es beispielsweise bei Uhland beobachtet werden konnte.
3 Ekkehard – Der Roman als Kommentar Dies ist die philologische Situation, in die sich Scheffel mit seinem Ekkehard begibt. Er baut auf ihren Ergebnissen auf, aber er widerspricht ihnen auch entschieden. Der Mönch Ekkehard I. wird zum Autor des Walthariliedes aufgebaut. Entsprechend kreist der Roman um die psychologischen, historischen wie auch lokalen Gegebenheiten, die die Dichtung ermöglicht haben könnten. Scheffels panoramatische historische Szene versammelt geradezu systematisch Elemente, die das im 24. Kapitel abgedruckte Waltharilied erläutern sollen. Diese sind einerseits psychologischer Natur, indem sie die innere Dimension der Dichterwer-
Ebd. Vgl. ebd., S. 33. Vgl. Grimm, Lateinische Gedichte, S. 125. Mit den Bezügen zum Nibelungenlied holt San-Marte nach, was der Freiherr von Laßberg von Grimms Edition erwartet, aber darin nicht eingelöst gefunden hatte; vgl. Studer 1955, S. 207. Ekkehard, S. 471, Anm. 281.
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dung Ekkehards plausibilisieren. Zweitens sind es historische Ereignisse, die sich im Epos spiegeln sollen. Drittens nehmen kulturgeschichtliche Elemente eine bedeutende Stellung ein, also die Schilderung der ‚Sitten‘ an dem gewählten historischen Ort – hierin läge nach dem Modell Scotts und der Romantheorie die eigentliche Stärke des historischen Romans. Viertens nimmt eine bedeutende Rolle im Ekkehard die schriftliche, vor allem poetische Tradition ein, durch die Scheffel dem Roman einen Ort in der Literaturgeschichte zuweist. Entscheidend für die psychologische Entwicklung des Protagonisten sind sein Ausgangspunkt im Kloster und seine Abweichung vom geplanten Lebenslauf. Eingangs ist Ekkehard ein junger St. Galler Mönch, talentiert und auch entsprechend ausgezeichnet, bekleidet er doch bereits die Funktion des Pförtners. Er hat eine Klosterschule besucht, die rechte Zucht gelernt und sich nicht nur in die christliche Literatur vertiefen können, sondern ebenso in Vergil und Horaz. Auch Übungen im lateinischen Versifizieren gehören zum Lernpensum der Schüler in St. Gallen.⁸⁰ Mit dieser mönchischen Idylle aber geht es an dem Tag zu Ende, an dem die Handlung einsetzt. Denn von Langeweile und Mutwillen geplagt, entschließt sich die verwitwete Herzogin Hadwig, das ihr unterstehende Kloster zu besuchen. Ekkehards Anblick erregt in ihr den Wunsch, die Abwechslung, die ihr die Besichtigung verschafft hat, zu verstetigen. Sie bittet sich den jungen Pförtner zum Lateinlehrer auf ihrer Burg aus. Ihr erotisch grundiertes Verlangen wird erfüllt. Ekkehard wird unverhofft auf einem ihm ganz fremden Gebiet herausgefordert werden: Mit seinem Einzug auf dem Hohentwiel treten die Liebe und der Krieg in den Horizont des Mönches. Allerdings verläuft seine Initiation in das unmönchische, erotische Leben alles andere als unproblematisch. Er hat die benediktinische Regel und die christliche Entsagung des Fleisches verinnerlicht: Als Rudiman, der Kellermeister des Klosters Reichenau, der Obermagd nicht eben gegen ihren Willen einen Kuss rauben will, schreitet der durchreisende Ekkehard entschieden ein (vgl. Ekkehard,
Ekkehards Lehrjahre werden indirekt über metonymische Techniken vermittelt. Der Leser erfährt ihren Verlauf nicht durch auktoriale oder rückblickende Erzählung. Scheffel schildert vielmehr den Schulbetrieb an dem Tag, an dem die schwäbische Herzogin dem Pförtner zum ersten Mal begegnet (vgl. Ekkehard, S. 51– 54). Ekkehard ist da schon kein Schüler mehr. Der Unterricht wird außerdem an seinem jungem Neffen geschildert, dem Klosterschüler Burkhard. Als dieser auf den Hohentwiel kommt, zeichnet er sich durch besondere Eloquenz in lateinischen Versen aus (vgl. Ekkehard, S. 305 f.). Die Szene lehnt sich eng an die Casus, S. 195 ff., an. Allerdings hat Ekkehard im Roman zumindest einen Teil seiner Schulzeit nicht in St. Gallen, sondern in Lorsch absolviert (vgl. Ekkehard, S. 364).
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S. 77 f.).⁸¹ Er schafft sich dadurch nicht nur einen listenreichen Feind, sondern die Szene antizipiert auch sein späteres Versagen vor den Ansprüchen der Herzogin. Denn ihr Liebeswerben über der gemeinsamen Vergillektüre durchschaut er erst, als die Herzogin das Interesse wieder verloren hat. Nun seinerseits in Liebe entbrannt, provoziert er halb wahnsinnig eine Entscheidung. Seine bizarre nächtliche Werbung wird jedoch beobachtet, und die Herzogin kann die Sache nicht mehr vertuschen. Ekkehard soll der Prozess gemacht werden. Nur mit knapper Not kann er sich dem sicheren Untergang durch Flucht entziehen. Er zieht in die Berge und schreibt das Waltharilied: als Frucht seiner Rettung, seiner Einsamkeit und seiner gewonnenen Erkenntnis und ebenso als Therapeutikum angesichts des Ver- und Entgangenen. Scheffels psychologische Frage danach, wie jemand im 10. Jahrhundert Dichter werden könne, findet eine psychologische Antwort. Auch der Text des Waltharius in Scheffels Roman wird damit psychologisch aufgeladen: Eine bedrohliche seelische und äußere Notsituation entlade sich in die Schöpfung. Das Gedicht Ekkehards erscheint als Produkt eines Genies, das sich in der persönlichen Krise entfaltet und so seine Gefährdung überwindet. Freilich setzt Scheffel damit ein Erklärungsmodell für schöpferische Produktion an, das sich vor allem seit Ende des 18. Jahrhunderts wachsender Beliebtheit erfreute. Um es in das Mittelalter zu verlagern, nutzt Scheffel Deutungsspielräume, die seine Quelle, die Casus Ekkehards IV., zu bieten scheinen. Eine Anregung findet er in einer Anekdote, die in der Tat von der Berufung eines Mönchs zum Lateinlehrer der Hadwig berichtet. Auf Scheffels Quellenverwendung soll weiter unten näher eingegangen werden. Hier sei zunächst nur festgehalten, dass sich der Chronist zwar hütet, dem lateinischen Unterricht auf dem Hohentwiel eine explizite erotische Interpretation angedeihen zu lassen. Aber die Casus geben auch zu verstehen, dass solche Vermutungen bei den Zeitgenossen kursierten: Schon die Vehemenz, mit der sie einer erotischen Deutung widersprechen, könnte so interpretiert werden. Ein Wortwechsel Ekkehards mit dem hinterhältigen Ruodmann wird dann deutlicher;⁸² ebenso die Bemerkung der Chronik, das Verhältnis von Hadwig zu ihrem Ehemann Purchard sei alles andere als erfüllt
Scheffel findet eine Vorlage für dieses Ereignis in den Casus, allerdings widerfährt es hier dem St. Galler Mönch Tutilo (Casus, S. 90 f.); vgl. hierzu den kritischen Aufsatz von Manfred Fuhrmann: Scheffels Erzählwerk. Bildungsbeflissenheit, Deutschtümelei. In: Allmende 1 (1981), S. 60 – 69, hier S. 62. Casus, S. 193: Ruodmann, der Abt von Reichenau, flüstert Ekkehard ins Ohr: „Du Glücklicher, daß du eine so schöne Schülerin die Grammatik lehren darfst!“ Ekkehard gibt zurück: „So wie auch du, Heiliger des Herrn, der Nonne Kotelind, deiner schönen Schülerin, die liebe Dialektik beigebracht hast.“
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gewesen.⁸³ Diese Untertöne belegen die zeitgenössische Denkmöglichkeit einer erotischen Versuchung auf dem Hohentwiel. Das zweite einschneidende Erlebnis Ekkehards bildet die Kriegserfahrung in der Schlacht mit den ‚Hunnen‘. Während er die Herzogin in Vergil einführt, brechen die Ungarn – im Roman durchgehend als Hunnen bezeichnet – plündernd und marodierend in die Gegend ein. Hadwigs Burg bietet den Mönchen und der Bevölkerung der Umgegend einen Rückzugsort. Von hier aus ziehen sie gegen die Feinde zur Schlacht. Ausgerüstet mit Schwert und Panzer von Hadwigs verstorbenem Ehemann, begibt sich auch Ekkehard in den Kampf. Die Hadwig-Handlung und Ekkehards Kriegserfahrung sollen dem Autor des Walthariliedes nicht nur zu einer Psychologie verhelfen. Sondern der Roman nutzt sie auch als inhaltliche Interpretamente für das Epos. Als Ekkehard zu seiner Dichtung ansetzt, stehen ihm die entsprechenden Erinnerungen vor Augen (vgl. Ekkehard, S. 373 und S. 376). Walthers Flucht vom Hof der Hunnen wird zum Spiegel der Flucht Ekkehards von der Burg auf dem Hohentwiel. Seine Begleiterin und Braut, die Burgundin Hiltgunt, gewinnt ein Pendant in der Herzogin, wobei sich das Verhältnis der beiden hier kompensatorisch umkehrt: Während Hadwig für Ekkehard verloren ist, führt Walther Hiltgunde als Braut mit sich. Durch die Ungarnschlacht rücken Ekkehard die ‚Hunnen‘ vor das Auge, von deren Hof der Walther des Liedes flieht. Freilich hat die durchgehend abstoßende und rohe Zeichnung der Eindringlinge in Scheffels Roman wenig zu tun mit dem kultivierten Hof Etzels im Waltharius (und auch im Nibelungenlied). Er orientiert sich hier an anderen Quellen.⁸⁴ Entscheidend für die psychologische Ausstattung des Mönchs erscheint vor allem seine Kriegserfahrung. In der Walthari-Edition von 1874 heben Scheffel und Holder heraus, wie im Epos der Kampf des Helden gegen jeden seiner zwölf Gegner sich spezifisch in Wahl und Gebrauch der Waffen unterscheidet. Sie führen diese dichterische Variationsfähigkeit auf Anschauung zurück. Im zwanzig Jahre vorher entstandenen Roman ist es die Schlacht, in der der Autor Ekkehard seine Kenntnisse erwirbt. Es kommt hier nicht darauf an, dass Scheffels Dichterbild und seine implizite Reflexion auf den verborgenen psychologischen Sinn eminent dem Klischeearsenal seiner eigenen Zeit entnommen sind. Wichtiger ist: Er möchte durch diese Interpretamente das Waltharilied als Dichtung eines Individuums plausibilisieren und legitimieren. Er konstruiert an den Quellen entlang ein Geschehen, das Handlungselemente des Waltharius mit lebensweltlichen Erfahrungen seines Casus, S. 185: Hadwig habe, „wie man sagte, umsonst mit ihm im ehelichen Bett gelegen“. Ildefons von Arx zitiert in seinen Geschichten des Kantons St. Gallen (Bd. 1, S. 212) eine Beschreibung aus dem Rhegionis Chronicon: „Sie waren kleine Männer, hatten tiefliegende Augen und ein gräßliches Aussehen.“
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fiktiven Autors in Beziehung setzt.⁸⁵ Mit der Brautwerbung Walthers und der gemeinsamen Flucht lädt er nicht zuletzt solche Momente des Walthariliedes psychologisch auf, die von der zeitgenössischen Philologie der Sagenüberlieferung zugeschrieben und dort allenfalls auf ihre motivischen Transformationen hin befragt wurden. Ekkehard (re‐)konstruiert die angenommene Dynamik des Dichtungsprozesses gleichsam von rückwärts: Einem lebendig gestalteten Element der Dichtung muss eine Erfahrung des Autors zugrundeliegen; daher gilt es, diese Erfahrung in seinem Leben aufzusuchen. Der Roman wird zu einem hypothetischen, lebensweltlichen Kommentar zum überlieferten Text, den er an seinem Höhepunkt in sich aufnimmt. Scheffel behauptet dabei freilich nicht, Ekkehard habe den Walther-Stoff erfunden. Auch für ihn liegt hier ältere Überlieferung zugrunde. Der Mönch ist nicht der originäre Schöpfer der Handlung. Eine weitere biographische Fiktion gewährt hier Aufklärung. Während seiner Jugendjahre im Kloster Lorsch durchstreift Ekkehard mit seinem Freund Konrad von Alzey die Umgebung. Der sagenkundige Begleiter zeigt ihm vom Rhein aus den Wasigenstein, an dem Walther seinen zwölf Gegnern im Kampf gestanden haben soll: Und Konrad erzählt „ihm die Sage weitläufig“ (Ekkehard, S. 366). Neben der Erinnerung an die eigenen Erlebnisse steigt auch diese Sage vor Ekkehards innerem Auge auf, als er sich im Alpenexil von seiner vorherigen Existenz getrennt hat. Auf dem Scheitelpunkt der Lebenskrise schießen Phantasie und Gedächtnis zusammen. Die erhabene Bergnatur und die neue Freiheit erweisen sich als günstiges Medium, und der Stoff des Lebens formt sich zu plastischen Gestalten: „mit Sang und Klang zog der Geist der Dichtung bei ihm ein“ (Ekkehard, S. 373). Im Imaginären läutern sich die Dinge, denen in der Realität die Erfüllung versagt worden war: „‚Im Bild der Dichtung soll das arme Herz sich dessen freuen, was ihm das Leben nimmer bieten kann, an Reckenkampf und Minnelohn‘“ (ebd.) – so ruft Ekkehard aus. Scheffel setzt der Annahme, dass der Waltharius lediglich die verschlechternde lateinische Übersetzung eines schon bestehenden Epos sei, eine andere entgegen. Ähnlich wie bei Uhland schließt auch hier die Existenz früherer Überlieferung nicht das vollgültige Dichtertum ihres Erneuerers aus. Der Ekkehard widerspricht vehement Grimm, San-Marte und damit der überwiegenden philologischen Auffassung des Liedes.
Auch die wiederholten Verweise der Anmerkungen auf die Regula S. Benedicti (etwa Ekkehard, S. 439, Anm. 16; Ekkehard, S. 441, Anm. 38) bergen einen philologischen Sinn. 1853 hatte August Geyder im Waltharilied eine Reihe von Einflüssen der Benediktinerregel nachzuweisen versucht; vgl. ders.: Anmerkungen zum Waltharius. In: Zeitschrift für Deutsches Alterthum 9 (1853), S. 145 – 163.
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4 Waltharius und Nibelungenlied – Adolf Holtzmanns Epostheorie Die philologische Position, die Scheffels Roman bezieht, lässt sich genauer qualifizieren. Für ihn ist die Überlieferung, wie sie Ekkehard von Konrad empfängt, noch keine Dichtung im eigentlichen Sinne. Die Sage, wie sie Konrad „weitläufig erzählt“ (Ekkehard, S. 366), liegt als schlichter prosaischer, oraler Kern vor. ‚Im Volk‘, also in mündlicher Überlieferung, hält sie sich gerade nicht in poetischer Form. Die Vorstellung einer epischen Volksdichtung, die neben der Lebendigkeit auch eine erhabene dichterische Gestalt bewahre, lehnt Scheffel ab. Der Ekkehard vertritt ein durchaus anderes Konzept des Epos als viele zeitgenössische Philologen. Dieses setzt seine Erwartung nicht in das Volk und seine ‚Naturpoesie‘, sondern auf den Dichter, der sich mit all seiner Individualität der umlaufenden Sage annimmt. Scheffel adaptiert für seine Version der dichterischen Epenentstehung die Epostheorie Adolf Holtzmanns. Sein Name ist oben schon genannt worden. Von 1852 an unterrichtete er an der Heidelberger Universität unter anderem Deutsche Philologie. Scheffel besuchte, als er seinen wissenschaftlichen und dichterischen Ambitionen folgte, Holtzmanns Vorlesungen und verkehrte rege mit ihm. Dieser beschäftigte sich in diesen Jahren intensiv mit dem altindischen Epos und den Nibelungen. Seine neue Auffassung des Nibelungenliedes publizierte er 1854.⁸⁶ Noch heute kann Holtzmann in der Forschungsgeschichte einen wichtigen Platz beanspruchen, vor allem, weil er sich mit einer Fülle von sprach- und versgeschichtlichen Befunden gegen Lachmanns Liedertheorie wandte, die, wie er schreibt, die zeitgenössischen Lese- und Handbücher beherrschte.⁸⁷ Implizit wenden sich die Untersuchungen auch gegen die Grimm’sche Vorstellung vom Epos als Volkspoesie. Durch eine Analyse der Metrik versucht Holtzmann, in den Nibelungenversen vor allem der Handschrift C noch vorhandene Stabreime aufzufinden. Sie verwiesen auf Otfrids Reimweise im 9. Jahrhundert.⁸⁸ Ebenso zeige der Versbau Ähnlichkeiten mit den Versen des Kürenbergers.⁸⁹ Diese älteren Einsprengsel Untersuchungen über das Nibelungenlied von Dr. Adolf Holtzmann. Stuttgart 1854. Die Vorrede ist auf den September 1853 datiert, der Band erschien wohl schon zum Jahreswechsel. Es ist also durchaus davon auszugehen, dass Scheffel bei der Arbeit am Ekkehard nicht nur vom persönlichen Kontakt profitierte, sondern auch das Buch benutzen konnte. Vgl. ebd., S. V. Holtzmann nimmt seinen Ausgang von einer Umwertung der Nibelungenhandschriften. Für ihn bietet nicht die Handschrift A den ältesten Text, sondern C, die sogenannte Lassbergsche. Heute kann man diese Ansicht zwar ebensowenig teilen wie die Lachmannsche, forschungsgeschichtlich aber ist Holtzmanns Umwertung bedeutend. Vgl. ebd., S. 70. Vgl. ebd., S. 76.
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deutet Holtzmann als Spuren einer früheren Fassung des Nibelungenliedes, die in der Dichtung des 12. Jahrhunderts transformiert worden, aber nicht völlig verloschen sei.⁹⁰ Einen Anhaltspunkt für seine sprachliche Untersuchung liefern ihm die berühmten Schlussverse der Klage, nach denen der Schreiber Konrad im Auftrag des Bischofs Pilgrim die mære aus mündlichen Überlieferungen aufgezeichnet und gedichtet habe.⁹¹ Holtzmann findet darin die reale Entstehungssituation der Klage und jenes älteren, verlorenen Nibelungenliedes. Neben der chronologischen Verortung bietet ihm die Stelle eine Lokalisierung; und er kann Klage und Nibelungenlied als Teile eines umfassenden Gedichtes deuten: „Konrad, der Schreiber Pilgrims von Passau, verfasste zwischen 970 – 991 das deutsche Gedicht, dessen erster Theil die Grundlage unserer Nibelungen war, dessen zweiter Theil in der Klage bearbeitet […] ist.“⁹² Konrad rückt damit zeitlich und kulturell neben den Dichter des Waltharius. ⁹³ Beide Epen seien Produkte einer ersten kulturellen Blütezeit vor der höfischen Klassik, einer Blüte also, die sich noch ohne den späteren französischen Einfluss entwickeln konnte.⁹⁴ Holtzmann verschiebt keineswegs nur Lachmanns Liedertheorie um zwei Jahrhunderte weiter in die Vergangenheit. Konrad – und damit implizit auch der Walthariautor – ist für ihn kein bloßer Schreiber, Sammler oder Diaskeuast, als den ihn die Grimms oder Lachmann interpretierten. Er habe zwar die noch vorhandenen, mündlich umgehenden Lieder gesammelt und zusammengefügt – aber gerade dies versteht Holtzmann als genuin dichterischen Akt; zumal die Lieder, schriftlich fixiert und in einen übergreifenden epischen Zusammenhang gestellt, für ihn keineswegs ‚absterben‘. Der Weg in die gelehrte Sphäre der Schrift setze sie vielmehr unter neuen Kulturbedingungen wieder dorthin, wo das Epos eigentlich seinen Ursprung gehabt habe. Das Epos konserviert auch für Holtzmann die Identität, Religion, Geschichte und Ethos eines Stammes. Aber die Pflege dieses kulturellen Gedächtnisses ist für ihn nicht die Sache der ganzen Gemeinschaft, also des ‚Volkes‘. Von Beginn an wahre eine Kaste von Dichterpriestern die Kontinuität der Überlieferung. Ihr Wissen und Können seien esoterisch, Teile einer ‚gelehrten‘ Praxis, die das Tra „Die Betrachtung der Sprache wie des Reims und des Versbaus hat uns zu der Ansicht geführt, dass das Nibelungenlied nicht lange bevor, aber auch nicht sehr lange nach 1190 gedichtet sein kann, dass aber der Dichter ein Werk von beträchtlich höherem Alter benützte, das er vielleicht nur in die Sprache seiner Zeit übersetzte und mit den strengeren Reimen, wie sie der neue Geschmack verlangte, versah“; ebd., S. 91. Vgl. VV. 4295 – 4322; Die Nibelungenklage. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch hrsg. von Elisabeth Lienert. Paderborn u. a. 2000, S. 316 – 318. Holtzmann, Untersuchungen, S. 125. Vgl. ebd., S. 133. Vgl. ebd., S. 131.
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dierte gerade vor einer ungeregelten Diffusion im Volk und damit seiner Auflösung bewahren solle: Niemals hätte man den identitätsstiftenden Mythos „dem Zufall des Volksgesangs überlassen“.⁹⁵ Für das 10. Jahrhundert, die angenommene Entstehungszeit von Nibelungenlied und Waltharius, setzt Holtzmann dabei eine existenzielle Gefährdung des alten, über Jahrhunderte tradierten Wissensbestandes an. Die fortschreitende Christianisierung des frühen Mittelalters habe dem Epos nach und nach seine kulturelle und religiöse Funktion und auch seine Tradenten entzogen. Die Lieder blieben nun dem Volk und seiner Erinnerung überlassen – damit aber „zerfielen [sie] in Bruchstücke, die allmählich aus dem alten edeln Styl des Heldengesangs in den rohern Ton des Bänkelsängerlieds herabsanken.“⁹⁶ Diese im Volk verdämmernden Fragmente habe Konrad auf Pilgrims Veranlassung gesammelt, um sie zu bewahren. Das Epos bilde sich also mit dieser Zusammenstellung nicht erst, wie es Lachmann annimmt, sondern es werde vielmehr restituiert – wenn auch sein religiöser und damit kultureller Funktionsverlust vom Bischof und seinem Schreiber nicht habe rückgängig gemacht werden können. Stattdessen aber entstehe unter den Händen Konrads daraus eine Dichtung: Denn er bringe die Rudimente des Mythos „planmässig“⁹⁷ in die große Form des Epos, wie sie aus dem 12. Jahrhundert noch der Gegenwart überliefert sei. Konrad habe mit seinem Werk Teilnahme erregen wollen, er habe der Geschichte einen neuen Kern verliehen, den Holtzmann – mit den unitarischen Interpreten seiner Zeit – in der Psychologie Chriemhilds sieht. Konrad schließlich habe die Elemente des Mythos psychologisiert und auf diesen neuen Kern bezogen. Neben der Erforschung des Mythos gelte es für den Philologen, die „poetische Befähigung Konrads zu würdigen“.⁹⁸ Holtzmanns Untersuchungen – darauf kommt es hier an – liefern neben der Theorie einer kulturellen Hochblüte und engen Verbindung von Nibelungenlied und Waltharius vor allem ein Modell des epischen Dichters, das Individualität und Tradition vermittelt. Holtzmanns Impulse sind für Scheffel so bedeutsam, dass er geradezu die Struktur seines Romans nach ihnen ausrichtet. Seine Zeichnung des Klosters, wie Ebd., S. 169. Holtzmann gewinnt seine Theorie aus einer Untersuchung des altindischen Epos – das für ihn mit dem germanischen und griechischen einen gemeinsamen Ursprung besitzt (vgl. ebd., S. 161– 163). In der Sanskritphilologie liegt ein Forschungsschwerpunkt Holtzmanns.Vor den Untersuchungen war er in seiner Dissertation dem Zusammenhang von indischer und griechischer Mythologie nachgegangen (Ueber den griechischen Ursprung des indischen Thierkreises. Karlsruhe 1841) und hatte eine Edition von Indischen Sagen (3 Bde., Karlsruhe 1845 – 47) veranstaltet. Später publizierte er Übersetzungen aus dem Sanskrit und umfangreiche Studien zum Mahābhārata. Holtzmann, Untersuchungen, S. 172. Ebd., S. 178. Ebd., S. 177.
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er sie in den Casus vorgeprägt fand, hebt das blühende kulturelle und literarische Leben heraus. Auf die Rolle, die die antike Überlieferung für Ekkehards Dichtung spielt, wird noch einzugehen sein. Zentral aber für die These von einer Blütezeit ist die gleichzeitige und zusammenhängende Entstehung des Waltharius und des Nibelungenliedes. Denn freilich begegnet der Leser in Ekkehards Jugendfreund Konrad niemand anderem als dem zukünftigen Nibelungendichter in Holtzmanns Sinne.⁹⁹ Auch in der Gestaltung jenes „Kuonrat“, den die Klage erwähnt, folgt Scheffel Holtzmanns Überlegungen. Denn alternativ zu einem Kürenberger Konrad¹⁰⁰ hält dieser es auch für möglich, dass einer von Alzey jene ältere Fassung des Epos gedichtet haben könnte.¹⁰¹ Entsprechend vermittelt Scheffels Konrad von Alzey seinem Freund nicht nur die Walther-Sage, sondern er erzählt ihm ebenso diejenige der Nibelungen. Auch dieser überlieferte Stoff wird durch die Anschauung flankiert. Denn die Wanderungen der beiden Novizen führen nicht nur gen Wasigenstein, sondern von Lorch aus in den Odenwald, wo Konrad dem Freund die Stätte vorweist, an der Hagen einst den Siegfried erstach. Scheffel lässt es sich nicht nehmen, auch die Entstehung des Nibelungenliedes in seinen Roman zu integrieren.¹⁰² Er schildert, wie Konrad vom Bischof scheidet, nachdem er seinen Dienst erfüllt hat.¹⁰³
Vgl. zu diesem Komplex die eingehende Untersuchung von Wunderlich 1995. Den Grund liefert hier nicht zuletzt die Strophenform des Kürenbergers, deren Verwandtschaft mit der Nibelungenstrophe in Holtzmanns Argumentation eine wichtige Rolle spielt; ders., Untersuchungen, S. 76. Er führt das Lob und die Liebe an, mit denen im Nibelungenlied von Volker von Alzey die Rede sei – hierin könne der Dichter sich selbst ein Denkmal gesetzt haben: „dann würde etwa daraus hervorgehen, dass der Dichter von Alzey gebürtig und als er das Lied dichtete, noch ein junger Mann war; Klage 1421 L wand er was noch ein junch man; und dass er die Waffen zu führen verstand sîn ellen suo der fuoge diu beide wâren grôz 1773“; ebd., S. 135. Scheffel baut auch diese Identifikation Konrads mit Volker ein: Als Konrad aus Passau ausreitet, singt er acht Verse des Spielmanns aus dem Nibelungenlied (Ekkehard, S. 421). Er folgt Holtzmann auch darin, dass er die ‚ältere‘ Nibelungendichtung als eine in deutscher Sprache präsentiert. Dies verdeutlichen die in Anm. 91 erwähnten Verse Konrads. Wunderlich (1995, S. 244) übersieht dies in seinem ansonsten vorzüglichen Aufsatz zu Scheffels Version vom Autor des Nibelungenliedes. Scheffel nimmt im Ekkehard keine lateinische Nibelungias an, sondern er hält sich an Holtzmanns Auffassung, dass die „latînischen buochstaben“ (Nibelungenklage V. 4299, Hrsg. Lienert, S. 316) lediglich die Schrift meinten. Vgl. Ekkehard, S. 420. Dem Abschied wohnen Pilgrim und seine beiden Neffen bei. Die Szene gestaltet die erwähnten Verse der Klage aus: „Und Pilgerim, der Bischof, strich seinen weißen Bart und sprach: ‚Ihr dürft Euch freuen, liebe Neffen, daß euch der Konrad die Mär gebrieft, und wenn der Donaustrom drei Tage und drei Nächte mit Gold fließen wollte, ihr möchtet nichts Kostbareres drin finden, denn diesen Sang; das ist die größeste Geschichte, die auf der Welt je geschah.‘“ Vgl.
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Holtzmanns Theorie des epischen Dichtens ermöglicht Scheffels EkkehardFigur. Die kulturgeschichtliche Situation, in die Scheffel den Bodenseeraum versetzt, entspricht dem Übergang vom alten germanischen Glauben zum Christentum: Dieses ist die neue, verbindliche Religion, allerorten im Volk ist man getauft, klammert sich aber noch an die Bräuche und Praktiken des alten Gottesdienstes. Ekkehard leistet an seinem Lied das gleiche wie Konrad. Er transformiert die mündliche, abgesunkene Überlieferung in eine dichterische Gestalt. Diese muss als seine eigene Leistung gewertet werden, denn – und hier ergänzt Scheffel die philologische Interpretation Holtzmann durch eine psychologische Motivation – der alte Stoff hat sich durch Ekkehards eigene Erfahrung mit neuem Leben erfüllt. In dieser Neubelebung durch Herzblut liegt für Scheffel die irreduzible Leistung des Waltharius-Dichters.
5 Transformation von Tradition – Vergil und die italienische Renaissance Die Psychologie einer krisenbewältigenden Transformation von Erfahrung und die Aufnahme der Sage – dies sind zwei zentrale Elemente von Scheffels Antwort auf die Frage, wie einer im 10. Jahrhundert zum Dichter werden könne. Aber auch für die anderen Bestandteile des überlieferten Epos hält er Erklärungen bereit. Sein Ekkehard transformiert nicht nur den Walthari-Stoff. Auch die Klosterstudien prägen seinen Erfahrungshorizont. Dies gilt nicht nur für die Lektüre des Hoheliedes, die ihm in dem Moment, als er sich seines Liebesverlangens gefährlich bewusst wird, eine erotische Fieberphantasie beschert.¹⁰⁴ Vor allem Vergil spielt eine zentrale Rolle. Der vergilische Hexameter und die vielfältigen Anspielungen auf die Aeneis waren – neben der lateinischen Sprache – für die zeitgenössische Philologie der größte Stein des Anstoßes am Waltharius. Sie zeugten deutlich genug von der geistlich-gelehrten Abkunft des Urhebers; auf sie schien sich auch seine (lediglich verschlechternde) Eigenleistung am Lied zu beschränken, ob man dieses nun als ‚Übersetzung‘ oder als ‚Nachahmung‘ eines vorliegenden Textes verstand. Grimm wollte hinter diese Spuren der „halbgelehrten umarbeitung“¹⁰⁵ zurück gelangen.
Nibelungenklage, Hrsg. Lienert, S. 264: „ez ist diu groezeste geschiht / diu zer werlde ie geschach“ (VV. 3480 f.). Ekkehard nimmt das Hohelied auf S. 275 wieder vor. Dass der „lilienduftige Sang […] dem brünstigen Sehnen nach der Kirche, der wahren Braut der Seele“, gelte, ist ihm schon dort zweifelhaft. Später (Ekkehard, S. 315) ruft er Hadwig im Fieber als „Meine Taube“ an. Grimm, Lateinische Gedichte, S. 99.
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Er identifizierte eine lange Reihe von vergilischen Einsprengseln.¹⁰⁶ Auch für SanMarte besaß der Text seinen Wert nicht aufgrund, sondern trotz seines „faltenreichen virgilschen Gewandes“.¹⁰⁷ Scheffel jedoch besitzt mit seiner an Holtzmann orientierten Hypothese des individuellen Erneuerers der Sage einen Ausgangspunkt, um die römischen Spuren positiv zu würdigen. Auch insofern beteiligt sich sein Roman nicht so sehr an der Jagd auf die germanischen Ursprünge.Vielmehr konzipiert er die kulturelle Hochblüte im 10. Jahrhundert als Ergebnis einer Vielfalt von Einflüssen und Bedingungen.¹⁰⁸ Gegen die zeitgenössische Philologie verteidigt sein Roman den ästhetischen Eigenwert des überlieferten Textes. Vergil ist in der Ekkehard-Handlung nicht nur der äußere Anlass dafür, dass der junge Mönch von seiner klösterlichen Lebensbahn abweicht. Er dient auch als Katalysator für die Zuspitzung. Der Lateinunterricht, den Ekkehard der Herzogin gibt, umfasst neben der Grammatik vor allem die Lektüre der Aeneis. Und schon bald werden in der gemeinsamen Textexegese erotische Anliegen verhandelt. Es ist die Herzogin, die diese ‚Verlebendigung‘ der alten Dichtung forciert. Sie bezieht das Personal der Aeneis unmittelbar auf ihre eigene Situation. Zunächst ist sie entschieden geneigt, sich in der Herrscherin Dido zu spiegeln, wie sie sich in Aeneas verliebt (etwa Ekkehard, S. 102). Ihre identifikatorische Lektüre stellt das hohe, gelehrte Ideal Ekkehards, der die Überlieferung als erhabene Weisheitsquelle begreift, entschieden auf die Probe. Der Roman faltet die ersten Gesänge der Aeneis zu einem beziehungsreichen Intertext für die gegenseitigen Ansprüche aus. Gegen den Willen des Lehrers verlebendigt sich das Epos unter seinen Händen und greift in das Beisammensein auf dem Hohentwiel ein. Auch die lateinische Tradition hält damit Einzug in Scheffels Konstruktion des Dichters zwischen Psychologie und Sage. Hadwig eröffnet Ekkehard eine neue, lebensnahe Hermeneutik der Klassiker. Auf seiner Flucht lädt sich ihm die Aeneis daher, ganz analog zum Walthari-Stoff, mit eigener Erfahrung auf. Die vergilische Form und die Anspielungen des Walthariliedes fungieren nun als Metonymien von
Vgl. ebd., S. 65 – 67. San-Marte, Walther, S. 11. Auch in Gervinus’ Literaturgeschichte, die Scheffel nach eigenen Angaben gründlich studiert hat (vgl. den Brief an Wilhelm Meyer-Ott, 30. Nov. 1854; in: Scheffel, Schweizer Freunde, S. 45), findet er eine Stütze. In der Entwicklung der deutschen Dichtung zeige der Waltharius für das 10. Jahrhundert, dass die Deutschen „stets das Anlehnen an die Menschheit außer uns vor der nationalen Selbständigkeit und Abschließung suchten, daß alles Reinnationale bei uns formlos und unentwickelt liegen blieb, während wir bei jedem tieferen Kampfe oder Wetteifer mit dem Fremden an das Höchste rührten“; Geschichte der Deutschen Dichtung. Von Georg Gottfried Gervinus. Bd. 1. Vierte gänzlich umgearbeitete Ausgabe. Leipzig 1853, S. 87.
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Ekkehards psychischer Entwicklung. In ihnen bewahrt seine Dichtung die verlorene und überwundene Liebe auf. Die Vergil-Lektüre auf dem Hohentwiel entwickelt sich als Kampf von verlebendigender Identifikation und distanzierendem Klassikerdienst. Scheffel reflektiert hier nicht zuletzt auch die scheinbar konträren Ansprüche von Leben und philologisch-historischer Lektüre an die Überlieferung. Hadwigs Hermeneutik der Identifikation zeugt von Weltklugheit. Sie vereinnahmt die Texte für das Leben, während ihr Lehrer die alten, fremden Texte gelehrt zu distanzieren versucht. Beide Positionen verbinden sich dann in Ekkehards eigener Dichtung. Sie beruht auf genuin eigener Erfahrung, die sich nicht zuletzt aus der Erkenntnis ergibt, dass sich die alten Texte auf vielfältige Weise mit dem Leben verweben können. Ekkehard hat die Tradition ins Individuelle transformiert und hieraus wiederum eine Dichtung von nationalem Anspruch geschaffen. Der Roman stützt seine Auffassung von Ekkehards Dichtung und der Rolle Vergils durch eine weitere literaturgeschichtliche Ebene. Bei ihr handelt es sich nicht um ein psychologisches, sondern um ein typologisches Element, an dem Scheffel die Entwicklung seines Protagonisten ausrichtet. Der Roman setzt die Geschehnisse am Bodensee in Parallele zur späteren Entstehung der Renaissance in Italien. Noch auf dem Hohentwiel grübelt Ekkehard,wie er Hadwig mit einer Dichtung erfreuen könne. Undeutlich schwebt ihm dabei Vergil als Modell vor Augen. Um dem gelehrten Ruhm seines Vorgängers gerecht zu werden, wälzt er weitausgreifende Pläne. So will er etwa alle verehrungswürdigen Frauen von Beginn der Welt an aufzählen, um die Reihe in Hadwig gipfeln zu lassen (vgl. Ekkehard, S. 136). Es braucht den verschmitzt-romantischen Witz der griechischen Kammerfrau Praxedis, um den verzweifelnden Dichter auf den richtigen Weg zu lenken – zu seiner eigenen Dichtung und zu einem besseren Verständnis Vergils: „‚Ihr wollt ja ganze Wälder umhauen, wo es nur ein paar Blümlein zum Strauß erfordert. Macht’s einfach, ungelehrt, lieblich – wie es Euer geliebter Virgilius ausgedacht hätte!‘“ (Ekkehard, S. 137) Dazu gehört auch, Kunst nicht als dem Leben ferne, bloße Gelehrsamkeit zu verstehen: „‚Macht die Augen auf […] und seht Euch das Leben an.‘“ (Ekkehard, S. 138) Dem Dichter Ekkehard sind nun erstmals die Augen geöffnet. Mit Praxedis’ Poetik an der Hand wagt er einen Versuch. Sein Gedicht handelt vom Poeten, der, in seiner Studierstube über alten Schriften sitzend, eine Erscheinung hat: „Und vor mich trat ein leuchtend Menschenbild“ (Ekkehard, S. 143). Es ist Vergil selbst, der zu ihm kommt und über die Poesie spricht: „Was toter Buchstab’ dort dir noch erzählt, / Das schrieb ich selbst mit warmem Herzblut einst“ (ebd.). Der AeneisDichter bestätigt nicht nur die Lebenssättigung seiner eigenen Verse, er verkündigt auch, dass seine gegenwärtige Erscheinung in deutschen Landen die Erneuerung
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der Dichtkunst anzeige: „Jetzt hat die Heimat selber uns vergessen / Und bei den Fremden leben neu wir auf“ (Ekkehard, S. 144). Ekkehards Gedicht verkündet nichts weniger als eine Renaissance. Seine persönliche Entdeckung des Lebens in der alten Dichtung weitet sich für den literaturgeschichtlich versierten Leser zu einer Wiedergeburt im epochalen Sinne. Scheffel verkneift sich in der angeblichen Übersetzung der fingierten Dichtung ins Deutsche zwar die Reimform der Terzinen. Aber die Erscheinung des Führers Vergil reicht hin, um hier eine Präfiguration Dantes erkennen zu lassen. Die Geburt des Dichters aus der Jugendliebe und das Zusammentreffen mit Vergil – die Vita nuova und die Divina commedia – konzentrieren sich en miniature in das Gedicht. Schon die gemeinsame Lektüre mit erotischem Unterton war eine Reminiszenz an Francesca und Paolo in der Commedia (Inferno, Canto V). Scheffel deutet Ekkehards (und Dantes) Leistung als Wiedererweckung der eigenen Anschauung durch die Neuentdeckung der Welt- und Lebenshaltigkeit der Antike. Er folgt damit einem gängigen Verständnis der italienischen Renaissance, verlegt ihren geistesgeschichtlichen Gehalt jedoch in das deutsche 10. Jahrhundert. Aber mit Dante ist die Sache noch nicht abgeschlossen. Die durch Vergil befreite Liebe zu Hadwig und ihre Verwandlung in poetische Potenz ist nur ein Element dieser deutschen Renaissance. Nach dem Weihnachtsabend setzt sich die poetische Initiation Ekkehards durch die Frauen auf dem Hohentwiel fort. Hadwig, Vergils überdrüssig, wünscht nun auch einmal, einheimische Sagen und Geschichte zu hören. Und so ruft sie Ekkehard, Praxedis und den Kämmerer Spazzo zusammen. Jeder in dieser Runde soll aus seinem Gedächtnis Geschichten erzählen: „‚Wir haben gestern behauptet‘, sprach sie, ‚daß wir in unsern deutschen Sagen und Geschichten so viel schöne Gelegenheit zu Kurzweil besitzen, als weiland die Römer in ihrem Heldenlied von Äneas. Und sicher weiß ein jedes von uns etwas von schneller Helden Fechten und fester Burgen Brechen […]‘“ (Ekkehard, S. 315). Die an die Eröffnungsverse des Nibelungenliedes auch metrisch angelehnte Aufforderung Hadwigs belegt, dass jene Geschichten geradezu nach neuerlicher epischer Formung drängen. Herr Spazzo weiß denn auch von Wieland dem Schmied zu berichten,¹⁰⁹ die Byzantinerin Praxedis erzählt vom König Rother. Einzelne Elemente des ‚Deutschen Heldenbuches‘ scheinen hier im kollektiven Gedächtnis des Grüppchens auf. Auch die Namen Hildebrand und Hadubrand werden in die Runde geworfen (vgl. Ekkehard, S. 316). Alles dies erweitert die oben skizzierte Vorstellung von der deutschen Sage als einem präsenten, aber aus der
Auch dieser Zug kommentiert das Waltharilied: wird doch darin ein tüchtiges Schwert als „Wielandia fabrica“ (V. 965) bezeichnet; vgl. dazu Grimm, Lateinische Gedichte, S. 115; San-Marte, Walther, S. 159.
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epischen Form abgesunkenen Erzählgut. Seine Demonstration des kollektiven Gedächtnisses aber rückt den Roman an Boccaccios Decamerone heran. So wie dessen Personal die hundert Novellen reihum aus dem Hörensagen neu erzählt – und wie Boccaccio selbst seinen Novellenkranz aus den unterschiedlichsten Quellen speist –, so inszeniert Scheffel hier die Verlebendigung von Tradition im mündlichen Zirkel. Das Modell des Decamerone bringt in den Ekkehard ein weiteres Moment ein, das die italienische Renaissance präfiguriert. Um die Trias des italienischen Modells zu komplettieren, fehlt noch ein Dritter: Petrarca. Er wird in der literaturgeschichtlichen Betrachtung auch von Scheffels Zeitgenossen vor Boccaccio angesetzt. Scheffel jedoch spart ihn bis zuletzt auf. Das Modell Petrarcas tritt im Roman nicht so offensichtlich zutage wie dasjenige Dantes oder Boccaccios. Aber ein kurz nach dem Ekkehard entstandener Text Scheffels gibt Auskunft, wo man fündig werden kann. 1857 berichtete er in einem Artikel für Westermanns Monatshefte von einem Besuch in Vaucluse, den er im Jahr zuvor unternommen hat.¹¹⁰ Der Abstecher stand ganz im Zeichen Petrarcas. Scheffel wollte, wie es für ihn typisch war, den genius loci auf sich wirken lassen, um sein Verständnis von der Person und Dichtung zu vertiefen. Der Artikel versucht, diesen Geist zu fassen, und er wendet sich auch gegen die gelehrte „deutsche Literar-Historie“, die gerade vor der Lebendigkeit des Gegenstandes und seiner Anschaulichkeit die Augen verschließe.¹¹¹ Dieses Pathos der Anschaulichkeit findet sich, wie oben gezeigt, ja auch im Ekkehard, und gerade im ‚neuen Sehen‘ der Welt und des Lebens identifiziert Scheffel auch den geistesgeschichtlichen Kern einer Renaissance. Vaucluse ist für ihn daher ein Ort, an dem man „seiner Zeit Einiges mehr von Poesie in Wort und Leben verstand.“¹¹² Er preist den großartigen Anblick der bergigen Einsamkeit. Das Naturerlebnis entspreche dem Eindruck, den er von Petrarcas Dichtungen – vor allem den Rime – habe. Bestätigend zitiert er einen Brief Petrarcas, in dem dieser berichtet, wie er hier sein Epos geschrieben habe: „‚Hier […] habe ich meine Africa begonnen, mit solchem Ungestüm und solcher Einsetzung geistiger Kraft, daß ich jetzt nur wie eine Schnecke auf jenen Spuren einherschleiche‘“.¹¹³ Es ist
Joseph Victor Scheffel: Avignon. In: Westermann’s Jahrbuch der illustrierten deutschen Monatshefte 1857, Bd. 2, S. 522– 533; ders.: Ein Tag am Quell von Vaucluse. In: ebd., S. 626 – 642. Eine eingehende Deutung von Scheffels Artikel und Besuch bietet Rupp 2003. Scheffel, Vaucluse, S. 632. Scheffel polemisiert nicht zuletzt gegen den Heidelberger Romanisten Emil Ruth, bei dem er als Student ein Dante-Kolleg besucht hatte. Ruth vertritt in seiner Geschichte der italienischen Poesie (2 Bde. Leipzig 1844) eine wenig vorteilhafte Meinung von Petrarca; vgl. dazu Rupp 2003, S. 111 f. Scheffel, Avignon, S. 533 Scheffel, Vaucluse, S. 630.
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gewiss kein Zufall, dass Scheffel Ekkehard in einer ähnlichen Situation, in den Alpen, von den erhabenen Bergen inspiriert, seinerseits den Waltharius dichten lässt:¹¹⁴ „Und der Kuhreigen tönte ins Herdengeläut und wärmer und wärmer färbte sich alles auf der Alp, goldbraungrün leuchteten die Matten, leiser Abglanz der Röte warf sich auf die grauen Kalksteinwände des Kamor, da hub sich auch in Ekkehards Seele ein Leuchten und Glänzen“ – und als im gleichen Moment die Erinnerung an seine Erlebnisse aufscheint, zieht „mit Sang und Klang […] der Geist der Dichtung bei ihm ein“ (Ekkehard, S. 373). Ekkehard wird auch zu einer Präfiguration Petrarcas. In seiner Person konzentrieren sich – freilich im kleineren Maßstab – die Entwicklungsmomente einer kulturellen und literarischen Blüte. Neben der Psychologie des Dichters, neben der Epos-Theorie Holtzmanns ist also auch eine literaturgeschichtliche ‚Gesetzlichkeit‘ der Wiedergeburt nach italienischem Modell in den Roman verwoben. Auch dieses Element zielt darauf, zu plausibilisieren, wie ein individueller Dichter die unterschiedlichen, vor allem traditionellen Elemente in seiner Dichtung als eigene Leistung zum Durchbruch bringen kann. Scheffels Roman erweist sich als getränkt von philologisch-historisch-literaturgeschichtlicher Reflexion. Die Entscheidung für die Verankerung des Waltharius im Klosterleben St. Gallens und für den Bezug der Casus-Notiz auf seinen Dichter hat also einen weiterreichenden Sinn. Vor allem tritt Scheffel gegen die Entmachtung des schreibenden Urhebers an, dessen individueller Anteil am Gedicht zugunsten der Traditionskette einer Volkspoesie zu schwinden droht. Sein Roman plädiert nicht nur für die Zuschreibung des überlieferten Textes an Ekkehard, sondern an einen individuellen Dichter überhaupt. Ähnlich wie Uhland stellt Scheffel dem Modell einer anonymen Volkspoesie dasjenige einer Transformation von Tradition entgegen, die sich im individuellen Dichter vollzieht. Sein Akzent liegt dabei vor allem auf der Erlebnissättigung, auf der Neubelebung des Überlieferten durch eigene Erfahrung.
Scheffel besucht Vaucluse erst nach Erscheinen des Ekkehard. Aber diese Reise diente der Bestätigung eines vorher schon vorhandenen Bildes. Freilich hat für Scheffel dabei – neben der Bedeutung der Laura-Figur – auch die Besteigung des Mont Ventoux eine herausgehobene Bedeutung. In seinem Artikel zitiert er lange Passagen aus Petrarcas berühmtem Brief an den Kardinal Colonna von 1336, sie werden ihm zum Dokument einer „frischen Naturanschauung“ (Scheffel, Vaucluse, S. 639); vgl. hierzu ausführlicher: Rupp 2003, S. 113.
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6 Auferstehung der Toten – Scheffels Programmatik des historischen Romans Die im engeren Sinne literaturhistorisch-philologische Reflexion von Scheffels Roman ist Teil eines übergreifenden Kalküls. Denn der Ekkehard entwickelt nicht nur Dichtungsmodelle für das 10. Jahrhundert, er tritt auch als historischer Roman auf. Scheffel erhebt in der programmatischen Vorrede entschieden den Anspruch, mit seinem Roman ein historisch ‚treues‘ Panorama der Zeit zu liefern. Er setzt seine fiktionalen Entwürfe mitsamt der Totalität ihrer Welt in Bezug zum wirklichen – und das bedeutet: in den Quellen dokumentierten – Geschehen der Zeit. Auch die literaturgeschichtliche Wahrscheinlichkeit seiner Walthari-Hypothese steht und fällt mit ihrer Einbettung in den historisch verifizierbaren kulturgeschichtlichen Raum der Bodenseeregion. Es gilt nun also, die literaturgeschichtlich-philologische Handlung des Ekkehard innerhalb seines übergreifenden Verfahrens als historischer Roman zu verorten. Scheffels Angebot der Vorrede folgend, soll zunächst seine Programmatik in einen Bezug zur philologisch-historiographischen Reflexion gestellt werden, wie sie oben (Kap. I.2. und 3.) skizziert worden ist. In einem zweiten Schritt gilt es, sein Verfahren im Roman daran zu messen, um schließlich drittens nach dem Zusammenhang von Scheffels Dichterbild mit dem historiographischen Verfahren zu fragen. Begab sich Scheffel in seinen Vorstellungen von der Rolle des Dichters im 10. Jahrhundert in eine kritische Auseinandersetzung mit der Philologie der Grimms und Lachmanns – nicht jedoch derjenigen Holtzmanns –, so steht nun die Erkenntnisleistung des Dichters in Bezug auf die historischen Wissenschaften insgesamt infrage. „Innige Freundschaft“ zwischen Poesie und Geschichtsschreibung, der Roman als „ebenbürtiger Bruder der Geschichte“ (Ekkehard, S. 432) – diese Postulate aus Scheffels Vorwort wurden bereits zitiert. Sie markieren innerhalb der zeitgenössischen Diskussion Positionen, die alles andere als ungewöhnlich sind.¹¹⁵ Dazu zählt gerade die Behauptung eines historischen Wahrheitsanspruchs der Poesie, der hinter demjenigen der Geschichtsschreibung nicht zurückbleibe. Hier artikuliert sich, von Seiten des Dichters, ein Bewusstsein, das durchaus die Ausgangsbasis für eine Konkurrenz bilden kann. Erinnert sei an Brentano und Grillparzer, Alexis und Menzel. Auch Scheffel argumentiert entschieden in diese Richtung. Seine brüderliche Programmatik wandelt sich nicht selten in eine Polemik gegen die philologisch-
Vgl. etwa Eggert 1971, S. 53 – 88; Rolf Selbmann: Dichterberuf im bürgerlichen Zeitalter. Joseph Viktor von Scheffel und seine Literatur. Heidelberg 1982, S. 65 f.
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historischen Wissenschaften.¹¹⁶ Dorthin zielt seine Frage, wie die „allseitige Forschung“ zum Mittelalter ihre Ergebnisse zu nutzen gedenke, wie sie es verstehe, den Stoff der „in sich abgeschlossene[n] Literatur“, der „Fülle von Denkmalen bildender Kunst“, des „organisch in sich aufgebaute[n] politische[n] und soziale [n] Leben[s] […] auch in weitere Kreise zu tragen“ (Ekkehard, S. 431). Hier wird die Karte der Popularität ausgespielt: Die historischen Wissenschaften hätten sie durch ihre Beschränkung auf die Stoffsammlung aus dem Blick verloren. Sie schrieben „eine Literatur von Gelehrten für Gelehrte, an der die Mehrzahl der Nation teilnahmslos“ vorübergehe (ebd.). Aber auch Scheffel gibt sich nicht mit der bloßen Entgegensetzung von verständlicher Dichtung und spezialisierter Forschung zufrieden. Die eingeforderte Popularität beschränkt sich nicht darauf, ein von der Wissenschaft Erkanntes zu vermitteln. In diesem Falle könnte sich seine Programmatik mit einer Arbeits- und Publikumsteilung bescheiden. Auch Scheffel schreibt der Kunst einen Erkenntnis- und Darstellungsmodus zu, der demjenigen der Wissenschaft überlegen sei. Der Gegenstand der Begierde, das „Leben“ der deutschen Vergangenheit, trete in den von der philologisch-historischen Forschung versammelten Dokumenten und Realien wohl zutage. Aber die „Maulwürfe“ (ebd.) der Wissenschaft könnten dieses Leben nicht wiedererwecken. Dies jedoch leiste die historische Dichtung. Scheffel illustriert die Kraft, die er der Kunst zuspricht, zunächst durch eine Anekdote, also selbst in erzählerischer Form. Als er mit einigen Freunden in der Campagna die Überreste eines antiken Grabmosaiks entdeckte, stellten alle die gleiche Frage: „was all die zerstreuten gewürfelten Steinchen in ihrem Zusammenhang dargestellt haben mochten“ (auch das Folgende: Ekkehard, S. 432). Der Archäologe der Runde betrachtet darauf die einzelnen Steinchen; der Geschichtsforscher spricht „gelehrt über Grabdenkmale der Alten“. Der Dritte jedoch, der Maler, präsentiert, nachdem er am Rand gesessen hat, eine Zeichnung: „ein stolzes Viergespann mit schnaubenden Rossen und Wettkämpfern und viele jonische Ornamentik darum“. Scheffel bemüht sich, diese Zeichnung nicht als unverbindliche Phantasie erscheinen zu lassen. Denn der Künstler sieht auch mehr als die Gelehrten. Während diese „in Worten kramten“, habe er, aufmerksam und still betrachtend, in einer Ecke einen „unscheinbaren Rest“ des Bildes entdeckt, das den anderen offenbar entgangen war. Dieses Fragment setzt seine bildende Produktivität frei, denn für den Künstler manifestiere sich aus dem Teil das „Ganze“: Es erstehe „klar vor seiner Seele“. Die Ergänzung des Fragments zum Ganzen ist ein Akt der Einbildungskraft. Aber sie verleiht der nur noch in Spuren sichtbaren Vergangenheit ein keineswegs bloß
Vgl. Mahal 1986, S. 101– 107; Selbmann 1982, S. 67– 70.
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erfundenes, fiktives Leben. Scheffel insistiert, dass es sich um eine „wiederherstellende[]“ (Ekkehard, S. 432) Phantasie handelt. Alles andere als unverbindlich, vermöge sie an der „Wiederbelebung der Vergangenheit“ (ebd.) zu arbeiten. Die „alten Gebeine“ belebten sich durch den „Atemzug einer lebendigen Seele, auf daß sie sich heben und kräftigen Schrittes als auferweckte Tote einherwandeln“ (ebd.). Die wiederholte Betonung, dass die Phantasie ‚wieder‘ hervorbringe, beansprucht für sie einen ausgezeichneten, der geschichtlichen Realität adäquaten Zugang zur Vergangenheit. Die Phantasie, von der Scheffel hier spricht, ist die divinatorische, von der oben (Kap. I.3.2.) die Rede war. Ihr genialer Schöpfungsakt, die Belebung des Überlieferten „mit dem Atemzug einer lebendigen Seele“ (ebd.), besitzt Erkenntnisqualität. Im Fragment erkennt sie das Ganze, das in ihm geborgen ist: die vollständige Sache und auch den Geist der Zeit. Und sie vermag diese Erfassung des Ganzen im Einzelnen auch produktiv zu wenden. Im Kunstwerk, das, die Überlieferung ergänzend, das „Leben und Ringen und Leiden der [E]inzelnen“ wiedererstehen lasse, trete „zugleich der Inhalt des Zeitraumes […] wie zum Spiegelbild zusammengefasst“ (ebd.) hervor. Scheffel formuliert seine Poetik exakt analog zu den Theorien von der philologisch-historischen Erkenntnis, wie sie einleitend (Kap. I.2. und 3.) vorgestellt wurden. Auch auf das Dichterbild, wie es etwa Boeckh und Droysen formuliert hatten, geht er ein. Wenn für sie die Poesie von einer Idee ausging und sich damit qualitativ von der Wissenschaft unterschied, so setzt er den Stoff der Überlieferung an den Beginn des Schaffensprozesses. Sein Künstler in der Campagna sieht zuerst die Fragmente des Mosaiks; diese selbst lösen gewissermaßen ihre eigene Totalisierung aus. Selbstbewusst wendet Scheffel die gemeinsame Ausgangsbasis von Dichtung und philologisch-historischer Wissenschaft nun gegen diese. Seine Gegenwart diagnostiziert er als kulturgeschichtliche Krisis, gleichzeitig sieht er Zeichen des Umschlags zum Guten. Allerorten dringe die Erkenntnis durch, „wie unsäglich unser Denken und Empfinden unter der Herrschaft der Abstraktion und der Phrase geschädigt worden“ (Ekkehard, S. 432) – eine Herrschaft, die nicht zuletzt in der Entwicklung der philologisch-historischen Wissenschaften ihren Ausdruck finde. Die „Umkehr“ vom „Begrifflichen zum Konkreten, Farbigen, Sinnlichen“, von der „Kritik“ zur „schöpferische[n] Produktion“ (Ekkehard, S. 433) aber sei nah. Und hierzu solle auch der Ekkehard mit seiner „von Poesie verklärte[n] Anschauung der Dinge“ (ebd.) beitragen.¹¹⁷
In dem Schreiben, mit dem Scheffel seinen Ekkehard später dem neuen Verleger Bonz anbietet, argumentiert er offensiv und unbescheiden: Der Roman wolle das „Monopol“ der Fachleute
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Scheffels unbescheidene Programmatik sagt freilich nichts über seine Praxis. Wohl aber erhellt sie die polemische Konstellation, in der er selbst sein Schreiben versteht. Dichtung wirke nicht nur in die Breite der „Nation“, sondern besitze auch einen ausgezeichneten Zugang zum Geist des Ganzen. Und in ihrer spezifischen Verfahrensweise kündigt sich für Scheffel eine Zukunft an, die die Abstraktion zugunsten der Anschaulichkeit hinter sich gelassen haben wird. Der, der von friedlicher Brüderschaft zwischen Poesie und Wissenschaft spricht, scheint entschieden mit dem Gedanken einer Ersetzung des einen durch das andere zu spielen.
7 Verdichtete Geschichte Scheffels ‚wiederherstellende‘, divinatorische Phantasie, die die Toten wiederbeleben will, nimmt sich in der Praxis freilich gehörige Lizenzen. Die Vorrede deutet dies an: Die Dichtung dürfe und müsse es „wagen“, die „Lücken“ der Überlieferung „spielend auszufüllen“ (Ekkehard, S. 432). Scheffel bewegt sich hier in den Spuren Scotts. Ein Maler, so heißt es im fiktiven Widmungsbrief zum Ivanhoe, schildere eine wirkliche Landschaft ab, indem er die feststehenden Dinge darin – Häuser, Ruinen, Erhebungen, Form der Landschaft – kopiere, das ständig in Wandlung begriffene, unendliche kleine Detail wie Gräser und Pflanzen aber aus seiner Phantasie ergänze. Ebenso dürfe der historische Dichter verfahren, wenn er das durch die Überlieferung Feststehende in ein (freilich ebenfalls einer höheren geschichtlichen Wahrheit verpflichtetes) erfundenes Panorama des Alltäglichen, Lebendigen versetze.¹¹⁸ Scheffel erweitert den Freiraum des Dichters noch: Er dürfe sogar mitunter Jahreszahlen und Personen entgegen der Überlieferung „ein weniges ineinander“ verschieben (Ekkehard, S. 435). Anders als Scott stellt Scheffel diese dichterische Freiheit jedoch nicht in einen Gegensatz zur Praxis der philologisch-historischen Forschung,¹¹⁹ jedenfalls nicht jener erneuerten Wissenschaften, die er für die Zukunft fordert. Wenn die Forschung Relevanz für die breitere Öffentlichkeit gewinnen will, so impliziert er,
„aufs germanistische Altertum“ brechen, und es bestehe die Hoffnung, dass er „in der Geschichte des deutschen historischen Romans eine Epoche bezeichne“; undatiert zitiert bei Kremser 1913, S. 10. Vgl. [Scott], Ivanhoe, Bd. 1, S. XXIII–XXV. Der fiktive Herausgeber des Ivanhoe schreibt an den ebenso fiktiven antiquarischen Historiker Dr. Dryasdust. Scott setzt den (aufgrund seiner Popularität überlegenen) historischen Roman hier in einen Gegensatz zur antiquarischen Wissenschaft. Ein fiktives Manuskript, auf das der Roman sich stütze, hilft, die Forderung nach antiquarischer Quellennähe zu ironisieren.
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muss sie sich ihrerseits der Dichtung annähern. Sein Argument spielt eine hermeneutische Ebene der Erkenntnis gegen die andere aus. Denn leichte Veränderungen dienten „der inneren Ökonomie“ des Werkes. Sie opferten wenige Details zugunsten der höheren Ebene der Erkenntnis und Darstellung historischen Geistes (Ekkehard, S. 435). In Thomas Macaulay (1800 – 1859) meint er für dieses Vorgehen einen Verbündeten unter den Historikern gefunden zu haben. Scheffels ganzer Roman basiert dabei auf einem solchen bewussten ‚Ineinanderschieben‘ der Überlieferung. Schon der Mönch Ekkehard kann nur zum Protagonisten der Leitfrage nach dem Werdegang eines Dichters werden, weil Scheffel zwei historische Personen zu einer zusammenzieht. Die Casus des vierten Ekkehard schreiben jene Vita Waltharii manu fortis dem späteren Dekan Ekkehard (I.) zu, der Lateinunterricht bei der Herzogin aber wird seinem Neffen Ekkehard (II.) aufgetragen. Scheffel markiert diese Synthese im Roman selbst: „Andere haben auch behauptet, es seien mehrere des Namens Ekkehard im Kloster Sankt Gallen gewesen, und der den Walthari dichtete, sei nicht der nämliche, der die Herzogin Hadwig des Lateins unterwies. Aber wer der Geschichte, die wir jetzt glücklich zu Ende geführt, aufmerksam folgte, weiß das besser.“ (Ekkehard, S. 427) Dieses Eingeständnis erhebt sich ironisch über die antizipierte Kritik. Die Nennung der ‚Anderen‘ erweckt im Leser den Eindruck eines Stimmengewirrs von philologisch-historischen Meinungen und Auffassungen, wie er es freilich in den Forschungen zum Waltharius mit ihren konträren Autorschaftshypothesen auch wirklich finden konnte. Ironisch, aber doch selbstbewusst, wird dem die innere Evidenz der erzählten Geschichte entgegengehalten. Eine synthetische Phantasie ist auch bei der Entwicklung des Bodenseepanoramas am Werk, in dem Ekkehard seine Dichterwerdung durchläuft. Scheffel entfaltet es durch zahlreiche anekdotenhafte Handlungen, die an Ekkehards Lebenslauf angelagert werden. Auch dann, wenn sie sich nicht unmittelbar auf den Waltharius beziehen lassen, charakterisieren sie doch den kulturgeschichtlichen Lebensraum und damit den historisch-geographischen ‚Boden‘, von dem die Dichtung ausgegangen sei. Diese Anekdoten entnimmt Scheffel zu einem großen Teil den Casus. ¹²⁰ Zwar bleibt die zeitliche Zuordnung in der nachlässigen Chronik selbst oftmals unklar. Aber dennoch ist nicht zu übersehen, dass Scheffel sein Material mit noch größerer Freiheit handhabt. Hadwigs Besuch in St. Gallen, mit dem der Roman beginnt, mag als Beispiel dienen. Mit ihrer überraschenden Heimsuchung des Klosters wird einerseits die Handlung um Ekkehard eingeleitet, andererseits sein Lebensraum für den Leser
Zum Verhältnis von Erdichtung und historisch Belegtem im Ekkehard vgl. Wunderlich 2003; ders. 1998; Rupp 2003, S. 120 – 129. Zu dieser Frage in Scheffels Gesamtwerk vgl. Krohn 2003.
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entfaltet. Die überlieferte Visite, bei der Hadwig sich jenen jungen Ekkehard II. ausbittet, wird vom Chronisten Ekkehard auf das Jahr 965 datiert.¹²¹ Scheffel setzt diese Szene um einige Jahre zurück. Denn während die Casus Hadwigs Besuch in die Amtszeit des Abtes Purchard (958 – 971)¹²² datieren, ist im Ekkehard dessen Vorgänger Craloh Vorsteher des Klosters. Scheffel schließt offenbar, dass Ekkehard I., wie die Casus nahelegen, sein Gedicht als Schüler um 950 während der Amtszeit Cralohs verfasst haben muss.¹²³ Obwohl er den Casus bei der Entstehung des Waltharius nicht folgt, macht er zum chronologischen Angelpunkt seines Romans doch den Entstehungszeitraum des Liedes, wie ihn eine philologische Untersuchung auf der Grundlage von Laßbergs Hypothese ansetzen müsste. Gleichzeitig zieht Scheffel auch die Vergangenheit des Klosters heran und verwebt sie in den Jahreslauf seines Romans. Hadwigs Wunsch der Klosterbesichtigung muss in der Versammlung der Brüder beraten werden. Hier präsentiert Scheffel dem Leser eine Reihe so origineller wie ehrwürdiger Persönlichkeiten, darunter Notker, den Stammler (gest. 912), Ratpert, den Chronisten (gest. bald nach 884),¹²⁴ den handfesten Bildschnitzer Tutilo (gest. 915), den bösartigen Sindolt und den Schreiber Sintram. Ekkehard IV. liefert das Material hierfür in kleinen Viten der Mönche, die ihren Charakter preisen, ihren künstlerischen Ruhm festhalten, aber auch in humoristischen Anekdoten vom erfüllten vergangenen Leben berichten. Diesen erzählerischen und kulturellen Reichtum webt Scheffel ausgiebig in sein Klosterbild ein, indem er die Beschreibungen der Casus zu plastischen Charakteristiken zusammenzieht.¹²⁵ Die Bruderschaft, die Scheffel beschreibt, bevölkerte das Kloster aber nicht um 950, sondern am Ende des 9. Jahrhunderts. Sie sind es, die man mit der ersten Blütezeit St. Gallens verbindet.
Nicht in der Chronik, wohl aber in den Annalen St. Gallens ordnet Ekkehard IV. ein auch in den Casus verhandeltes, gleichzeitiges Ereignis diesem Jahr zu. Die MGH verzeichnen diese Datierung in ihrer Edition der Casus (vgl. von Arx [Hrsg.], Casus, S. 123). Allerdings ist die Darstellung Ekkehards IV. auch hier widersprüchlich. Er betont ausdrücklich, Hadwig sei als „vidua“ (Casus, S. 190) nach Hohentwiel gekommen. Die MGH geben allerdings als Todesjahr ihres Ehemannes 973 an, freilich mit dem Vorbehalt „ut quidam existimant“ (von Arx [Hrsg.], Casus, S. 123). Dieser Widerspruch in den Datierungen wird in den MGH nicht reflektiert. Zu den Jahren vgl. den Catalogus Abbatum S. Galli. In: Pertz (Hrsg.), MGH, Scriptores Bd. 2, S. 35. Diese reichte, wie der Catalogus Abbatum zeigt (ebd.), von 942 bis 959 mit einer kurzen Unterbrechung. Ekkehard I. war in der späteren Amtszeit Cralohs Dekan des Klosters. Crahlo wollte ihn sich als Abt nachfolgen lassen, allerdings zog sich Ekkehard bei einem Reitunfall einen lahmen Fuß zu, was seine Ernennung verhinderte. Vgl. Gerold Meyer von Knonau: [Art.] Ratpert. In: ADB 27 (1888), S. 365. Ekkehard, S. 24 f., etwa werden Notker, Ratpert und Tutilo charakterisiert. Die Passage ist ein kunstvolles Gewebe aus Casus, S. 77, S. 79, S. 81, S. 93 – 95 und S. 59.
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Gleichzeitig lässt Scheffel zu der Ratsversammlung auch solche Mönche treten, die dort zur Entstehungszeit der Vita Waltharii manu fortis lebten, wie etwa Notker, den Arzt (gest. 975). Die Klosterschule schließlich, in der Notker Labeo bereits den Aristoteles auslegt,¹²⁶ erlaubt einen Blick in die Zukunft. Er, den im Roman Ratpert erzieht, wurde eigentlich erst 952 geboren. Die Klosterschule besuchte er entsprechend später unter dem Lehrer Ekkehard I.¹²⁷ Diese Verdichtung lässt sich auch auf anderen Ebenen beobachten. Scheffel integriert etwa witzige Aussprüche in seine Erzählung. Der Abt Craloh beispielsweise wird bei ihm zu einer gutmütigen, aber durch die überraschende Visite auf komische Weise gequälten Figur. Sein Hinken und seine gleichzeitige Schlagfertigkeit charakterisieren ihn. Von der Herzogin darauf angesprochen, antwortet er, es sei „besser, der Hirt hinke, als die Herde“ (Ekkehard, S. 28). Dieses Wort findet Scheffel in den Casus, allerdings spricht es hier um 970 Kebo, der Abt von Lorsch, als er des lahmen Ekkehards I. ansichtig wird.¹²⁸ Zur Charakterisierung seines aufgeregt hinkenden Gangs bei Ankunft der Herzogin zieht Scheffel einen Vergleich aus den Gesta Caroli Magni des Klosters St. Gallen heran.¹²⁹ Auch den robusten Hohentwieler Kämmerer Spazzo charakterisiert Scheffel durch einen aus einer anderen Anekdote geborgten, komischen Zug. Er muss, als Begleiter Hadwigs, das Mönchshabit anlegen, um in das Kloster eintreten zu können. Die Mönchsregel aber ist ihm fremd: Sein gewaltiger Bart steht dazu sichtbar im Kontrast, und auch der gesenkte Blick will ihm nicht glücken. Ekkehard IV. berichtet solche humoristischen Szenen aus seiner eigenen Erinnerung an ver-
Ekkehard, S. 51. Scheffel legt Notker Passagen aus einem überlieferten deutschen AristotelesKommentar in den Mund. Abgedruckt ist er bei von Arx, Geschichten, Bd. 1, S. 262 f. Dieses Verfahren zieht sich durch den ganzen Roman. Die Rekluse Wiborad (gest. 926) etwa, für die Scheffel neben den Casus auch die Vita Ekkehards I. heranzog, gehört in die frühe Zeit der Mönche Ratpert, Notker und Tutilo. Die Plünderung des Klosters durch die Ungarn, die ‚Hunnen‘ also, fällt in die Jahre 925/26. Die Streitigkeiten um Saspach, die im Roman als Intrige Ekkehards Verstoßung mit motivieren (etwa Ekkehard, S. 272 f.) fallen wiederum in die 960er Jahre (vgl. von Arx, Geschichten, Bd. 1, S. 223). Vgl. Casus, S. 235. Ekkehard, S. 24: „[…] und es ist nicht zu verwundern, daß berichtet wird, er sei in selber Zeit in dem Klostergang auf- und abgeflattert wie ein Schwälblein vor dem Gewitter.“ Scheffel setzt in der Anmerkung „more hirundinis“ ohne Quellenangabe hinzu. Diese Formulierung findet sich in einem vergleichbaren Zusammenhang – freilich mit anderem Personal – in den Monachi Sangallensis de gestis Karoli M. libri II (in: Pertz [Hrsg.], MGH, Scriptores Bd. 2, S. 726 – 763, hier S. 736). Hier ergibt sich vielleicht ein Blick auf Scheffels Arbeitsweise. Es ist bekannt, dass er die Anmerkungen nach Fertigstellung des Romans aus seinen Materialien kompilierte. Offenbar hatte er sich aus seinen Quellen auch Formulierungen notiert, die für ein zeitgenössisches Kolorit sorgen sollten. Bei diesen kulturgeschichtlichen Exzerpten vermerkte er offenbar nicht die Fundstelle, so dass er nur die Formulierung, nicht aber ihren Ort in die Anmerkungen aufnehmen konnte.
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schiedene Besuche von hohen Herren und Grafen im Kloster, die bereits in das neue Jahrtausend fallen.¹³⁰ Auf gleiche Weise werden im Kloster bezeugte Gegenstände in die Erzählung eingefügt: beispielsweise das Wasserbecken des Abtes¹³¹ oder Veronesisches Gold zur Verzierung von Altar und Evangelien.¹³² Neben den Casus benutzt Scheffel eine Reihe anderer Quellen.¹³³ Aus Jacob Grimms Deutscher Mythologie, seinen Rechtsaltertümern, dem Ruodlieb, der Germania des Tacitus und vielem anderen zieht Scheffel kulturgeschichtliche Details heran, um beispielsweise Dinge, Tierwelt, Gebräuche oder juristische Regelungen in seine Handlung zu verweben. Auch unpublizierte Handschriften des St. Galler Klosters, in dem Scheffel eine Zeit lang exzerpierte, liefern Material.¹³⁴ Diese Beispiele verdeutlichen die Arbeitsweise, die Scheffel seinen ganzen Roman hindurch verfolgt. Seine synthetische Phantasie erregt sich am historischen Material, nicht zuletzt dem anekdotischen und koloristischen Reichtum der Casus. Sie löst jedoch die Details aus ihrem historisch rekonstruierbaren Ort und Zeitpunkt heraus. Die Entwicklung des Mönchs Ekkehard zum Dichter wird zum Kern, um den herum Scheffel die Überlieferung organisiert. Das Vorwort zum Ekkehard spricht an einer Stelle von ‚Verdichtung‘.¹³⁵ Der Begriff gewinnt hier eine ganz spezifische Bedeutung. Denn Scheffel verdichtet wörtlich ein Jahrhundert der Kloster- und Kulturgeschichte in den Jahreslauf seines Romans. Der Ekkehard bietet gleichsam ein Konzentrat der Quellen. Sein St. Gallen liefert das Bild des Klosters wie in einem konkaven Spiegel, der die historischen Geschehnisse, das Leben im und um das Kloster herum engstens zusammenrücken lässt. Das 10. Jahrhundert im Bodenseeraum wird zum Idealbild seiner selbst.¹³⁶ Mit der historischen Überlieferung ist dieses verdichtete Bild Vgl. Ekkehard, S. 31; Casus, S. 265. Vgl. Ekkehard, S. 22; Casus, S. 56. Vgl. Ekkehard, S. 47; Casus, S. 31– 33. Vgl. die (unvollständige) Zusammenstellung bei Wunderlich 2003, S. 78. Scheffel arbeitete vor allem im April 1854 im Kloster. In seinen Anmerkungen zum Roman verweist er angesichts eines Elfenbeinkamms, der während der Klosterbesichtigung ins Auge fällt, auf entsprechende Abbildungen, die sich in der „Handschrift 395“ St. Gallens fänden. Herbert Zielinski hat gezeigt, wie Scheffel auch die Figur des Simon Bardo anhand handschriftlicher Quellen zusammensetzt; ders.: Der griechische Feldhauptmann Simon Bardo. Zum Umgang mit den Quellen und Lesern des Ekkehard. In: Berschin u. a. (Hrsg.) 2003, S. 181– 190. „Wo andere, denen die Natur gelehrtes Scheidewasser in die Adern gemischt, viel allgemeine Sätze und lehrreiche Betrachtungen als Preis der Arbeit herausätzen, wachsen ihm [dem Poeten] Gestalten empor, erst von wallendem Nebel umflossen, dann klar und durchsichtig, und sie schauen ihn ringend an und umtanzen ihn in mitternächtigen Stunden und sprechen: Verdicht’ uns!“ (Ekkehard, S. 434). Der Zug zur Verklärung der Vergangenheit, der hierin liegt, wurde beispielsweise von Eggert (1971, S. 168 – 172) und Selbmann (1982, S. 70) kritisiert.
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durch eine Möglichkeitsrelation verbunden. Wenn, so scheint der Roman zu argumentieren, diese Anekdote oder jener Ausspruch für das Jahr 965 verbürgt ist, dann ließe er sich auch in einem anderen, ähnlichen Zusammenhang als möglich denken und mithin der Dichterwerdung Ekkehards einfügen. Scheffel ordnet sein literaturwissenschaftlich-philologisches Interesse an der Entstehung des Waltharius der wirklichen Überlieferung über. Gerade dadurch aber reklamiert die historische Fiktion eine tiefere Einsicht in ‚Geist‘ und Charakter der Zeit.
8 Divination und Einfühlung Da Scheffel eine solche Dichtung nicht nur als Ergänzung, sondern als Konkurrenz zur Geschichtsschreibung versteht, bemüht er sich, Modelle für sie zu finden. Neben dem schon erwähnten Macaulay stellt er auch den Chronisten der Casus selbst in diese Linie. Denn der Wert seiner Klostergeschichten könne sich gerade deshalb entfalten, weil sie sich nicht sklavisch an Chronologie und Überlieferung bänden. Die „treuherzige brave Welt- und Lebensansicht“ könne es sich erlauben, „Personen und Zeiträume etwas leichtsinnig durcheinander“ zu würfeln (Ekkehard, S. 433). Schon in seiner Hauptquelle sieht Scheffel ein aus historischer Bindung und gestalterischer Freiheit verdichtetes Lebensbild. Neben Ekkehard IV. aber wird vor allem dessen Namensvetter, der Waltharidichter, zur Reflexionsfigur Scheffels. Schon die Vorrede positioniert den modernen historischen Roman einerseits zur Geschichtsschreibung, stellt ihn andererseits aber auch an die Seite der alten „epischen Dichtung“ in der „Jugendzeit der Völker“ (Ekkehard, S. 432) – und damit implizit neben den Waltharius selbst. Epos und Roman träfen sich in der Verdichtung der Geschichte zum Bild des historischen Lebens: Sie lieferten in gleicher Weise „ein Stück nationaler Geschichte in der Auffassung des Künstlers, der im gegebenen Raume eine Reihe Gestalten scharfgezeichnet und farbenhell vorüberführt, also daß im Leben und Ringen und Leiden der einzelnen zugleich der Inhalt des Zeitraumes sich wie zum Spiegelbild zusammenfaßt.“ (ebd.) Die Konkretion dieser Parallele zwischen Scheffel und seinem Helden leistet der Roman selbst. Denn vollzieht sich nicht die Dichtung des Waltharius nach demselben Verfahren, wenn Ekkehard in seiner Alpeneinsamkeit die Gestalten seines Lebens an sich vorbeiziehen sieht und sie im alten Stoff zu gestalten beschließt?¹³⁷ Ist nicht Ekkehards Belebung der Überlieferung durch seine eigene Anschauung und Erfahrung im Kern identisch mit Scheffels Modell einer Ver-
Vgl. Ekkehard, S. 373, zitiert oben, S. 355.
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lebendigung des Vergangenen, wie sie der Dichter des historischen Romans leisten soll?¹³⁸ Der Ekkehard wäre dann nicht nur ein historischer Roman; er entwürfe darüber hinaus in seinem Protagonisten ein poetologisches Modell für Dichtung und Verdichtung in Scheffels Sinne. Aber diese poetologische Dimension bekommt gleichfalls eine historische Erkenntnisfunktion. Dies verdeutlichen beispielsweise Scheffels Reisen. Als Ergänzung und Gegengewicht zu seinen Quellenstudien besuchte er systematisch die Schauplätze seiner Dichtungen:¹³⁹ St. Gallen und den Wasigenstein, den angenommenen Schauplatz des Walthariliedes, bereiste er ebenso wie die Alpen um den Säntis. Die Suche nach Anschauung aber ist nicht nur einer Fundierung der Romanhandlung in der Realität des Ortes geschuldet. Sie dient auch der Stimulation jener divinatorischen Phantasie, die sich durch Auffassung des genius loci in den Dichter Ekkehard hineinzuversetzen strebt. Der Dichter Scheffel wird bei seinen Besichtigungen zum Medium des alten Dichters, und die Wirkung des Ortes auf den verwandten Geist fungiert gleichfalls als hermeneutisches Instrument für die Erfassung, Deutung und Wiederbelebung der alten Überlieferung. Die letzte Antwort auf die psychologische Frage Scheffels, wie im 10. Jahrhundert einer dazu komme, Dichter zu werden, liefert daher Scheffels eigenes Selbstverständnis als Dichter. Indem er sich mit dem Schöpfer des Watharius identifiziert, beansprucht er einen Einblick in dessen Geist. Die schöpferische Sensibilität des Dichters und seine Selbsterfahrung werden zum überzeitlichen hermeneutischen Instrument, das die Erkenntnis eines ‚verwandten Geistes‘ in der Vergangenheit erlaubt. Die Einsicht eines Dichters in den anderen soll den hermeneutischen Zirkel des Romans tragen und verhindern, dass er ins Nichts einer bloßen Erfindung kollabiert. Scheffels Dichterphilologie beruht auf einem Modell, das die philologischhistorische Forschung und die Versenkung in die Quellen zum Ausgangspunkt der schöpferischen Rekonstruktion nimmt, ihre letzte Sicherung aber in dem sucht, was die spätere Literaturwissenschaft als ‚Einfühlung‘ zu theoretisieren versucht hat. Jede philologisch-historische Praxis müsste hinter dieser Einfühlungsphilologie einer quellengesättigten Phantasie zurückstehen. Der Dichter wäre es, der sich in die Logik der Kultur- und Literaturgeschichte hineinversetzen und sie von innen heraus auch zur Darstellung bringen könnte.
Auf die biographischen Parallelen zwischen Ekkehard und Scheffel ist oft hingewiesen worden; vgl. etwa Proelß 1887, S. 317– 325; Friedrich Panzer: Einleitung des Herausgebers. In: Scheffels Werke. Hrsg. von Friedrich Panzer. 4 Bde. Leipzig, Wien [1919], Bd. 3, S. 7– 18, hier S. 15; Wunderlich 1995, S. 248 f.; ders. 2003, S. 88; ders. 1998, S. 219. Dies gilt nicht nur für den Ekkehard, sondern auch für die späteren Projekte; vgl. für Wartburgroman bzw. Nibelungenprojekt: Wunderlich 1995, S. 255.
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Scheffels Bewerbung auf die Zürcher Professur für Literaturgeschichte zeigt, wie ernst er sein divinatorisches Verfahren im Ernstfall zu nehmen bereit war. Denn er empfiehlt den psychologischen Zugang zum Dichter Ekkehard, die divinatorische Erschließung des Werkes durch eine historisch gestützte Phantasie, dezidiert als philologisch-historische Qualifikation: Für die Stellung sei er geeignet, da er einerseits „als Historiker im Einzelnen immer nur den Teil eines großen Ganzen sieht“, andererseits aber „aus eigener Erfahrung weiß, wie und warum das Kunstwerk im schöpferischen Gemüt entsteht“.¹⁴⁰ Wie Uhland versteht auch Scheffel sein eigenes Dichtertum als notwendiges Korrektiv: zu einer Wissenschaft, die mit ihrer Spezialisierung die gegenwärtige Aufgabe der Nationalund Individualerziehung zu verfehlen drohe; und zu einer Philologie, die mit der Auflösung des individuellen Dichters in sagengeschichtlichen Rekonstruktionen ihr Unverständnis für die Werke selbst dokumentiere.
Brief Scheffels an Johann Konrad Kern, den Präsidenten des Schweizerischen Schulrats, 2. Dez. 1854; Scheffel, Schweizer Freunde, S. 50.
2 Wie die Geschichte sich selbst erzählt – Stifters Witiko
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2 Wie die Geschichte sich selbst erzählt – Stifters Witiko Hans Vilmar Geppert hat gezeigt, dass die Rede von ‚dem‘ historischen Roman im 19. Jahrhundert missverständlich sein kann. Die Gattungsgeschichte ließe sich auch als eine des ‚anderen‘ historischen Romans schreiben,von Romanen, die sich je unterschiedlich vom Modell Scotts absetzen.¹⁴¹ Dieser Befund ist so richtig wie wichtig. Er darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade die Absetzungen von Scott seinen Status als Grundmodell, das gleichsam in aller Munde war, bestätigen. Die Korrekturversuche belegen seine Wirkungsmacht. Scheffel folgt Scotts Vorgaben in vielen Punkten. Entscheidend weicht er von ihm ab, wenn sein eigentliches Erkenntnisinteresse der Dichterwerdung seines Protagonisten gilt. Einen wirklich bedeutenden Gegenentwurf zu Scott aber liefert Adalbert Stifter mit seinem Witiko. ¹⁴² Nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit dem Modell des Schotten reflektiert dieser Roman radikal die Möglichkeiten historischer Erkenntnis und Darstellung. Daneben sind es, wie bei Scheffel, die philologisch-historischen Wissenschaften, zu denen Stifter sich in ambivalenter Weise positioniert. Im Folgenden soll zunächst sein Roman in den Kontext der zeitgenössischen Reflexion zum Epos gestellt werden. Denn dieses wählt er noch entschiedener als Scheffel zum Resonanzraum seines Schreibens.Von hier aus ergibt sich eine Perspektive auf Stifters Begriff der Geschichte. Zweitens soll gezeigt werden, wie Stifters Auffassungen vom Epos, von der Geschichte und von der Möglichkeit, ‚sie zu schreiben‘, die Erzähltechnik des Witiko entscheidend prägen.
1 Der ‚gebräuchliche‘ historische Roman Seit Mitte der 40er Jahre geht Stifter der Gedanke nach, seinen damals überaus erfolgreichen Erzählungen einen Roman folgen zu lassen, und zwar einen historischen. Als vielversprechendes Thema schwebt ihm zunächst Robespierre Vgl. Hans Vilmar Geppert: Der ‚andere‘ historische Roman. Theorie und Strukturen einer diskontinuierlichen Gattung. Tübingen 1976. Der Text des Witiko wird im Folgenden fortlaufend im Text (‚Witiko‘ mit Seite) zitiert nach: Adalbert Stifter: Witiko.Vollständige Ausgabe nach dem Text des Erstdrucks 1865 – 1867. Hrsg. von Fritz Krökel. München 1967. Text und Anmerkungen der historisch-kritischen Ausgabe werden, wo nötig, hinzugezogen: Adalbert Stifter: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Alfred Doppler, Wolfgang Frühwald und Hartmut Laufhütte. Stuttgart 1978 ff. (‚HKG‘ mit Band und Seite). Stifters Briefe werden zitiert nach: Adalbert Stifters sämmtliche Werke. Hrsg. von August Sauer, fortgeführt von Franz Hüller, Gustav Wilhelm u. a. 25 Bde. Prag 1904 ff. (‚PRA‘ mit Band und Seite).
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vor;¹⁴³ seine Aufmerksamkeit verschiebt sich dann jedoch ins heimische – und das heißt böhmisch-österreichische – Mittelalter. Seit 1847 plant er zunächst eine Erzählung, dann eine Reihe von Romanen, schließlich eine Trilogie über das Geschlecht der Rosenberger. Der Name Witiko fällt erstmals 1855.¹⁴⁴ Die beiden folgenden Teile sollen Zawisch und Wok heißen.¹⁴⁵ Zehn Jahre später erst konnte Stifter den ersten Roman beenden. Er erschien in drei Bänden von 1865 bis 1867. Während er an seinem Projekt arbeitete, reflektierte Stifter brieflich über den historischen Roman im Allgemeinen und den seinen im Besonderen. Diese Überlegungen zeigen, dass er sich eingehend um die methodische Fundierung seines Vorhabens bemühte. Aber auch wenn er sich gegenüber seinem Verleger und Adressaten der Briefe, Gustav Heckenast, stolz als „Definitionsmaschine“ bezeichnete, als einen, der – mit ausdrücklichem Bezug auf das Briefschreiben – „auf Folgerichtigkeit achtet“¹⁴⁶: Den über mehr als ein Jahrzehnt verteilten, einschlägigen Passagen wird man keine konsistente Theorie abverlangen können, weder des Romans noch des Historischen oder des Epos. Dennoch entfalten die Briefe ihr Projekt mit großer gedanklicher Intensität. Die bekannteste Stelle zur Idee des Witiko setzt sich mit dem Konzept des historischen Romans auseinander: Ich bin durch die Natur der Sache von der gebräuchlichen Art des historischen Romanes abgelenkt worden. Man erzählt gewöhnlich bei geschichtlichen [sic!] Hintergrunde Gefahren Abenteuer und Liebesweh eines Menschen oder einiger Menschen. Mir ist das nie recht zu Sinne gegangen. Mir haben unter Walter Scotts Romanen die am besten gefallen, in denen das Völkerleben in breiteren Massen auftrit wie z. B. in den ‚Presbiterianern‘. Es erscheinen da bei dieser Art die Völker als großartige Naturprodukte aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen, in ihren Schiksalen zeigt sich die Abwiklung eines riesigen Gesezes auf, das wir in Bezug auf uns das Sittengesez nennen, und die Umwälzungen des Völkerlebens sind Verklärungen dieses Gesezes. Es hat das etwas geheimnißvoll Außerordentliches. Es erscheint mir daher in historischen Romanen die Geschichte die Hauptsache und die einzelnen
Vgl. Stifters Brief an Gustav Heckenast vom 26. Aug. 1844; PRA 17, S. 123 f. Zur Entstehung des Projektes vgl. HKG 5.4, S. 159 – 217. Vgl. HKG 5.4, S. 165 f. Zur geplanten Trilogie vgl.: Moritz Enzinger: Stifters Weg zum Geschichtsroman und der Plan zum Zawisch. In: ders.: Gesammelte Aufsätze zu Adalbert Stifter.Wien 1967, S. 219 – 234; und: ders.: Der Plan zum Wok und die Rosenbergertrilogie. In: ebd., S. 235 – 254; Roman Lach: Arbeit am Fels. Adalbert Stifters Witiko als historischer Roman. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 55 (2005), S. 417– 439, hier S. 436 – 439. Brief an Heckenast, 17. März 1866; PRA 21, S. 173 f. Stifter zitiert einen Ausspruch des Grafen Colloredo. Er will Heckenast damit vor allem die Idee nahebringen, seine Briefe in einer Sammlung zu publizieren. Stifter benötigte das Honorar zu diesem Zeitpunkt bitterlich.
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Menschen die Nebensache, sie werden von dem großen Strome getragen, und helfen den Strom bilden.¹⁴⁷
Die ‚gebräuchliche Art‘ des historischen Romans – das ist Scott. Von ihm will Stifter Abstand nehmen. Er erkennt präzise den Aufbau dieses gattungsprägenden Musters, das auf der Trennung zwischen den Protagonisten und dem eigentlich Historischen beruhe. Stifter benennt hier eine kompositorische Technik des historischen Romans, die auch Willibald Alexis in seiner schon genannten Rezension zu Scott luzide herausgearbeitet hat. Der Held des historischen, des modernen Romans – so Alexis – habe mit dem Heros des Epos und der Tragödie nur noch den Namen gemein, nicht mehr aber die Funktion. Er sei eigentlich ein „Nichtheld“. Seine Aufgabe bestehe darin, der „Erzählung“ als „Faden“ zu dienen.¹⁴⁸ Dieser Held steht gleichsam nur noch mit einem Bein in der Fiktion. Zur anderen Hälfte ist er Teil des literarischen Kalküls in Bezug auf den Leser: Er ist, so Alexis, dessen „Repräsentant“.¹⁴⁹ Dies bedeutet nicht nur, dass der moderne Leser sich mit den echten Heroen des Epos oder der Tragödie nicht mehr identifizieren dürfte. Alexis meint dies auch im erzähltechnischen Sinne. Der „Nichtheld“ ist handelnd in das Geschehen einbezogen, aber als historisch unwichtige Figur erlebt er ‚mittlere‘ Verwicklungen etwa im Sinne einer Liebesgeschichte. Er durchschreitet den historischen Raum gewissermaßen mäßig engagiert. Die „Eindrücke“, die die „Anschauungen und Begebenheiten“ des geschichtlichen Raums auf ihn machen, bieten dabei Anschlussstellen für den Leser: „Wir sehen begierig, welchen Eindruck die Anschauungen und Begebenheiten im Romane auf den Helden machen, und prüfen uns selbst dabey, wie wir in ähnlichen Lagen gefühlt, oder wie wir gehandelt hätten“. Der Nichtheld ist ein „Spiegel“¹⁵⁰, eine Reflexionsfigur des Lesers im Roman. Durch ihn wird der Leser Teil jenes historischen Panoramas, dessen Sinn nicht in den Handlungen der Charaktere liegt, sondern in der Zeichnung von Detail und Ganzem, im „Wesen“, im ‚Geist‘ der jeweiligen „Zeiten“.¹⁵¹ Der Nichtheld ist gewissermaßen ein geschickt im Arrangement der Szene verborgener Einstieg in das Panorama des Historischen. In der Trennung der Protagonisten von dem eigentlich Historischen sieht Stifter in der oben zitierten Passage, anders als Alexis, ein Problem. Die amou-
Brief an Heckenast, 8. Juni 1861; PRA 19, S. 282. A.[lexis], Romances, alle Zitate S. 31. Alexis deutet hier das Konstruktionsprinzip Scotts aus, wie dieser es am Beginn des Waverley formuliert ([Scott:] Waverley; or, t’is sixty years since. 3 Bde. Edinburgh 1814, Kap. 1). A.[lexis], Romances, dies und die folgenden Zitate S. 32. Ebd. Ebd., S. 13.
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rösen und anderweitigen Verwicklungen ziehen den Blick des Lesers in ihren Bann, tragen aber historisch nichts aus. Das Panorama des Geschichtlichen wird gegenüber dem bloß Individuellen zum „Hintergrund[]“ (s.o.), zur Kulisse im schlechten Sinne. Der historische Roman verfehlt das Historische, da der Lauf der Geschichte nicht als Einheit erscheint, als „Abwicklung“ eines einzigen, „riesigen Gesezes“ (s.o.) – sondern allenfalls als Funktion der bloß individuellen Emotionen und Fährnisse. Der ‚gebräuchliche‘ historische Roman scheint, so könnte man Stifters Position zuspitzen, ahistorisch zu werden. Dagegen sollte die Geschichte zur Hauptsache, das Individuum aber zur Nebensache werden, es müssten die Antriebe und Handlungen der Individuen als Teil des „Stroms“ (s.o.), der geschichtlichen Gesamtbewegung verstanden und dargestellt werden. Die Aufwertung derjenigen von Scotts Romanen, die, wie Stifter schreibt, das Volksleben breiter darstellten, ändert nichts daran. Er versucht, den Witiko konsequent so anzulegen, dass er diesem Problem entgeht. Mit jenem ‚riesigen Gesetz‘, das die Völker und Zeiten umwälze, nennt Stifter eines der Momente, die das gemeinsame Fundament von Geschichtsschreibung und historischer Dichtung ausmachen. In der Weltgeschichte zeige sich das Ganze als deren Sinn, und seine Erfassung in der Form des Romans kann der Dichtung aufgegeben sein. Kommt das Gesetz in adäquater Weise zur Darstellung, dann ist der historische Roman gelungen: Er trägt zur Erkenntnis der Geschichte bei, indem er das tiefere Movens der Veränderungen sichtbar macht. Das real in der Weltgeschichte wirksame Gesetz wäre als höchstes Prinzip der Veränderung ein Zielpunkt, auf den historischer Roman und Forschung gemeinsam zustreben müssten. Die Erkenntnis des Gesetzes wäre dabei nicht nur von historischer Bedeutung. Als insgesamt geschichtlich wirksames Gesetz beträfe es auch die Gegenwart, die es „Sittengesez“ (s.o.) nenne. Seine Erfassung im Vergangenen besäße damit einen Erkenntniswert, der auch auf die je eigene Zeit zielte und deren Veränderungen verständlich werden ließe. Es bleibt zu betonen, dass das Gesetz für Stifter im Roman gerade dann zur Darstellung kommt, wenn dieser sich adäquat auf das jeweils Historische einlässt, ohne es, wie der ‚gebräuchliche‘ historische Roman, verzerrend auf bloß Individuelles zu beschränken. Durch die Intention auf ein der Geschichte und dem Völkerleben insgesamt zugrundeliegendes Gesetz bringt Stifter seine historische Erzählung in Position zur Erkenntnis der philologischhistorischen Wissenschaften.
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2 Stifter und das Epos Schon die Gattungsbezeichnung des Witiko distanziert sich vom ‚gebräuchlichen‘ historischen Erzählen. Stifter beginnt spätestens um 1860, den Begriff ‚Roman‘ auch in seinen Briefen zu vermeiden; mitunter polemisiert er gegen die „Romanwirthschaft“ insgesamt als Verfallserscheinung.¹⁵² Seine historische Dichtung figuriert auf dem Titelblatt als Witiko. / Eine Erzählung von / Adalbert Stifter. Auch hier ist die Differenz zu Scott bedeutsam. Dessen Romane erschienen in Deutschland wie in England schnell in Gesamtausgaben als Waverley Novels bzw. Walter Scott’s Romane. ¹⁵³ Einzelne Romane sind wiederum zu Serien zusammengefasst, etwa die Tales of my Landlord bzw. Die Erzählungen meines Wirts. ¹⁵⁴ Der Begriff der „Erzählung“, den Stifter für den Witiko wählt, ist hier also vorgeprägt. Allerdings besteht ein gewichtiger Unterschied darin, dass der Wirt ein identifizierbarer fiktiver Charakter ist; er vermittelt die Geschichte einem Ich-Erzähler, der ebenso Teil der Fiktion ist: Jedediah Cleishbotham.¹⁵⁵ Auch wenn Scott dieses Spiel mit der Herausgeberfiktion erstens ironisiert und es zweitens meist schon nach dem ersten Kapitel in den Hintergrund treten lässt – es regelt doch die
So in dem Brief an Gustav Ungar vom 15. Dez. 1865; PRA 21, S. 103 f. Seit langem schon, so schreibt er, „kränkt mich tief die ungemein schlecht wirkende Romanwirthschaft der meisten Zeitungen. Diesem fressenden Schaden kann kaum anders entgegen getreten werden, (verbiethen kann man die Romane nicht) als durch Verbesserung eben dieser Romanwirthschaft“. Seine eigenen „Erzählungen“ hätten von jeher diesem Zweck gedient. Der Gattungsbegriff der Erzählung wird hier fast zum Gegenbegriff des ‚Romans‘. So etwa die Ausgabe der Gebrüder Schumann, Zwickau, die Alexis rezensierte; vgl. Anm. 12. Scott geht dabei mit den Gattungsbezeichnungen überaus bewusst um. Im Eingangskapitel des Waverley reflektiert er, die Besonderheit dieses Buches herausstellend, über die Gattungsbezeichnungen Novel, Tale, Story, Romance. Konsequenterweise führt der Waverley selbst keine auf dem Titelblatt. Stattdessen bezeichnet Scott ihn näherungsweise als „story“ und „tale of manners“ ([Scott], Waverley, Bd. 1, S. 7 f.). Im Vorwort zu The Antiquary (3 Bde. Edinburgh 1816, Bd. 1, S.V) werden die drei ersten Romane dann „fictitious narratives“ genannt. Danach beginnen die Tales of my Landlord (1816) mit The Black Dwarf und Old Mortality. Ivanhoe (1820) trägt dann, als mittelalterlicher Roman, Romance auf dem Titelblatt. Scott reflektiert den Unterschied in der Dedicatory Epistle, die dem Ivanhoe vorausgeht. Die Trennung zwischen dem Waverley- und dem Ivanhoe-Typus ist in der Forschung gängig. Vgl. etwa Erwin Wolff: Sir Walter Scott und Dr. Dryasdust. Zum Problem der Entstehung des historischen Romans im 19. Jahrhundert. In: Dargestellte Geschichte in der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Hrsg. von Wolfgang Iser und Fritz Schalk. Frankfurt am Main 1970, S. 15 – 37, hier S. 28. Freilich beharrt der fiktive Herausgeber von Old Mortality darauf, dass die Tales seines Landlord als Manuskripte und nicht als mündliche Erzählungen auf ihn gekommen seien; vgl. die Introduction in: [Walter Scott:] The Tales of my Landlord, collected and arranged by Jedediah Cleishbotham, Schoolmaster and Parish-Clerk of Gandercleugh. 4 Bde. Edinburgh 1816, Bd. 1, S. 3 – 21.
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Fiktion. Selbst in den von Stifter gelobten Presbyterianern (d.i. Old Mortality) berichtet der homodiegetische Erzähler in den ersten Kapiteln, wie er zu seinem Wissen über das Vergangene kommt. So wird der Eindruck einer lebendigen Traditionslinie geschaffen, über die die Vergangenheit in die Gegenwart hineinreicht. Dass der Erzähler dann am eigentlichen Geschehen der Binnenhandlung nicht teilhat, verstärkt diesen Eindruck noch. Denn sein auf Quellen gestützter Bericht erhebt den Anspruch, dass das Vergangene noch im Wort, in der Erzählung des Wirts etwa, lebendig gemacht werden kann. Scotts im Roman reflektiertes, personalisiertes ‚Erzählen‘ ist – wie jener Nichtheld – eine Strategie, Geschichte eingängig dem modernen Leser zu vermitteln. Stifter verwendet gerade keinen personalisierten Erzähler, der dem Leser gegenüber als Vermittler fungiert. Sein Untertitel scheint den Text durchaus anders markieren zu wollen. Die Gattungsbezeichnung des Witiko erschließt sich, wenn man sie als Verdeutschung des griechischen épos versteht. Unauffällig, aber entschieden stellt Stifter seinem Text die Kategorie voran, die ihm in seinen Briefen zur Reflexion über sein Vorhaben dient. So heißt es etwa im Anschluss an die oben zitierte Passage: Darum steht mir das Epos viel höher als das Drama, und der sogenannte historische Roman erscheint mir als das Epos in ungebundener Rede. In der Ilias ist es weniger Achilleus und sein Zorn, der vorgeführt wird (er trit ja sehr wenig auf) als das vielgliedrige buntgestaltige griechische Leben, das da in den verschiedensten Gefühlen und Erregungen zu menschlicher Erscheinung kömmt. Man könnte fast aus der Ilias Stammtafeln griechischer Geschlechter entwerfen. Darum ist die Äneis so klein dagegen, trotz der wunderbaren Form, weil sie eitles Lob Roms als Hauptziel anstrebt, da um Gründung dieses Reichs sich Götter und Menschen bemühen, ohne daß man einen rechten Beweggrund einsieht, warum Rom entstehen müsse, und weil im Gedichte der dünne Faden eines einzelnen Menschen hinläuft, welcher Mensch noch dazu nicht so groß ist, daß er uns erschüttert. In der Ilias sind die Götter gewaltigere Menschen, die mit Gefühlen und Leidenschaften Parthei nehmen, und Furchtbares hervorbringen.¹⁵⁶
Das Epos wird zum unmittelbaren, positiv besetzten Gegenbegriff zum ‚gebräuchlichen‘ historischen Roman; um die Geschichte fassen zu können, muss der Roman wieder zum Epos werden – zur ‚Erzählung‘ im ursprünglichem Sinn der Gattungsbezeichnung. Stifter formuliert seine Auffassung des Epos unsystematisch, aber sie lässt sich doch näher qualifizieren. Kern des Epos ist dessen Gegenstandsauffassung. Hier steht nicht das Individuum im Zentrum, vielmehr kommt das „Leben“ eines ganzen Volkes „vielgliedrig[]“ und „buntgestaltig[]“ zur „Erscheinung“. Die In-
Brief an Heckenast, 8. Juni 1861; PRA 19, S. 282 f.
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dividuen tragen durch ihre Taten und Erregungen zum Strom der Geschichte bei, und sie werden von diesem Strom wiederum bewegt und fortgerissen. Das eigentliche Subjekt der Ilias, die Stifter offensichtlich als Archetyp der Gattung begreift, ist für ihn der Lauf der Geschichte selbst, und zwar derjenigen der Stämme und Völker, die er unter dem Namen der Griechen als zusammenhängende Kultur mit gemeinschaftlichem „Leben“ begreift. Nicht Achills Zorn, also das Wirken eines Einzelnen, bindet für Stifter die Ilias zur Einheit;¹⁵⁷ sondern die Vielfalt der Details und Individuen läuft in einer historischen und völkischen Idee zusammen. Der Wert dieses Epos ist ein zugleich dichterischer und historischer. Indem das Leben durch die Dichtung zur „Erscheinung“ kommt, kann das Epos als historische Quelle dienen: Es macht das Gesetz der Geschichte begreifbar, aber es erstreckt sich auch aufs Detail – „fast“ ließen sich die „Stammtafeln griechischer Geschlechter“ daraus rekonstruieren. Das Geschichtliche im Kleinen, das einzelne Datum, kommt im Epos als integraler Bestandteil des großen Ganzen zur Darstellung. Es ist nicht, wie im ‚gebräuchlichen‘ historischen Roman, bloßes Hintergrundmoment für ein ahistorisches, individuelles Geschick. Indem Stifter das Epos an diese funktionalen Momente bindet und nicht an den Vers, kann er der Ilias die Aeneis entgegensetzen. Vergil verfehle das Epische, denn er zeige nicht das Geschichtliche selbst, sondern lediglich individuelle Momente: Der Stoff konzentriere sich auf einen individuellen Helden, der Dichter folge seiner Intention, Rom zu loben. Eine geschichtlich bedeutsame Objektivität, wie sie sich in der Ilias zeigt, komme so nicht zustande. Die Herausgeber der historisch-kritischen Werkausgabe stellen diese Konzeption in eine Linie mit den Epostheorien Goethes, Schillers und Wilhelm von Humboldts.¹⁵⁸ Aber ihren Resonanzraum bildet die gesamte Debatte um Homer und andere ‚Volksepen‘. In den vorherigen Kapiteln war deutlich geworden, welchen Stellenwert die Frage nach dem Epos, beginnend mit Wolf, für Schlegel, die Grimms, Hagen, Lachmann und die philologisch-historischen Wissenschaften insgesamt besaß. Als historisch getränkter, wesenhaft mündlicher Text führt es in die Urgeschichte, von der es berichtet und zeugt, über welche dichterischen und
In der zeitgenössischen Homer-Debatte berufen sich vor allem die Unitarier, die Verfechter einer genuin Homerischen Autorschaft, auf den Zorn als einheitsstiftendes Prinzip des Epos: Als Affekt sei dieser eine dezidiert poetische Erfindung, die den Stoff gliedere und in einen einheitlichen Plan bringe. Auf die Panoramatik des Geschehens berufen sich dagegen eher die Vertreter einer Vielzahl von Bearbeitern. Durch seine Position lässt sich Stifter freilich nicht auf deren Seite schlagen. Aber er optiert bei seinem Epos gegen das traditionellerweise als Ausweis von Homers Dichtertum geführte Moment. Vgl. den Kommentar in HKG 5.4, S. 251– 253.
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philologischen Pfade auch immer es auf die Nachwelt gekommen sein mag. Es führt ein historisches Substrat mit sich, das seine Funktion für das Volk, in dem es lebte, begründete und das auch nicht zuletzt seinen gegenwärtigen Wert ausmacht. Mythos, Geschichte und Dichtung sind in ihm vereinigt.¹⁵⁹ Erinnert sei beispielsweise an die Position Wilhelm Grimms,¹⁶⁰ nach der sich das Epos als ‚Abdruck‘ von Handlungen ‚selbst macht‘. Stifters Brief zeigt, dass die Ilias auch für ihn nicht allein als Dichtung wertvoll ist, sondern als gleichzeitiger Speicher von (Kultur‐)Geschichte.¹⁶¹ Seine Vertrautheit mit der ‚Homerischen Frage‘¹⁶² lässt sich aus den Quellen plausibel
Vgl. Kap. I.3.5. und III.2.1. Zur Ilias vgl. beispielsweise Hermann Ulrici: Geschichte der hellenischen Dichtkunst. Bd. 1: Das Epos. Berlin 1835, S. 182: „Die Auffassungsweise Homers […] hat einen durchaus historischen und einen zugleich durchaus poetischen Charakter“ etc. August Wilhelm Schlegel sei hier zum Nibelungenlied zitiert, dessen herausragende Wichtigkeit er vor allem an seine „Urkundlichkeit“ knüpft, daran, „daß es einen festen geschichtlichen Boden unter sich hat.“ (A.W. Schlegel, Lied der Nibelungen, S. 31) Stifter war mit Schlegels Abhandlung vertraut. In das gemeinsam mit Johannes Aprent herausgegebene Lesebuch zur Förderung humaner Bildung (Pest 1854) nahm er die beiden unmittelbar vorhergehenden Absätze auf (ebd., S. 328 f.; bei Schlegel: S. 28 – 30). Diese Position ist, wenngleich mit anderen Prämissen, auch in der gegenwärtigen Forschung alles andere als obsolet. Vgl. beispielsweise Cecil Maurice Bowra: Heldendichtung. Eine vergleichende Phänomenologie der heroischen Poesie aller Völker. Stuttgart 1964, bes. S. 143 – 194 und S. 560 – 591; den Band: Vergangenheit in mündlicher Überlieferung. Hrsg. von Jürgen von Ungern-Sternberg und Hansjörg Reinau. Stuttgart 1988, darin insbes.: Lutz Röhrich: Orale Traditionen als historische Quelle. Einige Gedanken zur deutschsprachigen mündlichen Volkserzählung, S. 79 – 99, und Joachim Latacz: Zu Umfang und Art der Vergangenheitsbewahrung in der mündlichen Überlieferungsphase des griechischen Heldenepos, S. 153 – 183. Kap. III.2.2. Auch der von Stifter für seine Witiko-Studien herangezogene Theodor Schacht versteht seine Abhandlung über Ottokars von Horneck Reimchronik als einen Beitrag zur Aufhellung der „gegenseitigen Beziehungen der Poesie und der Geschichte“ im Zuge der Nibelungenforschung, da doch die Dichtungen „eine Reihe von Zügen zur volleren richtigern Darstellung unsrer Vergangenheit enthalten müßten“ (Theodor Schacht: Aus und über Ottokar’s von Horneck Reimchronik oder Denkwürdigkeiten seiner Zeit. Zur Geschichte, Literatur und Anschauung des öffentlichen Lebens der Teutschen im dreizehnten Jahrhundert. Mainz 1821, S. 1). Vgl. mit weiterer Literatur Kap. I.3.6., Anm. 437. Überblicke zu ihrer Geschichte im weiteren 19. Jahrhundert und darüber hinaus bieten: Paul Cauer: Grundfragen der Homerkritik. 2 Bde. Leipzig 31921– 1923; Joachim Latacz: [Art.] Die homerische Frage I. In: Der Neue Pauly 14 (2000), S. 501– 512; Gerhard Kurz: [Art.] Die homerische Frage II. In: ebd., S. 512– 516; Frank M. Turner: The Homeric Question. In: A New Companion to Homer. Hrsg. von Ian Morris und Barry Powell. Leiden u. a. 1997, S. 123 – 145. Nützlich, aber freilich auf die eigenen Forschungen zulaufend, ist die Übersicht von Wilamowitz-Moellendorff in seiner Vorlesung über die Ilias aus dem Göttinger WS 1887/88 (hrsg. von Paul Dräger. Hildesheim u. a. 2006, S. 99 – 118). Informativ bleibt immer noch Georg Finsler: Homer. Bd. 1.2: Der Dichter und seine Welt. Leipzig 31924, S. 71– 173.
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machen. Schon allein die Zeitschrift für die Österreichischen Gymnasien, an deren Redaktion er 1850 und 1851 beteiligt war, berichtete regelmäßig in Abhandlungen und Rezensionen über Neuigkeiten in der Homer-Forschung.¹⁶³ 1854 rekapituliert Georg Curtius in einem umfangreichen Artikel mit Rekurs auf Wolf, die Grimms, Gottfried Hermann und Lachmann die Geschichte und den Gegenwärtigen Stand der homerischen Frage. ¹⁶⁴ Im selben Jahrgang teilt die Zeitschrift die Verleihung des Ritterkreuzes des Franz Joseph-Ordens an den „geschätzte[n] Schriftsteller Adalbert Stifter, k.k. Schulrath“,¹⁶⁵ mit und würdigt sein Lesebuch in einer langen, wohlwollenden Rezension. In Bezug auf Homer konnte dabei auch ein unitarischer Gegner der Wolfschen Hypothese wie Hermann Ulrici eine Position vertreten, die den Wert und die Aussagekraft der Homerischen Epen gegen die moderne Dichtung in Stellung bringt. Für ihn ist Homer im wahren Wortsinne ein „Volksdichter“, denn „die Geschichte spricht in poetischer Form aus ihm“: Wie die Nationalität, der Charakter einer Nation […] durch sich selbst gegeben, aus sich selbst und seinem individuellen Keime herausgewachsen erscheint, so scheinen die Homerischen Gedichte durch sich selbst aus sich selbst entstanden, und wenn auch durch Zeit und Raum bedingt und vermittelt, doch nicht irgend einer besondern Persönlichkeit angehörig, sondern wie das Produkt der Geschichte und Nationalität der Griechen selbst; nicht wie die Schöpfung eines einzelnen Dichtergeistes, sondern wie das Resultat einer ganzen Geschichtsperiode […].¹⁶⁶
Nicht zuletzt die formelhaften, wörtlichen Wiederholungen im epischen Text waren in den Jahren vor Stifters Arbeit am Witiko intensiver in den Blick der Forschung gekommen. Gerade sie schienen für einen epischen Weltzugang einstehen zu können, bei dem sich die konstitutive Mündlichkeit¹⁶⁷ mit einer
Allein in jenen beiden Jahrgängen: 1 (1850), S. 36 – 51, S. 428 – 435, S. 436 – 438; 2 (1851), S. 36 – 47, S. 203 – 211, S. 861– 867. Georg Curtius: Andeutungen über den gegenwärtigen Stand der homerischen Frage. In: Zeitschrift für die Österreichischen Gymnasien 5 (1854), S. 1– 21 und S. 89 – 115. 1860 folgt eine Abhandlung von Hermann Bonitz Über den Ursprung der Homerischen Gedichte (11 [1860], S. 241– 267). Vgl. Zeitschrift für die Österreichischen Gymnasien 5 (1854), S. 334. Ulrici, Geschichte, Bd. 1, S. 182. Zu seiner Ablehnung Wolfs vgl. ebd. S. 213 – 306. Ein Abriss über die Rolle der Mündlichkeit in der Homerforschung nach Wolf bei: Joachim Latacz: Einführung. In: Homer. Tradition und Neuerung. Hrsg. von dems. Darmstadt 1979, S. 1– 24 (= 1979a); und: ders.: Tradition und Neuerung in der Homerforschung. Zur Geschichte der Oral poetry-Theorie. In: ebd., S. 25 – 44 (= 1979b). Latacz zeigt hier, dass entscheidende Erkenntnisse der oral poetry-Theorie Milman Parrys und seiner Nachfolger erstens bei Wolf bereits knapp formuliert und zweitens von einem Nebenstrang der Homerforschung im 19. Jahrhundert (Gottfried
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gleichsam festen ontologischen Struktur der Welt durchdringe. Im selben Jahr 1840, in dem Gottfried Hermann die Wiederholungen zum Gegenstand einer wichtigen Untersuchung machte,¹⁶⁸ konnte der eher zur unitarischen Position neigende Carl Eduard Geppert den Stil der Ilias folgendermaßen charakterisieren. Seine Position sei hier ausführlich zitiert: Um die Aufgabe näher zu bezeichnen, die wir uns in diesem Abschnitte gestellt haben, können wir schlechthin sagen, dass es sich hier um die Wiederholung handelt, denn sie ist es, die in der mannigfachsten Weise das Wesen des altepischen Styles ausmacht. […] Die Wahl des Ausdrucks war dem altepischen Dichter eben so wenig frei gegeben, wie die des Verses oder der Wortstellung. Die Epitheta erscheinen bei Homer […] mit den Substanzen so eng verbunden, dass selbst der veränderte Zusammenhang keine Macht hatte, sie zu wechseln; sie sind statarisch. […] In diesen Dingen ist die antike Anschauungsweise niedergelegt, sie bestimmen den Charakter der altepischen Poesie. Dasselbe Phänomen wiederholt sich bei grösseren Abschnitten, bei Anfangs-, Uebergangs- und Schlussversen, bei ganzen Reden, Schilderungen und Erzählungen, die, sie mögen nun in der bewegtesten Situation oder der vollkommensten Ruhe vorgebracht werden, doch stets mit derselben Ausführlichkeit Wort für Wort wiederholt werden. Der Ausdruck, welcher einmal für eine Sache gefunden war, blieb fortan ihre stete Bezeichnung. Es ist, als ob die Dinge selbst sprächen und nicht der Dichter, der sie beschreibt.¹⁶⁹
Die Wiederholungsstruktur gründet in der Mündlichkeit, gleichzeitig mit ihr aber in einer diesem Kultur- und Bewusstseinszustand eigenen Anschauungsweise. Wort und Sache sind hier identisch – im Epos sprechen die Dinge selbst. Eine solche Auffassung wird für den Stil Stifters bedeutsam werden,wie die Analyse des Witiko weiter unten zeigen soll. Zunächst sei das Grundproblem zusammengefasst, das sich Stifter stellt, indem er seine ‚Erzählung‘ in den Kontext des Epos stellt: Die philologisch-historischen Wissenschaften sehen sich der Problematik gegenüber, auf welche Weise man sich als Angehöriger einer gelehrten Schriftkultur zur gleichzeitig dichterischen und historisch-realen Kraft des Volksepos in Beziehung setzen, wie man diese Kraft für die Gegenwart reaktivieren könne. Für den Dichter Stifter dagegen stellt sich eine nicht minder brisante Frage:Wie kann er als Individuum ein solches weder stofflich noch intentional im Individuellen verbleibendes Werk herstellen? In Bezug auf den historischen Stoff des Witiko verdoppelt sich das Problem noch,
Hermann, Heinrich Düntzer, Johann Ernst Ellendt) am sprachlichen Bau der Epen nachgewiesen wurden. Insgesamt aber habe die homerische Frage die ihr eigentlich vorgelagerte nach Eigenart und Verfahren der mündlichen Dichtung verschattet. Gottfried Hermann: De iteratis apud Homerum. Leipzig 1840. Abgedr. bei Latacz (Hrsg.) 1979. Carl Eduard Geppert: Ueber den Ursprung der Homerischen Gesänge. 2 Bde. Leipzig 1840, Bd. 2, S. 202; vgl. Latacz 1979b, S. 33.
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es integriert gewissermaßen die philologische Problematik: Denn das Leben, die Wirklichkeit, die im Epos zur „Erscheinung“¹⁷⁰ kommen müssen, sind selbst Vergangene, die sich nicht anders als durch philologisch-historische Forschung erschließen lassen. Indem Stifter das Epos anvisiert, hat er sich keine Kleinigkeit vorgenommen.
3 Im Kampf mit der Individualität – Stifters Briefe an Gustav Heckenast Bereits das gestochene Titelblatt des Witiko beinhaltet also ein Problem: Eine Erzählung von / Adalbert Stifter bindet die epische, nicht-individuelle ‚Erzählung‘ an ihren individuellen Urheber und Rechtsinhaber, Adalbert Stifter. Dieses Problem wird noch durch die strategische Bedeutung verstärkt, die Stifters zitierte Reflexionen neben ihrem inhaltlichen Gehalt prägen. Denn die Überlegungen zum objektivistischen Schreiben finden sich ausschließlich in den Briefen an seinen Verleger Gustav Heckenast. Gerade das Verhältnis dieser beiden aber ist ein ganz besonderes. Stifter bemüht sich um Nähe, er bezeichnet Heckenast immer wieder als seinen vertrautesten Freund. Und in der Tat erlaubt ihm die Korrespondenz, eine Rolle einzunehmen, die ihm in den Fährnissen der belastenden Schulinspektorentätigkeit geradezu lebenswichtig geworden zu sein scheint: die des großen Dichters. Im Briefwechsel mit dem Verleger fügt sich sein Leben in die von ihm erwünschte Gestalt. Hier spricht der Dichter zu einem, der ihn versteht und ihm mit angemessener Bedeutsamkeit antworten kann. Stifter arbeitet hier an einem lebenswichtigen Phantasma. Der Briefwechsel mit Heckenast wird ihm selbst zu einer Art von Projekt. Es ist kein Zufall, dass er ihn 1861 neben denjenigen Goethes und Schillers stellt.¹⁷¹ Goethes eigene Ausgabe und auch die aus den Manuskripten neu erstellte Edition von Hermann Hauff ¹⁷² schufen das beeindruckende Bild zweier ganz in der Kunst, im Geist und in ihrer eigenen Bedeutung aufgehender Lebensläufe. Dieses Exempel ging Stifter nicht aus dem Kopf. 1861 bietet er seinem Bruder Anton die Rechte an der Veröffentlichung des Briefwechsel an: Sie sollten als Sicherheit für die aufgelaufenen Schulden dienen.¹⁷³ 1866
Vgl. oben, S. 372. Vgl. Brief an Heckenast, 31. Okt. bis 2. Nov. 1861; PRA 20, S. 20. Goethe gab heraus: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. 6 Bde. Stuttgart 1828 – 1829. Die Neuausgabe von Hermann Hauff (Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. 2 Bde. Stuttgart 1856) konnte Kürzungen rückgängig machen und Initialen auflösen, weil die von Goethe verfügte Sperrung des Briefwechsels bis 1850 nun verstrichen war. Vgl. den Brief an Anton Stifter, 16. Nov. 1861; PRA 20, S. 28 f.
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drängt er Heckenast zur Konkretisierung des Planes.¹⁷⁴ Stifter schrieb gerade diese Briefe nicht zuletzt mit Blick auf die ‚dritte Person‘ einer mitlesenden Öffentlichkeit und Nachwelt.¹⁷⁵ Die Reflexionen über das Epos, die Gattungen und das Schreiben stehen daher unter einem besonderen Druck. In ihnen legt der Dichter im emphatischen Sinne sein eigenes Schaffen aus. Sie sind ein zentraler Bestandteil der Arbeit am eigenen Selbstbewusstsein, das nicht zuletzt auf der Imagination der öffentlichen Maske ‚Adalbert Stifter‘ basiert. Die Risse in dieser Maske sind dabei kaum zu übersehen. Stifter zeigt bei seinem Publikationsvorschlag von 1866, dass er dies weiß. Bereits als Heckenast ihm noch nicht geantwortet hat, treibt ihn die Frage der Auswahl um. Das Publikum sollte durch nichts, das „unbedeutend“ wäre und einen „Kreis von Inhaltslosigkeit“ um ihn zöge,¹⁷⁶ von dem eigentlichen, gültigen Bild des Dichters abgelenkt werden. Stifter behält sich daher vor, jeden Brief selbst daraufhin zu prüfen, was in den Druck gelangen und was zurückgehalten werden solle. Jenes ‚Unbedeutende‘ ist jedoch immer schon tief in die Briefe an Heckenast eingedrungen. Zu nennen wären hier nicht nur die oft am Ende ‚bedeutender‘ Briefe aufgegebenen Bestellungen von zahlreichen „Eimern“¹⁷⁷ des köstlichen Ungarweins. Sondern in einem Großteil der Schreiben entschuldigt sich Stifter weitläufig für das Ausbleiben versprochener Manuskripte und Korrekturen, indem er detailreich die Fährnisse rekapituliert, denen die Verzögerung zuzurechnen sei. Der apologetische Duktus nimmt überhand während der langwierigen Arbeit am Witiko, dieser für Stifter auch persönlich prekären Zeit, in die der Tod der Ziehtocher, hartnäckige Krankheiten und die belastende Inspektorentätigkeit fallen. Dieser Zug der Briefe ist so bestimmend, dass auch die Berichte über die geleistete Arbeit zum Buch, die Reflexionen über das schwierige Projekt in die beharrlichen Apologien hineingezogen werden.¹⁷⁸ Sie liefern nicht nur Selbstdeutungen, sondern sind Instrumente, um den Verzug zu begründen und dem Verleger die gewaltigen Dimensionen des erwarteten Werkes zu verdeutlichen. An die Entschuldigungen schließen sich meist Bitten um Fortzahlung der Honorare an, die Stifter von seinem gewogenen Verleger in regelmäßigen Vorauszahlungen
Brief an Heckenast, 17. März 1866; PRA 21, S. 172: „Da ich nun einmal in die Öffentlichkeit gerathen bin, und da es jezt eine schöne Sitte wird, die, denen man in ihren Werken etwas gut geworden ist, auch in ihrem Leben näher kennen lernen zu wollen, so ist es wohl keine Voraussetzung von großer Unbescheidenheit, wenn ich vermuthe, daß es jemandem nach meinem Tode beikommen könnte, Briefe von mir druken zu lassen.“ Vgl. die hervorragende Interpretation von Blasberg 1998, S. 83 – 90. Brief an Heckenast, 17. März 1866; PRA 21, S. 172. Etwa im Brief an Heckenast, Ende Okt. oder Anf. Nov. 1862; PRA 20, S. 83. So auch Doppler und Wiesmüller, in: HKG 5.4, S. 174 und pass.; Blasberg 1998, S. 83 f.
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erhielt. Sie waren fest in seinen Haushaltsplan einberechnet; ohne sie hätte Stifter, wie er in immer neuen Kalkulationen belegt, die eintreffenden Rechnungen nicht begleichen können. Die Briefe aus der Witiko-Zeit bilden eine geradezu tragische Kehrseite zum Werk. Sie zeigen einen Stifter, der um sein öffentliches und zukünftiges Bild als Autor ringt, gleichzeitig aber in eine Welt feindlicher Dinge verstrickt ist und sich den Kampf, den selbst die kleinsten Gegen- und Umstände gegen ihn führen, vom Leib schreiben muss: Das Geld fehlt, Rechnungen stapeln sich, der eigene Körper wird krank, die Frau rutscht aus und stößt sich den Arm. Auf den Inspektionsfahrten erlegt das moderne Eisenbahnnetz ihm umständliche Wege auf, im Regen verpasst er Anschlüsse, ohne die richtigen Stiefel bei sich zu haben, dann gerät die Kutsche ins Gewitter.¹⁷⁹ Regelmäßig erkrankt auch der Hund. Der Stifter der Briefe erinnert an den Protagonisten Albert Einhart aus Friedrich Theodor Vischers Roman Auch einer, ohne dass Stifter jedoch die Tücke des Objektes und die ständigen Erkrankungen zum Gegenstand des heroischen Kampfes und einer Mythologie der widerständigen Dinge zu erheben vermag. Sein Griff zur epischen Objektivität erscheint, von den biographischen Dokumenten aus gesehen, als verzweifelte Selbstbehauptung eines Individuums, das von allen Seiten her gefährdet ist: im Eheglück, den Anforderungen des Berufs, den Dingen des alltäglichen Lebens, den Zuganschlüssen, seiner finanziellen Existenz und auch in seinem öffentlichen Ansehen als großer Dichter. Wie sehr Stifter besonders dieses letzte Problem, seine Lage als moderner Autor auf dem literarischen Markt, beunruhigte, verdeutlicht auch seine Beschäftigung mit dem Problem des Urheberrechts.¹⁸⁰ Als Konsequenz will er sein Witiko-Projekt vor Erscheinen des ersten Bandes nur mit dem Verleger verhandeln: Stifter hatte Angst, dass ihm jemand in der Bearbeitung des Stoffes zuvorkommen könnte.¹⁸¹ „Witiko. / Eine Erzählung von / Adalbert Stifter“ – spannungsvoll verbindet der Titel die Probleme der bürgerlichen Existenzsicherung und den überindividuellen Anspruch eines modernen Epos. So in einem Brief an seine Frau. Diese Briefe wollte Stifter ebenfalls publiziert wissen, man merkt auch ihnen die Mühe an, mit der er sich eine glückliche, auf tiefer Liebe und Kommunikationsbereitschaft beruhende Ehe erschreibt. Die Wirklichkeit muss durchaus eine andere gewesen sein; vgl. Matz 2005, S. 130 – 146. Stifter will einen Aufsatz über „geistiges Eigenthum“ schreiben, um dieses „parallel mit dem materiellen zu führen, für das in allen europäischen Staaten auf das beste gesorgt ist, und dessen lezter Boden in der Vernunft bei weitem nicht so fest steht als der des geistigen Eigenthums.“ Brief an Heckenast, 5. Nov. 1857; PRA 19, S. 71. So über den „Untergang der Wrsowece“ an Heckenast: „Es ist unbegreiflich, warum ich dieses Epos nicht längst gemacht habe, und ich zittere fast, daß mir dieser Stoff weggenommen wird. Verrathen Sie ihn niemandem.“ Brief vom 10. April 1860; PRA 19, S. 230.
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4 Historisches „Mitleben“ – Stifter, die Quellen und die Historiographie Franz Palackys Den Zugang zum epischen Verfahren einer Ilias will Stifter durch das konsequente gelehrte Studium der Quellen und der Geschichte erlangen. In einem weiteren Brief an Heckenast setzt er sein dichterisches Vorhaben in Beziehung zur historischen Gelehrsamkeit: Der Roman hat eine wissenschaftliche Seite, die von vorn herein in keines Menschen Seele liegt, sondern die er sich erwerben muß, das Geschichtliche. Dieses muß so treu angeeignet werden, daß Dichter und Leser in der Luft jener vergangenen Zeiten athmen, und die Gegenwart für sie nicht ist, dies allein gibt Wahrheit. Aber zu dem ist nicht das historische Wissen allein genug, dies gäbe nur ein hölzernes Gerippe, sondern das historische Mitleben, dieses gibt den Gestalten Fleisch und Blut. Ich hoffe, daß Sie dieses Leben finden werden. Selbst die erfundenen Figuren müssen in die Zeit passen, daß der Leser sie nicht weg zu denken vermag. Diese Aneignung der Vergangenheit als eines jetzt mitlebenden Theiles des Dichters ist das Schwerste, es sezt große historische Vorarbeit inniges Eingehen und Liebe zur Vergangenheit des Menschen und Vergessen seiner selbst voraus.¹⁸²
Stifter setzt hier Dichtung und Gelehrsamkeit in ein Verhältnis, um zu erläutern, wie das Vergangene zum ‚Lebensraum‘ werden kann. Er geht vom Geschichtlichen aus, vom Stoff, der vom Dichter unabhängig sei und daher angeeignet werden müsse. Er unterläuft wie schon Brentano oder Scheffel die in den philologischhistorischen Wissenschaften wohlgepflegte Position, es sei ihr Alleinstellungskriterium, den individuellen, historischen Stoff als Ausgangspunkt zu begreifen. Auch für Stifter beginnt die Arbeit des historischen Dichters damit, dass er sich auf das Fremde, nicht in seiner Seele Liegende einlässt. Philologisch-historische Forschung eröffnet ihm einen Zugang zur Vergangenheit. Über das Quellenstudium will er sich die Vergangenheit als einen „mitlebenden“ Teil erschließen, um wiederum dem Leser ein historisches Mitleben zu ermöglichen. Die Konsequenz, die Stifter daraus im Rahmen seiner Scott-Kritik zieht, ist aber eine andere als beispielsweise bei Scheffel. „Mitleben“ würde hier bedeuten, den historischen Abstand im Text selbst nicht zu reflektieren. Scotts kommentierende Erzähler und vermittelnde Charaktere wären in Stifters Erzählung fehl am Platz. Die philologisch-historische Forschung begrenzt und bedingt die Erfindung und Behandlung. Aber damit der Roman das „Leben“ der vergangenen Zeit bietet
Brief an Heckenast, 9. Juni 1853; PRA 18, S. 169. Stifter berichtet in dem Brief über seine Arbeit am Nachsommer, mit der er, zur Erholung, allenthalben den historischen Roman unterbreche. Die Bezüge in dem Schreiben sind nicht immer klar. Die zitierte Passage kann aufgrund der historischen Reflexion jedoch nur den Witiko (bzw. die geplante ‚historische Erzählung‘) meinen.
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und dem Leser ein „Mitleben“ ermöglicht, muss der Dichter wiederum über die Gelehrsamkeit hinausgehen. Stifter fasst das historische Wissen offensichtlich wie Scheffel als ein vereinzelndes, das nicht zum eigentlichen Leben, dem eigentlichen Geist einer Zeit vorstoßen kann. Daher muss die Arbeit des Dichters von Liebe und „Eingehen“ getragen sein, vor allem aber muss er „seiner selbst“ vergessen. Stifter bestimmt dieses Ethos nicht genauer. Nahe liegt jedoch, dass der Dichter sich selbst als Mitlebenden in der Gegenwart ausblenden muss, um in jener anderen Zeit zu ‚leben‘. Der Zugang durch die wissenschaftliche Erkenntnis dient also dem Wechsel des Lebensraumes, auf den sie vorbereitet. Darüber hinaus scheint in dieser Forderung nach Vergessen „seiner selbst“ auch die Ablehnung der Individualität einbegriffen, die der oben zitierte Vergleich von Ilias und Aeneis weiter ausführt: Um die Geschichte darstellen zu können, muss der Dichter von seiner Individualität abstrahieren. Dies meint hier zunächst die Fähigkeit, einen ‚lebendigen‘ Zeit-Raum darzustellen, in den sich auch das bloß Erfundene konsistent einpasst. Aber es ließe sich auch eine Verbindung ziehen zu jenem dem Einzelnen übergeordneten Gesetz der Geschichte, von dem Stifter in dem genannten, späteren Brief spricht. Die emphatischen Begriffe des Lebens und Mitlebens zeigen, dass Stifter die Überwindung der Gelehrsamkeit in der Dichtung nicht als Rückschritt in eine unverbindliche Fiktionalität begriffen wissen will. Sondern sie begründen die spezifische Leistung, die die Dichtung in Bezug auf die Geschichte erbringen kann. Stifter reklamiert für sie eine historische Erkenntnisqualität, die in ihrem Ausgang vom Geschichtlichen und in der Ablehnung einer an die Gegenwart gebundenen Individualität manches mit dem Verständnis von philologisch-historischer Forschung teilt, wie es etwa Boeckh und Droysen entwickeln. Er bringt diesen Erkenntnisanspruch wiederholt zum Ausdruck, indem er seine Erzählung gleichzeitig der Sphäre der Dichtung und der Geschichtsschreibung zuordnet: Programmatisch empfiehlt die Vorrede den Witiko sowohl den Männern der Dichtung wie auch denjenigen der Geschichte (vgl. Witiko, S. 7). In den Briefen an Heckenast wird Stifter nicht müde, immer wieder das Ausmaß seiner Quellenarbeit herauszustellen. Wiederholt malt er ein Szenario, in dem er von mittelalterlichem Schrifttum umgeben, geradezu unter ihm begraben ist: „Fast alle Quellen jener Zeit mit ihrem wunderlichen Latein lagen um mich herum, ich ertrank beinahe in der Fülle der Thaten.“¹⁸³ Welche Quellen Stifter jeweils meint, erhellt aus seinen Briefen jedoch kaum. Unmittelbar einschlägig für die Vorgeschichte des Witiko und den geschilderten Zeitraum sind die Chronik des Cosmas von Prag (bis 1125) – die früheste böhmische Chronik überhaupt – und
Brief an Heckenast, 27. April 1867; PRA 22, S. 124.
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ihre Fortsetzungen sowie die Annalen des Vincenz, die detailliert über die böhmische Beteiligung an den italienischen Feldzügen Friedrichs I. berichten.¹⁸⁴ Die Texte lagen nicht zuletzt in den Monumenta Germaniae Historica vor.¹⁸⁵ Stifter erwähnt außerdem die deutschsprachige Reimchronik des Ottokar von Horneck.¹⁸⁶ Eine Beschäftigung mit Nibelungenlied und Minnesang geht aus dem Roman selbst hervor, die Kenntnis der angeblichen tschechischen Volksdichtungen aus den Königinhofer und Grünberger Handschriften lässt sich ebenfalls voraussetzen: Stifter wollte die erste der beiden, die sich später als Fälschung des tschechischen Philologen Václav Hanka herausstellten, zum Gegenstand eines weiteren Romans der geplanten Witiko-Trilogie machen.¹⁸⁷ Welches Ausmaß das Studium lateinischer Quellen wirklich angenommen hat, lässt sich kaum zweifelsfrei feststellen.¹⁸⁸ Der regelmäßige Bericht über die
Nach Karl Flörings Quellenstudien (Die historischen Elemente in Adalbert Stifters Witiko. Giessen 1922) lässt sich der unmittelbare Gebrauch des Cosmas sowie der Continuationes am Witiko-Text nicht nachweisen, wohl aber derjenige der Chronik des Vincenz. Auch hier ist freilich Vorsicht geboten: Florenz Tourtual, dessen Dissertation zu den Feldzügen Friedrichs I. Stifter benutzt, hält sich nicht nur eng an Vincenz, sondern er zitiert meist auch das lateinische Original in Anmerkungen (Florenz Tourtual: Böhmens Antheil an den Kämpfen Kaiser Friedrich I. in Italien. I. Theil. Der Mailänderkrieg. 1158. 1159. Diss. Göttingen 1865). Cosmae Chronica Boemorum [einschließlich der Continuationes und der Prager Annalen]. Hrsg. von Rudolf Köpke. In: Pertz (Hrsg.), MGH, Scriptores Bd. 9 (1851), S. 1– 209; Vincentii Pragensis Annales. Hrsg. von Wilhelm Wattenbach. In: ebd., Scriptores Bd. 17 (1861), S. 654– 683. Vor allem die Continuatio des Gerlach (von 1167– 1198) ist (mit wenigen Erwähnungen) eine Hauptquelle für die historische Gestalt des Witiko. Der Text lag noch nicht in den MGH vor, sondern nur in der Ausgabe: Ottocari Horneckii chronicon Austriacum rhythmicum (Germanicum) ab excessu Friderici II. imp. […], ad a. usque 1309 perductum. Hrsg. von Hieronymus Pez. Regensburg 1745. Stifter erfragt sich brieflich die kommentierende Studie von Schacht (Ottokar’s Reimchronik), die freilich nur knappe Passagen des Originals zitiert; vgl. den Kommentar in HKG 5.4, S. 227. In einem Schreiben an Heckenast (21. Juni 1855; PRA 18, S. 265) skizziert Stifter seinen Plan, die dritte Erzählung dem Rosenberger „Zewisch“ zu widmen. Zentral für ihn ist, dass dieser „vermuthlich Verfasser der Königinhofer Handschrift“ sei: „Wenn ich nur über diesen lezteren Punkt quellenmäßige Handhaben gewinnen könnte. Das wäre der glänzendste Zug des Romans, die Entstehung dieser Schrift in das Leben dieses Mannes zu verflechten“; vgl. dazu Lach 2005, S. 436 – 438. Auch hier wäre der Text zentriert um die (vermeintliche) Konstitution einer Überlieferung beim Übergang von Mündlichkeit in Schrift. Stifter stützt sich auf Franz Palacky: Geschichte von Böhmen. Größtentheils nach Urkunden und Handschriften. 5 Bde. Prag 1836 – 1867, Bd. 2.1, S. 310: „Dagegen ist es sehr wahrscheinlich, daß die böhmische Literatur ihren höchsten Schatz, die Königinhofer Handschrift, diesem Zawiš zu danken habe.“ Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Stifters Studien dabei doch umfangreicher gewesen sind, als man gemeinhin annimmt. Ein Beispiel dafür,wie hier mit philologischer Feinarbeit vorzugehen wäre, bietet der Name „Witiko“. In einem Brief an Heckenast klagt Stifter über die Quellenlage zu seinem Protagonisten. Gleichzeitig prunkt er mit einer Vielzahl von Namen: „Ein Hauptgrund,
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große historische Arbeit soll nicht zuletzt wohl auch Heckenast beruhigen und das Ausbleiben der Manuskriptlieferungen begründen helfen. Stattdessen greift Stifter intensiv auf die moderne Geschichtsschreibung zurück: Franz Palackys Geschichte von Böhmen bietet ihm das Fundament für die gesamte Geschichte Böhmens, Wenzel Tomeks Geschichte der Stadt Prag liefert Material für die Stadtszenen, Florenz Tourtuals Dissertation über die Mailänderkriege und Friedrich von Raumers Staufergeschichte erbringen Details vor allem für das dritte Buch.¹⁸⁹ Nicht die alten Quellen also liegen dem Witiko-Text in erster Linie zugrunde, sondern vor allem die böhmische Geschichte Palackys. Und der Gebrauch, den Stifter von ihr wie auch von den anderen Werken macht, scheint paradox. Denn er extrahiert nicht nur Daten, Namen und Fakten, um ein „Gerippe“ (s.o.) des historisch Gesicherten zu gewinnen. An zahlreichen Stellen übernimmt er vielmehr ganze Passagen seiner Gewährstexte und integriert sie durch stilistische Umarbeitung in den Duktus seiner Erzählung. Diese zunächst befremdliche Anlehnung an die Historiographie insbesondere Palackys wird verständlich angesichts von dessen historiographischer Standort-
warum ich Ihnen so lange nicht geschrieben habe, besteht darin, daß ich alle Zeit, die ich außer der nöthigsten Erholung zur Verfügung habe, auf den Wittiko (oder Vitigo oder Witigo oder Vitko oder Wittico oder Vitek etc.) – ich weiß nach Lesung von Chroniken gar nicht einmal mehr, wie er heißt, und muß deßhalb schließlich an Palazki schreiben – verwende.“ (7. März 1860; PRA 19, S. 222) Woher aber hat Stifter diese Namen? Palacky erwähnt „Witek“ in seiner Geschichte Böhmens (Bd. 1, S. 458) als Obertruchseß König Wladislaws und „älteste[n] bekannte[n] Ahnherrn[n]“ des späteren Rosenberger-Geschlechtes. 1841 trägt er die Angaben zu einer genealogischen Rekonstruktion des Geschlechts zusammen (vgl. seinen Beitrag in: Johann Gottfried Sommer: Das Königreich Böhmen. Bd. 9. Prag 1841, S. 60 – 63), wo er die Namensformen „Witek“, „Comes Witco“ und „Witego de Purschitz“ verwendet. Auffälligerweise aber nimmt Stifter diese Schreibungen gerade nicht in seine Liste auf. Hat er sich die Varianten also ausgedacht? Schlägt man jedoch das Register zu Karel Jaromir Erbens Regesta Bohemica auf (Regesta diplomatica nec non epistolaria Bohemiae et Moraviae. Pars I. Annorum 600 – 1253. Opera Caroli Jaromiri Erben […]. In: Abhandlungen der Königlichen Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften 8 [1854], H. 5, S. 1– 800), so findet man eine wahrlich sinnverwirrende Fülle von Schreibungen – und Verweise zu den Urkunden, in denen sie sich finden. Mit Ausnahme der Form Vitigo finden sich allein im Register alle von Stifter erwogenen Schreibungen. Auch die Namensform „Witico“ ist aufgenommen (ebd., S. 699). Dass Stifter die Regesta verwendet hat, erscheint also als äußerst wahrscheinlich. Damit aber eröffnet sich neues Quellenmaterial. Freilich stellt sich die Frage nach Stifters ‚Informationsverarbeitung‘. Denkbar ist, dass er eine Reihe von Quellen vor der Niederschrift las, sie aber nicht auf seinem Schreibtisch liegen hatte. Oft genug schrieb er auf Reisen, was nicht für die kontinuierliche Benutzung einer umfangreicheren Handbibliothek spricht, aber Exzerpte wahrscheinlich macht – leider ist hier nur Weniges aus Palacky erhalten. Palacky, Geschichte, inbes. Bde. 1 (1836), und 2.1 (1839); Wenzel Tomek: Geschichte der Stadt Prag. Bd. 1 (mehr nicht ersch.). Prag 1856; Tourtual, Böhmens Anteil; Friedrich von Raumer: Geschichte der Hohenstaufen und ihrer Zeit. 5 Bde. Leipzig 11823 – 1825, 21840 – 1842 (insbes. Bd. 2).
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bestimmung. Palacky bekam 1831 von den böhmischen Ständen den Auftrag, eine umfassende Geschichte Böhmens zu schreiben, ein Werk, bei dem sich das historiographische und das politische Anliegen unmittelbar deckten.¹⁹⁰ Denn die Erarbeitung einer Geschichte Böhmens bildete neben der Lexikalisierung der tschechischen Sprache und der Edition von Sprachdenkmälern einen wichtigen Baustein im Nachweis einer eigenen nationalen Identität der Tschechen und damit für die Fundierung autonomer, an der ‚Volksidentität‘ ausgerichteter, politischer Ansprüche. Palacky hatte schon lange vor Erscheinen des ersten Bandes 1836 systematische Archivstudien betrieben. Seine Geschichte baute nicht nur auf der Grundlage bisheriger Historiographie auf, sondern auf einer breiten Basis historischer Quellen und Urkunden. Mit seiner Würdigung der alten böhmischen Geschichtsschreiber, die 1830 erschien, hatte er ein quellenkritisches Fundament für sein Vorhaben gelegt, mit dem er sich in die neuen Tendenzen einer philologischkritisch informierten Geschichtsschreibung einreihte.¹⁹¹ Dieser Modernisierungsschub war durch die Problemlage geboten, galt es doch, ein bislang gleichsam unentdeckt in Archiven schlummerndes Volk zur historischen Sichtbarkeit zu erheben. Aufgrund des ‚völkischen‘ Anspruchs und der quellenkritischen Methode verschiebt sich das Ziel von Palackys Geschichtsschreibung. In der Vorrede der Geschichte von Böhmen verweist er eigens auf besondere Abschnitte in seinem Werk, die sich nicht mit den politischen Ereignissen befassten, sondern das Leben des Volks darzustellen versuchten. Hier ballen sich die Erkenntnisgegenstände einer ‚Philologie der Sachen‘: Ländliche Verwaltung, häusliches Leben, Bekleidung, Mythos, Religion, Volksdichtung und ähnliche Dinge spielten für die Darstellung eine bedeutende Rolle. In ihnen komme das Verhältnis der „slawischen“ und „deutschen“ Elemente im Volkscharakter zum Vorschein, es zeige sich die Entwicklung eines „besonderen böhmischen“ ‚Geistes‘, der sich aus der „Vermischung“ jener beiden „erzeugte“.¹⁹² Der Konflikt zwischen diesen „Elemente[n]“¹⁹³ trete im kulturgeschichtlichen Zugriff auf das Volk zutage, gleichzeitig bestimme
Zur Biographie Palackys: Jiří Kořalka: František Palacký (1798 – 1876). Der Historiker der Tschechen im österreichischen Vielvölkerstaat. Wien 2007. Lediglich äußere Daten trägt zusammen: Georg J. Morava: Franz Palacký. Eine frühe Vision von Mitteleuropa. Wien 1990. Zur politischen Stellung Palackys: Lach 2005, S. 421– 423. Franz Palacky: Würdigung der alten böhmischen Geschichtsschreiber. Eine von der k. böhm. Gesellschaft der Wissenschaften gekrönte Preisschrift. Prag 1830. Ndr. der Ausgabe 1869: Osnabrück 1969. Palacky, Geschichte, Bd. 1, S. IX. Ebd.
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er die Dynamik der politischen Schicksale Böhmens insgesamt. Gerade die kritische Fundierung begründet Palackys Anspruch, seine Geschichte Böhmens sowohl auf der Ebene des politischen Geschehens als auch auf der mikrostrukturellen des Volkslebens anzusiedeln. Palackys historiographisches Kriterium der „Wahrheit“¹⁹⁴ fußt auf einem Verständnis von Geschichte, das für die zeitgenössische Historiographie genauso bedeutend ist wie für Stifters Roman: Die ‚Wahrheit‘ einer geschichtlichen Darstellung hängt von der richtigen Vermittlung des Individuellen und des Allgemeinen ab, also von der Erschließung, Deutung und Darstellung ihrer Zusammenhänge, die die Historiographie zu leisten hat. Aufschlussreich, um die Implikationen dieser Konzeption zu verstehen, ist Palackys Aufsatz Über Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung in Böhmen,¹⁹⁵ der im Vorfeld der Geschichte von Böhmen entstand. Palacky kritisiert einleitend den Satz, „‚daß die Völker sich erst dann um ihre Geschichte zu kümmern pflegen, wenn sie keine mehr haben“. Dagegen profiliert er seinen Begriff von Geschichte. Diese sei entweder „die durch die Sprache erneuerte Vorstellung des Geschehenen überhaupt“, oder sie sei „im höheren Sinne, die treue und daher notwendigerweise auch organische Darstellung einzelner aus der gesammten Masse des Geschehenen hervorragender Momente“.¹⁹⁶ Palacky wendet sich gegen die Implikation, dass Geschichtslosigkeit eines Volkes überhaupt möglich sei. Sowohl auf der Ebene des Details, des Geschehens, als auch im ‚höheren ‘ Verständnis einer sinnhaften Gliederung der Masse durch Bedeutendes sei die Rede von der Geschichtslosigkeit nicht mehr als ein bloß witziger Einfall. Palacky scheint aber in dieser Entgegnung auf aufschlussreiche Weise zwei Ebenen zu vermischen, nämlich einerseits die ‚Geschichte‘ als reales Geschehen, andererseits die ‚Geschichte‘ im Sinne des Geschichtswerkes, also ihrer historiographischen Darstellung. Er rechtfertigt die Existenz der realen Geschichte durch eine Bestimmung der historiographischen Aufgabe. Dies ist nur scheinbar ein Kategorienfehler, denn es zielt in den Kern einer Geschichtsauffassung, die auf der ‚Ideenlehre‘ der philologisch-historischen Wissenschaften aufruht (vgl. Kap. I.2.3.). Geschichtsschreibung und Geschichte sind austauschbar, weil das reale Geschehen selbst eine sprachliche und damit auch erzählerische Struktur besitzt. Diese reale Geschichte in ihrem Verlauf und in ihrem Sinngehalt gälte es zunächst zu ‚lesen‘, um sie dann im Geschichtswerk adäquat zu gestalten. „Geschichtsverstehen“, so schreibt Daniel Fulda, ist
Ebd., S. VII. Zuerst in der Monatsschrift des vaterländischen Museums, Juni 1829; als Einleitung aufgenommen in Palacky, Würdigung, S. VII–XXIV; nach dieser Ausgabe die folgenden Zitate. Palacky, Würdigung, alle Zitate S. VIIf.
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„Textverstehen“; der Text der Geschichte ist deshalb intelligibel, weil er als sinnvoller Ablauf selbst eine Art Dichtung Gottes darstellt.¹⁹⁷ Palackys scheinbares Missverständnis birgt also die fundamentale Annahme einer Lesbarkeit der Geschichte. Auf ihr baut auch Stifter auf. An Heckenast meldet er emphatisch: „Die Weltgeschichte als ein Ganzes, auch die ungeschriebene eingerechnet, ist das künstlerischeste Epos.“¹⁹⁸ Die künstlerische Sinnhaftigkeit der Weltgeschichte fordert demnach geradezu den ihr entsprechenden menschlichen Geist, der sie im geschriebenen Werk zur Darstellung bringt. Allerdings scheint Stifter konsequenterweise kein historiographisches Werk als Ausdruck jener Weltgeschichte vorzuschweben, sondern eben jene historiographisch-poetische Urform des Epos, in deren Horizont er den Witiko stellt. Stifter insistiert gewissermaßen auf der spezifischen, historiographischen Leistung der Dichtung, die dem selbst epenförmigen Weltgeschehen eigentlich adäquat sei. Indem er einen gemeinsamen Boden von Historiographie und historischer Dichtung annimmt, will doch auch er die Geschichtsschreibung überbieten. Über das Begriffspaar von Form und Stoff versucht Stifter, diese Problematik der Erkenn- und Darstellbarkeit von Geschichte für sein Schreiben weiter zu klären: In allen meinen frühern Sachen habe ich den Stoff mehr oder minder aus mir selbst geboren, er floß daher samt seiner Form aus mir in die Feder. Hier aber ist der Stoff ein gegebener, die Personen und die Handlungen haben außer mir eine Berechtigung, und sind wirklich gewesen, sind in einer ganz bestimmten Form gewesen, und war jene Form die der Wirklichkeit, so muß die, in welcher ich sie bringe, die der Kunst sein, welche als Wirklichkeit erscheint, ohne es sein zu dürfen; denn die wirklichste Wirklichkeit jener Personen wäre in der Kunst ungenießbar. Gebe ich also meinem Stoffe die Form, so ist sie doch von mir ganz unabhängig, und hängt nur von dem Stoffe ab, ich muß sie finden, nicht erfinden. Das Finden macht mir aber oft große Freude, wie dem Naturforscher, wenn er unbekannte aber längst vorhandene Erscheinungen entdekt. Meine Geschichte war längst da, ich entdeke sie nur, und da arbeite ich mit einer Lust, die ich früher nie gekannt habe. Darum ist mir öfter, als hätte ich früher nur
Vgl. Fulda 1996, insbes. S. 331– 338, Zitat S. 335; Fulda geht hier von Ranke aus, er zielt auf den „geschichtswissenschaftliche[n] Historismus“. Insofern widerspricht meine Deutung derjenigen von Cornelia Herberichs, wenn sie schreibt, dass der „historiographische Diskurs“ bei und nach Palacky aufgrund der quellenkritischen Methode die „Bedingungen der Möglichkeit, auf mittelalterliche Wirklichkeit auszugreifen und die Vergangenheit anhand der Überlieferung getreu zu rekonstruieren“, in Frage stelle; dies.: Grenzen des Wissens. Übertragung mittelalterlicher Historiographie im Witiko. In: Gamper u. a. (Hrsg.) 2009, S. 137– 154, hier S. 139. Brief an Heckenast, 7. März 1860; PRA 19, S. 224. Die Formulierung von der Geschichte als Epos – und zwar als „Epopee Gottes“ – wurde prominent von Herder geprägt. Vgl. Gerhard vom Hofe: Geschichte als „Epopee Gottes“. Zu Herders ästhetischer Geschichtstheorie. In: Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder 1983. Hrsg. von Brigitte Poschmann. Rinteln 1984, S. 56 – 81.
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geschwärmt, und dichtete jetzt. Die Griechen hatten das Wort poieo für Dichten. Wie bezeichnend! Gestalten muss man machen, nicht Worte.¹⁹⁹
Die Niederschrift des Witiko erscheint Stifter als widerständig. Darin sei sie deutlich von seinen vorherigen Werken unterschieden. Während ein Stoff, den er selbst schuf, seine Form in diesem Akt gleich mit bekam, verhält es sich im Falle der historischen Erzählung anders. Der Stoff sei aufgrund seiner historischen Realität – die sich in Quellen dokumentiert – festgelegt. Personen und Handlungen waren wirklich und – um den Begriff aus dem oben zitierten Brief aufzunehmen – ‚lebendig‘. Und wie der selbst erfundene Stoff nicht unabhängig von einer Form realisiert werden kann, so besitzt auch der ‚Stoff‘ der historisch wirklichen Personen und Handlungen in der geschichtlichen Realität von sich selbst her eine solche Form. Stifter nennt sie die ‚Form der Wirklichkeit‘. Was er damit meint, expliziert er nicht. Aber die Vorstellung, dass sich die Wirklichkeit selbst in Stoff und Form zerlegen lasse, verweist auf jene Vorstellung von einer Geschichte, die als ‚reales Epos‘ von sich selbst her eine sprachliche, künstlerische Struktur besitze. Die Wirklichkeit in ihrem geschichtlichen Verlauf ist eine organische, werkhafte, sinntragende Ganzheit, die epische Dichtung aber ihr mögliches Analogon im menschlichen Geist. Wie sich dabei die Form der Wirklichkeit in das Werk übertragen lasse, darin bleibt Stifter inkonsistent. Einerseits bestimmt er, dass man sie im Kunstwerk nicht reproduzieren könne, gehorche es doch seinen eigenen Formgesetzen, denen des hergestellten Scheins von Wirklichkeit. Andererseits aber insistiert er, dass sich auch jene Form übertragen lassen müsse: Es gelte schließlich zu finden, nicht zu erfinden. Die Inkonsistenz der Argumentation nicht bemerkend, erscheint Stifter sein historisches Werk trotz allem als Produkt der Geschichte selbst, wie der Vergleich mit dem Naturforscher noch einmal bestärkt. Und entsprechend läuft der objektiv verstandene Gestaltungsakt nun nicht mehr auf ein bloß sprachliches Werk zu, sondern er versteht ihn als ‚Machen‘ im Sinne eines geradezu dinglichen Herstellens.²⁰⁰ Wer der sprachlich intelligiblen Wirklichkeit die ihr eigene Form
Brief an Heckenast, Januar 1861; PRA 19, S. 266. Stifter verwendet auch die Metapher der „Textirung“. Allerdings steckt hierin nicht die „auf der Ebene des Texts der Erzählung eher einer modernistischen Poetik zuzuschlagende Metapher von der Textur als künstlichem Gewebe“, wie Cornelia Zumbusch argumentiert (Der Gang der Geschichte. Historismus und genetisches Erzählen in Stifters Witiko. In: Schiller-Jahrbuch 51 [2007], S. 227– 251, hier S. 236). Wenn Stifter in dem betreffenden Brief schreibt, es fehle noch die „Textirung“ des „Organismus“, und der „Körper des Mittelalters“ bedürfe „keines Kleides mehr […], da ers schon anhat“, dann bleibt Stifter im Bild: ‚Textirung‘ leitet sich nicht vom ‚modernen‘ Textverständnis her, sondern dies ist schließlich selbst eine metaphorische Übertragung aus te-
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abzulauschen versteht, der schafft ein sprachliches Werk, dem selbst die Würde des Realen, Dinglichen zukommt. Der Argumentationssprung mündet in die emphatische Vorstellung von einer Dichtung, der als gemachtem Kunstwerk dieselbe Würde zukommt wie der Realität und der Geschichte selbst. „Meine Geschichte war längst da, ich entdeke sie nur“ (s.o.) – diese Stilisierung bringt Stifters Projekt in seiner enthusiastischen Zuversicht, aber auch in seiner ganzen Problematik auf den Punkt: Auf der Basis der philologisch-historischen Forschung und eines sich über die Individualität erhebenden Dichtens meint er, eine Erzählung schaffen zu können, die divinatorisch auf die Geschichte als eine verfügbare Realität zugreift. Dies ist kein Lapsus, wie andere Formulierungen aus den Briefen verdeutlichen. So schreibt er etwa an Heckenast, dass er im Witiko „nicht erfinden sondern finden kann wo das Ding eben schon besteht“.²⁰¹ Und auch das schon zitierte Verständnis der Weltgeschichte als Epos formuliert die gleiche divinatorische Zuversicht, die hier unmittelbar an den Artefaktcharakter der Geschichte selbst gebunden ist: „Die Weltgeschichte als ein ganzes, auch die ungeschriebene eingerechnet, ist das künstlerischeste Epos, und wenn Theile davon als Dichtung genommen werden, so sind sie am schönsten, wenn sie einfältiglich heraus gehoben […] werden.“²⁰² Hier zeigt sich nicht nur der gigantische Anspruch, den Stifter mit seiner historischen Dichtung verbindet, sondern auch ihre Beziehung zur Geschichtsschreibung Palackys. Wenn die Geschichte selbst eine intelligible Struktur hat, so ließe sich Palackys gründliche Darstellung aus der Fülle der verfügbaren Quellen als Werk deuten, das sich der Geschichte selbst mit den Mitteln der Geschichtsschreibung möglichst weit annähert. Die Orientierung an seinem Text, die redigierende Übernahme von Textpassagen wäre also eine Transformation des his-
xere, Weben, die Stifter hier rückgängig macht. Entscheidend ist aber, dass der Begriff der Textirung zu Stifters Zeit ein – besonders in Österreich gängiger – juristischer und auch philologischer Fachterminus ist, der die Formulierung eines Gesetzes beziehungsweise auch die Verschriftlichung einer historischen Chronik, einer Urkunde oder Dichtung (wie etwa das Nibelungenlied) bezeichnet. In allen diesen Fällen tritt die Vertextung gerade nicht in ein problematisches Verhältnis zum Gegenstand (Gedanke des Gesetzes, Historizität der Chronik, Stichhaltigkeit der Urkunde, Gehalt der Dichtung). ‚Textirung‘ bezeichnet vielmehr den neutralen Übergang in einen Text bzw. auch von einem Text in den anderen. Alle Facetten des Begriffs helfen Stifter also gerade bei der Formulierung seines Projektes einer sich selbst schreibenden Geschichte. Ein zeitgenössisches Beispiel für diese Begriffsverwendung: „Textiren: ein Gesetz; staviti zakon na pismo“ (also: ‚ein Gesetz in das Wort bringen‘). In: Juridisch-politische Terminologie für die slavischen Sprachen Oesterreichs. Hrsg. von der Commission für slavische juridisch-politische Terminologie. Deutschkroatische, serbische und slovenische Separat-Ausgabe. Wien 1853, S. 503. Brief an Heckenast, 8. Juni 1861; PRA 19, S. 283. Brief an Heckenast, 7. März 1860; PRA 19, S. 224.
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toriographischen Textes in einen dichterischen, der die Geschichte nun vollends zu fassen bekommt. Stifter behandelt Palacky, der sich mit seinem historiographischen Anspruch der „Wahrheit“²⁰³ der Geschichte annähert, als Referenz für ‚die Geschichte‘ selbst.²⁰⁴ Er baut auf ihm als einer Zusammenstellung des „Gerippe[s]“²⁰⁵ auf, um ihn dann aber hinter sich zu lassen. Durch die philologischhistorische Beschäftigung mit der Vergangenheit soll diese auf eine Dichtung hin überwunden werden, die nicht nur das Skelett der Fakten, sondern das Geschichtliche selbst erschließt. Darin wäre gleichzeitig die Problematik des zeitgenössischen, individuellen Dichters überwunden.
5 Kataloge und Wiederholungen – Epos als Geschichte, Geschichte als Epos Der ausführliche Blick auf Stifters Reflexionen zum Witiko verdeutlicht die gewaltigen Ansprüche und Dimensionen seines Projektes. So hybrid der Anspruch erscheint, die Geschichte selbst erkennen und darstellen zu wollen – Stifter geht gerade hier von einem Fundament aus, das er mit den philologisch-historischen Wissenschaften teilt: der Annahme einer Geschichte, deren Intelligibilität, Sinnhaftigkeit und Erkennbarkeit durch ihren göttlichen Ursprung gesichert ist. Und man darf nicht übersehen, dass seine ‚Erzählung‘ ihrem Anspruch gerecht zu werden versucht, indem sie auch in ihrer Durchführung einen genuin eigenen, faszinierenden Weg wählt. Stifters Projekt mag – aus moderner Sicht – von vornherein zum Scheitern verurteilt sein. Aber sein Witiko führt doch radikal die Aporien vor Augen, denen sich das zeitgenössische Geschichtsdenken insgesamt auszusetzen riskiert. Schon die mühevollen, wiederholten Bearbeitungen zeigen: Stifter musste sich in seinem Witiko erst von jenem ‚gebräuchlichen‘ historischen Roman freischreiben.²⁰⁶ In der neueren Forschung wird das Schreiben und Ändern oft als
Palacky, Geschichte, Bd. 1, S. VII. Zu einem ähnlichen Schluss kommen Birgit Ehlbeck: Zur poetologischen Funktionalisierung des Empirismus am Beispiel von Stifters Kalkstein und Witiko. In: Adalbert Stifter. Dichter und Maler, Denkmalpfleger und Schulmann. Neue Zugänge zu seinem Werk. Hrsg. von Hartmut Laufhütte und Karl Möseneder. Tübingen 1996, S. 455 – 475, hier S. 471 f.; Lach 2005, S. 430 – 432; Zumbusch 2007. S.o., S. 380. Vgl. den historisch-kritischen Apparat in HKG 5.4, außerdem den Kommentar S. 226 – 244; Alfred Doppler: „Der Organismus ist gegliedert, und es fehlt nur die Textirung“. Stifters poetische Verfahrensweise im Witiko. In:VASILO 29 (1980), S. 5 – 33;Wolfgang Wiesmüller: Die abgebrochene Korrektur. Zur Textgenese von Stifters Witiko als ‚Perfektionsdrama‘. In: Textgenese und Interpretation. Hrsg.von Adolf Haslinger, Herwig Gottwald und Hildemar Holl. Stuttgart 2000, S. 8 – 27;
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Beleg seiner Modernität gedeutet, als Zeichen dafür, dass hier ein Prozess der Schrift und der Zeichen zutage trete, der sich der Referenz verweigere.²⁰⁷ Angesichts seiner Reflexionen zum historischen Roman jedoch scheint Stifters Schreiben einen durchaus anderen Sinn zu haben. Um ihn zu erkennen, gilt es, die erzählerischen Besonderheiten des Witiko zunächst auf das Projekt zu beziehen: einen historischen Roman zu schreiben, der kein Roman ist, sondern ‚die Geschichte selbst‘. Neben der konsequenten Außensicht der Erzählung, auf die später zurückzukommen ist, wurde das zeitgenössische und spätere Publikum vor allem durch die Fülle an Nennungen und Wiederholungen irritiert, mitunter auch fasziniert. Gerade diese scheinbar funktionslosen Details überforderten, wie es scheint, so manchen Leser. Dies gilt nicht selten auch für die postmodernen Lektüren des Witiko: Da die Erzählung sich weigert, die erzählte Welt erzählökonomisch zu filtern und sie kommentierend zu erschließen, erschien sie vielen als Wald von bedeutungslosen Zeichen oder als ordnungslose Ornamentalik ohne Sinn. Gerade darin sah so mancher Interpret die ‚Modernität‘ des Romans.²⁰⁸ In der Tat strotzt der Witiko von scheinbar überflüssigen Nennungen von Dingen und Personen. Ein Beispiel mag das illustrieren. Als sich etwa vor der Schlacht um Prag die verschiedenen Landbesitzer im Lager des Herzogs Wladislaw versammeln, wird ihre jeweilige Ankunft genau verzeichnet: „Nach mehreren Tagen kam Rowno mit den Seinigen, und es kam Osel und Diet. Am Tage darnach kam der von Ottau und von Hora. Und drei Tage nach diesen kam der Župan Lubomir mit seinen Župenleuten, mit seinen Söhnen und mit den Leuten seiner Söhne. Boten meldeten, daß Wyhon von Prachatic und der von Winterberg und die anderen Waldleute, die weiter nach Mitternacht wohnten, sich in Časlau versammelt haben.“ (Witiko, S. 562) Wäre es – so mag man fragen – hier nicht ausreichend gewesen, wenn der Erzähler summarisch die Ankunft der Adligen und ihrer Leute vermeldet hätte, ohne dem Leser eine Fülle von Personen aufzubürden, die zum Teil nur an dieser Stelle auftreten? Wie ist dieses Verfahren zu ders.: Die Poetisierung historischer Quellen. Zum Realismus-Problem im historischen Roman am Beispiel von Adalbert Stifters Witiko. In: Realismus-Studien. FS Hartmut Laufhütte. Hrsg. von Hans-Peter Ecker und Michael Titzmann. Würzburg 2002, S. 117– 134. Hans-Joachim Piechotta: Aleatorische Ordnung. Untersuchungen zu extremen literarischen Positionen in den Erzählungen und dem Roman Witiko von Adalbert Stifter. Gießen 1981; Christian Begemann: Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren. Stuttgart 1995; darauf aufbauend auch: Wiesmüller 2000; ders. 2002. Außerdem beispielsweise: Veronique Croz: Erfahrung und Darstellung von Geschichte. Zum Problem der Form in Stifters Witiko. In: Ornament und Geschichte. Studien zum Strukturwandel des Ornaments in der Moderne. Hrsg. von Ursula Franke und Heinz Paetzold. Bonn 1996, S. 227– 243. So etwa ebd.
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deuten, das den Roman mit einer verwirrenden Vielzahl von Namen aufzuschwellen scheint? Es gilt, Stifters Verfahrens diesseits der blickverstellenden Kategorie von Modernität zu deuten. Einen ersten Hinweis dazu gibt er in seinem oben zitierten Brief über den historischen Roman und das Epos. An der Ilias bewundert er insbesondere, dass sich aus ihr nahezu alle Geschlechter der Griechen rekonstruieren ließen. Er selbst aber versucht, dem Witiko durch historische Forschung eine ähnliche genealogische Breite und Tiefe zu geben. Das Schwerste, so schreibt er, sei es, „die mit einer hervorragenden Person der Witkowece zugleich lebenden Glieder dieser Familie“ zu ergründen. Dieses für den „Geschichtsschreiber gleichgültige Ding, sobald es nicht öffentlich eingreift,“ sei „für den Dichter unentbehrlich.“²⁰⁹ Stifter überträgt seinen Ilias-Befund in den Produktionsprozess des Witiko. In der Namens- und Gestaltenfülle ahmt er das Epos nach. Sie sind Aspekte dessen, wie Stifters Werk nicht als interessengeleitete Dichtung aus individueller Perspektive erscheinen, sondern das historische Leben objektiv in seiner Fülle zur Darstellung bringen soll. Mit dem Moment der Genealogien, der Sättigung mit Personen- und auch geographischen Namen spricht Stifter ein Charakteristikum der epischen Überlieferung an, das ihre philologisch-historische Hochschätzung im 19. Jahrhundert mit begründete. Die Überlegungen der Grimms zum Verhältnis von Geschichte und Sage sind schon vorgestellt worden. Auch für die klassische Philologie war die Frage nach dem historischen Gehalt, der durch die homerischen Epen am Horizont der Frühzeit aufzuleuchten schien, zentral. Nicht zuletzt die Funktion des Gesangs und der Sänger in den Dichtungen selbst reflektiert diese Dimension.²¹⁰ In der ersten Rhapsodie der Odyssee bringt Phemios den Freiern in Ithaka die Heimfahrt der Achaier zu Gehör, einen hochaktuellen Stoff, der die Hörer selbst betrifft. Penelope, die Rückkehr ihres Gatten erwartend, wird tief bewegt. Am Hofe der Phaiaken dann berichtet der Sänger Demodokos der versammelten Gesellschaft zweimal Teile der Geschichte des Trojanischen Krieges.²¹¹ Er erinnert damit die Anwesenden an die Heldentaten. Der Sänger hat in der Fiktion die Funktionen der Mitteilung von Geschehenem und der Memoria. Auch die zeitgenössischen Diskussionen zu anderen prominenten Beispielen volksepischer (oder pseudo-volksepischer) Überlieferung heben diesen
Brief an Heckenast, 31. Mai 1860; PRA 19, alle Zitate S. 241. Vgl. Martin Vöhler: Vom Sänger zum Rhapsoden. Zum historischen Wandel ästhetischer Erfahrung. Online in: Ästhetische Erfahrung. Gegenstände, Konzepte, Geschichtlichkeit. Hrsg. vom Sfb 626. Berlin 2006: http://www.sfb626.de/veroeffentlichungen/online/aesth_erfahrung/ aufsaetze/voehler.pdf [Sichtung am 16. Feb. 2012]. Odyssee 8, VV. 62 ff. und VV. 499 ff.
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Punkt heraus. Die Memoria ist etwa auch eine zentrale Aufgabe des schottischen Barden, wie er, nicht zuletzt an Macphersons ‚Ossian‘ orientiert, in Walter Scotts Romanen erscheint. Die Aufgabe des Hochlandbarden „Mac-Murrough“ etwa besteht im Waverley darin, „to recite many proper names, to lament the dead, to apostrophize the absent, to exhort and entreat and animate those who were present.“²¹² Bald darauf wird dies auf den Punkt gebracht: Die Barden sind gleichzeitig die „poets and historians of their tribes“.²¹³ In der Ilias, die Stifter sich zum Vorbild gewählt hat, stellt der Schiffskatalog einen besonders ausgestellten Gegenstand für die Diskussionen um die historische Funktion des Epos dar. Neben den immer wieder reichlich berichteten Genealogien der Helden und dem Nereidenkatalog mag sich Stifter in seiner HomerDeutung wohl auch auf ihn beziehen. In der zweiten Hälfte der zweiten Rhapsodie listet die Ilias bekanntlich die Schiffe, Geschlechter und Führer auf, die am Strand von Ilion eingelaufen sind. In 265 Versen werden 29 Truppenkontingente mit 43 Anführern benannt und auf einer Landkarte von 187 geographischen Orten verteilt. Die Streitmacht beträgt 1186 Schiffe.²¹⁴ Die Eigenart dieser Passage hebt der Musenanruf an ihrem Beginn heraus. Der Dichter bittet die Musen, ihm die Zahlen, Schiffe und Krieger zu künden.²¹⁵ Da sie alles sehen und bezeugen, können nur sie genaue und verlässliche Angaben über die Streitmacht der Achaier vermitteln. Die menschliche Überlieferung würde dagegen – ohne Schrift – nur unzureichend, gerüchthaft ausfallen. Der Sänger erbittet nicht die Fähigkeit des Gesangs, sondern verlässliches, historisches Wissen.
[Scott], Waverley, Bd. 1, S. 312. Ebd., S. 330. Der Leser erhält hier gemeinsam mit dem Helden eine Einführung in die schottische Volksdichtung. Willibald Alexis schildert diese Zusammenhänge in der historischen Einleitung zu seiner Übersetzung von Scotts Lady of the Lake (ders.: Hochschottland und sein Nationaldichter. In: Walter Scott: Die Jungfrau vom See. Ein Gedicht in sechs Gesängen von Walter Scott. Zwickau 1822, hier Bd. 1, S. V–XXXII, hier S. XXIV). Die Zahlen in: Homers Ilias. Gesamtkommentar. Bd. II.2. Hrsg. von Joachim Latacz, Kommentar von Claude Brügger, Magdalene Stoevesandt und Edzard Visser. München, Leipzig 2003, S. 146. „Sagt mir anitzt, ihr Musen, olympische Höhen bewohnend, / Denn ihr seid Göttinnen und wart bei allem und wisst es; / Unser Wissen ist nichts, wir horchen allein dem Gerüchte: / Welche waren die Fürsten der Danaer und die Gebieter? / Nie vermöcht ich das Volk zu verkündigen oder zu nennen, / Wären mir auch zehn Kehlen zugleich, zehn redende Zungen, / Wär unzerbrechlicher Laut und ein ehernes Herz mir gewähret, / Wenn die olympischen Musen mir nicht, des Aigiserschüttrers / Töchter, die Zahl ansagten, wieviel vor Ilios kamen.“ Ilias 2, VV. 484– 494; Übersetzung von Voss.
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Der geschichtliche Wert des Schiffskatalogs war im 19. Jahrhundert freilich umstritten.²¹⁶ Für Wolf beispielsweise sind die Verse „eine historische Urkunde, ein historisches Stück auf die alte Art vorgetragen und an poëtische Ausschmückung ist nicht zu denken“ – sie seien ein „Geschichtsgesang“.²¹⁷ Verwiesen die Skeptiker auf zahlreiche Interpolationen oder deuteten den Katalog aufgrund der minderen poetischen Qualität als späte Einschaltung, so galt anderen gerade dies als Zeichen historischer Überlieferung,²¹⁸ was auch gestützt zu werden schien durch das Vertrauen, das die späteren Griechen, prominent Thukydides,²¹⁹ in den Schiffskatalog als historisches Dokument setzten. Heinrich Schliemanns Ausgrabungen in Hisarlık verschafften der historischen Seite der Debatte neues Material, das bis heute nicht erschöpft ist. Entsprechend ist die Frage nach dem Verhältnis von Fiktion, Sage und Geschichte insbesondere beim Schiffskatalog auch gegenwärtig noch nicht abschließend beantwortet.²²⁰ Deutlich jedoch ist, dass er innerhalb des Epos selbst eine historisch beglaubigende Funktion besitzt. Dieses gibt vor, keine bloße Erfindung zu berichten, sondern es passt seine Geschichte minutiös in die mythologischen Genealogien und eine (z. B. durch den Schiffskatalog erschließbare) reale griechische Geographie ein.²²¹ Der Schiffskatalog bildet ein Modell für das, wovon Stifter so fasziniert ist: aus der Ilias die Genealogien der Griechen nachzeichnen zu können und auch die griechischen Landschaften, die die Liste zusammenträgt, in der historischen Tiefe
Vgl. den Überblick bei Joachim Latacz: Troia und Homer. Der Weg zur Lösung eines alten Rätsels. Leipzig 52005, S. 255 – 289. Die Deutungsgeschichte bei Edzard Visser (Homers Katalog der Schiffe. Stuttgart, Leipzig 1997, S. 16 – 48) ist instruktiv für die Situationen in der Antike und nach 1870, ausgespart wird leider der hier interessierende Zeitraum. Wolf bewertet den Schiffskatalog ausführlich in seinen Vorlesungen zu den ersten vier Gesängen der Ilias (hrsg. von Leonhard Usteri. 2 Bde. Bern 1830 – 1831, Bd. 2, S. 74 f.). Er behandelt ihn als einen unabhängigen Gesang, nicht nur aufgrund seines „schlicht[en]“ Stils „ohne poëtische Parade“, sondern auch wegen des eröffnenden Musenanrufs VV. 484 ff. Vgl. etwa Hermann Ulrici, Geschichte, Bd. 1, S. 297; Johann Uschold: Geschichte des Trojanischen Krieges. Stuttgart 1836, S. 23 f. Thukydides, Peloponnesischer Krieg I, 3 – 10. Vgl. zuletzt die große Untersuchung von Visser (1997) und, aufgrund wiederum neuer archäologischer Funde, den Ilias-Gesamtkommentar (Latacz 2003, S. 140 – 246), außerdem Latacz 2005. Der Schiffskatalog nimmt entsprechend seiner Eigenart in der jüngsten Kontroverse um das Verhältnis von Troja und Ilias eine Schlüsselstellung ein. Latacz vertritt aufgrund neuer archäologischer Funde die These, der Katalog – und damit die Troja-Geschichte – stamme aus Mykenischer Zeit und spiegle die damaligen Siedlungsgebiete wider. Auf einer ganz neuen Basis bestätigt sich hier auch die Auffassung von Namen als konstanten Informationskernen (freilich nicht unbedingt Trägern von historischer Information) bei mündlicher Überlieferung: ebd., S. 309 f. Vgl. zur Geographie ebd., S. 256 – 289.
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unterschiedlicher Geschlechter rekonstruierbar werden zu lassen. Hier scheint das Epos seinen alten Sinn preiszugeben: Neben der mythischen und religiösen scheint es vor allem eine historische, memorierende Funktion zu besitzen. Der Schiffskatalog würde demnach die Anwesenheit von Individuen am Ort eines gleichzeitig beschriebenen Geschehens bezeugen und überliefern. Und er täte dies nicht primär, um ‚schön‘ zu klingen oder lediglich eine ‚gute Geschichte‘ zu erzählen, sondern weil seine Aufgabe in der Tradierung dessen bestünde, was in der vergehenden bzw. vergangenen Zeit bemerkens- und erinnernswert ist. Darstellung und Memorierung wären identisch.²²² Die beispielhaft zitierte Passage des Witiko gibt ihre Funktion preis vor dem Hintergrund dieser Sicht auf das Epos. Am Ort der Schlacht treffen bei Stifter nicht lediglich ‚Landbesitzer‘ ein; sondern die Erzählung ist eigentlich erst vollständig, wenn sie die Namen derer nennt, die zu diesem Zeitpunkt an diesen Ort kommen, wenn sie Rowno, Osel, Diet, Lubomir und all die anderen nennt, zudem noch ihr Gefolge und ihre Söhne (vgl. Witiko, S. 562). Stifter verfährt analog zur Ilias. Die Listen und Nennungen reklamieren jene ursprüngliche Funktion von Dichtung als Bewahrung und Überlieferung von Wirklichkeit in einer Zeit, in der die Schrift entweder noch nicht vorhanden oder aber für bestimmte Akte reserviert war. Der Sinn seiner Kataloge und Namensnennungen läge in der Simulation einer historischen Memoria: Ein Geschehen, eine Person, ein Held, eine Tat wird durch die Herausnahme aus dem Vergessen festgehalten und geehrt. Dadurch erweckt der Text den Eindruck, dass er mehr als ‚bloße‘ Dichtung sei. „‚Wer ein großes tut, dessen Name soll in Ewigkeit genannt werden‘“ (Witiko, S. 503), so bringt Witiko selbst im Roman die Bedeutung dieser Geste auf den Punkt.
Angesichts der Präsenz von Katalogen und Wiederholungsstrukturen in alter Überlieferung (ihre Bedeutung betont etwa Jack Goody: The Domestication of the Savage Mind. Cambridge 1977, S. 74– 111), angesichts auch ihrer historischen und literaturgeschichtlichen Reflexion seit dem 19. Jahrhundert ist es verwunderlich, wie in der Forschung mitunter die Rede sein kann von „katalogartigen Aufzählungen, Serialität und Wiederholungen“ als „überraschend[en]“ und spezifisch „modernen Schreibweise[n]“; Zumbusch (2007, S. 230) etwa formuliert dies in Bezug auf den Band Historismus und literarische Moderne (Hrsg. von Moritz Baßler, Christoph Brecht, Dirk Niefanger und Gotthart Wunberg. Tübingen 1996). Gerade diese Schreibweisen sind als Schreibbzw. Dichtungsweisen jedoch nicht modern. Die Modernität entsteht durch ihren Import in eine dezidierte Schriftkultur mit einem autonomen literarischen Diskurs. Noch der neuere ArchivDiskurs in Bezug auf die sogenannte Pop-Literatur (Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München 2002) zielt, sich dessen unbewusst, auf einen ganz ähnlichen Punkt, wie er in Bezug auf die alten Dichtungen gemacht werden kann: Das ‚Markenarchiv‘ der Popliteratur memoriert, zur Wiedererkennungsfreude gegenwärtiger und zukünftiger Leser, Namen und Realien der Lebenswelt.
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Die ausgreifende Nennung und Katalogisierung bildet ein durchgehendes Mittel des Witiko. Daher benennt die Erzählung etwa auf dem Wyšehrad alle nacheinander auftretenden Sprecher, stattet sie scheinbar monoton mit – farblich unterschiedlichen – Hüten und Federn aus, berichtet ihre Rede, ohne auch nur einen Moment der erzählten Zeit summierend oder paraphrasierend zu überspringen. Die unterschiedlichen Kombinationen von Hut und Feder sind dabei jedoch nichts weniger als ununterscheidbar.²²³ An ihnen erkennen sich ihre Träger – wenn der Leser deren Semiotik nicht versteht, so tun es doch die Böhmen selbst.²²⁴ Die Ausführlichkeit der Darstellung der Personen und ihrer Reden gründet im (fiktiven) Faktum ihrer bloßen Anwesenheit auf dem Wyšehrad: Die Teilnahme an der Versammlung, die Worte und Reden der Anwesenden haben politisch eine herausragende Bedeutung; sie sind in der Situation der Fürstenwahl Handlungen, die die Geschicke des Landes im Tiefsten betreffen. Die Wichtigkeit der Situation rechtfertigt die Nennungen und Berichte.²²⁵ Der Witiko unterzieht nach den Schlachten am Berg Wysoka und um Prag sein Verfahren der Namensnennung einer mehrfachen historischen Reflexion. Nach dem ersten Tag der Belagerung der Stadt verlangt Diepold, der Bruder des Herzogs Wladislaw, die Namen der im Kampf Gefallenen zu erfahren. Diejenigen, von denen die Anwesenden wissen, werden aufgezählt: „Budilow, ein reicher Wladyk aus den Fluren von Gradec, hatte sein Leben verloren, so auch Wat, ein Leche aus den Gebirgen an Polen, der mit seinen Leuten unter Jurik gestanden war, so der Wladyk Kuneš aus dem Abende des Landes, so Izzo von Tynec, Welich von Suchomast, Radoslaw von Bezno, Welkaun von Jesenic“ (Witiko, S. 330). Diepold ordnet daraufhin an, dass ein genaues Verzeichnis der Toten angefertigt werde. Er benennt die Funktion dieses schriftlichen Dokumentes: Es dient den Verhandlungen mit den Angehörigen, indem es am Ort selbst festschreibt, wer im Kampf für den Herzog sein Leben verloren hat. Das Verzeichnis ist ein für die Abwicklung des kriegerischen Geschehens unerlässliches Dokument.
So jedoch Croz 1996, S. 241. Witiko erläutert die Tracht der Böhmen, indem er sie in ihrer Kargheit gegen die höfische Pracht der Österreicher verteidigt (vgl. Witiko, S. 506). Ironischerweise stellt Palacky für das Böhmische Volksleben im Heidenthume fest, dass „Form und Schmuck der Kappe oder Mütze (čepec) […] sich nicht näher angeben“ ließen (Geschichte, Bd. 1, S. 188). Dies müsste gerade unserer gegenwärtigen Zeit einleuchten: Werden doch schließlich bedeutende Ereignisse stets in ihrer gesamten Ausdehnung auf diversen Fernsehkanälen live übertragen. Stifter inszeniert nichts anderes als die live-Übertragung eines vergangenen Ereignisses ohne Kommentator. Er weigert sich dabei, zu tun, was gemeinhin nach solchen Übertragungen geschieht: die besten Szenen herauszuschneiden und das nun vergangene Geschehen im wissenden, anachronistischen Rückblick filternd in die ‚Geschichte‘ einzuordnen.
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Aber die Sammlung und Nennung der Namen bekommt hier noch eine andere Bedeutung. Nach der ersten Schlacht am Wysoka redet Witiko seine Krieger an.Vor dem Dank an sie führt auch er die Rede auf die Toten: „Lasset uns zuerst von denen sprechen, die selber nicht mehr sprechen können.“ (Witiko, S. 272) Um sie zu ehren, nennt er ihre Namen. Dies ist nun kein Verwaltungsakt, sondern dient innerhalb der Fiktion der Memorierung ihrer Taten und ihres Todes, von denen die Angehörigen unterrichtet werden sollen; können diese doch nicht anders von den Umständen des Todes erfahren als durch die Berichte von Heimkehrern. Sie sind auf Augenzeugen angewiesen, um zu wissen, was geschehen ist. Witiko perspektiviert auch das weitere ‚Nachleben‘ der Erinnerung, die er durch sein Gedenken auslöst: „‚die Geschichten werden von ihnen Reden. […] Andre Enkel werden die Tat den Urenkeln, und diese sie andern Urenkeln erzählen.‘“ (Witiko, S. 272 f.) Seine Rede, die das Wissen von den Gefallenen versammelt und an die Angehörigen weitergibt, tritt in der weitgehend schriftlosen Gesellschaft an die Stelle der Geschichtsschreibung. Er schafft durch seine Namensnennungen bewusst eine Überlieferungskette, die sich ausdrücklich auf die Nachwelt richtet. In Witikos Ansprache könnte der Keim liegen für ein Lied von den Kämpfen am Wysoka, das den Späteren als einzige Überlieferung von den genannten Helden berichtet. Die Erzählung reflektiert hier die historiographische Funktion von mündlicher Überlieferung und damit auch der Gattung, die sie selber bedienen möchte: des Epos.²²⁶ Die geschilderte Gegenwart aber beschreibt mit der Ursituation und dem Verfahren der historischen Überlieferungskette die ‚eigentliche‘ Realität, auf die dieses fiktive Lied sich – durch alle Umformungen einer mündlichen Tradierung hindurch – zurückbeziehen würde. Später, in einer Rede vor dem König, antizipiert Witiko diese Genese eines Epos aus Taten:
Stifter mag hier an die epischen Lieder der Königinhofer Handschrift denken, die von Helden und Schlachten berichten – auch wenn in den zeitgenössischen Datierungsversuchen der in Wirklichkeit gefälschten Dichtungen keines der Lieder in der eigentlichen ‚Witiko-Zeit‘ verankert wird. Aber die Kommentare Wenceslaw Swobodas deuten die Lieder, wie für die Interpretation der Volksüberlieferung üblich, als Spuren von Geschichte: „[W]ichtiger sind die erhabenen Heldenlieder, […] weil sie mit aller, wie angeborenen Herrlichkeit dichterischer Darstellung und mit der reinsten Gluth der Vaterlandsliebe den Vorzug verbinden, sich auf höchst wichtige Landesbegebenheiten und Heldenthaten zu gründen, die sich bis in die ersten Zeiten der nicht unblutigen Bekehrung der Čechen nachweisen lassen.“ Vgl. Königinhofer Handschrift. Sammlung altböhmischer lyrisch-epischer Gesänge, nebst andern altböhmischen Gedichten. Aufgefunden und hrsg. von Wenceslaw Hanka, verteutscht und mit einer historisch-kritischen Einleitung versehen von Wenceslaw Aloys Swoboda. Prag 1829, S. 2. Freilich hat es Hanka, der Urheber der Fälschung, genau darauf abgesehen und die Lieder, entsprechend der zeitgenössischen Epostheorie, offensichtlich mit den überlieferten Quellen verwoben.
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‚Ich rede noch von einem Dinge, das bei Menschen groß und erhaben ist, und über ihre Länder und ihr Leben hinaus reicht, von dem Ruhme. Wenn ein Mann das Höchste tut, das preiswürdig ist, wenn viele Männer, wenn ganze Völker das Höchste tun: so kömmt es in den Mund der Menschen, sie erzählen es, sie preisen es, einer sagt es dem andern, und wieder sagt es einer dem andern, und dann kömmt es in die Lieder, und die Lieder und die Erzählungen tönen in allen Zungen der Völker, und die das Große getan haben, sind in der Liebe und Bewunderung der Menschen, und ihre Ehre und ihre Macht wächst gegen die Wolken empor. Und die Menschen haben die Kunst erfunden, ihre Worte in Buchstaben zu legen, die dauern, und durch diese Erfindung und durch das, was noch erfunden werden wird, lebt der Ruhm fort, wenn die, welche Großes verübt haben, längst schon vor dem Throne Gottes sind. So haben schon Männer vor uns aufgeschrieben,was geschehen ist, und so schreiben Männer jetzt auf, was geschieht. Und das wirkt in die Zeiten; denn die Worte sind so mächtig, daß sie alles bewegen, wie das feste Recht der Taten die Menschheit gestaltet. […] Und wenn wir in dem schönen Lande [Italien] siegreich die Ordnung und das Recht wieder einführen geholfen haben, und der Übermut zu unsern Füßen geworfen ist, so kömmt unser Land in die Erzählungen von weiten Völkern, weil es vor weiten Völkern gehandelt hat, und es kömmt in die Lieder und Schriften, und durch sie in die folgenden Zeiten, und unser Volk ist geachtet und stark unter den Völkern. Und daß es geachtet und stark bleibe, müssen wir einig sein, daß nicht jeder nach einem andern Sinne geht. […]‘ (Witiko, S. 815)²²⁷
Das hypostasierte Lied und der vorweggenommene Ruhm fordern gleichzeitig zum Feldzug nach Italien auf. Friedrich Schlegel und Ludwig Uhland hatten solche Prozesse innerhalb der Rolandsüberlieferung imaginiert.²²⁸
6 Mündlichkeit und Schriftlichkeit Stifters Poetik der Nennungen rekurriert auf ein Modell von Dichtung und historischer Überlieferung, das nicht schriftlich, sondern genuin mündlich ist. Auf die mündliche Tradition gründet sich schließlich auch die historiographische Bedeutung des Epos, dieses zentralen Resonanzraums seiner Konzeption. Mit dem 12. Jahrhundert wählt Stifter dabei eine Zeit, in der das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit ein anderes war als in seiner Gegenwart. Sie ist wegen der nur sehr eingeschränkt verwendeten Schrift überlieferungsarm. Dies konstatiert auch Palacky, der auf seinen ausgedehnten Archivrecherchen bemerken muss, dass aus dem 9. und 10. Jahrhundert nur vier Urkunden, aus dem 11. Jahrhundert gar „kaum ein ächtes Original“ bekannt sei. Erst ab der Mitte des 12. Angesichts der durchgehenden Präsenz dieser Figur im Witiko kann man Lach (2005, S. 438 f.) widersprechen, wenn er sagt, dass erst hier, angesichts Italiens, die Kategorie des Ruhms und das Verhältnis von Dichtung und Geschichtsschreibung in den Roman eindrängen. Vgl. Kap. II.3.4. und III.3.3.
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Jahrhunderts²²⁹ werde die Ausbeute ergiebiger – also nach dem Zeitpunkt, an dem Stifters Roman einsetzt. Andere historische Romane blenden die nicht zuletzt in der überwiegenden Mündlichkeit gründenden Probleme der Überlieferung üblicherweise aus. Entweder sie ironisieren die Rolle von schriftlichen Quellen, wie etwa Hauff es im Lichtenstein tut, wenn er feststellt, dass die „Sage“ nicht berichte, ob der Held Georg von Sturmfeder „auf der hohen Schule in Tübingen […] in Wissenschaften viel getan“, wohl aber, „daß er einem Fräulein von Lichtenstein […] wärmere Teilnahme schenkte, als den Lehrstühlen der berühmtesten Doktoren“.²³⁰ Eine andere, verbreitete Option des historischen Romans ist es, einen Anachronismus des Verschweigens zu begehen: Die Figuren werden einfach mit Wissen von fernen Zeiten und Orten ausgestattet, ohne dass die Problematiken der Nachrichtenübermittlung und der historischen Überlieferung in überwiegend mündlichen Gesellschaften thematisiert würden. Stifter dagegen verzeichnet im Witiko die Rolle der Schrift mit einer Aufmerksamkeit, die von intensivem Nachdenken und einer philologischen Reflexion über das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit zeugt.²³¹ Die Erzählung markiert immer wieder ausdrücklich die Rolle des ‚Pergamentes‘. Dieses dient fast ausschließlich der Fixierung und Überlieferung von besonders wichtigen Handlungen und Akten. Beispielsweise ist es das Medium der zeitgenössischen Geschichtsschreibung. Sowohl Wladislaw, der spätere Herzog, als auch Načerat verweisen auf die böhmische Urgeschichte, wie sie auf dem Pergament festgehalten sei.Wladislaw nennt die von der Urzeit bis 1025 reichende Chronik des Cosmas beim Namen (vgl. Witiko, S. 67). Načerat bezieht sich ebenso auf die Geschichte, die in lateinischen Worten geschrieben stehe. Auch er kann damit nichts anderes als jenes Werk im Sinn haben (vgl. Witiko, S. 131). Beide Charaktere bedienen sich der Überlieferung des Cosmas, wenn sie in ihren Reden den Verlauf der böhmischen Geschichte rekapitulieren. Bei dem Feldzug Friedrichs I. im dritten Teil ist der reale Chronist Vincenz von Prag zugegen. Sein überliefertes Werk beginnt im Jahre 1140, und es enthält einen recht detaillierten Bericht über den Krieg gegen Mailand. Neben der chronikalischen Überlieferung dient die Schrift der Fixierung von politisch-rechtlichen Entscheidungen. Teil der Handlung im Witiko ist an verschiedenen, politisch bedeutsamen Stellen die Verfertigung von Urkunden. Als schriftliche Dokumente haben sie rechtsetzenden Charakter. Auf dem Wyšehrad
Palacky, Geschichte, Bd. 1, S. VIf. Hauff, Lichtenstein, S. 20. So auch Herberichs 2009, S. 141– 144.
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werden nicht die Verhandlungen, wohl aber das Ergebnis der Herzogwahl „‚in die Pergamente eingetragen‘“ (Witiko, S. 134). Später, als der Herzog Wladislaw den Krieg beenden will, indem er die gegnerische Partei zur Unterwerfung auffordert, setzt die Verhandlung ausführlich das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit im politischen Prozess in Szene. Wieder handelt es sich um eine Passage, die gern herangezogen wird, um die Wiederholungen und Redundanzen des Witiko zu illustrieren. Die Beurkundung, die vor den versammelten Heerführern in Wladislaws Zelt stattfindet, nimmt, entgegen dessen Mahnung zur „Eile“ (Witiko, S. 563), mehrere Seiten in Anspruch. Hier wird deutlich, welche Fülle von Akten der Niederschrift eines urkundlichen Wortes vorausgeht, sich gewissermaßen in das Geschriebene konzentriert.Wladislaw hatte zuvor Boten zu Konrad geschickt. Nun lässt er Gervasius vortreten und bittet ihn, die überbrachte Botschaft zu wiederholen. Dieser nennt den genauen Wortlaut. Die Wiederholung des Überbrachten ist alles andere als überflüssig.²³² Nur so kann der Herzog prüfen, ob das Gedächtnis des Boten die Botschaft nicht verfälscht hat. Darauf bittet der Herzog die anderen Gesandten, die Gervasius begleitet haben, zu bezeugen, dass dieser die Worte auch in ihrem ursprünglichen Wortlaut vorgebracht hat: ‚Ich habe die Worte gehört‘, sprach Zwest. ‚Ich habe die Worte gehört‘, sprach Wecel. ‚Ich habe die Worte gehört‘, sprach Zdeslaw. ‚Ich habe die Worte gehört‘, sprach Bohuslaw. ‚Ich habe die Worte gehört‘, sprach Casta. (Witiko, S. 564)
Diese scheinbar hypertrophe Wiederholung dient einem konkreten, in der Situation mündlicher Botenschaft unerlässlichen Zweck. Denn das Zeugnis der Begleiter versichert den Herzog, dass die Botschaft nicht nur richtig memoriert, sondern auch korrekt überbracht worden ist.²³³ Die fünffache Bestätigung durch die namentlich genannten Männer ist ein wichtiger Akt, hängt doch von der richtigen Übermittlung der Botschaft nicht weniger ab als die Entscheidung über Krieg und Frieden. Nun ist der erste Teil des Verfahrens abgeschlossen. Es folgt eine entsprechende Prüfung der Antwort, die Konrad den Gesandten gegeben hat.
Sie ist auch ein prominentes Merkmal in der epischen Dichtung; beispielhaft sei nur auf Ilias 4,VV. 192– 197 und VV. 204– 207 verwiesen: Der Herold Talthybios bekommt hier den Auftrag, den Arzt zum verletzten Menelaos zu rufen. Auch die Bezeugung von Botschaften ist Bestandteil der epischen Überlieferung: vgl. z. B. Ilias 9, wo Odysseus Agamemnon eine Botschaft des Achill überbringt und schließt: „[…] auch diese bezeugen es, welche mir folgten, / Aias und beid’ Herolde zugleich, die verständigen Männer.“ (VV. 688 f.).
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Gervasius nennt den Wortlaut, und wieder bezeugt jeder seiner fünf Gesandten mit identischen Worten: „‚Er hat sie gesagt‘“ (Witiko, S. 564). Erst als alle sie bestätigt haben, werden die Worte Konrads auf das Pergament gebracht: ‚Hast du die Worte geschrieben?‘ fragte Wladislaw. ‚Ich habe sie geschrieben‘, antwortete Bartholomäus. (Witiko, S. 564)
Den mündlichen Prozess der Überbringung und Prüfung der Botschaften sieht man den schriftlich fixierten Worten nicht mehr an. Aber als solche verleihen sie dem Dokument ein Gewicht, das hinreicht, um, aufgrund der ungünstigen Antwort Konrads, den Krieg weiterzuführen.²³⁴ Die Prüfung von Botschaften und Zeichen durch die mehrfache Bezeugung trägt nicht wenig zu den Wiederholungen im Text bei. Dieses Verfahren zielt nicht darauf, eine „Magie des Benennens“ zu zelebrieren.²³⁵ An der zitierten Stelle dient sie einem spezifischen Zweck. Der Witiko führt hier vor, wie weitreichende und im eigentlichen Sinne ‚geschichtliche‘ Ereignisse im historisch fremden Raum der überwiegenden Mündlichkeit zustande kommen. Und dies ist nur konsequent in einer historischen Erzählung, die geschichtliche Prozesse in einer Zeit schildert, in der beispielsweise Identitäten von Personen und die Authentizität von Nachrichten nicht anders als durch Zeugenschaft, aufgrund des Leumunds oder der Feststellung von Glaubwürdigkeit mittels Befragung geprüft werden können. Es sind solche Beschreibungen, die den Leser der historisch fremden Welt ausliefern. Sie sollen nicht durch unnötigen Überfluss auf die Ornamentalik eines sinnlos gewordenen Schreibens oder die Entfremdung von Zeichen und Bezeichnetem hinweisen. Gerade die Wiederholungen enthalten eine philologischhistorische Reflexion, die Stifter in seinen Roman einfließen ließ.²³⁶ Sie zeigen, dass er die zeitgenössischen Überlegungen zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit wahrgenommen hat.²³⁷ Ihr Irritationspotential belegt die Konse-
Analoge Szenen etwa Witiko, S. 385 und S. 529. So Ehlbeck 1996, S. 470. Modelle für Urkunden, die Stifters philologische Phantasie angeregt haben könnten, fand er bei Erben, Regesta; vgl. Anm. 188. Johannes John (2009, S. 163 – 169) verweist mit Blick auf Stifters späten Stil überzeugend auch auf seine amtliche Tätigkeit und die teils umfangreichen Protokolle und Berichte, die er anfertigen musste. Die Orte der Schriftlichkeit in der Handlung werden präzise bestimmt. Wladislaw, der aufständische Sohn Soběslaws, lässt die Namen seiner Verbündeten und ihre jeweiligen Belohnungen ebenfalls urkundlich auf „Papier“ fixieren (Witiko, S. 237 und S. 346). Später werden die „untergeordneten“ Krieger verzeichnet, die nach der ersten Schlacht am Wysoka nicht mehr an der Verteidigung Prags teilnehmen, damit die Belohnungen entsprechend dem Verdienst verteilt
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quenz, mit der Stifter, wie er in einem seiner Briefe schrieb, für sich und den Leser die Gegenwart ausschalten wollte. Er konstruiert ein auf Authentizität setzendes, geschichtliches Leben ‚hinter‘ den Quellen und der Überlieferung.
7 Das kommende Lied – Stifters ‚Nibelungenforschungen‘ Im Rekurs auf das Epos und seine zeitgenössischen Theorien zeigt Stifter ein genuin philologisches Bewusstsein für unterschiedliche Verfahren und Wege von Traditionsbildung. Konsequenterweise verwebt er auch das ‚deutsche‘ Epos par excellence, das Nibelungenlied, und den zeitgenössischen Minnesang in seine Erzählung.Witikos Aufenthalt in der Burg des Markgrafen von Österreich öffnet die Perspektive auf die dichterische Kultur des Mittelalters, wie sie in der wirklichen Überlieferung auf Stifters Gegenwart gekommen ist. Hier setzt der Roman seine Reflexion zu den historiographischen Funktionen von Dichtung unmittelbar fort. Der Kürnberger berichtet dem Helden, dass insbesondere die bei der Belagerung kämpfenden Frauen Gertrud und Dimut jetzt „in dem Munde aller Sänger an dem Hofe ihres Bruders Heinrich“ (Witiko, S. 503) seien. Witiko befürwortet das: „‚Das geschieht mit Recht […] wer ein Großes tut, dessen Name soll in Ewigkeit genannt werden.“ (ebd.) Auch hier stehen, wie in der Rede über die Gefallenen, Name und Tat im Zentrum einer Perspektivierung auf die Nachwelt. Sie bilden in Witikos Auffassung ganz unverstellt den historischen Kern, von dem her sich eine Dichtung erst entwickeln soll. Das Nibelungenlied wird in eine genaue Analogie dazu gebracht. Witiko trifft am Österreichischen Hofe ebenfalls auf Heinrich von Ofterdingen. Dieser war von den Schlegels als wahrscheinlicher Autor der vorliegenden Form des Epos vorgeschlagen worden. Stifter kannte August Wilhelms schon genannten Aufsatz im Deutschen Museum gut, druckt er doch einen Teil davon in seinem Lesebuch ab.²³⁸
werden können (Witiko, S. 293). Darauf werden die Namen verkündet (Witiko, S. 300).Wie schon an anderer Stelle erwähnt, werden die Verletzten (Witiko, S. 377) und die Toten (Witiko, S. 330) ebenfalls festgehalten, damit später Entlohnung und Kompensation erfolgen können. Schriftliches dient der Organisation der Kämpfenden, als Gedächtnisstütze und gleichzeitig als beurkundendes Dokument. „Papier“ wird auch zur Nachrichtenübermittlung in bestimmten Fällen eingesetzt: Eine vom Kastellan geschriebene Note begleitet das Geschenk Adelheids an den schriftkundigen Witiko (Witiko, S. 160). Der Kastellan selbst schickt ihm auch einen Zettel (Witiko, S. 161). Der Leser erfährt weder dessen Inhalt noch Witikos Antwort darauf (Witiko, S. 161 f.). Schließlich wird die Rolle der Schrift bei der Slavenmission Kyrills und Methods genannt (Witiko, S. 347). Vgl. oben, Anm. 159. Friedrich Schlegel vertritt die Ofterdingen-These brieflich gegenüber Boisserée (vgl. Briefe vom 10. Jan. 1810; in: Sulpiz Boisserée. [Hrsg. von Mathilde Boisserée]. 2 Bde.
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Die Argumentation wurde von Anton von Spaun aufgenommen und modifiziert.²³⁹ Während beide Schlegels Heinrich für einen Schwaben hielten, der am österreichischen Hof lebte, erklärte Spaun ihn zum gebürtigen Österreicher²⁴⁰ und ‚vindicirte‘ so das Epos in einem patriotischen Akt für seine Nation. Stifter korrespondierte mit Spaun, setzte sich auch für den Druck zweier weiterer Abhandlungen bei Heckenast ein.²⁴¹ Der Witiko folgt Spauns Untersuchungen, indem er seinen Helden am Österreichischen Hof auf „Oftering“ als Sohn eines Geschlechts nahe dem „Kürenberge, […] gegen die Stadt Wels“ (Witiko, S. 502), treffen lässt. 1142, als Witiko sich am Hof Heinrichs aufhält, ist bereits ein erster Keim des Nibelungenliedes vorhanden.²⁴² Oftering und er, so der Ritter vom Kürenberge, wollten einmal „einen Sang anheben von dem hörnernen Sifrid und von den Burgunden und von Island und von dem Könige Etzel und von Dietrich von Bern.“ (Witiko, S. 507) 1184, anlässlich des Reichstags Friedrichs I., begegnet Witiko den beiden Sängern wieder. Heinrich spricht nochmals über sein Vorhaben: „Es kann schon ein solches Lied kommen, das uns von alten Mären, von Helden voll der Ehren, von Müh und Festlichkeiten, von kühner Ritter Streiten, von Weinen und von Klagen, viel Wunders möge sagen.“ (Witiko, S. 876) 42 Jahre später ist das Nibelungenlied seiner Entstehung schon sehr nahe gekommen, es gerinnt bereits in die Gestalt seiner späteren Überlieferung. Heinrich paraphrasiert die ersten Verse. Fast unmittelbar nachdem er die bevorstehende Ankunft des Epos verkündigt hat, endet der Witiko. In den genannten Paraphrasen des Epos verbirgt sich eine Auffassung über die Dichtung selbst, ihre Entstehung und ihre Struktur. Die erste Nennung bezieht sich auf die Geschichte Siegfrieds und Etzels, auf die Ebene also, in der die zeitgenössische Forschung den mythisch-historischen, uralten Kern des Nibe-
Stuttgart 1862, Bd. 1, S. 75). 1812 nimmt er sie in seine Wiener Vorlesungen zur Geschichte der alten und neuen Litteratur auf (zuerst gedr. 1815); vgl. KFSA 6, S. 200. Anton Ritter von Spaun: Heinrich von Ofterdingen und das Nibelungenlied. Ein Versuch, den Dichter und das Epos für Oesterreich zu vindiciren. Mit einem Anhange: Proben österreichischer Volksweisen im Rhythmus des Nibelungenliedes. Linz 1840. Er verortet ihn in Oberösterreich, um das Kloster Wilhering herum, das seit dem 12. Jahrhundert zum Herzogtum Österreich gehörte; vgl. Spaun, Ofterdingen, S. 35 – 38; unrichtig ist der Kommentar in HKG 8.1, S. 243: Spaun hält Heinrich gerade nicht für einen „Schwaben“. Vgl. den Brief an Heckenast, 3. August 1847; PRA 17, S. 245 f. Spauns Die Klage. Ein deutsches Heldengedicht des 12. Jahrhunderts erschien 1848 bei Heckenast, im folgenden Jahr starb er. Stifter schrieb für die Augsburger Allgemeine Zeitung einen Nachruf (7. November 1849; abgedr. HKG 8.1, S. 47– 51.) Vgl. zum näheren Kontext Blasberg 1998, S. 296 – 300, und den Kommentar in HKG 8.1, S. 236 – 246. Stifter datiert gegenüber Spaun Heinrichs Geburt und Wirken vor. Nach Spaun wird er um 1160 geboren (Spaun, Ofterdingen, S. 122).
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lungenliedes sah. Die spätere ‚Vorwegnahme‘ der ersten Verse dagegen bezeichnet neben den alten maeren vor allem den Raum, in dem die Handlungen angesiedelt sind: eine hochmittelalterliche Welt der Feste, der Turniere und der höfischen Pracht.²⁴³ Während die an Mythos und Urgeschichte Interessierte Forschung durch das Lied hindurch auf den ‚eigentlichen‘, mythisch-historischen Kern der Handlung drang, schätzten diejenigen, die die These eines individuellen Autors verfochten, gerade die Schilderungen höfischen Treibens als Widerspiegelungen hochmittelalterlichen Lebens. Indem der Witiko beide Konzepte in einen ‚Reifungsprozess‘ des Liedes einträgt, spricht er sich für die letzte Auffassung aus. Heinrich von Oftering, der zunächst nur das mythische Substrat einer alten Überlieferung besingen will, entwickelt sich in den 42 folgenden Jahren zu einem Dichter, der jene Sedimente in ein lebendiges Panorama integriert, das er aus der unmittelbaren Umwelt seines prächtigen Hofes gestaltet.²⁴⁴ Indem Stifters Erzählung gleichfalls diese Welt schildert, inszeniert sich der Witiko als historische Realität, aus der die wirklich überlieferte Dichtung hervorgeht und auf die sie sich zurückbezieht. Der Witiko wäre also nicht als Pendant zum Nibelungenlied angelegt; vielmehr reflektiert er die historischen Möglichkeitsbedingungen von dessen Entstehung.²⁴⁵ Hier wird auch deutlich, in welcher Weise Stifter das Epos insgesamt zum Orientierungspunkt seines Schreibens machen kann. Er imitiert keineswegs die Erzählhaltung der epischen Sänger. Zentrale erzählerische Mittel des Epos nutzt er gerade nicht. Um zwei prägnante Beispiele zu nennen: Im Witiko hat weder der
Vgl. etwa oben, Kap. III.3.2., S. 306. Für Spaun greifen Nibelungenlied und Klage alte Sagen auf, der Dichter als „Genie“ stelle sie „unter die Einheit einer Idee“ (Spaun, Klage, S. 97). Er könne dies, da das Nibelungenlied nach Spaun ein Produkt reifen Alters sei, das auf Piterolf, König Laurin und Klage als frühere Werke folge (ebd., S. 94– 122; auch ders., Ofterdingen, S. 105 – 111). Die Perspektive des reifen Dichters liege in der Verwebung der Sage mit seiner Welt. Daher postuliert Spaun eine landsmännische ‚Philologie‘, die auch der Witiko plausibilisiert: „Nur von unserem [d.i. österreichischen] Standpunkte aus überschauen wir die Nibelungensage in ihrer letzten und reichsten Entwicklung, in ihrer Verbindung mit den geographischen, topographischen und genealogischen Beziehungen, und eben dies ist der Standpunkt, von dem aus die gelehrten Kritiker das Nibelungenlied sich zu betrachten scheuen!“ (Spaun, Klage, S. 101). „Wer Östreich und das Nibelungen-Lied kennt, dem kann gar kein Zweifel mehr herrschen“ – so Stifter über Spauns Ansicht im Brief an Heckenast, 3. Aug. 1847; PRA 17, S. 246. Blasberg (1998, S. 310 – 327, hier S. 321) hält sich in ihrer insgesamt äußerst anregenden Studie zwischen diesen beiden Positionen, wenn sie schreibt, dass das „Bewußtsein unendlicher Vermitteltheit des erinnerten ‚Urtextes‘ […] der Konzeption von Stifters Literaturgeschichts-Roman“ zugrundliege. Ihre These von einer Gleichsetzung Witikos mit Heinrich von Ofterdingen und dem Kürenberger (etwa ebd., S. 317 f.) überzeugt nicht. Zur Nibelungenentstehung mit einer anderen Pointe: Herberichs 2009, S. 145 – 148.
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immer wiederkehrende Vorgriff auf das düstere und tragische Ende des Nibelungenliedes einen Ort noch die rückblickende genealogische Vertiefung durch den Erzähler der Ilias. ²⁴⁶ Der strenge Präsentismus Stifters wird in den folgenden Abschnitten ausführlicher behandelt werden. Es geht ihm offensichtlich gerade nicht darum, episches Dichten insgesamt zu kopieren. Die Epostheorie bietet ihm vielmehr ein Modell für die Möglichkeit eines nichtindividuellen, objektiven Schreibens, eines Aufgehobenseins von Geschichte in Dichtung. Die Geschichtstheorie liefert die umgekehrte Ansicht einer epischen Natur der Geschichte selbst. ‚Epos‘ wird dadurch zum Ausdruck geschichtlicher Realität. Der genuin epische Stil liefert bestimmte Momente eines solchen objektiven Schreibens ‚wie die Geschichte selbst‘: vor allem Aufzählung und Wiederholung. Hier sei nochmals an Gepperts Deutung der Wiederholung und Statuarik bei Homer erinnert: In diesen Dingen ist die antike Anschauungsweise niedergelegt […]. Dasselbe Phänomen wiederholt sich bei grösseren Abschnitten, bei Anfangs-, Uebergangs- und Schlussversen, bei ganzen Reden, Schilderungen und Erzählungen, die, sie mögen nun in der bewegtesten Situation oder der vollkommensten Ruhe vorgebracht werden, doch stets mit derselben Ausführlichkeit Wort für Wort wiederholt werden. Der Ausdruck, welcher einmal für eine Sache gefunden war, blieb fortan ihre stete Bezeichnung. Es ist, als ob die Dinge selbst sprächen und nicht der Dichter, der sie beschreibt.²⁴⁷
Das Epos und seine Theorie liefern Stifter einen Zugang zum Text der Geschichte selbst. Die bisherigen Ergebnisse der Untersuchung seien hier kurz resümiert: Betrachtet man das Verfahren des Witiko vor dem Hintergrund der zeitgenössischen philologisch-historischen Debatten, so hat es einen dreifachen Sinn. Erstens aktualisiert Stifter die zeitgenössischen Theorien von der historischen Würde des Epos. Zweitens totalisiert seine Erzählung den epischen Blick. Sie erweckt den Eindruck, einen Ausschnitt aus dem „Epos“ der realen „Weltgeschichte“²⁴⁸ zu
Ein Beispiel: Odysseus tötet Demokoon: „[…] doch flog nicht umsonst das Geschoss ihm, / Sondern Priamos’ Sohn Demokoon traf es, den Bastard, / Der von Abydos ihm kam, vom Gestüt leichtrennender Gaule. / […] und Nacht umhüllt’ ihm die Augen;“ (Ilias 4, VV. 498 ff.). Einschränkend ist zu sagen, dass sich Stifter an wenigen Stellen doch an diese Schreibweise der Ilias anlehnt. Einmal, während der Schlacht um Prag, heißt es: „Über manche Augen sanken die Schatten des Todes, und über manche kam seine Finsternis, daß sie Vater und Mutter und Geschwister und Heimatgenossen nie mehr sehen werden, und andere sanken mit zerschmetterten Gliedern oder schweren Wunden in das Wirrsal der Menschen nieder.“ (Witiko, S. 338) Kurz vorher erlaubt sich Stifter ein homerisches Gleichnis: „So drang er in das Wirrsal der Feinde, wie eine Meereswoge gegen den kiesreichen Strand dringt, und alles mitnimmt“ (Witiko, S. 332). Geppert, Ursprung, Bd. 2, S. 202. Brief an Heckenast, 7. März 1860; PRA 19, S. 224.
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liefern. Hierzu bedient sie sich drittens eines Verfahrens, das gewissermaßen das Primat des realen Stoffes, wie es die philologisch-historisch Forschung ansetzt, in eine Erzähltechnik transformiert. Stifter stellt auf dieser Ebene seiner Erzählung die dichterische Ökonomie und die Forderung, alles Erwähnte in die Einheit der Handlung einzubeziehen, in den Hintergrund. Der Witiko simuliert vielmehr einen historischen Raum, der, wie die historische Realität, um seiner selbst willen besteht.²⁴⁹ Durch seine Sättigung mit Namen, Genealogien und Handlungen reklamiert er den Charakter ungefilterter Geschichte. Er spielt einen Realitätseffekt aus: Das Genannte scheint primär deshalb genannt zu werden, weil es aufgrund der Würde seiner historischen Realität einer bloß innerfiktionalen Funktion widersteht, die es in einer Erdichtung haben müsste. Das Reale scheint aufgrund seiner Realität nicht nur von der dichterischen Funktionalisierung wesenhaft unterschieden, sondern ihr auch überlegen. In die in diesem Sinne realistische Welt sind Prozesse eingelagert, die die Logik von geschichtlicher Überlieferung in einer Zeit reflektieren, wo die Schrift andere kulturelle Aufgaben zu erfüllen hatte als in Stifters eigener Gegenwart. Indem er solche Prozesse der Transformation von Realität in schriftliche und mündliche Überlieferung darstellt, etabliert der Witiko ein Phantasma der historischen Wirklichkeit, das sein philologisch-historisches Wissen nutzt, um sich noch vor die tatsächliche Überlieferung zu setzen. Stifter kehrt das Verfahren der wissenschaftlichen Deutung alter Überlieferung um, betreibt gleichsam eine umgekehrte Quellenkritik: Die realen und möglichen Quellen sollen aus der in der Erzählung geschilderten ‚Realität‘ abgeleitet werden können, gemeinsam mitsamt den Verfahren ihrer Überlieferung. Auf diese Weise kommentiert der Witiko die Geschichtsschreibung, sei es der Chroniken des 12. Jahrhunderts, sei es der zeitgenössischen. Als Imagination einer vollständigen Geschichte setzt Stifter die Historiographie in Beziehung zum ‚wirklichen‘ Lauf der Dinge, der hinter ihrer jeweiligen Auswahl von Personen und Geschehnissen steht. Aber durch diesen gemeinsamen Bezug auf die historischen Quellen und ihre wissenschaftlichen Interpretationen setzt sich Stifters Schreiben auch einer Furcht vor den historischen Wissenschaften aus. Der Realitätseffekt, der Eindruck des ‚Mitlebens‘ darf nicht durch den Nachweis eines abweichenden wirklichen Datums gebrochen werden. Mit ängstlicher Akribie wacht Stifter darüber, dass die entworfene Welt den Überlieferungen – und vor allem auch Palackys ‚Referenzwerk‘ – nicht widerspricht.²⁵⁰ Vgl. Barthes’ Aufsatz über den effet de réel: Roland Barthes: Der Wirklichkeitseffekt. In: ders.: Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV. Frankfurt am Main 2006, S. 164– 172. Beispielsweise: „Die Personen in 3 sind fast alle geschichtlich, so wie auch der Hergang außer dem Wortlaute der Reden, und der sonstigen einzelnen Anordnungen. Für 4 suche ich schon lange
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8 Leben im Präsens – Der Leser und die Geschichte Es gilt, einen zweiten Anlauf auf Stifters Text zu nehmen. Die Vielfalt des Genannten etabliert einen Realitätseffekt, der zunächst auf der narrativen Funktionslosigkeit dieser Fülle beruht. Durch die Rekonstruktion von Überlieferungsprozessen unterschiedlicher Art wird diese reale Fülle der Geschichte in Beziehung gesetzt zum gefilterten späteren, historischen Blick. Nimmt man Stifters Anspruch ernst, hinter die philologisch-historischen Wissenschaften zurückzutreten und eine sie fundierende Realität zu konstituieren, so muss an den Witiko die Frage nach dem Sinn der gebotenen Geschichte gestellt werden. Vergegenwärtigen wir uns, um den Blick dafür zu schärfen, noch einmal die Erkenntnisbewegung, der die historische Ideenlehre zugrundeliegt. Der reale Stoff birgt selbst seinen Sinn, indem sich in ihm die Idee manifestiert, die die historische Makrostruktur, die Epoche, das Zeitalter, insgesamt bestimmt. Die Erkenntnis dieser Tiefenstruktur des Wirklichen ergibt sich durch die hermeneutisch-kritische Durchdringung des Stoffes. Ranke expliziert dies in seiner schon genannten Vorlesung zur Universalgeschichte: Der Historiker „sammelt, findet, durchdringt“ seine Quellen.²⁵¹ Der Begriff der Durchdringung identifiziert den Stoff selbst als geisthaltig: Es gelte, ihn einerseits in seiner „Erscheinung“ zu erkennen, andererseits in „seinem Wesen, seinem Inhalte“.²⁵² Diese erschließen sich aber unter anderem dadurch, dass die reine „Aufeinanderfolge“ von „verschiedenen Ereignissen“ dem erkennenden Geist ihre „innerliche Verbindung“ im Sinne von Kausalität und Motivation preisgibt.²⁵³ Die „geistige Apperzeption“,²⁵⁴ von der Ranke spricht, erkennt in der reinen zeitlichen Folge, wie sie durch die Überlieferung dokumentiert wird, eine Struktur, die die Fülle der Ereignisse auf den geistigen Sinn hin gliedert, der ihr zugrundeliegt. Die paradigmatischen – herrschenden, symbolisch-bedeutenden, übergreifend sinntragenden – Momente sind im scheinbar gleichwertigen, bloß chronologischen Syntagma der historischen Daten selbst geborgen. Die Erkenntnis filtert das Geschehen, sie scheidet das Bedeutende und das Unbedeutende des Überlieferten, indem sie es hierarchisiert und ordnet.
vergeblich in der Kreuz und Quere den Tag, an dem Wladislaw die österreichische Gertrud geheurathet hat. Da ich alles so bestimmt angebe, brauche ich den Tag, und habe ihn nicht. Gewiß steht er in einem ganz nahe liegenden Werke, wie ich schon einmal einen Schlüssel suchte, den ich im Sack hatte.“ Brief an Heckenast, 8. Juni 1861; PRA 19, S. 285. Ranke, Idee, S. 72; vgl. dazu kurz oben in Kap. I.2.3., S. 108. Ebd., S. 78. Ebd., S. 79. Ebd., S. 78.
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Stifter hatte der Reflexion über den Witiko ganz ähnliche Annahmen zugrundegelegt: Im zitierten Epos-Brief war die Rede vom „Gesez“ der Geschichte; und indem er die Form seiner historischen Erzählung mit der gefundenen, intelligiblen Form der Geschichte selbst identifizierte, hatte Stifter sein Vertrauen in den erkennbaren, sinnvollen Verlauf der Geschichte formuliert, auf dem das ganze Projekt basiert. Wo aber steckt in der Fülle der Nennungen und Beschreibungen des Witiko dieser emphatische Sinn der Geschichte? Scheint es nicht eher so zu sein, dass Stifters ‚ungefilterte‘ Geschichte den Zugang zu den in ihr geborgenen Paradigmen und Zusammenhängen verstellt? Der Realismus, mit dem der Witiko sich zur historischen Erkenntnis positioniert, hat neben dem im letzten Kapitel entwickelten Aspekt noch eine zweite Seite. Analytisch lässt sie sich vom Gesichtspunkt der Fülle abtrennen. Aber im Vollzug des Textes beruht sie auf demselben erzählerischen Verfahren. Die Rede ist von der konsequenten Außensicht, die die Erzählung einnimmt. Sie gehört zu den augenfälligsten Merkmalen des Witiko. Der ungünstigen zeitgenössischen Kritik blieb sie unverdaulich; zusammen mit der Ausführlichkeit des Berichtes bildete sie den größten Stein des Anstoßes. Die neuere Literaturwissenschaft sah in ihr oft ein weiteres Zeichen für die Modernität des Witiko; der Akzent wurde hier gerne auf die Entleerung der Charaktere gelegt.²⁵⁵ Aber auch hier gilt es, die Außensicht zunächst auf ihre Leistung im historiographischen Sinnkontext des Witiko zu prüfen. Und, damit sei eine These vorweggenommen, über die Analyse der Außensicht erschließt sich die Stellung des Textes zu dem Problem, wie sich historische Fülle mit der Paradigmatik von Einzelnem vermittelt, zu der Frage also, auf welche Weise Geschichte Sinn enthält und preisgibt. Am Beginn des Romans reitet ein junger Mann durch den Wald in das mittelalterliche Böhmen hinein. Der erste Satz der eigentlichen Erzählung liefert in einem weiten Bogen die historischen species facti: Man „schrieb“ das „Jahr des Heils“ (Witiko, S. 13) 1138, und auch wer in diesem Jahr in den drei angrenzenden Territorien Deutschland, Bayern und Böhmen herrschte, erfährt der Leser. Neben dem ‚Wann‘ und ‚Wo‘ wird auch das Pferd genau beschrieben, also das Mittel, mithilfe dessen der junge Mann reitet. Aber obwohl sich die Erzählung dann ihm zuwendet, der Bildung seines Gesichtes und der Art seiner Kleidung, bleibt doch das quis merkwürdig unbestimmt. Denn einen Namen erfährt der Leser nicht.
Etwa Heiko Christians und Oliver Kohns: Politik der Einfachheit. Stifters Witiko. In: Wirkendes Wort 55 (2005), S. 389 – 403, hier S. 390; Zumbusch 2007, S. 227; dagegen schon Walter Weiss: Stifters Reduktion. In: Germanistische Studien. Hrsg. von Johannes Erben und Eugen Turnher. Innsbruck 1969, S. 199 – 220, hier S. 204. Johannes John (2009, S. 166) macht in diesem Zusammenhang auf Stifters amtliche Schriften aufmerksam, die gleichfalls eine „radikale Außensicht auf das Handeln und Wirken eines Individuums“ erforderten.
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Freilich, der Kunstgriff, eine unbekannte Person einzuführen und ihre Identifizierung für einen dramatischen Moment aufzusparen, gehört zum Standardrepertoire des historischen Romans. Scott verkneift ihn sich in kaum einem seiner Werke, und Hauff beispielsweise nennt seinen Herzog Ulerich erst, nachdem der Leser ihn schon lange als mythischen Höhlenbewohner kennt. Dieser Leser freilich hat am Punkt der Enthüllung regelmäßig schon vermutet, um wen es sich bei der unbenannten Person handelt. Stifter nimmt diesen Kunstgriff auf, verwendet ihn jedoch anders. Denn während der historische Roman gerne historische Größen auf diese Weise verrätselt und ihnen so einen mythischen Anstrich verleiht, handelt es sich bei Witiko nicht um eine berühmte Figur;²⁵⁶ das Verschweigen seines Namens bildet keine Aura des Geheimnisvollen um ihn.Vielmehr ist es Teil der erzählerischen Strategie, der konsequenten Außensicht. Wenn Witikos Name nach dreißig Seiten zum ersten Mal fällt, so darum, weil er nun selbst Grund hat, ihn zu nennen. Er wird von Bertha danach gefragt: „‚Und nun, Mädchen, wie heißest du denn?‘ fragte er. ‚Bertha‘, antwortete sie, ‚und wie heißt denn ihr?‘ ‚Witiko‘, entgegnete er“ (Witiko, S. 34). Die Zurückhaltung des Namens steht im Dienst einer Authentifizierung der Beschreibung. Denn so leicht dieser einem auktorialen Erzähler zur Hand wäre, so unmöglich ist doch dessen Kenntnis,wenn dieser Erzähler nur das Äußere des Geschehens berichtet. Der Name kann erst dann im Text erscheinen, wenn eine Person ihn nennt und dies in der Handlung motiviert wird. Dieses Verfahren prägt den Roman durchgehend. Oft wurden in der Forschung Beschreibungen hervorgehoben, die dezidiert eine beschränkte Außenperspektive einnehmen: „Ob in der Schenkstube jemand war, konnte man nicht sehen“ (Witiko, S. 16); „Die untere Bekleidung konnte man der sehr breiten Tischplatte willen nicht sehen.“ (ebd.) Das „man“ simuliert geradezu einen unbeteiligten, in der Szene anwesenden Beobachter. Die Pointe dieser Haltung liegt darin, dass sie Sichtbarkeit als Ratio der Erzählung etabliert; und was unsichtbar ist, erfährt der Leser konsequenterweise nicht. Vor allem im Vergleich mit den für den historischen Roman üblichen vermittelnden, erläuternden, hinführenden Erzähltechniken ist dies bedeutend. Der Leser stößt bei Stifter auf einen Widerstand, in diesem Fall den Widerstand dessen, was sich dem Blick von außen entzieht. Was nicht sichtbar ist, kann es jedoch im Laufe der Handlung werden, wenn diese die Gelegenheit dazu bietet. An Witikos Namen wurde das deutlich. Dies gilt auch für die geschilderten Dinge. Wiederum in der Exposition der ersten Seiten nennt die Erzählung, als sie den reitenden Witiko beschreibt, eine „Art Mantel oder Oberkleid von Tuch oder überhaupt einem Wollstoffe“, der „zusammenge-
Historisch belegt ist der Name aber freilich; vgl. oben, Anm. 188.
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schnürt an den Sattel geschnallt“ war, „weshalb man die Gestalt und das Wesen dieses Dinges nicht zu ergründen vermochte.“ (Witiko, S. 14) Wieder wird die Unwissenheit des beobachtenden ‚man‘ beschworen, diesmal im Blick auf die Funktion und damit auch das eigentliche „Wesen“ jenes „Dinges“. Zwar lässt sich sein Material näherungsweise angeben; wozu es da ist, bleibt jedoch unklar und damit auch, um was es sich eigentlich handelt. Kurz darauf löst die Erzählung dieses Unwissen jedoch auf. Witiko gelangt an ein Gasthaus, er steigt vom Pferd und macht sich daran, das Tier nach dem Ritt zu versorgen: „Dann breitete er den Mantel über dasselbe [das Tier; MGD]. Als er diesen auseinandergefaltet hatte, sah man, daß er ein sehr einfaches kunstloses Stück Stoff von grober Wolle und grauer Farbe sei.“ (Witiko, S. 15) Nun ‚sieht‘ ‚man‘ einerseits, dass es sich um einen Stoff handelt, der dem Schutz des Tieres nach dem erhitzenden Ritt dient. Auch die anderen Ambiguitäten lösen sich auf: Es handelt sich um einen Mantel aus grober Wolle, der nun, ausgebreitet, zudem seine Farbe erkennen lässt. Das „Ding“ (s.o.) hat sein Geheimnis preisgegeben, indem es Verwendung gefunden hat. Noch einige Seiten später erläutert Witiko dem schwarzlockigen Jüngling sein Vorgehen bei der Pflege des Pferdes. Das Beispiel des Mantels ist nur scheinbar unbedeutend. Da seine Verrätselung und Erläuterung so kurz aufeinander folgen, da der Text das Unwissen des ‚man‘ ostentativ herausstellt, gewinnt dieser Gegenstand eine geradezu exemplarische Funktion für die gesamte Erzählung. Der Leser kann sich hier in das Erzählverfahren einüben, das den Witiko insgesamt beherrscht. Auf den ersten Seiten findet sich eine Reihe von weiteren Beispielen. So hält Witiko beispielsweise am Beginn auf seinem Ritt ein; er „sah“ in der Ferne auf den „Steinblock“ eines Berges „hin“, der „in die Höhe“ ragt (Witiko, S. 23). Später wird dieser in wörtlicher Rede als „Fels der drei Sessel“ (Witiko, S. 25) benannt. Noch später zeigt sich, dass er für Witiko und die Handlung eine wichtige Rolle spielt. Ein wichtiger Aspekt der Sichtbarkeit, auf dem dieses Erzählen beruht, ist das Fehlen von erzählten Motivationen. Am Beispiel des Mantels lässt sich dies verdeutlichen. Der Leser erfährt bei dessen erster Schilderung nicht nur nicht genau, wie er eigentlich, ausgefaltet, aussieht. Der Erzähler erläutert ihm auch nicht, warum Witiko ihn überhaupt mit sich führt. Nichts wäre einfacher, dabei aber auch erzählerisch ‚normaler‘ und ‚unauffälliger‘ gewesen, als ihn entweder gleich als einen Mantel einzuführen, den Witiko bei sich trägt, um sein Pferd zu wärmen, oder ihn erst zu nennen, wenn er auch tatsächlich ‚in Aktion‘ tritt. Hier zeigt sich zweierlei: erstens das Streben nach einer virtuellen ‚Vollständigkeit‘ des Erzählens, auf das noch zurückzukommen sein wird, zweitens aber die Aussparung von Motivationen, Kausalitäten und Finalitäten. Beharrlich entwickelt Stifter das Geschehen mithilfe der zeitlichen Adverbien ‚dann‘ und ‚da‘ und der temporalen Konjunktion ‚als‘. Zur Sichtbarkeit gehört, dass Veränderung nicht anders denn
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als zeitliche Folge erscheint. ‚Von außen‘ sieht man weder die Motivationen im Menschlichen noch die Kausalität in den Dingen.²⁵⁷ Die Welt des Witiko besteht daher aus einer Folge von Handlungen und Ereignissen. Dabei vermeidet Stifter sogar Konjunktionen wie ‚nachdem‘, die Vorzeitigkeit markieren und durch das Plusquamperfekt die vorzeitige Handlung ‚uneigentlich‘ werden lassen, sie aus der Gegenwart des erzählerischen Präteritums ausschließen. Eine solche Handlung würde zwar benannt, aber nicht eigentlich beschrieben, da sie sich nicht im Moment des Erzählens vollzieht, sondern nur noch als schon Vergangene, Verlorene angeführt werden könnte.²⁵⁸ Ebenso kann es keine Rück- und Vorausblicke geben, da auch diese ‚in der Welt‘ eigentlich nicht existieren, sondern nur für ein nicht nur beobachtendes, sondern auch ordnendes und deutendes Bewusstsein. Stifter erzählt, im Modus des erzählerischen Präteritums, durchgehend präsentisch, sein Erzählen ist geradezu an den Moment und das jeweils Sichtbare geschmiedet. Auch hier wird der Unterschied zur „gebräuchlichen Art des historischen Romanes“²⁵⁹ deutlich. Ein typisches Beispiel aus Scott wäre: While Lady Margaret held, with the high-descended serjeant of dragoons, the conference which we have detailed in the preceding pages, her grand-daughter, partaking in a less degree her ladyship’s enthusiasm for all who were descended of the blood-royal, did not honour Serjeant Bothwell with more attention than a single glance, which showed her a tall powerful person, and a set of hardy weather-beaten features, to which pride and dissipation had given an air where discontent mingled with the reckless gaiety of desperation.²⁶⁰
Im Vergleich mit Stifters Reduktion wird deutlich, wie voraussetzungsreich die bekannte epische Erzählhaltung eines souveränen auktorialen Erzählers ist. Dieser zeigt sich nicht nur implizit, indem er die Figuren sogleich durch wenige Züge in ihrer Eigenart, ihrem Wesen, charakterisiert; er thematisiert in seiner Souveränität ausdrücklich auch die Lese- und Schreibsituation. Die nachträgliche Schilderung einer gleichzeitigen Handlung bricht eigentlich den Realismus der Erzählung, und durch den Verweis auf die „preceding pages“ wird ausdrücklich
Man denke hier an Humes empirische Kritik an der Kausalität, die Kant herausforderte: Treatise of Human Nature (1739/40), I.3. Ausnahmen gibt es mitunter dann, wenn das vorzeitige Ereignis vorher schon in der Gegenwart des Präteritums berichtet wurde; etwa Witiko, S. 141: „Der Arzt wachte über den Herzog, die Priester sagten leise Gebete, und ehe das Licht des Tages schied, tat er mehrere tiefe Atemzüge, dann sanken die Lider, und die Züge wurden starr.“ Witiko, S. 142: „Ein Eilbote jagte sogleich, nachdem der Herzog die Augen geschlossen hatte, aus dem Tore.“ Brief an Heckenast, 8. Juni 1861; PRA 19, S. 282. [Scott:] Old Mortality. In: Tales of my Landlord, Bd. 2, S. 231.
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auf das Artefakt eines geschriebenen Werkes verwiesen. Stifter etabliert seinen Realismus gerade im Bruch mit einem solchen Verfahren. Das epische Verfahren des Witiko ist deshalb so radikal, weil es sich nicht als Erzählung eines Erzählers im üblichen, romanhaften Sinne preisgeben will. Das scheinbar Natürlichste fällt weg – motivierende Partikel (‚weil‘, ein kausales ‚da‘, ‚um zu‘), Berichte mentaler Episoden (‚er hatte Bedenken‘, ‚er wollte‘, ‚ihm schien‘, ‚er dachte‘ etc.), zeitliche Sprünge,²⁶¹ die Erläuterung von historisch Fremdem.²⁶² Stifters Text stellt seine (fiktionale) historische Realität her, indem er einen unmittelbaren, reinen Blick auf sichtbare Wirklichkeit simuliert. Im vorhergehenden Kapitel wurde dies als Würde des Daseienden gegenüber dem erzählerisch Funktionalisierten bezeichnet. Dieser Zug gilt also nicht nur für die Namen, sondern für die gesamte erzählte Welt. Wie entsteht nun bei einem solchen Erzählen Sinn? Wichtig ist es zu erkennen, dass die primäre Ebene des sichtbar Vorhandenen durch eine zweite Ebene durchzogen wird. Eine Vielzahl von Dingen, die der Leser ‚sieht‘, indem die Erzählung sie nennt, erscheinen nicht wieder.Weil sie ‚da‘ sind, müssen sie genannt werden. Aber sie gewinnen auf der zweiten Sinnebene keine Bedeutung für das Geschehen, das sich in diachroner Weise entfaltet. Bei manchen der genannten Dinge – und Personen – ist dies jedoch anders. Der Mantel oder aber jener DreiSessel-Berg waren Beispiele dafür. Sie gewinnen ihre Bedeutung für das Geschehen jedoch nicht, indem der Erzähler sie als bedeutsam markiert, sondern dadurch, dass sie an unterschiedlichen Punkten der Erzählung auftauchen und damit verschiedene Stellen in der zeitlichen Abfolge einnehmen; auch, indem sie zum Gegenstand von Handlungen und Gesprächen werden, die sie innerfiktional deuten bzw., mit Boeckh gesprochen, ‚erkennen‘.²⁶³ Formal basiert diese Konstitution von Sinn innerhalb der Diachronie auf der Wiederaufnahme eines Dinges, auf der Wiederholung seiner Nennung. Stifters Erzählverfahren bringt damit genau das hervor, wovon Ranke, wie oben zitiert, spricht: Der Sinn von Geschichte ergibt sich, indem die reine „Aufeinanderfolge“ von „verschiedenen Ereignissen“ ihre „innerliche Verbindung“ im
Ein weiteres Beispiel aus Old Mortality: „With her best curtsey to the ground, Mause pointed to the chair, which, on former occasions, Lady Margaret (for the good lady was somewhat of a gossip) had deigned to occupy for half an hour sometimes at a time“; ebd., S. 144. Z.B.: „It was a universal custom at Scotland, that, when the family was at dinner, the outergate of the court-yard, if there was one, and, if not, the door of the house itself,was always shut and locked“; ebd., S. 172 f. Vgl. Encyklopädie, S. 11: „geschichtliche[] Thaten“ sind „selbst ein Erkennen“, sie enthalten „Ideen […], welche der Geschichtsforscher wiederzuerkennen hat.“
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Sinne von Kausalität und Motivation preisgibt.²⁶⁴ Wenn der Leser sieht, wie sich Witikos Aufmerksamkeit wiederholt auf jenen Fels richtet, so registriert er, wie der Fels für ihn und damit auch für das Geschehen eine sinntragende Bedeutung besitzt. Er gewinnt eine paradigmatische Funktion für die Erzählung, anders als die Waldabschnitte und Felder, an denen Witiko nur einmal vorbeireitet. Beobachtet der Leser wiederholt, welche Funktion jener zunächst nicht identifizierbare Stoff für Witiko hat, so erschließt sich ihm mit der Pferdepflege zeitgenössische Kulturgeschichte. Vor allem aber profiliert Witikos Vorgehen seinen Charakter, es erlaubt also Aussagen über seine Persönlichkeit, die die Erzählung gerade verweigert. Was hier an kleinen Details beschrieben wurde, gilt auch für die ‚eigentlich‘ bedeutenden Geschehnisse des Romans, für die Stellung des Titelcharakters zur ‚Geschichte‘. Auf dieser Ebene gewinnt das Erzählverfahren eine erstaunliche Dynamik. Witikos Pfad, der anfangs durch den Böhmerwald führt, erweitert sich im Laufe der Handlung und mündet in die Völkergeschichte, jenen „großen Strom []“,²⁶⁵ den Stifter in seinem zitierten Brief beschwört. Mit dem Fort-Schreiten des jungen Mannes, der sich, wie er Bertha verrät, sein „Geschick erst machen“ (Witiko, S. 28) will, gewinnt sukzessive auch der Blick der Erzählung an Weite. Witiko dringt durch seine Handlungen in die Geschichte im emphatischen Sinne ein. Und mit ihm tut der Leser ein Gleiches. Witikos Ritt führt ihn über das Haus Heinrichs von Jugelbach, in dem er seine spätere Frau Bertha trifft, zu Soběslaw auf Hostas Burg. Auf dem Weg trifft er den jungen Wladislaw, Sohn des vorherigen Herzogs und Neffen des gegenwärtigen Herrschers. Reitend verhandelt man nicht nur die böhmische Ur- und Zeitgeschichte, sondern auch die politischen und juristischen Probleme, die die Ordnung im Lande gefährden – die rechtlich ungeklärte Erbfolge, den Versuch des regierenden Herzogs, seinem minderjährigen Sohn die Krone zu sichern. Sie bilden den Sprengstoff, der das Reich schon bald der Zerstörung nahe bringen wird.Witiko wird sich in der politischen Krise bewähren müssen. Aber wie steht er zu den Geschehnissen? Und was führen die anderen Handelnden im Sinn? Gerade das Verständnis der Entscheidungsprozesse und Handlungen Witikos macht Stifter dem Leser dabei nicht einfach. Handlungen basieren schließlich auf Motiven und Entschlüssen, auf Überlegungen, Einschätzungen und Intentionen. Scott löst dieses Problem auf herkömmliche Weise, indem er seine Helden und die anderen bedeutenden Personen immer wieder ‚allwissend‘ mit Attributen ausstattet: „By this difficult and complicated entrance the good King Richard,
Ranke, Idee, S. 79. Brief an Heckenast, 8. Juni 1861; PRA 19, S. 282.
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followed by his faithful Ivanhoe, was ushered into the round apartment“.²⁶⁶ Hauff nutzt das ganze zweite Kapitel seines Lichtenstein, um seinen Helden Georg von Sturmfeder zu charakterisieren: „Wo alles um ihn her Partei nahm, glaubte Georg nicht müßig bleiben zu dürfen. Ein Krieg war ihm erwünscht; es war eine Laufbahn, die ihn seinem Ziele, um Maria würdig freien zu können, bald nahebringen konnte.“²⁶⁷ Die konsequente Außensicht Stifters lässt dies jedoch nicht zu. Es bleibt dem Leser nichts übrig, als die Eigenschaften und den Charakter der Personen aus ihren Handlungen und Reden zu erschließen. Aber gerade mithilfe dieser scheinbar erratischen Verweigerung inszeniert der Witiko ein dramatisches Spiel mit dem Leser. Zentral für den ersten Band des Romans ist Witikos Entscheidung, welcher der beiden um die Krone Böhmens zunächst konkurrierenden, dann kämpfenden Parteien er sich zuschlägt. Diese Wahl ist der erste Schritt auf seinem Weg zum „großen Schicksale“ (Witiko, S. 27), zu der historischen Bedeutung, die Witiko innerhalb von Stifters Fiktion gewinnt. Und die Situation, in der er handeln muss, ist vertrackt. Eine Reihe von Zwistigkeiten und Kriegen unter Vätern, Söhnen und Brüdern hat die alte Regelung der Herrschernachfolge ausgehöhlt und untergraben (vgl. etwa Witiko, S. 76). Erbnachfolge wäre eine Möglichkeit, zwei andere die Wahl eines Herzogs durch den Adel oder die Einsetzung durch den deutschen König bzw. römischen Kaiser (vgl. Witiko, S. 75 – 79). Der regierende Herzog Soběslaw hat, wie es scheint, seinen Sohn (er heißt ebenfalls Wladislaw,wie sein Konkurrent, der Sohn des vorherigen Herzogs) auf allen Fronten abgesichert. Zusätzlich zur Erbfolge hat er ihn vom deutschen König Konrad belehnen und auf einem Landtag vom Böhmischen Adel bestätigen lassen (vgl. Witiko, S. 83 f.). Als aber der Herzog im Sterben liegt, ist sein Sohn noch minderjährig – und damit eigentlich nicht regierungsfähig. Daher berufen die weltlichen und geistlichen Häupter Böhmens und Mährens eine neuerliche Versammlung ein. Der Herzog schickt Witiko nach Prag, damit er die Verhandlungen auf dem Wyšehrad beobachte und ihm berichte. Man wählt tatsächlich einen anderen zum Herzog: jenen jungen Reiter Wladislaw, dem Witiko zwei Jahre vorher schon begegnet war, den Sohn des vorherigen Herzogs Wladislaw. Diese Entscheidung ist kaum dazu geeignet, Ordnung in die Erbfolge Böhmens zu bringen und damit die politische Legitimität der jetzigen und zukünftigen Herrschaft abzusichern. Dennoch akzeptiert Soběslaw sie auf seinem
[Scott], Ivanhoe, Bd. 3, S. 290; Hervorhebungen von MGD. Hauff, Lichtenstein, S. 22.
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Totenbett. Seine letzten Worte mahnen seinen Sohn, den Prinzen Wladislaw, zur Unterwerfung unter den gewählten Herzog Wladislaw: [D]u bist von dem deutschen Könige Konrad mit den Ländern Böhmen und Mähren belehnt, und von den Herren beider Länder auf dem Tage in Sadska anerkannt worden. Jetzt aber haben sie auf dem Wyšehrad deinen Vetter Wladislaw für meinen Tod als Herzog gewählt. Unterwirf dich ihm, und gehorche ihm, daß die Sünden nicht werden, welche in meiner Jugend gewesen sind. Načerat wird gegen Wladislaw nicht siegen. Ihr habt meine Worte gehört, du Witiko bist noch jung, und wirst sie auf viele Jahre hin bewahren […]. (Witiko, S. 141)
Wie es sich für die letzten Worte eines scheidenden Mächtigen gehört, haben auch diese es in sich. Aber auch sie werden vom Erzähler nicht eigens als bedeutsam markiert, was mithilfe einer Prolepse oder eines Kommentars ohne weiteres möglich gewesen wäre. Sie erhalten ihr Gewicht lediglich durch die Situation, in der sie gesprochen werden, und durch Soběslaws Bemerkung, dass Witiko sie bewahren werde. Als Verfügung des sterbenden Herzogs über die Herrschaftsnachfolge bergen sie ein Konfliktpotential, das seine Brisanz erst im Laufe der weiteren Handlung preisgeben wird. Und sie enthalten darüber hinaus eine Einschätzung, die dem Leser an dieser Stelle nicht anders als unverständlich sein kann: „Načerat wird gegen Wladislaw nicht siegen.“ Dies scheint sinnlos zu sein, denn gerade Načerat war es, der sich auf dem Wyšehrad entschieden für den Prinzen Wladislaw ausgesprochen und andere Große hinter sich versammelt hatte. Der Leser kann sich an diesem Punkt der Erzählung kaum etwas dabei denken. Wenn er die Prophezeiung nicht überliest, so gerät sie doch bald in Vergessenheit. Witiko zieht sich nach diesen turbulenten Ereignissen zurück. Er schlägt die Bitte des neuen Herzogs aus, in seinen Dienst zu treten, und verlässt die große Sphäre der Politik wieder. Der einzige Grund, den der Herzog und mit ihm der Leser aus dem Munde Witikos erfahren, ist, dass er „nur [s]eine Gedanken sammeln“ (Witiko, S. 144) wolle. Das erscheint zunächst wie eine Floskel, nicht zuletzt deshalb, weil der Leser nichts über jene Gedanken Witikos erfährt. Geschildert wird weiterhin das äußerlich Sichtbare.Witiko geht nach Plan, in das Dorf seiner Mutter, er nimmt ihren Hof in Besitz, beobachtet die Bauern und treibt selber Landwirtschaft: „‚Und werdet ihr jetzt länger bei uns bleiben als früher?‘“ (Witiko, S. 158) fragt ihn der „Fiedler“ (ebd.) des Dorfes, Tom Johannes. „‚Wie es eben geschieht […] ich weiß es selber noch nicht.“ (ebd.). Hier, im Wald, gewinnt der im vorherigen Kapitel beschriebene Realismus der Nachrichtenübermittlung in vorwiegend mündlicher Zeit einmal mehr entscheidende Bedeutung für den Roman. Denn Witiko befindet sich weit von den poli-
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tischen Zentren, er ist von allen Nachrichten über das Geschehen abgeschnitten. Entsprechend erlaubt sich die Erzählung hier, an diesem Ort fernab der res gestae, extreme Verkürzungen²⁶⁸ und starke iterative Zusammenziehungen.²⁶⁹ Im Wald scheinen die Zeit und damit die Historie ihre Bedeutung zu verlieren. Und mit Witiko weiß auch der Leser nicht, was in der ‚großen Welt‘ vor sich geht. Nur zu manchen Gelegenheiten öffnet sich die Erzählung wieder für das politische Geschehen. Nach und nach besucht Witiko die Landadligen in seiner Umgebung, um sich mit ihnen auszutauschen. Hier erfährt er manche Neuigkeit, so etwa, dass sich der abgesetzte Prinz Wladislaw nach Mähren zurückgezogen und Getreue um sich geschart habe. Mitunter brechen auch auf andere Weise Nachrichten aus der Welt ins Dorf ein. Einmal etwa gelangt ein „wirrer Mann“ dorthin; er sei von seinem Hause vertrieben worden, denn der neue Herzog Wladislaw „wüte gegen seine Untertanen, verjage sie von Haus und Hof, oder töte sie.“ (Witiko, S. 211) Ein anderes Mal wird Witiko zu einer Versammlung eingeladen. Eine Reihe derjenigen, die auf dem Wyšehrad für den jetzigen Herzog Wladislaw gestimmt hatten, sehen sich durch ihn in ihren Rechten empfindlich beschnitten. Načerat, dem die letzten Worte des Herzogs Soběslaw galten, ist nun ihr Wortführer: „‚Wenn unser guter erlauchter Herzog Wladislaw, den wir erwählt und eingesetzt haben, sich nicht so sehr von uns zurückzöge, so könnte er in unserer Mitte sein, könnte unser Vergnügen teilen, und würde unsere Freude erhöhen.“ (Witiko, S. 216) Stattdessen sitze er allein und „brüt[e] in Gedanken, wie er seine Macht vermehre.“ (Witiko, S. 217) Die Nachrichten über die Lage des Landes, die in Witikos Walddorf dringen, sind spärlich und disparat. Der neue Herzog wirkt ungerecht und gewalttätig, der abgesetzte Prinz scheint einen Aufstand vorzubereiten. Deutlich wird lediglich, dass im Land eine große Unruhe herrscht.²⁷⁰ Der Leser kann, aus der Perspektive des nachrichtenarmen Dorfes, weder die Situation einschätzen noch die Position Witikos antizipieren. Die Nachbarn betrachten ihn aufgrund seines Handelns auf dem Wyšehrad als Getreuen des toten Herzogs und seines abgesetzten Sohnes. Witiko selbst betont seine Neutralität – er wisse zu wenig, um Partei zu ergreifen. Im Jahr 1142 kommt der Aufstand und mit ihm der Krieg. Der Prinz zieht von Mähren aus mit einer Streitmacht gegen den Herzog Wladislaw. Diese Nachricht verbreitet sich rasch, und Witiko reitet mit etlichen seiner Waldleute aus, um am Geschick des Landes teilzunehmen. Noch jetzt ergreift er nicht Partei, er wolle erst
Etwa: „So ging die Zeit hin“ (Witiko, S. 164). Z.B.: „Es begannen nun die Frühlingsarbeiten […] und Witiko […] legte, wo es nötig war, Hand an“ (Witiko, S. 164). Das Dorf ist insgesamt der Ort der Iteration, die Stifter sich im Raum der großen Politik kaum erlaubt. So resümiert auch knapp der Erzähler (vgl. Witiko, S. 211).
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sehen, „was es ist, und daß ich dort helfe, wo ich es für recht erkenne.“ (Witiko, S. 221) Die Landadligen, denen er auf dem Weg begegnet, schließen sich dem Herzog an. Sie lassen Witiko ziehen, obwohl sie davon ausgehen, er werde sich auf die Seite des aufständischen Prinzen schlagen. Dieser sucht Witiko auch auf, erinnert an die unrechtmäßige Einsetzung des jetzigen Herzogs, die die „Rechte aller großen Lechen gekränkt“ habe (Witiko, S. 231). Er appelliert an Witikos Loyalität gegenüber dem Vater Soběslaw. Nun sei der Zeitpunkt gekommen, um das Recht wieder herzustellen. Als Belohnung für einen Bund bietet er Witiko und allen anderen, die sich ihm anschließen, umfangreiche Privilegien an. Der Moment der Wahl ist gekommen. Und Witiko entscheidet sich. Das, was der Erzähler dem Leser verweigert – Einblick in sein Denken, seine Motivationen und Gründe –, gibt Witiko nun selber preis. In einer langen Rede deutet er die Geschehnisse, die der Leser mit ihm unkommentiert bezeugt hat, legt seine Überlegungen offen, rekapituliert seine Gedankenschritte – und sagt sich schließlich von dem Prinzen los. In der direkten Konfrontation Witikos mit dem aufständischen Wladislaw konzentriert sich, nach einem Viertel des Romans, die gesamte vorhergehende Handlung. Die Erzählung setzt plötzlich die ganze innere Dynamik der Deutungen und Entscheidungen frei, die dem rein äußerlichen Erzählerbericht, der zu ihr führte, scheinbar abging, die in Wirklichkeit von ihm jedoch kunstvoll verschwiegen worden war. Witiko, das wird hier schlagartig deutlich, hat die wachsende Brisanz der Lage in den böhmischen und mährischen Ländern, die Zuspitzung der Politik wohl bemerkt und reflektiert. Die wörtliche Rede Witikos nun ist ostentativ durchsetzt von Begriffen, die sich die Erzählung selber versagte: solchen, die Wertungen und mentale Episoden markieren. Die hohen Adligen hätten ihren Eid an den alten Herzog Soběslaw gebrochen, als sie auf dem Wyšehrad den jetzigen Herzog gewählt hätten. Bereits als er Načerat auf dem Wyšehrad hörte, habe er „geahnt“ (Witiko, S. 234), dass dies allein um ihres Nutzens willen geschehen sei. Und angesichts der Reden auf der Versammlung der Unzufriedenen habe er „erkannt“ (ebd.), dass sie durch den neuerlichen Eidbruch gegen den jetzigen Herzog wieder nur ihren Vorteil suchten. Witiko beruft sich dagegen auf die gegenüber dem regierenden Herrscher gebotene Loyalität. Diese gebiete auch die Treue gegenüber Soběslaw, der auf dem Sterbebett die Wahl nicht nur anerkannt, sondern auch die Erhebung der Unzufriedenen vorausgesehen habe: „Načerat wird gegen Wladislaw nicht siegen.“ (Ebd.) Das für den Leser rätselhafte Wort erweist sich an dieser Stelle in der Tat als prophetischer Schlüssel zum zwischenzeitlichen Geschehen. Der alte Herzog hatte die Lage von Beginn an durchschaut. Witiko hat seine Rede im Sinn behalten und sie gedeutet. Auch ihm ist sie zum Schlüssel für die Ereignisse geworden. Aber der Leser versteht alles dies erst in dem Moment, in dem Witiko seine Einschätzungen und Gründe darlegt.
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Die Entscheidung Witikos kann den Leser nur überraschen. Das einzige ‚Fenster‘ zu seiner Seele waren in der Zwischenzeit die Gespräche mit den Nachbarn. Und dass diese ihn bis zuletzt aufgrund seiner Treue zu Soběslaw als Anhänger des Prinzen ansahen – und damit irrten –, wird ebenso für den Leser gelten. Aber die Verblüffung, die Stifter erzielt, bezieht sich nicht nur auf den Protagonisten. Die klare Rede Witikos und die Entscheidung, mit der er den Prinzen vor den Kopf stößt – alles dieses drängt auf die Frage, ob der Leser sich an diesem historischen Ort und in dieser historischen Situation ebenso entschieden hätte wie Witiko. Um innerhalb des Romangeschehens selbst Position zu ergreifen, hatte er dieselben Informationen zur Hand wie der Protagonist: die rechtlich unklare Herrschaftsnachfolge; die Nachrichten, dass der neue Herzog morde und vertreibe; deren Stützung durch die Unzufriedenheit Načerats und seiner Anhänger. Und wiederum: Die Entscheidung des Lesers wäre wahrscheinlich anders ausgefallen. Das Gespräch mit dem Prinzen ist ein erster Schlüsselmoment des Romans. Die Erzählung ändert hier radikal ihre Richtung. Sie tut es auf eine Weise, die scheinbar unvermittelt ist. Dieser Eindruck jedoch wird wiederum nur durch ihre konsequente Außensicht hervorgerufen. Die falschen Schlüsse über Witiko und die Lage des Landes hat der Leser gezogen. Und dies wird ihm in diesem Dialog deutlich. Witikos Argumente, seine Umdeutung des Begriffs der Treue, seine Einschätzung des Prinzen überzeugen so wie sie überraschen. Diese Wendung verfährt strukturanalog zum oben geschilderten erzählerischen Umgang mit Details. Sie ist kein Einzelfall im Witiko. Ähnliches begegnet immer wieder an den entscheidenden Punkten, wo sich Witiko im Lauf der Geschichte positionieren muss, so etwa, als er im Kampf die gefangenen Häupter der Gegenpartei entkommen lässt²⁷¹ oder als ein „Mann“ mit braunem Gewand in sein Haus kommt (Witiko, S. 400), den er nach Passau geleitet und der sich erst dort, nahezu vierzig Seiten später, als der geflohene Bischof Zdik entpuppt (vgl. Witiko, S. 433). An dieser Stelle ist der mitreisende Knecht, der die Identität des ‚Mannes‘ nicht kennt, eine Reflexionsfigur des Lesers. Es gab auch hier keinen Grund für den Leser, um in der unbenannten, schweigsamen Person den Bischof zu vermuten. Die Ereignisse, die seine geheime Flucht nötig machten, werden vom von ihm erst später in mündlicher Rede nachgeliefert (vgl. Witiko, S. 436 ff.). An diesen Befunden in der Mikro- und Makrostruktur des Romans zeigt sich ein weiterer Sinn von Stifters Bruch mit den Erzählkonventionen des historischen Romans. Er etabliert einen anderen Umgang mit dem Leser. Der Witiko fordert von
Vgl. Witiko, S. 357 f., S. 385 ff., S. 700.
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ihm nicht nur Aufmerksamkeit, sondern auch die Bereitschaft, zurückzublättern und die unauffälligen ersten Spuren dessen aufzusuchen, was sich später als wichtig erwiesen hat. Die Eintönigkeit der konsequent objektiven Erzählung erweist sich als nur scheinbar. Ihr Zweck ist nicht die Ausblendung von paradigmatischen, bedeutenden Zügen innerhalb des Geschehens. Gerade indem sie diese in ihrer diachronen Anlage verbirgt,verleiht sie ihnen ein besonderes Gewicht. Am Gegenmodell des Witiko wird deutlich: Indem der Erzähler des üblichen historischen Romans freigebig Wertungen mitteilt, nimmt er den Leser aus der Verantwortung für seine Einschätzung des geschichtlichen Geschehens. Stifter aber setzt ihn mitten hinein in die Pflicht zur ständigen Deutung und Bewertung, indem er die verschwiegenen Entscheidungen des Helden Witiko zum Maßstab aufbaut und sie in der beschriebenen Weise überraschend enthüllt. Sein Held ist gerade kein Vertreter, keine bloße Allegorie des Lesers im Roman, wie es Alexis an Scott beobachtet hatte. Dies ist die zweite Seite des Realitätseffektes von Stifters Erzählverfahren. Die Fülle des Vorhandenen muss nicht nur beschrieben werden, weil sie da ist. Sondern sie fordert die Differenzierung vom Leser: Manches ist eben nicht nur ‚da‘, sondern besitzt auch eine größere Bedeutung für die Handlungen, für die historische Raumzeit. Der Leser leistet in der Lektüre, was die Aufgabe der Geschichtsschreibung wäre, nämlich die Fülle des Daseienden daraufhin zu filtern, was in ihr bedeutsam ist. Stifters Erzählverfahren lässt in zeitlicher Entfaltung einen historischen Raum entstehen, der mittels diachroner Verbindungen von Bedeutung durchzogen ist. Der Leser muss diese Bedeutung selbst aktualisieren, indem er die sinntragenden Momente identifiziert und sie zueinander deutend in Verbindung setzt. Was Ranke die Durchdringung des realen Stoffes auf die in ihn eingelagerten Ideen hin genannt hatte, macht Stifter zur Aufgabe für einen Leser. Damit entgeht er auch Droysens Kritik am historischen Roman – die ihm ohne Frage nicht bekannt war. Der Roman, so heißt es in der Historik-Vorlesung, statte die überlieferten Gestalten freigebig mit einer Psychologie und einem Charakter aus. Könne aber der Historiker die Intentionen und den Willen der Personen so feststellen, dass er legitimerweise einen Charakter zum Mittelpunkt seiner Darstellung machen dürfte? Gerade nicht. Droysens Hauptargument ist die unzureichende Sicherheit eines Schlusses vom Äußeren auf innere Tatsachen: „Der Handelnde tritt nicht mit der ganzen Fülle seines geistigen Inhalts in das Äußere, das Getane ist nur der relative, nur der teilweise Ausdruck der Totalität, die wir sein Ich nennen“ (Historik, S. 188). Außerdem sei man nicht in der Lage, „alle mit einwirkenden Momente so zu überschauen, daß wir, diese rein abstrahierend,“ die Identität einer Person erschöpfen könnten (ebd.). Eine analoge Erkenntniskritik aber begründet Stifters Schreibweise.
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Bei ihm entsteht der Sinn der Geschichte im Prozess des Lesens, und zwar als dialektische Rückseite der realistischen Fülle. Der Witiko überträgt damit das Erkenntnisverfahren der philologisch-historischen Wissenschaften nicht in seine explizite Rede, seinen discours, indem er etwa, wie Scott, die historischen Ereignisse selbst deutete. Sondern er verankert es in seiner Leserstrategie. Die Erzählung simuliert nicht nur die Geschichte, sondern auch die Sinnkonstitution in dieser Geschichte für den auf sie blickenden Betrachter. Und sie tut dies in einer doppelten Weise: als Sinn, den der Leser aktualisiert, gleichzeitig aber auch als einen Sinn, den die Geschichte selbst enthält. Stifters Realitätseffekt, sein Verzicht auf eine wertende und ausscheidende Filterung dessen, was im jeweiligen Moment der Fiktion ‚anwesend‘ ist, nimmt damit das Grundcharakteristikum von gegenwärtiger Zeit in ganz anderer Weise ernst als der ‚gebräuchliche‘ historische Roman und auch die Geschichtsschreibung. In beiden erscheint das jeweilige geschichtliche Ereignis bereits durch das Spätere gedeutet. Der Rückblick aus der Gegenwart in die Vergangenheit ist immer schon klüger. Denn er weiß, was ‚übriggeblieben‘ ist, sich in der gegenwärtigen Realität behauptet hat, und was dagegen unterging. Der ordnende Erzähler und der Historiograph stiften einen anachronistischen Sinn, indem sie am Vergangenen vor allem dasjenige gelten lassen, was sich aus der späteren Perspektive als ‚Stärkeres‘, als ‚Bleibendes‘ erwiesen hat. Der Witiko dagegen simuliert eine offene Realität: durch den Verzicht auf eine solche anachronistische Perspektive, die Reduktion auf das äußerlich Sichtbare und die beharrliche Erfindung und Nennung auch solcher Dinge, die nicht in Chroniken und in die Geschichtsschreibung Aufnahme gefunden haben. Das, was im jeweiligen Moment der Fiktion ‚anwesend‘ ist, muss verzeichnet werden: Es könnte sich später als bedeutend erweisen, denn im jeweiligen Moment des Geschehens ist zwar seine mögliche Paradigmatik schon in ihm enthalten – Geschichte ist schließlich von sich selbst her sinnhaft. Sichtbar aber wird dieser Sinn erst im Rückblick: in Stifters Roman genau dann, wenn der Leser die Wiederholung von bestimmten Ereignissen als sinntragende Struktur des Plots bzw. der Geschichte zu erkennen vermag.
9 Stifters Komposition Der Witiko produziert in und durch die bloße Nennung gleichzeitig seine eigene Paradigmatik. Er schreibt damit auch den Text ‚der Geschichte selbst‘. Freilich: Diese Geschichte und ihr Sinn sind auch bei Stifter Faktur, und sie können nur dies sein, so sehr ihr Autor dem auch entgehen will. Die scheinbar realistische, objektive, in erratische Fülle zersplitterte Erzählung ist ein extremer Fall dessen, was
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Clemens Lugowski ‚Komposition‘ genannt hat.²⁷² Die erzählte Welt entfaltet sukzessive eine Bedeutung, die immer schon von ihrer Gesamtstruktur bestimmt war. ‚Realistische‘, vorbereitende Motivation und ‚Motivation von hinten‘ (Lugowski) sind hier identisch. Lugowski führt Goethes Wahlverwandtschaften als Beispiel für das an, was er mit Komposition meint; er hätte jedoch ebensogut den Wilhelm Meister oder einen beliebigen, zeitgenössischen historischen Roman nennen können. Die Pointe von Stifters Komposition ist es, ihre paradigmatische Ebene zu verbergen, um sie erst durch den Leser aktualisieren zu lassen. Darauf, nicht aber auf die ‚modernistische‘ Verwirrung des Lesers zielt der Witiko. Erst die Analyse des Erkenntnisprozesses, der dem Betrachter bzw. Leser diesen Sinn enthüllt, lässt die Dimensionen der totalen Autorschaft erkennen, die Stifter in jüngster Zeit von Birgit Ehlbeck und Roman Lach²⁷³ zugesprochen wurde. Aber gerade dadurch setzt der Witiko den Blick ins Werk, der die zeitgenössischen philologisch-historischen Wissenschaften prägt. Zur Geschichte als Epos, als „Epopee Gottes“, wie Herder sie nennt,²⁷⁴ gehört konstitutiv, dass sie einen sinnvollen Lauf besitzt. Nach Hayden Whites überzeugendem Argument kann die Geschichtsschreibung der Ideologie nicht entgehen. Sie ist keine exakte Wissenschaft; Formgebung und Darstellung enthalten immer ein ethisches Moment. Die Deutung des Vergangenen besitzt immer normative Funktion in Bezug auf zukünftige Handlungsoptionen, mögen diese nun explizit entfaltet werden oder aber unausgesprochen bleiben.²⁷⁵ Die von White ausgehende Forschung hat, gegen die aus
Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Hrsg. von Heinz Schlaffer. Frankfurt am Main 1976, etwa S. 114: Ausgehend von einer Motivationskette in Wickrams Goldfaden bestimmt Lugowski das Verhältnis von vorbereitender Motivation und ‚Motivation von hinten‘: „diese Motivationsreihe deutet auf einen späteren Typus hin, der dadurch zustandekommt, daß die vorbereitende Motivation durch ihre lückenlose Verflochtenheit in die erzählte Welt immer überzeugender geworden ist, ohne daß doch die letzte Bestimmung durch die ‚Motivation von hinten‘ fehlte. In diesem Typus erscheinen schließlich beide Motivationsreihen vollkommen in eins. Es kündigt sich hier deutlich […] das an, was in der späteren Romanentwicklung unter der Bezeichnung der ‚Komposition‘ zu großer Bedeutung gelangen wird. […] Wenn ein Roman ‚komponiert‘ ist, so heißt dies, daß das Ganze dem Einzelnen vorgegeben ist, daß das Einzelne in Hinsicht auf das Ganze ‚gerichtet‘ ist und daß dieses Ganze des Romans entscheidend durch einen Ausgang bestimmt ist.“ Vgl. Lach 2005, S. 434; Ehlbeck 1996, S. 472– 475. Ehlbecks Pointe aber, dass „den Urtext“ der Geschichte „zu finden, […] eine Erfahrung“ sei, „die den Erzähler tötet“ (ebd., S. 474), muss angesichts der skizzierten Leserstrategie revidiert werden. Vgl. oben, S. 386. White, Metahistory, bes. S. 36 – 38, bspw. S. 38: „Die ideologischen Dimensionen einer historischen Darstellung sind Ausdruck des ethischen Elements in den standortabhängigen An-
2 Wie die Geschichte sich selbst erzählt – Stifters Witiko
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Metahistory zumindest ableitbare These von der bloßen Fiktionalität von historischer Erkenntnis, gezeigt, wie sich aus dieser unhintergehbaren condition doch ein spezifisch historischer Begriff von Wissenschaftlichkeit entwickeln lässt.²⁷⁶ Es kann daher nicht verwundern, dass gerade dem Witiko immer wieder die massive Ideologisierung der Geschichte vorgeworfen wurde bzw. dass deren Deutung zu einem bevorzugten Gegenstand der Forschung geworden ist – auch wenn die Auffassungen darüber, wie diese Ideologie aussieht, auseinandergehen.²⁷⁷ Die Vorbehalte zeitgenössischer österreichischer Rezensenten gegen die Darstellung der ‚parlamentaristischen‘ Wyšehrad-Wahl zeigen, wie der Witiko durchaus nicht als reaktionäre Ordnungsphantasie, sondern als Unterstützung der tschechischen, parlamentarischen Nationalbestrebungen verstanden werden konnte.²⁷⁸ Ein Blick in die Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen führt vor Augen, wie erbittert der ‚ethnische‘ Kampf zwischen Deutschen und Tschechen um die Deutungsherrschaft in der böhmischen Geschichte war. Nicht zuletzt die Witiko-Zeit spielte dabei immer wieder eine Rolle.²⁷⁹ Freilich: Gerade Stifters Darstellung der Wyšehrad-Versammlung ließe sich entweder als Parteinahme verstehen oder aber als historische Rekonstruktion. Nicht nur der beste – freilich im tschechischen Sinne engagierte – Kenner der Quellen, Palacky, vertrat eine vergleichbare Auffassung, sondern auch die Chroniken legen eine solche Vorstellung nahe.²⁸⁰
nahmen des Historikers über das Wesen historischer Erkenntnis und die Schlüsse, die sich aus der Analyse vergangener Ereignisse für das Verständnis gegenwärtiger ziehen lassen.“ Vgl. die Darstellung der Debatte und Vorschläge zu einer Lösung bei Müller 2008, S. 11– 44. Von einer obrigkeitlich motivierten Verklärung der Geschichte sprechen etwa Werner Hahl: Vom Gottesstaat: Österreich – Stifters Witiko. In: Die österreichische Literatur. Hrsg. von Herbert Zeman. Graz 1982, S. 439 – 464; Thomas Walter: Die Weltentschärfung des Adalbert Stifter. Witiko zwischen ständischem Recht und bürgerlichem Glück. Frankfurt am Main 1992; Blasberg 1998, S. 279 f. Vgl. die Darstellung der zeitgenössischen Rezeption in HKG 5.4, S. 273 – 296. Lach (2005) weist nachdrücklich auf diese – meist übersehene – Dimension hin. Beispielsweise bei Ludwig Schlesinger: Die Deutschböhmen und die přemyslidische Regierung. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen 5 (1867), S. 1– 19 und S. 38 – 48. Palacky schreibt in seiner Geschichte von Böhmen (Bd. 2.1, S. 17): „Die Gesetzgebung und alle wichtigeren den Staat betreffenden Verhandlungen wurden auf öffentlichen Land- oder Reichstagen gepflogen. Namentlich werden auch die Herzogs- und die Bischofswahlen […] als Gegenstände der Landtagsberathungen angeführt. An diesen Tagen nahmen alle großen und kleinen Grundbesitzer, so wie der höhere Clerus von Böhmen und Mähren ohne Unterschied Theil; die Stimmenmehrheit bildete die Beschlüsse.“ Und, bezogen auf die historische Situation der Wahl auf dem Wyšehrad: Die „alten Herzogswahlen“ waren, „nach dem Sinne des Gesetzes, nichts als die öffentliche und feierliche Anerkennung des Nachfolgerechtes des jedesmahligen ältesten
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IV Vom Detail zur Ganzheit der Geschichte – Zum historischen Roman
Wenn der Witiko sich daher politisch engagieren sollte, dann ist dem jedoch ein dezidiert ethisches Anliegen vorgeschaltet. Das politische, gleichzeitig aber moralische ‚Hineinwachsen‘ des Helden in den Raum der Politik und der großen Geschichte bildet den zentralen ethischen Leitfaden der Erzählung. Die Entscheidungen, die er in den Wirren der Politik und der Kriege trifft, sind weise und richtig, die Bauern seines Dorfes führt er mit vorbildlichem Verantwortungsbewusstsein, und bei all seiner Unberechenbarkeit erweist er sich gegenüber den anderen politischen Akteuren doch als loyaler Bündnispartner. Mit Recht lässt sein Handeln die von Beginn an gewünschte Frucht heranreifen: Am Ende baut Witiko die Burg, die er eingangs als Sitz des neuzugründenden Geschlechts der Witigonen antizipiert: „Witiko sagte, daß man auf den Steinen eine Burg bauen könnte, welche durch das Wasser wohl gesichert wäre. Er betrachtete den Platz mit Aufmerksamkeit.“ (Witiko, S. 56) Witiko ist ein vorbildlicher Charakter, ein Held. Wie Heinrich und Risach im Nachsommer so ist auch er als Orientierungsfigur für den Leser angelegt. In ihm konzentriert sich der hohe pädagogische Anspruch, den Stifter eigentlich schon immer, insbesondere aber in den letzten 15 Jahren seines Lebens verfolgte, sei es als Schulinspektor, sei es mit dem Lesebuch für Schulen. Der Sinn der Komposition liegt im Bezug des Individuums zu seiner historischen Welt. Beide verweben sich im Laufe des Romans ineinander. Die Geschichte im Ganzen erscheint als sinnvoll, so dass Witiko sich sinnsetzend in sie einbringen kann. Der Leser wird in diese Bewegung einbezogen. Er erschließt sich die Beweggründe und Motivationen Witikos und realisiert sie so gleichsam verstehend. Man könnte versucht sein, die programmatische Wirkungsstrategie von Stifters Lesebuch auf die Komposition des Witiko zu übertragen: „Zuerst Beschauen des Gegenstandes und Herrschaft desselben, dann Erregtheit des Innern und seine Geltendmachung […]. Zu beiden kömmt im Menschen dann das Wollen, in welchem das thätige Innere sich wieder der Außenwelt zuwendet und die That erzeugt, die den Kreis an seinem Anfangspunkte abschließt.“²⁸¹
Přemysliden […]. Nachdem aber jenes Gesetz, zunächst durch die Schuld der Fürsten selbst, umgangen wurde, bekamen freilich auch die Herzogswahlen eine andere Bedeutung. Die erste Spur einer Art Wahl-Capitulation haben wir schon bei Waldislaws I. Einsetzung wahrgenommen.“ (Ebd., S. 14). In der tschechischen Ausgabe seiner Geschichte sichert er seine Darstellung der Wyšehrad-Wahl mit einem Zitat aus einer der Hauptquellen ab, Gerlachs Fortsetzung des Cosmas: „Confluxerunt cuncti primates Bohemi in urbem Wissegrad et die noctuque consilia tractantes, illi illum et illi illum eligere et inthronizare contendebant. Omnis tamen ille conventus solum Nacerat intendebant, ut cuicunque ipse faveret, huic omnes pariter unanimiter subjacerent.“ Vgl. František Palacký: Dějiny národu českého w čechách a w morawě dle půwodních pramenůw. Bd. 1.2. Prag 1854, S. 26. Stifter, Aprent (Hrsg.), Lesebuch, S. VII.
3 Zusammenfassung
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Wollte man die Ideologie von Stifters Witiko kritisieren, dann böten sich zuerst die historischen Grundannahmen an, die seine Komposition tragen: die Vorstellung von einem Sinn der Geschichte, von der Möglichkeit, ihre Struktur zu erkennen und sich teilhabend in sie einzubringen; die Überzeugung, dass das Individuum und die Völker einen Platz in einer Ordnung einnehmen, der ihnen von einer geschichtsbildenden Macht zugewiesen worden ist. Stifter überbietet mit seinem Witiko zwar das zeitgenössische Geschichtsdenken und stellt sich damit seinerseits in ein Spannungsverhältnis zu den philologisch-historischen Wissenschaften. Aber er kann dies nur tun, indem auch er deren Annahmen über den Sinn der Geschichte im Kern teilt. Die Geschichte selbst, verstanden als Ausdruck Gottes in der Zeit, wäre nichts anderes als eine Komposition im Sinne von Lugowski.
3 Zusammenfassung Die Dichter sind mitunter klüger, als es die philologisch-historischen Wissenschaften wahrhaben wollen. Scheffel und Stifter greifen philologisch-historische Gegenstände nicht etwa auf, um sie popularisierend und mit Abstrichen im Wahrheitsanspruch zu vermitteln. Wenn die Popularisierung – wie im Ekkehard – eine Rolle spielt, dann ist auch sie mit einer programmatischen Kritik verbunden: der mangelnden Öffnung der Wissenschaften für ein Publikum, das mittels der Geschichte keineswegs nur unterhalten werden soll, sondern dessen Gegenwart und Zukunft davon abhänge, ein historisch fundiertes Bewusstsein von seiner eigenen Identität (zurück) zu erlangen. Dass der Roman Geschichte adäquat erkennen, darstellen und vermitteln könne, liegt im Kern beider historischer Romane, die hier analysiert wurden. Dieser Anspruch wird möglich, weil die historische Dichtung mühelos einer Poetik folgen kann, die fundamentale Schnittmengen mit programmatischen Positionen der philologisch-historischen Wissenschaften besitzt – vor allem der Annahme, dass Geschichtsschreibung nicht bloße Konstruktion sei, sondern die historische Erkenntnis auf ein metaphysisches Substrat ziele, das die ‚Wahrheit‘ ihrer Leistung verbürge. ‚Gott‘ – mindestens im Sinne eines Prinzips, das Ordnung garantiert – spricht sich für Boeckh, Ranke und Droysen in der Geschichte aus, wenn auch auf je unterschiedliche Weisen, die sich sehr wohl differenzieren ließen. Aber auch für Scheffel und Stifter ist die Geschichte erkenn- und darstellbar. Der Zugang zur Geschichte ergibt sich für beide ‚Parteien‘ durch die Überlieferung und ihre philologisch-kritische Behandlung. Scheffel und Stifter unterlaufen damit das Bild von Poesie, wie es die Wissenschaftler entwerfen, wenn sie dem Dichter den Ausgang von einer ‚subjektiven‘ Idee attestieren. Schon Alexis
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hatte in seiner Scott-Rezension festgestellt, wie wenig solche Einschätzungen die zeitgenössische Dichtung träfen: „In der Theorie spuken sie noch unter mancher Verkleidung umher“.²⁸² Die historischen Romane aber gingen „nicht von einer Idee bey Erfindung des Kunstwerks“ aus, sondern sie brächten ein „treu poetisches Bild des Lebens“ zustande,²⁸³ dessen Ursprung in der Realität liege. Insofern können sich beide Romane auch an philologisch-historischen Debatten beteiligen, die die Zeitgenossen führen. Sie stellen an ihren Gegenständen jeweils Hypothesen auf, die das Waltharilied respektive das Nibelungenlied betreffen, und sie nehmen auch Teil an den grundsätzlichen Debatten darüber, wie das Epos entsteht, wie es überliefert wird und welche Rolle seinen jeweiligen Tradenten und Dichtern dabei zukommt. Scheffels Roman gibt sich dezidiert als Kommentar zum Waltharius zu erkennen, er entfaltet an ihm eine Theorie des Dichters und der Kultur des 10. Jahrhunderts. Stifter reflektiert die Logik von mündlicher Überlieferung, indem er einen historischen Raum inszeniert, der im Wesentlichen auf Oralität basiert. Dessen Kommunikations- und Überlieferungsprozesse (re‐)konstruiert er, um gleichsam die Realität hinter der Überlieferung zu greifen. Er invertiert das historisch-kritische Wissen der zeitgenössischen Forschung und simuliert die Prozesse, die hinter der schriftlichen und mündlichen Tradition stehen. Sein Erzählverfahren übergibt dabei dem Leser die Aufgabe, aus der Geschichte selbst ‚Sinn‘ zu gewinnen, sie zu filtern und zu ordnen, die Personen zu Charakteren zu totalisieren, die geschichtlichen Geschehnisse zu bewerten. Was der Historiker an der Überlieferung bzw. der Geschichte leistet, das wird hier zur Aufgabe für den Leser. Am Roman lernt er, die Geschichte ‚zu lesen‘. Umgekehrt inszeniert sich der Roman als ‚Text der Geschichte‘ selbst. Die Geschichte ist sinnvoll, die Quellen sind ihre Zeugen, und das hermeneutisch-kritische Studium dieser Quellen aktualisiert in der Erkenntnis den Sinn, der im Lauf des Ganzen geborgen ist. Auf dieser Annahme mit all ihren weiteren Implikationen – der Bedeutung von Geschichtserkenntnis für das Schicksal der Gegenwart, der Rolle von „geistiger Apperzeption“ (Ranke), „schöpferische[r] Intuition“ (Droysen), „Takt“ (Wilhelm Grimm) – entfalten sich die Spannungen zwischen Dichtung und philologisch-historischen Wissenschaften.
A.[lexis], Scott, S. 4. Ebd., S. 7.
V Nietzsches Destruktionen Ob der Sprung von Stifters Witiko zu Nietzsche ein großer ist oder nicht, hängt von der Perspektive ab, die man auf ihn einnimmt. Nietzsche bemüht sich machtvoll, neben so manchem anderen auch die idealistischen Voraussetzungen zu zerstören, die Stifters Roman eingeschrieben sind und die die anderen Beispiele philologischen und poetischen Denkens prägen, von denen in den bisherigen Kapiteln die Rede war. Aber gerade, dass er sich von ihnen befreien muss, zeigt auch seine Verankerung in diesem Denken. Rein zeitlich gesehen, ist der Weg von Stifter zu Nietzsche kurz.¹ Als der Roman 1865 zu erscheinen begann, nahm Nietzsche sein Studium der Philologie in Bonn auf. 1867, mit Publikation des dritten Bandes des Witiko, erschien sein erster philologischer Aufsatz im Rheinischen Museum. ² Nietzsche bekam mit 23 Jahren Zutritt zu einem der führenden Organe der Zunft, besaß also wohl mehr als nur Talent. Er war auch bereits vorzüglich in die Gegenstände, die Techniken und Praktiken der Klassischen Philologie eingearbeitet. Die Ausbildung in Schulpforta hatte das Talent reifen und Früchte tragen lassen.³ Seine Untersuchung zum
Nietzsches Werke werden nach der ‚KSA‘ zitiert: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 15 Bde. München, Berlin, New York 21988. Die publizierten Schriften werden mit Band und Seite nachgewiesen; es folgt die Angabe der Schrift mit den in der Forschung üblichen Siglen (siehe Siglenverzeichnis), ggf. mit Bezeichnung des Buches (römisch) und der Nummer des Aphorismus (arabisch). Bei Texten aus dem Nachlass folgt die Zählung der KSA (Textgruppe in eckigen Klammern, dann Nummer des Textes). Wo nötig, wird die ‚KGW‘ benutzt: Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Begr. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, weitergeführt von Wolfgang MüllerLauter und Karl Pestalozzi. Berlin, New York 1967 ff. Die Briefe werden nach der ‚KSB‘ zitiert: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München, Berlin, New York 1980. Unter ‚KGB‘ wird hinzugezogen: Friedrich Nietzsche: Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Begründet von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, weitergeführt von Norbert Miller und Annemarie Pieper. Berlin, New York 1975 ff. Zur Geschichte der Theognidischen Spruchsammlung. In: Rheinisches Museum, NF 22 (1867), S. 161– 200. Zur Ausbildung in Pforta und den dortigen Arbeiten vgl. Hubert Cancik: Nietzsches Antike. Vorlesung. Stuttgart, Weimar 22000, S. 6 – 11; Sander L. Gilman: Pforta zur Zeit Nietzsches. In: Nietzsche-Studien 8 (1979), S. 398 – 427. Zum Studium in Bonn und Leipzig vgl. Barbara von Reibnitz: Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsches Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (Kap. 1– 12). Stuttgart, Weimar 1992, S. 13 – 24; Cancik 2000, S. 12– 16; Gherardo Ugolini: „Philologus inter philologos“. Friedrich Nietzsche, die Klassische Philologie und die griechische Tragödie. In: Philologus 147 (2003), S. 316 – 342, bes. S. 321– 324. Johann Figl (1984a, S. 47– 95) setzt die
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V Nietzsches Destruktionen
Corpus Theognideum zeigt, dass er die textkritische Methode, wie sie sein Lehrer Ritschl in Bonn und dann in Leipzig vertrat,⁴ schon sicher beherrschte, bevor beide sich kennenlernten.⁵ 1869, in seiner Basler Antrittsvorlesung,⁶ griff Nietzsche eine der Königsfragen seines Faches auf: Selbstbewusst nahm er Stellung zur Homerischen Frage, die für den gerade verstorbenen Stifter, ja, für das Verhältnis von philologisch-historischen Wissenschaften und Dichtung im 19. Jahrhundert insgesamt eine zentrale Rolle spielte. Nietzsche war ein Experte für die Fragen nach der kritischen Konstitution der ‚Texte‘ von Überlieferung und Geschichte, auf deren Grundlage Stifter seinen Witiko geradezu konstruierte. Stifter agierte, von der Perspektive der philologisch-historischen Zunft aus gesehen, gewiss als dichterischer Dilettant. Aber gerade daraus, dass er als Dichter schrieb, bezog er sein Selbstbewusstsein, die Leistungen dieser Zunft überbieten zu können. Und dieses Unbehagen an der Gelehrsamkeit ist auch dem jungen Philologen Nietzsche nicht unbekannt. Bereits in der Antrittsvorlesung arbeitet er sich an ihm ab. Nicht nur beobachtet er eine disziplinäre Uneinheitlichkeit der Klassischen Philologie, die er als Aggregat von so „verschiedenartigen wissenschaftlichen Thätigkeiten“⁷ wie Geschichtswissenschaft, Naturwissenschaft und Ästhetik bezeichnet. Die Verteidigungsbedürftigkeit der Wissenschaft ergibt sich für ihn vor allem angesichts der alten Vorwürfe der Dichter gegen Friedrich August philologischen Interessen und Studien in Beziehung zu Nietzsches früher Beschäftigung mit der christlichen Religion. Nietzsche nahm offenbar schon 1865 in Bonn an den Sitzungen von Ritschls Philologischem Seminar teil; vgl. Curt Paul Janz: Friedrich Nietzsche. Biographie. 3 Bde. München 1981, Bd. 1, S. 153. Unrichtig erscheint die Darstellung von William H. Schaberg, Ritschl sei erst in Leipzig auf Nietzsche aufmerksam geworden: ders.: Nietzsches Werke. Eine Publikationsgeschichte und kommentierte Bibliographie. Basel 2002, S. 23. Das Thema des Aufsatzes ging aus Nietzsches Valediktionsarbeit hervor, die er 1864 in Schulpforta anfertigte. Im Januar 1866 trug er seine Ergebnisse vor Kommilitonen in dem kurz zuvor auf Anregung Ritschls gegründeten Leipziger Philologischen Verein vor. Er gab sie auch Ritschl, der ihm daraufhin die weitere Ausarbeitung und Publikation anriet; vgl. Janz 1981, Bd. 1, S. 184 f.; von Reibnitz 1992, S. 16; Ugolini 2003, S. 321– 323. Zu den ersten Veröffentlichungen vgl. Reibnitz 1992, S. 16 – 24; Cancik 2000, S. 17 f.; Ugolini 2003, S. 323 f.; und den detailreichen Überblick von Marcello Gigante: Nietzsche und die Klassische Philologie. In: „Jedes Wort ist ein Vorurteil“. Philologie und Philosophie in Nietzsches Denken. Hrsg. von Manfred Riedel. Köln u. a. 1999, S. 151– 190. Einführend: Manfred Landfester: Der junge Nietzsche. Der Philologe als Philosoph und Prophet oder die Antike als Vorbild für Gegenwart und Zukunft. In: Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. Schriften zu Literatur und Philosophie der Griechen. Hrsg. von Manfred Landfester. Frankfurt am Main, Leipzig 1994, S. 377– 422. Nietzsche sprach am 28. Mai 1869 Über die Persönlichkeit Homers. Danach ließ er den Vortrag unter dem Titel Homer und die klassische Philologie (1869) privat in Basel drucken; vgl. Schaberg 2002, S. 33. KGW II.1, S. 249; Homer.
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Wolf, dieser habe – mit den Worten Schillers – den „Kranz des Homer zerrissen“ und – so Goethe – die Ilias zum „Flickwerk“ gemacht.⁸ Wolfs Homer-Kritik erscheint als moderne Gründungstat der Philologie, damit aber auch als Urszene des Melancholiepotentials, das den Philologen umtreibt: des Zweifels, ob es nicht „den Philologen überhaupt an künstlerischen Fähigkeiten und Empfindungen fehle, so dass sie unfähig seien dem Ideal gerecht zu werden“, ob nicht „in ihnen der Geist der Negation, eine destruktive bilderstürmerische Richtung mächtig geworden sei.“⁹ Es versteht sich vom Anlass seiner Vorlesung her, dass Nietzsche sein Fach hier von diesen Vorwürfen entlasten wollte. Aber das Unbehagen wuchs. Und die neue Ausrichtung, die Nietzsche der Philologie zu geben versuchte, indem er sie zunächst auf die Philosophie Schopenhauers und den Künstler Richard Wagner verpflichtete, führte ihn letztlich aus dem Fach hinaus. Die Geburt der Tragödie stellt die philologische Rekonstruktion der griechischen Kultur in den Dienst ästhetisch-philosophischer Reflexion,¹⁰ und sie verkündigt Wagner als messianischen Künstler der Gegenwart. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff brandmarkte Nietzsches im mehrfachen Sinne hybride Schrift als „Zukunftsphilologie“.¹¹ Auch Nietzsches Lehrer Ritschl erkannte die Geste der Geburt der Tragödie: „Sie können dem ‚Alexandriner‘ und Gelehrten unmöglich zumuthen, daß er die Erkenntniß verurtheile und nur in der Kunst die weltumgestaltende, die erlösende und befreiende Kraft erblicke.“¹² Nietzsche wird zum philologischen Propheten einer ‚Wiedergeburt‘ der Tragödie aus dem Geiste des Wagnerschen Kunstwerks – dieser Akt aber setzt ihn als Philologen radikal in die missliche Lage des Propheten, die bereits beim frühen Friedrich Schlegel zu beobachten war. Der Prophet ist irreduzibel, da er die Welt für die Erkenntnis der wahren Kunst vorbereitet; aber seine Funktion würde sich in dieser Vorbereitung
KGW II.1, S. 250; Homer. KGW II.1, S. 252 f. Nietzsches Stellungnahme in der Homer-Debatte deutet David R. Lachterman: Nietzsche and the Homeric Question. In: International Studies in Philosophy 23 (1991), H. 2, S. 83 – 101, vor allem S. 90 – 96. Die Schrift fällt in die Zeit und den Kontext von Nietzsches Bewerbung auf einen philosophischen Lehrstuhl an der Universität Basel; vgl. Landfester (1994, S. 387 f.), der hier eine Abwendung von der Philologie erkennen will. Christian Benne schränkt jedoch den scheinbar paradigmatischen Wert dieser Bewerbung überzeugend ein; ders.: Nietzsche und die historischkritische Philologie. Berlin, New York 2005, S. 25 f. Auch Gherardo Ugolini (2003) besteht darauf, dass Nietzsche ein alternatives Verständnis von Philologie anstrebt. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Zukunftsphilologie! eine erwidrung auf Friedrich Nietzsches geburt der tragödie. Berlin 1872. Die einschlägigen Schriften sind zugänglich in: Der Streit um Nietzsches Geburt der Tragödie. Hrsg. von Karlfried Gründer. Hildesheim 1969. Brief von Friedrich Ritschl an Nietzsche, 14. Feb. 1872; KGB II.2, S. 541.
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erschöpfen. Die Philologie selbst verschwände mit der Verwirklichung der Kunst – es sei denn, diese würde mit der Kritik identisch. Diese Konstellation prägt das fruchtbare Spannungsverhältnis von Kunst bzw. insbesondere Dichtung und philologisch-historischen Wissenschaften im 19. Jahrhundert überhaupt. Aber sie gewinnt im Laufe von Nietzsches Denken eine andere Pointe, eine neue Brisanz. Denn die Form, in der sie die vorherigen Kapitel verhandelten, ruhte auf einem Fundament idealistischer Annahmen, die sowohl die Dichter wie auch die Philologen teilten: Erstens gründete sie auf der Annahme, dass die philologisch-historische Erkenntnis eine reale Entsprechung in der Geschichte selbst habe. Der Verlauf von Geschichte und ihr Sinn, so die fundamentale Annahme, seien selbst intelligibel. Mittels Kritik und Hermeneutik der Quellen könnten in der Erkenntnis Begriffe konstituiert werden, die den agierenden Kräften der Geschichte selbst adäquat seien. Die Dichtung, so deren komplementärer Anspruch, vermöge diesen Weg abzukürzen, indem sie, ausgehend von der Überlieferung, eine tiefere Erkenntniskraft entfalte, Sinn und Gestalt der Geschichte diviniere und sie künstlerisch gestalte. Die konkurrierenden Ansprüche aber konnten sich entfalten, weil der Durcharbeitung der Geschichte eine ausgezeichnete Bedeutung für die Gegenwart zugerechnet wurde. Die Konstitution des Gewesenen in der eigenen Erkenntnis sollte leitende Kraft haben für die Gegenwart und ihren Weg in die Zukunft, damit dieser sich auch weiterhin in den Bahnen einer sinnvollen Geschichte vollziehen möge. Der Sinn der Gegenwart und ihre Orientierung in der Zukunft hingen damit ab von der Möglichkeit, Sinn in der Vergangenheit zu konstituieren. Dies galt für das Studium nationaler, moderner Überlieferungen genauso wie für das klassische Altertum, ungeachtet der Konkurrenz, in die die Vertreter dieser beiden Richtungen zueinander treten mochten, wenn die Frage aufkam, welche Tradition maßgeblich für die Nation und den Menschen sein sollten. Auch Stifters Witiko band die ethische Pointe seiner Komposition an die Fähigkeit, die Geschichte zu ‚lesen‘ und deren Text mit Hilfe der Dichtung zu konstituieren. Nietzsche fasst diese idealistische Bewegung, bezogen auf die klassische Philologie, in seiner Antrittsvorlesung pointiert zusammen: Die gesammte wissenschaftlich-künstlerische Bewegung dieses sonderbaren Centauren geht mit ungeheurer Wucht, aber cyklopischer Langsamkeit darauf aus, jene Kluft zwischen dem idealen Alterthum – das vielleicht nur die schönste Blüthe germanischer Liebessehnsucht nach dem Süden ist – und dem realen zu überbrücken; und damit erstrebt die klassische Philologie nichts als die endliche Vollendung ihres eigensten Wesens, völliges Verwachsen und Einswerden der anfänglich feindseligen und nur gewaltsam zusammengebrachten Grundtriebe. Mag man auch von Unerreichbarkeit des Zieles reden, ja das Ziel selbst als eine
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unlogische Forderung bezeichnen – das Streben, die Bewegung auf jene Linie hin ist vorhanden […].¹³
Die Durcharbeitung der realen Überlieferung hat ihren Fluchtpunkt in der Orientierung auf das Altertum als Idee, auf den sie in einer langsamen, vielleicht unendlichen Bewegung hinstrebt. Von diesem durch das Ideal geleiteten und angetriebenen Streben hänge die Einheit der klassischen Philologie ab, aber auch ihre Bedeutung für die Gegenwart: Sei sie doch gleichzeitig „Pädagogik“,¹⁴ die die Bildung der jungen Generation für die Zukunft verantworte. Unschwer erkannt man hier, eingepasst in die der Zukunft gewidmeten Institutionen der Bildung, den Gedanken des ‚Studiums‘ (Kap. II.1.1.), die hermeneutisch-kritische Dialektik von Einzelnem und Idee und ihre progressive Funktion. Auch die Insistenz, dass die Wissenschaft in ihrer konstruktiv-rekonstruktiven Erkenntnisleistung eine künstlerische Seite habe, ist in diesem Denkmodell wohlbegründet. Wenige Jahre später aber beginnt Nietzsche, die tragenden Grundpfeiler dieser idealistischen Denkform zu torpedieren.¹⁵ Dies geschieht beispielsweise in den ersten drei Aphorismenbüchern, die von 1878 bis 1880 erschienen und später unter dem Titel Menschliches, Allzumenschliches zusammengefasst wurden.¹⁶ Sie greifen entschieden die metaphysischen Voraussetzungen dieses Geschichtsdenkens an. Erstens kappt Nietzsche den Zusammenhang von historischem Blick und dem Sinn der Geschichte: Ein Mensch stirbt, eine Eule krächzt, eine Uhr steht still, alles in einer Nachtstunde: sollte da nicht ein Zusammenhang sein? Eine solche Vertraulichkeit mit der Natur, wie diese Ahnung sie annimmt, schmeichelt den Menschen. – Diese Gattung des Aberglaubens findet sich in verfeinerter Form bei Historikern und Culturmalern wieder, welche vor allem sinnlosen Nebeneinander, an dem doch das Leben der Einzelnen und der Völker so reich ist, eine Art Wasserscheu zu haben pflegen.¹⁷
KGW II.1, S. 253; Homer. KGW II.1, S. 250; Homer. Lachtermans (1991, S. 81– 87) sonst luzide Interpretation der Antrittsvorlesung erscheint dort verfehlt, wo er in ihr ein Modell für Nietzsches Denken insgesamt sieht. 1878 erscheint Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister, 1879 folgt Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Anhang: Vermischte Meinungen und Sprüche, dann im Dezember 1879 mit Datum 1880 Der Wanderer und sein Schatten (vgl. insgesamt Schaberg 2002, S. 83 – 110). 1886 fasst Nietzsche sie zu einer Neuen Ausgabe unter dem Titel des ersten Buches in zwei Bänden zusammen (ebd., S. 177 f.). Die Bände werden nicht neu gedruckt, sondern als Titelauflage aus Lagerbeständen hergestellt. Zitiert wird nach dem Text der KSA unter Verwendung der Titel der Erstausgaben: „MA“ (= MA2 I), „VS“ und „WS“ (= MA2 II). KSA 2, S. 211; MA 255.
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Die Annahme eines intrinsischen Zusammenhangs der einzelnen Dinge, ihre Aufgehobenheit in einer übergreifenden Logik der Geschichte wird hier zur Folge eines horror vacui des historischen Blicks erklärt. Ein abergläubischer Schluss auf ein hinter den Dingen liegendes Prinzip verdecke die sinnlose Kontingenz. Die historiographische Logik, die die Überlieferung auf deren paradigmatische Tiefenstruktur hin ordnet, steht hier genauso in Frage wie ihr Gegenstück im historischen Roman, das etwa bei Scheffel oder Stifter deutlich wurde.¹⁸ Zweitens stellt Nietzsche die ausgezeichnete Stellung des Künstlers zu einer Tiefenebene der (auch geschichtlichen) Wirklichkeit in Frage: Der Dichter stellt sich so, wenn er die einzelnen Berufsarten z. B. die des Feldherrn, des Seidenwebers, des Seemanns schildert, als ob er diese Dinge von Grund aus kenne und ein Wissender sei; ja bei der Auseinanderlegung menschlicher Handlungen und Geschicke benimmt er sich, wie als ob er beim Ausspinnen des ganzen Weltennetzes zugegen gewesen sei: in so fern ist er ein Betrüger.
Der Künstler, der die „wirkliche Wirklichkeit“ zu divinieren vorgibt, betrügt; aber er beginnt, so die weitere Pointe des Aphorismus, selbst an seinen Betrug zu glauben, weil sein Publikum seinerseits „der Wirklichkeit zeitweilig müde“ sei und den Dichtertraum dankbar begrüße.¹⁹ An anderer Stelle fügt Nietzsche eine Charakteristik hinzu, die spezifisch dem historischen Dichter gilt: Er wolle einem gesellschaftlichen Zustand, „der vor dem zuletzt bestehenden lag, wieder Leben“ geben, sammle „die menschlichen Ueberreste jener ihm anheimelnden Geschichtsepoche um sich“ und lasse sein Saitenspiel vor lauter gleichfalls „Todten, Halbtodten und Sterbensmüden“ ertönen.²⁰
1885, im Rückblick auf Menschliches, Allzumenschliches, notiert Nietzsche: „Damals erst bekam ich ein Auge für die Geschichte: Ranke. Die Unwissenheit in den Naturwissenschaften und der Heilkunst macht unsere Historiker zu bescheidenen Advokaten der Facta: wie als ob irgend etwas Gutes uns doch ‚heraus‘ komme, irgend ein kleiner ‚Finger Gottes‘ mindestens.“ KSA 11, S. 667; [40], 67. KSA 2, S. 394; VS 32. KSA 2, S. 457;VS 179. Nietzsche hat gleichwohl in den vorhergehenden Jahren mit Begeisterung etwa Walter Scott gelesen bzw. sich vorlesen lassen. Ende 1875, als er die geplante Unzeitgemäße Betrachtung Wir Philologen abgebrochen hatte und aufgrund von philologischen Vorlesungen und Augenschmerzen stöhnte, las ihm seine Schwester den „unsterblichen“ Scott vor: „so sehr sagt mir seine künstlerische Ruhe, sein Andante zu, ich möchte ihn Dir empfehlen“ – so schreibt er an Erwin Rohde (8. Dez. 1875; KSB 5, S. 125); auch an Carl von Gersdorff (16. Nov. 1875; KSB 5, S. 123). In seinen etwas früheren Notaten zu Wir Philologen bezeichnet er Scott als „Virtuosen[n]“. Erstaunlicherweise nimmt auch Nietzsche den Topos Scott-Homer auf, auch wenn seine Frage lediglich als rhetorische gemeint sein kann: „Und Homer und Walter Scott – wer erlangt wohl den Preis?“ (KSA 8, S. 91; [5], 181; und ebd., S. 25; [3], 39).
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Drittens trennt Nietzsche den Schluss von der Erkenntnis der Vergangenheit auf die Gestaltung der Zukunft auf: „[D]ie alte Cultur hat ihre Grösse und Güte hinter sich und die historische Bildung zwingt Einen, zuzugestehen, dass sie nie wieder frisch werden kann“. Ein „Fortschritt im Sinne und auf dem Wege der alten Cultur“ sei „nicht einmal denkbar. Wenn romantische Phantastik immerhin auch das Wort ‚Fortschritt‘ von ihren Zielen (z. B. abgeschlossenen originalen VolksCulturen) gebraucht: jedenfalls entlehnt sie das Bild davon aus der Vergangenheit; ihr Denken und Vorstellen ist auf diesem Gebiete ohne jede Originalität.“²¹ Dies gilt a fortiori auch für die Pädagogik, wenn sie mittels der Erkenntnis des Alten die Zukunft sichern will. Die Philologie, wie Nietzsche sie in seiner Antrittsvorlesung verstand, kann gewiss als Modell für diese Verklammerung von Vergangenheit und Zukunft dienen, die von den Vorstellungen eines progressiven Studiums und einer pädagogischen Aufgabe gehalten wird. In den zitierten Aphorismen aber weitet Nietzsche seine Kritik aus. Sie gilt der philologisch-historischen Kultur, ihrem Denkmodell und ihren Praktiken insgesamt. Gemessen an diesem Befund, der sich in den folgenden Schriften noch radikalisiert, ist es erstaunlich, dass Nietzsche sich doch keineswegs von der Philologie und der Geschichtserkenntnis abwendet. Johann Figl und Christian Benne haben gezeigt, wie er grundlegende Handgriffe seines kritischen philosophischen Verfahrens der Philologie entnimmt und wie er andere Praktiken der Erkenntnis mit Begriffen bezeichnet, die er ebenfalls aus ihr entlehnt.²² Dies gilt beispielsweise für sein Erkenntnismodell der Genealogie, das dezidiert auf historische Erkenntnis setzt.²³ Beides macht Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches
Alle Zitate KSA 2, S. 45; MA 24. Johann Figl: Hermeneutische Voraussetzungen der philologischen Kritik. Zur wissenschaftsphilosophischen Grundproblematik im Denken des jungen Nietzsche. In: Nietzsche-Studien 13 (1984b), S. 111– 128; ders. 1984a, pass.; Benne 2005. Auch Denis Thouard (2000, S. 157) geht dieser Kontinuität nach und kommt zu dem Schluss: „Nietzsche n’en finit sans doute jamais tout à fait avec la philologie sous ce double aspect d’une tradition sclérosée et d’un apprentissage critique. Elle donnait, avec l’asservissement, les moyens de s’en défaire.“ Vgl. außerdem Johann Figl: Nietzsches Verständnis der „Kunst des Lesens“. Skripturalität als hermeneutische Aufgabe im Kontext der Metaphysikdiskussion. In: Krisis der Metaphysik. FS Wolfgang Müller-Lauter. Hrsg. von Günter Abel und Jörg Salaquarda. Berlin, New York 1989, S. 154– 172; Hendrik Birus: Wir Philologen … Überlegungen zu Nietzsches Begriff der Interpretation. In: Revue internationale de philosophie 38 (1984), S. 373 – 395; Wegmann 1994. Von diesen Befunden geht auch Alexander Nebrig aus: Nietzsches Dichterbild und die Wiederbelebung des Dithyrambus durch die Philologie. In: Verf., ders. (Hrsg.) 2010, S. 219 – 242. Vgl. dazu Figl 1984b, pass., vor allem S. 17; Benne 2005, S. 96 – 150. Darüber hinaus Éric Blondel: Nietzsche, le corps et la culture. La philosophie comme généalogie philologique. Paris
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deutlich, wenn er sich vornimmt, die Natur in derselben Weise zu ‚lesen‘, „wie jetzt die Philologen sie für alle Bücher geschaffen haben“,²⁴ wenn er emphatisch das „Glück des Historikers“ preist.²⁵ Der in der Nietzsche-Forschung verbreiteten Auffassung, dieser habe in seiner Basler Zeit nicht nur mit dem Stand des Philologen, sondern auch mit dessen Methode und Ethos gebrochen, kann man also mit guten Gründen widersprechen.²⁶ Was aber ist das für eine Philologie, was für eine Geschichtserkenntnis, von denen Nietzsche hier spricht und die gerade nicht auf einen in der Geschichte selbst liegenden Sinn bezogen sein können? Diese Frage steht im Zentrum der ersten Abschnitte (Kap. V.1.) des folgenden Kapitels. Hinzu tritt ein zweiter Punkt. Es ist ebenso erstaunlich, dass Nietzsche wenige Jahre später mit dem Zarathustra eine erste Summe seines Denkens vorlegt, die selbst in der Form einer Fiktion daherzukommen scheint. Wie kann Nietzsche ein Buch schreiben, dessen autoritative Geste nicht zuletzt auf der Erfindung einer Figur basiert und darüber hinaus als „‚heiliges Buch‘“²⁷ auftritt? Lässt er hier nicht genau jenen Betrug walten, den er vorher am Künstler denunziert hat? Und als letzte Frage, die gleichzeitig auf die These des zweiten Teils des Kapitels (V.2.) verweist: Wie hängt diese neue, andere Philologie Nietzsches zusammen mit der Produktion seines Heiligen Buches? Kann sie es ihm vielleicht 1986; ders.: The Question of Genealogy. In: Nietzsche, Genealogy, Morality. Essays on Nietzsche’s Genealogy of Morals. Hrsg. von Richard Schacht. Berkeley u. a. 1994, S. 306 – 317. KSA 2, S. 29; MA 8. KSA 2, S. 386;VS 17. Gegen den verbreiteten Eindruck, Nietzsche ‚schreibe‘ sich mit Über Nutzen und Nachtheil ‚aus der Geschichte heraus‘, argumentiert Thomas H. Brobjer: Nietzsche’s Relation to Historical Methods and Nineteenth-Century German Historiography. In: History and Theory 46 (2007), S. 155 – 179. Er zeigt nicht nur, dass Nietzsche Wolf, Niebuhr, Ranke und Mommsen kannte und – wenngleich mit Unterschieden – schätzte, sondern besteht auf der fundamentalen Bedeutung, die die Geschichte für ihn durchgehend besaß. Vgl. auch ders.: Nietzsche’s View of the Value of Historical Studies and Methods. In: Journal of the History of Ideas 65 (2004), S. 301– 322; ders.: The Late Nietzsche’s Fundamental Critique of Historical Scholarship. In: Nietzsche on Time and History. Hrsg. von Manuel Dries. Berlin, New York 2008, S. 51– 60. Forschungsüberblick bei Benne 2005, S. 1– 7. Auf die genannte Weise argumentiert beispielsweise Gigante (1999, S. 177), wenn er schreibt, Nietzsche habe erst in der späten Zeit, etwa mit der neuen Vorrede zur Morgenröthe (geschr. 1886), eingestanden, dass er nie aufgehört habe, Philologe zu sein. Landfester (1994, S. 392 f.) begreift die Geburt der Tragödie als „Bruch mit der Philologie“ zugunsten der Philosophie. Schon sein Belegargument, Nietzsche habe auf seinem Lehrstuhl in der Folge konsequenterweise griechische Philosophie betrieben, trifft jedoch nicht zu. 1875 beispielsweise denkt Nietzsche über Seminare zu den Tragikern nach (KSA 8, S. 129; [8], 3) und hält sich an, seine „philologischen Arbeiten“ auszuführen, „damit sie mir nicht ganz aus dem Gedächtnis kommen“. Er denkt darüber nach, sie in einem Band herauszugeben (KSA 8, S. 129 f.; [8], 4); vgl. noch das Inhaltsverzeichnis, das er 1877 entwirft (KSA 8, S. 380; [22], 10). Der Sinn der projektierten „Vorrede über Philologie“ ist hier mit dem Stichwort „Alles als Übung“ umrissen. So Nietzsche beispielsweise im Brief an Malwida von Meysenbug, 20. April 1883; KSB 6, S. 363.
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ermöglichen, ja: es geradezu notwendig machen, ein solches Buch zu schreiben? Nietzsche entwickelt um Zarathustra herum ein neues Regime des Schreibens, das sich aus einer Aufspaltung in zwei Rollen, aus einer doppelten Optik ergibt. Philologie und Kunst, von ihren idealistischen Ansprüchen entbunden, werden zu komplementären Praktiken eines Maskenspiels, das auf neue Weise der Zukunft dienen soll.
1 Antiidealistische Philologie 1 Disjunktionen – Wir Philologen „Den Stand der Philologen als Problem zu empfinden.“²⁸ Dies notiert Nietzsche im Frühling – Sommer 1875. Empfunden hatte schon die Antrittsvorlesung das Problem, das sich mit dem Stand der Philologen verband.²⁹ Aber Nietzsche hatte sich dort in die Reihen der Disziplin gestellt und das Problem von innen heraus zu bewältigen gesucht. Man kann seiner Rede nur halb vorwerfen, was Nietzsche anderen Philologen entgegenhält: dass sie über ihre Wissenschaft so sprächen, als hätten sie „noch gar nicht darüber nachgedacht […], daß man sie angreifen könnte.“³⁰ Nun jedoch, 1875, empfindet Nietzsche den Stand des Philologen nicht nur als Problem, sondern er sieht in der Explikation dieser Empfindung seine Aufgabe. Der Satz gewinnt fast programmatischen Wert für die Abhandlung, die Nietzsche seit Anfang 1875 plant. Die vierte Unzeitgemäße Betrachtung sollte der Philologie KSA 8, S. 74; [5], 133. Wie dies bereits vom Beginn von Nietzsches Laufbahn an der Fall ist, rekonstruieren Hubert Cancik und Hildegard Cancik-Lindemaier: „Das Gymnasium in der Knechtschaft des Staates“. Zu Entstehung, Situation und Thema von Friedrich Nietzsches Wir Philologen. In: Most (Hrsg.) 2002, S. 97– 115. Weitere Belege und Details bei Gigante 1999, so etwa zu Nietzsches ambitioniert-respektlosem Vorhaben von 1868, eine „Geschichte der litterarischen Studien im Alterthum und in der Neuzeit“ zu schreiben; Brief an Erwin Rohde, 1.–3. Febr. 1868, zitiert nach ebd., S. 157. Den literaturgeschichtlichen Arbeiten bis über die Geburt der Tragödie hinaus geht nach: Barbara von Reibnitz: Vom ‚Sprachkunstwerk‘ zur ‚Leselitteratur‘. Nietzsches Blick auf die griechische Literaturgeschichte als Gegenentwurf zur aristotelischen Poetik. In: ‚Centauren-Geburten‘. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche. Hrsg. von Tilman Borsche, Federico Gerratana und Aldo Venturelli. Berlin, New York 1994, S. 47– 66. KSA 8, S. 73; [5], 125. Nietzsche geht hier konkret von Otto Jahns Rede über Bedeutung und Stellung der Alterthumsstudien in Deutschland (1858) aus. Freilich hatte Nietzsche Gründe zur Feindschaft. Sein Lehrer Ritschl verließ aufgrund eines Streites mit Jahn die Bonner Universität; außerdem griff Jahn verschiedentlich Richard Wagner an. Am Beginn seines Studiums in Bonn hatte Nietzsche Jahn freilich noch geschätzt; vgl. Janz 1981, Bd. 1, S. 143 und S. 153.
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gelten. Nach der fundamentalen Kritik an David Friedrich Strauß, nach der Abrechnung mit dem ‚historischen Sinn‘, wie Nietzsche ihn bei den Zeitgenossen walten sah, und nach der Reflexion über Schopenhauer als Erzieher wollte Nietzsche über die Philologen schreiben. Der Titel Wir Philologen zeigt, dass hier voll ausgefaltet werden sollte, was die kleine Notiz festhält: Der Stand der Philologen sollte als Problem verstanden werden, als eines freilich, das der Autor, schreibend, gleichzeitig bewältigt.Wenn an die Stelle der liegengelassenen Schrift schließlich im Sommer 1875 Richard Wagner in Bayreuth treten wird, dann ist das auch eine Art von Bewältigung. Später, in Ecce Homo, stellt Nietzsche diese Zeit als eine der rettenden Entscheidung, der plötzlichen Selbsterkenntnis dar. „Mit einem Mal“ sei ihm klar geworden, „wie willkürlich sich meine ganze Philologen-Existenz an meiner Aufgabe ausnehme. Ich schämte mich dieser falschen Bescheidenheit…“.³¹ Der Rückblick ordnet das Leben auf die eigentliche Aufgabe hin, und die Lösung vom Stand der Philologen wird zum entscheidenden Schritt auf diesem Weg. Gegen diesen retrospektiven Ordnungswillen lohnt es sich jedoch, der Dynamik nachzugehen, die der geplante Titel Wir Philologen impliziert.³² Nietzsches Arbeit schritt, nach seinen Notizen zu urteilen, recht rasch voran.³³ Er las in dieser Zeit verschiedene Schiften zur Philologie, vor allem Friedrich August Wolf.³⁴ Ihm sollte, wie schon in der Antrittsvorlesung, eine besondere Stellung zukommen. Als
KSA 6, S. 325; EH, Menschliches, Allzumenschliches 3. Vgl. dazu insgesamt die Arbeiten von Hubert Cancik: gem. mit Hildegard Cancik-Lindemaier: „Philologie als Beruf“. Zu Formengeschichte, Thema und Tradition der unvollendeten vierten Unzeitgemäßen Friedrich Nietzsches. In: dies.: Philolog und Kultfigur. Friedrich Nietzsche und seine Antike in Deutschland. Stuttgart,Weimar 1999, S. 69 – 84; dies. 2002, S. 97– 115; Cancik 2000, S. 94– 108. Das Gros der Notizen findet sich in dem Heft U II 8. Von hinten begonnen, füllt die Grundschicht die Seiten 239 bis 200. Die KSA druckt nicht dieses Heft selbst ab, sondern Carl von Gersdorffs Abschrift auf losen Quartblättern (vgl. u., Anm. 37). Die Grundschicht ist aber mithilfe des kritischen Apparats in KGW IV.4, S. 358 – 366, rekonstruierbar. Das nicht in die Abschrift Übernommene wird in der KSA unter der Sigle [2] versammelt. Zur Manuskriptlage vgl. KGW IV.4, S. 93 – 97; ebd., S. 493 – 500; übersichtlich bei Cancik 2000, S. 95. Nietzsche hatte sich Wolfs Kleine Schriften (hrsg. von Gottfried Bernhardy. 2 Bde. Halle 1869) aus der Bibliothek entliehen; vgl. KSA 14, S. 556. Wolf gehörte immer noch zu den grundlegenden Autoren für die klassische Philologie, Nietzsche schätzte ihn aber ganz besonders. Seine Beschäftigung mit ihm dokumentiert Brobjer 2007, S. 165 – 168. Manfred Riedel zeigt, wie Nietzsche schon früh in einen Dialog mit Wolf eintritt, der auch für die Geburt der Tragödie fruchtbar wird (Die Erfindung des Philologen: Friedrich August Wolf und Friedrich Nietzsche. In: ders. 2001, S. 97– 118). Zu Wolf und Nietzsche vgl. außerdem Thouard 2000, S. 161; Benne 2005, S. 39.
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Carl von Gersdorff im März 1875 die Notizen ins Reine schrieb,³⁵ setzte Nietzsche dem Manuskript das Datum voran, an dem Wolf angeblich an der Georgia Augusta als erster „stud. philol.“ immatrikuliert wurde. Es markiere den „Geburtstag der Philologie“.³⁶ Nietzsches Bemerkungen sind in eine nummerierte, fünfteilige Anordnung eingefügt. Sie scheint sich grob mit einer der Dispositionen für die Schrift zu decken, die er entworfen hat.³⁷ Nach dem März notierte Nietzsche weitere Einfälle und ordnete sie dieser Gliederung zu.³⁸ Offenbar im Sommer 1875 setzte er zu einer weiteren Schicht von Notizen an.³⁹ Sie richten sich nun meist auf die vorplatonische Philosophie. Ein zentraler Entwurf darin trägt den Titel „Wissenschaft und Weisheit im Kampf“,⁴⁰ ihm folgt eine Notiz, die als Titel für eine eigene Schrift erscheint.⁴¹ Zurück zum Thema von Wir Philologen führt ein weiteres schmales Konvolut von Zetteln mit umfangreicheren Ausarbeitungen.⁴² Neben einem Plan für die Schrift finden sich hier längere Texte, die vermutlich zu einer Durchführung von Wir Philologen ansetzen.⁴³ Nietzsche unterbrach die Arbeit im Sommer 1875 und wandte sich der WagnerSchrift zu.⁴⁴ Die Genese von Wir Philologen zu einer eigenen Schrift war damit beendet.⁴⁵ Aber er ließ die Notizen doch nicht fallen. Ein Teil von ihnen ging in das
Vgl. KGW IV.4, S. 94. Die Abschrift wird abgedruckt in KSA 8, S. 14– 38. Das Manuskript Mp XIII 6b ist dort mit [3] bezeichnet. Vgl. KSA 8, S. 14; [3], 2. Diese ‚Gründungstat‘ der Philologie hat sich freilich als Mythos erwiesen; vgl. oben, Kap. I.2.2., S. 46. Insgesamt überliefern die Notizen drei Konzepte für die Schrift. In demselben Heft U II 8 wie [3], jedoch durch von Gersdorff nicht abgeschrieben, notiert Nietzsche unter der Überschrift „Wir Philologen. Ungefährer Plan.“ Themen für sechs Teile (gedruckt in KSA 8, S. 11 f.; [2], 3). Gleich darunter korrigiert er (KSA 8, S. 12; ebenfalls [2], 3) in einen etwas abweichenden, fünfteiligen Plan. Unter den losen Blättern verschiedenen Formats (Mp XIII 6a), die die KSA unter der Sigle [7] abdruckt, findet sich ein weiterer, fünfteiliger Plan, der wieder eine etwas andere Anordnung trifft (KSA 8, S. 122; [7], 3). Er ist nicht sicher zu datieren; vgl. KGW IV.4, S. 97. Die Notizen finden sich gleichfalls in dem Heft U II 8. Die KSA (8, S. 41– 96) druckt sie unter der Sigle [5]. Nietzsches Zuordnung wird hier leider weggelassen; dokumentiert ist sie in KGW IV.4, S. 494. Auch für sie benutzt er das Heft U II 8. In der KSA tragen sie die Sigle [6]. KSA 8, S. 97; [6], 4. „Wissenschaft und Weisheit im Kampfe, dargestellt an den ältern griechischen Philosophen“; KSA 8, S. 98; [6], 5. Es handelt sich um die schon in Anm. 37 genannten Papiere mit der Sigle [7]; KSA 8, S. 121– 127. Da die vorherigen Notizen Vorstufen zu den Blättern [7], 6 und [7], 7 enthalten, können zumindest diese beiden zeitlich nach der Niederschrift von U II 8 eingeordnet werden, also etwa in den Sommer 1875; vgl. KGW IV.4, S. 97. Vgl. den Brief an Erwin Rohde, 7. Okt. 1875; KSB 5, S. 118 – 120, hier S. 119. Nietzsche spricht hier von der Arbeit an Wir Philologen als unterbrochener, nicht abgebrochener. Vgl. hierzu und zum Folgenden Cancik, Cancik-Lindemaier 1999, S. 72– 74.
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Manuskript ein, das den Titel Die Pflugschar trägt.⁴⁶ Dieses blieb ebenfalls unpubliziert, steht aber an einer wichtigen Stelle in Nietzsches Werk: Es ist sein erstes Aphorismenbuch. Das Unbehagen am Stand der Philologen, das sich in der Abhandlung Wir Philologen entladen und klären sollte, zeitigte also auch eine neue Form des Schreibens. Die Notizen werden zu Aphorismen.⁴⁷ Aus der Pflugschar geht kurz darauf Menschliches, Allzumenschliches hervor.⁴⁸ Auch hier finden sich noch einige der Notizen aus Wir Philologen. Dass Wir Philologen werkgeschichtlich mit Menschliches, Allzumenschliches in Verbindung steht, kann nicht verwundern. Die oben, in der Einleitung zitierten Aphorismen zeigen eine Geste des Denkens, auf der auch schon die liegengelassene Arbeit beruhte: die Disjunktion. Während Nietzsche den Wert von MA später, in Ecce Homo, auf eine Destruktion des „Idealismus“⁴⁹ zuspitzen wird, so galt Wir Philologen einem speziellen, aber zentralen Träger dieses Idealismus. Auch wenn die Notizen vielgestaltig und untereinander nicht widerspruchslos sind, so zeigen sie doch durchgehend diese Arbeit der Disjunktion. Als deren rhetorisches Mittel erscheint in einem der umfangreicheren Entwürfe aus dem Sommer 1875 die Gerichtsverhandlung. So wie Nietzsche in Über Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben den Leser auffordert, sich eine Herde geschichtsloser Tiere vorzustellen,⁵⁰ so wie er am Beginn des Entwurfes über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne einen Blick auf den Menschen von einem anderen Planeten aus imaginiert,⁵¹ so entwirft er hier einen „Gerichtshof“.⁵² Angeklagt ist zunächst die zeitgenössische „Bildung“; „freiere und überlegenere Geister“ führen den Prozess. Die Bildung selbst kann sich jedoch schnell aus der Affäre ziehen, habe sie doch keine eigene Gestalt, sondern nehme stets diejenige an, die ihr ihre „Bildner“ verliehen.⁵³ In ihnen, den „Philologen“, treten dann die eigentlich Verantwortlichen vor Gericht. Mit der Frage nach der Bildung wählt Nietzsche als Angriffspunkt, was er in der Antrittsvorlesung noch als einheitsstiftende Praxis jener aggregierten Wissenschaft zu verteidigen versucht hatte: die pädagogische Aufgabe. Nietzsche Peter Gast schrieb das Manuskript (M I 1) im September 1876 ins Reine (vgl. KGW IV.4, S. 102 f.). Es versammelt 176 Aphorismen; vgl. dazu Cancik 2000, S. 95 und S. 104. KSA und KGW drucken sie nur auszugsweise ab. In Ecce Homo weist Nietzsche eigens auf das Manuskript hin; vgl. KSA 6, S. 324. Vgl. dazu Cancik, Cancik-Lindemaier 1999, S. 79. Vgl. KGW IV.4, S. 103 f. KSA 6, S. 322; EH, Menschliches, Allzumenschliches 1. Vgl. KSA 1, S. 248 f.; Nutzen und Nachtheil. Vgl. KSA 1, S. 875; Wahrheit und Lüge. KSA 8, S. 125; [7], 7. Alle Zitate ebd.
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richtet sich damit auf die neuhumanistische Bildungskonstellation (vgl. Kap. I.2.1. bis 3.). Gymnasiallehrer rekrutierten sich aus dem Philologenstand, und die sachliche Expertise war das entscheidende Kriterium für ihre Eignung. Nachdem sich diese Situation im 19. Jahrhundert verfestigt hatte, geriet sie an dessen Ende erneut unter Beschuss.⁵⁴ Nietzsches Gerichtsverhandlung trennt diesen Konnex von Gegenstand und Praktiken an den entscheidenden Stellen auf. Sehe man das Unzureichende der gegenwärtigen Bildung ein, wie sie aus dieser Engführung mit der Philologie entstehe, dann hätten die Philologen entweder aufgrund falscher Einsicht oder mangelnden Willens versagt: Entweder verfehlten sie ihre Aufgabe, weil sie von falschen Annahmen ausgingen, oder sie wüssten zwar das Richtige, könnten es aber nicht adäquat umsetzen. Im ersten Fall irrten sie sich entweder über die Natur des Altertums, das sich in Wirklichkeit gar nicht für die Schulerziehung eigne, oder sie irrten sich über die Gegenwart, und das Altertum lasse sich in diese gar nicht hineinstellen. Im zweiten Fall könnten sie zwar das Altertum und die Gegenwart adäquat verstanden haben; aber dann täuschten sich die Philologen darüber, dass gerade sie die geeigneten Werkzeuge zur Erziehung sein sollten: Sie wären „mit Unrecht Lehrer und lebten in einer falschen Stellung.“⁵⁵ Vor dem imaginären Gericht müssen die Philologen dreierlei beweisen: dass sie das Altertum, die Gegenwart und sich selbst richtig verstehen. Nietzsches Entwurf bricht ab, nachdem er die drei Fragen formuliert hat. Die rhetorische Verve des Fragmentes lässt dabei keinen Zweifel aufkommen: Die Philologen sollten in allen drei Anklagepunkten schuldig gesprochen werden. Der Sinn der genannten Fragen besteht darin, den Stand der klassischen Philologen von den Annahmen zu trennen, die seine Würde ausmachen. Der Philologe wird von seinem Gegenstand abgelöst: Er versteht das Altertum gar nicht richtig – wie kann er also mit seiner Hilfe erziehen? Er versteht die Gegenwart nicht richtig – wie kann er also der Gegenwart gerade das Altertum als Erziehungsmittel empfehlen? Er missversteht sich selbst – wie kann er also glauben, gerade ihm komme die Aufgabe der Erziehung zu? Die Fragen haben eine disjunktive Funktion. Sie richten sich zwar auch auf die einzelnen Parameter, darauf, was das Altertum sei, was die Gegenwart, was Erziehung, was der Mensch etc. Im Kern aber wollen sie das Gefüge zerstören, zu dem diese sich zusammengeschlossen haben: Praxis, Stellung, Selbstverständnis und Ideenhaushalt der Klassischen Philologie. Die Frage nach der Richtigkeit der einzelnen Ideen gilt damit primär der Kritik einer Insti Zum ‚Schulkrieg‘ zwischen den Vertretern einer humanistischen Schulbildung und des Realgymnasiums vgl. Albisetti / Lundgreen 1991, S. 228 – 278, hier S. 229 – 238; Cancik, Cancik-Lindemaier 2002, S. 102 f. KSA 8, S. 127; [7], 7.
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tution, die aufgrund dieser Ideen und ihrer Verkettung eine Machtstellung in der Gegenwart beansprucht. Um diese Disjunktionen herum lässt sich ein großer Teil des Materials organisieren, das Nietzsche in seinen übrigen Notizen zusammengetragen hat. Es ergibt sich in etwa das folgende Bild:
a Missverständnis des Altertums Schon die Geburt der Tragödie bestand auf einem anderen Bild der Antike. Als Schlüssel verstand Nietzsche die Frage nach dem Pessimismus der Griechen: Wie verstünden sie es – nicht zuletzt durch ihre Kunst –, doch zum Leben zu verführen, trotz der Einsicht, dass es wesenhaft Leiden sei? Humanität als klassischen Wert der Antike sucht man hier vergebens. Nietzsches antihumanistisches Bild des Altertums ist gut erforscht.⁵⁶ Wenige Stichworte mögen daher genügen. Der These, das Altertum sei keineswegs „die Schule des Humanen“,⁵⁷ gehen die Notizen intensiv nach. „Wie kann man die Alten nur human finden!“⁵⁸ – so ‚fragt‘ Nietzsche etwa. Sklaverei, Rassismus, die eruptive, oft zerstörerische Kraft der großen Individuen, die Kriege, der Wille zur Machtentfaltung liefern Argumente dafür, dass diese Ansicht auf einem fundamentalen Missverständnis beruhe. Freilich differenziert Nietzsche die griechische Antike zeitlich weiter aus. Mit dem klassischen Athen, mit Sokrates und Euripides nehme im Altertum selbst jene Lebenskraft ab, die sich vorher, in archaischer Zeit, habe entfalten können. Hier, bei den Früheren, sucht Nietzsche sein emphatisches Griechentum der starken Einzelnen.⁵⁹ Ob er es dort auch findet, darüber sind die Notizen jedoch uneins. Einerseits notiert er, es wäre eine noch „ganz ungelöste Aufgabe“, das „Alterthum in Schriften“⁶⁰ aufzubauen – und es damit von seiner archaischen Urgeschichte her zu verstehen. Als er dies im Laufe seiner Notizen versucht, stößt er jedoch immer wieder auf Punkte, wo sich gerade dieses Griechentum selbst zerstöre, ja, zerstören müsse, wo durch den großen Genius selbst die Logik der „Entartung“ in
Vgl. etwa Cancik 2000, S. 35 – 49 und S. 94– 103; ders., Cancik-Lindemaier 2002, S. 110 f. Enrico Müller rekonstruiert – unter Ausblendung von Nietzsches Stellung zur Philologie – seine philosophische Auseinandersetzung mit den Griechen: ders.: Die Griechen im Denken Nietzsches. Berlin, New York 2005. Eine gut erschlossene bibliographische Übersicht der Forschungen zu Nietzsches Antike bietet der Band: Theodor Lindken, Rudolf Rehn: Die Antike in Nietzsches Denken. Eine Bibliographie. Trier 2006. KSA 8, S. 125; [7], 6. KSA 8, S. 60; [5], 72. Vgl. dazu im Kontext der Altertumsstudien des 19. Jahrhunderts: Most 2001. KSA 8, S. 41; [5], 2.
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Gang gebracht werde.⁶¹ Insbesondere das Studium der – wie Nietzsche sagt – ‚vorplatonischen‘ Philosophen soll klären helfen, wie jener philosophisch-wissenschaftliche Blick entstand, mit dem Sokrates, nach der These der Geburt der Tragödie, das tragische und archaische Zeitalter beendete.⁶² Die Frage, wie und wo das „jüngere“ Altertum von dem „älteren zu unterscheiden“ sei,⁶³ hat für Nietzsche einen zentralen Stellenwert. Allerdings kommt er immer wieder zu dem Punkt, wo er das „Nichtzustandekommen der höchsten Lebenstypen“ im Altertum feststellen muss.⁶⁴
b Missverständnis der Gegenwart Nietzsche versucht in seinen Notizen selbst eine Rekonstruktion der Antike. Dies erscheint ihm als tragender Punkt für die Argumentation: Wenn man zeigen wolle, „weshalb Griechen und Philologen sich schwer verstehen müssen“, habe man die „Characteristik der Griechen mit zu geben“.⁶⁵ Seine Anstrengungen, ein wesenhaft antihumanes Griechentum zu zeichnen, lassen Nietzsches Ambition als eine Variante von Schlegels Studium-Modell erscheinen, bei dem sich nur das Vorzeichen des Gegenstands geändert hat: Es wären dann lediglich andere Griechen, denen sich die Modernen zuzuwenden hätten. Aber neben dem Schwanken über das tatsächliche Bild der Griechen läuft jener andere Gedanke einher, dass der philologische Blick auch die Gegenwart falsch sehe. Der zweite Anklagepunkt richtet sich auf etwas anderes. Das idealistische Modell des Studiums impliziert, die Konstitution eines vergangenen Sinns von Geschichte wirke unmittelbar auf die Gegenwart: Diese gewinne aus dem Blick auf die Vergangenheit eine Ratio, um den Sinn der eigenen Gegenwart, des eigenen Gangs in die Zukunft zu sichern. Nietzsche kritisiert aber genau diese Verklammerung von Geschichte und Gegenwart. Geschichte sei bisher immer „vom Standpunkt des Erfolges und zwar mit der Annahme einer Vernunft im Erfolge“ geschrieben worden. Jedoch: „Wer nicht
Etwa KSA 8, S. 77– 79, Zitat S. 77; [5], 146. Nietzsches Studien zu den – mit Diels’ Begriff gesprochen – Vorsokratikern behandeln: Tilman Borsche: Nietzsches Erfindung der Vorsokratiker. In: Nietzsche und die philosophische Tradition. Hrsg. von Josef Simon. Würzburg 1985, S. 62– 87; Rudolf Rehn: Nietzsches Modell der Vorsokratik. In: Nietzsche und die antike Philosophie. Hrsg.von Daniel W. Conway und Rudolf Rehn. Trier 1992, S. 37– 45; Cancik 2000, S. 64– 80. Nietzsches Vorlesung über die ‚Vorplatoniker‘ von 1872 behandelt Gigante 1999, bes. S. 183 – 188. Zuletzt: André Laks: Nietzsche et la question des successions des anciens philosophes. Vers un réexamen du statut de la philologie chez le jeune Nietzsche. In: Nietzsche-Studien 39 (2010), S. 244– 254. KSA 8, S. 101; [6], 11. Etwa KSA 8, S. 110; [6], 31. KSA 8, S. 41; [5], 4.
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begreift, wie brutal und sinnlos die Geschichte ist, der wird auch den Antrieb gar nicht verstehn die Geschichte sinnvoll zu machen.“⁶⁶ Folgt man diesem Argument, so steht nicht infrage, ob die Griechen adäquat erkannt wurden, sondern vielmehr, ob und inwieweit historische Erkenntnis überhaupt etwas für die Gegenwart leisten könne – dafür, „Geschichte sinnvoll zu machen“. Darüber, die Vorstellung einer bloßen „Nachahmung“ der Antike in der Gegenwart für unmöglich zu erklären, bleibt Nietzsche sich einig.⁶⁷ Gerade dies aber wirft er der Philologie vor,wenn sie versuche, das antike Ideal der Humanität in die Gegenwart zu überführen – ganz abgesehen davon, dass dieses Ideal für Nietzsche so imaginär wie falsch ist. Aber in der Frage, ob es eine positive Funktion der – recht verstandenen – Klassischen Philologie für die Gegenwart gegen könnte, schwankt Nietzsche, schon in der ersten Schicht seiner Notizen.⁶⁸ Eine wünschenswerte zukünftige „Geltung des Alterthums“ imaginierend, schreibt er hier: Die wenigen rechten Kenner desselben „messen daran unsere Gegenwart, als Kritiker derselben und sie messen das Alterthum an ihren Idealen und sind so Kritiker des Alterthums.“⁶⁹ Altertum und Gegenwart stünden damit in einem chiastischen Verhältnis zueinander: Die Gegenwart würde durch das Altertum kritisiert, das Altertum aber durch die Gegenwart. Beide würden gleichsam produktiv gegeneinander ausgespielt. Der Kreuzungspunkt dieses Chiasmus, der Agent der Kritik aber wäre der recht verstandene Philologe. An anderen Stellen verabschiedet Nietzsche das Altertum radikal für die Gegenwart: Alle Fundamente des Lebens – die „mythischen und die politischsocialen“ – hätten sich verändert. Die Gegenwart gefährde sich daher selbst, wenn sie ihre „angebliche Cultur“ auf „unhaltbare, fast schon verschwundene Zustände und Meinungen“ aufbaue – „Die griechische Cultur vollständig begreifend sehen wir also ein, dass es vorbei ist.“⁷⁰ Man mag einwenden, dies sei aus jener Position geschrieben, von der oben die Rede war, der des Philologen als Kritikers des Altertums. Entscheidend ist aber in jedem Fall, in welcher Weise Nietzsche den Philologen an beiden Stellen auf die Gegenwart verpflichtet. Wenn die Erkenntnis der Vergangenheit eine Funktion für die Gegenwart haben kann, dann nur diese: Sie muss gegenwärtiges Handeln und eine Gestaltung der Zukunft ermöglichen, was voraussetzt, die Zukunft als eine gänzlich frei gestaltbare zu begreifen. Gegenwärtiges Handeln muss sich auf die Zukunft richten, es darf sich nicht so
KSA 8, alle Zitate S. 56 f.; [5], 58. Vgl. etwa KSA 8, S. 35 (von hier das Zitat); [3], 74, und S. 121; [7], 1. D.h. in den Texten unter der Sigle [3] aus dem März 1875. KSA 8, alle Zitate S. 35; [3], 74. KSA 8, alle Zitate S. 38; [3], 76.
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verstehen, als sei es durch eine Vergangenheit, durch einen Sinn der Geschichte gebunden. Wie ein spontanes, ‚lebensvolles‘, gleichsam naives Handeln möglich sei im Raum historischer und geschichtsphilosophischer Reflexion – diese Frage prägte bereits die zweite Unzeitgemäße Betrachtung Über Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Hier nun überträgt Nietzsche sie auf den historischen Blick des Philologen. Das Stichwort, unter dem er eine Lösung des Problems liefern wollte, lautet in den überlieferten Gliederungen zu Wir Philologen „Zukünftiges“⁷¹ oder „Die Philologen der Zukunft“.⁷² Die Frage, die Nietzsche hier anschließt, „ob es welche geben wird?“, versucht er in den Notizen zu beantworten. Eine Philologie der Zukunft wäre eine, die die Geschichte gerade nicht als Raum verstünde, aus dem Sinn, Legitimation oder Orientierung für gegenwärtiges Handeln gezogen werden könnte. Historische Erkenntnis müsste vielmehr die Gegenwart in die Lage versetzen – wie es oben bereits hieß –, dass sie „die Geschichte sinnvoll macht“. Der historische Blick müsste die Taue kappen, mit denen sich die Gegenwart an ihre Vergangenheit, mit denen sich das Dasein an ein normatives Sein gebunden fühlt. Entsprechend stellt Nietzsche als Aufgabe für die Zukunft, nicht Harmonie zwischen den Zeiten zu stiften, sondern „Feindschaft“.⁷³ Wird es also „Philologen der Zukunft“ geben? Die Frage eröffnet einen Abgrund, denn die Philologen der Zukunft würden mit der Vergangenheit auch sich selbst richten: „Sobald sie ihr Ziel erkennen, verurtheilen sie sich zum Tode: denn ihr Ziel ist, die alte Cultur selbst als eine zu vernichtende zu beschreiben.“⁷⁴ Mit der Vernichtung der alten Kultur wäre der historische Blick überhaupt zu seinem Ende gekommen: „So ist die Aufgabe der Wissenschaft der Geschichte gelöst, und sie selber ist überflüssig geworden […]. An ihre Stelle muss die Wissenschaft um die Zukunft treten.“⁷⁵
c Missverständnis des Selbst Verstünde der Philologe die Gegenwart, so würde er seiner eigenen Auflösung entgegenarbeiten, und dies bedeutet vor allem: dem Ende seines Standes. Der dritte Anklagepunkt Nietzsches betrifft die Täuschung über sich selbst, dass gerade den Philologen die Aufgabe der Erziehung zukomme. Die Fokussierung des Standes ist eine bedeutsame Geste. Denn in dieser Perspektive geht es nicht primär
KSA 8, S. 12; [2], 3. KSA 8, S. 122; [7], 2. KSA 8, S. 33; [3], 68. KSA 8, S. 84; [5], 158. Ebd.
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um den Inhalt der philologischen Arbeit. Hier kommt es nicht darauf an, welches Bild der Griechen als normatives Ideal der Erziehung vermittelt wird. Schließlich entdeckt die Gegenwart ihre eigene Kraft zu handeln gerade dann, wenn sie sich von der Bindung an eine Vergangenheit löst. Dadurch konturiert sich Nietzsches Frage an die Philologen schärfer. Das Missverständnis über sich selbst besteht stattdessen zunächst in einem falschen Verständnis von Erziehung. Sie sollte eigentlich die Loslösung von einer Vergangenheit ermöglichen, zum Handeln ermächtigen, nicht jedoch an Altes binden. „Das Verhältnis von der Theorie und Praxis im Philologen ist nicht so schnell einzusehen“, schreibt Nietzsche in einem längeren Entwurf.⁷⁶ Denn wenn die Philologen die Jugend so erziehen wollten, wie es die Griechen getan hätten – dann müssten sie sie gerade zu der „Kinder-Naivetät“⁷⁷ führen, die es jenen ermöglichte, zu schaffen, die Zukunft zu ergreifen. Erziehung würde bedeuten, solche Dinge zu lehren, die „Production erleichtern“, also „τέχναι und artes“.⁷⁸ Indem Nietzsche die Praxis der Philologen in den Blick nimmt, weist er ihnen gleichsam einen Kategorienfehler nach. Denn sie sähen das Erziehungsziel in der Erkenntnis eines Gegenstands – der Antike –, während die Erzieher der Antike dagegen zur Tätigkeit angeleitet hätten. Nietzsche zieht hier die Identifikation von theoretischer Erkenntnis und Praxis wieder ein, wie sie beispielsweise Schlegel vorgenommen hatte, um die eigene Produktivität der gelehrten Moderne begründen zu können. Indem aber die Philologen anhand der Griechen, anhand der historischen Erkenntnis erziehen, vermitteln sie in Wirklichkeit nichts anderes als ihre eigene Praxis. Die moderne Bildung erzieht nicht, wie die Griechen es taten, sondern sie zeugt den philologisch-historischen Menschen fort: sich selbst. Dorthin zielt auch Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Konzept der formalen Bildung, das die pädagogische Stellung der klassischen Philologie theoretisch begründet: „Wäre die Aufgabe des Philologen formal zu erziehen, so müßte er gehen, tanzen, sprechen, singen, sich gebaren, sich unterreden lehren: und das lernte man auch ungefähr bei den formalen Erziehern des zweiten und dritten Jahrhunderts. Aber so denkt man immer nur an die Erziehung des wissenschaftlichen Menschen und da heißt ‚formal‘: denken und schreiben, kaum reden“.⁷⁹ Das Missverständnis der Philologen über sich selbst besteht darin, dass sie ihre Lehrinhalte dort anbringen, wo nicht zur wissenschaftlichen Erkenntnis der Vergangenheit angeleitet, sondern die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft ermöglicht werden müsste. Diese Verwechslung verbindet sich für Nietzsche mit
KSA 8, S. 123; [7], 6. KSA 8, S. 27; [3], 49. KSA 8, S. 26 f.; [3], 46. KSA 8, S. 50; [5], 35.
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dem Interesse des Standes. Denn freilich ist den Philologen als Stand daran gelegen, dies alles zu konservieren. Sie produzierten immer wieder neue Philologen, verhinderten aber die Bildung des eigentlichen Menschen der Zukunft, dem doch die Erziehung gelten sollte: des Menschen mit „Lust an einem hohen Ziele, die auch die Mittel dazu will: wobei man Schritt für Schritt weiter kommt, aus einem Ungewohnten in’s andere Ungewohnte: wie ein Alpensteiger.“⁸⁰ Um einen späteren Zentralbegriff aus Nietzsches Denken aufzugreifen: Er zielt mit seinem letzten Anklagepunkt auf die Erkenntnis des spezifischen Willens zur Macht, mit dem die Philologen sich in ihrer Stellung halten. Mit der disjunktiven Geste insgesamt will er das Gefüge von Annahmen freilegen und lösen, um sie zu entlarven. Den „Stand der Philologen als Problem zu empfinden“⁸¹ bedeutet, die spezifische Ideenverkettung, auf der er beruht, als Ausdruck eines „Standesinteresse[s]“⁸² zu erkennen und aufzutrennen.
2 Wissenschaft und historisch-kritische Methode Die disjunktive Arbeit in Wir Philologen hat eine selbstzerstörerische Komponente. Die Frage, ob es Philologen der Zukunft geben könne, steht gleichsam am äußersten Rand der Notizen. Der Abbruch der Schrift wirkt wie eine performative Antwort: Der Philologe der Zukunft wäre der Kritiker der Kultur, der ‚große Unzeitgemäße‘ selbst. Aber dann wäre er schon kein Philologe mehr im Sinn des Standes. Diesen zu bekämpfen, gehörte vielmehr zu seinen ersten Aufgaben. Am 2. Mai 1879 gab Nietzsche seine Professur in Basel auf. Er wurde, mit Ruhegeld,⁸³ zum Pensionär der Philologie, nachdem er sich aus dem Stand freigeschrieben hatte. Nietzsche ist kein akademischer Philologe mehr. Aber er bleibt gewissermaßen ein Philologe der Zukunft ohne Zunft,⁸⁴ und das bedeutet: auch ohne Verpflichtung auf deren Gegenstand, die Antike.⁸⁵ Die Griechen werden in seinen KSA 8, S. 123; [7], 6. KSA 8, S. 74; [5], 133. Etwa KSA 8, S. 48 f.; [5], 30. Nietzsche bezog die nicht unbeträchtliche Pension bis 1889; vgl. Schaberg 2002, S. 104 f. Vgl. Benne 2005, S. 22 f. Entsprechend differenziert Hubert Cancik (2000, S. 106) seinen Befund zu Nietzsches Wendung nach Wir Philologen: „Die verschärfte Kausalität, die Nietzsche von der historischen Erklärung einforderte, war weder auf der individuellen noch auf einer kollektiven Ebene der griechischen Geschichte zu erforschen. […] Deshalb mußte die Entwicklung psychologischer Argumentation im antiken Material scheitern“ – das antike Material verliert an Bedeutung, nicht aber die philologisch-historische Methode der ‚Lektüre‘ von Kultur.
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Aphorismenbüchern immer wieder eine Rolle spielen. Aber er betont mehr und mehr die Entfernung zwischen ihnen und den Modernen. „Das Griechische uns sehr fremd“ ist ein Aphorismus aus der Morgenröthe überschrieben.⁸⁶ Die Disjunktionen haben aber aus dem ‚Aggregat‘ der Philologie deren Methoden herausdestilliert und sie neu gewendet. Das methodische Selbstbewusstsein Nietzsches bleibt dieser Philologie der Zukunft treu,⁸⁷ indem er seinen Blick auf die Kultur und den Menschen nun immer wieder auch in Kategorien der philologischen Praktiken verhandelt.⁸⁸ Der philologische Blick, das ist der, der die Dinge genau zu lesen versteht. Und befreit aus der Zunft, wandelt er sich in einen kritischen Blick, der die gewohnheitsmäßigen Annahmen über die Natur, den Menschen, die Kultur, die Sprache etc. durchschaut und in ihnen Verkettungen anderer Kräfte und Interessen sieht: Die Metaphysik erklärt die Schrift der Natur gleichsam pneumatisch, wie die Kirche und ihre Gelehrten es ehemals mit der Bibel thaten. Es gehört sehr viel Verstand dazu, um auf die Natur selbst die selbe Art der strengen Erklärungskunst anzuwenden, wie jetzt die Philologen sie für alle Bücher geschaffen haben: mit der Absicht, schlicht zu verstehen, was die Schrift sagen will, aber nicht einen doppelten Sinn zu wittern, ja vorauszusetzen.⁸⁹
Die Natur wie ein Buch genau zu lesen, keinen doppelten Sinn unterzuschieben: Dieser Gestus der Disjunktion und Uminterpretation, die Untergrabung von Idealismus und Metaphysik bleiben für Nietzsche gebunden an das Ethos des Philologen und seinen methodischen Zugang zum Gegenstand. Dies ist ein entscheidender Aspekt der „Wissenschaft“, die Nietzsche in MA emphatisch zu entwickeln und gegen Idealismus und Metaphysik in Stellung zu bringen versucht.⁹⁰ Christian Benne und Johann Figl haben die unterschiedlichen Dimensionen dieser philologischen Methode des Nicht-mehr-Philologen Nietzsche umfassend rekonstruiert.⁹¹ Auch die Bedeutung der Geschichte ist nicht verschwunden, wohl aber umgewendet worden: „Die unmittelbare Selbstbeobachtung reicht nicht lange aus, um sich kennen zu lernen: wir brauchen Geschichte, denn die Vergangenheit
KSA 3, S. 151 f.; M III, 169. So schreibt er etwa in einem Brief an Marie Baumgartner, 30. Aug. 1877: „auch bin ich mehr als ein Philologe, so sehr ich für meine höhere Aufgabe, auch die Philologie selbst gebrauchen kann.“ (KSB 5, S. 282). Eine Aufstellung der philologischen Praktiken und Tugenden, die Nietzsche aus der RitschlSchule ‚mitnimmt‘, bietet Benne 2005, S. 60 – 63. KSA 2, S. 28 f.; MA 8. Vgl. etwa die ersten, programmatischen Aphorismen von MA. Vgl. Anm. 22.
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strömt in hundert Wellen in uns fort; wir selber sind ja Nichts als Das, was wir in jedem Augenblick von diesem Fortströmen empfinden.“⁹² Der Mensch ist durch seine Geschichte geprägt, in einem Maße, wie er selbst es kaum realisiert. Sie zu studieren, bleibt eine zentrale Aufgabe. Aber diese Vergangenheit besteht für Nietzsche nicht mehr nur in der Rekonstruktion der res gestae oder der Kenntnis der rerum gestarum historia. Geschichte wird zur Erkenntnis dessen, wie das jeweilige So-Sein des Menschen, vor allem seine Gegenwart, sich durch scheinbar selbstverständliche Selbstinterpretationen herausgebildet hat.⁹³ Der historische Blick richtet sich auf die Psychologie, Physiologie, Religion, Philologie, die Kultur, auf die Geschichte der Empfindungen und Werte. Er wird zum kritischen Blick, soll den Menschen nicht an seine Vergangenheit binden, sondern ihn daraus befreien. Geschichtsschreibung fordert die Genealogie, die die Gewordenheit des Menschen und seiner Kategorien rekonstruiert, um die genealogischen Banden zu kappen. Der Historiker der menschlichen Gefühle etwa destruiert die moralischen Empfindungen und damit insgesamt die Auffassung, dass der Mensch zu einer metaphysischen Wahrheit Zugang habe: „Pflicht ist ein zwingendes, zur That drängendes Gefühl, das wir gut nennen und für undiscutierbar halten […]. Der Denker hält aber Alles für geworden und alles Gewordene für discutierbar“.⁹⁴ Die Kritik der Philologie ist in MA, VS und WS gegenüber dem liegengelassenen Wir Philologen stark zurückgetreten. Aber die philologische und historische Methode dient nun der antimetaphysischen Interpretation des ‚Textes‘ der Natur und des Menschen,⁹⁵ und das bedeutet: der Rekonstruktion und Destruktion der bisherigen Interpretationen.⁹⁶ In den folgenden Aphorismenbüchern tritt dieser Gestus keineswegs zurück. Er wird vielmehr entschiedener. Die Verbindung von Metaphysik und falscher Lektüre wird in der Morgenröthe beispielsweise unmittelbar auf die Machstellung und die Gestalt des Christentums bezogen: „wenn man die Bibel aufmacht, so geschieht es, um sich zu ‚erbauen‘, um in seiner eigenen, persönlich grossen oder kleinen Noth einen Fingerzeig des Trostes zu finden, – kurz, man liest sich hinein und sich heraus.“⁹⁷ Hier verliert der philologische Gestus seinen metaphorischen Charakter, denn Nietzsche interpretiert die Reli KSA 2, S. 477; VS 223. So auch Figl 1984a, S. 167– 198. KSA 2, S. 572; WS 43. Zu Nietzsches Ausweitung des Textbegriffes vgl. etwa Figl 1984a, S. 215 – 221. Auch Ernst Behler kommt in seiner Darstellung von Nietzsches Sprachtheorie zu dem Schluss: „Eine wesentliche Aufgabe der Philosophie Nietzsches, die sich unmittelbar aus seiner Sprachtheorie ergibt, besteht […] in der Untergrabung des sicheren Ordnungssystems, in das wir die Welt gebracht haben“; ders.: Nietzsches Sprachtheorie und der Aussagecharakter seiner Schriften. In: Nietzsche-Studien 25 (1996), S. 64– 85, hier S. 84. KSA 3, S. 64; M I, 68.
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gion anhand ihres Umgangs mit ihrem heiligen Buch. Ihre Macht und Herrschaft basieren auch auf ihrer Lektürepraxis. Sie gewinnt ihre Autorität daher, dass sie den Text missversteht. Ihre Art, zu lesen, eröffnet die Möglichkeit, unter dem Text eine zweite, eigentliche Bedeutung zu konstruieren. Die Voraussetzung für diese Lektüre ist die Annahme eines anderen Autors mit einer höheren Autorität: Man glaube, wenn man die Bibel auf diese Art lese, „noch immer an die Schriftstellerei des ‚heiligen Geistes‘“.⁹⁸ Behandle man den Text dagegen philologisch, dann erkenne man darin ganz andere Dinge, beispielsweise die „Geschichte einer der ehrgeizigsten und aufdringlichsten Seelen und eines ebenso abergläubischen als verschlagenen Kopfes“. Die philologische Lektüre wendet den Text gegen ihren Urheber, sie versteht ihn als Instrument der Selbstinszenierung und als Zeichen eines Willens zur Macht, hier des Paulus. Der Text wird zum Symptom seines Autors, und er erscheint als Machtinstrument, um sich der Weltauffassung seiner Leser einzuprägen, sie zu verändern und zu konditionieren. Der Schluss des kritischen Philologen lautet: Hätte man den Text „wirklich gelesen […], so würde es auch mit dem Christenthum längst vorbei sein.“⁹⁹ In einem anderen Aphorismus deutet Nietzsche den Auslegungsmodus einer zweiten, tieferen Bedeutung, die vom Text selbst ablenkt, als Strategie des Christentums, als dessen „Philologie“. Sie verhält sich diametral zu Nietzsches philologischem Ethos, denn sie lehre die „Kunst des Schlecht-Lesens“, sie sichere ihre eigene Macht durch die Geschichte hindurch. Vor allem, wie man den Juden „das alte Testament […] unter dem Leibe“ weggezogen habe, sei ein „unerhörte[s] philologische[s] Possenspiel“. Dem hält Nietzsche „Redlichkeit“ entgegen, als Ethos einer philologischen Lektüre, die die Schriften wörtlich verstehe.¹⁰⁰ Sie lese die Schriften historisch-kritisch, sie mache rückgängig, was die falsche Lektüre verursacht habe: dass das Wirkliche, durch die Heilige Schrift und ihre Interpreten gedeutet, nur noch als „Symbol“ jener zweiten, metaphysischen Welt Geltung habe.¹⁰¹ Die Macht der christlichen Lektüre besteht darin, die Welt mithilfe der Auslegung zur Funktion ihrer Schrift gemacht zu haben. Die historisch-kritische Methode destruiert diesen Lektüremodus und entlarvt ihn als Machttechnik in der Welt. Nietzsches Blick dreht Ursache und Wirkung um: Nicht die Autorität des Buches zieht eine bestimmte Auslegung nach sich, sondern die Auslegungstechnik verleiht dem Buch erst seine (falsche) Geltung.
Ebd. KSA 3, S. 65; M I, 68. KSA 3, alle Zitate S. 79; M I, 84. Zur „Kunst des Lesens“ und zur „Redlichkeit“ vgl. Benne 2005, pass., etwa S. 49, S. 101– 106, S. 122; Figl 1989; ders. 1984a (S. 201) spricht von einer „Vereinigung von philosophischer Spekulation und philologischer Redlichkeit“. KSA 3, S. 42; M I, 33.
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Nietzsches philologische Methode ist daher notwendig selbst historisch. Sie rekonstruiert die Schrifttradition, um die daraus entstandenen Gewohnheiten und Annahmen ‚discutierbar‘ zu machen und damit zu zerstören. Der historische Blick ist integraler Teil dieser Methode der Destruktion. Analog setzt Nietzsche auch seine Reflexion über die Geschichtserkenntnis fort. Es ist konsequent, wenn er Geschichtsschreibung nun radikal von der Erkenntnis einer historischen Wahrheit löst: Facta! Ja Facta ficta! – Ein Geschichtsschreiber hat es nicht mit dem, was wirklich geschehen ist, sondern nur mit den vermeintlichen Ereignissen zu thun: denn nur diese haben gewirkt. Ebenso nur mit den vermeintlichen Helden. Sein Thema, die sogenannte Weltgeschichte, sind Meinungen über vermeintliche Handlungen und deren vermeintliche Motive, welche wieder Anlass zu Meinungen und Handlungen geben, deren Realität aber sofort wieder verdampft und nur als Dampf wirkt, – ein fortwährendes Zeugen und Schwangerwerden von Phantomen über den tiefen Nebeln der unergründlichen Wirklichkeit. Alle Historiker erzählen von Dingen, die nie existiert haben, ausser in der Vorstellung.¹⁰²
Geschichtsschreibung wird hier eingeschlossen in den Raum menschlicher Interpretationen der Dinge. Sie hat keinen Zugriff auf eine Wirklichkeit, sondern nur auf Meinungen und Meinungen über Meinungen. Der idealistische Versuch, über das Verstehen der historischen Zeugnisse ein historisches Geschehen zu rekonstruieren, wird hier verabschiedet. Gerade dadurch aber gewinnt die Rekonstruktion dieses Geschichtsdenkens einen kritischen Sinn. Denn die historischen Annahmen haben, unabhängig von ihrer Wahrheit oder Irrtümlichkeit, „gewirkt“. Als Interpretationen haben sie neues Handeln motiviert, als Auslegungen haben sie neues Handeln und damit neue Geschichte werden lassen. Geschichtsschreibung erlaubt also eine kritische Rekonstruktion der Geschichte auf zweiter Ebene: nicht als Wahrheit über die Geschichte, aber als Deutung der Handlungen, die sich aus dem Glauben an die Möglichkeit historisch sinnvollen Tuns ergeben. Auch hier kehren sich Wirkung und Ursache um: Eine Handlung wird nicht durch das Sound-So-Sein der Geschichte gefordert. Vielmehr legitimiert umgekehrt eine bestimmte Auslegung der Geschichte erst entsprechende Entwürfe, Meinungen und Handlungen. Eine besondere Ironie des – insbesondere deutschen – Idealismus sieht Nietzsche darin, seine eigene historisch-kritische Wende ermöglicht zu haben. Denn deren Voraussetzungen, die zugehörigen Disziplinen und Methoden, seien von der Kultur des 19. Jahrhunderts erschaffen worden – eigentlich freilich, um sich in der Welt der Geschichte und der Texte Halt zu verschaffen. Die „Historiker und Romantiker“ etwa hätten sich bemüht, „ältere, primitive Empfindungen und KSA 3, S. 224 f.; M I, 307.
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namentlich das Christenthum, die Volksseele, Volkssage, Volkssprache, die Mittelalterlichkeit, die orientalische Asketik, das Inderthum“ philologisch-historisch „zu Ehren zu bringen.“ Aber gerade diese Techniken und Praktiken seien den Absichten ihrer Beschwörer am schädlichsten geworden, – die Historie, das Verständniss des Ursprungs und der Entwickelung, die Mitempfindung für das Vergangene, die neu erregte Leidenschaft des Gefühls und der Erkenntniss, nachdem sie alle eine Zeit lang hülfreiche Gesellen des verdunkelnden, schwärmenden, zurückbildenden Geistes schienen, haben eines Tages eine andere Natur angenommen und fliegen nun mit den breitesten Flügeln an ihren alten Beschwörern vorüber und hinauf, als neue und stärkere Genien eben jener Aufklärung, wider welche sie beschworen waren.¹⁰³
Als ‚wirkliche‘ Wissenschaft begriffen, wende sich der ganze philologisch-historische Komplex gegen seine alten Beschwörer.¹⁰⁴ Befreit aus den disziplinären Grenzen, abgetrennt vom idealistischen Erkenntnisinteresse, werden die Methoden zu Instrumenten einer radikalen Kritik des Menschen und seiner gewachsenen, entstandenen Kultur.¹⁰⁵ Sie gelten nun anderen Gegenständen, den psychologischen, philosophischen, religiösen Selbstinterpretationen des Menschen. Aber als methodische Operationen, als Praktiken, die die Gegenstände der Kritik ausliefern, bleiben sie für Nietzsche an Philologie und Geschichtserkenntnis gebunden.¹⁰⁶ Es kann nicht verwundern, dass Nietzsche später in der Genealogie der Moral als eine seiner wichtigsten Erkenntnisse einen methodischen Grundsatz für „alle Art Historie“, also für die historische Erkenntnis, präsentiert: Die Entstehung eines „Dings“ und sein Zweck, seine „thatsächliche Verwendung und Einordnung in ein System von Zwecken“, seien radikal zu unterscheiden.¹⁰⁷ Diese Disjunktion wendet sich gegen eine metaphysische Art des Schließens, die in der Form und Gestalt einer Sache gleichzeitig ihren Zweck erblickt, als wäre das Ding geschaffen, um eine ihm innewohnende ‚Bestimmung‘ zu erfüllen. Nietzsches Methode trennt die Verbindung von Sein und Sollen, die auch das idealistische Verständnis
KSA 3, S. 171 f.; M III, 197. Es kann daher nicht die Rede davon sein, dass Nietzsches „Wissenschaftsbegriff ohne Konturen“ bleibe, dass der Begriff der „‚Wissenschaft‘“ nach der Geburt der Tragödie „eindeutig negativ besetzt“ sei; so Landfester 1994, S. 410. Zu einem ähnlichen Schluss kommt Wegmann 1994, S. 433: „Die Philologie wird zur radikalen Kulturkritik.“ In Bezug auf die Geschichte vgl. Figl 1984a, vor allem S. 186 f. Zur Bedeutung der Methode für Nietzsche vgl. zuletzt Céline Denat: „Les découvertes les plus précieuses, ce sont les méthodes“. Nietzsche, ou la recherche d’une méthode sans méthodologie. In: Nietzsche-Studien 39 (2010), S. 282– 308. KSA 5, S. 313; GM II, 12. Nietzsche entwickelt den Gedanken schon in der Fröhlichen Wissenschaft als einen seiner „wesentlichsten Schritte und Fortschritte“; KSA 3, S. 607 f.; FW V, 360.
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von Geschichte und historischer Forschung prägt, wenn sich mit der Erkenntnis des So-und-So-Seins der Geschichte oder einer Überlieferung Orientierung für die Gegenwart ergeben soll. Beide auseinanderzubringen, hebelt teleologische Schlüsse und Anachronismen aus. Dieser „Hauptgesichtspunkt der historischen Methodik“¹⁰⁸ wendet den historischen Blick in einen kritischen. Er schafft zunächst keine neuen, sondern destruiert die alten Verbindlichkeiten. In Jenseits von Gut und Böse formuliert Nietzsche einen analogen methodischen Grundsatz, nun dezidiert als „alte[r] Philologe[], der von der Bosheit nicht lassen kann, auf schlechte Interpretations-Künste den Finger zu legen“. Wieder überträgt er die philologische Operation in eine andere Sphäre. Hier steht die „‚Gesetzmäßigkeit der Natur‘“ in Frage. Die Annahme einer solchen Ordnung der Natur folge aus einer „schlechten ‚Philologie‘“. Naturgesetze seien kein „Thatbestand, kein ‚Text‘“, sondern eine Zurechtmachung. Der methodische lapsus liege darin, die Interpretation als Text selbst auszugeben, sie zur Wahrheit hinter den Dingen zu erklären, die Dinge aber dieser angeblichen Wahrheit unterzuordnen.¹⁰⁹
3 Das ‚Problem aller Cultur‘ Nietzsche versteht seine umfassende Kritik als Resultat einer philologisch-historischen Methode, die er an andere Gegenstände adaptiert und weiterentwickelt. Mit ihr wendet er sich gegen ein metaphysisches Verständnis der Welt und des Menschen, gegen deren idealistische Interpretation. Seinen Hauptfeind identifiziert er mit steigender Vehemenz als das Christentum. Dieses stehe hinter der falschen Auslegung von Texten, Geschichte, Welt und Mensch. Mit seiner disjunktiven Methode des Denkens greift Nietzsche die Interpretationsmuster an, die auch in den vorhergehenden Kapiteln dieser Studie zur Sprache kamen. Sie bestimmten das Verhältnis von philologisch-historischen Wissenschaften und Dichtung, insbesondere den Versuch – sei es mit dichterischen, sei es mit philologischen Mitteln, sei es mit einer Kombination von beiden – der Gegenwart von der Vergangenheit her einen Sinn zu verleihen. Geht es nach Nietzsche, dann bietet die Rekonstruktion der Vergangenheit keine Anschlüsse für die Gegenwart. Sie hat aber einen kritischen Sinn, indem sie den Menschen der Gegenwart von den vergangenen Interpretationen entbinden, ihn ins Freie setzen kann.
KSA 5, S. 315; GM II, 12. Alle Zitate KSA 5, S. 37; JGB I, 22.
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Die Auseinandersetzung mit der Philologie als Agglomerat von Tätigkeiten und Ideen bot eine Kernszene für diese disjunktive Arbeit. Freilich verhält sich die Abhandlung über Nutzen und Nachtheil der Geschichte analog, auch sie hätte für die Deutung herangezogen werden können.¹¹⁰ Angesichts der Stoßrichtung von Nietzsches kritischer, philologisch-historisch informierter Methode gilt es noch einmal zurückzufragen. Die Disjunktionen trennten schon in den Entwürfen zu Wir Philologen die Vergangenheit von der Gegenwart. Das meinte auch dort schon, dass die entscheidende Frage für die Zukunft nicht sein konnte, welche Vergangenheit als normativ für die Gegenwart angesehen würde. Die Vergangenheit und die Techniken zu ihrer Erkenntnis seien keine Dimensionen, von denen her der Mensch sich positiven, normativen, orientierenden Sinn zuschreiben könne. Die Freisetzung des Menschen folge aus einer Ausrichtung der Wissenschaft auf die dritte Zeitdimension, die Zukunft. Indem Nietzsche seinen kritischen Blick auf die Vergangenheiten richtet, die den Menschen der Gegenwart immer noch bestimmen und binden, arbeitet er an dieser Freisetzung. Aber der Gestus bleibt doch der des Kritikers. Auch die neue philologisch-historische Methode blickt zurück. Während Schlegel den Historiker als rückwärts gekehrten Propheten verstand,¹¹¹ scheint auch der Kritiker Nietzsche, der die Sache der Zukunft führen will, an die Vergangenheit gebannt zu sein. Die Zukunft, in der der Mensch aus den Hemmungen freigesetzt werden könnte, bleibt ihm notwendig im Rücken. Dies gilt umso mehr, als seine Kritik vor allem auch zur Kritik der Erkenntnis und ihrer Kategorien wird. Sie entlarvt Vernunft, Seele und nicht zuletzt auch den Begriff der Willensfreiheit als Fehlinterpretationen des Leibes. Alles dieses ist ein falscher ‚Text‘, den der Mensch über den eigentlichen ‚Text‘ seiner physiologischen Realität geschrieben hat. Mithilfe seines Denkens kann der Mensch erkennen, dass er sich über sich selbst, seine Antriebe und Bestimmtheiten täuscht. Er kann erkennen, dass er ein Konglomerat aus physiologisch gegründeten Trieben ist und sein Bewusstsein nur als Epiphänomen dieser Gewalten entsteht. Er kann erkennen, dass sich hinter jeder Zuschreibung von Sinn nichts weiter ver-
Insofern widerspreche ich hier Thomas H. Brobjer (2004, pass.; 2007, S. 155 f.), der davon ausgeht, Nietzsche kehre unmittelbar nach der Geschichtskritik in Nutzen und Nachtheil zu einem positiven Verständnis von Geschichte zurück. Die zweite Unzeitgemäße stellt sich vielmehr im Kern das gleiche Problem, an dem Nietzsche auch weiterhin arbeitet. Glenn W. Most deutet Vom Nutzen und Nachtheil als dezidierte Kritik am Humboldt’schen Bildungsideal und an der akademischen Praxis: ders.: On the Use and Abuse of Ancient Greece for Life. In: Cultura tedesca 20 (2002), S. 31– 54. Online in: HyperNietzsche. URL: http://www.hypernietzsche.org/gmost-1 [Sichtung am 5. Juli 2011]. Schlegel, KFSA 2, S. 176; Athenaeum-Fragment Nr. 80. Vgl. dazu oben, Kap. II.1.5., S. 158.
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birgt als ein Wille zur Macht, der manipuliert und verformt.Wie aber wäre dann die erwünschte Zukünftigkeit des Menschen möglich? Nietzsche hatte in der geplanten Unzeitgemäßen das kategoriale Grundproblem, das das Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft prägt, gegen die Philologen ausgespielt. Sie verkennten das Wesen von Gegenwart und Zukunft, die allein aus dem Willen zu ihrer Gestaltung hervorgingen. Sie verkennten das Wesen der Pädagogik, die darauf zielen müsste, zu eben diesem Willen der Gestaltung in einem Raum ohne Sinn zu erziehen. Aber das kategoriale Problem überträgt sich genauso auf das Verhältnis von historisch-kritischer, rückwärts gewandter Analyse, wie sie Nietzsche praktiziert, zur Gestaltung der Zukunft. Er hat das deutlich gesehen. Der problematische Begriff einer „Wissenschaft der Zukunft“,¹¹² die an die Stelle von der Wissenschaft der Vergangenheit treten müsse, markiert diesen Ort in Wir Philologen. Ist eine solche „Wissenschaft der Zukunft“ möglich, wenn die Wissenschaft darin besteht, die Orientierungsmöglichkeiten des Menschen systematisch zu destruieren? In den folgenden Aphorismenbüchern faltet Nietzsche dieses Grundproblem weiter aus. Die „Wissenschaft“, die er in MA emphatisch fortentwickelt, richtet sich gegen den Glauben an die Existenz von moralischen Empfindungen, von Schuld und anderen Kategorien, durch die sich der Mensch über sich selbst und die Welt täusche. Sie zerstört sie, indem sie die normative, zweite, tiefere Ordnung der Welt als ein Produkt ihrer Geschichte und Deutungen entlarvt, sie also ihres angeblich metaphysischen Charakters entkleidet und in die eine Welt und ihre Geschichte einordnet.Was ewig höher zu stehen scheint, sei in Wahrheit im Laufe der Zeit erst entstanden. Diese Wissenschaft erkennt dann auch ihre zweite Aufgabe, das Komplement zur Zerstörung: Sie läge darin, „dem Menschen, zuletzt noch, die philosophische Ueberzeugung von der unbedingten Nothwendigkeit aller Handlungen und ihrer völligen Unverantwortlichkeit zu gewinnen und in Fleisch und Blut aufzunehmen“.¹¹³ Wenn die Geschichte, wenn die Empfindungen und Selbstinterpretationen, wenn die Religion als Räume des Sinns entfallen, ja, wenn der dem Menschen von außen zukommende ‚Sinn‘ selbst als orientierende Kategorie ungeeignet ist – wie kann er sich dann nicht nur ein Schicksal geben, sondern sich in völliger Unschuld als sein eigenes Schicksal ergreifen? Und wie kann die Wissenschaft, die die alten Interpretationen und damit auch das alte Bild des Menschen abräumt, diese Zukünftigkeit ermöglichen? Kann sie das überhaupt? Bei aller Differenz zu Schlegels im Grunde idealistischer Konzeption erscheint hier doch eine Analogie. Denn die Wissenschaft würde doch auch bei
KSA 8, S. 84; [5], 158. KSA 2, S. 128; MA 134.
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Nietzsche sich selbst als Denkmodus der bloßen Kritik überwinden müssen, um die Konsequenzen aus ihrer Zerstörung der Vergangenheit ziehen zu können. Wie jene „Philologie der Zukunft“ erst zu ihrem Ende käme, indem sie sich zerstörte, so im Grunde auch die „Wissenschaft der Zukunft“. Sie müsste durch ihre historischkritische Analyse die Voraussetzungen für einen neuen Menschen schaffen, der der Zukunft nicht mehr nur mit dem Rücken zugewandt wäre, einen Menschen, der sich nun vielmehr von seiner Vergangenheit abgekehrt hätte. MA antwortet auf dieses Problem mit verschiedenen Visionen eines solchen Menschen. Einmal projiziert Nietzsche ihn als Ergebnis der ‚Wissenschaft‘ in eine ferne Zukunft, wenn „in Tausenden von Jahren“ die Menschheit „vielleicht“ die Kraft besitzen werde, „den weisen, unschuldigen (unschuld-bewussten) Menschen ebenso regelmässig hervorzubringen“ wie jetzt den „unweisen, unbilligen schuldbewussten“. Hier ist es die stete, tausendjährige Einübung neuer Gewohnheiten auf der Basis der ‚Wissenschaft‘, der Nietzsche die Überwindung des alten Menschen zutraut: Unter der „wachsenden Erkenntniss“ könne sich eine „neue Gewohnheit“¹¹⁴ herausbilden – ohne Frage als Produkt einer neuen Methode der Erziehung, die die Erkenntnis habitualisiert und so einen neuen Menschen ‚züchtet‘, um einen zentralen Begriff aus Nietzsches Pädagogik aufzunehmen. An anderer Stelle in MA formuliert Nietzsche die Antinomie von historischkritischer Wissenschaft und Zukunft als physiologisches Problem: Die Wissenschaft nehme dem Menschen Freude, indem sie verdächtig mache; sie zerstöre die „tröstliche[] Metaphysik, Religion und Kunst“. Sie sei in ihrer disjunktiven Haltung lebensfeindlich, nehme die Lust am Handeln, da sie die dazu notwendigen Motive untergrabe. Wie aber lässt sich verhindern, dass der Mensch damit auch die Lust am Leben, an der Zukunft verliert? „Deshalb muss eine höhere Cultur dem Menschen ein Doppelgehirn, gleichsam zwei Hirnkammern geben, einmal um Wissenschaft, sodann um Nicht-Wissenschaft zu empfinden: neben einander liegend, ohne Verwirrung, trennbar, abschliessbar“. Die nicht-wissenschaftliche Hälfte sei dann die „Kraftquelle“ des Menschen, die wissenschaftliche ihr „Regulator“.¹¹⁵ Nur eine solche Spaltung könne verhindern, dass die Wissenschaft den Menschen untergrabe. Wenige Jahre später eröffnet Nietzsche die Fröhliche Wissenschaft mit einer Reihe von Aphorismen, die nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Zukunft fragen. Insbesondere der siebte stellt das Problem paradigmatisch vor. Die Wissenschaft führe mit ihrer kritischen Wendung auf ein ungeheures Feld von Fragen.
Alle Zitate KSA 2, S. 105; MA 107. Alle Zitate KSA 2, S. 209; MA 251.
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Es gelte, alle Passionen und Affekte, alle Wertschätzungen und Interpretationen ans Licht zu bringen, sie „einzeln durch Zeiten, Völker, grosse und kleine Einzelne“ zu verfolgen. Eine „vergleichende Geschichte des Rechtes, oder auch nur der Strafe“ müsse betrieben, die Auffassungen von „Arbeit, Fest und Ruhe“ erforscht, den „moralischen Wirkungen der Lebensmittel“ und den Formen menschlichen „Zusammenleben[s]“ nachgegangen werden; unbekannt seien auch die „Sitten“ der unterschiedlichen Stände und Berufe oder die Grundlagen von Ehe und Freundschaft. Nietzsche formuliert hier ein neues Programm, das die „‚Existenz-Bedingungen‘“ des bisherigen Menschen umfassend in den Blick nehmen soll. Er stellt dieses gigantische Projekt unter das gleiche Zeichen, mit dem er 13 Jahre vorher, in seiner Antrittsvorlesung, noch das wissenschaftliche Programm der Philologie charakterisiert hatte: „Cyklopen-Bauten“ müssen entstehen – nun aber freilich solche einer genealogischen Wissenschaft, die die bisherigen, scheinbaren Sicherheiten ‚discutierbar‘ (s.o.) werden lasse.Wenn aber diese Arbeit der Wissenschaft getan sein würde, dann „träte die heikeligste aller Fragen in den Vordergrund, ob die Wissenschaft im Stande sei, Ziele des Handelns zu geben, nachdem sie bewiesen hat, dass sie solche nehmen und vernichten kann“.¹¹⁶ Kann die Wissenschaft Ziele geben, nachdem sie vorher alles genommen hat, was bisher solche Ziele legitimieren sollte? Dieses ‚Problem aller Cultur‘¹¹⁷ tritt für Nietzsche in den Vordergrund als er antizipiert, dass die Wissenschaft in einer fernen Zukunft ihr zerstörerisches Werk vollendet haben wird. Im Hintergrund freilich stellt es sich ihm schon lange, spätestens seit Über Nutzen und Nachtheil und Wir Philologen. Es entsteht mit systematischer Notwendigkeit aus der kritischen historischen Reflexion, und es betrifft Nietzsches eigenes Schreiben, das sich immer schon in dieser Frage aufhält. Ist eine „Philologie der Zukunft“ (s.o.) möglich, ist eine „Wissenschaft der Zukunft“ (s.o.) denkbar?¹¹⁸ Damit steht und
Alle Zitate KSA 3, S. 378 – 380; FW I, 7. Der Begriff stammt aus den Heften zu Wir Philologen, es handelt sich um Notizen für eine „Einleitung der Gesammtherausgabe der ‚Unzeitgemässen‘“; KSA 8, S. 66; [5], 98. Jörg Salaquarda deutet diese Frage im 7. Aphorismus misslicherweise als „freilich“ bloß „rhetorische“: „Wissenschaft sei“ für Nietzsche „nur ein Werkzeug“ (ders.: Die Fröhliche Wissenschaft zwischen Freigeisterei und neuer „Lehre“. In: Nietzsche-Studien 26 [1997], S. 165 – 183, hier S. 178). Sein Beleg dafür aus Aphorismus 12 der FW verfängt ebensowenig wie seine Deutung von Nr. 7. In 12 heißt es nicht, wie Salaquarda schreibt, die Wissenschaft könne „keine Ziele setzen“ (Salaquarda 1997, S. 178), sondern dass man mit ihr sowohl das „Ziel fördern“ könne (KSA 3, S. 384; FW I, 12), „möglichst wenig Unlust“ zu schaffen wie auch „möglichst viel Unlust“. Am Ende stellt Nietzsche dieser noch offenen Wissenschaft die Aufgabe, zur „grosse[n] Schmerzbringerin“ zu werden. Der 12. Aphorismus gehört also gerade zu denen, in denen Nietzsche versucht, empha-
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fällt Nietzsches eigenes Projekt, hinter dem zweiten Text der bisherigen Kultur den einen ‚Text‘ des realen Menschen und seiner Physiologie lesbar zu machen. Nietzsches Problem variiert im Kern dasjenige des philologischen, historischen Blicks, wie es sich in den vorhergehenden Kapiteln dieser Arbeit stellte. Der Wissenschaftler schreibt sich aufgrund seiner Analyse Macht zu, zweifelt aber gerade daher an seiner eigenen Produktivität.
4 Die Aporie von Erkennen und Schaffen Nietzsche wird zwar nicht müde, immer wieder seine Geduld in der Erkenntnis zu preisen. Diese philologische Tugend, die er sich zugutehält, basiere nicht zuletzt auf dem langsamen Lesen: „Ein solches Buch, ein solches Problem hat keine Eile; überdies sind wir Beide Freunde des lento, ich ebensowohl als mein Buch. Man ist nicht umsonst Philologe gewesen, man ist es vielleicht noch, das will sagen, ein Lehrer des langsamen Lesens: – endlich schreibt man auch langsam. […] Philologie nämlich ist jene ehrwürdige Kunst, welche von ihrem Verehrer vor Allem Eins heischt, bei Seite gehn, sich Zeit lassen, still werden, langsam werden“¹¹⁹ – so eröffnet Nietzsche im Herbst 1886 die zweite Auflage seiner Morgenröthe. Das Lob des langsamen Lesens stimmte schon eine der Notizen an, die zwischen Wir Philologen und MA entstanden waren.¹²⁰ Aber der Cyklopen-Gang der Wissenschaft ist Nietzsches Sache letztlich nicht – zumal sich das Problem der Wissenschaft ja immer schon als kategorisches stellt. Daher hat Nietzsche bereits in Wir Philologen eine Alternative zur analytischen, rückwärts gewandten Haltung im Blick. Es ist die Produktivität des Künstlers, die er den Philologen hier entgegenhält. Gerade dem Künstler attestiert Nietzsche hier eine „Kinder-Naivetät“,¹²¹ wie sie die Griechen auszeichne, dem Philologen und den von ihnen Erzogenen aber abgehe. Sie ermögliche es dem Künstler, zu „schaffen“,¹²² wie Nietzsche immer wieder emphatisch betont: Der Philologe ahme bloß nach, könne aber aus seiner Stellung gegenüber dem Altertum nicht „erzeugen“; der „Schaffende“ dagegen dürfe wohl von hier „ent-
tisch die Möglichkeiten von Wissenschaft auszuloten. Die Position,Wissenschaft könne keine Ziele geben, formuliert er erst in der Genealogie der Moral; vgl. dazu weiter unten. KSA 3, S. 17; M2, Vorrede, 5. KSA 8, S. 332; [19], 1: „1. Philologie ist die Kunst, in einer Zeit, welche zu viel liest, lesen zu lernen und zu lehren. Allein der Philologe liest langsam und denkt über sechs Zeilen eine halbe Stunde nach. Nicht sein Resultat, sondern diese seine Gewöhnung ist sein Verdienst.“ KSA 8, S. 27; [3], 49. KSA 8, die folgenden Zitate S. 121; [7], 1.
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lehnen und sich nähren“, denn wenn er auch auf das Vergangene zurückgreife, so doch, um Neues hervorzubringen. Nicht als Philologen, sondern nur „als Schaffende“ könnten – so heißt es hier – die Gegenwärtigen „etwas von den Griechen haben“. Diese diametrale Gegenüberstellung von Philologen und Künstlern erinnert an die Geburt der Tragödie. Hier hatte Nietzsche wenige Jahre vorher eine Neuinterpretation der griechischen Kultur und Kunst geliefert, die gleichzeitig prophetisch die Wiederkehr eines tragischen Zeitalters in Aussicht gestellt hatte, initiiert durch Wagner. Darüber hinaus nimmt Nietzsches Lob des Künstlers die Konstellation auf, in der sich die Konkurrenz zwischen philologisch-historischen Wissenschaften und Dichtung im 19. Jahrhundert insgesamt vollzog. Der Philologe Nietzsche versucht sich in seinen Notizen von der Philologie frei zu schreiben, indem er die Sache der schaffenden Kunst ergreift und die Seiten wechseln will: „Ich ziehe vor, etwas zu schreiben, was so gelesen zu werden verdient, wie die Philologen ihre Schriftsteller lesen […] – auch das geringste Schaffen steht höher als das Reden über Geschaffenes“.¹²³ Der Schaffende besitzt die Zukunft, denn sie ist es, die er schaffend beeinflusst. Als Typus der Zukunft skizziert Nietzsche hier, wo er noch über die archaische Antike als mögliches Leitbild für die Zukunft reflektiert, den Dichter-Philologen. Goethe ist für ihn ein solcher „Poet-Philolog“,¹²⁴ der nicht nachahme, sondern in einen Agon¹²⁵ mit der griechischen Vergangenheit trete, um in die Zukunft zu weisen. Poliziano¹²⁶ gehöre ebenfalls dazu, auch Wagner¹²⁷ und Leopardi¹²⁸. Aber ganz so einsinnig, wie es hier zunächst scheinen mag, ist Nietzsches Lob der Kunst nicht geblieben. Die Disjunktionen von MA verschonen den Künstler nicht. Die Wissenschaft, um die sich Nietzsche hier bemüht, untergräbt auch Selbstverständnis und Wert der künstlerischen Produktion. Wie Nietzsche das angeblich höhere Wissen des Künstlers als tatsächliches Unwissen destruiert, ist
KSA 8. S. 123; [7], 5. KSA 8, S. 69; [5], 109. Zu Nietzsches Begriff des Dichter-Philologen vgl. Thouard 2000, S. 161 f.; Nebrig 2010a, S. 225 f. Vgl. KSA 8, S. 90; [5], 172: „In der Art hat Goethe das Alterthum ergriffen: immer mit wetteifernder Seele“. Nietzsche fasst die griechische Polis selbst als agonal: Nur so, also gegen den Staat, konnten aus ihr große Individuen hervorgehen. Er richtet diesen Gedanken gegen die zeitgenössische Gesellschaft und ihr Bildungssystem; vgl. Cancik und Cancik-Lindemaier (2002, S. 106 – 110), die zeigen, wie diese Überlegung aus Wir Philologen nach MA wandert. Vgl. Thouard 2000, S. 162. Vgl. KSA 8, S. 69; [5], 109. Vgl. KSA 8, S. 44; [5], 17. Zum Dichter-Philologen Leopardi vgl. Massimo Pizzingrilli: Der unendliche Horizont hinter der Dichtung. Kreative Philologie bei Giacomo Leopardi. In: Verf., Nebrig (Hrsg.) 2010, S. 47– 66.
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oben schon zitiert worden. Auch der Gestus des Künstlers gibt sich dem wissenschaftlichen Blick preis, als Resultat aus Selbsttäuschung und Machtstrategie, d. h. Täuschung der anderen. Systematisch decouvriert Nietzsche in einem eigenen Kapitel dessen Psychologie, legt unter dem zweiten Text der kulturellen Geltung und des künstlerischen Selbstverständnisses den ‚eigentlichen‘ Text frei. Der Künstler missverstehe sich selbst, wenn er an eine Inspiration, an das „plötzliche Hervorspringen des Vollkommenen“ glaube. Aber es nütze ihm, diese Meinung zu erregen, weil sie für das Publikum seinen Rang und Nimbus ausmache. Er „hilft also wohl dieser Illusion nach“, inszeniert seine „begeisterte[] Unruhe“, das „aufhorchende[] Träumen[] beim Beginn der Schöpfung“.¹²⁹ Die Psychologie des „Genius“ sei keineswegs die wahre, wohl aber die „wirkungsvollste“ Voraussetzung für seine Geltung.¹³⁰ Insofern habe die Metaphysik der Kunst das Erbe einer durch die Aufklärung angegriffenen Religion angetreten.¹³¹ Wo der Künstler überlegenes Wissen, höhere Eingebung und größere Autorität beansprucht, sieht Nietzsches „Wissenschaft der Kunst“¹³² Eitelkeit,¹³³ Unwissen¹³⁴ und Selbstüberschätzung¹³⁵. Zumal die Kunst des 19. Jahrhunderts erscheint Nietzsche als eine ‚entfesselte‘: Wir geniessen […] durch jene Entfesselung eine Zeit lang die Poesien aller Völker, alles an verborgenen Stellen Aufgewachsene, Urwüchsige, Wildblühende, Wunderlich-Schöne und Riesenhaft-Unregelmässige, vom Volksliede an bis zum ‚grossen Barbaren‘ Shakespeare hinaus; wir schmecken die Freuden der Localfarbe und des Zeitcostüms, die allen künstlerischen Völkern bisher fremd waren […].
Die Zugänglichkeit des Verschiedenen und Vergangenen, die Möglichkeit, es zu ‚schmecken‘ bergen in sich das Ende der Kunst; sie findet für die Gegenwart keinen neuen Grund, sondern entzieht ihr diesen vielmehr, schwemmt „das Erdreich“ hinweg, „auf dem ein stilles verborgenes Wachsthum noch möglich gewesen wäre“: Die Kunst „interpretiert […] ihre Entstehung, ihr Werden“ – aber sie tut dies nicht anders als „im Zugrunde-gehen“.¹³⁶ Der Dichter des 19. Jahrhunderts ist für Nietzsche zum Symptom geworden; er schafft keine Zukunft, beginnt keine
KSA 2, alle Zitate S. 141; MA 145. KSA 2, S. 142; MA 146. Vgl. KSA 2, S. 144; MA 150. KSA 2, S. 141; MA 145. Vgl. KSA 2, S. 151 f.; MA 162. Etwa KSA 2, S. 150; MA 160. Etwa KSA 2, S. 150 f.; MA 161. KSA 2, alle Zitate S. 182 f.; MA 221.
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„poetische Revolution“,¹³⁷ sondern leitet die Strömungen der Vergangenheit in ein großes Reservoir. Kunst bietet lediglich noch „Erinnerung an die wahre Kunst“.¹³⁸ Der Wissenschaftler nutzt sie für seine historische Aufgabe; Ort jenes emphatisch verstandenen Schaffens ist sie jedoch nicht mehr. Nietzsche bemüht sich nach Kräften, auch die Kunst zu destruieren.Was bleibt also von der Emphase, mit der er sie einst ausgestattet hatte? Giorgio Colli deutet die Dynamik des MA-Komplexes in seinem Nachwort zur KSA als Kampf mit sich selbst, so wie Nietzsche vorher mit sich als Philologen und Historiker gerungen hatte. Diese Hypothese ist bestechend, zumal Nietzsche seine frühere Emphase später wieder aufnehmen wird. Emblematisch hierfür kann der Vers jenes gleichnamigen, späten Dithyrambus stehen: „Nur Narr! nur Dichter!“ – und natürlich die Dithyramben selbst.¹³⁹ Den letzten Dithyrambus des dritten Zarathustra, Die sieben Siegel, feiert Nietzsche in Ecce Homo als Erneuerung von Poesie überhaupt: Mit ihm, so heißt es, „flog ich tausend Meilen über das hinaus, was bisher Poesie hiess.“¹⁴⁰ Es soll hier nicht vorgegriffen werden. Diese Selbstdeutung gehört in den Kontext des Zarathustra, und um ihn zu verstehen, gilt es, die neue Formation zu rekonstruieren, in die Philologie und Dichtung bei Nietzsche geraten. Die zitierte Passage aus Ecce Homo verweist aber darauf, dass Nietzsche sein Dichten nicht als ‚bloße‘ Poesie begriffen wissen will. Er fasst sie nicht als Rückkehr zu einer vorher abgelehnten Praxis, sondern als Erneuerung, als ein Sprechen, das hinter sich lasse, was bisher für Poesie gehalten worden sei. Wie man diese Selbststilisierung bewerten mag, kann dahingestellt bleiben. Aber die Unterscheidung zwischen der (alten) Poesie und dem neuen ‚Dichten‘ findet eine Entsprechung in der Verabschiedung der Kunst im ersten Buch von MA. „Was von der Kunst übrig bleibt“, will Nietzsche dort bestimmen. Und dies ist ihm nicht die Psychologie des Künstlers, auch nicht diese oder jene Dichtungsart oder ein bestimmter Gehalt. Das Bleibende der Kunst ist vielmehr etwas, was er bereits in der Geburt der Tragödie zum zentralen Charakter der griechischen Kunst erklärt hatte: Hier heißt es nun, abgetrennt von den Griechen, dass die Kunst immer schon gelehrt habe, „mit Interesse und Lust auf das Leben in jeder Gestalt zu sehen und unsere Empfindung so weit zu bringen, dass wir endlich rufen: ‚wie es auch sei, das Leben, es ist gut.‘“ Die „Lust am Dasein“ zu fördern, erscheint als Grundmoment der Kunst. Aber anders als in der Geburt der Tragödie bindet sich die
KSA 2, S. 184; MA 221. Ebd. Vgl. hierzu die luzide Untersuchung (und vorbildliche Edition) von Wolfram Groddeck: Friedrich Nietzsche, Dionysos-Dithyramben. 2 Bde. Berlin, New York 1991. KSA 6, S. 305; EH, Warum ich so gute Bücher schreibe 4.
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Verführung zum Leben nun nicht mehr an die Kunst: „Man könnte die Kunst aufgeben, würde damit aber nicht die von ihr gelernte Fähigkeit einbüssen“.¹⁴¹ Diese Disjunktion zwischen der Kunst und ihrer Verführungsmacht ist aufschlussreich. Denn die Kraft trennt sich damit ab von der spezifischen Praxis und denen, die sie bisher geübt haben, den Künstlern. Ähnlich wie Nietzsche die philologisch-historische Methode adaptiert, indem er den Stand der Philologen untergräbt, setzt er auch die ‚Methode‘ der Kunst frei. Hier, in dem zitierten Aphorismus aus MA, kann er hoffen, sie der Wissenschaft zuzuschlagen: „Der wissenschaftliche Mensch ist die Weiterentwickelung des künstlerischen“.¹⁴² Wie kann nun aber die Wissenschaft, die wesentlich Zerstörung und Disjunktion ist, Anteil an ihrem Gegenteil haben – gesetzt, sie will nicht warten, bis diese Grundfrage nach der Vollendung jener „Cyklopen-Bauten“¹⁴³ endgültig in den Vordergrund tritt? Wie ist es überhaupt möglich, dass die Wissenschaft, wenn sie doch, wie es in MA hieß, lebensfeindlich sei und dem Menschen die Freude nehme,¹⁴⁴ sich in ihr Gegenteil wendet und Zugang zu jener künstlerischen, schaffenden „Lust am Dasein“ bekommt? Spätestens von der Fröhlichen Wissenschaft an hat diese Frage einen zentralen Stellenwert. Das erste Buch stellt eingangs, im zitierten siebten Aphorismus von den „Cyklopen-Bauten“, die Frage, ob die Wissenschaft Zwecke geben könne. Der zweite Aphorismus des zweiten Buches eröffnet eine komplementäre Perspektive zu dieser langen und langwierigen Zukunft der wissenschaftlichen Arbeit. „Nur als Schaffende!“ ist sein Titel. Es liege viel mehr daran, „wie die Dinge heissen, als was sie sind.“ Der Ruf eines Dinges, der Glaube an sein So-sein, „wirkt“ als sein „Wesen“, nicht die eigentliche Natur, die es haben mag. Die Irrtümer, der Schein, das Missverständnis, die falsche Schätzung haben sich auf die Dinge gelegt, und gerade sie motivieren das Handeln aller Menschen. Ein Narr sei, wer meine, „es genüge, auf diesen Ursprung und diese Nebelhülle des Wahnes hinzuweisen, um die als wesenhaft geltende Welt, die sogenannte ‚Wirklichkeit‘, zu vernichten! Nur als Schaffende können wir vernichten!“¹⁴⁵ Einer Haltung, die hinweist, um nur zu zerstören, wird hier wiederum das Schaffen entgegengestellt. Ähnelt jene Haltung nicht derjenigen der Wissenschaft, wie sie Nietzsche etwa in MA entwarf? Wenn es dort hieß, dass die Wissenschaft den zweiten Text destruiere, um den Text der Natur sichtbar zu machen, so tritt ihr hier das komplementäre Verfahren des Schaffens an die Seite. Es ist die potentere Haltung, wird aber auch aus einer
Alle Zitate KSA 2, S. 185; MA 222. KSA 2, S. 186; MA 222. Vgl. oben, S. 453. Vgl. oben; KSA 2, S. 209; MA 251. KSA 3, alle Zitate S. 422; FW II, 58.
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systematischen Notwendigkeit dagegengestellt. Denn wer „‚Wirklichkeit‘“ vernichtet, der vernichtet auch deren Wirkung, also den Fortgang von Schätzen und Wollen. Nur zu vernichten, würde zu einer skeptischen, einer nihilistischen Position führen. Daher ist es nötig, im Vernichten gleichzeitig neu zu schaffen. Gemeint ist dabei nicht die poetische Produktion des Künstlers, sondern ein poietischer Akt, der „neue Namen und Schätzungen und Wahrscheinlichkeiten“ entwirft, damit aus ihm „neue ‚Dinge‘“ entstehen. Das Schaffen, von dem hier die Rede ist, hat mit der Kunst gemein, dass es einen neuen Schein hervorbringt. Aber es geschieht nicht bloß in der ästhetischen Dimension, vielmehr betrifft es die Existenz und die Orientierung im Leben selbst. Wie Vernichten und Schaffen sich zu Kunst und Wissenschaft verhalten, bleibt in diesem Aphorismus offen. Aber gleich der folgende Text bezieht sich auf die Kunst. Nietzsche ist es wichtig, die Perspektive zurechtzurücken. Der Künstler, das ist die Pointe dieses zweiten Textes, kann ein „Verhehler der Natürlichkeit“ sein – vor allem gegenüber sich selbst.¹⁴⁶ Denn nur wer die Natur nicht sehe, wie es der wissenschaftliche Blick tue, nur wer vor sich die „Widerlichkeiten“ der Physiologie verbergen könne – allein der werde vom „Geist“ und der „Kraft des Traumes“ ergriffen, steige „hinauf auf die Dächer und Thürme der Phantasterei“, glaube, Zwecke zu haben und handeln zu müssen. Der Künstler zeigt für Nietzsche, unter welchen Bedingungen ein Höhenflug, ein Hinaufsteigen in höchste Höhen und ein sicherer Gang möglich sind: als Folge eines selbstinduzierten Traumes, der die Realität ausblendet. Der Aphorismus verhält sich deutlich ambivalent zu diesem Selbstbetrug. Denn einerseits bezieht er ihn auf den heutigen Menschen insgesamt, sich selbst eingeschlossen („wir Menschen von heute“). Im Selbstbetrug zeugt sich die Haltung des religiösen Menschen fort, der nur von der Allmacht Gottes, nicht aber von „Natur und Natürlichkeit“ hören will. Andererseits aber fasziniert der Schwung, den der „unermüdliche Wanderer“ durch jenen Traum gewinnt: Er steigt auf „Höhen, die wir nicht als Höhen sehen, sondern als unsere Ebenen“.¹⁴⁷ Diese Ambivalenz gilt es auszuhalten. Denn wohl ist der gefahrvolle Aufstieg zu neuen Höhen eine der positiven Lieblingsmetaphern Nietzsches. Aber dass der Wanderer hier die Höhen nicht sehen will, gibt doch zu denken. Zusammengenommen fragen beide Aphorismen, wie es möglich sei, gleichzeitig zu zerstören und zu schaffen. Lässt es sich aushalten, hoch zu steigen und sich doch gleichzeitig der Höhe bewusst zu bleiben, ihren Schrecken zu bejahen?
KSA 3, alle Zitate S. 423; FW II, 59. KSA 3, alle Zitate S. 424; FW II, 59.
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Das Lob des Schaffens als Faszination für den künstlerischen, Zwecke erdichtenden Selbstbetrug hat ein aufschlussreiches Pendant in der Haltung, die Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft gegenüber den anderen Phänomenen der Kultur einnimmt. Die Denunziation der Irrtümer und Verfälschungen, die durch jenen zweiten Text der christlichen Denkweise entstanden sind, gewinnt hier nun eine andere Färbung. Beispielhaft dafür ist der erste Aphorismus. Er ist programmatisch, denn er erläutert den Titel des ganzen Buches. Nietzsche entwirft die Koordinaten der gaya scienza, indem er einen distanzierten Blick auf die Welt und das Erkennen einnimmt. Seine „Abrechnung des Ganzen“ kommt zu einem erstaunlichen Ergebnis.¹⁴⁸ Die Welt in ihrem Lauf erscheint als ein ewiger Wechsel von Tragödie und Komödie. Helden träten auf die Bühne, Gründer von Moralen und Religionen erschienen. Sie begönnen Kämpfe um „sittliche Schätzungen“, lehrten „Gewissensbisse“, brächen „Religionskriege“ los. Sie stifteten Glauben, verfolgten die Andersgläubigen und vor allem die, die „über das Dasein lach[t]en“, es als ewige Komödie nähmen. Sie überschätzten sich, verfolgten den Einzelnen, weil sie dessen Bedeutung für das Ganze der menschlichen Gattung maßlos übertrieben. Sie verkennten die Natur, pflanzten Begriffe ein, die „thöricht und widernatürlich“ seien. Ihre Ideen, ihre Auslegungen des Textes der Realität zielten darauf, das Leben abzutöten. Aber ihren Ideen und Intentionen zum Trotz, förderten sie das Leben der Gattung, „indem sie den Glauben an das Leben fördern“. Wer ihnen und ihrem Fanatismus folge, tue dies aus der Überzeugung heraus, dass etwas am Leben liege. Jeder Zweck, der dem Leben aufgezwungen werde, entstehe aus dem „Trieb der Arterhaltung“,¹⁴⁹ sei man sich nun dessen bewusst oder – wie es bislang der Fall gewesen sei – eben nicht. Mit jedem Helden, der die Bühne betrat, „wurde etwas Neues erreicht“, wurde das Leben „wieder einmal für einige Zeit interessant.“¹⁵⁰ Die gleiche Logik, die Nietzsche an sich selbst beobachtet, bestimmt die Weltgeschichte. Und so, wie er an sich selbst reflektieren muss, dass nicht der decouvrierende Wissenschaftler, sondern der Schaffende das Leben voranbringt, so muss er, aus der Perspektive des Ganzen, zugestehen: Die lebensfeindlichen Religionsstifter haben erfolgreich Macht entfaltet, indem sie dem Leben einen Sinn verleihen, es umwälzen und zu neuen Bildungen aufstacheln konnten. Die Aphorismen „Nur als Schaffende!“ und „Wir Künstler!“ reden nicht dem Künstler das Wort. Sie beziehen vielmehr sein Verfahren, das Schaffen, auf die
KSA 3, alle folgenden Zitate S. 370; FW I, 1. KSA 3, S. 371; FW I, 1. KSA 3, S. 372; FW I, 1.
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Möglichkeit des Handelns und die Dimension der Zukunft. Sie formulieren ein Problem, von dem Nietzsche, kaum verwunderlich, sagt, es habe ihm „die grösste Mühe gemacht“¹⁵¹ und mache sie ihm noch immer. Ermöglichung von Handlung, Entwurf der Zukunft basiert auf etwas, das aus der Perspektive der wissenschaftlichen Analyse geradezu als Selbstbetrug wirken muss.¹⁵² Dieses Problem erscheint hier in der Selbstreflexion, als Gegenstand „grösste[r] Mühe“ und in Form jenes ambivalenten „Wir“, das Nietzsche auch schon über seine Abhandlung zu den Philologen setzen wollte. Er übernimmt gerade nicht einfach die Perspektive des Künstlers, dem dieser Selbstbetrug immer schon gelingt. Vielmehr stellt sich das Problem im Blick dessen, der die gegensätzlichen Verfahren der Analyse und des Selbstbetrugs reflektieren kann. Die Möglichkeit, dieses Problem zu erkennen, entsteht durch den wissenschaftlichen Blick. Insofern ist es nicht richtig, einfach zu konstatieren, der spätere Nietzsche von der Fröhlichen Wissenschaft an sei in die Position des Künstlers übergesprungen, er habe sich kurzerhand an die Künstlermetaphysik seiner frühen Schriften wieder angeschlossen.¹⁵³ Was sich hier vollzieht, ist vielmehr die Formulierung einer komplementären Ebene zu jenen Disjunktionen, mit denen Nietzsche seine philologisch-historische Methode auf die Wahrheitserkenntnis allgemein anwendet. Diese Methode besteht darin, dass sie die Entstehung eines Dinges von seinem Zweck trennt: Von dem Sein eines Dings kann nicht auf sein Sollen geschlossen werden. Entsprechend aber gilt umgekehrt: Das Sollen eines Dings, der Zweck, der ihm für die Zukunft zugeschrieben werden kann, ist, kategorisch gesprochen, gerade keine Frage seiner Analyse, seines Seins. Welches Sollen einem Ding zukommt, hängt vielmehr von einem schöpferischen Akt ab, der dem Ding „neue Namen und Schätzungen und Wahrscheinlichkeiten“ gibt und damit letztlich fähig ist, „neue ‚Dinge‘“ entstehen zu lassen.¹⁵⁴ Die Notwendigkeit, Schaffen zu ermöglichen, folgt damit aus Nietzsches methodisch-kritischer Reflexion. Sie hat die Dimensionen der Zeit voneinander abgetrennt. Die Analyse der Vergangenheit richtet sich auf die Zerstörung der bisherigen Namen und Schätzungen. Aber sie selbst kann sich aufgrund ihrer eigenen Prämissen nicht von ihrem rückwärtsgewandten Blick befreien. Die Ge-
KSA 3, S. 422; FW II, 58. Vom „Wollen des Scheins“, das zu einem „Janusgesicht der Wahrheit“ bei Nietzsche führe, spricht Josef Simon: Der gewollte Schein. Zu Nietzsches Begriff der Interpretation. In: Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche. Hrsg. von Mihailo Djurić und dems. Würzburg 1986, S. 62– 74, hier S. 73. So auch Benne 2005, S. 231. KSA 3, S. 422; FW II, 58.
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staltung der Zukunft ist allein Sache eines Schaffens, das von jeder normativen Bindung an die Vergangenheit frei sein muss. Die Schwierigkeit liegt darin, dass beide Dimensionen einander kategorisch ausschließen.¹⁵⁵ Um die Vergangenheit historisch-kritisch durchzuarbeiten, muss jede bisherige Wahrheit (ja, die ‚Wahrheit‘ selbst) als Irrtum untergraben werden. Um die Zukunft gestalten zu können, gilt es dagegen, den kritischen Blick auf die Produktion von Wahrheiten auszuschalten. Die Schwierigkeit vermehrt sich noch, denn beide Haltungen stehen komplementär zueinander, sind aufeinander angewiesen. Um das Vergangene als Produkt fortlaufender Prägungen und Umbenennungen erkennen zu können, gilt es, die Natur des Schaffens zu kennen: es nicht als Weg zu einer Wahrheit in den Dingen zu verstehen, sondern als Akt eines Willens zur Macht. Umgekehrt ergibt sich die Möglichkeit einer Perspektive auf die Zukunft als offener erst aus der Destruktion der Vergangenheit, dem Einblick in die Geschichte als einer von Prägungen und Schätzungen, die gerade nicht in den Dingen selbst gründen. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man die genannten ‚Schwierigkeiten‘ als Aporie bezeichnet. In ihr radikalisiert sich das Verhältnis, in dem philologischhistorische Wissenschaften und Dichtung zueinander standen. Der philologische Blick kennt die Möglichkeiten und Bedingungen des Schaffens. Aber weil er sie kennt, ist er von ihnen abgeschnitten. Er muss sich einen Modus imaginieren, in dem er das Schaffen als anderes seiner selbst in sich aufnehmen, es sich einverleiben kann. Auf der anderen Seite kennt der dichterische, philologisch-historisch geschulte Blick seine Gebundenheit an die Vergangenheit. Aber er muss sich seinerseits eine Position imaginieren, in der er sich aus dieser Gebundenheit erheben kann, um seine eigene Produktivität zu ermöglichen. Der Philologe beobachtet sich selbst aus der Position seines Gegenstandes, der Dichtung. Der Dichter dagegen beobachtet sich aus der Position seines Beobachters und des Beobachters seiner Gegenstände: des Philologen. Diese Konstellation prägt auch Nietzsches Denken, das sich methodisch und in seinem Selbstverständnis aus dem Gestus des Philologen und des Historikers herleitet. Sie gilt auch für ihn, der zwar antiidealistisch die Verbindung zwischen Vergangenheit der Menschheit und ihrer Zukunft kappt, aber doch in der doppelten Perspektive von Vergangenheit und Zukunft als Zeitdimensionen gefangen
Zu einem analogen Ergebnis kommt Werner Stegmaier in seiner Untersuchung zu Nietzsches Neubestimmung der Wahrheit (in: Nietzsche-Studien 14 [1985], S. 69 – 95, hier S. 95). Es sei „Nietzsches Verdienst“, in „unüberbotener Radikalität“ die „verletzende und lähmende Zweideutigkeit in allem philosophischen Wahrheiten“ (im Sinne des Erkenntnisaktes) offengelegt zu haben: dass sie „das Ideale zerstören muß – einschließlich des Ideals, dessen sie bedarf, um Ideale zerstören zu können“.
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bleibt. Der Schaffende der Zukunft ist dem Blick des historisch-kritischen Analytikers ausgeliefert. Und der historisch-kritische Analytiker blickt auf sich mit dem Wunsch, zu schaffen. Die Aporie lässt sich, das liegt in ihrer Natur, nicht einfach auflösen.¹⁵⁶ Nietzsche umspielt sie von der Fröhlichen Wissenschaft an in verschiedenen Formen. Im zweiten Aphorismus des dritten Buches beispielsweise tritt sie voll zutage. Sein Titel „Hüten wir uns!“¹⁵⁷ gibt das Leitmotiv ihrer Denkbewegung an. Mit ihm löst Nietzsche hier die verschiedenen Interpretationen auf, durch die der Mensch seiner Welt und sich selbst Sinn zugeschrieben hat. ‚Hüten wir uns‘ zu denken, dass das All ein Organismus mit einem Willen, einem Wesen, einem eigenen Sein sei; hüten wir uns aber auch, in ihm eine Maschine zu sehen, konstruiert zu bestimmten Zwecken; hüten wir uns, irgendwo Ordnung entdecken zu wollen oder umgekehrt die Unordnung als menschenfeindlich zu tadeln und so das All immer noch auf den Menschen zu beziehen; hüten wir uns, Gesetze in der Natur aufspüren zu wollen oder aber auch ihr Gegenteil, den Zufall – denn der Zufall hat als Gegenbegriff zum Gesetz nur Sinn in einer Welt, die eigentlich Zwecken gehorchen sollte. Alle diese Zuschreibungen seien Vermenschlichungen des Alls, Fehlinterpretationen jenes ‚Textes‘ der Natur. Sie seien „Schatten Gottes“, die der Mensch in die Welt hineinsehe, um sich einen Sinn zuzuschreiben, der nicht von ihm selbst her komme. Das „Hüten wir uns!“ fordert die langsame Lektüre des ‚Textes‘ ein, es setzt ins Werk, was Nietzsche in seinem Lob der Philologie im Antichrist ¹⁵⁸ als „Ephexis“ bezeichnet: ein Zurückstellen des Urteils.¹⁵⁹ Diese ‚philologischen‘ Dekonstruktionen münden in einen Ausruf: „Aber
Insofern widerspreche ich hier einer zentralen These von Johann Figls wichtiger Untersuchung zur Dialektik der Gewalt (1984a, etwa S. 221, aber auch pass.); er versucht zu zeigen, wie Nietzsche diesen Widerspruch in einer Hermeneutik auflöse, die gleichzeitig kritisch-analytisch und synthetisch sei. Dagegen versuche ich herauszuarbeiten, wie Nietzsche von hier aus zu einer neuen Praxis des Schreibens kommt. KSA 3, S. 467– 469; FW III, 109. „Ein anderes Anzeichen des Theologen ist sein Unvermögen zur Philologie. Unter Philologie soll hier, in einem sehr allgemeinen Sinne, die Kunst, gut zu lesen, verstanden werden, – Thatsachen ablesen können, ohne sie durch Interpretation zu fälschen, ohne im Verlangen nach Verständniss die Vorsicht, die Geduld, die Feinheit zu verlieren. Philologie als Ephexis in der Interpretation: handle es sich nun um Bücher, um Zeitungs-Neuigkeiten, um Schicksale oder Wetter-Thatsachen, – nicht zu reden vom ‚Heil der Seele‘ …“; KSA 6, S. 233; AC 52. Die Stelle im Antichrist wird von Benne (2005, S. 198 f.) und Andreas Urs Sommer (Friedrich Nietzsches Der Antichrist. Ein philosophisch-historischer Kommentar. Basel 2000, S. 510 – 512) ausführlich diskutiert. Ungelöst ist die Quelle für Nietzsches nicht gewöhnlichen Begriff der ἔφεξις. Sommer kann ihn nirgendwo nachweisen, verweist aber auf eine Nachlassnotiz von 1885 über „Die Epochisten, die Ephektiker“, wo der Begriff schon einmal auftaucht (KSA 11, S. 521 f.; [35], 29). Thomas H. Brobjer macht auf eine verwandte Stelle bei Gustav Teichmüller (Die wirkliche und
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wann werden wir am Ende mit unserer Vorsicht und Obhut sein! […] Wann werden wir anfangen dürfen, uns Menschen mit der reinen, neu gefundenen, neu erlösten Natur zu vernatürlichen!“¹⁶⁰ Der Aphorismus führt in nuce vor, was jener andere über die „CyklopenBauten“ der Wissenschaft in die Zukunft projiziert. Auf der Ebene des Kosmos weist die wissenschaftliche Betrachtung auf eine Natur, die sich als nichts anderes erweist denn als Raum der „Notwendigkeiten“, die dem Menschen gerade keinen Sinn zusprechen. Diese Natur ist unschuldig, denn sie ist lediglich das, was sie ist. Je mehr der Mensch als Erkennender versucht, sie von seinen Zuschreibungen zu befreien, sie zu erlösen, desto mehr scheint sie zum stummen Anderen zu werden, inkommensurabel. Aber dieser Blick der Vorsicht überdeckt, dass, mit einer sinnlosen Natur, ohne Gott, auch der Mensch im gleichen Sinne zur ‚Natur‘ würde.Was aber wäre diese Natur, „mit der“ der Mensch nun beginnen könnte, sich zu „vernatürlichen“? Sie kann gerade nichts Substantielles sein, das es nur auf rechte Weise zu erkennen gälte. Denn damit wäre sie nur eine weitere Idee, ein neues vermenschlichtes Bild, dem wieder das „Hüten wir uns“ entgegengestellt werden müsste. Was kann es also bedeuten, sich zu „vernatürlichen“? Dies kann nichts anderes meinen, als selbst die Notwendigkeit zu werden, die man ist. Diese paradoxe Formulierung verweist auf den Angelpunkt der Aporie. Denn sich zu ‚vernatürlichen‘ läge in dem Übergang von der Wahrheitserkenntnis zu dem, was sich hinter ihr verbirgt: Wille zur Macht, Schaffen. Der erkennende Mensch würde damit gleichsam sein Anderes, die Unschuld seines Werden, seines Wollens. ‚Vernatürlichung‘ bedeutete, die Erkenntnis zu dem Punkt zu führen, an dem sie in Schaffen umschlüge, und zwar in ein Schaffen, das sich nicht gegen sich selbst wendet, sondern sich als Willen zur Produktion rein bejaht. Die Erlösung der Natur setzte auch den Menschen in die Unschuld, seine Notwendigkeit zu sein, sich selbst zu wollen – nicht, weil er etwas Bestimmtes wäre, eine bestimmte Natur
die scheinbare Welt. Breslau 1882) aufmerksam: ders.: Beiträge zur Quellenforschung. In: Nietzsche-Studien 32 (2003), S. 446. Interessant – weil sie in das systematische Problem Nietzsches hineinführt – ist in diesem Zusammenhang eine Anmerkung bei Wilhelm Traugott Krug: „Der Skeptizismus – von σχεπτεσθαι, betrachten, untersuchen […] dann zweifeln […] endlich so viel als den Beifall an sich halten (= επεχειν, weshalb sie auch Ephektiker genannt wurden) – empfiehlt zwar mit Recht diese Zurückhaltung des Beifalls (εποχη) als ein Mittel gegen den Irrthum in Bezug auf nicht gehörig begründete Urtheile. Aber den Beifall überhaupt und für immer zurückhalten ist nicht möglich, und kann daher auch weder angerathen noch gefodert werden. Denn der Mensch soll und muß handeln, könnt es aber nicht, wenn er nicht wenigstens den auf sein Handeln bezüglichen Urtheilen Beifall gäbe.“ (Ders.: Handbuch der Philosophie und der philosophischen Literatur. 2 Bde. Leipzig 31828, Bd. 1, S. 104; das Griechische im Orig. ohne Akzente). KSA 3, alle folgenden Zitate S. 468 f.; FW III, 109.
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hätte, sondern weil seine Identität gerade in dem Wollen, dem Entwurf von Kraft in die Zukunft, im Werden läge.¹⁶¹ Bezeichnenderweise schließt Nietzsche die letzten Sätze seines Aphorismus nicht mit dem Fragezeichen, das sie von ihrem Sinn her eigentlich fordern (s.o.). Sie enden vielmehr mit einem Ausrufezeichen. Die Vernatürlichung läge gerade nicht darin, dass der Mensch fragend vor dem Kosmos einhielte. Dies wäre Skepsis und damit Nihilismus. Sondern sie bestünde darin, die Vorsicht zu überspringen: in dem Schritt voran, dem Schaffen von Sinn und Zukunft, der Transformation des Fragezeichens in die Bewegung nach vorn, dem „Vorschritt“¹⁶² im unschuldigen Wollen. Wie kann der Mensch sein Werden werden? und damit gleichzeitig sein Anderes? In diesem Willen, sich zu überspringen, besitzt Nietzsches Denken eine phantasmatische Struktur. Sie entsteht in der doppelten Optik von Analyse und Spontaneität und kreist um den Punkt, an dem das eine in das andere übergehen kann. Erinnert sei an den physiologischen Entwurf eines Menschen der Zukunft mit zwei Gehirnhälften, der sich einerseits, als Wissenschaftler, selbst beobachten kann, dabei aber dennoch das ist, was er ist: Werden. Ein analoges Phantasma formuliert Nietzsche im vierten Buch der Fröhlichen Wissenschaft. Hier ist der doppelte Mensch nicht physiologisch pointiert, sondern historisch. Beide Dimensionen stehen dabei nicht in einem ausschließenden Verhältnis, denn aus Nietzsches antimetaphysischer Perspektive folgt, dass die Physiologie des Menschen nicht naturgegeben ist; sie entsteht vielmehr historisch und prägt sich durch lange Habitualisierung aus. Wer den „historischen Sinn“ betrachte, der in der jüngeren Vergangenheit entstanden sei, dem müsse der Mensch als „schwermüthiger Kranker“ erscheinen.¹⁶³ Er schreibe „seine Jugendgeschichte“ auf, um „seine Gegenwart zu vergessen“. Aber Nietzsche formuliert die Hoffnung, dass sich gerade dieser historische Sinn zukünftig zu seinem Gegenteil entwickeln werde: Es könne daraus „ein wundervolles Gewächs“ entstehen, „um dessentwillen unsere alte Erde angenehmer zu bewohnen wäre, als bisher“. Denn einerseits die ganze Vergangenheit zu überschauen, sich am „Abend der Schlacht“ Wolfgang Müller-Lauter sieht in seinem wichtigen Aufsatz zu Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht (in: Nietzsche. Hrsg.von Jörg Salaquarda. Darmstadt 21996, S. 234– 287, hier S. 234) den Kern von Nietzsches Denken darin, dass es auf den „gewollten Willen“ ziele, der sich gerade nicht mehr irgendwie auf ein Konkretes, immer schon Gegebenes richte. Ihm gehe es um „das Gefüge von Wollendem, welches sich, auf sein letztes faktisches Gegebensein hin befragt, ins Un-fest-stellbare entzieht“. Müller-Lauter weist damit zu Recht eine Nietzsche-Interpretation zurück (etwa Heideggers), die ihn noch innerhalb der Geschichte der Metaphysik ansiedelt (wenn auch als deren Vollender). Nietzsche prägt den Begriff im gleichnamigen Aphorismus von M I, 554; KSA 3, S. 324. KSA 3, alle folgenden Zitate S. 564 f.; FW IV, 337.
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zu fühlen, „welche Nichts entschieden hat“; aber gerade diese „ungeheure Summe von Gram aller Art tragen, tragen können und doch noch der Held sein, der beim Anbruch eines zweiten Schlachttages die Morgenröthe und sein Glück begrüßt“ – dies wäre ein „göttliche[s] Gefühl“. Der Mensch „eines Horizontes von Jahrtausenden vor sich und hinter sich“ zu sein, „Erbe“ und „Erstling“ – in diesem Menschen zweier Zeitalter, dem Menschen einer doppelten Optik löste sich die beschriebene Aporie auf. Geschichte wäre kein Gewicht, vielmehr eröffnete sie Wege ins neue Werden einer weiterhin geschichtlichen Welt – in der Geschichte aber immer erst gemacht sein will. Dieser historische Sinn der doppelten Optik wäre einerseits Erkenntnis und damit unendliches Gewicht, andererseits aber Möglichkeit, zu schaffen, zur Zukunft, zu Verschwendung, zu Kraft – und zwar gerade nicht, weil die Geschichte die Zukunft vorgäbe, sondern weil sie zu neuer Kraftentfaltung ins Offene anreizte. Die doppelte Optik im Historischen würde bedeuten, in immer neue Höhen zu steigen, ohne zu vergessen, dass es Höhen sind und keine Ebenen.
5 ‚Auslegung‘ – Die doppelte Optik eines neuen Schreibens Der philologisch-historische Blick und derjenige des Künstlers sind für Nietzsche in gewisser Weise zu Metaphern geworden. Aber sie sind nicht bloße Metaphern, da Nietzsche aus ihnen zwei Grundpraktiken gewinnt, die er dann generalisiert: die Disjunktion als kritische Destruktion von bisherigen Schätzungen und Gewissheiten; und das Schaffen als Produktion von Neuem. Sie sind auch insofern nicht bloße Metaphern, als die Welt für Nietzsche wesentlich historisch wird. Die Analyse gilt der einen Welt, die sich in Dingen, Zeugnissen und Phänomenen dokumentiert. Diese Welt ist nichts anderes als ihre Geschichte. Das Schaffen richtet sich auf die Zukunft als neue Geschichte, die gemacht werden kann und muss: obwohl die Welt bereits eine vergangene Geschichte hat, die sich als Gewicht an die Zukunft hängt, und weil die Welt nichts anderes ist als ihre Geschichte – also kein zweites, eigentliches, metaphysisches Sein besitzt. Das diametrale Verhältnis beider Blicke gehorcht einer doppelten Logik, einer doppelten Optik. Der eine Blick unterläuft notwendig den anderen, die Wissenschaft das Schaffen, die Philologie das Dichten. Die Frage, wie sich dies aushalten, wie es sich wollen lässt, ist zu einem zentralen Problem von Nietzsche geworden. Nietzsches theoretische Konsequenz aus diesem Dilemma ist es, das Erkennen selbst als Setzung von Wert zu verstehen. Er tut dies bezeichnenderweise wiederum mit Begriffen, die der Philologie entlehnt sind: der ‚Interpretation‘ und ‚Auslegung‘. Der methodische Grundsatz für die Historie aus der zweiten Abhandlung der Genealogie der Moral wurde bereites zitiert. Er trennt den Zweck, die
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Nützlichkeit, den Gebrauch eines Dinges von seiner Entstehung. Gleichzeitig zieht Nietzsche die Konsequenz aus diesem Gedanken. Denn wenn die „Ursache der Entstehung eines Dings“ und „dessen tatsächliche Verwendung und Einordnung in ein System von Zwecken“ grundsätzlich unterschieden werden müssten, dann deshalb, weil an einem Ding eben nicht seine ‚Natur‘ entscheidend sei, sondern seine Deutung. Alles „Geschehen in der organischen Welt [ist] ein Überwältigen, Herrwerden“, ein „Neu-Interpretieren, ein Zurechtmachen […], bei dem der bisherige ‚Sinn‘ und ‚Zweck‘ nothwendig verdunkelt oder ganz ausgelöscht werden muss.“¹⁶⁴ Gerade in dieser „eigentlichen Aktivität“ aber liege „das Wesen des Lebens […], sein Wille zur Macht“.¹⁶⁵ An anderer Stelle verwendet Nietzsche für diese notwendige Tätigkeit des sich entwerfenden Lebens den Begriff der Auslegung. Ist nicht, so fragt er beispielsweise im fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft, „alles Dasein essentiell ein auslegendes Dasein“?¹⁶⁶ Nietzsches Fassung von Dasein als Auslegung und Interpretation zieht die Konsequenz aus seiner Sicht des Lebens als Wille zur Macht. Sie hängt im Kern zusammen mit seiner Formulierung des Lebens als Perspektivität. Denn wenn nicht ihre ‚Wahrheit‘ das Entscheidende an den Dingen ist, dann setzt die Bemühung um Auslegungen ein Machtspiel der Perspektiven in Gang. Jede Erkenntnis entwirft, indem sie nach dem So-und-so-Sein der Welt fragt, eigentlich erst die Wahrheiten, nach denen sie zu fragen scheint. Die Auslegung wäre Aktivität des Willens, um über die Zukunft zu herrschen, und diese Herrschaft gründete in nichts anderem als dem perspektivischen Blick des Erkennenden und seiner normativen Projektion in die Zukunft – beiden aber liegt der Wille zugrunde, die Dinge zu überwältigen, sie in die eigene Gewalt zu bringen. ‚Wissenschaft‘ wird hier fraglich. Denn wenn selbst die Suche nach der Wahrheit eine Gestalt des christlichen Weltbildes ist, ein Versteck Gottes, dann ändert sich die Perspektive auf die Wahrheit. Es stellte sich dann nicht mehr die Frage, ob eine Aussage einer Realität entspreche; sondern es gälte, den Wert einer Aussage für das Leben zu bestimmen, d. h. zu fragen, welche Gestalt sie als Auslegung dem Leben verleihen will. Nietzsche stellt diese Frage in seinen späteren Schriften durchgehend; sein antichristlicher Impetus gründet darin, dass das Christentum den Willen zum Leben gegen dieses Leben wende. Aber wie steht es mit der wissenschaftlichen Haltung selbst? Als Gestus gäbe auch sie eine Antwort auf die Frage nach dem Wert von Wahrheit für die Existenz. Indem sie nach Wahrheit fragt, sistiert sie den Fragenden; sie verpflichtet ihn auf etwas, das
KSA 5, alle Zitate S. 313 f.; GM II, 12. KSA 5, S. 315 f.; GM II, 12. KSA 3, S. 626; FW2 V, 374.
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außer ihm und hinter den Dingen läge, auf Wahrheit. Sie wäre, wie Nietzsche beispielsweise in der Genealogie der Moral deutlich macht, selbst nichts anderes als eine Spielart des asketischen Ideals. Nietzsches Theorie des Lebens als Auslegung ist von der Forschung zu Recht als zentraler Gedanke seiner späteren Philosophie verstanden worden.¹⁶⁷ Sie scheint dem offenen Charakter Rechnung zu tragen, den das Dasein gewinnt, wenn es aus seinen metaphysischen Fassungen gebrochen wird. Hier stellt sich das genannte aporetische Problem: Wie kann Wissenschaft sich als Auslegung begreifen, wenn sie sich damit gleichzeitig bewusst in den betrügerischen Gestus des Neu-Schaffens begeben muss? Zieht man in Betracht, dass Nietzsche auch dort, wo er diese Konsequenz zieht, nicht von der wissenschaftlichen Haltung ablässt, so spitzt sich das Problem zu der Frage zu, wie Nietzsche eigentlich nach wie vor als Wissenschaftler sprechen kann.¹⁶⁸ Wie kann er angesichts dieses Befundes an seinem Lob des genauen Lesens festhalten? wie in der Genealogie seine philologisch-historische Methode entfalten und im Antichrist beispielsweise mit unverminderter Entschiedenheit das methodische Ideal einer „Philologie“ der „Thatsachen“ beschwören?¹⁶⁹ Auf welcher Grundlage kann er andere Auslegungen als ‚falsch‘ kritisieren, wie er es nun umso entschiedener tut; sei es beispielsweise, dass er den Begriff des „Willens“ oder das „Ich denke“ als „Fäl-
Einen Blick auf die Forschung bietet Benne 2005, S. 8 – 16; eine ältere Übersicht über die – damals noch spärliche – Literatur bei Johann Figl: Interpretation als philosophisches Prinzip. Friedrich Nietzsches universale Theorie der Auslegung im späten Nachlaß. Berlin, New York 1982, S. 5 – 9. Über diese beiden Arbeiten hinaus, von denen insbesondere Benne die Frage der Auslegung dezidiert mit Blick auf die Philologie behandelt, vgl. aus der reichen philosophischen Literatur beispielsweise: Müller-Lauter 1996; Johann Figl: Friedrich Nietzsche und die philosophische Hermeneutik des 20. Jahrhunderts. Mit besonderer Berücksichtigung Diltheys, Heideggers und Gadamers. In: Nietzsche-Studien 10/11 (1982), S. 408 – 432; Wiebrecht Ries: Ästhetische Hermeneutik der Welt. Nietzsches Versuch einer ‚neuen Auslegung allen Geschehens‘. In: Riedel (Hrsg.) 1999, S. 39 – 54; Günter Figal: Nietzsches Philosophie der Interpretation. In: NietzscheStudien 29 (2000), S. 1– 11. Günter Figal versucht, der Erfahrung des Auslegens selbst Wahrheitswert zuzuschreiben; die jeweilige Perspektive setzte dann durch ihre Auslegung ihre je eigene Wahrheit. Allerdings bleibt dabei fraglich, wie Nietzsche dann dennoch methodische Regeln für die Erkenntnis formulieren kann, wie er es beispielsweise in der Genealogie tut. Figal stößt zwar auf die Frage, wie die Einsicht in den Setzungscharakter der Wahrheit sich mit dem Setzen dieser Wahrheiten selbst verträgt, umschifft aber die Aporie, die sich hier ergibt, wenn er sagt, dass eine solche Einsicht „die Ausnahme bleiben muß“ (2000, S. 10), weil sie für die Lebensführung nicht tauge. Mir scheint sich dieser Punkt philosophisch nicht ‚lösen‘ zu lassen (so auch in großer Deutlichkeit Müller-Lauter 1996, etwa S. 270 – 273); stattdessen gilt es, die Performanz von Nietzsches Schreiben in den Blick zu nehmen, die sich genau um diese Unlösbarkeit herum entfaltet. Vgl. die schon zitierte Stelle aus dem Antichrist, vgl. oben, S. 463.
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schung“ und „Auslegung“ eskamotiert; sei es, dass er die christliche Auslegung der Bibel mit gesteigerter Energie verfolgt, ihr den „falschen Boden“¹⁷⁰ entziehen will und dekretiert, dass ein Philologe angesichts der haltlosen Interpretationen „an allen Wänden empor[laufen]“ möchte?¹⁷¹ Müsste Nietzsche nun nicht eigentlich einhalten, da ja alle Auslegungen und Interpretationen als Äußerungen eines Willens zur Macht legitim wären, ja, da von Legitimität eigentlich nicht mehr die Rede sein dürfte? Christian Benne hat in seiner grundlegenden Studie zur Philologie bei Nietzsche versucht, dieses Problem zu lösen, indem er unterschiedliche „Domänen“ der Interpretation trennt.¹⁷² Nietzsches Auffassungen unterschiedlicher Phänomengruppen könnten voneinander unterschieden werden. Physikalischen Fragen weise er einen anderen Status zu als beispielsweise kulturellen. Vollends besäßen Texte für ihn einen anderen Wahrheitswert. Nietzsches Theorie der Auslegung könne für die Dinge der Welt Geltung beanspruchen, nicht aber für schriftliche Überlieferungen. Als menschlichen Produkten schreibe Nietzsche diesen eine erkennbare Intention zu, und entsprechend gelte für ihn in dieser Domäne nicht die Freiheit der Auslegung. Mit Recht könne er sein langsames Lesen auch dort noch gegen die schlechten Interpretationskünste der Theologen stellen, wo für ihn Dasein wesentlich Auslegung geworden sei. Bei Texten gebe es eine „Redlichkeit“ der Deutung; ihre Vergewaltigung sei, im Unterschied zu allen anderen Domänen der Auslegung, nicht erlaubt. Diese These erscheint reizvoll; aber sie ist doch problematisch angesichts der Ausweitung der Begriffe von Auslegung und Interpretation, die Nietzsche unternimmt. Denn er kritisiert weiterhin auch die ‚schlechten Auslegungskünste‘ der Philosophen und Physiker, ja, aller Menschen in Bezug auf sich selbst, wenn sie vom Willen, vom Ich und anderen Dingen sprechen. Er ist weit davon entfernt, in der einen Domäne Freiheit der Auslegung einzuräumen, sie aber in einer anderen Domäne zu negieren. Auch die falsche Lektüre von Natur und Bewusstsein demontiert er mit Verweis auf seine wissenschaftliche Methode, seine ‚Philologie‘ der Natur und der Dinge. Vor allem aber erscheint die These problematisch, weil Benne sie selbst relativieren muss. Wo er auf den Perspektivismus Nietzsches zu sprechen kommt, räumt er ein, dass angesichts der sachlichen Logik der Per-
KSA 6, alle Zitate S. 197; AC 27. KSA 6, S. 233; AC 52. Vgl. Benne 2005, die These auf S. 114. Auch Birus (1984, S. 395) nimmt an, dass Nietzsche, was Texte angeht, sich „unverrückbar[] am Paradigma der philologischen Interpretation“ orientiere. Anders als er und Benne konstatiert Denis Thouard (2000, S. 167 f.) bei Nietzsche die Trennung zwischen zwei philologischen Operationen: „l’usage critique“ und ihr „statut interprétatif“. Er verortet Nietzsche in dieser „ambiguïté“, ohne das Problem aber zu vertiefen.
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spektive auch der Philologe Nietzsche sich Freiheiten nehme und konsequenterweise auch nehmen dürfe: „Zugleich behält sich Nietzsche auch auf philologischem Gebiet das Vorrecht offen, nach Belieben zu interpretieren, absichtlich Autoren so zu lesen, wie es den eigenen Zwecken dient.“¹⁷³ Brechen aber damit nicht die Isolierung unterschiedlicher Domänen der Auslegung und die Formulierung jeweils konsistenter methodischer Kriterien für sie zusammen? Um zu verstehen, wie Nietzsche mit diesem systematischen Problem umgeht, wie er die Aporie zwischen Erkennen und Schaffen aushalten will, scheint es eher fruchtbar, dies als Problem jener doppelten Optik zu behandeln. Nietzsche generiert unterschiedliche Masken, die den verschiedenen Arten des Sprechens zugeordnet werden.¹⁷⁴ Benne scheint solche Rollenwechsel anzudeuten, wenn er neben Nietzsches Insistenz auf wissenschaftlicher Redlichkeit seine Selbststilisierung zum „Kriegsmann“ aufgreift. „Der freie Geist“, so schreibt er in seiner Deutung des Mottos zur Genealogie der Moral, „hat es eben in der Macht, selbst zu bestimmen, wann er liest und wann er interpretiert“.¹⁷⁵ Benne zeichnet zu Recht die Figur des Künstlers an den Horizont dieser Selbstermächtigung. Dieser hätte von sich her die Freiheit, Neues einfach zu schaffen. Am Ende deutet Benne die Separation der Rollen des Wissenschaftlers und des Künstlers als mögliche Befreiung aus dem Dilemma an: Die Kunst allein löse sich aus dem asketischen Ideal. Aber sie könne diese Lösung selbst nicht hervorbringen, dazu bedürfe es „des Philosophen, der zugleich ein Künstler und Gesetzgeber ist, dessen Begriffsdichtung aber die Prüfung durch Kritik, Methode, Skepsis und Tatsachensinn nicht scheuen muss.“¹⁷⁶ Ein solches Künstlertum aber – so der Schluss – sei in der Gegenwart unmöglich. Demnach wäre Nietzsche auf das unglückliche Bewusstsein als Philosoph, als Philologe und Historiker der Kultur zurückgeworfen. Diese Konsequenz erscheint aus systematischer Perspektive reizvoll, denn die skizzierte Aporie des Erkennenden, der gleichzeitig auch sein Anderes erkennt und es sein will, lässt sich eben nicht einfach auflösen. Aber wenn Benne sagt, Nietzsche akzeptiere es, „Alexandriner“¹⁷⁷ zu sein, dann lässt sich dies bezweifeln. Stattdessen soll hier die These vertreten werden, dass Nietzsche sehr wohl versucht, die beiden Perspektiven seiner doppelten Optik in eine Beziehung zu bringen, die den gegenseitigen Ausschluss von Schaffen und Erkennen aufhebt.
Benne 2005, S. 220 f. Benne (ebd., S. 186 – 197) behandelt die Problematik der Masken bei Nietzsche ausführlich, aber mit anderen Pointen. Ebd., S. 221. Ebd., S. 235. Ebd., S. 237.
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2 Das neue Regime 1 Perspektivwechsel Von der Fröhlichen Wissenschaft an entwickelt Nietzsche nicht nur seine Philosophie der Perspektivität, sondern er inszeniert selbst ein Spiel von Perspektiven. Er generiert in seinen Texten unterschiedliche Haltungen,verschiedene Rollen, die sich mit dem Wissenschaftler und dem Schaffenden, dem Philologen und dem Dichter decken. Als der eine destruiert er die falschen Lektüren, als der andere schafft er neue. Die eine Haltung ist rückbezogen auf die Methoden der Wahrheitserkenntnis, sie erlaubt sich Polemik und Spott über alle, die diese Methoden nicht kennen und anwenden. Die andere Haltung dagegen setzt sich in die Freiheit der Neuschöpfung. Beide Haltungen präsentieren sich dabei jeweils als Konsequenzen auseinander. Sie verweisen aufeinander, können jedoch systematisch nicht vermittelt werden, da gerade der Versuch einer denkerischen Vermittlung diese selbst unterlaufen würde: Er hätte sich auf Wahrheit verpflichtet und damit auf das asketische Ideal. Nur indem Nietzsche den Wechsel inszeniert, statt ihn diskursiv herleiten zu wollen, indem er ihn allegorisch oder auch deiktisch umsetzt, vermeidet er es, die systematische Aporie zur Erscheinung zu bringen. Als Beispiel für dieses Grundmodell kann ein Aphorismus aus der Fröhlichen Wissenschaft einstehen. Dem „Contemplativen“,¹⁷⁸ dem Menschen der Wissenschaft, werde die Welt immer voller. Er betrachte sie auf eine Weise, dass sie immer weitere „Angelhaken des Interesses“ in ihn senke. Gerade dadurch gerate er aber immer mehr in die Position eines Zuschauers. Dies bezeichnet Nietzsche hier nun als einen „Wahn“, der notwendig aus dieser Haltung resultiere: Der kontemplative Mensch „meint, als Zuschauer und Zuhörer vor das grosse Schau- und Tonspiel gestellt zu sein, welches das Leben ist“. Dem kontemplativen Menschen wird die Welt zu einem Schauspiel. Erkenntnis als Haltung generiert die Distanz zum Erkannten. Als Erkanntes stellt es sich, der wahrheitssuchenden Logik des Erkennens entsprechend, zu ihm in Differenz. Aber dieser ‚wissenschaftliche Betrachter‘ „übersieht“, indem er sich für einen ‚contemplativen‘ hält, „dass er selber auch der eigentliche Dichter und Fortdichter des Lebens“ sei. Er ist also in Wahrheit nicht Zuschauer des Dramas, das sich seinem Blick zeigt, sondern der, der es erst schafft. „Wir, die Denkend-Empfindenden, sind es, die wirklich und immerfort Etwas machen, das noch nicht da ist: die ewig wachsende Welt von Schätzungen, Farben, Gewichten, Perspectiven, Stufenleitern, Bejahungen und Verneinungen.“ Nach diesen Schätzungen richten sich die handelnden Menschen. Sie werden zu
Alle Zitate KSA 3, S. 539 f.; FW IV, 301.
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Schauspielern des Dramas der ausgelegten ‚Welt‘, das der kontemplative Mensch inszeniert. Der doppelte Blick wird hier als Problem der Perspektiven beschrieben, als eine psychologische Kippfigur: „Wir erst haben die Welt, die den Menschen etwas angeht, geschaffen! – Gerade dieses Wissen aber fehlt uns, und wenn wir es einen Augenblick einmal erhaschen, so haben wir es im nächsten wieder vergessen“.Wie aber kann man beide Perspektiven einnehmen, Beobachter sein und gleichzeitig der bewusste Urheber dessen, was man beobachtet und was auf dieser Bühne des Lebens aufgeführt wird? Dies ist die Frage, die der Aphorismus stellt. Und indem hier das Problem von Erkennendem und Schaffendem als eines der Perspektiven beschrieben wird, deutet er auf eine Lösung: Der Wechsel der Rollen dürfte nicht durch ein Vergessen zustande kommen, sondern er müsste mit vollem Bewusstsein vollzogen werden können. Wie sehr die Dichotomie zwischen Erkennendem und Schaffendem ein Problem des möglichen Rollenwechsels ist, zeigt Nietzsche dann im Epilog des fünften Buches der Fröhlichen Wissenschaft. ¹⁷⁹ Er summiert darin noch einmal die Haltung der vorhergehenden Aphorismen, spitzt den Gestus des Erkennenden zu. Dieser habe seine symbolische, syntaktische Entsprechung in den „düstere[n] Fragezeichen“,¹⁸⁰ die sich im Laufe des Buches addiert hätten. Sein methodischer Modus sei der jenes „rechten Lesens“ einer historisch-kritischen ‚Philologie‘ der Dinge und Schriften. Da aber diese Insignien der Wissenschaft hier am Ende noch einmal zusammentreten wollten, „begegnet mir’s, dass um mich das boshafteste, munterste, koboldigste Lachen laut wird: die Geister meines Buches selber fallen über mich her, ziehen mich an den Ohren und rufen mich zur Ordnung“. Sie fordern: „fort, fort mit dieser rabenschwarzen Musik. […] Gab es je eine bessere Stunde, um fröhlich zu sein? Wer singt uns ein Lied, ein Vormittagslied, so sonnig, so leicht, dass es die Grillen nicht verscheucht, – dass es die Grillen vielmehr einlädt, mit zu singen, mit zu tanzen?“ Und das Ich folgt dem Aufruf dieser Geister. Der Epilog leitet über zum Anhang, den Liedern des Prinzen Vogelfrei. Dieser letzte Aphorismus kommt daher wie eine einfache Aufforderung zur Fröhlichkeit nach den vorhergehenden düsteren Gedanken. Der Rollenwechsel, der hier gefordert und inszeniert wird, hat aber doch eine grundsätzliche Funk-
Das fünfte Buch wurde von Nietzsche erst 1887 anlässlich der Neuen Ausgabe der FW hinzugefügt. Auf die Publikationsgeschichte wird weiter unten noch ausführlich eingegangen. Vgl. dazu insgesamt den aufschlussreichen Aufsatz von Wolfram Groddeck: Die „Neue Ausgabe“ der Fröhlichen Wissenschaft. Überlegungen zu Paratextualität und Werkkomposition in Nietzsches Schriften nach Zarathustra. In: Nietzsche-Studien 26 (1997), S. 184– 198; außerdem Salaquarda 1997. KSA 3, alle Zitate S. 637; FW V, 383.
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tion. Unter der psychologischen Dynamik eines düsteren und eines hellen Blicks verbirgt sich das Problem der zwei Optiken. Als ‚Vormittagslieder’ folgen hier nun Dichtungen, nicht mehr Aphorismen, die zum langsamen Lesen der Welt auffordern und das Gewicht der historischen Hypothek vermehren, die gleichsam die Dimensionen jener zukünftigen „Cyklopen-Bauten“ der Wissenschaft weiter vergrößern. Diese Lieder nun spotten freimütig, sie preisen das Leben. Sie richten sich nicht mehr auf die Vergangenheit, sondern sind selbst „neu“¹⁸¹ – Gesten des Schaffens. Der Epilog verdeutlicht dabei aber, dass diese neue Haltung nicht einfach als psychologisches Remedium gegen die vorhergehenden finsteren Gedanken gelesen werden will. Sie ist keine bloße Erholung, kein ‚Urlaub vom Ich‘ oder Ausdruck einer ‚zweiten Seele‘, die auch in der Brust des Ich hauste. Die zweite Haltung ist eine Konsequenz aus den Aphorismen, es sind die „Geister [s]eines Buches“ (s.o.) selbst, die das Ich zur Ordnung rufen. Analog werden die „Grillen“ (s.o.) des düsteren Blicks nicht einfach verscheucht, wie es der alte Topos von der antimelancholischen Wirkung der Musik, etwa bei David und Saul, will. Die neue Musik soll kein Therapeutikum gegen die Melancholie sein, vielmehr bringt sie gerade diese „Grillen“ zum Tanzen. Die andere Haltung des Schaffens ist im Kern mit der wissenschaftlichen Haltung verbunden. Sie geht aus ihr hervor, ist die Vorderseite des rückwärtsgewandten, langsamen Lesens, das die alten Wahrheiten außer Kraft setzt, dabei aber selbst auf Wahrheit verpflichtet sein muss. Die Macht und der Wille, etwas „neu“ zu machen, zu singen, werden ermöglicht durch die Auslegungen des wissenschaftlichen Blicks. Während dieser aber methodisch gebunden ist, erhebt sich der Gesang des Vormittags über diese Bindungen – denn was der methodische Blick letztlich tat, war, dass er jedes normative Gebundensein aufhob, mit Ausnahme der Bindung an das ‚Wollen des Willens‘ selbst. Dieser Perspektivwechsel ist in der Tat ein radikaler. Nietzsche lässt sein Ich in eine andere Position springen; es nimmt sich die Freiheit, etwas Anderes, etwas Neues zu machen. Auch dies verdeutlicht das Ich dieses kleinen Dialogs. Denn die Geister seines Buches fordern zwar den Wechsel der Optiken. Sie rufen das neue Lied herbei. Der ‚Geist‘ des Buches also, der in der Perspektive des Erkennenden ein Geist der Schwere ist, wird in der Sicht des Schaffenden zum Geist des nicht gebundenen Dichtens und Neuschaffens. Aber gerade deshalb muss das Ich die von ihm geschaffenen Geister darauf vorbereiten, dass sie das, was nun folgt, wohl „nicht versteh[en]“¹⁸² werden. Aus der Sicht der Erkenntnis bringt der Wechsel der Optik einen radikalen Bruch: Verstehen ist nicht mehr möglich, denn hier geht es
KSA 3, S. 638; FW V, 383. KSA 3, alle Zitate S. 637; FW V, 383.
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um das Neue. Die Unverantwortlichkeit des Schaffens als Auslegen wäre aus der Sicht der Erkenntnis unverständlich, es wäre unstatthaft, ließe sich wie alles andere als Zurechtmachung desavouieren. Aber: „was liegt daran!“ Hier nun, auf der anderen Seite, rückt das „[T]anzen“ an die Stelle des Verstehens, und entscheidend ist nicht mehr, ob diese neue Bewegung auch ‚wahr‘ ist. Die Frage, die das Ich nun an die Geister richtet, ist allein: „Wollt ihr das?“ Der kleine, allegorische Dialog kehrt gleichsam die Logik von Goethes Zauberlehrling um. Hier rufen die Geister ihren Zauberer, ihren „Zukunftsmusikanten“ und „Sänger“ an, denn nun können sie ihn nicht mehr kontrollieren. Genau diese Entfesselung und Selbstermächtigung aber zu wollen, weil sie aus dem Ruf der Geister selbst resultiert – darum geht es.
2 ‚Zarathustra‘ – Schreiben und Maske Dieses Phantasma des Rollenwechsels steht am Ende von FW V in einer programmatischen Position. Es löst in einer allegorischen Inszenierung ein, was Nietzsche in FW IV als Problem des kontemplativen Menschen analysiert hat. Der kleine Dialog formuliert ein Modell für den bewussten Wechsel als Selbstermächtigung. Die zentralen Elemente dieses Modells sind die Aufspaltung des Sprechers in zwei Rollen, der Übersprung des Ichs in die persona des Schaffenden und die kategorische Frage nach dem Willen, die aus der Frage nach der Erkenntnis resultiert, sie aber gleichzeitig ersetzt. Der Wille zur Wahrheit ist hier suspendiert. Ebenfalls zentral ist die szenische, allegorische Anlage, die der Text gewinnt, sein auch formal ‚anderes‘ Sprechen. Was Nietzsche hier im Kleinen vorführt, ist mit der Fröhlichen Wissenschaft zum makrostrukturellen Moment seines Schreibens insgesamt geworden. Es lässt sich analog auf sein Verhältnis zu jenem Werk übertragen, das er als sein größtes und wichtigstes versteht: den Zarathustra. Sein eigener Stolz auf dieses Buch ist hinreichend bekannt: „Dieses Werk steht durchaus für sich. Lassen wir die Dichter beiseite: es ist vielleicht überhaupt nie Etwas aus einem gleichen Überfluß von Kraft heraus gethan worden.“¹⁸³ Man muss jedoch nicht zum späten Ecce Homo greifen, um ähnliche Stellen zu finden. Malwida von Meysenbug meldet er 1883, er habe „alle Religionen herausgefordert und ein neues ‚heiliges Buch‘ gemacht!“;¹⁸⁴ dem Verleger Schmeitzner empfiehlt er
KSA 6, S. 343; EH, Also sprach Zarathustra 6. Brief an von Meysenbug, 20. April 1883; KSB 6, S. 363. Nietzsches Freund Peter Gast (Heinrich Köselitz) hatte den Begriff des Heiligen Buches in den Briefen an ihn vorher bereits ausgiebig
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das Manuskript als „fünftes ‚Evangelium‘ oder irgend etwas, für das es noch keinen Namen giebt“;¹⁸⁵ es zeichne ein Bild seines Wesens, „wie es ist, sobald ich einmal meine ganze Last abgeworfen habe.“¹⁸⁶ Mit dem Buch sei er „in eine andere Welt hinübergetreten […] – der ‚Freigeist‘ ist erfüllt. Oder?“¹⁸⁷ Entsprechend ist der Zarathustra oft als eine Ausnahmeschrift Nietzsches gelesen worden. Dies geschah im Positiven wie im Negativen. Einerseits konnte er als visionärer Entwurf erscheinen, der sich aus den eigentlich philosophischen Schriften herauskatapultiere, sie summiere, aber auch überwinde, als ein ganz eigenes und eigenständiges Werk zwischen Dichtung, Weisheit und Philosophie. In diesem Punkt unterscheidet sich der emphatische frühe Zarathustra-Kommentar von Gustav Naumann nicht von einer neueren Untersuchung wie beispielsweise der von Mihailo Djurić. Für jenen ist das Werk mit Nietzsche ein „non plus ultra von Buch“,¹⁸⁸ dieser sieht in ihm ein „Ausnahmewerk in jeder Hinsicht“, das „bedeutendste“ Nietzsches.¹⁸⁹ Einer emphatischen Rezeption konnte es so erscheinen, als sei Nietzsche hier in sein Eigenstes gekommen. Umgekehrt konnte diese Ausnahmestellung auch zur Marginalisierung führen. Die philosophischen Nietzsche-Deutungen ließen den Zarathustra oft beiseite. Der unterschwellige Verdacht, der dabei zu herrschen schien, war, dass Nietzsche hier sein Denken unterlaufe, wie es in den Aphorismenbüchern zur Erscheinung komme. In den letzten drei Jahrzehnten freilich sind verstärkt Anstrengungen unternommen worden, beide ‚Werkteile‘ zu integrieren.¹⁹⁰ Trennt man den Zarathustra in der einen oder anderen Weise vom Werk ab, so übersieht man, wie Nietzsche selbst sich gerade bemüht, ihn mit seinen anderen Schriften zu verbinden. Hier wird ein anderes Schreiben inszeniert, dem weiter unten nachgegangen werden soll. Aber zuallererst etabliert sich mit ihm eine neue Struktur von Werk, die Nietzsches Schriften insgesamt erfasst. So eigen und opak der Zarathustra erscheinen mag – mit ihm hält in Nietzsches Werk die doppelte Optik des Schaffens und Analysierens Einzug, die Trennung zweier Positionen des Sprechens und die Arbeit an ihrer Vermittlung. Nietzsche setzt sich in zwei Rollen gebraucht; Stellen bei Manfred Kaempfert: Säkularisation und neue Heiligkeit. Religiöse und religionsbezogene Sprache bei Friedrich Nietzsche. Berlin 1971, S. 103. Brief an Schmeitzner, 13. Feb. 1883; KSB 6, S. 327. Brief an Franz Overbeck, 10. Feb. 1883; KSB 6, S. 326. Brief an Köselitz, 2. April 1883; KSB 6, S. 353. Gustav Naumann: Zarathustra-Commentar. 4 Bde. Leipzig 1899 – 1901, Bd. 1, S. 15. Mihailo Djurić: Denken und Dichten in „Zarathustra“. In: ders. u. a. (Hrsg.) 1986, S. 75 – 100, hier S. 75. Einen Überblick über die ältere Forschung bietet: Rüdiger Braun: Quellmund der Geschichte. Nietzsches poetische Rede in Also sprach Zarathustra. Frankfurt am Main u. a. 1998, S. 9 – 19 (bezogen auf Deutungen des Zarathustra als dezidiert dichterische Schrift).
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auseinander. Aber er vermittelt diese Rollen nicht in einer ‚wissenschaftlichen‘ Explikation dieser Spaltung, sondern indem er ein Regime etabliert, das beide Rollen zueinander in Beziehung zu bringen, sie zusammenzuhalten sucht. Dieses Regime ist ein philologisches, es inszeniert eine Bewegung von Verkündigung und Erfüllung, ein Spiel von ‚eigentlichem‘ Text und Kommentar. Bereits die Makrostruktur der Fröhlichen Wissenschaft folgt diesem neuen Regime. Die Erstausgabe von 1882 umfasste die ersten vier Bücher. Das fünfte kam erst bei der zweiten Auflage 1887 hinzu. Die ersten drei Bücher gleichen dabei in ihrem Duktus den vorhergehenden aphoristischen Schriften, bei allen inhaltlichen Unterschieden, die im Einzelnen festgestellt werden können. Das vierte, letzte Buch aber stimmt einen neuen Ton an. Von Beginn an zeigt es dem Leser, dass sich hier etwas verändert hat. Vor allem im Erstdruck wird dies durch die typographische Anordnung der Seite deutlich. Anders als die vorhergehenden Bücher trägt es einen Titel: „Sanctus Januarius“. Dieser ist nicht nur sachlich pointiert, sondern vor allem persönlich. Das Gedicht, das Nietzsche als Motto und Erläuterung auf ihn folgen lässt, zeigt dies. Es apostrophiert den Heiligen Januarius und preist, was dieser mit dem neuen Jahr gebracht habe: Der du mit dem Flammenspeere Meiner Seele Eis zertheilt, Dass sie brausend nun zum Meere ihrer höchsten Hoffnung eilt: […]¹⁹¹
Die Datierung auf „Genua im Januar 1882“ unterstreicht die persönliche Bedeutung dieses Lobpreises. Das Präludium gibt den Ton für das Folgende an: In den Aphorismen des vierten Buches nun erscheint mit neuer Selbstverständlichkeit und Wucht der Autor in eigener Person.¹⁹² Wo vorher der ‚objektive‘, unpersönliche Ton des Analyse herrschte, da reflektiert nun nicht selten ein Ich über das,was ihm widerfahren ist. Nietzsches Rede wird autobiographisch, aber da die alten Themen des Denkens mit der Rede in Ichform vermittelt werden, erhält die scheinbare Bescheidenheit der ersten Person eine andere Pointe: Das hymnische Motto, das den alten Topos der Inspiration aufgreift, verbindet sich hier mit dem Denken. Dass der Januar mit dem Flammenspeere das Eis in der Seele des Ichs zerteilt hat,
Vgl. Die fröhliche Wissenschaft. Von Friedrich Nietzsche. Chemnitz 1882. Verlag von Ernst Schmeitzner, S. [195]. Abgedruckt in: KSA 3, S. 521; FW IV, Motto. Jörg Salaquarda (A última fase de surgimento de A Gaia Ciência. In: Cadernos Nietzsche 6 [1999], S. 75 – 93, hier S. 86) zeigt an den anderen Büchern der FW, wie Nietzsche in der letzten Korrektur im Juli/August noch einmal den persönlichen Charakter des ganzen Buches betont.
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wird zu einem Ereignis, dem sich auch der Leser aussetzen muss.¹⁹³ Nietzsches Genueser Winter 1881/1882 wird zur Weltzeit. Seine Rede und sein Denken werden zum datierbaren Weltereignis.¹⁹⁴ Das Buch stimmt diesen Ton nicht durchgehend an. Aber der gewohnte aphoristische Gestus wird oft genug durchbrochen von emphatischen Reflexionen des Ichs auf sich selbst. Immer wieder erfolgen Aufrufe an sich selbst und die ‚freien Geister‘. Das Leben als Schaffen und als Experiment bilden deren wiederkehrende Themen. Das Schaffen etwa wird hier einmal mehr emphatisch den
Im Brief an Köselitz vom 6. April 1883 bezieht Nietzsche die Verse ausdrücklich auf seinen Zarathustra: „ich denke, Sie empfinden jetzt den Sinn des Verses an den Sanctus Januarius“; KSB 6, S. 358. Wie sieht die reale Entstehungsgeschichte dahinter aus? Nietzsches Briefe zeichnen ein positives, ja teils enthusiastisches Bild von dieser Zeit. Er kommt im Winter aus dem Lob für das offenbar wunderbar milde Wetter nicht heraus; „Oh welche Zeit! Oh diese Wunder des schönen Januarius!“, schreibt er etwa am 29. Januar an Köselitz (KSB 6, S. 161). Allerdings meldet er ihm vier Tage vorher, dass er zwar die ersten drei Bücher seiner Arbeit fertig habe, sich für die Fortsetzung aber noch nicht „reif“ genug fühle (Brief an Köselitz, 25. Jan. 1882; KSB 6, S. 159). Wann Nietzsche weiterschrieb, lässt sich nicht genau feststellen; die genannten ersten „drei Bücher“ entsprechen jedoch zu großen Teilen der späteren Anordnung in der FW. Der Entstehungsprozess zieht sich noch bis in die Mitte des Jahres. Ende Januar verstand Nietzsche seine Arbeit noch als Fortsetzung der Morgenröthe. Der spätere Titel ist erstmals in einem Brief an den Verleger vom Mai überliefert (an Schmeitzner, 8. Mai 1882; KSB 6, S. 191); vgl. Schaberg 2002, S. 118 f. In den Notizen aus dem Frühjahr 1882 finden sich Konzepte für die „Fröhliche Wissenschaft“, bei denen „Sanctus Januarius“ an erster Stelle steht, „Scherz List und Rache“ aber an letzter (KSA 9, S. 678; [19], 11 und 12). Die Anordnung des Buches scheint hier wieder in Frage zu stehen. Probleme bereitet Nietzsche dann auch die Komposition des Buches, die er Anfang Juni in Naumburg mit der Hilfe eines angestellten Schreibers und seiner Schwester vornimmt. Mehrfach erklärt er in diesen Tagen brieflich das Manuskript als „unedirbar“; etwa an Paul Rée, 10. Juni 1882 (KSB 6, S. 202). 10 Tage später schickt er Schmeitzner den ersten Teil des Manuskriptes zum Satz, d. h. den Beginn, noch nicht aber das vierte Buch. Anschließend reist er nach Tautenburg. Hier führt er die Korrektur durch, mithilfe von Heinrich Köselitz (in Venedig). Gleichzeitig schickt er am 3. Juli den letzten Teil des Manuskriptes an Schmeitzner (vgl. KBS 6, S. 218). Die Verse an den Sanctus Januarius trug Nietzsche erst in die Korrekturbögen ein (vgl. Salaquarda 1999, S. 92, Anm. 7); den 13. Bogen, mit dem das vierte Buch beginnt, erhielt er am 27. Juli (so an Schmeitzner, 28. Juli; KSB 6, S. 233). In den Tautenburger Aufzeichnungen findet sich unter der Überschrift „Sanctus Januarius“ noch ein anderes Gedicht (KSA 10, S. 35; [1], 104). Das gedruckte Buch traf dann in der dritten Augustwoche ein (vgl. Brief an Köselitz, 20. Aug. 1882; KSB 6, S. 238; offensichtlich falsch datiert ist der Brief an Burckhardt, KSB 6, S. 234; Nietzsche konnte ihm kaum, wie die KSB vermutet, am 2./3. August das fertige Buch schicken; der Brief gehört in die letzten Augusttage). Das vierte Buch verdichtet also einen späteren, nicht unproblematischen Kompositionsprozess und projiziert sein Ergebnis als Ereignis auf den vergangenen Januar in Genua. Weitere Details zur Genese und Druckgeschichte der FW vgl. neben Salaquarda 1999, wo er anhand der erhaltenen Fahnenkorrekturen die letzte Überarbeitung beschreibt, auch ders. 1997, S. 166 – 169.
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Künstlern ‚abgelernt‘, analog zur früher beschriebenen Disjunktion: Bei den Künstlern ende das Schaffen, wo das Leben beginne – „wir aber wollen die Dichter unseres Lebens sein“.¹⁹⁵ Und dieses Leben sei ein „Experiment des Erkennenden“, nicht eine „Pflicht, nicht ein Verhängniss, nicht eine Betrügerei!“¹⁹⁶ Das Bekenntnishafte des vierten Buches löst die Aporie von Erkennen und Schaffen freilich nicht auf. Hier finden sich auch die Aphorismen über den „contemplativen Menschen“ und über jenen Menschen des historischen Sinns, der die Vergangenheit hinter sich sieht, die Zukunft aber vor sich hat. Die neue Entwicklung, die das Buch bezeugt, kann sich letztlich nicht selbst in einem Gedanken bewähren, sondern nur in einem Akt. Worin dieser aber besteht, das zeigen die letzten Aphorismen, auf die das Buch insgesamt hinausläuft. „Incipit tragoedia“ – so ist der letzte Text überschrieben. Und er unternimmt nun den Rollenwechsel, indem er nicht mehr vom Ich spricht, sondern von Zarathustra: „Als Zarathustra dreißig Jahr als war, verliess er seine Heimath und den See Urmi und gieng in das Gebirge. Hier genoss er seines Geists und seiner Einsamkeit und wurde dessen zehn Jahre nicht müde. Endlich aber verwandelte sich sein Herz, und eines Morgens stand er mit der Morgenröthe auf, trat vor die Sonne hin und sprach zu ihr also: […]“.¹⁹⁷ Die autobiographische Inszenierung des vierten Buches, der neue Ton, mit dem es begann – sie werden eingelöst in Zarathustra. Die FW mündet in den Prolog, den dieser, leicht verändert, in seiner Vorrede zum ersten Teil sprechen wird.Vor allem am Ende der langen Korrektur- und Kompositionsphase verdichtet sich für Nietzsche die Überzeugung von der immensen Bedeutung, die dieses Buch habe. Er wird nicht müde, seine Freunde brieflich auf den Sanctus Januarius KSA 3, S. 538; FW IV, 299. KSA 3, S. 552; FW IV, 324. KSA 3, S. 571; FW IV, 342. Die Passage lehnt sich an die berühmte Notiz an, die Nietzsche Ende August 1881 in Sils-Maria geschrieben hat und mit der sein Nachdenken über Zarathustra als zentraler Gestalt für sein Schreiben beginnt; KSA 9, S. 519; [11], 195. Für Zarathustras Biographie in dieser Passage hat Paolo d’Iorio (Beiträge zur Quellenforschung. In: Nietzsche-Studien 22 [1993], S. 395 f.) die Quelle identifiziert: Friedrich Anton von Hellwald: Culturgeschichte in ihrer natürlichen Entwicklung bis zur Gegenwart. Augsburg 1875, S. 128.Vgl. mit weiteren Quellen auch Joel P. Westerdale: Zarathustra’s Preposterous History. In: Nietzsche-Studien 36 (2006), S. 47– 69, hier S. 55. Den Namen Zarathustras („Zaratustra“) fand Nietzsche auch in einer deutschen Ausgabe von Emersons Versuchen (Hannover 1858). Als er sie im Sommer 1881 las, strich er auf der betreffenden Seite zwei Passagen an; vgl. Peter Villwock: Zarathustra. Anfang und Ende einer Werk-Gestalt Nietzsches. In: Nietzsches Also sprach Zarathustra. 20. Silser Nietzsche-Kolloquium 2000. Hrsg. von dems. Basel 2001, S. 1– 34, hier S. 16, und die Abbildung der Seite S. 17; außerdem KGW VI.4, S. 950. Villwock stellt ausführlich die Genese der Figur und der Schrift dar. Vgl. auch Mazzino Montinari: Zarathustra vor Also sprach Zarathustra. In: ders.: Nietzsche lesen. Berlin, New York 1982, S. 79 – 91.
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hinzuweisen.¹⁹⁸ Dieses Jahr mache, so schreibt er an Malwida von Meysenbug, in seinem Leben „Epoche“.¹⁹⁹ Der Sanctus Januarius zeige, so heißt es an Overbeck, „daß ich einen Wendekreis überschritten habe. Alles liegt neu vor mir“.²⁰⁰ Entsprechend beginnt Nietzsche, seine Schriften neu zu periodisieren. Die FW betrachtet er als Endpunkt eines Werkes, das er in den letzten sechs Jahren durchgeführt und abgeschlossen habe.²⁰¹ Im Juli skizziert er eine „Erste Gesammtausgabe“ dieser Schriften.²⁰² Was damit hinter ihm liege, das benennt Nietzsche selbst als seine „‚Freigeisterei‘“.²⁰³ Dem Publikum enthält er dieses Ereignis nicht vor. Deutlich erklärt der Werbetext auf der Interimsbroschur der Erstausgabe: Mit der „Fröhlichen Wissenschaft“ komme „eine Reihe von Schriften“ Nietzsches, die ein „neues Bild und Ideal des Freigeistes“ aufstellen wolle, „zum Abschluss“.²⁰⁴ Ausdrücklich gibt sich die Fröhliche Wissenschaft als Präludium des Zarathustra zu erkennen. Mit ihr sei Nietzsches – man muss sagen ‚bloße‘ – „‚Freigeisterei‘“ (s.o.) an ein Ende gekommen. Alles liegt neu vor ihm. Die FW demonstriert selbst, was dies bedeutet. Sie führt jene doppelte Optik, die Nietzsches Werk prägen wird, genauso vor wie das Regime ihrer Vermittlung. Das Ich ermächtigt sich zu einem neuen Sprechen. Am Ende seines Buches entlässt es aus der ersten grammatischen Person nun eine dritte, eine andere Figur. Dieser Andere Vgl. die Briefe an Jacob Burckhardt, 2./3. Aug. [recte: Ende Aug.] 1882; KSB 6, S. 235; an Köselitz, 20. Aug. 1882; KSB 6, S. 238; an Paul Rée, Ende Aug. 1882; KSB 6, S. 247; an Franz Overbeck, 20. Dez. 1882; KSB 6, S. 306. Brief an Malwida von Meysenbug, 13. Juli 1882; KSB 6, S. 223. Brief an Franz Overbeck, 9. Sept. 1882; KSB 6, S. 255. So im Brief an Elisabeth Nietzsche, 2. Juli 1882; KSB 6, S. 216; und an Lou von Salomé, 3. Juli 1882; KSB 6, S. 217. Sie sollte die Werke von MA bis FW enthalten; vgl. KSA 10, S. 11 f.; [1], 13 und 14. Brief an Lou von Salomé, 3. Juli 1882; KSB 6, S. 217. Den Text transkribiert Schaberg 2002, S. 121. Die zitierte Selbsteinschätzung schreibt Nietzsche zunächst (mit leichten Abweichungen) an Lou von Salomé (27./28. Juni 1882; KSB 6, S. 213), während der Manuskriptkorrektur der FW. Er hat sie dann auch seinem Verleger Schmeitzner übermittelt, woran er ihn am 28. Juli erinnert (KSB 6, S. 233). Nietzsche fertigte die Paratexte zu seinen Schriften in der Regel selbst an und autorisierte sie. Allerdings wurden sie bisher nicht systematisch verfügbar gemacht, weder in der KGW noch bei Schaberg 2002. Auch die Dokumentation der Sammlung Rosenthal-Levy reproduziert nur die Titelseiten (Friedrich Nietzsche. Handschriften, Erstausgaben und Widmungsexemplare. Die Sammlung Rosenthal-Levy im Nietzsche-Haus in Sils-Maria. Hrsg. von Julia Rosenthal, Peter André Bloch und David Marc Hoffmann. Basel 2009).Wie sensibel Nietzsche reagierte, wenn sich in den Paratexten etwas gegen seinen Willen einschlich, zeigt beispielsweise ein früherer Streit mit Schmeitzner. Dieser hatte 1879 auf dem Umschlag aus einem Brief Nietzsches zitiert, um Paul Rées Ursprung der moralischen Empfindungen zu bewerben. Gegen diese Eigenmächtigkeit verwahrte sich Nietzsche entschieden; vgl. Schaberg 2002, S. 102 f.
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geht gleichwohl aus dem ‚Geist‘ des Buches hervor. Er wird zu einer Maske des Ich, die die Konsequenz aus dessen Erkenntnis ziehen kann. Das Ich selbst verwandelt sich durch diese Spaltung nicht weniger in eine persona. Indem es sich selbst dazu ermächtigt hat, in einer anderen Person eine neue Sprache zu sprechen, wird es zu deren Kommentator. Es ordnet sich seinem Anderen unter. Das fünfte, spätere Buch der FW, das in dem bereits gedeuteten Epilog endet, nimmt diese Struktur wieder auf.²⁰⁵ Seine Frage: „Wollt ihr das?“ (s.o.) ließe sich analog auf die Spaltung übertragen, die Zarathustra hervorbringt. Wenn das Ich den Geistern, die es beschworen hat – seinen Geistern –, entsprechen will, dann muss es zum Anderen seiner selbst werden, auf die Gefahr hin, dass die Geister es nicht mehr verstehen. Entscheidend für sie wird daher, dass sie den Anderen wollen. ²⁰⁶ Mit Zarathustra beginnt ebenfalls die Welt neu als ‚neue Tragödie‘. In ihr legt das kontemplative Ich nun bewusst als anderes, schaffendes die Welt neu aus. Es fasst sie in neue Begriffe, um die Menschen nach seinem Text spielen zu lassen.
3 Das Heilige Buch Nietzsches Zarathustra wäre damit nicht einfach ein Werk, das aus dem Rahmen seines Schreibens fiele.Vielmehr gälte es, dieses ‚Herausfallen‘ selbst als Teil einer übergreifenden Werkstrategie zu verstehen. Zarathustra ist das Werk, auf das sich das kontemplative Ich bezieht. Inszeniert wird dieser Bezug in der philologischen Logik von autoritativem Text und seiner Auslegung. Die Doppelung von philologischem Blick und Ermächtigung zum Schaffen lässt sich auch auf den Zarathustra übertragen. Denn legitimerweise ließe sich fragen, worin er sich eigentlich von den heiligen Büchern unterscheide, die Nietzsche von jeher und mit wachsender Vehemenz bekämpft, von den Grundbüchern der Religionen beispielsweise. Die spezifische Faktur des Zarathustra kann ebenfalls als Folge der Aporie von Erkennen und Schaffen gedeutet werden. Der Text nimmt durchgehend Momente jener heiligen und autoritativen Schriften auf, gegen die Nietzsche antritt. Er ist bewusst nach diesen Modellen gestaltet, indem er formal, aber auch in-
Zur wichtigen Frage, wieso Nietzsche den markanten Abschluss des Erstdrucks 1887 in der Neuen Ausgabe der FW durch Hinzufügung eines fünften Buches scheinbar wieder verdecken kann, vgl. Groddeck 1997. Meine Interpretation einer Analogie der beiden Schlüsse widerspricht seinen Ergebnissen nicht, sondern ließe sich ihnen hinzufügen. In der Emerson-Ausgabe, die Nietzsche im Sommer 1881 las, unterstrich er auf der Seite, wo von Zarathustra die Rede ist, auch das Folgende: „Plato sagt, es sei unmöglich, den Kindern Gottes nicht Glauben zu schenken, ‚auch wenn sie ohne wahrscheinliche oder nöthige Argumente sprechen sollten‘.“ Vgl. dazu Villwock 2001, S. 17, hier auch eine Abbildung der Seite.
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haltlich ihre Gesten adaptiert. Schon die Wahl Zarathustras, jenes persischen Philosophen aus dem Awesta, zeigt dies.²⁰⁷ Aber der Zarathustra versammelt auch Elemente aus anderen zentralen Büchern.²⁰⁸ Anspielungen auf das Alte und das Neue Testament finden sich durchgehend; beispielsweise sei an den zentralen Abschnitt Von alten und neuen Tafeln erinnert, der am Ende des dritten Buches noch einmal zentrale Gedanken versammelt.²⁰⁹ Der formelhaft wiederkehrende Abschluss „Also sprach Zarathustra“ ist eine Übernahme aus den Reden des Gautama Buddha;²¹⁰ auch die Form des Lehrgesprächs bzw. der lehrhaften Rede hat dort einen Anhaltspunkt. Mit Buddha beschäftigte sich Nietzsche einmal mehr im Sommer 1882, in der Zeit, als er an die Konzeption des Zarathustra ging.²¹¹ Mit der Figur des Weisen, der sich
Hushang Mehregan (Zarathustra im Awesta und bei Nietzsche. Eine vergleichende Gegenüberstellung. In: Nietzsche-Studien 8 [1979], S. 291– 308) vergleicht den historischen Zarathustra mit demjenigen Nietzsches. Er arbeitet eine Reihe von Parallelen heraus, die vor allem formaler Art sind, d. h. den Lebensgang und die Lehrsituation betreffen. Freilich kann man einschränkend dagegenhalten, dass die Biographien der unterschiedlichen Religionsstifter insgesamt strukturelle Ähnlichkeiten aufweisen. David Aiken (Nietzsche and his Zarathustra. A Western Poet’s Transformation of an Eastern Priest and Prophet. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 55 [2003], S. 335 – 353) versucht zu rekonstruieren, was Nietzsche von Zarathustra wissen konnte, richtet seinen Fokus aber vor allem auf die Lehre, nicht auf die Geste und Situation. Er nimmt darüber hinaus populäre Quellen wie die in Anm. 197 genannten nicht in den Blick. Auch vermischt er öfter den zeitgenössischen und den heutigen Kenntnisstand. Seine These, dass Nietzsche letztlich eigentlich nichts wusste, erscheint daher überzogen. Überzeugender ist die Interpretation von Joel P. Westerdale (2006). Er deutet Nietzsches Wahl des Zarathustra als performativen Akt der Erlösung dieses ersten Philosophen der Moral, wobei er von Nietzsches Selbstdeutung in Ecce Homo ausgeht: Zarathustra sei derjenige, der „die Moral“, „diesen verhängnisvollen Irrtum“, schuf – „folglich muss er auch der Erste sein, der ihn erkennt.“ (KSA 6, S. 367; EH, Warum ich ein Schicksal bin 3). Nietzsches Beschäftigung mit den unterschiedlichen Religionen, vor allem in der Schul- und Studienzeit, stellt Johann Figl u. a. aufgrund von meist unpublizierten Schul- und Kollegnachschriften dar: ders.: Nietzsche und die Religionen. Transkulturelle Perspektiven seines Bildungsund Denkweges. Berlin, New York 2007, darin S. 312– 328 auch zum Zarathustra. Zur biblischen Sprache im Zarathustra vgl. Karl Pestalozzi: Zarathustras prophetisches Reden im Kontext der Epoche. In: Villwock (Hrsg.) 2001, S. 189 – 206, hier S. 196 – 200 (in Anlehnung an Hans Vollmer: Nietzsches Zarathustra und die Bibel. In: Sechster Bericht des Deutschen BibelArchivs. Hamburg 1936, S. 6 – 13, non vidi). Die biblische Sprache in Nietzsches sonstigen Schriften, unter Ausklammerung des Zarathustra, analysiert Kaempfert 1971. Er bringt viele Belegstellen bei, stellt sie jedoch meist synchron nebeneinander, ohne die Folge des Werkes zu beachten. Vgl. Naumann 1899 – 1901, Bd. 1, S. 24. Vgl. etwa das Heft, das mit dem Eintrag „Metteyya“ beginnt, in KSA 10, S. 43; [2], 1. Hermann Oldenberg, dessen Buddha. Sein Leben, seine Lehre, seine Gemeinde (Berlin 1881) Nietzsche in dieser Zeit las, schreibt dazu: „Bei Gelegenheit einer Prophezeiung Buddha’s über Metteyya, den nächsten Buddha, welcher in ferner Zukunft auf Erden erscheinen wird, heisst es: ‚Er wird der
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mit Schülern und anderen unterredet, nimmt Nietzsche aber auch ein zentrales Moment der Platonischen Dialoge auf.²¹² Nietzsche kennt alle diese Elemente aus ‚Heiligen Büchern‘, die er als Philologe zur Genüge analysiert und deren Gestus er destruiert hat.²¹³ Mitunter schlich sich schon in die früheren Schriften ein Interesse an deren Faktur ein und gesellte sich zu ihrer wissenschaftlichen Untergrabung. Beobachten kann man dies etwa schon in VS, wo Nietzsche angesichts der Evangelien feststellt: aus ihnen „kann ein Kluger alle Mittel lernen, wodurch ein Buch zum Weltbuch, zum JedermannsFreund gemacht werden kann, namentlich jenes Meister-Mittel, Alles als gefunden, Nichts als kommend und ungewiss hinzustellen.“ Alle „wirkungsvollen Bücher“ versuchten, einen „ähnlichen Eindruck zu hinterlassen, als ob der weiteste geistige und seelische Horizont hier umschrieben sei und um die hier leuchtende Sonne sich jedes gegenwärtige und zukünftig sichtbare Gestirn drehen müsse.“²¹⁴ Gewiss will Zarathustra gerade nicht zum „Jedermanns-Freund“ werden. Zumindest in dieser Hinsicht deutlich genug, gibt es sich als Buch für Alle und Keinen. Gewiss auch stellt der Zarathustra gerade nicht alles als „gefunden“ dar. Er richtet sich mit seiner Verkündigung des Übermenschen vielmehr auf das Gegenteil, die Zukunft, das Werden und seine Bejahung.²¹⁵ Dennoch tritt auf seine Weise auch der Zarathustra auf, „als ob“ hier der „weiteste geistige und seelische Horizont“ umschrieben sei. Indem Nietzsche diese Momente aufnimmt und sie zum Medium seines andren Sprechens macht, bedient er sich der Gesten, aus denen jene Texte ihre Autorität beziehen. Gleichzeitig aber gibt er seinem Werk den Sinn einer Kontrafaktur, so wie er, um beim zitierten Beispiel der Evangelien zu bleiben, das Werden und nicht das Sein beschwört und wie er gerade kein Buch für Jedermann schreibt.
Führer einer Jüngerschaar von Hunderttausenden sein, wie ich jetzt der Führer einer Jüngerschaar von Hunderten bin.‘“ (S. 144). Vgl. dazu Müller 2005, S. 234– 244. So auch Volker Gerhardt: Die Erfindung eines Weisen. Zur Einleitung in Nietzsches Zarathustra. In: Friedrich Nietzsche. Also sprach Zarathustra. Hrsg. von dems. Berlin 2000, S. 1– 15, hier S. 2 f. KSA 2, alle Zitate S. 417; VS 98. Der Gedanke der ewigen Wiederkunft, auf den hier nicht weiter eingegangen werden soll, bietet freilich eine abschließende Komplikation und entscheidende Pointe. Denn wäre nicht demnach alles bereits gefunden? Wie kann man dann wollen? Dieser Zweifel stellt sich Zarathustra im dritten Buch entgegen (Vom Gesicht und Räthsel und Der Genesende). Indem aber Zarathustra diese ewige Wiederkunft bejaht, indem er sie will, obwohl alles wiederkommen wird und bereits wiedergekehrt ist, faltet er diesen Gedanken wieder zurück.
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Nietzsche als Autor des Zarathustra nutzt sein Wissen von den Texten, um die Heiligen Bücher der Vergangenheit zu parodieren. Das ist eine weitere Dimension des Verhältnisses von Philologie und Schaffen in seinem Werk.²¹⁶ Die Parodie aber hat eine ernste Funktion, denn sie entreißt den Heiligen Büchern ihre Autorität, um sie nun sich selbst zuzusprechen.²¹⁷ Mit ihr kann die neue Tragödie beginnen, wie Nietzsche im fünften Buch der FW, nach Zarathustra und ihn kommentierend, in Aussicht stellt.²¹⁸ Das philologische Wissen über die Heiligen Bücher ist in den Zarathustra eingefaltet, aber die Parodie, die er damit in Szene setzt, beharrt auf ihrem ernsten Sinn. Es ist gerade diese Ambivalenz, die durch die Genese der Maske ‚Zarathustra‘ ermöglicht werden soll. Denn was in diesem schaffenden Schreiben zählt, ist gerade nicht die philologische Destruierbarkeit der heiligen Gesten als Gesten. Sein Sinn liegt in nichts anderem als in der Selbstermächtigung dazu, sich diese Gesten im Dienste der Zukunft – einer anderen Zukunft – anzueignen. Entsprechend prägt sich diese Ambivalenz auch Nietzsches Aussagen zur Entstehung des Zarathustra ein.²¹⁹ Wie unerbittlich hat er in seinen vorherigen Schriften den Topos der Inspiration untergraben, wo ihn die Künstler oder gar Religionsstifter für sich in Anspruch nehmen. Es sei etwa an die oben zitierten Passagen aus MA erinnert.²²⁰ Immer wieder hatte er dort den Glauben an Inspiration dezidiert als „Interesse“ der Künstler entlarvt, sei es, dass sie diesen Eindruck aufrechterhielten, während sie in Wirklichkeit mühevoll und allmählich aus
Analog deutet Alexander Nebrig (2010a, S. 237– 242) Nietzsches Vorgehen in verschiedenen Gedichten. Zur Bibel vgl. Pestalozzi 2001, S. 197. Nietzsches Verständnis der Parodie seit seiner Schulzeit geht Bernhard Buschendorf nach: Die Geburt der Lyrik aus dem Geiste der Parodie. Friedrich Nietzsches Gedicht An die Melancholie. In: Riedel (Hrsg.) 1999, S. 105 – 130, hier S. 105 – 113, mit reichen Literaturangaben. „Ein andres Ideal läuft vor uns her, ein wunderliches,versucherisches, gefahrenreiches Ideal, zu dem wir niemanden überreden möchten, weil wir niemandem so leicht das Recht darauf zugestehn: das Ideal eines Geistes, der naiv, das heißt ungewollt und aus überströmender Fülle und Mächtigkeit mit allem spielt, was bisher heilig, gut, unberührbar, göttlich hieß; für den das Höchste, woran das Volk billigerweise sein Wertmaß hat, bereits so viel wie Gefahr, Verfall, Erniedrigung oder, mindestens, wie Erholung, Blindheit, zeitweiliges Selbstvergessen bedeuten würde; das Ideal eines menschlich-übermenschlichen Wohlseins und Wohlwollens, das oft genug unmenschlich erscheinen wird, zum Beispiel wenn es sich neben den ganzen bisherigen ErdenErnst, neben alle Art Feierlichkeit in Gebärde, Wort, Klang, Blick, Moral und Aufgabe wie deren leibhafteste, unfreiwillige Parodie hinstellt – und mit dem, trotzalledem, vielleicht der große Ernst erst anhebt, das eigentliche Fragezeichen erst gesetzt wird, das Schicksal der Seele sich wendet, der Zeiger rückt, die Tragödie beginnt…“. KSA 3, S. 636 f.; FW V, 382. Nietzsches eifrige Selbstdeutung interpretiert Villwock 2001. Die folgenden Zitate: KSA 2, S. 146; MA 155.
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Notizbüchern komponierten; sei es, dass sie den plötzlichen Erguss einer angestauten „Productionskraft“ selbst als „Wunder“ missverstünden. Nun aber nimmt er für die Entstehung des Zarathustra nichts anderes in Anspruch als ausgerechnet diese Inspiration. Es mag genügen, hier an Ecce Homo zu erinnern: „Hat Jemand, Ende des neunzehnten Jahrhunderts, einen deutlichen Begriff davon, was Dichter starker Zeitalter Inspiration nannten?“²²¹ Und auch der Begriff der „Offenbarung“ kann, angesichts des Zarathustra, zur ‚einfachen Beschreibung‘ eines „Thatbestand[s]“ werden; nämlich wenn „plötzlich und mit unsäglicher Sicherheit und Feinheit, Etwas sichtbar, hörbar wird, Etwas, das Einen im Tiefsten erschüttert und umwirft“. Es kann hier nicht in Frage stehen, wie Nietzsche den Zarathustra wirklich geschrieben hat, ob man von einer ‚bloßen‘ Inszenierung sprechen müsse oder von einem ‚wirklich‘ inspirationshaften Erlebnis. Seine Notizbücher aus der Zeit vom Sommer 1881 bis 1886 belegen zur Genüge die emsige Sammlung, Formulierung, Reformulierung und Konzeption.²²² Insofern ließe sich Nietzsches Befund zum Zusammenhang von Inspiration und Notizbuch mit ruhigem Gewissen auch auf ihn selbst anwenden. Entscheidend aber ist die Deutung, die er selbst diesem Schreiben verleiht. Mit ihr will er in Bezug auf den Leser eine bestimmte Lesart seines Werkes und seines Lebens autorisieren. Ganz unabhängig von der ‚Wirklichkeit‘ des Schreibens versucht Nietzsche hier, die Rezeption seiner Schriften zu lenken. Nietzsche adaptiert also wiederum die Geste der Inspiration. Aber auch sie deutet er um. Kein Göttliches hat sich da ergossen, im „Ausser-sich-sein“ kommt vielmehr das Ureigene zum Vorschein, mit solcher „Nothwendigkeit“, dass er „nie eine Wahl gehabt“ habe.²²³ Auch in diesem Erlebnis tritt, kaum verwunderlich, die Logik der zwei Masken hervor. Denn der inspirierte Autor dient nicht als „Mundstück der Götter“;²²⁴ außer sich, spricht er als Anderer seiner selbst. Er selbst aber wird zum Hörer und Diener dessen, was sich durch ihn und aus ihm ergießt.
KSA 6, alle Zitate S. 339; EH, Also sprach Zarathustra 3. Vgl. dazu auch KGW VI.4, S. 945 – 978. Zur Publikationsgeschichte vgl. neben Villwock 2001 auch Schaberg 2002, S. 123 – 151. Villwock und Montinari 1982 gehen auch der ‚Vorgeschichte‘ Zarathustras nach, d. h. den Nennungen Zarathustras vor dem Inspirationsmoment, den Ecce Homo dingfest macht. Vor allem Villwock stellt frühere Notizen vor, die Nietzsche erst später mit dem Namen Zarathustras versah. Auch das schon 1870/71 geplante Empedokles-Drama gehört in diesen Umkreis; dazu mit weiteren Literaturhinweisen Villwock 2001, S. 21 f. KSA 6, S. 339; EH, Also sprach Zarathustra 3. KSA 2, S. 455; VS 176.
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Ginge man den Quellen nach, aus denen Nietzsche das Material und die Gesten für seine ernste Parodie gewinnt, dann ließe sich der Zarathustra als eine Art von philologischer Dichtung lesen. Freilich will er selbst eine Dichtung nicht in dem engeren Sinne sein, dass hier ein Poet eine schöne oder lehrreiche Vision komponierte. Der Zarathustra beansprucht das Dichten als jenes Schaffen von neuen Werten, das Nietzsche von der Kunst im engeren Sinne abgetrennt hatte. Nicht, indem er dichtet, beansprucht er Autorität, sondern indem er neu schafft. Philologisch ist diese Dichtung, weil sie aus Elementen und Gesten arrangiert ist, die Nietzsche in der Analyse anderer Schriften kennengelernt hat. Während er sie dort untergräbt, synthetisiert er sie im Zarathustra zu einem neuen Werk. Der Inspirationstopos verschafft ihm Autorität, aber diese Autorisierung nimmt die Logik einer Selbstermächtigung an. Bedingung dafür ist die Spaltung in zwei Masken. Sie transformiert die Gesten in Setzungen, die nun nicht mehr aus einem vorgängigen Sein legitimiert werden. Insofern zieht Nietzsche noch hier die Konsequenz aus seiner Destruktion Gottes oder aber der (göttlichen,) wirklich existierenden Geschichte. Die bewusst herbeigeführte Selbstermächtigung unterscheidet ihn von der Logik, die beispielsweise bei Stifter oder bei Scheffel herrschte. Nietzsches Setzungen gehen von dem Anderen aus, zu dem das Ich sich ermächtigt hat. Sie sind insofern absolut, weil ihr Anspruch auf Autorität sich ganz aus dem Akt des Sprechens ergeben muss. Indem sie ein neues Sprechen vorführen, zeigen sie, wie der Andere in einer Welt ohne Wahrheit ‚vorschreitet‘, Setzungen und Schätzungen vornimmt. Es ist der Akt dieses Sprechens selbst, das Sprechen als Handlung, das Autorität heischt. Gerade dadurch aber entsteht die paradoxe Situation, dass diese Autorität gleichzeitig konstitutiv in Frage steht. Sie ist Folge einer reinen Selbstermächtigung, und sie kann sich auf nichts anderes berufen als auf ihr eigenes Wort als neues Wort. Welches Wort gehört wird, das des Zarathustra oder nicht doch das des Christentums, ist letztlich eine reine Frage der Macht – konsequenterweise, denn Sprechen, Auslegungen wären ja nichts anderes als Wille zur Macht, und die Rede Zarathustras gewönne ihren Sinn gerade daher, dass sie nicht mehr durch den Willen zur Wahrheit gegen sich selbst zurückgewendet würde. Wo das absolute Wort des Schaffenden allein steht, da tritt jedoch die zweite Maske in Erscheinung. Sie ist gewissermaßen die Arrièregarde der Vorhut in die Zukunft. Sie hält den Rücken frei, indem sie einerseits das diskursive Feld der Erkenntnis sichert.²²⁵ Andererseits wird sie zur Instanz der Deutung, die das inspirierte Wort Insofern widerspricht meine Deutung auch dem Schluss von Claus Zittel (Das ästhetische Kalkül von Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra. Würzburg 2000). Er analysiert – im Einzelnen recht forsch gegen andere Deutungen, dabei aber anregend – die aporetische Situation des Zarathustra, die sich darin zuspitze, dass dieser selbst auch Dichter sei und – aufgrund des
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auslegt, seine Macht sichert und verteidigt. Ihre Aufgabe ist weiterhin der wissenschaftlich-philologische Kampf gegen die Gegner – und die Aufstellung eines Deutungsregimes für das neue, das eigene Heilige Buch.²²⁶ Entsprechend führt Nietzsche das Regime der zwei Masken, das er mit dem Zarathustra etabliert hat, in seinen folgenden Schriften weiter.²²⁷ Auch Jenseits von Gut und Böse folgt der Struktur, die schon an FW deutlich wurde. Die Vorrede, die Nietzsche mit „Juni 1885“ auf den für ihn schicksalsbeladenen Ort Sils-Maria datiert, endet mit einem Ausblick. Die christlich-platonische Moral, der Glaube an die Wahrheit hätten in Europa eine „prachtvolle Spannung des Geistes“ geschaffen, einen gespannten Bogen, mit dem man „nach den fernsten Zielen schiessen“ könne. Für diese Spannung brauche es nun den „Pfeil, die Aufgabe“ und, „wer weiß? das Ziel…..“²²⁸ Der gespannte Bogen, die Spannung des europäischen Geistes – das ist das Buch, das ist der Vorredner selbst. Worin der Pfeil besteht, das wissen Leser des Zarathustra nur zu gut; gehört er doch zu dem Bildarsenal, das Zarathustra in der Vorrede ausbreitet, um den Übermenschen zu lehren: „Es ist an der Zeit, dass der Mensch sich sein Ziel stecke“; denn „Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch nicht mehr den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen hinaus wirft, und die Todes Gottes – gar nichts anderes sein könne, da damit auch die Differenz von Schein und Wahrheit eingezogen werde (vgl. etwa S. 35 – 38). Zittels Schluss, die ästhetische Bewegung des Zarasthustra sei daher eine der Selbstaufhebung und bringe eine „resignative“ (S. 53), „nihilistische“ Poetik zum Ausdruck, übersieht aber den Versuch, sich zu einem setzenden Sprechen selbst zu ermächtigen. Heinrich Detering (Der Antichrist und der Gekreuzigte. Friedrich Nietzsches letzte Texte. Göttingen 2010) hat jüngst eine luzide Deutung von Nietzsches letzten Schriften vorgelegt, die hier nicht mehr behandelt werden. Er hat vorgeführt, wie Nietzsche dort zunehmend zum „Erzähler seiner selbst“ wird und als „sein eigener Protagonist“ erscheint (ebd., S. 20). Es gelte daher in den späten Texten die Dynamik zu verfolgen, die sich zwischen der Schreibinstanz und den Protagonisten der Texte entfalte. Detering betont auch die Verschiebung, die, von hier aus gesehen, gegenüber Zarathustra stattgefunden hat: Während Zarathustra ein „‚er‘“ bleibe, ein „reales Gegenüber“, sei der Antichrist dann ein „‚ich‘“, eine „Rolle, in die [der] Autor selbst eintritt.“ (Ebd.) Diese Identifikation ließe sich als weitere Konsequenz aus der Dynamik deuten, die Nietzsches Schreiben von Anfang an prägte. Wenn die schaffende Rede notwendig absolut ist, dann wird sie einerseits dadurch ermöglicht, dass der Autor die Rolle seines eigenen Kommentators annimmt. Aber was hält diesen Autor davon ab, sich nun selbst auch zu eben dieser Rede zu ermächtigen? Die ‚Wahrheit‘ kann es nicht sein. Es ist daher konsequent, wenn Nietzsche nun versucht, nicht nur Zarathustra als Anderen zu schaffen, sondern sich auch selbst in die Position der absoluten Rede setzt. Dass er zum Erzähler, zum Schaffenden seines eigenen Lebens wie auch seiner Position, seiner Wahrheiten wird, wäre eine weitere Konsequenz daraus. Villwock 2001, S. 31, benennt diese Werkpolitik treffend: „Nietzsche färbte sein Œuvre zarathustrisch ein.“ KSA 5, alle Zitate S. 12 f.; JGB, Vorrede.
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Sehne seines Bogens verlernt hat, zu schwirren!“²²⁹ Das Bild des Pfeils aber trifft auch in Jenseits von Gut und Böse schon auf sein Ziel, und zwar ganz am Ende des Buches. Dies vollzieht sich analog zur (späteren) zweiten Auflage der Fröhlichen Wissenschaft. ²³⁰ Der letzte Aphorismus, Nr. 296, endet in elegischer Stimmung. Die eigenen Gedanken sind dem Ich „langweilig“ geworden. Auch sie hat das Schicksal getroffen, das alle Dinge ereilt, „welche sich schreiben lassen“: „welk“ geworden, sind sie „abziehende und erschöpfte Gewitter und gelbe späte Gefühle“.²³¹ Nun aber wechselt die Stimme. Ein „Nachgesang“ Aus hohen Bergen folgt auf den Aphorismus.²³² Seine Stimmung aufnehmend, harrt hier nun das wartende, einsame Ich neuer Freunde. Währenddessen erzählt es sein Leben: Ein schlimmer Jäger ward ich! – Seht, wie steil Gespannt mein Bogen! Der Stärkste war’s, der solchen Zug gezogen – –: Doch wehe nun! Gefährlich ist der Pfeil, Wie kein Pfeil, – fort von hier! Zu eurem Heil!…..
Die alten Freunde halten dem Zug des Bogens, der Spannung nicht stand. In den letzten beiden Versen aber kommen sie, die „neuen Freunde“, und zwar in der Gestalt Zarathustras: Dies Lied ist aus, – der Sehnsucht süsser Schrei erstarb im Munde: Ein Zaubrer that’s, der Freund zur rechten Stunde, der Mittags-Freund – nein! fragt nicht, wer es sei – Um Mittag war’s, da wurde Eins zu Zwei ….. Nun feiern wir, vereinten Siegs gewiss, Das Fest der Feste: Freund Zarathustra kam, der Gast der Gäste!
Nietzsche arbeitet in die letzten beiden Strophen jenes für ihn hochbedeutende Lied ein, dem er 1882 den Titel Portofino gab; nochmals bedeutend verändert, geht
KSA 4, S. 19; Za, Vorrede 5. S.o., S. 472. KSA 5, S. 239; JGB IX, 296. Die folgenden Zitate: KSA 5, S. 241– 243. Insofern trifft es nicht zu, wenn Zittel (2000, S. 53) diesen Aphorismus zum ‚letzten Wort‘ des Werkes erklärt und argumentiert, Nietzsche bringe damit „unmissverständlich“ seine „resignative Zarathustra-Poetik“ auf den Punkt – das Gegenteil ist der Fall.
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es 1887 in das Gedicht Sils-Maria ein.²³³ Der melancholische „Nachgesang“ des einsamen Ich endet, wo es aus sich selbst jenen anderen heraussetzt, wo aus eins zwei wird. In zwei gespalten, gemeinsam, ohne andere Freunde, ist sich das Ich nun „vereinten Siegs gewiss“. Das ‚nachzarathustrische‘ Buch Jenseits von Gut und Böse wird nun deutlich auf Zarathustra hin zentriert. Nietzsche inszeniert die doppelte Optik seines Schreibens, indem er performativ von dem einen Modus in den anderen hinüberspringt. Es ist ein Sprung hinaus über die Dinge, „welche sich schreiben lassen“ (s.o.), hinein in jenes neue Sprechen, das sich nur noch entwirft, zum Pfeil werden soll auf der gespannten Sehne des methodisch gebundenen, der Wahrheit verpflichteten Geistes. Die doppelte Optik führt dazu, dass beide Bücher nun nicht mehr nur etwas sagen – ihren aphoristischen Inhalt, ihre Lehre vorbringen –, sondern durch ihre Anlage immer auch etwas darüber hinaus zeigen. Dieses Zeigen ist gleichzeitig die Ratio einer neuen Werkpolitik, die Nietzsche nun insgesamt in seine Schriften einführt.²³⁴ Ein wichtiger Aspekt dieser Werkpolitik ist die Neuanordnung seiner eigenen Schriften, mit der Nietzsche 1886 beginnt. Er veranstaltet, nach dem Wechsel zum Verlag von E.W. Fritzsch,²³⁵ neue Ausgaben seiner selbstständig erschienenen Texte von der Geburt der Tragödie an. Seine alten Werke versieht Nietzsche dabei mit Vorreden, die seinen Werdegang kommentieren und ihn dezidiert auf den
Vgl. KSA 3, S. 649; FW2, Die Lieder des Prinzen Vogelfrei. Sils-Maria steht hier an vorletzter Stelle, es folgt nur noch das „Tanzlied“ An den Mistral. Die Lieder des Prinzen Vogelfrei inszenieren in ihrer Abfolge ihrerseits eine Biographie ihres Dichters. Die Entstehung und die Wandlungen der oben zitierten Verse deutet Manfred Riedel: Nietzsches Gedicht Sils Maria. Entstehungsgeschichte und Deutung. In: Nietzsche-Studien 27 (1998), S. 268 – 282. Er zeigt, dass Nietzsche in Sils-Maria zwei Dichtungen zusammenführt: einerseits Portofino (1882; KSA 10, S. 107 f.; [3], 3), das dem Ort gewidmet ist, an dem Nietzsche den ersten Band des Zarathustra schrieb; und zweitens das Lied „Ganz Meer, ganz Mittag […]“ aus dem Winter 1882/83; KSA 10, S. 157; [4], 145. Zu Aus hohen Bergen, allerdings mit einer biographisch pointierten Interpretation, siehe Riedel 1998, S. 278 f. Johann Figl hat, mit Bezug auf Karl Löwiths Dissertation Auslegung von Nietzsches SelbstInterpretation und von Nietzsches Interpretationen (München 1923, ungedruckt; Druck der Zusammenfassung – offenbar von Löwith selber – in: ders.: Sämtliche Schriften. Bd. 6: Nietzsche. [Hrsg. von Bern Lutz]. Stuttgart 1987, S. 535 – 538), eindringlich darauf hingewiesen, in dieser Zeit entstünden, durch die Selbstinterpretation Nietzsches, „gewissermaßen ‚zwei‘ Texte“; ders. 1984a, S. 33 – 35, hier S. 34. Dieser neuen Textbewegung ist vor allem Wolfram Groddeck (1997) nachgegangen. Den Streit und Prozess mit seinem alten Verleger Schmeitzner dokumentiert Schaberg 2002, S. 151– 162. 1886 übernahm Fritzsch, der 1872 schon die Geburt der Tragödie verlegt hatte, vom bankrotten Schmeitzner die unverkauften Exemplare von Nietzsches Schriften; vgl. ebd., S. 174; außerdem Groddeck 1997, S. 187 f. 1887/88 wechselt Nietzsche dann zum Verleger C.G. Naumann, der bereits 1886 Jenseits von Gut und Böse gedruckt hatte.
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Zarathustra hin ausrichten.²³⁶ Die Logik von Text und Kommentar, die Nietzsche hier als sein eigener Herausgeber etabliert, verhält sich diametral zu derjenigen, die er gegenüber Zarathustra walten lässt. Er wird zum Ordner und Vermittler seines eigenen Werkes für einen Leser. Durch diese Ordnung aber schreibt er dieses alte Werk der Vergangenheit zu. Das Arrangement gegenüber dem Leser, die Selbstauslegung der Schriften entwerten diese zu Durchgängen zu einem eigentlichen Sprechen, das nun die Gegenwart des Vorredners prägt. Dieses eigentliche Sprechen aber richtet sich auf den Punkt, an dem sich Nietzsche zu seinem anderen, neuen Sprechen in der Maske Zarathustras ermächtigt hat. Das Werk wird gewissermaßen zur Propädeutik, es führt an den Punkt, wo sich sein Sinn in einen Akt entlädt, der nun nicht mehr der Vergangenheit und der Erkenntnis dient, sondern der Zukunft und dem Schaffen. Insofern zielt die Werkpolitik der Neuedition und Neuanordnung dahin, wie Wolfram Groddeck feststellt, den Zarathustra als „zentrale[n] ‚Text‘“ zu etablieren, „auf den sich die Aphorismenbücher wie ‚Kommentare‘ beziehen.“²³⁷ Der Sinn des Kommentars aber liegt darin, diesen anderen Text nicht mehr als bloßen Text zu inszenieren, sondern ihn zu einem reinen Akt zu erklären.
4 Verkündigung – Genealogie der Moral Der Kommentar, der sich als uneigentlicher zu verstehen gibt, gehört ebenso zu diesem Modell wie das neue Sprechen, auf das er hinweist. Dies zeigt sich noch 1887, in der Genealogie der Moral. Auch hier gibt Nietzsche die doppelte Rede als Wissenschaftler und als Schaffender nicht auf. Im Gegenteil führt er die Logik des ‚Zwei aus Eins‘ hier nochmals in neuer Radikalität durch. Die Genealogie war oben schon zur Sprache gekommen, da Nietzsche in ihr seine methodischen Grundsätze für die historische Arbeit formuliert. Der diskursive Gestus, der sich darin andeutet, prägt die drei Abhandlungen insgesamt. Nietzsche verlässt hier die Form des Aphorismus und holt zu zusammenhän Eingehend deute ich die Vorreden in: Mark-Georg Dehrmann: Sich selbst lesen – Nietzsches Vorreden von 1886/87 und Zarathustra. In: Friedrich Nietzsche: Ohnmacht des Subjekts – Macht der Persönlichkeit. Hrsg. von Christian Benne und Enrico Müller. Basel 2014, S. 273 – 285. Das Ergebnis dieser Untersuchung wird hier nur zusammengefasst. Groddeck 1991, Bd. 2, S. XIV. Er nennt als Briefbelege: an von Meysenbug, 20. April 1883; KSB 6, S. 364; an Overbeck, 7. April 1884; KSB 6, S. 496; an Resa von Schirnhofer, Anfang Mai 1884; KSB 6, S. 502; an Reinhart von Seydlitz, 26. Okt. 1886; KSB 7, S. 270 f. Darüber hinaus siehe den Brief an Köselitz, 21. April 1883; KSB 6, S. 364. Auch das Vorhaben, an Universitäten Vorträge zu halten, zu denen er „den ‚Text‘“ aus dem Zarathustra nimmt, gehört wohl hierher; an Elisabeth Nietzsche, 6. Juli 1883; KSB 6, S. 392.
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genden Argumentationen aus.²³⁸ Ihre Gegenstände sind programmatisch: 1. „Gut und Böse“, „Gut und Schlecht“; 2. „Schuld“, „schlechtes Gewissen“ und Verwandtes; 3. Was bedeuten asketische Ideale? Die Abhandlungen unternehmen nun, was Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft in die Zukunft projizierte. Hier werden Steine zusammengetragen für jene „Cyklopen-Bauten“ einer Wissenschaft der Zukunft. Neben der historischen Methode argumentieren die Abhandlungen immer wieder etymologisch, um die Entstehung der fraglichen Begriffe zu rekonstruieren und die Geschichte ihrer christlichen Fehldeutungen zu denunzieren. Wie ernsthaft sich Nietzsche bemüht, den Stand der Wissenschaftler in seine Fragen einzubinden, zeigt eine Anmerkung zur ersten Abhandlung. Er fordert hier die „philosophischen Fakultäten“ auf, Preisaufgaben zu stellen, bei denen „Philologen und Historiker“ die Frage bearbeiten mögen: „Welche Fingerzeige giebt die Sprachwissenschaft, insbesondere die etymologische Forschung, für die Entwicklungsgeschichte der moralischen Begriffe ab?“²³⁹ Als Wissenschaftler bemüht sich Nietzsche nun doch, die akademische Forschung in den Dienst seiner Fragen zu stellen. Aber er erspart es ihr nicht, auch hier die Aporie der wissenschaftlichen Erkenntnis zur Sprache zu bringen. Insbesondere die dritte Abhandlung widmet sich ihr mehr als nur im Vorübergehen.²⁴⁰ Das asketische Ideal, das sie rekonstruiert, ist nicht nur Sache der Priester, sondern auch der Philosophen. Ihnen bietet die Askese „die eigentlichsten und natürlichsten Bedingungen ihres besten Daseins und ihrer schönsten Fruchtbarkeit“.²⁴¹ Die Einordnung der Philosophen in die Geschichte des asketischen Ideals ist durchaus ambivalent. Nietzsche geht es hier nicht um bloße Denunziation, wie es dann angesichts der Priester der Fall sein wird. Vielmehr verhandelt er auch seine eigene Sache als Erkennender. Die Philosophen, von denen er spricht, wollten keine Proselyten machen, sie seien auch mit „grossen Worten“ wie der
Auf der Rückseite des Titelblatts findet sich der Vermerk, dass die Schrift dem „letztveröffentlichten ‚Jenseits von Gut und Böse‘ zur Ergänzung und Verdeutlichung beigegeben“ sei – die KSA lässt dies weg. Nietzsches Briefe an seinen Verleger zeigen, wie sehr er auch im äußeren Erscheinungsbild auf dieser Anbindung insistierte; Stellen bei Schaberg 2002, S. 204. KSA 5, S. 288 f.; GM I, Anmerkung. Thomas H. Brobjer rekonstruiert Nietzsches Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft in der dritten Abhandlung der Genealogie. Seine zentrale Frage lautet, ob Nietzsche in der Lage sei, die Option für den historischen Blick mit dem „setting of values“ zu verbinden (2008, S. 54). Für Brobjer bleibt Nietzsche die Antwort im Grunde schuldig, er verschiebe sie auf die projektierte Schrift Der Wille zur Macht. Dagegen würde ich die These stellen, dass die Genealogie diese Frage selbst in aller Schärfe formuliert und sie mit dem Verweis auf Zarathustra beantwortet. KSA 5, S. 352; GM III, 8.
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„‚Wahrheit‘“ sparsam.²⁴² Aber dennoch blieben sie gleichfalls Träger des asketischen Ideals und damit dem Leben und seinem Modus, dem Schaffen, feindlich. Das systematische Problem zwischen Erkennen und Schaffen bleibt bestehen, ja, es tritt einmal mehr offen zutage. Nietzsche überträgt es in der Folge seiner Argumentation auf die Wissenschaft als moderne Praxis. Anders als ihre Kontrahenten, die asketischen Priester, die die ganze Welt ihrem Ideal und ihrer Interpretation unterwerfen wollten, habe die heutige Wissenschaft „keinen Glauben an sich, geschweige ein Ideal über sich“.²⁴³ Obwohl sich die Wissenschaft zum Gegner der religiösen Politik des Jenseits entwickelt habe, bleibe ihre Waffe doch stumpf. Der Grund – wir kennen ihn – liegt darin, dass die Wissenschaft selbst nichts anderes sei als ein Versteck der christlichen Interpretation.Wahrheitssuche ist ein „Stehenbleiben-Wollen vor dem Thatsächlichen“²⁴⁴ und damit ein „Verzichtleisten auf Interpretation überhaupt“, auf das „Vergewaltigen, Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen, Ausdichten, Umfälschen und was sonst zum Wesen alles Interpretierens gehört“. Der Schluss daraus ist radikal: Es giebt, streng geurtheilt, gar keine ‚voraussetzungslose‘ Wissenschaft, der Gedanke einer solchen ist unausdenkbar, paralogisch: eine Philosophie, ein ‚Glaube‘ muss immer erst da sein, damit aus ihm eine Wissenschaft eine Richtung, einen Sinn, eine Grenze, eine Methode, ein Recht auf Dasein gewinnt.
Dieses ist eine starke Geste. Denn Nietzsche spricht in der Genealogie doch als einer, der auf wissenschaftlichem Feld die neuralgischen Zentren des christlichen Feindes angreifen will. Gerade eben hat er noch die zeitgenössischen philologischhistorischen Wissenschaften aufgefordert, Material zu diesem Kampf zu liefern und die gebahnten Pfade weiter auszuschreiten. Ja, die Paradoxie ist in das zitierte ‚Urtheil‘ selbst eingedrungen: Denn nicht nur rechnet es mit Verständnis, sondern es tut dies ausdrücklich mit dem Verweis, die Annahme einer voraussetzungslosen Wissenschaft sei „paralogisch“. An dieser Stelle tritt die Aporie des Erkennens klar zutage. Es bleibt auf Wahrheit bezogen, auch wenn es deren Wert leugnet. Aber gleichzeitig versucht die zitierte Passage, diese Aporie wieder aufzulösen, indem sie ihr Regime der zwei Masken in Anschlag bringt. Denn Nietzsches Analyse der Erkenntnis öffnet den Akt der Wissenschaft, indem sie ihn als Folge von etwas beschreibt, das ihm selbst vorgängig ist. Eine Philosophie oder ein Glaube müssten zuerst da sein, damit sich
KSA 5, S. 355; GM III, 8. KSA 5, S. 396; GM III, 23. KSA 5, alle Zitate S. 399 f.; GM III, 24.
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eine Wissenschaft erheben könne. Von diesem Fundament aus könne die Wissenschaft beginnen, zu interpretieren. Sie gewinne von ihm her ihr System der Erkenntnis, ihre Methode und auch die Richtung ihres Erkennens. Das Fundament aber könne sie gerade nicht selbst beibringen, bilde es doch im Wortsinne ihre Voraussetzung, das, von wo aus ihre Arbeit erst Sinn gewinne. Aus der Perspektive der Wissenschaft betrachtet, ist dieses Fundament paralogisch. Die Wissenschaft „bedarf in jedem Betrachte erst eines Werth-Ideals, einer wertheschaffenden Macht, in deren Dienste sie an sich selber glauben darf, – sie selbst ist niemals wertheschaffend.“²⁴⁵ Die Gründung, die wissenschaftlich nicht geleistet werden kann, ist Sache eines radikalen Schaffens. Hieraus wird deutlich, warum Nietzsche nun auf die zitierte Weise sprechen kann. Denn die wissenschaftliche Haltung, die er einnimmt, hat mit der Maske des Zarathustra ihr eigenes Fundament bereits aus sich herausgesetzt. Er spricht der Genealogie den Grund zu, von dem aus sie argumentierend tätig werden, auf das sie sich zurückbeziehen kann. Die dritte Abhandlung der Genealogie gibt sich nicht nur als Provokation der Wissenschaft, sondern sie versteht sich auch als Remedium. Die Maske des Kommentators verweist auf seinen Grundtext. Entsprechend präsentiert die Vorrede zur Genealogie diese Abhandlung auch als ein methodisches Muster. Sie soll dem Leser von Nietzsches Schriften vorführen, wie diese gelesen sein wollen. Neben der Argumentation, die asketischen Ideale betreffend, dient auch sie der Entfaltung eines Regimes der Lektüre und der Auslegung. Dezidiert bezieht sie sich auf die „aphoristische Form“.²⁴⁶ Man nehme sie in der Gegenwart nicht schwer genug. Daher habe Nietzsche „in der dritten Abhandlung dieses Buchs ein Muster von dem dargeboten, was ich in einem solchen Falle ‚Auslegung‘ nenne“. Ihr sei ein Aphorismus vorangestellt, sie selbst biete „dessen Commentar.“ Methodisch soll das gebotene Modell „das Lesen als Kunst“ vorführen. Welcher Text mit dem „Aphorismus“ gemeint sei, das ist in der Forschung umstritten. Der dritten Abhandlung geht ein Motto aus dem Zarathustra voran. Meist wurde dies als Bezugstext des Kommentars gedeutet. Aber gleichzeitig enthält der Abschnitt 1 des eigentlichen Textes die Themen der Abhandlung in nuce. Er endet mit einem imaginären Dialog, der das Problem des rechten Verstehens aufgreift,²⁴⁷ und sein letzter Satz nimmt den letzten Satz der gesamten Abhandlung vorweg. Eine genaue Lektüre von Nietzsches Text legt nahe, dass er sich in der Vorrede auf Abschnitt 1 bezieht. KSA 5, S. 402; GM III, 25. KSA 5, alle Zitate S. 255; GM, Vorrede 8. „Versteht man mich? … Hat man mich verstanden? … ‚Schlechterdings nicht! mein Herr!‘ – Fangen wir also von vorne an.“ KSA 5, S. 339; GM III, 1.
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John T. Wilcox hat als einer der ersten auf diese Zuordnung hingewiesen.²⁴⁸ Christian Benne kann diesen Befund bekräftigen.²⁴⁹ Nietzsche errichtet also in Bezug auf den Leser ein philologisches Regime, das sich nicht nur auf den Zarathustra erstreckt, sondern auf seine Schriften insgesamt. Auch die Aphorismen muss man zu lesen wissen. Dennoch besteht Benne zu Recht darauf, dass auch der Zarathustra in dieses Kalkül einbezogen wird. Es sei nicht unwahrscheinlich, dass Nietzsche „bewusst offenließ, worauf sich der ‚Commentar‘ der dritten Abhandlung“ bezog.²⁵⁰ Das Motto aus dem Zarathustra lautet: „Unbekümmert, spöttisch, gewaltthätig – so will uns die Weisheit: sie ist ein Weib, sie liebt immer nur einen Kriegsmann.“²⁵¹ In der Perspektive der zwei Optiken kann man die Bewegung von Text und Kommentar folgendermaßen zuspitzen: Die Abhandlung legt den Aphorismus aus. In ihm wird auch das asketische Ideal als Resultat der „Grundthatsache des menschlichen Willens“²⁵² gedeutet: Der Mensch brauche „ein Ziel“. Die Abhandlung expliziert das dahingehend, dass diese Grundtatsache aus der asketischen Position heraus falsch ausgelegt werde. Der Wille des Menschen richte sich auf das „Nichts“ und damit gegen ihn selbst. Während der Mensch also wohl perverserweise das „Nichts“ wollen könne, so könne er doch nicht „nicht wollen“. Die zitierte Kritik der Wissenschaft zeigt, dass sich diese Struktur durch die Erkenntnis aufdecken lässt. Die Wissenschaft selbst aber kann dem Willen sein neues Ziel nicht geben; sie hätte dafür nichts anderes als die Wahrheit, also wiederum das Nichts. An diesem Punkt halten sowohl der Aphorismus wie auch seine modellhafte Auslegung ein. Hier aber tritt das Zarathustra-Motto ins Mittel. Unbekümmert, spöttisch, gewaltthätig zu agieren und dies auch gegen das Erkennen zu wollen – das ist seine neue Weisheit,²⁵³ die nur von außerhalb zugesprochen werden kann. Der Aphorismus und seine Auslegung verweisen auf das Heilige Buch, auf dessen Grund sie stehen. Eine parallele Figur findet sich in der zweiten Abhandlung. Hier nimmt sie explizit die Form einer Verkündigung an. Im Kern deutet der Text den Begriff von Schuld als Strategie einer Auslegung des menschlichen Willens, deren Ziel es sei,
Zusammenfassung mit einer Diskussion der bisherigen Interpretationen in John T. Wilcox: That Exegis of an Aphorism in Genealogy III: Reflections on the Scholarship. In: Nietzsche-Studien 27 (1998), S. 448 – 462. Vgl. Benne 2005, S. 202 f. Vgl. ebd. KSA 5, S. 339; GM III, Motto. Alle Zitate ebd.; GM III, 1. Benne (ebd., S. 220, Anm. 305) verweist zu Recht darauf, dass es sich hier um „Weisheit“ handelt, nicht aber um ‚Wahrheit‘.
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den Willen gegen diesen selbst zu richten. Die „aktive Kraft“, die der Wille sei, kehre seine Tätigkeit gegen sich selbst; der Mensch, der sich hindert, „Bestie der Tat“²⁵⁴ zu sein, zerfleischt sich nun selbst. Als Folgen bilden sich die Seele des Menschen, sein Trieb zur Erkenntnis, sein Wille zur Wahrheit – und, so darf man hinzufügen, auch die Wissenschaft. Am Ende ist die Abhandlung wieder an einem aporetischen Punkt angelangt. Die wissenschaftliche Haltung kann ihn nicht überwinden, resultiert sie doch selbst erst aus ihr. Entsprechend schließt Nietzsche mit dem emblematischen Verweis auf „drei Fragezeichen“.²⁵⁵ Er präzisiert dies, indem er den Verstehenshorizont seines Lesers antizipiert: „‚Wird hier eigentlich ein Ideal aufgerichtet oder eines abgebrochen?‘ so fragt man mich vielleicht“. Nietzsche antwortet, indem er seine wissenschaftliche Stimme in Position bringt: „Damit ein Heiligthum aufgerichtet werden kann, muss ein Heiligthum zerbrochen werden: das ist das Gesetz“. Dass er mit seinen Abhandlungen an dem Abbruch eines Heiligtums arbeitet, daran kann kein Zweifel bestehen. Aber wie steht es mit dem Aufbau eines neuen Heiligtums? [I]rgendwann, in einer stärkeren Zeit, als diese morsche, selbstzweiflerische Gegenwart ist, muss er uns doch kommen, der erlösende Mensch der grossen Liebe und Verachtung, der schöpferische Geist […]. Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen Ideal erlösen wird, als von dem, was aus ihm wachsen musste, vom grossen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus, dieser Glockenschlag des Mittags und der grossen Entscheidung, der den Willen wieder frei macht, der der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurückgiebt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts – er muss einst kommen …²⁵⁶
Diese Rede des Analytikers antizipiert den Menschen der Zukunft. Gleichzeitig aber, indem sie dies als Hoffnung ausspricht, gibt sie ihre eigene Schwäche zu erkennen. Denn der bloß hoffende Mensch selbst ist gerade nicht in der Lage, für seine Hoffnungen einzustehen, sie zu realisieren. Die Antizipation des erlösenden Menschen disqualifiziert sich aufgrund ihrer eigenen Erlösungsbedürftigkeit. Diese paradoxe Figur der Rede gewinnt hier nun freilich einen ironischen Sinn. Sie unterläuft sich bewusst selbst. Denn am Schluss übergibt ihr alternder, schwacher Sprecher das Wort jenem anderen, „Jüngeren“, „Stärkeren“, „‚Zukünftigeren‘“, dem das „allein freisteht“: Er beendet seine Rede und übergibt das Wort „Zarathustra dem Gottlosen.“²⁵⁷
KSA 5, S. 333; GM II, 22. KSA 5, alle Zitate S. 335; GM II, 24. KSA 5, S. 336; GM II, 24. KSA 5, S. 337; GM II, 25.
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5 Lesen und gelesen werden – Zusammenfassung Nietzsche steht am äußersten Rand des Verhältnisses von philologisch-historischen Wissenschaften und Dichtung, wie es die vorliegende Arbeit formulierte. Er tut dies jedoch nicht, weil deren Interaktion bei ihm keine Rolle spielte – im Gegenteil. Nietzsche legt seine Philosophie vielmehr dezidiert nach Modellen philologischer Kritik an. Aber gerade dadurch bricht er mit den metaphysischen Voraussetzungen, die im Denken und in der Praxis von Wissenschaften und Dichtung weit verbreitet waren. Grammatik, Hermeneutik und Kritik wurde sonst zugetraut, die Gegenwart neu in einem Geschichtsprozess zu orientieren, dessen Sinn und Zweck sich mit und mittels der Rekonstruktion der Vergangenheit ergeben sollte. Nietzsche dagegen transformiert aus den Handgriffen ein Instrumentarium, um unter anderem eben diese Annahmen und Bindungen zu destruieren. Das Problem der Gegenwart und Zukunft löst sich dadurch freilich nicht auf. Im Gegenteil ist es gerade Nietzsches Ziel, den Menschen adäquat in eine offene Zukünftigkeit zu setzen – und das bedeutet für ihn eben: eine Zukünftigkeit, die nicht normativ gebunden ist, weder durch Wesensbestimmungen des Menschen oder der Dinge noch durch solche, die aus der Geschichte fließen. Das Problem von philologisch-historischen Wissenschaften und Dichtung bietet ein Modell, um das Grundproblem seines Schreibens zu verstehen. Dieses ist die erste Bedeutung, die die Rede von Philologie und Geschichte in der Analyse von Nietzsches Ansatz gewinnt. Daneben und mit ihr verbunden sind noch andere Bedeutungen. So lässt sich der Zarathustra als ein Heiliges Buch interpretieren, dem Nietzsche selbst höchste Autorität zuweist, das er aber auf der Grundlage seiner Einsichten in die Funktionsweise und die Gestalt solcher Texte herstellt. Diese Herstellung wäre der Akt einer Philologie, die ihr Wissen produktiv umsetzt und einsetzt, um nun selbst zu schaffen. Drittens verändert sich mit dem Zarathustra Nietzsches Schreiben. Es wurde deutlich, wie es auf das Spannungsverhältnis stößt, das überhaupt konstitutiv ist für das Verhältnis zwischen philologisch-historischer Analyse und dem künstlerischen Schaffen. Es formt sich zu einer Aporie. Nietzsche versucht, sie produktiv zu wenden, indem er eine doppelte Optik des Schreibens entwickelt, zwei aufeinander bezogene Masken aus sich entlässt: den Analytiker und sein Anderes, den Schaffenden. Dass das Erkennen selbst einen Willen zur Macht birgt, macht die Trennung notwendig. Dieser Akt folgt aus der methodischen Verpflichtung, die Nietzsche mit historischen und philologischen Begriffen entwirft. Aber sein eigentlicher Sinn liegt in der Lösung von der Verpflichtung auf Wahrheit als Objekt der methodisch geleiteten Erkenntnis.
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Gerade weil beide Masken aufeinander bezogen sind, wird ihr Sprecher aber nicht lediglich in die Schizophrenie zweier gesonderter Rollen entlassen. Es gilt vielmehr, diesen doppelten Blick auszuhalten. Die beiden Masken etablieren eine Strategie der Ermächtigung. Die eine Stimme muss der jeweils anderen ihre Berechtigung zuschreiben. Die Genealogie der Moral zeigt dies. Nietzsche verflechtet hier immer wieder die beiden Rollen des Wissenschaftlers und des Schaffenden. Er tut dies bezeichnenderweise durch einen Chiasmus. Zarathustra bewegt sich in seiner anderen Rede im Horizont dessen, was das Ich vorgedacht hat. Dieses Ich wiederum etabliert seine Autorität nun, indem es sich zum Ausleger Zarathustras macht. Dort, wo er auf die Aporie seines eigenen Gestus stößt, verweist er auf die Rede jenes Anderen. Beide Masken etablieren damit ein Regime, bei dem der Schaffende einen neuen Sinn vorgibt, auf den der Auslegende sich verpflichtet. Der Analytiker Nietzsche wird zum Philologen des heiligen Buches, dessen Gegenstand er aus sich entlassen, zu dem er sich ermächtigt hat. „Ich ziehe vor, etwas zu schreiben, was so gelesen zu werden verdient, wie die Philologen ihre Schriftsteller lesen“²⁵⁸ – die Anmerkung aus den Notizen zu Wir Philologen scheint diese Entwicklung programmatisch vorwegzunehmen. Der philologisch-historische Wissenschaftler und der auslegungswürdige Autor haben sich bei Nietzsche identifiziert. Sie sind zu einer empirischen Person verschmolzen, jedoch um den Preis, dass sich das Schreiben auf zwei personae verteilt. Der Nicht-mehr-Philologe Nietzsche kann nicht auf die Praktiken der philologisch-historischen Wissenschaften verzichten; genausowenig kann der Vater Zarathustras denjenigen entbehren, der die neue Offenbarung auslegt und verwaltet. Auch Nabokovs wahnsinniger Philologe Charles Kinbote war am Ende dahin gekommen, etwas schreiben zu wollen,was ‚so gelesen zu werden verdient,wie die Philologen ihre Schriftsteller lesen‘; auch er wird zum Ausleger seiner eigenen Sache, ja, durch seine Auslegung lässt er den Dichter Shade als Interpret seines, Kinbotes, eigenen Lebens erscheinen. Freilich: Bei Nietzsche entwickelt sich diese Konstellation auf dem Hintergrund einer systematischen, rasanten Kritik der metaphysischen Vorannahmen, die das Denken der philologisch-historischen Wissenschaften im 19. Jahrhundert prägten. Aber auch darüber hinaus ist Nietzsches Kritik in ihrer Sache ernst zu nehmen, wie nicht zuletzt das poststrukturalistische Denken Foucaults, Barthes und Deleuzes zeigt, die ohne Nietzsche kaum vorstellbar sind. Gleichzeitig belegt Nietzsche einmal mehr, wie sich die Spannungsverhältnisse von Dichter und Interpret keineswegs auf das ‚historistische‘ und in gewisser Weise ‚philologische‘ 19. Jahrhundert beschränken. In dieser
KSA 8, S. 123; [7], 5.
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Zeit entstehen spezifische Konstellationen, die in der vorliegenden Arbeit skizziert werden sollten. Aber einer sein zu wollen, der ausgelegt wird – das ist nicht nur ein grundlegendes Phantasma, das in Moderne und Gegenwart unvermindert virulent ist. Es etabliert eben auch vielfältige Machtspiele zwischen den beiden Partnern, die zu dieser Praxis gehören: dem Ausleger und dem Auszulegenden. Tatsächlich etwas zu schreiben, ‚was so gelesen zu werden verdient, wie die Philologen ihre Schriftsteller lesen‘, beendet die Probleme nicht – sondern genau damit fangen sie eigentlich erst an.
VI Literaturverzeichnis Zur Zitierweise Bibliographische Nachweise erscheinen in den Anmerkungen grundsätzlich bei der ersten Nennung vollständig. Danach werden Quellen – d. h. Texte, die Gegenstand der Untersuchung sind – mit Autornamen und Kurztitel zitiert, Forschung – d. h. Texte, die sich auf die gleichen Gegenstände beziehen wie die vorliegende Untersuchung – dagegen mit Autornamen und Jahreszahl.
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Personenregister Aufgenommen wurden auch anonym überlieferte Texte sowie Personen, die zeitgenössisch als historische, später aber als mythische verstanden wurden. Fiktionalisierte Charaktere aus historischen Roman tauchen nur auf,wo von ihrem Bezug zu den historischen Vorbildern die Rede ist. Kursive Ziffern beziehen sich auf die Anmerkungen der jeweiligen Seite.
Aischylos 196, 200 f., 203, 240 Albericus, Mönch von Trois-Fontaines 214 Alexis, Willibald 328 f., 356, 369 f., 392, 418, 423 f. Alkaios von Lesbos 187, 189 f. Altenberg, Peter 114 Aprent, Johannes 88, 374 Aretin, Johann Christoph Freiherr von 231 Ariosto, Ludovico 211 Aristarchos von Samothrake 228 Aristophanes 110, 245 Aristoteles 26 Arndt, Ernst Moritz 85, 93 Arnim, Ludwig Achim von 3, 27, 82, 131, 174, 221, 224, 235, 254, 269 – 273, 295, 300 f., 323 Arx, Ildefons von 337, 338, 344 Ast, Georg Anton Friedrich 27 Baluze, Étienne 338 Bartsch, Karl 41, 76, 79 „Batrachomyomachia“ 289 Bauer, Ludwig 305 f. Bechstein, Reinhold 70, 76, 122, 223, 296 Benecke, Georg Friedrich 71 Bernays, Jacob 89 Bernays, Michael 23 Bernhardi, August Ferdinand 203 Bernhardy, Gottfried 86 Bertram, Johann Baptist 174 Bertuch, Friedrich Justin 198 f., 247 Biester, Johann Erich 231 Boccaccio, Giovanni 169, 199, 354 Bodmer, Johann Jakob 236 Boeckh, August 2, 29, 38 f., 51 – 59, 62, 66, 68, 69, 72, 73, 82, 99 – 105, 111 f., 120, 123, 131, 143, 150, 152 f., 230, 251, 253, 325, 327, 329, 358, 381, 411, 423
Böhmer, Auguste 186 Boisserée, Brüder 174 Bopp, Franz 57 Brentano, Clemens 82, 97 f., 108, 224, 235, 283, 295, 325, 356, 380 Buddha (Siddharta Gautama) 481 Burchard III., Herzog von Schwaben 343 Burckhardt, Jacob 89, 93 f., 121 Burdach, Konrad 33, 37 Bürger, Gottfried August 81, 185, 239 Büsching, Johann Gustav Gottlieb 82, 122, 208, 231, 244 Calderón de la Barca, Pedro 197 Camões, Luís Vaz de 82, 212 Cervantes Saavedra, Miguel de 170 Champollion, Jean-François 57 „Chanson de Roland“ 207 f., 210, 214, 316 Chatterton, Thomas 96 Chézy, Helmina von 174, 209 Christian VIII., König von Dänemark 90 Cid, El (Rodrigo Díaz de Vivar) 268 „Complaynt of Scotland, The“ 288, 291 Cooper, James Fenimore 305 Cosmas von Prag 381, 398 Craloh, Abt von Sankt Gallen 361 Cramer, Carl Friedrich 125 Creuzer, Georg Friedrich 108 Curtius, Georg 375 Dahn, Felix 86 f. Daniel, Arnaut 274 Dante Alighieri 110, 185, 202, 210, 331, 353, 354 Danzel, Theodor Wilhelm 23, 99 Daßdorf, Karl Wilhelm 231 Descartes, René 44 Dieterich, Udo Waldemar 57
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Personenregister
Diez, Friedrich Christian 88 Dilthey, Wilhelm 31 Dippoldt, Hans Karl 208, 209 Dobrovský, Josef 97 Docen, Bernhard Joseph 82, 104, 231, 309 f. Droysen, Johann Gustav 2, 25, 29, 51, 55 – 59, 62, 65, 68, 71, 72, 76 f., 99, 102, 103 – 106, 109 – 111, 113, 121, 131, 143, 150, 358, 381, 418, 423, 424 Du Cange, Charles du Fresne, Sieur 207 Dubs, Jakob 91 Düntzer, Heinrich 92, 126 f., 376 „Edda“ 231, 260, 265, 278, 340 Eggers, Friedrich 331 Eichendorff, Joseph Freiherr von 94 Eichhorn, Johann Gottfried 115 Ekkehard (genannt I.), Autor der Vita Waltharii 336 – 341, 349, 360, 362 Ekkehard (genannt II.), Mönch von St. Gallen 360, 361 Ekkehard (genannt IV.), Autor der Casus 333, 335 – 341, 343, 349, 360 – 364 Ellendt, Johann Ernst 376 Emerson, Ralph Waldo 478, 480 Erben, Karel Jaromír 383 Erckambald, Bischof 338 Eschenburg, Johann Joachim 44, 146, 231 Euripides 438 Faber, J.F. 336 Falk, Paul Ludwig Adalbert 77 Fauriel, Claude Charles 87, 338 Fichte, Johann Gottlieb 61 f., 82, 148 f., 156, 157, 159, 239, 246 Firdausi 242 Fischer, Friedrich Christoph Jonathan 336 Fontane, Theodor 83 Fouqué, Friedrich de la Motte, Baron 82 Freud, Sigmund 10 Freytag, Gustav 89, 93, 94 Friedell, Egon 37, 113 f., 125 Friedrich I. (gen. Barbarossa), Kaiser 382 Friedrich I., König von Württemberg 317 Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen 85, 86, 88 Fritzsch, Ernst Wilhelm 488
„Froschmäusekrieg, Der“ siehe Batrachomyomachia Gast, Peter siehe Köselitz, Heinrich Gatterer, Johann Christoph 106 f. Geibel, Emanuel 12, 87 f. Geppert, Carl Eduard 376 Geraldus, Mönch von St. Gallen 337 f. Gerhard, Friedrich Wilhelm Eduard 55 Gersdorff, Carl Freiherr von 435 Gervinus, Georg Gottfried 66, 108, 110, 128 f., 132, 331, 351 Gesner, Johann Matthias 40 Geyder, August 345 Girart d’Amiens 209 Goethe, Johann Wolfgang 3, 27, 83, 106, 124, 126 – 130, 132, 133, 158, 167, 169 – 171, 194, 221, 224 f., 235, 240 – 250, 252, 270, 271, 323, 326, 373, 377, 427, 455, 474 Görres, Joseph 82, 206 Gottfried von Straßburg 122 Graf Rudolf 276 Gräter, Friedrich David 293 f. Grillparzer, Franz 94, 97, 132 – 134, 325, 356 Grimm, Brüder 3, 25, 57, 62, 68, 77, 78, 82, 83, 110, 136, 221, 222 – 224, 231, 236 f., 251 – 296, 311, 322, 346, 356, 373, 375 Grimm, Jacob (siehe auch Grimm, Brüder) 3 f., 27, 57, 72, 87, 131, 212, 221, 297, 300 f., 302, 309 f., 323, 336 – 341, 345, 350 f., 353, 363 Grimm, Wilhelm (siehe auch Grimm, Brüder) 209, 302, 304 – 308, 374, 424 Grünbein, Durs 11 – 14, 20, 113 „Grünberger Handschrift“ 116, 382 Gutzkow, Karl 94 Haas, Johann Meno 201 Haase, Friedrich 52 Hadwig, Herzogin von Schwaben 343, 360 f. Hagen, Friedrich Heinrich von der 3, 71, 82, 208, 221, 222 – 250, 251, 252, 253, 257, 258, 260, 270, 306, 309, 311, 323 f., 373 Hanka, Václav 382, 396 Hardenberg, Karl August Freiherr von 85
Personenregister
Hartmann von Aue 52, 82, 93, 122, 267, 275, 278, 279 – 281, 339 Hartmann, Julius 335 Hassenpflug, Familie 282 Hastfer, Helmina von siehe Chézy, Helmina von Hauff, Hermann 377 Hauff, Wilhelm 328, 398, 413 Haupt, Moriz 72, 224 Häusser, Ludwig 332 Hebbel, Friedrich 90 f. Heckenast, Gustav 368, 377 – 379, 402 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 65, 100, 123, 124, 204, 331 Heine, Heinrich 89 f., 93, 94, 126, 132 Heinrich von Ofterdingen 260, 401 f. Heinsius, Theodor 75 „Heldenbuch, Das“ 231, 235, 353 „Heliand“ 110 Hellwald, Friedrich Anton von 478 Heraklit 183 Herder, Johann Gottfried 27, 67, 101, 116 – 119, 144, 158, 215, 216, 226, 252 f., 420 Hermann, Gottfried 52 f., 244, 375, 376 Hettner, Hermann 92, 244 Heyne, Christian Gottlob 40, 83, 118, 226, 231 Heyse, Paul 88, 331 „Hildebrandslied“ 275 – 277 Hinrichs, Hermann Friedrich Wilhelm 65, 124 „Historia Caroli Magni et Rotholandi“ siehe Turpin (Pseudo-Turpin) Hoffmann (von Fallersleben), August Heinrich 39, 71, 72, 85 f., 93 Höfler, Konstantin 331 Hofmann, Konrad 74, 122 f. Holder, Alfred 334, 339, 344 Hölderlin, Friedrich 147 Holtzmann, Adolf 223, 332 f., 334, 346 – 350, 351, 356 Homer 4, 67 f., 115, 118 f., 145, 207, 225 – 230, 236, 240, 241 f., 247 f., 260, 266, 272, 311, 341, 372 – 376, 381, 391 – 394, 399, 404, 426 f., 430 Horaz 21, 342
545
Humboldt, Alexander von 86 Humboldt, Wilhelm von 34, 47, 57 f., 66, 68, 70, 225, 373, 450 Hume, David 410 Immermann, Karl Leberecht 131 Ireland, William Henry 96 Jahn, Otto 433 Jaskulla, Gabriela 14 f. Jean Paul 96 Jung(‐Stilling), Johann Heinrich 235 „Kæmpe Viser“ 260, 266 Kalidasa 274 Kanne, Johann Arnold 85 Kannegießer, Karl Ludwig 82 Kant, Immanuel 34, 66, 148, 218, 410 Karl der Große 205, 211, 216 f., 268 Kebo, Abt von Lorsch 362 Keller, Adelbert von 72, 75 Keller, Gottfried 25, 91 f., 131 f. Kern, Johann Konrad 333 Kerner, Justinus 298 Klemm, Gustav Friedrich 337 Klingsor von Ungarland 260 Klopstock, Friedrich Gottlieb 60, 124, 125, 128, 158 Koch, Erduin Julius 48 f., 58, 146, 206, 208, 209, 215 f., 231 Kölle, Christoph Friedrich Karl von 298 „Königinhofer Handschrift“ 116, 382, 396 Konrad, Meister („Nibelungenklage“) 347, 348 – 350 Konrad, Pfaffe 208 Kosegarten, Ludwig Gotthard 235 Köselitz, Heinrich 474, 477 Köstlin, Heinrich 298 Krug, Wilhelm Traugott 464 Kugler, Franz 331 Kürenberg, Der von 346, 349, 403 Lachmann, Karl 52, 72, 78, 136, 222 – 224, 226, 237, 262, 332, 340, 346, 347, 348, 356, 373, 375 Ladenberg, Adalbert von 127
546
Personenregister
Laßberg, Joseph Freiherr von 337 f., 341, 361 Le Clerc, Jean 45 Leo, Heinrich 71, 73, 99, 122 Leopardi, Giacomo 455 Lepsius, Karl Richard 57 Lessing, Gotthold Ephraim 158, 173, 174 – 179, 201, 239 Leutrum-Ertringen, Adolf Freiherr von 336 Leyden, John 288, 291 Liliencron, Rochus Freiherr von 57 Lope de Vega, Félix 198 f. Lowth, Robert 115 Ludwig I. (gen. der Fromme), Fränkischer König 216 Ludwig I., König von Bayern 90 Ludwig III. (gen. der Jüngere), Ostfränkischer König 216 Ludwig III., Westfränkischer König 216 „Ludwigslied“ 215 f. Luther, Martin 238, 271 M., W. 77, 82, 98, 122 Macaulay, Thomas Babington 360, 364 Mach, Ernst 37 Macpherson, James 96, 115 f., 117, 234, 392 Mann, Friedrich Theodor 203 f. Mausius, Johann Friedrich 8 Maximilian II., König von Bayern 88 Mayer, Karl 298 Meinert, Joseph Georg 97 Menzel, Wolfgang 328, 356 Méril, Edélestan du 338 Meyer, Conrad Ferdinand 91 Meyer-Ott, Wilhelm 333 Meysenbug, Malwida von 474, 479 Michaelis, Johann David 115 Michel, Francisque 208 Minor, Jakob 37, 113 Mohammed 194 Molter, Friedrich Valentin 336 Mommsen, Theodor 25, 73 Mone, Franz Joseph 223 Monin, Louis Henri 208 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron de 67
Müllenhoff, Karl 75, 122, 123 Müller, Adam 82 Müller, Johannes von 216, 231 Müller, Wilhelm 87, 94 Musäus, Johann Karl August 235 Nabokov, Vladimir 1, 6 – 11, 14, 16, 19, 496 Nachtigall, Johann Karl Christoph 235 Napoléon Bonaparte 232 Naumann, Constantin Georg 488 „Nibelungenklage“ 347 „Nibelungenlied“ 78, 93, 122 f., 226, 230 – 250, 255, 256, 258, 260 – 269, 272, 276, 278 f., 302 – 308, 310 f., 315, 317, 324, 332, 334, 340 f., 344, 346 – 350, 353,382, 401 – 405, 424 Nicolai, Friedrich 231 Niebuhr, Barthold Georg 432 Niethammer, Friedrich Immanuel 160 Nietzsche, Elisabeth 430, 477 Nietzsche, Friedrich 2, 4, 14, 46, 63, 73, 99, 114, 124, 133 f., 425 – 497 Notker I., Mönch von St. Gallen (gen. der Stammler) 361 Notker II., Mönch von St. Gallen (gen. der Arzt) 362 Notker III., Mönch von St. Gallen (gen. Labeo) 362 Novalis 113, 136 Oberlin, Jeremias Jakob 231 Oldenberg, Hermann 481 Oppert, Julius 57 Osterkamp, Ernst 11 – 14, 20 Otfrid von Weißenburg 346 Ottokar aus der Gaal 374, 382 Ottokar von Horneck siehe Ottokar aus der Gaal Overbeck, Franz 479 Palacký, František 380 – 386, 388 f., 395, 397 f., 405, 421 Paris, Alexis Paulin 208 Paul, Hermann 77 Paulus 446 Peisistratos 227 Percy, Thomas 234
Personenregister
Petrarca, Francesco 187, 354 f. Pfeiffer, Franz 71 f., 79 Pilgrim, Bischof von Passau („Nibelungenklage“) 347, 348 f. Pindar 82, 187 Platen-Hallermünde, August Graf von 126 Platon 26, 103 – 106, 150, 164, 166, 169, 183, 480, 482 Poliziano (d.i. Angelo Ambrogini) 455 Prantl, Carl 331 Prutz, Robert Eduard 86, 129 – 131 Purchard, Abt von Sankt Gallen 361 Puschkin, Alexander Sergejewitsch 9 Racine, Jean 174 Ranke, Leopold 41, 63, 108, 109, 326 f., 406, 411 f., 418, 423, 424, 430, 432 Rask, Rasmus Christian 57 Ratpert, Mönch von St. Gallen 361, 362 Raumer, Friedrich von 245, 383 Raumer, Karl Otto von 76 Raumer, Rudolf von 41, 52, 74, 121 Rawlinson, Henry 57 Rée, Paul 479 Reimer, Georg Andreas 287 Reuber, Justus 205 Rilke, Rainer Maria 16 Ritschl, Friedrich Wilhelm 123 f., 126, 426, 427, 433 Ritter, Heinrich 326 Robespierre, Maximilien de 367 Roediger, Emil 57 Roeth, Eduard 331 Rollenhagen, Georg 289, 290 Rosenkranz, Karl 65 Rougé, Olivier de 57 Rückert, Friedrich 84 f. „Ruodlieb“ 336, 340, 363 Ruodmann, Abt von Reichenau 343 Ruth, Emil 331, 332, 354 Sachs, Hans 245 Sachsen-Weimar-Eisenach, Karl Alexander, Großherzog von 333 San-Marte siehe Schulz, Albert Sappho 187, 189 – 191
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Savigny, Friedrich Carl von 62, 67, 90, 271, 277 Schacht, Theodor 374 Scheffel, Joseph Victor von 3, 92, 98, 329 – 366, 380, 423 f., 430 Scheffel, Josephine 333 Schenk, Eduard von 90 Scherer, Wilhelm 77, 222 Scherr, Johannes 92 Schiller, Friedrich 119 f., 127, 128, 130, 133, 136, 154, 158, 194, 224, 241, 245, 273, 373, 377, 427 Schilter, Johann 208, 215, 216 Schlegel, August Wilhelm 11, 81, 93, 126, 156, 184, 185, 186, 193, 194 f., 199, 201, 226, 232, 233, 260, 374, 401 f. Schlegel, Caroline 186 Schlegel, Dorothea siehe Veit, Dorothea Schlegel, Friedrich 2, 11, 17, 24, 27, 54, 63, 68, 83 f., 100, 102, 106, 114, 125, 130, 132, 135 – 219, 220, 224, 230, 233, 234 f., 236, 246, 252, 253, 257, 258, 300, 311, 325, 326, 373, 397, 401 f., 427, 439, 450 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 143, 178 Schlesinger, Ludwig 421 Schliemann, Heinrich 25, 393 Schlosser, Johann Georg 225 Schmeitzner, Ernst 474, 479, 488 Schmeller, Johann Andreas 336 Schopenhauer, Arthur 427, 434 Schubarth, Karl Ernst 243 – 249, 306, 323 Schulz, Albert 337, 338, 340, 341, 345, 351, 353 Schwab, Gustav 87, 93, 337 Scott, Walter 4, 80, 109, 305, 327 – 329, 342, 359, 367, 368 – 372, 380, 392, 408, 410 f., 412 f., 418, 419, 424, 430 Seckendorff, Leo Freiherr von 298, 301 Shakespeare, William 93, 170, 245, 281, 456 Simrock, Karl 93 Sindolt, Mönch von St. Gallen 361 Sintram, Mönch von St. Gallen 361 Smith, George 57 Sokrates 164, 438 f., 482
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Personenregister
Solger, Karl Wilhelm Ferdinand 82 Solon 227 Sophokles 198, 203, 240, 241 Spaun, Anton Ritter von 402 f. Spee, Friedrich 206 Stein zum Altenstein, Karl Sigmund Franz Freiherr vom 85 Stifter, Adalbert 4, 25, 30, 88, 94, 98, 367 – 424, 426, 428, 430 Stifter, Amalia 379 Stifter, Anton 377 Strauß, David Friedrich 128, 434 Stricker, Der 208 Swoboda, Wenceslaw Aloys 396 Tacitus 363 Tafel, Johann Friedrich Leonhard 93 Taillefer 214 f., 217, 316 Teichmüller, Gustav 463 f. Thiersch, Friedrich Wilhelm 49 f., 75, 331 Thukydides 393 Tieck, Friedrich 201 Tieck, Ludwig 25, 82 f., 120, 186, 224, 226, 232, 235, 239, 240, 309 Tomek, Wenzel Wladiwoj 383 Tourtual, Florenz 383 Turpin (Pseudo-Turpin) 205 f., 209 – 213 Turpin, Erzbischof von Reims 205, 209 Tutilo, Mönch von St. Gallen 361 Tyrwhitt, Thomas 207, 208, 209 Uhden, Johann Daniel Wilhelm Otto 231 Uhland, Ludwig 3, 82, 83, 84, 93, 132, 207 f., 209, 215, 221, 224, 297 – 322, 323, 325, 341, 345, 355, 366, 397 Ulrici, Hermann 374, 375, 393 Uschold, Johannes 393 Veit, Dorothea 178, 182, 186, 209 Vergil 274, 340, 342, 343, 344, 350 – 353, 372 f. Vertot, René Aubert de 214 Vilmar, August Friedrich Christian 128
Vincenz von Prag 382, 398 Vischer, Friedrich Theodor 92, 379 Voß, Johann Heinrich 239 Waagen, Gustav Friedrich 331 Wace, Richard 214 f., 316 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 48 Wagner, Richard 427, 433, 434, 455 Walch, Albrecht Georg 231 Walser, Martin 14 – 16, 18 f. „Waltharius“ 4, 92, 330 f., 333, 334, 343, 344 f., 346 – 350, 350 – 352, 356, 360 f., 364, 365, 424 Walther von der Vogelweide 93, 122, 299, 308 – 311, 315 Warton, Thomas 209 Welcker, Friedrich Gottlieb 38, 73, 75 f., 127, 251 „Wessobrunner Gebet“ 275 Wiborada, Hl. 362 Wieland, Christoph Martin 158 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 427 Wild, Familie 282, 285 William von Malmesbury 214 Wilson, Edmund 10 Wilson, Horace Hayman 57 Winckelmann, Johann Joachim 67, 144, 158 Winzer, Johann Gottlieb 203 f. Witiko von Prčice 382, 408 Wladislaw I., Herzog von Böhmen 422 Wladislaw II., König von Böhmen 383 Wolf, Ferdinand 208, 209, 215 Wolf, Friedrich August 3, 23, 27, 40, 46 – 48, 51, 67 f., 87, 106, 118, 144 f., 207, 224 – 230, 236 f., 239, 246, 252, 255, 257, 261, 262, 311, 373, 375, 393, 427, 432, 434 f. Wolfram von Eschenbach 122 Yxem, Ernst Ferdinand
250
Zacher, Julius 79 Zarathustra (Zoroaster) Zarncke, Friedrich 37
480, 481