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German Pages [448] Year 2002
editionbShlissimo
Aus dem Französischen von Susanne Grabmayr und Marie-Therese Pitner
Jean-Paul Bled
WIEN
Residenz - Metropole - Hauptstadt
böhlauWien Köln Weimar
Gedruckt mit der Unterstütung durch Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur Französisches Kulturministerium Magistrat der Stadt Wien - MA 7
Titel der französischen Originalausgabe: Histoire de Vienne © Librairie Arthime Fayard 1998
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz flir diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich ISBN 3-205-99077-3 Das Werk ist urheberrechdich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Umschlagabbildung: Wien 1873, Lithographie, Historisches Museum der Stadt Wien © 2002 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H. & Co. K G , Wien • Köln • Weimar http ://www.boehlau.at Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefreiem Papier Druck: Manz Crossmedia, 1051 Wien
Fiir Nicole
Vorwort Mit jeder Großstadt verbinden wir bestimmte Klischeebilder. Diese werden durch Plakate und Werbung in den Medien verbreitet und schaffen eine tatsächliche oder legendäre Identität. Was wäre Paris ohne Eiffelturm, New York ohne seine Wolkenkratzer, Kairo ohne die Pyramiden? Auch Wien macht hier keine Ausnahme. Mit dieser Stadt verbinden wir nicht sosehr ein bestimmtes Bauwerk, sondern vielmehr seine Musik, den Wirbelwind des Walzers und die Leichtigkeit der Operette. Noch vor einigen Jahren setzten die Wiener Johann Strauß an die Spitze der „Hitparade" der berühmtesten Persönlichkeiten der österreichischen Geschichte. Ihre Entscheidung wird auch durch die jährlich weltweit von Hunderten Millionen Menschen verfolgte Übertragung des Neujahrskonzertes bestätigt. Kühle Kritiker werden sicherlich einwenden, daß es sich hierbei um ein Klischee handelt, und sie haben recht, sie tun aber unrecht daran, nicht weiter zu blicken, denn diese Bilder, wie vereinfachend sie auch sein mögen, drücken doch einen Teil der Wahrheit aus vorausgesetzt man erfaßt diese Botschaft in ihrem ganzen Umfang. Der Hedonismus der Wiener, diese Sucht nach Vergnügen, läßt seit Jahrhunderten keinen Reisenden, sei er darüber empört oder davon begeistert, unberührt. Der Wiener Historiker Moritz Csäky zeigt uns in seinem Buch Die Ideologie der Wiener Operette, wie sehr diese Sucht nach Vergnügen Teil jener barocken Kultur ist, die Wien und den gesamten mitteleuropäischen Raum seit mehr als drei Jahrhunderten prägt.1 Das Beispiel des Barock hilft uns, den Geist Wiens zu erfassen. Dieser erinnert uns daran, daß Wien vor allem eine Kaiserstadt ist. Eng mit der Gegenreformation verbunden, setzt er sich dank der Herrschaft der Habsburger durch und breitet sich mit der Festigung und Erweiterung der österreichischen Monarchie allmählich weiter aus. Schon im Ii. Jahrhundert bestätigt, überdauert diese Berufung Jahrhunderte. Ob Wien nun eine Herzogs-, eine Erzherzogs- oder eine Kaiserstadt war, seinen Reichtum verdankt es der Entscheidung der Herrscherfamilien - zunächst der Vorwort : 7
Babenberger und später der Habsburger hier ihre Residenz zu errichten. Da diese sich mit einem Hofstaat umgaben, erhielt Wien nach und nach ein aristokratisches Flair. Als Fürstenstadt wurde Wien auch zur Hauptstadt. Um den Herrscher bildete sich anfangs ein rudimentärer Machtapparat, der später immer umfangreicher wurde. Mit zunehmendem Wachstum nimmt Wien eine immer komplexere Gestalt an, deren einzelne Funktionen sich immer mehr verzweigen. Die an die Anwesenheit des Fürsten gebundene politische Rolle bleibt aber dennoch beherrschend, während die übrigen Funktionen einander überlagern. Die Macht Wiens erstreckt sich auf ein im Laufe der Zeit unterschiedlich großes Gebiet, und auch seine weltpolitische Bedeutung variiert. Als Wien unter dem Namen Vindobona in die Geschichte eintritt, ist es als Legionslager Teil der römischen Verteidigungslinie, des Limes. In seiner Funktion als Grenzstadt kommt es wiederholt in Kontakt mit unterschiedlichen politischen Einheiten, ja befindet sich häufig auf einer kulturellen Scheidelinie. Die Ottonische Ostmark zählt zu den äußersten Vorposten des Heiligen Römischen Reiches in Mitteleuropa. Mehr als eineinhalb Jahrhunderte lang ist Wien zwischen den beiden Türkenbelagerungen das Bollwerk des Christentums gegen das Osmanische Reich. Nach dem Zweiten Weltkrieg und auch nach dem Staatsvertrag von 1955 ist Wien die letzte Station vor jenem Teil Europas, der unter kommunistische Herrschalt kam. Neben dieser Funktion als Grenzstadt wird das Schicksal Wiens auch von seinem Aulstieg zu einer Metropole geprägt. Auf diese Rolle wird es Schritt für Schritt, zuerst von den Babenbergern und dann vor allem von den Habsburgern, vorbereitet. Als Böhmen und Ungarn 1526 unter dem Zepter der Habsburger vereinigt wurden, schien die Zeit gekommen. Der Aufstieg zur Metropole wird durch die drohende Türkengefahr aber noch lange Zeit verhindert. Nachdem die Niederlage der Reformation überwunden und auch der letzte osmanische Angriff abgewehrt worden war, sind alle Voraussetzungen fiir einen Aufstieg Wiens zur Metropole gegeben. In der Zwischenzeit hat es sich Prag untergeordnet, das ihm lange Zeit hindurch seine Vormachtstellung streitig machte. Die nach dem Wendepunkt von 1683 in Angriff genommene Reconquista reicht bis zu den Karpaten. Das Ende der Kriege gegen das Frankreich Ludwigs XIV. vergrößert die österreichische Monarchie noch um die Niederlande und die italienischen Besitzungen. Wien ist nun Hauptstadt eines riesigen Reiches, das einen Großteil Mitteleuropas umfaßt. Es übt dabei nicht nur eine politische Macht aus, sondern verbreitet auch jene kulturellen Vorbilder, die diesen Raum kennzeichnen und seine Identität prägen. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts mehren sich die Vorboten einer neuen Zeit. Mit dem Aufkommen nationaler Bestrebungen werden andere Städte wie Budapest und vor allem Prag zunehmend zu Konkurrenten. Aber Wien vermag seinen Rang und seine Vormachtstellung bis 1918 zu bewahren. Kurz vor 1914 überschreitet es die
8 I Wien - Residenz - Metropole - Hauptstadt
Schwelle von zwei Millionen Einwohnern und ist damit ganz auf ein großes Reich zugeschnitten. Nun stellt sich eine für seine Identität wichtige Frage: Ist Wien eine deutsche oder eine Donaustadt? Der Kern der Wiener Bevölkerung ist zweifellos deutsch, aber wir dürfen nicht vergessen, daß es, wenn auch an der Peripherie gelegen, eine Stadt des Heiligen Römischen Reiches ist. Ab dem 15. Jahrhundert, als die Habsburger schließlich auch die Kaiserwürde bekleideten, wird Wien anfangs vorübergehend, später auf Dauer zur kaiserlichen Residenzstadt. Und so verdankt es seinen Aufschwung seiner Stellung als Hauptstadt der Erblande. Der Titel des römischdeutschen Kaisers ist für die Habsburger mit einem Prestige verbunden, dem auch politisches Gewicht zukommt, ihre wirkliche Macht aber begründen die im Einflußbereich des Donauraumes gelegenen Erblande. Das Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Funktionen erlischt erst mit der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches im Jahre 1806. Z u diesem entscheidenden Wendepunkt ist die angesprochene Frage aber schon lange beantwortet. Als mitteleuropäische Metropole definiert sich Wien nicht mehr ausschließlich als deutsche Stadt. Es ist die Hauptstadt eines großen Reiches, in dem die Deutschen zwar politisch das Sagen haben, numerisch aber in der Minderzahl sind. Seine Bevölkerung wird unaufhörlich um Angehörige unterschiedlicher Nationalitäten bereichert, deren Assimilation - und dies ist die Regel - keine bloße Absorption darstellt. Die Wiener Kultur wird von der Vielfalt dieser fremden Einflüsse bestimmt. Denken wir nur an den Barock, der Wien zwar prägt, es aber nicht zur Geburtsstätte hat. In seiner dreifachen Ausprägung auf den Gebieten der Architektur, des Theaters und der Musik unterstreicht er die starken Bande dieser Stadt mit Italien. Diese Vielfalt an Einflüssen macht sich bis heute im täglichen Leben bemerkbar. So finden sich im Wiener Dialekt zahlreiche Lehnwörter aus dem Französischen, Italienischen, Lateinischen und Spanischen. Und wie steht es mit den kulinarischen Traditionen? Viele der sogenannten Wiener Spezialitäten sind fremder Herkunft: Der Apfelstrudel und die Knödel kommen aus Böhmen, das Schnitzel aus Mailand und das Gulasch aus Ungarn. Aber auch als Hauptstadt eines Vielvölkerstaates bleibt Wien eine deutsche Stadt. Noch nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches und selbst nach Königgrätz lebt dieses Identitätsmerkmal fort. Bisweilen ist die „deutsche Versuchung" groß, der Aufruf zur Rückbesinnung auf das Deutschtum besonders laut. So etwa nach 1918, in jener Zeit der Wirren, als die Wiener und Österreicher nach der Auflösung der Monarchie all ihrer wohlvertrauten Bezugspunkte beraubt werden. Die Geschichte Wiens wird von einem Dualismus bestimmt. Sie umfaßt Bewegungen und Strömungen, die im Laufe der Jahrhunderte den ganzen Kontinent durchziehen. Deshalb ist Wiens Realität aber noch keineswegs manichäisch. Zwischen zwei gegensätzlichen Polen hin- und hergerissen, wird sein Schicksal auch Vorwort : 9
vom Kompromiß bestimmt. Wo diese unterschiedlichen Auffassungen aufeinandertreffen, kreuzen sie einander. Diese bisweilen konfliktbeladenen Spannungen sind aber auch kreativ.
10 : Wien - Residenz - Metropole - Hauptstadt
Inhalt
I. Kaiserliche Haupt- und Residenzstadt 1. Der Aufstieg Wiens Vindobona Das Wien der Babenberger Die Ankunft der Habsburger Der Herrscher und die Stadt Stärken und Schwächen Stadt am Kreuzungspunkt
17 17 19 22 25 28 31
2. Die Zeit der Gefahren Die Erste Wiener Türkenbelagerung (152p) Der Kampf gegen den Protestantismus Die Gegenreformation Die Zweite Wiener Türkenbelagerung (1683)
37
3. Von der österreichischen Monarchie zum Kaisertum Osterreich (1683—1815) Wien wächst Die BevölkerungWiens Wien als Zentrum der Politik Das Barockzeitalter Wien: deutsche Stadt oder Schmelztiegel der Völker? Der Kampf gegen das revolutionäre Frankreich Napoleons Alltagsleben in Wien
38 40 43 53
59 62 67 68 76 80 85 91
Inhalt : I I
II. Die Donaumetropole (1815-1914) 4. Vom Fest zur Tragödie Hüterin der europäischen Ordnung (1815—1848) Hemmnisse einer Hauptstadt Das revolutionäre Wien Die Restauration der monarchischen Gewalt Hauptstadt des Neoabsolutismus (i8^i-i8;p) Die Schatten von Berlin und Budapest Eine neue politische Landschaft Wien, die ungeliebte Stadt? Finis Austriae
101 101 105 110 113 118 122 126 129 134
5. Mensch und Raum Die Altstadt und die Vorstädte Ein Stadtbild, das ¿lern Rang entspricht Eine moderne Metropole Eine vielfältige Bevölkerung Die Tschechen Die Juden
139 140 146 152 155 157 160
6. Das Herz des monarchischen Systems Die Residenz des Kaisers, des ersten Beamten des Reiches Der Hof Die Armee Eine katholische Hauptstadt Die politische Hauptstadt Der Reichsrat Die Macht in der Gemeinde
165 169 176 180 184 188 190
7. Das wirtschaftliche Zentrum der Monarchie Die Anfange der Industrielandschaft Das Schaufenster des liberalen Osterreich Neue Industrien Der erste Finanzplatz des Reiches Märkte und Kaufhäuser Einige große Unternehmerpersönlichkeiten
197 197 203 209 211 215 218
8. Die Wiener Gesellschaft Die „erste Gesellschaft"
225 226
1 2 : Kaiserliche H a u p t - u n d Residenzstadt
166
Die Wiener Salons Die „zweite Gesellschaft" Das Mäzenatentum des Großbürgertums Das Bildungsbürgertum Die arbeitenden Klassen Ungewisse Lebensbedingungen DieZinskasernen Die Frauen in Wien Das Aufkommen einerfeministischen Bewegung
228 232 237 242 244 246 248 250 255
9. Die Wiege einer neuen politischen Kultur Antiliberale Reaktion Deutschnationalismus und Antisemitismus Eine gemeinsame Entstehung Unter dem Banner der „Vereinigten Christen" Neue Fronten Die christlichsoziale Bewegung Der Aufstieg der Sozialdemokratie Ein Forum jüdischen Denkens
259 261 262 265 271 275 278 282 285
10. Die Freuden des Lebens Veränderung und Kontinuität Vom Ring zum Prater Musik und Tanz Das Theater DerSport
293 293 295 300 308 312
11. Die Kulturmetropole Die Wiener Universität Die Presse Die Zeit des Biedermeier Wohnkultur Die Sprache der Makrei Das Athen der Musik Vielfalt in der Literatur Die liberale Kultur Der Historismus „Glücklich ist, wer vergißt, was doch nicht zu ändern ist" Das Wien des Fin de siecle DieSecession
319 320 330 335 336 338 341 344 348 351 356 361 369 Inhalt :
13
Von Mahler zu Schönberg Rund um Schnitzler
376 380
III. Auf der Suche nach einer neuen Identität 12. Zeit der Prüfungen Hauptstadt einesfragilenStaates Die Hochburg der Sozialdemokratie Letztes Aufflackern Wien, das „erste Opfer" der Nazis
389 389 391 398 399
13. Wien als Hauptstadt eines neuen Osterreich Von der Teilung zur Souveränität Eine Zukunft voller Fragen
405 405 409
Anhang Zeittafel
417
Anmerkungen
421
Literatur
427
Abbildungsverzeichnis
433
Personenregister
437
Ortsregister
445
14 : Kaiserliche Haupt- und Residenzstadt
I. Kaiserliche Haupt- und Residenzstadt
W i e n im 17. Jahrhundert
Kapitel I: Der Aufstieg Wiens
Determinismus spielt zum Teil mit, warum Menschen sich in dem Gebiet um Wien ansiedelten. Die Vorzüge der Natur veranlaßten sie, sich hier niederzulassen. Dieses Potential mußte aber erst ausgeschöpft werden. Ausreichender Grund dafür, daß sich hier ein großes städtisches Zentrum entwickelte, war aber nicht allein, daß sich hier zwei ganz Europa durchziehende Wege, nämlich ein Fluß- und ein Landweg, kreuzten. Wien hätte auch eine unbedeutende Siedlung bleiben können, aber es wurde zur Hauptstadt eines großen Reiches. Des öfteren hätte dem Aufschwung dieser Stadt ein Ende gesetzt bzw. ein solcher verhindert werden können. Damit aus dem bescheidenen römischen municipium die Metropole eines großen Reiches wurde, bedurfte es menschlicher Tatkraft und des Laufs der Geschichte.
VlNDOBONA
Gesamteuropäisch gesehen hat das Wiener Becken eine sehr günstige Lage, liegt es doch am Kreuzungspunkt zweier seit dem Neolithikum benutzter Wege, die zugleich Handels- und Einfallsstraßen waren: die antike „Bernsteinstraße", die vom Baltikum zur Adria führt, und die Donau, die Europa von Ost nach West durchzieht. Regional gesehen profitiert es von seiner geographischen Lage als Ubergangsgebiet zwischen den letzten Ausläufern der Alpen, dem Wienerwald und der Donauebene. Mit der Ankunft der Indoeuropäer tritt das Wiener Becken aus dem Dunkel der Geschichte. Mehrere Völker folgen hier aufeinander bis hin zu den Kelten, den Boiern, denen das benachbarte Böhmen seinen Namen verdankt, und später den Norikern, die dieses Gebiet im i. Jahrhundert besetzen, wie die Errichtung eines oppidum auf dem Leopoldsberg bezeugt. Die Noriker gründen hier sogar ein Königreich. Auch wenn dieses nur über eine sehr lockere Struktur verfügt, markiert es Der Aufstieg W i e n s :
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doch eine neue Etappe in der Organisation dieses Raumes; dem Ansturm der Römer vermag es allerdings nicht standzuhalten. In ihrem Vorstoß nach Osten erreichen die Römer diese Landstriche am Ende der Regierungszeit von Kaiser Augustus und beherrschen das Gebiet nahezu vier Jahrhunderte lang. Hier findet der Determinismus sein Ende. Einige Kilometer ösdich von Wien, genauer gesagt in Carnuntum, einem heute verlassenen Ort, errichten die Römer das Hauptlager ihrer neuen Provinz Pannonien. Erst 70 n. Chr. breitet der römische Adler seine Schwingen über dem heutigen Wien aus. Unter dem keltischen Namen Vindobona wird eine kleine Festung errichtet, deren Aufgabe es ist, den Limes vor den Barbaren zu schützen. Schon damals sieht sich Wien in einer Rolle, die es im Laufe der Geschichte immer wieder spielen sollte: als Grenzstadt. Vindobona wächst rasch. Ein Legionslager wird errichtet, und der Hafen dient den Römern zur Unterbringung einer kleinen Donauflotte. Marc Aurel, der 180 in Vindobona stirbt, fuhrt knapp vor seinem Tod von hier aus einen Krieg gegen zwei das Reich bedrohende germanische Stämme: die Quaden und die Markomannen. Ein klassisches Phänomen in der römischen Welt ist, daß der Präsenz einer Legion der Zuzug einer Zivilbevölkerung folgt. So wird Vindobona neben seiner Funktion als Militärstützpunkt bald auch zu einem Handelszentrum. Als Zeichen des Aufschwungs wird es 212 zum municipium erhoben. Rom hinterließ Wien ein noch heute lebendiges Erbe, den Weinbau, auf dem lange Zeit hindurch ein Teil seiner Wirtschaft fußte. Wie im übrigen Reich begünstigte der Durchzug der Legionen und Händler die Verbreitung orientalischer Religionen, was etwa der Erfolg des Mithraskultes bezeugt. Das Aufkommen des Christentums ist ebenfalls Teil dieses Phänomens. Um 300 taucht es in Pannonien auf und verdrängt allmählich, wie im gesamten Reich, das alte Heidentum und die orientalischen Kulte. Aber schon wächst die Bedrohung durch die Barbaren vor den Toren Pannoniens. Wie Carnuntum geht Vindobona an der Wende zum 5. Jahrhundert in den Wirren der großen Einfälle unter. Von 400 bis 881 scheint sein Name in den Annalen nicht auf. Der Siedlungsraum war aber zweifellos auch in diesen Jahrhunderten bewohnt: Es ist tatsächlich unwahrscheinlich, daß die gesamte keltisch-römische Bevölkerung fortgezogen sein sollte; vor allem aber zogen zahlreiche barbarische Völker wie die Vandalen, Heruler, Ostgoten, Westgoten und Hunnen durch dieses Gebiet. Der Fall Roms setzt diesem Phänomen kein Ende. Von 548 bis 568 ist das Wiener Becken von den Langobarden besetzt, die ihrerseits bald von den Awaren, die sich um 570 in diesem Raum niederlassen, in Richtung Italien vertrieben werden. Das ist der Beginn einer über zwei Jahrhunderte dauernden Herrschaft, in die sich während kurzer Zeit ein slawisches Reich einschiebt. Die neuen Eroberer wählen das alte Vindobona zu einem ihrer Siedlungsgebiete - davon zeugt eine erst vor kurzem im heutigen 19. Bezirk entdeckte Nekropole mit etwa 700 Gräbern. I 8 : Kaiserliche Haupt- und Residenzstadt
Aber das Awarenreich, das zur Zielscheibe Karls des Großen wird, bricht seinerseits in den letzten Jahren des 7. Jahrhunderts unter den heftigen fränkischen Angriffen zusammen. Innerhalb des karolingischen Systems gerät das Gebiet nun in den Einflußbereich der Bayern, was seine Unterwerfung unter die Autorität des Bischofs von Passau im Jahre 829 bestätigt. Im Laufe der Invasionen kommt es im ehemaligen Vindobona zur Uberschichtung verschiedener Bevölkerungsgruppen. Wien unterstreicht damit schon sehr früh seine Berufung, verschiedene Völker aufzunehmen und einzugliedern. Von Anfang an ist dieser Pluralismus ein Merkmal seiner Identität. Ein Beweis dafür ist auch sein oftmaliger Namenswechsel: Aus Vindobona wird zunächst Vedunia, eine keltisch-lateinische Form, die wir in Varianten in den verschiedenen slawischen Sprachen wiederfinden (so beispielsweise das tschechische Vi den), aus Vedunia dann Wenia, von dem sich der heutige Name Wien ableitet.
D A S W I E N DER B A B E N B E R G E R
Das Jahr 1156 bedeutet für Wien eine Art Wiedergeburt: Es wird zum Zentrum einer politischen Einheit und übernimmt eine Funktion, die es in unterschiedlicher Form nahezu ohne Unterbrechung bis heute innehaben sollte. Die 970 von Otto dem Großen gegründete Donaumark umfaßt das Wiener Becken zunächst nicht. Eigendich handelt es sich hierbei um eine Wiedergründung, denn die von Karl dem Großen als Vorposten des Reiches errichtete Ostmark war unter dem Ansturm der Barbaren Ende des 9. Jahrhunderts mit dem gesamten Ostfrankenreich untergegangen. Wien taucht in den Annalen erst wieder im Zusammenhang mit einem Aufeinandertreffen fränkischer und magyarischer Streitkräfte apudWeniam auf. Mehrere Jahrzehnte hindurch ist das Schicksal dieser Gebiete ungewiß. Aber nach dem Sieg auf dem Lechfeld im Jahre 955, mit dem die Magyaren jenseits der Leitha nach Pannonien zurückgedrängt werden, beginnt Otto der Große, nachdem er 962 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches geworden war, mit der Neuordnung dieses Raumes. Die Ottonische Mark wird nun Markgraf Leopold I., einem fränkischen Adligen und Gründer der babenbergischen Dynastie, zu Lehen gegeben und soll das deutsche Königreich vor den Angriffen der slawischen Völker und der Magyaren schützen. Mit ihrer zunehmenden Ausbreitung nach Osten schiebt sich ihre Grenze allmählich auf Wien zu und erreicht 985 den Wienerwald. Unter Leopold III. werden ihr 1030 Wien und seine Umgebung einverleibt. Zur gleichen Zeit verlegen die Babenberger ihre Residenz nach Osten, zuerst nach Melk (984), dann nach Tulln (1050) und später nach Klosterneuburg (1106). 1156 schließlich läßt sich Herzog Heinrich II. in Wien nieder. Der Aufstieg Wiens :
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Es dauert eine Zeitlang, bis dieses neue politische Gebilde seinen endgültigen Namen erhält. 996 scheint in einer Urkunde die Bezeichnung Ostarrichi auf, von der sich später der Name Österreich ableiten sollte. Aber einstweilen wird diese Bezeichnung nur als Übersetzung für oriens (Osten) verwendet. Auch wenn in offiziellen lateinischen Urkunden noch die Formel marchia orientalis (Ostmark) vorkommt, so setzt sich doch zunehmend der Name Austria durch. 1147 belegt, leitet er sich wahrscheinlich von den fränkischen und langobardischen Bezeichnungen für den östlichen Teil des Reiches ab (Auster, Austrasia). Ein weiteres wichtiges Vermächtnis der Babenberger ist, daß Österreich ihre Wappenfarben Rot und Weiß übernahm. 1156 kommt es auch zu einer anderen Initiative, die es für die Babenberger durchaus sinnvoll erscheinen läßt, ihre Residenz nach Wien zu verlegen. In diesem Jahr verkündet Kaiser Friedrich Barbarossa das Privilegium Minus, mit dem die Ostmark zu einem Herzogtum erhoben wird, das den Namen Österreich tragen soll. Im Unterschied zum Salischen Gesetz wird festgelegt, daß die Heizogswürde sich auch in weiblicher Linie vererbt. Wien ist damit nicht mehr das Zentrum einer einfachen Markgrafschaft, sondern wird zur Hauptstadt eines aus dem bayerischen Lehensverband gelösten Herzogtums. In der Folge dieser Erhebung dauert es auch nicht lange, bis die Babenberger ihren Machtbereich erweitern. 1192 wird die Steiermark dem Herzogtum Österreich einverleibt, das damit an Gewicht und Einfluß auf der politischen Karte des Reiches gewinnt. Schon ab diesem Zeitpunkt zeichnet sich auch eine andere Tatsache ab, deren Konsequenzen sich erst im Laufe der Jahrhunderte zeigen sollten, und zwar die Randlage des Herzogtums in bezug zum Rest Deutschlands. Obwohl ein Teil des Heiligen Römischen Reiches, sollte es weder seine Interessen noch sein Engagement auf dieses beschränken. Die damals erst in Ansätzen vorhandene herzogliche Verwaltung hat ihren Sitz natürlich in Wien, wo sich um die Babenberger ein glänzender Hof entwickelt; daran erinnert noch heute der in der Wiener Innenstadt liegende Platz Am Hof. Hier werden regelmäßig Turniere und Feste abgehalten, wie beispielsweise anläßlich des Besuches von Friedrich Barbarossa im Jahre 1165. Der babenbergische Hof wird bald zu einem kulturellen Zentrum des deutschen Raumes, einem Anziehungspunkt für die berühmtesten Minnesänger, unter ihnen Reinmar von Hagenau, der die französische Form der höfischen Lyrik hier einfuhrt, der Tannhäuser - jener legendärer Held der volkstümlichen Minne - und der berühmteste aller Minnesänger, Walther von der Vogelweide, den Herzog Leopold V. von 1190 bis 1198 nach Wien holt. Unter der Schirmherrschaft der Babenberger blüht in Wien der Handel. Dies bezeugt auch die Ausweitung der Handelsbeziehungen bis nach Venedig, das ihm die Tore zum Orient öffnet. Vor allem aber verdrängt Wien Regensburg und sichert sich allmählich eine beherrschende Stellung im Handel mit Ungarn. Das 1221 von 20
: Kaiserliche Haupt- und Residenzstadt
Die Hofburg 1279
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Stadtmauer und Hofburg um 1420
Der Aufstieg Wiens : 2 1
Leopold VI. seiner Stadt gewährte Stapelrecht macht den Weg frei zum wirtschaftlichen Aufschwung. Kaufleute aus dem süddeutschen Raum müssen nun in Wien haltmachen und ihre Waren zuerst den Wiener Händlern anbieten. Dies verleiht dieser Stadt im Handel mit Ungarn (Salz, Tuch und Leinen nach Ungarn, Honig, Leder und Felle aus Ungarn) eine entscheidende Vorrangstellung. Die solcherart erzielten Gewinne kommen den Wiener Händlern und darüber hinaus auch der Stadt zugute. Der Wohlstand beruht auch auf dem Weinhandel, dem wichtigsten lokalen Produktionszweig. Weingärten überziehen die Hügel im Nordwesten und Süden Wiens, und die Namen berühmter Orte wie Grinzing, Gumpoldskirchen, Mödling scheinen schon damals in verschiedenen Urkunden auf. Das Wachstum Wiens spiegelt diesen Aufschwung wider. Es ist nun nicht mehr der kleine Marktflecken, der vor der Ankunft der Babenberger lediglich zwei Drittel des antiken Vindobona umfaßte. Innerhalb der Befestigungsmauern mit ihren sechs Toren und 19 Türmen umfaßt die Stadt ein Gebiet, das dem heutigen 1. Bezirk entspricht. Mit seinen etwa 20.000 Einwohnern und rund 1.000 Häusern ist Wien nach Köln die zweitgrößte Stadt des deutschen Raumes. Seine 21 Kirchen und Kapellen sind ein weiteres Zeichen seines Wachstums. Auch die Dörfer rund um Wien werden immer größer und entwickeln sich zu Vorstädten.
D I E A N K U N F T DER
HABSBURGER
Der Tod Friedrichs des Streitbaren und das Erlöschen der Dynastie der Babenberger im Jahre 1246 hätten diesen Aufschwung eindämmen können. Es beginnt eine Zeit der Unbeständigkeit, die sich nach 1250 mit dem Tod Friedrichs II., dem Erlöschen des Geschlechts der Hohenstaufen und dem folgenden Interregnum weiter zuspitzt. Wien wird zum Streitobjekt zweier starker Persönlichkeiten: Ottokar II. von Böhmen und Rudolf von Habsburg. 1251 berufen die österreichischen Stände Ottokar, den Erben der Krone des heiligen Wenzel, an die Spitze des Herzogtums. Zwei Jahre später wird er König von Böhmen und vereint unter seiner Macht ein großes Gebiet, das sich von Böhmen bis zur Adria erstreckt und bereits die zukünftige österreichische Monarchie vorzeichnet. Mit dem Unterschied allerdings, daß dessen Zentrum Prag und nicht Wien ist, auch wenn Ottokar mit dem Beginn der Errichtung einer Burg, der Wiener Hofburg, unterstreicht, welche Bedeutung er der Stadt beimißt. Rudolf von Habsburg, der Gründer der Dynastie, vertritt eine andere Linie. Seine Familie stammt aus dem Aargau, er hat Besitzungen am Oberrhein, ist aber am Reich gemessen ein Adliger von eher bescheidenem Rang. Aus ebendiesem Grund wird er nach einem Interregnum von 23 Jahren von den Lehensträgern im Oktober 1273 zum deutschen König gewählt. Denn er ist mächtig genug, um die2 2 : Kaiserliche H a u p t - u n d Residenzstadt
sen Titel zu tragen, aber auch nicht zu mächtig, um für die Lehensträger eine Gefahr zu bedeuten. Außerdem müssen sie nicht befurchten, daß er sich wie einst Friedrich Barbarossa und Friedrich II. zum Schaden der deutschen Interessen in italienische Unternehmungen stürzt. Rudolfs erste Aufgabe besteht darin, die Macht Ottokars zu brechen, dessen Erfolge hohe Ambitionen erwarten lassen. Um dieses Ziel zu erreichen, muß er auch gegen Wien vorgehen, das sich auf die Seite seines neuen Herrn schlägt und erst nach mehrmonatiger Belagerung kapituliert. Zu früh zerschlägt sich Ottokars Traum, als er in der Schlacht am Marchfeld am 26. August 1278 vom Heer seines Gegners besiegt und getötet wird. Aus historischer Sicht ist Ottokar posthum Rache vergönnt. Das Schicksal wollte es, daß Rudolf in dem Augenblick, in dem er seinen Gegner tötete, Österreich seinen Besitzungen einverleibte und damit seinen Nachfahren die Mittel in die Hand gab, ihrerseits dieses Unterfangen wiederaufzunehmen. Die Verankerung der Habsburger im Donauraum, weit entfernt von ihren oberrheinischen Stammbesitzungen, erweckt in ihnen neue Ambitionen. Der Sieg Rudolfs besiegelt die enge Verbindung zwischen den Habsburgern und Wien, es wird zu ihrer Residenzstadt, und mehr als sechs Jahrhunderte hindurch sollten ihrer beider Schicksale unauflöslich miteinander verbunden sein. Die Krone bleibt jedoch nicht lange in der Familie der Habsburger. 1308, nach dem Tod Albrechts I., dem ältesten Sohn Rudolfs, fällt sie an die Luxemburger. Dieser Mißerfolg sollte jedoch langfristig gesehen positive Auswirkungen haben. Vorübergehend der königlichen Pflichten enthoben, können sich die Habsburger auf ihre Erblande konzentrieren und dort ihre Macht festigen. Die Niederlagen, die sie in der Schweiz, aus der sie schließlich Anfang des 15. Jahrhunderts vertrieben werden, hinnehmen müssen, bestärken sie in ihrer Entscheidung, sich auf den Donauraum zu konzentrieren. Gleichzeitig nehmen sie jede sich bietende Gelegenheit wahr, um ihre Besitzungen durch neue Territorien zu vergrößern. 1335 erwerben sie Kärnten und die Krain, 1363 Tirol und 1382 Triest, was sie in den adriatischen Raum bringt. Von großer Bedeutung in dieser Wachstumsphase ist die, wenn auch nur sieben Jahre dauernde, Regierungszeit Rudolfs IV. (1358-1365). Gerade erst 2ojährig, läßt Rudolf als Antwort auf die Goldene Bulle, in der Karl IV. von Luxemburg die Modalitäten der Königswahl festgelegt hat, ohne den Herzog von Österreich unter die Kurfürsten aufzunehmen, mehrere Fälschungen von Urkunden unter dem Namen Privilegium Maius zusammenfassen. Darin wird dem Herzog von Österreich der Titel Erzherzog zugebilligt und dem Herzogtum durch die Befreiung von den lehensrechtlichen Verpflichtungen praktisch die Unabhängigkeit vom Kaiser eingeräumt. Die Proklamation der Einheit der Besitzungen der Habsburger läuft in dieselbe Richtung. Erstmals wird damit die Existenz einer Einheit, des dominium Austriae, bestätigt, die über den konstituierenden Teilen steht. Seiner Logik folgend, D e r Aufstieg W i e n s : 2 3
Stephansdom im 18. Jahrhundert
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: Kaiserliche Haupt- und Residenzstadt
trifft der junge Herrscher die Entscheidung, daß der Erzherzog von Österreich in Hinkunft königliche Insignien tragen soll. Und schließlich wird die Nachfolge auf Grundlage der Primogenitur festgelegt und die Möglichkeit der weiblichen Erbfolge bestätigt. Wie vorherzusehen verweigert Karl IV. diesem Gewaltstreich die Anerkennung. Erst 1453 sollten diese Ansprüche von Friedrich III., der als erster Habsburger zu kaiserlichen Würden aufsteigt, bestätigt werden. Die Absicht aber ist klar: Mit dem Privilegium Maius macht Rudolf IV. die Ambitionen seines Hauses mehr als deutlich. Diese werden durch eine Reihe von Maßnahmen und Initiativen unterstrichen, die darauf abzielen, Wien als Gegenpol zu Prag, der damaligen kaiserlichen Residenzstadt, zu entwickeln. Die Gründung der Wiener Universität im Jahre 1365 ist eindeutiger Ausdruck eines politischen Willens. Auch wenn sie anfangs noch nicht über eine theologische Fakultät verfugt, ist die Alma mater Rudolphina doch eine Konkurrenz zu der 17 Jahre zuvor von Karl IV. gegründeten Prager Universität, der bis dahin einzigen im mitteleuropäischen Raum. Ebenfalls um mit Prag zurivalisieren,entscheidet sich Rudolf IV. für die Vergrößerung der Stephanskirche, die mit ihrem neuen, großen Kirchenschiff und ihrem Turm jedem Vergleich mit dem Veitsdom in Prag standhalten soll. Rudolf hat übrigens die Absicht, St. Stephan bald zur Kathedrale zu erheben, er scheitert jedoch wie Herzog Leopold VI. zu Beginn des 13. Jahrhunderts daran, Wien aus dem Diözesanverband des Erzbischofs von Passau zu lösen. Auch wenn es Rudolf nicht gelingt, seine Residenz zum Sitz einer neuen Diözese zu erheben, ist dieser Weg doch vorgezeichnet. Im übrigen kann er sich insofern zu einem Erfolg beglückwünschen, als Papst Innozenz VI. die von Albrecht I. in der Hofburganlage errichtete herzogliche Kapelle zur Kollegiatskirche erhebt. Die Hofburg, ein großes, durch Ecktürme befestigtes Vierwerk, dessen Bau nach der Niederlassung der Habsburger in Wien in Angriff genommen wurde, hat eine doppelte Funktion: zum einen dient sie dem Herrscher, seiner Familie und dem Hofstaat als Residenz; zum anderen muß sie ihn auch vor den Angriffen durch Feinde von außen sowie vor eventuellen Aufständischen in der Stadt beschützen. Wiederholt verdanken die Habsburger der Hofburg ihre Rettung.
D E R H E R R S C H E R UND DIE STADT
Das Schicksal Wiens ist in Hinkunft eng mit dem seiner Herrscher, deren Erfolgen und Niederlagen, verbunden, vor allem aber ist es von deren Willen abhängig. Bis auf ein kurzes Zwischenspiel (1485—1490), als es dem ungarischen König Matthias Corvinus in die Hände fällt, bleibt Wien unter der Oberhoheit der Habsburger, die langsam, aber sicher ihre Vorherrschaft über die Stadt festigen. Der Aufstieg Wiens : 25
Zwei Anlässe hätten fiir die Geschichte Wiens beinahe eine Wende in ihrem Lauf bedeutet. 1237 erhob Friedrich Barbarossa, der mit dem Babenbergerherzog Friedrich II. in Streit lag, Wien zur freien Reichsstadt. Doch schon drei Jahre später, gleich nachdem Friedrich II. mit dem Kaiser Frieden geschlossen hatte, wurde dieser inzwischen zwecklos gewordene Erlaß zurückgenommen. Eine zweite Möglichkeit bot sich 1278, als Rudolf am Vorabend der Schlacht am Marchfeld Wien wiederum die Reichsunmittelbarkeit einräumte, die allerdings nicht einmal zehn Jahre andauerte. Schon nach der ersten Krise, in der sich die Stadt gegen ihn stellte, beeilte sich Albrecht I., diesen Status wiederaufzuheben. In beiden Fällen müssen wir in der Verleihung der Reichsunmittelbarkeit eine Maßnahme sehen, die auf besondere Umstände zurückging. Rudolfs Großzügigkeit hatte einzig zum Ziel, Wien von Ottokar loszureißen. Von den Vorbereitungen fiir den Krieg diktiert, verschwand dieses Statut nach dem Wegfall der Gründe fiir seine Verleihung wieder. Diese Verleihungen der Reichsunmittelbarkeit fügten sich in die Grundtendenzen dieser Epoche, die in Richtung einer Stärkung des Einflusses des Herrschers auf die Stadt gingen. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, waren die Beziehungen zwischen Herrscher und Stadt oft von Konflikten gekennzeichnet, und die zahlreichen Krisen, in denen sie einander als Gegner gegenüberstanden, waren auch ein Zeichen des Widerstands der Stadt gegenüber einer Beschneidung ihrer Autonomie. In diesem Kampf fanden die Wiener Verbündete in dem Adel der Erblande, dessen Ablehnung einer Erweiterung der fürstlichen Macht in den Ständen zum Ausdruck kam. Schon gegen den Babenberger Friedrich II. hatte Wien sich aufgelehnt, später stellte es sich auf die Seite Ottokars. Auch die Habsburger haben immer wieder mit Wogen des Unmuts zu kämpfen. Albrechts Weigerung, die von Rudolf 1287 zugestandene Reichsunmittelbarkeit zu bestätigen, löst eine Welle der Empörung aus. Zwei Jahrhunderte später sind die Beziehungen Friedrichs III., der 1452 die Kaiserwürde fiir die Habsburger gewinnen kann, zu Wien sehr gespannt, das sich wiederholt auf die Seite seiner Gegner stellt. Wien läßt ihn diese Feindseligkeit auch dadurch spüren, daß es Albrecht IV., Friedrichs Gegenspieler aus der eigenen Familie, unterstützt. Von 1458 bis 1464 kommt es immer wieder zum Auflodern dieses Konfliktes. Zwar vermag sich Friedrich III. durchzusetzen, nachdem er zuvor nur knapp dem Schlimmsten entronnen war, als er und seine Familie 1464 in der Hofburg eingeschlossen und belagert wurden. Es ist indes nur ein Waffenstillstand, denn schon bald taucht in der Person Matthias Corvinus' ein neuer Gegner auf. Und wieder wendet sich Wien von seinem Herrscher ab; nach der Einnahme der Stadt im Jahre 1485 kann Matthias Corvinus auf breite Unterstützung zählen. Kurz nach seinem Tod im April 1485 kommt Wien wieder unter die Herrschaft der Habsburger. Im Namen seines Vaters zieht Erzherzog Maximilian im August desselben Jahres wieder in die Stadt ein. Es sieht so aus, als ob sich die Lage normalisieren würde, aber dieser Schein trügt, denn noch schwelt das Feuer unter der Asche.
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All diese Spannungen und Konflikte zwischen dem Herrscher und der Stadt haben einen gemeinsamen Grund, und das ist der Wille der Wiener, ihre Selbständigkeit gegenüber der fürstlichen Macht zu verteidigen. Erst nach langem Widerstand unterwerfen sie sich letzten Endes der Autorität des Herrschers. Zwischen 1519 und 1522 liefert Wien seine letzte Schlacht: Als Reaktion auf das Statut, mit dem Kaiser Maximilian zwei Jahre zuvor, kurz vor seinem Tod, die Abgabenfreiheit der Stadt stark eingeschränkt hatte, verbündet Wien sich mit dem österreichischen Adel gegen seinen neuen Herrscher, Erzherzog Ferdinand I. All diese Konflikte aber bringen keinen Umschwung. Das schrittweise Verschwinden der städtischen Freiheiten zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte Wiens. Den meisten Krisen folgt sogar eine Stärkung des Einflusses des Herrschers auf die Stadt. Nachdem Ferdinand I. den Aufstand in Wien niedergeschlagen und dessen Anführer, darunter Bürgermeister Martin Siebenbürger, enthaupten hatte lassen, erließ er im März 1526 jenes Statut, das der Stadt endgültig ihre Autonomie nahm. Angesichts der mitspielenden Interessen lagen diese Auseinandersetzungen in der Natur der Sache. Nur schwerlich konnte man sich einen Herrscher - zunächst den Herzog, dann den Kaiser — vorstellen, der seiner Residenzstadt Rechte einräumte, bei denen er Gefahr lief, daß sie sich gegen ihn wenden könnten. Mehrere Phasen kennzeichnen diese Entwicklung. Nach Aufhebung der Reichsunmittelbarkeit erhält Wien von Albrecht I. ein neues Statut. In diesem wird dem Herzog ein Kontrollrecht über die Zusammensetzung des Stadtrates eingeräumt und die Macht des Stadtrichters ausgeweitet, dem nun unter anderem die Aufgabe zufällt, den Bürgermeister und seine Beamten zu überwachen. Ein Jahrhundert später schränkt Albrecht IV. die Macht des grundbesitzenden hohen Bürgertums ein, das in der Wiener Gesellschaft bis dahin das Monopol der politischen Führung innehatte. Von nun an muß es dieses mit den Kaufleuten und Handwerkern teilen. Nach dieser Reform wird die Stadt von einem aus 18 Mitgliedern bestehenden Rat verwaltet, in dem alle drei Gruppen paritätisch vertreten sind. Diese Einschränkung der Macht des Bürgertums gibt dem Herzog einen größeren Handlungsspielraum und erweitert gleichzeitig die Basis seiner Macht. Maximilian, der den Wienern niemals verzieh, daß sie sich einst gegen seinen Vater aufgelehnt hatten, bestärkt im 16. Jahrhundert die landesfürstliche Autorität, und sein Enkel Ferdinand I. setzt der städtischen Unabhängigkeit endgültig ein Ende. Die Wiener werden mit Gewalt zum Gehorsam gezwungen, und mit der Verordnung aus dem Jahre 1526 wird die Verwaltung der Stadt in die Hände des Herrschers gelegt, der sie nach dem Leitspruch „divide et impera'm drei Körperschaften gliedert. Durch die Machtverteilung wird es unmöglich, sich dem Willen des Landesfürsten zu widersetzen. Weiters kann der Bürgermeister sein Amt erst Der Aufstieg Wiens : 2 7
nach Bestätigung seiner Wahl durch den Herrscher antreten, d. h. der Herrscher verfugt über ein Vetorecht, das ihm den Gehorsam des höchsten Beamten der Stadt sichert. Die Habsburger setzen alles daran, dieses Vorrecht bis zum Ende der Monarchie beizubehalten. Die Verordnung von 1526 ist das Ergebnis einer Entwicklung, durch die Jahrhunderte hindurch die städtischen Freiheiten nach und nach eingeschränkt wurden. Spätere Herrscher sollten dieses Werk vollenden, aber der entscheidende Schritt war getan. Die Machtverhältnisse hatten sich endgültig gewandelt, auch wenn die Stadt einen gewissen Anschein an Autonomie bewahrte. Mit Ferdinand I. beginnt für Wien das Zeitalter des Absolutismus.
STÄRKEN UND
SCHWÄCHEN
Wien erlebt einen großen Aufschwung und wird von allen bewundert, die in die Stadt kommen. Seine Schönheiten und seine Opulenz beeindrucken jeden. Sogar die Italiener, die allen Grund hätten, überheblich zu sein, sparen nicht mit Lob: ,Wien gehört gewiß unter die schönsten Städte der Barbaren", schreibt Antonio de Bonfini, der Geschichtsschreiber Matthias Corvinus', Ende des 15. Jahrhunderts.1 Sein Glanz wird durch den Charme der landschaftlichen Umgebung noch verstärkt, wo einander Natur und Menschenhand ergänzen: „Sie liegt in einem Halbmond an der Donau und gleich als strebte dies mächtige Wasser, der Stadt zu desto größerer Zierde zu sein, bildet es Werder und Inseln, darin viele schöne Gärten mit herrlichen Fruchtbäumen die Bürger erlustigen, zu Gastmahlen und zu Tänzen einladen und die Freude der Jugend sind." Wenn man einmal die befestigte Stadtmauer durchschritten hat, so ist der Eindruck ebenso groß: „Die eigentliche Stadt", so Bonfini ganz begeistert, „liegt wie ein Palast inmitten der sie umgebenden Vorstädte, deren mehrere an Schönheit und Größe mit ihr wetteifern." Enea Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius II., ein Vertrauter Kaiser Friedrichs III., hinterließ uns eine ebenso begeisterte Beschreibung von Wien im 15. Jahrhundert, in der er einige Punkte hervorhebt, die die Entwicklung der Residenzstadt der Habsburger aufzeigen. Da ist zunächst die Pflasterung der Straßen mit Steinen, die dem Gewicht der in der Stadt bereits zahlreichen Wagen und Fuhrwerke standhalten. Die Wohnhäuser verblüffen ihn sowohl durch ihre Größe und als auch durch ihren Komfort. Sie sind aus Stein gebaut und haben oft hohe, mit Malereien verzierte Fassaden. Auch das Innere entspricht seinem ersten Eindruck: ,Wenn man irgend jemandes Haus betritt, meint man in das eines Fürsten zu treten." Glasfenster und eiserne Türen schützen vor den Unbilden des Klimas. Im Inneren gibt es mehrere und daher leichter beheizbare Zimmer, und die Wände sind mit Bildern und Malereien geschmückt. Die Menge an Lebensmitteln, die die Wiener verschlingen, verblüfft Piccolo-
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mini: „Es ist kaum zu glauben", schreibt er, „wieviel Lebensmittel Tag für Tag in die Stadt gebracht werden. Viele Wagen mit Eiern und Krebsen langen ein. Mehl, Brot, Fleisch, Fische, Geflügel werden in gewaltigen Mengen zugeführt; und doch, sobald der Abend anbricht, bekommt man von diesen Sachen schon nichts mehr zu kaufen." Der Wein hat einen besonderen Stellenwert: „Die Zeit der Weinlese dauert vierzig Tage; dreihundert mit Weintrauben beladene Wagen fahren täglich zwei- oder dreimal in die Stadt ein; zwölfhundert Pferde spannt man täglich an, um die Weinernte einzubringen. [...] Es ist nicht zu sagen, welche ungeheure Menge Wein eingefahren wird, die teils in Wien selbst getrunken, teils die Donau aufwärts ins Ausland unter großen Mühen versandt wird." 2 Solche Mengen lassen auch eine sehr große Lagerkapazität vermuten. In der Tat besitzen die meisten Häuser so tiefe und weidäufige Keller, daß das unterirdische Wien kaum weniger ausgedehnt ist als die oberirdische Stadt. Diese Ausführungen machen deudich: Wien verfügt über eine Weinkultur mit all den Auswirkungen, die eine solche üblicherweise auf Mentalität und Verhalten hat. Man kann durchaus sagen, daß die Wiener keinen übertriebenen Hang zur Askese haben! Immer wieder verblüfft die Lebenslust der Bevölkerung all jene, die sich vorübergehend in der Hauptstadt der Donaumonarchie aufhalten. Piccolomini unterstreicht die wirtschafüiche Bedeutung des Weinhandels für die Wiener Wirtschaft. Hier sei hinzugefügt, daß der Wein eine beträchtliche Einnahmequelle für die herzoglichen Finanzen darstellte, wurde doch der in Wien verkaufte Wein mit zehn Prozent besteuert. Für den Aufschwung Wiens gibt es noch weitere Anzeichen, auch wenn es sich erst 1469 aus dem Passauer Diözesanverband zu lösen vermag; es wird Sitz einer Diözese, die allerdings noch kaum über die Stadtgrenze hinausreicht. Aber schon viel früher begann die Stadt neben ihrer Entwicklung zur politischen Hauptstadt ihre Funktion als religiöses Zentrum zu festigen. Im 14. und 15. Jahrhundert, der Blütezeit der Gotik, entstehen hier zahlreiche neue religiöse Bauten. Abgesehen von den vielen Kirchen, die später „barockisiert" wurden, sind Maria am Gestade und andere Kirchen verschiedener Orden (Augustiner, Karmeliter, Minoriten) als Zeugen dieser Epoche erhalten geblieben. Nachdem Rudolf IV. mit dem Umbau der Stephanskirche begonnen hatte, zogen sich die Bauarbeiten über das ganze 15. Jahrhundert hin. Erst Anfang des 16. Jahrhunderts zeigt sich die Kirche in ihrer heutigen Gestalt. Aber schon 1433 ragt die 136 Meter hohe Silhouette des Südturmes, von den Wienern liebevoll Steffi genannt, in den Himmel und kündet den Reisenden das Herannahen der Stadt. Für Adalbert Stifter, der Mitte des 19. Jahrhunderts eines der schönsten Bücher über Wien geschrieben hat, ist der Steffi wie eine Pappel, die — je deudicher sich die Umrisse der Stadt abzeichnen - deren Mittelpunkt bildet. Eine andere Gründung Rudolfs, die Universität, wächst rasch und gewinnt zunehmend an Bedeutung. 1384 erhält sie eine theologische Fakultät und zieht eine
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wachsende Zahl von Studenten an, 1400 waren es 300, hundert Jahre später sind es bereits mehr als tausend. Der hohe Anteil an ausländischen Studenten zeugt von der Bekanntheit der Alma mater Rudolphina. Entsprechend dem mittelalterlichen Vorbild steht die Theologie im Mittelpunkt. Ihren Ruf verdankt die Universität aber auch der in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts von Johann von Gmunden, Georg von Peuerbach und Johann Regiomontanus gegründeten berühmten Astronomieschule. Galazzeo von Padua und sein Schüler Johann Aygel ihrerseits eröffnen durch die Einfuhrung des Sezierens der Anatomie neue Wege. Die Wiener Universität zählt zu den bedeutendsten Zentren des Humanismus in der deutschsprachigen Welt. Die bekanntesten Wiener Humanisten wie Konrad Celtis, Johann Spießheimer-Cuspinian oder Wolfgang Lazius lehren hier. Aber auch die Landesfursten spielen eine wichtige Rolle, denn sie sind es, die die meisten von auswärts kommenden berühmten Humanisten nach Wien geholt haben. So den aus Franken stammenden Konrad Celtis, der sich auf Einladung Maximilians hier niederläßt; oder Johann Spießheimer-Cuspinian, der nach seinem Studium in Leipzig und Würzburg ebenfalls von Maximilian entdeckt wird; Wolfgang Lazius, der einzige gebürtige Wiener, hat als Leibarzt von Ferdinand I. sowie als dessen Hofhistoriograph und Kurator der kaiserlichen Sammlung eine wichtige Funktion. Ganz nach humanistischem Ideal glänzen diese Gelehrten in mehreren Wissensbereichen, und diese Vielfalt finden wir auch in der ersten in Wien gegründeten Akademie, der Sodalitas Danubiana, die 1497 auf Initiative von Konrad Celtis gegründet wird, der sich damit einen europaweiten Ruf sichert. Aber natürlich gibt es auch Schattenseiten: Zwei Jahrhunderte lang wächst die Einwohnerzahl Wiens kaum. Ende des 15. Jahrhunderts sind es immer noch dieselben etwa 20.000 Einwohner, gleich viele demnach wie unter den Babenbergern, bevor Wien unter habsburgische Herrschaft kam. Diese Stagnation läßt sich vor allem durch die Katastrophen erklären, die die Stadt und deren Bevölkerung regelmäßig heimsuchten. Wie viele andere mittelalterliche Städte wird auch Wien wiederholt durch Feuer zerstört: so im Dezember 1326, als zwei Drittel der Stadt verwüstet wurden. Dazu kommt die ständige Überschwemmungsgefahr, sobald die Donau oder ihr Zufluß, die Wien, aus ihrem Flußbett treten. Außerdem ist die Bevölkerung schwierigen Zeiten ausgesetzt, wie Hungersnöten, die eine im damaligen wirtschaftlichen System fast natürliche Folge von schlechten Ernten waren. Nicht zu vergessen sind auch die Epidemien, die die Zeitgenossen mit dem Überbegriff „Pest" bezeichneten und die die Stadt verheerten. Durch den Erlaß von 1533, der es verbot, Unrat und Abfälle auf die Straßen zu werfen, versuchten die Behörden diese Epidemien zu verhindern oder zumindest ihre Ausbreitung einzudämmen. Nicht bedacht jedoch wird zum Beispiel, daß Friedhöfe inmitten in der Stadt, in der Nähe der Kirchen, die Verbreitung dieser Krankheiten begünstigen. Der Schrecken des Mittelalters, der „Schwarze Tod", suchte Wien immer wieder heim. Am schlimm-
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sten war es, wenn all diese Plagen gemeinsam auftraten und ihre tödliche Wirkung dadurch verstärkten. So etwa zwischen 1338 und 1349, als auf eine Hungersnot (1338) mehrere Überschwemmungen (1340 und 1342), dann ein Erdbeben (1348) und schließlich eine verheerende Pestepidemie (1349) folgten. Diese Katastrophenserie war sicher auch der Ausgangspunkt für den wirtschaftlichen Niedergang Wiens ab Anfang des 15. Jahrhunderts. Politische Unruhen in der Folge von Streitigkeiten, die die Habsburger schließlich in zwei Lager spalteten, trugen das Ihre dazu bei. Die Krise äußert sich durch einen starken Rückgang des Handels mit Süddeutschland, der selbst durch die intensiveren Geschäftsbeziehungen mit Italien und Venedig nicht wettgemacht werden kann. Erschwerend kommt hinzu, daß Wien zunehmend seine Rolle als Drehscheibe des mitteleuropäischen Handels einbüßt. Der größte Teil des Handelsaustausches mit Ungarn wird nach Preßburg umgeleitet, und das Weingeschäft geht immer mehr an deutsche Händler verloren. Wien ist auch das Opfer der Willkür des Kaisers. 1515 entzieht Maximilian der Stadt das Stapelrecht, auf das sich ihr Wohlstand zum Großteil begründete. Verantwortlich dafür ist vermudich seine Verbitterung gegenüber jener Stadt, die sich einst seinem Vater entgegengestellt hatte. Es ist aber von seiner Seite her auch eine Art, sich seinen Gläubigern gegenüber - den süddeutschen Bankiers, die seine Unternehmungen in Italien finanzierten und sich nicht gerne dem Wettbewerb mit Wien ausgesetzt sahen — erkenntlich zu zeigen. Diese Entscheidung beschleunigt den schon ein Jahrhundert zuvor begonnenen Prozeß, Wien wirtschaftlich gesehen in die zweite Reihe zurückzudrängen. Hier gab es niemals so mächtige Geldleute wie zum Beispiel die Fugger oder die Welser in Augsburg; um 1400 hatte Wien ein Geschäftsvolumen, das jenem von Augsburg annähernd gleichkam, Anfang des 16. Jahrhunderts aber betrug es nur mehr ein Zwanzigstel des in der Fuggerstadt registrierten Volumens.
S T A D T AM K R E U Z U N G S P U N K T
Z u Beginn des 16. Jahrhunderts stellt sich für Wien die Frage: Würde es nun zur Donaumetropole aufsteigen, oder würde dieser Aufstieg gebremst, vielleicht sogar gestoppt? Sein Schicksal lag immer mehr in den Händen seiner Landesfursten, war aber auch eng mit der internationalen Konstellation verbunden. Der Aufstieg Wiens zur Donaumetropole setzte die Bildung eines politisch geeinten mitteleuropäischen Gebietes voraus. Ottokar hatte den Weg gewiesen, als er Böhmen und einen Teil der österreichischen Länder vereinigte, ein Verband, der aber nach seinem Tod wieder zerfiel; außerdem war Wien auch nicht als dessen Mittelpunkt vorgesehen gewesen. Die Habsburger hatten diese Idee zweifellos nicht aufgeDer Aufstieg Wiens : 3 1
geben, aber wohl wissend, daß die Zeit dafür noch nicht reif war, bemühten sie sich zunächst, ihre Macht zu festigen und ihr Herrschaftsgebiet weiter auszudehnen. Die Einigungsbestrebungen werden von Albrecht V. wiederaufgegriffen, der 1438 die österreichischen Länder, Böhmen und Ungarn unter der Autorität eines einzigen Herrschers vereint. Diese Länder sollten später das Kerngebiet der Donaumonarchie bilden. Die Wahl Albrechts zum deutschen König bestärkt die Hoffnung Wiens, diesmal Zentrum dieses geeinten Gebietes zu werden. Sehr bald aber zeigen sich die Schwächen und Unbeständigkeiten dieses Unterfangens. Der Tod Albrechts im darauffolgenden Jahr gefährdet sein Werk, und sein Sohn Ladislaus versucht mehr recht als schlecht, die Einheit aufrechtzuerhalten, die jedoch mit seinem Tod zerbricht. Der Ungarnkönig Matthias Corvinus nimmt die Einheitsbestrebungen von seiner Warte aus gesehen wieder auf. Nach dem Sieg über Friedrich III. und nach mehrmonatiger Belagerung Wiens zieht er am 1. Juni 1485 in die Stadt ein. Auch er beabsichtigt, im Donauraum ein geeintes Gebiet zu schaffen. Für Wien bringt dies einige Vorteile, befinden sich doch im Gefolge des Königs viele Künstler und Gelehrte, die zum Aufblühen des Humanismus beitragen sollten. Vor allem der Universität kommt dieses ausgeprägte Interesse des Königs für die Kunst und die Geisteswissenschaften zugute. Das Verhalten und die Einstellung der Wiener ändern sich jedoch bald. Es entgeht ihnen nicht, daß Matthias während seiner Wienaufenthalte nicht in der Hofburg residiert. Offensichtlich hat der König nicht die Absicht, den Schwerpunkt seines Reiches hierher zu verlegen. Diesbezüglich aufschlußreich ist auch die Entscheidung, das Dach des Stephansdoms mit dem ungarischen Wappen zu zieren. Außerdem hütet sich Matthias Corvinus, Maßnahmen fiir einen wirtschaftlichen Aufschwung Wiens zu setzen. Die schon seit Anfang des Jahrhunderts zu beobachtenden Tendenzen kehren sich keineswegs um, sondern bestätigen sich vielmehr. Als Mathias Corvinus am 1. April 1490 plötzlich stirbt, ist die Bilanz dieser Jahre für Wien weitgehend negativ, und es erstaunt nicht, daß die Ungarn unter diesen Umständen nicht mehr mit der ihnen zunächst von der Wiener Bevölkerung entgegengebrachten Unterstützung rechnen können. Für die Habsburger schlägt nun die Stunde der Vergeltung. Die Beherrschung durch die Ungarn sollte nur ein Zwischenspiel in der Geschichte Wiens gewesen sein. A m 19. August zieht Maximilian an der Spitze eines Heeres von 4.000 Mann in Wien ein und stellt die Autorität seines Vaters wieder her. Mit dem Tod Matthias Corvinus' war der neuerliche Versuch, im mitteleuropäischen Raum eine Einheit zu schaffen, gescheitert. Im gleichen Jahrhundert gab es also zwei von einer ähnlichen Logik ausgehende Einigungsversuche. Der Ehrgeiz der Landesfürsten und die Natur der Sache drängten geradezu dazu, hier eine Einheit zu schaffen. Der Lauf der Geschichte sollte erst zeigen, ob sich diese Einheit rund um die Stadt Wien als Mittelpunkt herausbilden würde. Noch könnten diese Einigungs-
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bestrebungen durch die schwierigen Beziehungen innerhalb der Familie der Habsburger gebremst oder gar verhindert werden. Der Begriff des Staates ist damals noch oft unklar, und die Landesfiirsten dieser Epoche neigen dazu, ihre Besitzungen als Familiengüter anzusehen und auch so zu verwalten. Die Handhabung der Habsburger ist ein gutes Beispiel. Wiederholt beschloß das Familienoberhaupt, im guten Glauben, richtig zu handeln, seine Besitzungen unter seinen Söhnen aufzuteilen, was jedoch oft eine Zersplitterung des von seinen Vorfahren übernommenen politisch geeinten Gebietes bedeutete. Der Gründer der Dynastie ging mit seinem Beispiel voran. 1282 belehnte Rudolf seine beiden Söhne mit Österreich. Ein Jahr später unterzeichneten die Brüder ein Abkommen, um die Einheit des von Rudolf geeinten Gebietes nicht zu gefährden, das auf Albrecht I., den älteren der beiden Brüder, überging. Ein Jahrhundert später wurde diese Einheit zersprengt. Als Rudolf IV. ohne Nachkommen starb, einigten sich seine beiden Brüder Albrecht und Leopold darauf, die Erblande unter sich aufzuteilen (1379). Gemäß diesem Teilungsvertrag erhielt Albrecht die Gebiete rund um die Donauländer mit Wien, während die Alpenländer an Leopold gingen. Diese Teilung blieb bis zum Tod von Ladislaus Postumus, dem letzten Nachkommen Albrechts, im Jahre 1475 aufrecht. Es lag nun an Kaiser Friedrich III. aus der leopoldinischen Linie, die Einheit der habsburgischen Erblande wiederherzustellen. Aber 1521 kommt es abermals zu einer Teilung, diesmal zwischen den Enkelsöhnen Maximilians, Karl und Ferdinand. Diese Teilung unterscheidet sich jedoch von den früheren, da die von Friedrich III. und Maximilian geführte Heiratspolitik nach zwei Generationen bereits ihre Früchte trug. Nicht nur nach dem berühmten, Matthias Corvinus zugeschriebenen Leitsatz „Bella gerant alii, tu felix Austritt nube"}, sondern auch mit dem Schwert versuchen die Habsburger, ihre Macht zu vergrößern. Friedrich III. und Maximilian waren zwar kriegerische Kaiser, aber nicht den Kriegen, sondern der erfolgreichen Heiratspolitik dieser beiden Herrscher verdankten die Habsburger die umfassende Erweiterung ihrer Macht, die sie Anfang des 15. Jahrhunderts zur bedeutendsten Dynastie der Christenheit machte. Dank seiner Heirat mit Maria von Burgund, der Tochter Karls des Kühnen, erhält Maximilian das burgundische Erbe, das sich bis nach Flandern erstreckt. Durch die von Maximilian 1496 gestiftete Doppelhochzeit seines Sohnes Philipp mit Johanna, der Infantin von Spanien, und seiner Tochter Margarete mit dem Infanten Juan, dem Erben des spanischen Thrones, kommt einige Jahre später auch noch Spanien hinzu. Durch den frühzeitigen Tod des Infanten fällt das spanische Königreich einschließlich der amerikanischen Eroberungen an die Habsburger, zunächst an Philipp und dann an dessen Sohn Karl, der 1519 die Nachfolge Maximilians antritt. Als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, Erzherzog von Osterreich und König von Spanien verftigt Karl V. über eine Macht, wie sie seit den römischen KaiDer Aufstieg Wiens : 3 3
sern kein europäischer Herrscher mehr innehatte. Schon sehr bald wird Karl V. klar, daß es unmöglich ist, ein so riesiges und zerstreutes Reich allein zu fuhren. Diese Uberzeugung veranlaßt ihn 1521, seinem Bruder Ferdinand im Vertrag von Worms, der ein Jahr später durch den Vertrag von Brüssel ergänzt wird, die Donau- und Alpenländer zu übertragen, während er selbst den Kaisertitel behält. Dies ist eine für Europa sehr bedeutende Entscheidung, teilt sie doch das Haus Österreich in eine spanische und eine deutsche Linie. Unter Ferdinand I. bleiben die mitteleuropäischen Besitzungen in der Hand eines einzigen Herrschers, zumindest vorläufig, da auch er dieselbe Nachfolgepolitik betreiben sollte. Nach seinem Tod im Jahre 1564 wird sein Erbe unter seinen drei Söhnen Maximilian, Ferdinand und Karl aufgeteilt. Diesen drei von Ferdinand abstammenden Linien, der österreichischen, der steirischen und der Tiroler Linie, sollte zwar ein ganz unterschiedliches Schicksal beschieden sein, aber dennoch bleibt diese Teilung ein Jahrhundert lang aufrecht. Erst 1665, nach dem Aussterben der beiden anderen Linien, vereinigt Leopold I., der Enkel des Gründers der steirischen Linie, - diesmal endgültig bis 1918 - die Erblande unter der Autorität eines einzigen Herrschers. Das Schicksal Wiens ist auch eng mit der jeweiligen Beziehung des Landesfiirsten zu dieser Stadt verbunden. Als Residenzstadt zunächst der Babenberger und später der Habsburger entwickelte es sich zur politischen Hauptstadt, stets bewußt, daß, falls ein Landesfiirst sich für eine andere Stadt entscheiden sollte, es sofort mit all den damit verbundenen Folgen seine Stellung verlieren würde. Dabei handelt es sich keineswegs um eine bloße Hypothese, denn unter Maximilian, der es der Stadt nie verzeihen konnte, daß sie sich auf die Seite der Feinde seines Vaters gestellt hat, kommt es fast soweit. Seine Abneigung gegenüber Wien hat zur Folge, daß er nur selten hier residiert und seine Bestrebungen auf andere Schwerpunkte ausrichtet. Im Westen bemühte er sich, die habsburgischen Gebiete aus dem burgundischen Erbe zu vergrößern, und im Süden erliegt er als erster seiner Dynastie dem Zauber Italiens. Einerseits noch ein Hüter der mittelalterlichen Tradition, andererseits schon ein Renaissancefiirst, greift er den Traum der Herrscher der ersten Dynastien wieder auf. Da Wien zu sehr an der Peripherie der umfangreichen Besitzungen Maximilians liegt, kann es nicht mehr deren natürlicher Mittelpunkt sein, und der Logik seiner Politik folgend, verlegt Maximilian seine Residenz in das viel zentraler gelegene Innsbruck. Ohne die Teilung von 1521 hätte Wien sicherlich endgültig seine Stellung als Hauptstadt verloren. Bezeichnend in dieser Hinsicht ist auch, daß Karl V., von seiner Erziehung her eher burgundisch und flämisch als österreichisch geprägt, sich hier nur einmal kurz aufhält. Erst durch Ferdinands Niederlassung in Wien wird die alte Ordnung wiederhergestellt. Aber schon zeichnet sich eine neue Gefahr ab. Mit der Einverleibung von Böhmen und Ungarn in die österreichischen Besitzungen im Jahre 1526 läuft Wien Gefahr, seine Vorrangstellung an Prag zu verlieren.
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Maximilian I. Seine Ambitionen führten ihn aus Wien hinaus. Er ist der Begründer der Macht der Habsburger.
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Das Jahr 1526 ist für Wien, bei aller Unsicherheit über die Zukunft, ein einschneidendes Datum. In diesem Jahr vollzieht sich unter der Autorität der Habsburger die Vereinigung ihrer alten Erblande mit Böhmen und Ungarn. Von Ottokar bis zu Matthias Corvinus hatten die verschiedenen Herrscher immer wieder versucht, ein unter ihrer Macht stehendes großes geeintes mitteleuropäisches Gebiet zu errichten, keiner dieser Versuche aber hatte seinen Urheber überlebt. Im Unterschied zu allen früher gescheiterten Versuchen sollte das jetzige Reich den Prüfungen der Zeit standhalten; eine neue europäische Macht war geboren. Diese Einigung ist ein weiteres Resultat der erfolgreichen Heiratspolitik Maximilians. Trotz seiner neuen politischen Zielsetzungen verliert er seine Besitzungen im Donauraum nicht aus den Augen, sondern bereitet die Habsburger durch eine Doppelhochzeit drauf vor, bald auch das Erbe der Jagellonen sowohl in Böhmen als auch in Ungarn zu übernehmen. In einer feierlichen Zeremonie verspricht er am 26. Juli 1515 Anna, der Tochter Wladislaws II., König von Böhmen und Ungarn, im Stephansdom einen seiner Enkelsöhne - ob Karl oder Ferdinand, das sollte erst die Zukunft zeigen. Als logische Konsequenz der Teilung von 1521 fällt diese Wahl auf Ferdinand. Als weiteren Stein in diesem Heiratsgebäude verheiratet Kaiser Maximilian seine Enkelin Maria mit dem Sohn und Erben Wladislaws, Ludwig II. Diese Ehebündnisse besiegeln die Allianz beider Familien, nun gilt es nur mehr, die Zukunft abzuwarten. Die Zeit des Wartens dauert indes nicht lange. Schon 1526 fallen mit dem Tod Ludwigs II. ohne Nachkommen Böhmen und Ungarn als jagelionisches Erbe an Ferdinand. Die Vereinigung dieser Länder vollzieht sich unter tragischen Umständen, ist sie doch die Folge des Todes von Ludwig II. am 29. August 1526 auf dem Schlachtfeld von Mohäcs, wo er an der Spitze eines ungarischen Heeres versuchte, die osmanischen Eindringlinge aufzuhalten. Ferdinand wird am 23. Oktober 1526 von den Ständen zum König Böhmens und am 17. Dezember des gleichen Jahres zum König von Ungarn gewählt. In Ungarn stößt Ferdinand auf Schwierigkeiten bei der Anerkennung seiner Autorität. Diese wird ihm nämlich von einer rivalisierenden Gruppe um den siebenbürgischen Fürsten Johann Zäpolya streitig gemacht. Außerdem wird das Königreich von der Rückkehr der Türken bedroht. Dennoch kann man von einer entscheidenden Wende sprechen, gibt es doch zum ersten Mal im Herzen Europas eine politische Einheit mit dem Zentrum Wien. Diese war der Heiratspolitik Maximilians sowie anderen Begleitumständen zu verdanken, aber auch das Ergebnis eines Prozesses, dessen Grundlagen von den Babenbergern gelegt und von den Habsburgern übernommen und weiterentwickelt worden waren. Diese Errungenschaft muß sich aber erst bewähren und bestätigen, da die politische Einheit damals nur in einem Nebeneinander verschiedener Besitzungen bestand. Im übrigen beginnen für Wien schwere Zeiten, denn in Deutschland wird der Wind rauher und im Osten die osmanische Bedrohung immer konkreter.
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Kapitel 2: Die Zeit der Gefahren
Für Böhmen und Ungarn sollte die Thronbesteigung Ferdinands keine Einschränkung ihrer Souveränität bedeuten, auch wenn der Herrscher natürlich seine Besitzungen zusammenzuschweißen versuchte. Mit dem Ziel, sich nicht mit einer einfachen Personalunion zufriedenzugeben, trifft Ferdinand eine Reihe von Maßnahmen. Schon im darauffolgenden Jahr fuhrt er eine gemeinsame Verwaltung für alle seine Besitzungen ein. Im Sinne der Tradition, was für ihn aber vielleicht kein ausreichendes Argument war, hat er doch seine Jugendzeit in Spanien verbracht und daher keine besondere Bindung zu Wien, siedelt er diese Zentralverwaltung in der Stadt an und erhebt Wien im Zuge dessen zur Hauptstadt der künftigen Monarchie. Kurz nach seiner Ankunft muß er einen Aufstand niederschlagen, was ihn veranlassen hätte können, sich von dieser Stadt, in der man so schnell mit Widerspenstigkeit reagiert, abzuwenden. Bevor er seine Residenz 1533 endgültig in Wien aufschlägt, verbringt er einige Jahre in Prag. Am 1. Januar 1527 machte Ferdinand seine Absichten deudich, indem er die Hofstaatsordnung verkündete, die den Ansatz einer zentralen Verwaltung in sich barg und sich in vier Gremien gliederte: der Geheime Rat, der aus einer kleinen Zahl von Vertrauensmännern bestand, darunter die hohen Beamten des Hofes, sollte den Kaiser in allen familien-, innen- und außenpolitischen Belangen beraten; die Hofkanzlei, die vor allem eine Exekutivfunktion hatte; der Hofrat, der die oberste Justizbehörde darstellte; und schließlich die Hofkammer, die die Einkünfte der kaiserlichen Besitzungen verwaltete. Im Laufe der Zeit kommt es zu einer Weiterentwicklung dieser Verwaltungsorgane, die sich einerseits durch die äußeren Umstände, andererseits aber auch dadurch erklären läßt, daß die Kompetenzgrenzen oft fließend waren. Schon bald kommt es zu Veränderungen: Böhmen und Ungarn, die zunächst in das Ressort der Hofkanzlei fielen, werden 1537 aus dieser wieder ausgeklammert. Der 1556 ge-
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gründete Hoferiegsrat wird mit finanziellen Kompetenzen ausgestattet. Abgesehen von diesen laufenden Neuerungen ist entscheidend, daß die von Ferdinand geschaffenen Behörden erhalten bleiben und bis 1848 das Gerüst des österreichischen Verwaltungssystems bilden.
D I E ERSTE W I E N E R TÜRKENBELAGERUNG
(1529)
Während die Initiativen Ferdinands I. darauf abzielten, die Erblande der deutschen Linie der Habsburger möglichst schnell zu konsolidieren, werden diese Bestrebungen durch äußere Ereignisse gebremst. Die Verträge von 1521 und 1522 begünstigen die Entstehung einer mitteleuropäischen Macht, was auch nach der Abdankung Karls V. und der Thronbesteigung Ferdinands nicht in Frage gestellt wird. Die osmanische Expansion und die Religionskrise, die Deutschland und Mitteleuropa mehr als ein Jahrhundert lang erschütterte, drohen indes äußerst schwerwiegende Folgen nach sich zu ziehen. Die größte Bedrohung kommt zunächst von Ungarn. Während die Türken sich nach ihrem Sieg bei Mohäcs zurückgezogen hatten, entzog sich Siebenbürgen der Autorität Ferdinands, und der dortige Fürst erhob, unterstützt von einer mächtigen Gruppe, den Anspruch auf den Thron. Darüber hinaus war der Abzug der Türken ein reines Täuschungsmanöver. Schon im Frühjahr 1529 bricht Sultan Soliman zu einem neuen Feldzug auf, dieses Mal mit dem Ziel, Wien zu erobern. Sein Vormarsch ist nicht zu stoppen. Die türkische Kriegsmaschinerie scheint durch niemanden und nichts aufgehalten werden zu können. Dem Fall Belgrads Mitte Juli folgt am 11. September der Verlust Ofens. Trotz des Widerstands der Festungen in Preßburg und Wiener Neustadt ist der Weg nach Wien jetzt frei. Am 21. September beginnt Soliman mit der Belagerung der Hauptstadt des habsburgischen Osterreich. FünfTage später ist die Stadt völlig eingekesselt; durch die Zerstörung der Donaubrücken ist Wien am nächsten Tag von der Außenwelt abgeschnitten. Einem Heer von 300.000 Mann - von denen zwar zugegebenermaßen nicht alle ausgebildete Soldaten sind - kann Graf Niklas Salm, dem Ferdinand die Verteidigung der Stadt anvertraut hat, nur eine Garnison von 18.000 Soldaten entgegensetzen, die meisten von ihnen spanische und böhmische Söldner. Karl V. wird an der Westfront zurückgehalten und kann seinem Bruder daher nicht zu Hilfe kommen. Erschwerend kommt weiters hinzu, daß sich der Zustand der Befestigungsmauern aufgrund unzureichender Instandhaltungsmaßnahmen seit Mitte des vorhergehenden Jahrhunderts deutlich verschlechtert hat. Aber trotz dieses Mißverhältnisses: Die Logik der Zahlen allein läßt die Entschlossenheit und Wachsamkeit der Verteidiger außer acht. Aber auch so kann das Schlimmste nur um ein Haar verhindert werden. Nach erfolglosen Angriffen 38
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Erste Wiener Türkenbelagerung im Jahre 1529
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scheint der 14. Oktober das Schicksal der Stadt zu besiegeln. Eine Minenexplosion reißt auf der Höhe des Kärntnertores eine Bresche von 80 Metern in der Befestigungsmauer, durch welche die Türken eindringen. Den Verteidigern gelingt es zwar, diese zurückzudrängen, der Angriff erschöpft sie aber derart, daß sie einem neuerlichen Angriff wohl kaum mehr standhalten könnten. Doch plötzlich beschließt Soliman, die Belagerung aufzuheben. War er vom Widerstand der Feinde beeindruckt? Fürchtete er sich, so weit von seinen Nachschublinien, vor dem Einbruch des Winters ? Was immer auch der Grund war, Wien ist gerettet und die Türkengefahr - zumindest vorläufig - gebannt. Dieses Ereignis ist für ganz Europa von großer Bedeutung: Nach der Niederlage im Kosovo, dem Fall von Byzanz und der Katastrophe von Mohäcs ist dies der erste Sieg der Christenheit über die osmanische Macht. Die Belagerung aber ist an Wien nicht spurlos vorübergegangen. Graf Salm ließ alle Vororte, das heißt ungefähr 800 Häuser, anzünden, damit diese dem Feind keinen Schutz bieten konnten. Auch innerhalb der Befestigungsmauer, wo an die 300 Häuser zerstört wurden, ist die Bilanz nicht besser; die Verwüstung der Weinberge in der unmittelbaren Umgebung Wiens droht sich auf die Wirtschaft der Stadt auszuwirken. Mit dem Sieg über die Türken ist diese Gefahr jedoch noch nicht endgültig gebannt. 1532 wird eine weitere Offensive zurückgedrängt. 1541 aber wird die Situation immer bedrohlicher. Während die Zäpolya in Siebenbürgen die Oberhoheit behalten, wird das Herrschaftsgebiet Ferdinands um weitere Gebiete beschnitten. Nach der Rückeroberung Ofens lassen sich die Türken endgültig in Ungarn nieder. Fünf Jahre später werden in einem Waffenstillstand die jeweiligen Positionen festgelegt. Gemäß diesem Abkommen, das alljährlich in Form einer „Ehrengabe" an den Sultan erneuert wird, reicht Ferdinands Herrschaftsgebiet bis zur Westgrenze des Königreiches, vom Nordwesten Kroatiens bis Oberungarn; die Türken ihrerseits besetzen Mittelungarn, das sie in vier Paschaliks teilen. Diese Verteidigungslinie bleibt eineinhalb Jahrhunderte lang praktisch unverändert. Während dieser Zeit lebt Wien in Angst vor einer neuen Offensive. Diese ständige Bedrohung bremst beziehungsweise blockiert die Entwicklung der Stadt. Nach dem antiken Vindobona ist Wien nun erneut Grenzstadt. Hier stoßen zwei einander feindlich gesinnte Welten aufeinander. Wie die Stadt einst den Römern als Bollwerk diente, so dient sie nun der Christenheit als Bastion gegen den Islam.
D E R KAMPF GEGEN DEN PROTESTANTISMUS
Zur Türkengefahr kommen noch die Auswirkungen der Religionskrise hinzu, die die Einheit der westlichen Christenheit sprengt. Ausgehend von Wittenberg im
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Jahre 1517, macht die Reformation an der Grenze der habsburgischen Länder nicht halt: Ab den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts hält sie in Wien und den österreichischen Ländern Einzug. Nun beginnt eine Zeit der Unruhen und der Wirrungen, die mehr als ein Jahrhundert andauern sollte. Die Habsburger bleiben dem Katholizismus treu. Im Kampf gegen die Reformation entwickelt sich eine enge politische und religiöse Bindung zwischen dem Kaiserhaus und der katholischen Kirche, die in unterschiedlicher Form bis zum Ende der Monarchie eine bestimmende Konstante bleiben sollte. Selbst Maximilian II. (1564-1576), der in seinem tiefsten Inneren der neuen Religion zuneigte, hütete sich davor, mit Rom zu brechen. Was die übrigen Herrscher anbelangt, so schwankten sie — auch wenn sie ab und zu, wenn die Umstände es erforderten, mit den Lutheranern Kompromisse schlössen - nie in ihrer Unterstützung für die katholische Causa, ja zeigten sich sogar als entschiedene und manchmal gewaltsame Verteidiger des katholischen Glaubens. Diese Treue der Habsburger zum Katholizismus ist ein Beispiel dafür, wie der Wille einiger Menschen den Lauf der Geschichte bestimmen kann. Ohne ihr Engagement gegen diese neue Strömung wären die österreichischen Lande wahrscheinlich protestantisch geworden und hätten eine ganz andere Entwicklung genommen. Hier wie in Deutschland gewinnt die Reformation rasch an Boden. Die katholische Kirche ist in der Defensive, und immer mehr Menschen konvertieren zum Protestantismus. Z u m Zeitpunkt von Ferdinands Tod im Jahre 1564 haben bereits vier Fünftel der Bevölkerung den neuen Glauben angenommen. Auch das zuerst herzogliche, später königliche und schließlich nach der Abdankung Kaiser Karls und der Ubergabe der Kaiserwürde an Ferdinand kaiserliche Wien ist vor diesem Phänomen nicht gefeit. 1548 gibt es gleich viele Lutheraner wie Katholiken; dreißig Jahre später sind nur mehr ein Fünftel der Wiener Bevölkerung Katholiken. Auch der Klerus bleibt von diesem Aderlaß nicht verschont. Die größte Pfarre der Stadt, Sankt Stephan, zählt 1542 nur mehr vier Priester, und zehn der dreizehn Pfarren der Diözese sind ohne Pfarrverweser. Die Klöster leeren sich: Es gibt nur mehr eine Handvoll Minoriten und Dominikaner, die vor der Reformation achtzig beziehungsweise sechsundachtzig Ordensmitglieder gezählt hatten. Die katholische Kirche befindet sich in einem Zerfallszustand, der nur durch eine machtvolle Initiative einer politischen Macht aufgehalten werden kann. Die Erfolge der Reformation sind auf die allgemeinen Gründe für ihre Ausbreitung in ganz Europa zurückzuführen; was Österreich betrifft, gibt es darüber hinaus aber noch ganz spezifische Faktoren, die dafür verantwortlich sind. Die Ausbreitung des Protestantismus liegt hier in den oft so schwierigen und konfliktträchtigen Beziehungen zwischen Ferdinand und den Ständen begründet. Gleich nach seiner Ankunft aus Spanien hatte Ferdinand einen Aufstand des Wiener Adels und Bürgertums zerschlagen. Die Härte dieser Niederwerfung war allen im Gedächtnis
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geblieben. Hinzu kommt noch die neue Stadtordnung von 1526, mit der Privilegien eingeschränkt wurden. Trotz all dieser Maßnahmen gelingt es Ferdinand dennoch nicht, die Opposition ganz auszuschalten, denn die religiöse Waffe konnte gegen seine Macht eingesetzt werden. Die zahlreichen Ubertritte zur neuen Religion sind damit nicht immer nur das Zeichen einer neuen Glaubensüberzeugung, sondern in vielen Fällen ein Akt, um Widerstand gegen den fürstlichen Absolutismus zu demonstrieren. Jahrzehnte hindurch wird der Protestantismus daher mit der Verteidigung der Adels- und Städtefreiheit in Verbindung gebracht. Ferdinand reagiert auf diese neue Herausforderung mit Unterdrückung. 1523 verbietet ein Edikt den Besitz und die Verbreitung häretischer Schriften; ein Jahr später kommt es zur ersten Hinrichtung eines Reformierten; 1543 wird ein weiteres Edikt erlassen, demzufolge jeder, der protestantische Schriften druckt oder verkauft, ertränkt werden soll. Ferdinand kann seine Unterdrückungspolitik aber nicht voll durchziehen, da er von den Ständen und deren Zustimmung zur Finanzierung der Verteidigungsausgaben abhängig ist, die aufgrund der Bedrohung durch die Türken notwendig geworden sind. Auch sein Bestreben, eine auf einem erneuerten Katholizismus gegründete Einheit wiederherzustellen, läßt ihm keine andere Wahl, als immer wieder Kompromisse mit den Ständen zu schließen. Im Reich bestätigt der 1555 mit den deutschen Fürsten nach mehreren Jahren der bewaffneten Auseinandersetzung geschlossene Religionsfriede von Augsburg die religiöse Teilung, was anfangs in Osterreich eine neue Welle der Begeisterung für den Protestantismus hervorruft. Ferdinand verhindert jedoch, daß dieser zur Religion der Mehrheit seiner Untertanen wird. Er ist sich bewußt, daß es eine große Gefahr für die Dynastie bedeuten könnte, würde diese Spaltung noch länger andauern, und bemüht sich mit aller Kraft darum, die katholische Ordnung in seinen Ländern wiederherzustellen. In diesem Bemühen wird Ferdinand auch durch den Augsburger Religionsfrieden bestärkt, mit dem das Prinzip des „cuius regio, eius religio"verkündet worden war, d. h. der Landesfurst solle die Religion seiner Untertanen bestimmen. Um diese religiöse Einheit zu erreichen, muß es zunächst zu einer Erneuerung der Lehre und Moral der Kirche kommen. Diese erfolgt auf dem 1545 bis 1563 in Trient abgehaltenen Konzil, das die Grundlagen für eine katholische Rückeroberung festlegt. Nun muß Ferdinand geeignete Persönlichkeiten finden, die die weldiche Macht darin unterstützen, die Menschen zum wahren Glauben zurückzufuhren. In den von ihren Verwesern verlassenen Pfarren und leeren Klöstern würde er diese nicht finden, und so beschließt er, die Jesuiten nach Wien zu rufen, eine Entscheidung, deren Tragweite er damals nicht ermessen konnte, deren Konsequenzen jedoch das Gesicht Wiens, Österreichs, ja ganz Mitteleuropas prägen sollten. Am 31. Mai 1551 treffen dreizehn Jesuiten in Wien ein. Einige Monate später gesellt sich auch der Verantwortliche der Gesellschaft Jesu für die deutschen Länder, 42
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Petrus Canisius, zu ihnen, der vier Jahre lang deren Missionsarbeit leiten sollte. Dieser Jesuit holländischer Abstammung legt den Grundstein für die Gegenreformation. Wie in Ingolstadt, wo die Jesuiten mit ihrer Methode Erfahrung gesammelt hatten, gründet er auch hier ein Kollegium, dessen Hauptaufgabe es ist, die Elite wieder in den Schoß der katholischen Kirche zurückzufuhren. Auf Ferdinands Ersuchen verfaßt er einen Katechismus, der Fragen und Antworten enthält, die dabei helfen sollen, die verlorenen Seelen wieder zurückzuholen. Z u m Hofprediger ernannt, ist Petrus Canisius auch für die Leitung der praktisch verwaisten Wiener Diözese zuständig. Als er 1556 Wien verläßt, ist der Anfang gemacht, und die Jesuiten, die nun im ehemaligen Karmeliterkloster untergebracht sind, können im Dienste der Gegenreformation weiterarbeiten. Die Bemühungen Ferdinands sind Teil eines umfangreicheren Programms. Nach der Ansiedlung in Wien lassen sich die Jesuiten auch bald in Prag und später in Innsbruck nieder, wo sie neue Kollegien gründen (das berühmte Clementinum in Prag). Aber auch ihr militantes Vorgehen vermag nicht zu verhindern, daß sich das Kräfteverhältnis bald zuungunsten des Katholizismus umkehrt, was im Laufe der nächsten Jahre noch deutlicher zutage treten sollte. Unter Maximilian II. verzeichnet der Protestantismus neuerliche Erfolge; der Kaiser bricht zwar nicht mit dem katholischen Glauben, wählt aber einen Mittelweg zwischen den beiden Religionen. In zwei Schritten, zunächst 1568 und später 1571, wird den Adligen sowie deren Dienerschaft und Bauern auf ihren Gütern die Religionsfreiheit zugestanden. Auch wenn diese Maßnahmen nicht für die Städte gelten, so erhalten die Protestanten in Wien dennoch die Genehmigung, öffentlich ihren Gottesdienst zu feiern und Schulen zu eröffnen. Die Ernennung eines Protestanten zum Bürgermeister im Jahre 1576 ist ein Beweis für ihren wachsenden Einfluß.
DIE
GEGENREFORMATION
Unter Maximilian II. erreicht der Protestantismus seinen Höhepunkt. Jedoch schon bald zeichnet sich der erste Erfolg der Predigten der Jesuiten ab, die gemäß ihrer Strategie die Ausbildung der Elite fördern. Vor allem der von den Machthabern mit solcher Entschlossenheit geführte Kampf gegen den Protestantismus erklärt die grundlegende Wende zugunsten der Gegenreformation. Nach der Thronbesteigung Rudolfs II. im Jahre 1576 sind die Zeiten der Konzessionen und Zugeständnisse endgültig vorüber. Entgegen dem unter Maximilian II. mit den Ständen geschlossenen Abkommen nehmen die Habsburger unter Rudolf II. die Politik der Unterdrückung wieder auf mit dem Ziel, den Protestantismus aus den Ländern zu vertreiben. Am spanischen Hof unter Philipp II. aufge-
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wachsen, ist Rudolf II. nicht bereit, wie sein Vater den Reformierten gegenüber Verständnis aufzubringen. Als er beschließt, seine Residenz nach Prag zu verlegen, vertraut er seinem Bruder Erzherzog Ernst die Regierung der österreichischen Länder an. Als inbrünstiger Katholik setzt dieser alles daran, diese und vor allem Wien wieder zum katholischen Glauben zurückzufuhren. Während mehrerer Jahre bereiten viele verschiedene Maßnahmen diese Gegenoffensive vor. 1576 verbietet ein Erlaß die Abhaltung protestantischer Gottesdienste in Wien; die reformierten Schulen erfahren das gleiche Schicksal, und nur zwei Jahre später werden die protestantischen Prediger aus der Stadt verjagt. 1579 bleibt ein von den Wiener Reformierten verfaßtes Ansuchen bezüglich der Aufhebung dieser Verfügung ohne Antwort, und im Jahre 1590 werden diese sogar verbannt. Diese Reihe von Verboten bringt aber nicht das Ende des Protestantismus. Die Effizienz dieser Maßnahmen hängt von deren Durchführung und Anwendung ab, und es sollte mehrere Jahrzehnte dauern, bis diese Wirkung zeigen. Die reformierte Kirche ist dennoch sehr geschwächt. Ohne Prediger, ohne Kultstätten und ohne Schulen verfugt sie über keine - zumindest keine legalen - Mittel, um als Gemeinschaft existieren zu können. Um die Jahrhundertwende steht Wien im Begriff, sich dem protestantischen Einfluß zu entziehen, während dieser in Ober- und Niederösterreich, wo ein Großteil des Adels der reformierten Kirche treu bleibt, noch eine wichtige Stellung innehat. Eine Rückkehr des Protestantismus kann also nicht ausgeschlossen werden. Noch dazu schaffen die Streitigkeiten innerhalb des Hauses Österreich in den letzten Jahren der Herrschaft Rudolfs II. eine neue Situation. Zwischen 1607 und 1612 stehen sich Rudolf und sein Bruder Mathias in einem Machtkampf gegenüber, in dem die protestantisch dominierten Stände die Schiedsrichterrolle übernehmen. Die zwei Rivalen lassen sich Zugeständnisse abringen, die die Autorität der Habsburger schwächen und deren Auswirkungen auch in Wien spürbar sind. Die Thronbesteigung Matthias' nach dem Tod Rudolfs setzt dieser Zeit der Unruhen kein Ende. Sicher ist, daß der Ausgang dieses Bruderzwistes zu neuen Kräfteverhältnissen zwischen dem Herrscher und den Ständen in Österreich und darüber hinaus in den anderen habsburgischen Besitzungen gefuhrt hat. Die katholische Restauration ist ohne Zweifel das Werk Ferdinands II., des Chefs der steirischen Linie der Habsburger, den Matthias als Nachfolger bestimmt hat. Jeglicher Konzessionspolitik abgeneigt, ist der neue Herrscher fest entschlossen, gegen den Protestantismus hart vorzugehen. Seine Herrschaft beginnt 1619 unter düsteren Vorzeichen. Nach dem Prager Fenstersturz1 am 23. Mai 1618 bedroht die Allianz zwischen dem protestantischen Adel in Österreich und den von den Reformierten kontrollierten Ständen Böhmens und Mährens Ferdinand II. bis nach Wien. Im Juni 1619 wird er von einer Delegation der niederösterreichischen protestantischen Stände bedrängt und nur dank des Eingreifens der Kürassiere des Gra-
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fen Dampierre aus dieser gefährlichen Situation in der Hofburg gerettet. Erst durch die Schlacht am Weißen Berg, am 8. November 1620, in der die kaiserlichen Truppen den Aufständischen vor den Toren Prags eine vernichtende Niederlage zufügen, tritt diesmal endgültig die Wende zugunsten des Katholizismus ein. Der Sieg der Gegenreformation läßt sich aber nicht nur durch die Entschlossenheit der politischen Machthaber und durch Waffengewalt erklären. Um diesen Sieg zu ermöglichen und ihm auch Dauerhaftigkeit zu verleihen, muß die katholische Kirche neu organisiert, eine Hierarchie aufgebaut, der Klerus erneuert und die Betreuung der Gläubigen gepflegt werden. Die katholische Restauration ist auch das Werk charakterfester Geistlicher wie Kardinal Melchior Khlesl, eine weitere Schlüsselfigur der Gegenreformation. Dieser Wiener Bäckerssohn, der unter dem Einfluß eines Jesuitenpaters zum Katholizismus konvertierte, stürzt sich mit dem Eifer eines Neubekehrten in den Kampf gegen die Reformierten. Als Kanzler der Universität bemüht er sich darum, diese unter die Vormundschaft der Kirche zu stellen. Aus diesem Grund verbietet er den Protestanten den Zugang zum Professorenkollegium; außerdem ist ein Universitätsabschluß in Hinkunft ausschließlich Katholiken vorbehalten. Dieser Kreuzritter des römisch-katholischen Glaubens setzt seine Missionstätigkeit als Bischof von Wiener Neustadt fort. 1598 wird er zum Oberhaupt der Wiener Diözese ernannt und bewährt sich in dieser sehr sensiblen Funktion. Kardinal Khlesl beschränkt seinen Einfluß aber nicht nur auf den religiösen Bereich. In diesem an politisch tätigen Prälaten reichen Jahrhundert übt er, auch wenn er diesen Titel nicht fuhrt, unter Matthias mehrere Jahre hindurch Funktionen aus, die denen eines Kanzlers gleichkommen. Unter Ferdinand II., dessen kompromißlose Haltung er nicht teilt, wird er jedoch beiseite geschoben, erhält aber nach einer Zeit des Exils in Rom 1623 seine Diözese zurück, wo er drei Jahre später stirbt. Kardinal Khlesl ging in die Geschichte als Architekt der Konsolidierung der katholischen Restauration ein. Als Verfechter der ecclesia militans stützte er sich auf die religiösen Orden, die der Gegenreformation sowohl als weltlicher als auch als geistlicher Arm dienten. Lang ist die Liste der Orden — Augustiner, Barnabiten, Kapuziner, Dominikaner, Franziskaner - , die sich im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts in Wien niederließen beziehungsweise hierher zurückkehrten und in der Stadt und den Vororten viele Klöster und Kirchen errichteten. An Zahl und Einfluß kam jedoch keiner an die Jesuiten heran. 1594 hatten diese an ihrem Kollegium 800 Schüler, während die Universität zur gleichen Zeit nur 80 Studenten zählte. Die Jesuiten aber wollten ihre Kontrolle auf das gesamte Ausbildungssystem der Elite ausdehnen. Was Wien betrifft, erreichten sie dieses Ziel 1632, als Ferdinand, selbst ehemaliger Zögling der Jesuiten in Ingolstadt, ihnen die Leitung der theologischen und philosophischen Fakultät anvertraute. Als Zeichen ihres wachsenden Einflusses und als Sinnbild ihrer Macht errichteten sie inmitten der Stadt in der Nähe der neuen Universität eine Kirche. Die Zeit der Gefahren : 4 5
Die durch die Reformation hervorgerufene Krise ist damit aber noch nicht zu Ende. Noch steht den Ländern des Heiligen Römischen Reiches der furchtbare 30jährige Krieg bevor, dem ein Drittel der Bevölkerung zum Opfer fallen sollte. Erst mit dem Westfälischen Frieden erhält das Reich sein neues Gesicht. In den habsburgischen Ländern hingegen sind die Würfel schon seit dem Regierungsantritt Ferdinands gefallen. Nach dem Aufstand der Stände besiegelt die Schlacht am Weißen Berg 1620 das Schicksal Böhmens und bedeutet auch, im Hinblick auf Wien und die österreichischen Länder, den Sieg der Gegenreformation. Osterreich wird nun, innerhalb eines geteilten Deutschlands, zu einer Bastion des Katholizismus und Wien zum Zentrum der katholischen Welt. Diese Wende hat weitreichende Folgen. Die Verwurzelung der habsburgischen Gebiete im Katholizismus Tridentiner Prägung formt die österreichische Identität und fuhrt langfristig gesehen zu den zwei Jahrhunderte später aufkommenden Zwistigkeiten. Im neuen Deutschland aber ist der Katholizismus trotz des Erfolgs der Gegenreformation nur eine Minderheitenreligion und kann sich außerhalb Österreichs von den größeren Staaten nur auf Bayern stützen. Darüber hinaus sollte der Protestantismus mit dem Aufstieg Preußens bald ein Land finden, in dem er zum Bannerträger der Machtpolitik werden sollte. Dieser Dualismus, der die Habsburger seit dem Erstarken Preußens unter Friedrich II., abgesehen von kurzen Unterbrechungen, den Hohenzollern gegenüberstellte, sollte nach etwas mehr als einem Jahrhundert seine Folgen zeitigen. In der letzten Phase dieses Duells kommt ein starkes nationales Gefühl, das sich auf die protestantische Tradition beruft und den Katholizismus als Fremdkörper denunziert, auf und schwächt die Stellung Österreichs im Vergleich zu dem von der Dynamik dieser Bewegung getragenen Preußen. Der Sieg der Gegenreformation geht Hand in Hand mit der Entstehung der österreichischen Monarchie, deren Gründungsdatum zweifellos das Jahr 1526 ist. Der größte Teil Ungarns, der unter die Herrschaft der Osmanen kam, beziehungsweise unter der Autorität der siebenbürgischen Fürsten blieb, entzog sich der Macht der Habsburger jedoch. Was das Königreich Böhmen betraf, hatte der Durchbruch der Reformation es vor der von Wien aus geführten Zentralisierungspolitik bewahrt. Damit beruhte die Macht der Habsburger in Mitteleuropa zu Beginn des 17. Jahrhunderts weiterhin im wesentlichen auf ihren realen oder lediglich potentiellen Besitzungen. Unter Ferdinand II. bleibt die Lage in Ungarn unverändert, während sich Böhmen nach der Schlacht am Weißen Berg Ferdinand beugen muß. Anders als die Bourbonen in Frankreich errichtet er aber weder in Böhmen noch in den anderen habsburgischen Ländern eine absolutistische Herrschaft. Aber obwohl Böhmen und Mähren eine gewisse Selbständigkeit bewahren, vermindern die Verordnungen von 1627 und 1628 die Macht ihrer Landtage. Vor allem geht Ferdinand nun daran, das Königreich Böhmen unter der Autorität der Zentralbehörden in seine österreichischen Länder einzugliedern. Während Ungarn weiterhin selbstän-
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dig bleibt, beginnt ein von Wien aus regiertes österreichisch-böhmisches Reich Form anzunehmen. Ein weiteres wichtiges Faktum jener Zeit: Die allmähliche Herausbildung der österreichischen Monarchie festigt die Vormachtstellung Wiens im Donauraum. Die Rivalität zwischen Wien und Prag war unter Rudolf II. erneut ausgebrochen, der seine Residenz gleich nach seiner Thronbesteigung in die Hauptstadt des böhmischen Königreiches verlegt hatte. In Prag versammelte der Herrscher einen glanzvollen Hof mit zahlreichen, vor allem italienischen Künstlern - unter ihnen der außergewöhnliche Giuseppe Archimboldo — und vielen Gelehrten - unter ihnen der Astronom Johannes Kepler - um sich. Rudolf wurde jedoch von einer immer stärker werdenden Melancholie befallen, schloß sich von der Außenwelt ab und lebte schließlich am Hradschin wie in einem goldenen Gefängnis. Und letztlich war auch der Zwist mit seinem Bruder Mathias den Interessen Prags alles andere als förderlich. Dieses Mal ist es beschlossene Sache: Die von Matthias getroffene und von Ferdinand II. bestätigte Entscheidung, Wien zur kaiserlichen Residenz zu machen, sollte von keinem seiner Nachfolger mehr in Frage gestellt werden. Prag bleibt zwar die Hauptstadt eines Königreiches, das aber nur mehr Teil eines größeren Ganzen ist, und sein Einfluß schwindet in dem Maße, in dem die Souveränität Böhmens eingeschränkt wird. Während Prag immer mehr an Bedeutung verliert, behauptet sich Wien zunehmend als Zentrum der Entscheidungen und Impulse der habsburgischen Monarchie. Nicht nur der Hof, sondern auch die gemeinsamen Verwaltungseinrichtungen werden hier, in die Nähe des Kaisers, angesiedelt. Sogar die böhmische Hofkanzlei wird nach Wien verlegt, ein weiteres Zeichen dafür, daß eine neue Zeit angebrochen ist. Unterstrichen wird diese Entwicklung durch den Ausbau der Hofburg. Schon unter Ferdinand I. wurde mit einem neuen Tor, dem sogenannten Schweizer Tor, eine erste Umgestaltung vorgenommen. Dieses Werk des italienischen Architekten Pietro Ferrabosco zählt zu den wenigen Vermächtnissen der Renaissance, die noch heute in Wien bestaunt werden können. Eine Inschrift in Goldbuchstaben über dem Tor rühmt die Größe des Monarchen, indem sie uns seine Titel in Erinnerung ruft: Ferdinandus Rom(anorum) German(iae) Hungar(iae) Boem(iae) etc RexInfans Hisp(aniae) Archidux Austr(iae) Dux Burgund(iae) etc. In den nächsten Jahrzehnten werden zwei neue Gebäude errichtet. Zunächst die Stallburg, die Ferdinand ursprünglich fxir seinen Sohn Maximilian bestimmt hatte. Als dieser sich anders entscheidet, wird dieses Gebäude zur Unterbringung der Hofstallungen genützt, eine Funktion, die es bis heute bewahrt hat. Aber Maximilian, ein großer Kunstliebhaber, benützt die Stallburg außerdem, um dort einen Teil der von ihm erworbenen Kunstwerke wie Bilder, Tapisserien und Goldschmiedearbeiten unterzubringen. Später sollte sie die kaiserliche Gemäldesammlung beherbergen. Die Stallburg ist, so wie das Schweizer Tor, ein großartiges Beispiel der RenaisDie Zeit der Gefahren : 4 7
s
Schweizer Tor der Hofburg
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Pferdeballett in der Hofburg anläßlich der Hochzeit von Leopold I. mit Margarita Teresa im Jahre 1667
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sancearchitektur, unterscheidet sich aber deutlich von diesem: Das eine veranschaulicht und bestätigt die Macht, während das andere sich durch seine Leichtigkeit auszeichnet, wie es uns der berühmte dreistöckige, mit zierlichen Arkaden gestaltete Innenhof zeigt. Dem Hauptgebäude der Hofburg gegenüber wird auf Initiative von Maximilian II. die Amalienburg errichtet, die zur Unterbringung des Hofes von Rudolf II. gedacht ist. Aber auch dieser Bau wird einem anderen als seinem ursprünglichen Verwendungszweck zugeführt. Lange vor seiner Fertigstellung (1611) bewohnbar, wählt Erzherzog Ernst dieses Gebäude zu seiner Residenz, nachdem Rudolf II. sich in Prag niedergelassen hatte. Die alte Hofburg und die Amalienburg sind zwar angrenzende, aber noch getrennte Gebäude, die Leopold I. gleich zu Beginn seiner Herrschaft (1658—1705) miteinander verbindet. Die Amalienburg soll die kaiserlichen Wohnräume beherbergen. Mit der Umsetzung dieses Projektes wird wieder ein italienischer Architekt, Filiberto Lucchesi, beauftragt. Kaum fertiggestellt, wird der Leopoldinische Flügel von einem Feuer völlig vernichtet. Ein Gerücht macht die Juden für diesen - zweifellos zufälligen - Brand verantwortlich. Um den Zorn der Wiener zu beschwichtigen, ordnet Leopold I. eine Landesverweisung an. Sofort werden die Bauarbeiten unter der Leitung von Domenico Carlone wiederaufgenommen. Mit der Fertigstellung des Baues im Jahre 1688 manifestiert sich die kaiserliche Macht nun in einem aus unterschiedlichen, aber verbundenen Teilen bestehenden Ganzen. Das Wien der Gegenreformation ist ein neuerlicher Beweis dafür, wie eng Religion und Kultur miteinander verbunden sind. Die katholische Restauration geht untrennbar Hand in Hand mit dem Aufkommen des Barock. Die Merkmale der Tridentiner Religion finden sich in der Kunst wieder, die allmählich der Stadt ihren Stempel aufdrückt. Hier wird die Herrlichkeit Gottes durch die Dynamik der Linien, den Uberschwang der Formen, das Spiel der Farben, die Pracht der Ornamentik und des Dekors gerühmt, während zur gleichen Zeit Strenge und Schmucklosigkeit die Architektur zahlreicher protestantischen Länder kennzeichnen. Schon bald prägt der Barock den Stil der religiösen Architektur. Die Franziskanerkirche, der erste religiöse Bau der Gegenreformation zu Beginn des Jahrhunderts, ist noch von einer Mischung aus Spätgotik und deutscher Renaissance geprägt, ein Stil, der jedoch nicht Schule macht. Statt dessen sollte der Barock eineinhalb Jahrhunderte lang das Stadtbild Wiens beherrschen und die in der Phase der katholischen Restauration errichteten Kirchen inspirieren. So zum Beispiel die Jesuitenkirche, ein Prunkstück des frühen Wiener Barock. Diese befindet sich in der Nähe der Neuen Universität, die ja nun unter der Kontrolle der Gesellschaft Jesu steht. Des weiteren die Dominikanerkirche, die sich stark an römischen Vorbildern orientiert, und außerhalb der Stadtmauer die neue Kirche der Karmeliter. Der Barock tritt seinen Triumphzug an; alte Kirchen werden nach dem Kanon der neuen
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Ästhetik umgebaut: Die Michaeierkirche nahe der Hofburg behält zwar ihre ursprüngliche Fassade, ein Teil des Innenraums wird jedoch barockisiert; ein paar Schritte weiter, Am Hof, erhält die alte Kirche der Karmeliter, die den Jesuiten übergeben wurde, eine barocke Fassade und einen barocken Innenraum; nach der Zerstörung der gotischen Kirche wird die Schottenkirche ebenfalls in diesem Stil wieder aufgebaut. Die Bühnenkunst, ein anderer Ausdruck der barocken Kultur, gewinnt an Bedeutung. Die Jesuiten verwenden das Theater als Mittel einer kollektiven Pädagogik, um zugleich die Elite in ihrem Kollegium als auch die breite Masse anzusprechen. Zur Unterstützung ihres militanten Vorgehens wählen sie Themen aus der biblischen Geschichte oder aus den ersten Jahrhunderten der Christenheit, was es ihnen erlaubt, Religion und Politik zu verbinden. So fuhren sie 1659 das Stück Pietas Victrix von Nikolaus Avancini auf, das am Beispiel des Kampfes von Konstantin gegen Maxentius den Sieg der wahren Religion über die Ketzerei preist und im übertragenen Sinn die Person des Kaisers als Nachfolger Konstantins verherrlicht. Diese Stücke werden auf Lateinisch aufgeführt, was aber keine Rolle spielt, da der Text relativ unwichtig ist und es hier vor allem um die szenischen Effekte geht. Um ihr Publikum zu begeistern, inszenieren die Jesuiten diese Stücke mit ungeheurem Aufwand als Übergangsform zwischen Theater und Oper, jener anderen großen szenischen Kunst des Wiener Barock. Die Oper, diese Verbindung von Musik und Theater, erobert Wien rasch. Die Begeisterung für diese Kunstgattung geht vom Hof aus, hat doch die Vorliebe für die Musik bei den Habsburgern bereits eine sehr lange Tradition. Seit der Gründung der Hofkapelle durch Maximilian I. im Jahre 1498 gefallen sich die Habsburger in ihrer Rolle als Mäzene. Viele sind ausgezeichnete Musiker, spielen verschiedene Instrumente, gehören kleineren Orchestern an und komponieren sogar selbst. Das gilt beispielsweise für Leopold I., dessen Begeisterung mitverantwortlich für den Erfolg der Oper in Wien ist. Seit 1640 stehen Opern regelmäßig auf dem Unterhaltungsprogramm des Hofes. Mit Leopold I. erhält diese musikalische Kunstform eine privilegierte Stellung: Während seiner Regierungszeit werden mehr als 4.000 Opern bei Hof aufgeführt. Als Verbindung von Prunk und Zauberspiel setzt sich die Oper als Paradebeispiel eines barocken Festes durch. Eigens für die Opernaufführungen wurde in der Nähe der Hofburg ein Holztheater errichtet. Von den dort aufgeführten Werken sei vor allem II Pomo d'Oro erwähnt. Diese vom Urteil des Paris inspirierte Oper wird im Juli anläßlich der Hochzeit Leopolds mit der Infantin Margarita Teresa aufgeführt. Für diese außerordentliche Gelegenheit werden alle Register dieser Kunstgattung gezogen: Mit 67 unterschiedlichen Bühnenbildern, welche die Elemente Himmel, Erde und Hölle darstellen, erreicht das Zauberspiel hier seinen Höhepunkt. Der Erfolg des Barock unterstreicht ein weiteres wichtiges Phänomen, nämlich Die Zeit der Gefahren : 5 I
Eine Mischung aus Pomp und Märchen wird die Oper zum Inbegriff des barocken Festes
II Porno d'Oro wird im Juli 1667 mit 67 Bühnenbildern aufgeführt
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die Bedeutung ausländischer Impulse für die Entwicklung der Wiener Kultur. In diesem Fall handelt es sich hauptsächlich um den italienischen Einfluß. Die italienische Präsenz in Wien ist nichts Neues. Dank ihr finden die Ideen des Humanismus und auch die Ästhetik der Renaissance hier ihre Verbreitung. Diese Beziehungen werden im 16. und mehr noch im 17. Jahrhundert, das in mehrfacher Hinsicht auch das italienische Jahrhundert genannt werden könnte, noch weiter ausgebaut. Die Italiener sind eng mit der Gegenreformation verbunden. Um jene Wiener, die sich der Reformation angeschlossen hatten, wieder zur wahren Religion zurückzufuhren, stützen sich die Habsburger auf die religiösen Orden, deren Angehörige überwiegend aus Italien stammen. Die Kunst ist der zweite Bereich, wo der italienische Einfluß besonders deutlich zum Ausdruck kommt. Er macht sich nicht nur in der Einfuhrung der architektonischen und musikalischen Formen des Barock in den österreichischen Ländern bemerkbar, sondern diese werden auch hauptsächlich von italienischen Künstlern umgesetzt. Die Architekten dieser Epoche sind fast ausschließlich Italiener; das geht so weit, daß sich regelrechte Künstlerdynastien wie die d'Aliio, Carlone, Spazio oder Canevale herausbilden. Dieser Einfluß beherrscht auch die Musik, vor allem die Oper, den bedeutendsten Beitrag Italiens zur österreichischen Kultur. Die Komponisten der berühmtesten damals in Wien zur Auffuhrung gebrachten Opern sind Italiener. Als Beispiel sei II Pomo d'Oro von Marco Antonio Cesti genannt. Auch das Theater, in dem diese Oper gespielt wurde, und die Bühnendekoration sind das Werk eines Italieners und stammten von Ludovico Burnacini. Tonangebend für diesen italienischen Einfluß ist der kaiserliche Hof. Mehrere Hochzeiten mit großen italienischen Familien wie den Gonzaga oder Medici haben nicht nur die Verbreitung deren Kultur begünstigt, sondern auch zur Verfeinerung des Geschmacks beigetragen. Leopold I. gibt sich nicht damit zufrieden, eine Oper - II Sacrifizio d'Abramo — oder Gedichte in italienischer Sprache zu schreiben, sondern fuhrt Italienisch auch als Umgangssprache bei Hof ein.
D I E ZWEITE WIENER TÜRKENBELAGERUNG
(1683)
All diese Feste aber lassen nicht vergessen, daß diese Epoche fiir Wien eine Zeit voller Unruhen und Ungewißheiten war. Auch wenn die Stadt nach dem zweifachen Sieg der Monarchie und der Gegenreformation einen gewissen Aufschwung erlebt, so wird ihre Entwicklung doch durch zahlreiche Schicksalsprüfungen gebremst. In regelmäßigen Abständen wird die Hauptstadt der Habsburger von Katastrophen wie Epidemien, Hungersnöten, Feuersbrünsten und Überschwemmungen mit verheerenden Folgen heimgesucht. Am schlimmsten ist sicherlich die Pest, die 1679 in der Stadt und ihrer Umgebung wütet. „Man sah den ganzen Monat", Die Zeit der Gefahren : 53
so berichtet der Hofprediger Abraham a Sancta Clara, „um Wien und in Wien nichts als Tote tragen, Tote fuhren, Tote schleifen, Tote begraben .. ." 2 Die Bilanz ist traurig und beeindruckend: Wie drei Jahrhunderte zuvor fällt dieser neuen Seuchenwelle ein Drittel der Bevölkerung zum Opfer. Die Pestsäule, die einige Jahre später auf Initiative Leopolds I. am Graben, inmitten der Stadt, errichtet wird, erinnert an dieses tragische Ereignis. Auf hohem Sockel in drei Abschnitten errichtet, stellt sie zunächst den Sieg des Glaubens über die Pest dar und zeigt dann Leopold, der kniend die Heilige Dreifaltigkeit anbetet. Dieses Denkmal ist nicht nur Ausdruck der pietas austriaca, sondern auch Zeugnis für die Entstehung einer dem habsburgischen Raum gemeinsamen Kultur; bald schmücken Pestsäulen in der ganzen Monarchie die Plätze vieler Städte und Dörfer. Die Gefahr ausländischer Invasionen ist für Wien nicht gebannt. Während des 30jährigen Krieges sind es nicht die Türken, sondern die Schweden, deren Armee 1645 zweimal bis an die Tore Wiens vorstößt und die Stadt vier Tage lang unter Beschuß hält. Die Gefahr ist jedoch relativ bald gebannt. Die Bedrohung durch die Osmanen jedoch wird immer akuter. Ein Abkommen löst das andere ab, doch bringen diese nie ein endgültiges Ende der Türkenkriege. Auch wenn Wien zunächst verschont bleibt, unternehmen die Türken immer wieder Einfälle in die österreichischen Provinzen und verwüsten diese. Trotz dieses je nach Epoche realen oder versteckten Kriegszustands verschiebt sich die Frontlinie kaum, während die Dreiteilung Ungarns aufrecht bleibt. 1663 setzen sich die Türken wieder in Bewegung und beginnen eine Offensive solchen Ausmaßes, daß es zu einer internationalen Mobilisierung zur Verteidigung der Christenheit kommt. König Ludwig XIV. bricht sogar vorübergehend seine traditionelle Allianz mit den Türken und entsendet ein Expeditionskorps von 6.000 Mann. Am 1. August 1664 schlägt das christliche Heer unter dem Oberbefehl von General Montecuccoli den türkischen Angriff bei Mogersdorf, nördlich von Sankt Gotthard, zurück. Dieser Sieg aber gönnt der habsburgischen Monarchie nur eine kurze Atempause. Schon 1683 richtet sich eine neue türkische Offensive gegen Wien. Konstantinopel profitiert diesmal von einem Bündnis mit dem Fürsten von Siebenbürgen und der Unterstützung durch eine von Emmerich Tököli geführte starke antihabsburgische Bewegung. Die österreichische Diplomatie hat sich schon ein Jahr zuvor bemüht, den Sultan davon abzuhalten, den Frieden zu brechen, aber die Mission des Grafen Caprara in Konstantinopel scheitert. Unter der Führung von Großwesir Kara Mustapha behält die Kriegspartei die Oberhand. Schon der Name, den die Türken Wien geben - „der Goldene Apfel" - , zeugt von der Faszination, den diese Stadt auf sie ausübt. Obwohl Wien bei weitem nicht die am dichtesten besiedelte Stadt des Okzidents ist, ist es doch die kaiserliche Residenzstadt, die als solche das Prinzip des christlichen Universalismus verkörpert, 54
: Kaiserliche Haupt- und Residenzstadt
dem sich der Universalismus des Islam entgegenstellt, als dessen Hüter und Verteidiger sich der Sultan sieht. Für den Islam wäre der Fall Wiens in erster Linie von symbolischer Bedeutung. Zweifellos wäre dem Feldherrn, dem sich die Stadt ergibt, ewiger Ruhm beschieden. Ist dieses Schloß einmal gesprengt, so stünde der osmanischen Ausdehnung nach Westeuropa nichts mehr im Wege. Es steht also sehr viel auf dem Spiel, und die Verteidigung Wiens wird wie ein Kreuzzug vorbereitet. Unterstützt von Papst Innozenz XI. setzt Leopold I. alles daran, um über alle Glaubensspaltungen hinweg eine große Koalition der christlichen Fürsten zustande zu bringen. Während das Papsttum, Spanien, Portugal und Savoyen finanzielle Unterstützung leisten, erhält Leopold von Sachsen, Bayern und vor allem vom Polenkönig Johann III. Sobieski, mit dem er ein Bündnis schließt, militärische Hilfe. In den Kirchen Österreichs und des Heiligen Römischen Reiches werden mitreißende Predigten gehalten, die zum Kampf gegen die Ungläubigen aufrufen. Tonangebend ist der leidenschaftliche Augustinermönch Abraham a Sancta Clara, der unter dem Titel Auf, auf, ihr Christen eine ganze Reihe von Predigten hält. Es dauert jedoch eine Zeitlang, bis die Mobilisierung den Anforderungen eines so umfassenden Unternehmens gerecht wird. Unter dem Oberbefehl von Herzog Karl von Lothringen, einem ehemaligen Leutnant Montecuccolis, ist die kaiserliche Armee, abgesehen von einigen ungarischen Kontingenten, die eigens fiir diese Unternehmung ausgehoben werden, auf sich allein gestellt und zählt insgesamt etwa 33.000 Mann. Angesichts einer feindlichen Streitmacht von mehr als 150.000 Mann kann der kaiserliche Feldherr nur ein Rückzugsgefecht führen. In Erwartung der Hilfstruppen richtet sich das kaiserliche Heer in sicheren Positionen am Nordufer der Donau ein. Wien wird der Prüfung einer neuerlichen Belagerung ausgesetzt. Bevor die Stadt gänzlich eingekesselt ist, verläßt Leopold am 7. Juli, begleitet vom kaiserlichen Hof und gefolgt von einem Teil der Bevölkerung, seine Hauptstadt. Neun Tage später ist die Einkesselung der Stadt abgeschlossen. Von den Befestigungsmauern aus sehen die Wiener das etwa 25.000 Zelte umfassende Lager der Türken, ein Anblick, der durchaus auch den Entschlossensten den Mut hätte nehmen können. Dem 100.000 Mann starken Heer des Großwesirs, dem man noch die tatarischen Reiter hinzurechnen muß, die weite Gebiete in Niederösterreich verwüsteten, steht eine Garnison von 17.000 Mann gegenüber, die sich aus 11.000 Angehörigen regulärer Truppen und 6.000 Mann der Bürgerwehr zusammensetzt. Eine Hilfstruppe mit Kontingenten aus Lothringen, Bayern, Schwaben, Sachsen und Polen wird schnell zusammengestellt, aber würde Wien bis zum Eintreffen dieses Entsatzheeres den Angriffen noch standhalten können? Die seit der Belagerung von 1529 verstärkten Befestigungsanlagen, die im Laufe der letzten Wochen noch einmal ausgebessert worden waren, halten dem Beschuß 56
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durch die Türken stand. Unter dem Oberbefehl von Ernst Rüdiger Graf von Starhemberg und angespornt durch die Entschlossenheit von Bürgermeister Andreas von Liebenberg, zeichnen sich die Verteidiger durch Tapferkeit und Unverzagtheit aus und schlagen den Angriff zurück. Die Lage Wiens verschlimmert sich dennoch von Woche zu Woche. Z u den im Kampf erlittenen Verlusten kommen noch die Entbehrungen und vor allem eine Ruhrepidemie hinzu, an der auch Andreas von Liebenberg in den ersten Septembertagen stirbt. Dreimal gelingt es den Türken, mit Hilfe von Minen Breschen in die Befestigungsmauern zu schießen. Nach der dritten Explosion, am 6. September, wird ein Ansturm der Feinde gerade noch zurückgeschlagen, was aber den Belagerten nur wie eine letzte Galgenfrist erscheint. Es steht indes geschrieben, daß Wien nicht in die Hände der Ungläubigen fallen sollte. Das so sehnsüchtig erwartete Eintreffen des Entsatzheeres rettet die Stadt vor einem letzten Ansturm und verändert die Lage völlig. Am 31. August stößt die polnische Kavallerie zu den vereinigten christlichen Streitkräften, die nun insgesamt über 65.000 Mann verfügen. Diese Armee nimmt am 11. September am Kahlenberg in Sichtweite von Wien Stellung. Am nächsten Morgen, einem Sonntag, kurz vor der entscheidenden Schlacht, zelebriert der päpstliche Gesandte und Kapuzinerpater Marco d'Aviano die heilige Messe. Danach setzt sich die Befreiungsarmee in Bewegung und stürmt den Hügel hinunter, durch die Weingärten, dem Feind entgegen. Unter dem nominellen Oberbefehl von Johann Sobieski ist Karl von Lothringen für die Strategie der Schlacht verantwortlich. Seine Aufgabe wird dank eines schwerwiegenden Fehlers von Kara Mustapha erleichtert. Dieser teilt nämlich seine Truppe, um einen neuen Angriff zu versuchen, anstatt seine Streitkräfte zusammenzuziehen, um sich dem Entsatzheer entgegenzustellen. Das erweist sich als Katastrophe, und innerhalb einiger Stunden sind die Würfel gefallen. Als die Infanterie die türkische Linie durchbricht, erfaßt Verwirrung die türkische Armee, die sich zudem auch einem Ausfall der Belagerten gegenübersieht. Von Panik ergriffen, löst sich das türkische Heer auf; eine regellose Flucht setzt ein, wobei die Türken auch noch eine enorme Kriegsbeute hinterlassen. Sie suchen nur mehr ihr Heil in der Flucht. Kara Mustapha entkommt zwar, wird von seinem Gebieter jedoch für dieses Desaster zur Verantwortung gezogen und bezahlt dies am 25. Dezember in Belgrad mit seinem Leben. Diese Belagerung und diese Schlacht um Wien waren ein Ereignis von europäischer Tragweite. In einem offenkundig anderen historischen Kontext hat dieser Sieg für Mitteleuropa dieselbe Bedeutung wie 732 die Schlacht bei Poitiers für die westliche Christenheit. Wie im Jahre 1529 hat Wien seine Funktion als Bastion der Christenheit gegenüber dem Islam erfüllt. Die mehr als eineinhalb Jahrhunderte andauernde Bedrohung durch die Türken hat der Stadt aber noch eine andere Rolle, nämlich jene einer Grenzstadt, zugeschrieben. In dieser Hinsicht bedeutet das Jahr 1683 einen weiteren Wendepunkt in der Geschichte Wiens. Die Stadt sollte zwar
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weiterhin ausländische Invasionen erleben; andere sollten sogar das erreichen, was den Türken nicht gelungen war, und Wien besetzen. Aber erst viele Jahre später sollte es durch die Geschichte wieder an einem neuen Limes zu liegen kommen, einer neuer Grenze zwischen den Kulturen.
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Kapitel 3: Von der österreichischen Monarchie zum Kaisertum Österreich (I 683-1815)
Der Krieg hat tiefe Spuren in Wien hinterlassen. Wie 1529 waren die Vororte völlig zerstört, sollten aber rasch wieder aufgebaut und vergrößert werden; und wie 1529 wurde der Feind zwar in die Flucht geschlagen, aber nicht verfolgt. Der Sieg von Wien bedeutet aber nur eine kurze Kampfpause, folgt doch schon bald eine Gegenoffensive der Kaiserlichen mit dem Ziel einer vollständigen Befreiung des Königreiches Ungarn. Im September 1686 wird Ofen befreit, und in den folgenden Jahren weiten die kaiserlichen Generäle, der Markgraf von Baden und vor allem Prinz Eugen von Savoyen, diese Erfolge weiter aus. Am 21. Januar 1699 besiegelt der Friede von Karlowitz das Ende der türkischen Besetzung Ungarns. Der Friede von Passarowitz bringt den Habsburgern das Banat und Westserbien, was eine neuerliche territoriale Ausweitung nach Südosteuropa bedeutet. Die Türken sind weiterhin angriffslustig: 1688 und 1717 geht Belgrad verloren, kann aber jedesmal, zuerst 1690, dann 1740, wieder zurückerobert werden. Als sich die Lage allmählich stabilisiert, liegt die Frontlinie jenseits von Ungarn. Der Abzug der Türken bedeutet aber keineswegs, daß in Ungarn jetzt Eintracht und Friede herrschen. Leopold I. und nach ihm sein Sohn Josef I. (1705-1711) sehen sich dort mit dem Widerstand einer Partei konfrontiert, die die Autorität der Habsburger nicht anerkennt. Gestützt auf Siebenbürgen, verfügt Franz II. Räköczi über eine breite Unterstützung im Land und erhält außerdem, was noch gefährlicher ist, finanzielle Hilfe vom Franzosenkönig Ludwig XIV. Es dauert einige Zeit, bis diese Opposition ausgeschaltet werden kann. Erst der Friede von Szatmär im April 1711 unterwirft Ungarn der Souveränität der Habsburger. Für Wien bringt all das einen neuen Aufschwung. Nun, da sich die Autorität der Habsburger über das gesamte Königreich Ungarn erstreckt, stimmen Fakten und
Von der österreichischen Monarchie zum Kaisertum Österreich (1683-1815) : 5 9
Recht endlich überein: Die in dem Erbe von 1529 festgelegte Einheit ist nun zur Realität geworden. Die Pestsäule, die Leopold I. 1693 mit den Wappen der österreichischen Länder, Böhmens und Ungarns zeigt, ist nun nicht mehr nur Sinnbild für einen Traum oder Anspruch, sondern Stein gewordener Ausdruck einer politischen Wahrheit. Für Wien, das sich eineinhalb Jahrhunderte lang am östlichen Rand des habsburgischen Reiches befand, ändert sich die Situation innerhalb weniger Jahre vollkommen, und die Folgen sind evident. Begünstigt durch die Wiederherstellung des territorialen Gleichgewichts, liegt es nun im Zentrum eines großen Reiches im Herzen Europas. Aber Wien ist die Hauptstadt einer Monarchie von weit größerer Ausdehnung. Dazu kam es infolge des nach Erlöschen des spanischen Zweiges der Cosa d'Austria ausgebrochenen Erbfolgekrieges. Gemäß den Verträgen von Utrecht (1713) und Rastatt (März 1714) sollte Leopolds jüngerer Bruder Karl nicht den spanischen Thron besteigen, der gemäß dem vom letzten spanischen Habsburger hinterlassenen Testament mit Philipp von Anjou, dem Neffen Ludwigs XIV., auf die Bourbonen übergehen sollte. Statt dessen folgt Karl 1711 seinem Bruder Josef I. als Karl VI. nach; er regierte damit über ein politisches Gemeinwesen, zu dem durch den Frieden von Rastatt noch die spanischen Niederlande, Mailand, Mantua, die festländischen Besitzungen des Königreiches Neapel sowie Sardinien hinzukommen. Was die habsburgischen Besitzungen in Italien betrifft, so werden deren Grenzen aufgrund der politischen und militärischen Auseinandersetzung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer wieder verschoben und verändert. 1718 wird der Verlust Sardiniens durch die Annexion Siziliens kompensiert. Der polnische Erbfolgekrieg zwingt Karl VI. 1735, das selbständige Königreich Neapel abzutreten, wofür er aber Parma und Piacenza erhält; zudem eröffnet sich die Möglichkeit, das Großherzogtum Toskana in Besitz zu nehmen. Am Ende des Österreichischen Erbfolgekrieges wird 1745 der Friede von Aachen geschlossen: Osterreich muß die beiden kleinen italienischen Fürstentümer Parma und Piacenza abtreten, erhält dafür aber die Toskana. Von diesen Verschiebungen abgesehen, wird Österreich durch den Frieden von Rastatt zu einer Macht in Italien. Die österreichische Monarchie wird also um einige neue Besitzungen vergrößert, was natürlich auch ein Mehr an Verantwortung und Zuständigkeiten mit sich bringt. Einige Vorposten, wie die Enklaven am Oberrhein - beispielsweise Freiburg im Breisgau — und vor allem die Niederlande, die in etwa dem heutigen Belgien und Luxemburg entsprechen, sind von Rest der Monarchie abgeschnitten. Der zentrale Teil aber erstreckt sich geschlossen vom böhmischen Massiv bis zur Adria und von den Alpen bis zu den Karpaten. Die Habsburger bekleiden weiterhin die Kaiserwürde, konnte Leopold I. doch verhindern, daß Ludwig XIV. sich dieses Titels bemächtigte. Die Angelegenheiten 60
: Kaiserliche H a u p t - und Residenzstadt
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Wien mit seiner Stadtmauer und dem Glacis im Jahre 1730
Blick auf Wien vom Belvedere
Von der österreichischen Monarchie zum Kaisertum Österreich (I 683-1815) : 6 1
des Heiligen Römischen Reiches zählen daher weiterhin zu den Prioritäten des Kaisers und der Wiener Diplomatie. Die österreichische Monarchie jedoch gehört nur teilweise zum Reich (Ungarn, Siebenbürgen, Mailand und die Niederlande liegen außerhalb desselben). Aus diesem Grund strebt die Monarchie immer mehr danach, eine eigene, unabhängige politische Einheit zu bilden. Aufgrund dieser territorialen Kontinuität und eines gemeinsamen Schicksals wird sie allmählich als organische Einheit gesehen, die über den konstituierenden Teilen steht. Im Jahre 1684 beschreibt Wilhelm Philipp von Hörnigk in seinem Buch Osterreich über alles, wann es nur will àie Länder der Monarchie als Glieder eines einzigen Körpers. 1713 stellt Karl VI. das Postulat auf, daß seine Besitzungen ein „unteilbares und untrennbares" (indivisibiliter ac inseparabiliter) Ganzes darstellen. Auch Prinz Eugen von Savoyen, der die österreichische Monarchie als ein totum definiert, vertritt diese Idee eines Gesamtstaates. All diese Faktoren laufen unausweichlich in Wien zusammen. Von der Türkengefahr befreit und durch die Neugestaltung der politischen Landkarte des Kontinents bevorzugt, ist Wien die Hauptstadt einer Monarchie, die zu einer der europäischen Großmächte aufgestiegen ist.
WIEN
WÄCHST
Seit die militärische Front einige hundert Kilometer zurückgedrängt und Wien von den Ungewißheiten und Unruhen befreit ist, die seine Entwicklung behindert hatten, erlebt es einen von neuer Dynamik getragenen Aufschwung. Dieser wird zunächst räumlich umgesetzt. Die innerhalb der Festungsmauern liegende Altstadt ist von diesem Wachstum kaum betroffen, da die Grenzen der räumlichen Ausnützung intra muros praktisch erreicht sind ; entscheidende Zugewinne bringt es lediglich, wenn in die Höhe gebaut wird, d. h, mehrstöckige Häuser errichtet werden, eine Lösung, zu der man allerdings schon vor 1683 griff. Die Ruinen in den Vorstädten hingegen werden schnell wieder aufgebaut, und überall entstehen neue Gebäude. In diesen Jahrzehnten entwickelt sich auch eine gänzlich neue Auffassung des städtischen Raumes. Für die Stadtverwaltung beschränkt sich dieser noch auf das Gebiet intra muros; in Wirklichkeit aber versteht man darunter zunehmend die aus der Altstadt und den Vorstädten gebildete Einheit. Die Errichtung einer neuen Verteidigungslinie einschließlich der Vorstädte im Jahre 1704 ist ein Beweis fitir die sich ändernde Sichtweise. Diese halbkreisförmige, 13,5 Kilometer lange und 3,5 Meter hohe Mauer, bekannt als „Linienwall", erfüllt vor allem einen militärischen Zweck. Sie soll die Verteidigung Wiens verstärken, wird die Stadt damals doch gerade von einem Einfall der Kuruzzen bedroht, jenen abtrünnigen ungarischen Partisanen des siebenbürgischen Fürsten Franz II.
6 2 : Kaiserliche Haupt- und Residenzstadt
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Karlskirche
Kuppel der Karlskirche
Von der österreichischen Monarchie zum Kaisertum Österreich (I 683-1815) : 6 3
Räköczi. Die Situation ist nicht neu, nur daß die Vorgänger Leopolds I. die Vorstädte nicht in das Verteidigungssystem Wiens einbezogen hatten. Mit dieser Entscheidung einer Einbeziehung der Vorstädte wird deutlich, daß die Verantwortlichen der Monarchie allmählich beginnen, die Altstadt und die Vorstädte als Einheit zu sehen. Auch wenn die Gemeinde Wien ihre Macht noch nicht auf die Vorstädte ausdehnt, so betrachtet die Verwaltung den Linienwall als Grenze des Stadtgebietes und macht ihn ein Jahr nach seiner Errichtung auch zur Grenze der Steuerzone. In Hinkunft werden hier die Zölle und Akzisen eingehoben. Das Interesse an den Vorstädten wächst. Wichtige Einrichtungen und vor allem auch die soziale Oberschicht der Monarchie nehmen aktiven Anteil an deren Entwicklung, nicht zuletzt deshalb, weil dort große, unverbaute Flächen zur Verfügung stehen. Mehrere Bauprojekte in den Vorstädten gehen auf Initiativen der Herrscher zurück. So etwa die Karlskirche, die Karl VI. nach der Pestepidemie von 1713/1714, der mehr als achttausend Wiener zum Opfer fielen, gemäß eines Gelöbnisses errichten ließ. Die Kirche, dem Pestheiligen Karl Borromäus geweiht, der im übrigen auch eine bedeutende Persönlichkeit der Gegenreformation war, ist zweifellos das Hauptwerk des kaiserlichen Barock. Mit der Durchfuhrung dieses Baus beauftragt der Kaiser einige der bekanntesten Künstler jener Epoche. Als Zeichen dafür, daß eine neue Zeit angebrochen ist, stammen viele von ihnen nun nicht mehr aus Italien, sondern aus den österreichischen Ländern, die eine Reihe von Künstlern hervorbringen, die durchaus in der Lage sind, die Nachfolge der Italiener anzutreten, wie etwa die beiden Baumeister Johann Bernhard Fischer von Erlach aus Graz und später dessen Sohn Johann Emanuel aus Wien. Die Ausgestaltung des Innenraumes wird zum Teil drei bekannten österreichischen Malern anvertraut: Johann Michael Rottmayr, Daniel Gran und Martin Altomonte. Die beiden wichtigsten Elemente, die am Petersdom inspirierte Fassade mit der 72 Meter hohen Kuppel und die beiden auf dem Vorplatz errichteten Säulen, in die in offenkundiger Anlehnung an die Trajanssäule denkwürdige Szenen aus dem Leben des Schutzheiligen eingemeißelt sind, symbolisieren die zweifache römische Tradition: die katholische und die kaiserliche. Als typisches Beispiel der Gegenreformation preist die Karlskirche den Ruhm Gottes und den Ruhm des Kaisers als Nachfolger der Cäsaren. Das Theresianum ist ein weiteres Beispiel für die direkte Initiative eines Herrschers. Es befindet sich in einer ehemaligen kaiserlichen Residenz, der Neuen Favorita1, die bei Herannahen der Türken in Brand gesteckt und später unter Leopold I. nach den Plänen von Ludovico Burnacini wieder aufgebaut worden war. Von der Hofburg aus leicht zugänglich, dient dieses Schloß als Sommerresidenz des Hofes. Prunkvolle Feste mit bis zu zweitausend Gästen werden hier gefeiert. Mit dem Bau von Schloß Schönbrunn, das etwas weiter außerhalb der Stadt liegt, verliert die Neue Favorita zunehmend an Reiz. Maria Theresia, die 1740 die Nachfolge ihres Vaters Karl VI. antritt, findet für dieses Gebäude eine neue Verwendung: 1746 be-
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Palais Kinsky
Theresianum
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Von der österreichischen Monarchie zum Kaisertum Österreich (1683-1815) : 6 5
schließt sie, hier eine von Jesuiten geführte Unterrichtsstätte einzurichten, das sogenannte Seminarium nobilium, dessen Aufgabe die Ausbildung junger Adliger ist. In Gedenken an die Gründerin setzt sich schon bald der Name Theresianum durch. Auch der Adel trägt das Seine zur Entwicklung der Vorstädte bei. Unter den bedeutenden Familien der Monarchie, die in immer größerer Zahl einen Teil des Jahres in Wien verbringen, wird es Mode, eine Residenz außerhalb der Stadtmauern zu besitzen. Zwischen 1683 und 1750 werden hier nicht weniger als dreihundert Palais, Schlösser, Landhäuser und Villen gebaut. Es wird zur Gewohnheit, sich je nach Jahreszeit entweder in der Altstadt oder in der Umgebung Wiens aufzuhalten. Nach den Wintermonaten, die in Wien bei Hof beziehungsweise in der Nähe des Hofes verbracht werden, genießt man die - oft relative - Ruhe einer Residenz, wo man, nie allzuweit von der Stadt entfernt, in der frischen Luft eine andere Atmosphäre findet. Gleich nach dem erfolgreichen Ende der Türkenbelagerung beginnt zunächst vor allem in der Altstadt eine intensive Bautätigkeit. Viele hohe Würdenträger der Monarchie lassen sich in der Nähe der Hofburg ein Palais errichten; für die zahlreichen böhmischen Adligen ist dies meist eine Zweitresidenz neben ihrem Palais in Prag. Innerhalb eines engbegrenzten Umkreises entstehen damals unter anderen die Palais Batthyäny (heute Schönborn), Dietrichstein (später Lobkowitz), Harrach und Kinsky. Viele Familie besitzen neben diesem Stadtpalais auch eine Residenz außerhalb der Stadtmauern. So läßt sich Fürst Hans Adam von Liechtenstein gleichzeitig zwei Palais erbauen, mit deren Errichtung er eine Gruppe italienischer Baumeister beauftragt: Domenico Martineiii, Antonio Riva und Gabriele di Gabrieli. Seine Sommerresidenz in der Vorstadt Roßau steht inmitten eines großen Parks in französischem Stil. Die reichste Familie der Monarchie, die Schwarzenberg, steht dem nicht lange nach. Zu ihrem Stadtpalais am Neuen Markt im Herzen der Altstadt gesellt sich 1716 ein Sommerpalais am Anfang des Rennwegs. Dieses von Lukas von Hildebrandt, dem zweiten großen Meister des Hochbarock, begonnene und von Fischer von Erlach beendete Palais verfugt ebenfalls über einen prachtvollen Barockpark mit Wasserspielen, die mit Hilfe eines ausgeklügelten Systems betätigt werden können. Prinz Eugen von Savoyen, jener große Held der Türkenkriege und Präsident des Hofkriegsrates, Berater mehrerer Herrscher und fast ein halbes Jahrhundert lang Hauptfigur der militärischen und politischen Szene, prägt in dem gleichen Maße, in dem er den Aufstieg Österreichs zur Großmacht mitgestaltet, das Stadtbild mit prunkvollen Bauten. 1696 beauftragt er Johann Bernhard Fischer von Erlach mit dem Bau eines Palais in der Himmelpfortgasse, das einerseits als Privatresidenz und andererseits als offizielles Gebäude zur Ausübung seiner Funktionen dient. Aber ein neues Projekt fuhrt auch ihn in die Vorstadt, wo er mit dem berühmten Belvedere eines der schönsten architektonischen Ensembles Wiens errichtet. Zu diesem Zweck erwirbt er einen mit Weingärten bepflanzten und sanft zur Stadt hin abfallenden 66
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Hügel. Lukas von Hildebrandt errichtet hier ab 1714 zwei einander gegenüberliegende Palais, das Untere und das Obere Belvedere, Meisterwerke der barocken Kunst. Das Untere Belvedere dient als Sommerresidenz, während das Obere Belvedere zu Repräsentationszwecken und als Veranstaltungsort für glanzvolle Feste und Empfänge verwendet wird. Ein Park im französischen Stil verbindet die beiden Palais. In einem Flügel richtet der Prinz eine Menagerie ein, welche die erste Giraffe Wiens und einen Löwen beherbergt, der — welch verblüffender Zufall - am gleichen Tag wie sein Herr starb. Von den Alleen des Parks aus überblickt der Spaziergänger die Altstadt und ihre Umgebung, ein Panorama, das Canaletto in einem seiner berühmten Bilder später festgehalten hat. Auch die kirchliche Architektur erlebt in diesen Jahren eine neue Blüte. Im Herzen der Stadt, auf einer der ältesten Kultstätten Wiens, die nachweislich schon seit dem antiken Vindobona bezeugt ist, errichtet der junge Lukas von Hildebrandt die Peterskirche, ein Juwel des Wiener Barock, nach dem Vorbild der Peterskirche in Rom. Das von Rottmayer gemalte Kuppelfresko stellt die Himmelfahrt Mariens dar, eines der Themen, das die Bedeutung des Marienkultes in der pietas austriaca unterstreicht. Auch in den Vorstädten entstehen viele Pfarr- und Ordenskirchen. Bei einigen, wie zum Beispiel bei der Kirche der Barmherzigen Brüder in der Leopoldstadt oder bei der Pfarrkirche Mariahilf, handelt es sich um einen Wiederaufbau nach deren Zerstörung während der Türkenbelagerung. Letztere zieht als eine der Jungfrau Maria geweihte Wallfahrtskirche viele Gläubige an und wird zu einem Zentrum des Marienkultes. Viele religiöse Orden, wie die Elisabethinen, die Trinitarier, die Salesianerinnen und die Piaristen2, lassen sich im Laufe dieser Jahre in Wien nieder und errichten eigene Kirchen. Die Salesianerinnen, die von der Witwe Josefs 1.1716 - also nur zwei Jahre, nachdem die ehemals spanischen Niederlande unter österreichische Herrschaft gekommen waren - von Mecheln nach Wien geholt wurden, eröffnen ein Institut für adelige Mädchen. Die Piaristen leiten seit 1701 zunächst als Ergänzung zu der berühmten Schule der Jesuiten, die sich damals am Höhepunkt ihrer Macht befinden, in der Josefstadt ein Gymnasium, das sie aber schon bald in Rivalität zur berühmten Gesellschaft Jesu bringen sollte. Das aus der Kirche und dem Gymnasium bestehende Ensemble bildet einen der schönsten barocken Plätze Wiens.
DIE BEVÖLKERUNG
WIENS
Adlige und Geistliche spielen, was den raschen Bevölkerungszuwachs Wiens betrifft, nur eine begrenzte Rolle. Neben den Residenzen des Adels und den Klöstern entwickelt sich ein Wohnmodell der bürgerlichen Bevölkerungsschicht, dessen Zeugen noch heute zu sehen sind. Da die räumliche Ausnützung in den Vorstädten Von der österreichischen Monarchie zum Kaisertum Österreich (1683-1815) : 6 7
nicht den gleichen Einschränkungen unterliegt wie in der Altstadt, werden dort im Gegensatz dazu überwiegend ein-, höchstens zweistöckige Häuser errichtet. Im Laufe der Zeit lassen sich die meisten Neuankömmlinge in den Vorstädten nieder, wo jedoch auch bald der Bevölkerungsdruck spürbar wird, was dazu fuhrt, daß die meisten Besitzungen des Adels ab 1770 parzelliert werden müssen. Diese Entwicklung führt zu immer größeren Abweichungen zwischen der Einwohnerzahl der Innenstadt und jener der Vorstädte. Bereits 1700, also nur 17 Jahre nach der Türkenbelagerung, hat sich das Verhältnis zugunsten der Vorstädte verlagert. Auf dem Stadtgebiet des heutigen Wien beträgt das Verhältnis damals 50:40; fünfzig Jahre später ist der Unterschied noch deutlicher: Die Bevölkerung in den Vorstädten wächst auf 63 Prozent an, während nur mehr 28 Prozent intra muros wohnen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts geht die Einwohnerzahl der Innenstadt auf 20,5 Prozent zurück, während die Vorstädte eine gleichbleibend wichtige Rolle spielen. Diese Zahlen zeugen von der Entwicklung der Vororte, das heißt jenes Gebietes, das jenseits des Linienwalls liegt und dessen Prozentsatz zwischen 1750 und 1800 von 9 auf 16 Prozent steigt. Da auch in den Vorstädten immer weniger freier Raum zur Verfügung steht, weichen die Letztankömmlinge auf diesen dritten Kreis aus. Diese vorstädtischen Dörfer, wo die Besiedlung noch sehr spärlich ist, bewahren sich einen ländlichen Charakter. Viele wohlhabende Familien besitzen hier einen Zweitwohnsitz, wo sie die Sommermonate verbringen. „Ich war stäts gern im Sommer auf dem Lande", erzählt die Schriftstellerin Karoline Pichler in ihren Memoiren, „das heißt in dem Garten meiner Altern auf dem benachbarten Dorfe Hernais gewesen. Die freie Natur, Bäume, Blumen, das Gebirg in der Ferne, schöne Sonnenuntergänge und Mondnächte sprachen mein Gefühl an und es war mir immer leid, wenn wir im Herbste in die Stadt zurückkehrten."3 Die Einwohnerzahl Wiens steigt insgesamt gesehen sehr rasch. 1700 zählt Wien mit seiner Umgebung 80.000 Einwohner, fünfzig Jahre später hat sich diese Zahl bereits mehr als verdoppelt. Die erste, 1754 durchgeführte Volkszählung ergibt eine Einwohnerzahl von 175.460; 1772 sind es 192.971 und 1790 bereits 207.514 Einwohner. Anfang des 19. Jahrhunderts ist Wien die funftgrößte Stadt Europas. Bald nach 1683 überflügelt Wien Prag, 1700 Hamburg, wodurch Wien zu der am dichtesten besiedelten Stadt des deutschsprachigen Raumes und ganz Mitteleuropas wird.
W I E N ALS Z E N T R U M
DER
POLITIK
Wien verdankt seine Entwicklung auch seiner Funktion als politisches Zentrum, obwohl die österreichische Monarchie noch weit von einer einheitlichen Regierung entfernt ist. Die von Ferdinand I. eingeführten zentralen Verwaltungsstellen existieren in Wien neben den Hofkanzleien, die für die verschiedenen habsburgischen 68
: Kaiserliche Haupt- und Residenzstadt
Besitzungen zuständig sind (Österreich, Böhmen, Ungarn und Siebenbürgen). Außerdem gibt es noch den Spanischen Rat, dem die im 1714 angegliederten Gebiete unterstehen. Die von Friedrich Karl Graf von Schönborn geleitete Reichskanzlei ist für die Angelegenheiten des Heiligen Römischen Reiches zuständig. Alle diese obersten Zentralstellen sind voneinander unabhängig, wobei jede eifersüchtig über ihre Selbständigkeit wacht, was bisweilen zu Problemen des Zusammenhalts fuhrt — ja, es kommt sogar vor, daß sie eine entgegengesetzte Politik verfolgen. Umgekehrt gibt es, auch wenn die verschiedenen Zuständigkeitsbereiche theoretisch genau definiert sind, in der Praxis viele Interferenzen, was die Gefahr ernsthafter Auseinandersetzungen in sich birgt. Aus all diesen Gründen entwickelt sich die Gewohnheit, die Verantwortlichen der verschiedenen Hofkanzleien zu den Sitzungen der „Geheimen Konferenz" beizuziehen. Verglichen mit der französischen Monarchie fehlt es dem österreichischen Regierungsapparat an Integration, was sich auch auf seine Effizienz auswirkt. Aber da all diese verschiedenen Entscheidungs- und Handlungszentren ihren Sitz in derselben Stadt haben, bedeutet dies doch, daß die Gesamtheit der habsburgischen Monarchie in unterschiedlicher Form und auf unterschiedliche Art und Weise von Wien aus regiert wird. Karl VI. bemühte sich zwar nicht um eine Reform des Regierungssystems, unterstrich aber mit der Pragmatischen Sanktion vom April 1713 die Einheit der österreichischen Monarchie. Diese Verfugung resultierte aus dem Bemühen, die Nachfolge genau zu regeln, um Osterreich nach dem Tod des Herrschers vor einer Krise zu bewahren. 4 Die Pragmatische Sanktion legt das Prinzip der Primogenitur zugunsten der männlichen und weiblichen Nachkommen Karls VI. aus und verweist die Töchter Josefs I. in der Erbfolge an die zweite Stelle. Nach dem Tod eines Sohnes im Kindesalter profitiert die am 13. Mai 1717 geborene älteste Tochter Karls, Erzherzogin Maria Theresia, von dieser Verfügung. Nach 1713 setzt Karl VI. alles daran, um die Anerkennung der Pragmatischen Sanktion sowohl innerhalb als auch außerhalb der Monarchie zu erreichen. Im Laufe der Jahre und nach einigen Konflikten gelingt es der Wiener Diplomatie, sich der Anerkennung der Pragmatischen Sanktion durch die europäischen Mächte zu versichern. Nur Bayern und Sachsen enthalten sich der Zustimmung, da Fürsten aus diesen Häusern mit den Töchtern Josefs I. verheiratet sind, die gegebenenfalls ihre Rechte und Ansprüche geltend machen wollen. Auch innerhalb der Monarchie billigen nach und nach alle Landtage diese Verfügung. In historischer Perspektive ist die Bedeutung dieses Vorgehens klar. Die einstimmige Annahme dieser Regelung durch die Vertretungen der habsburgischen Länder kommt einer Zustimmung zur österreichischen Monarchie gleich, um so mehr, als die Pragmatische Sanktion mit Nachdruck deren Einheit und Unteilbarkeit bekräftigt. Von nun an dient diese als Referenz für all jene, die die Idee eines geeinten Österreich gegen alle zentrifugalen Kräfte verteidigen.
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Zunächst zeigt die Pragmatische Sanktion allerdings nicht die erhoffte Wirkung. Der Tod Karls VI. im Oktober 1740 stürzt Osterreich in eine tiefe Krise, die es sogar dahinzuraffen droht. Kaum hat Maria Theresia die Nachfolge ihres Vaters angetreten, sieht sie sich größten Gefahren ausgesetzt. Die Gegner des Hauses Österreich glauben, leichtes Spiel mit der jungen und unerfahrenen Herrscherin zu haben. Den Auftakt gibt der neue König von Preußen, Friedrich II., der im Dezember 1740 in Schlesien einfällt und im April 1741 einen glänzenden Sieg davonträgt. Mehrere Staaten, die die Pragmatische Sanktion anerkannt hatten, halten sich nun nicht mehr an ihr Versprechen. Preußen, Frankreich, Spanien, Bayern, Sachsen und Savoyen gehen ein Bündnis gegen Österreich ein. Die Kanzleien dieser Bündnisstaaten beginnen bereits damit, Aufteilungspläne zu machen. Spanien hätte gerne seine 1713 verlorengegangenen Gebiete zurück, Bayern erhebt Anspruch auf Tirol, Oberösterreich und Böhmen. Der bayerische Kurfürst, der mit Unterstützung der französischen Armee unter Marschall Belle-Isle nach Prag vordringt, läßt sich dort zum König von Böhmen krönen und wird am 24. Januar 1742, nachdem er sich die Mehrheit des Wahlkollegiums gesichert hatte, unter dem Namen Karl VII. zum Kaiser gewählt. Der Ausgang des Konflikts scheint angesichts des ungleichen Kräfteverhältnisses unausweichlich, und doch gelingt es Maria Theresia, die nahezu aussichtslose Lage umzukehren. In diesem Kampf, in dem vielleicht sogar das Uberleben der Monarchie auf dem Spiel steht, legt die junge Herrscherin eine Tapferkeit und eine Entschlossenheit an den Tag, die sogar bei ihren Feinden Bewunderung hervorrufen. Die Rettung kommt von unerwarteter Seite. Die Unterstützung Ungarns erlaubt es Maria Theresia, ihr militärisches Aufgebot zu verstärken und den Feinden die Stirn zu bieten. Ihr kommt dabei die von ihrem Vater gegenüber diesem für seinen Widerstandsgeist bekannten Land verfolgte Politik der Zugeständnisse zugute. Sie versteht es auch, das Herz der ungarischen Nation anzusprechen. Als sie sich im September 1741 in Preßburg an den Landtag wendet, hält sie ihren Erstgeborenen, den künftigen Josef II., im Arm. Aber Emotion ist nicht alles. Um ihr Ziel zu erreichen, muß Maria Theresia die ungarischen Freiheiten bestätigen. Aber letztlich ist das Wichtigste erreicht: Der ungarische Adel unterstützt die bedrängte Herrscherin und stimmt der Aushebung von 20.000 Mann zu. Maria Theresia hat sich dem Schicksal erfolgreich gestellt. Die Zeiten der Katastrophen sind vorüber, und das Waffenglück wechselt allmählich ins andere Lager. Die Franzosen und Bayern werden aus Prag vertrieben; Karl VII. muß aus seiner Hauptstadt fliehen, die von den Österreichern besetzt wird; England tritt, nach langem Zögern, in den Krieg ein, womit das Kräftegleichgewicht wiederhergestellt ist. Der Tod Karls VII. erlaubt es, Österreichs Aufschwung unter Beweis zu stellen. Maria Theresia gelingt es dieses Mal, die Wahl Ihres Gemahls Franz Stephan von Lothringen zum Kaiser durchzusetzen, der den Namen Franz I. annimmt. Der Vertrag
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von Dresden im Dezember 1745 und der Friede von Aachen im Jahre 1748 setzen dem Osterreichischen Erbfolgekrieg ein Ende. Maria Theresia kann stolz auf das von ihr vollbrachte Werk sein. Schmerzhaft ist für sie allerdings, daß sie den größten Teil Schlesiens an Friedrich II. abtreten muß. Die Grundlage der österreichischpreußischen Rivalität um die Vormachtstellung in Deutschland wird bereits hier gelegt, auch wenn der Ausbruch des Konfliktes erst ein Jahrhundert später erfolgen sollte. Das Allerwichtigste aber ist erreicht: Die österreichische Monarchie, die vom Verschwinden bedroht war, ist gerettet und die kurzfristig verlorene Kaiserkrone zurückgewonnen. Das Schlimmste konnte also verhindert werden, aber dieser Krieg deckte die Unzulänglichkeiten des österreichischen Regierungs- und Verwaltungssystems auf und machte die Notwendigkeit einer Reform deutlich. Maria Theresia nimmt die Zentralisierung nach den Vorschlägen eines ihrer engsten Berater, Graf Haugwitz, wieder auf, unterwirft aber nicht alle ihre Besitzungen dem gleichen System. Ungarn ist gemäß den Vereinbarungen von Preßburg ein Sonderstatus vorbehalten. Niemals sollte Maria Theresia die Unterstützung vergessen, die ihr dieses Land in den schwersten Stunden ihrer Herrschaft zuteil werden ließ, während andere Verbündete, allen voran in Böhmen, sich abwendeten. Die Vernunft gebietet ihr auch, mit dem Königreich, das in seiner Gesamtheit erst seit kurzem unter der Herrschaft ihrer Familie steht, behutsam vorzugehen. 1749 gibt Maria Theresia jedoch ihre Zustimmung zu einer Vereinigung der österreichischen und der böhmischen Hofkanzlei in Form einer neuen Institution, dem sogenannten Directorium in publicis et cameralibus, das diese Länder einer gemeinsamen Verwaltung und Finanzoberhoheit unterstellt. 1760 löst die Vereinigte böhmisch-österreichische Hofkanzlei dieses Direktorium ab; die Finanzzuständigkeit wird ihr entzogen und der Hofkammer zugeteilt. Diese Aufteilung der Verantwortung stellt die vor elf Jahren beschlossene Ausrichtung aber keineswegs in Frage. Die Vereinigte Hofkanzlei ist mit Kontroll-, Entscheidungs- und Exekutivfunktionen ausgestattet und ist sozusagen ein Superministerium, das in einer modernen Regierungsstruktur dem Innen-, Kultus- und Erziehungsministerium entsprechen würde. Diese Entscheidungen setzen die unter Ferdinand II. begonnene Entwicklung fort und festigen den böhmisch-österreichischen Block, dessen Integration bereits weit fortgeschritten ist. Das gesamte Gebiet ist in Kreise eingeteilt und wird von einem Netz von Beamten verwaltet, die jedoch Wien unterstehen. Diese Maßnahmen bestätigen aber auch den tatsächlichen und rechtlichen Dualismus, der sich — bedingt durch die unterschiedliche Entwicklung — zwischen diesem böhmischösterreichischen Gebiet und Ungarn entwickelt hat und bis 1918 ein entscheidender Faktor in der Geschichte der Habsburgermonarchie bleiben sollte. Die zweite bedeutende Reform zur Modernisierung des österreichischen Regierungssystems ist die Gründung des Staatsrates im Jahre 1760.5 Auch wenn dieser keine ExekutivV o n d e r österreichischen M o n a r c h i e z u m K a i s e r t u m Ö s t e r r e i c h ( I 6 8 3 - 1 8 1 5 ) : 7 1
funktion hat, so ist er doch ermächtigt, die anderen Regierungs- und Verwaltungsinstanzen zu kontrollieren. Außerdem obliegt es dem Staatsrat, dem Herrscher Vorschläge zu unterbreiten. Ab einer gewissen Ebene kann auch keine Maßnahme ergriffen werden, ohne daß diese vorher dem Staatsrat zur Uberprüfung und zur Meinungsäußerung vorgelegt wird. Der Name dieser Institution bezieht sich nicht mehr auf den Hof oder die Monarchie, sondern auf den Staat. Diese Verschiebung bestätigt, daß Osterreich zunehmend als über den konstituierenden Teilen stehende Gesamtheit verstanden wird, auch wenn sich Ungarn, die Niederlande und die italienischen Besitzungen noch der Befugnis des Staatsrates entziehen. Die Einrichtung des Staatsrates bringt keine Vereinfachung des österreichischen Regierungssystems mit sich, das einer außerordentlich komplexen Maschinerie gleicht. 1762 gibt es nebeneinander nicht weniger als sechs zentrale Behörden, die alle ihren Sitz in Wien haben. Die Entwicklung dieses Staatsapparates erfordert jedenfalls die Ausbildung von Beamten, ein Ziel, dem vornehmlich die Neuorganisation der Wiener Universität dienen soll. Die vorrangige Rolle der juristischen Studien und die Bedeutung, die einem Mann wie Franz Martini beigemessen wird, der dort den Unterricht des Naturrechts einfuhrt, müssen in diesem Licht gesehen werden. Wien profitiert aber auch noch von anderen Maßnahmen, die seine Vormachtstellung unterstreichen. Aufgrund seiner Doppelfunktion als Haupt- und Residenzstadt beschließt Maria Theresia, hier das Haus-, Hof- und Staatsarchiv zu gründen, das - bevor es nur mehr der Erinnerung an die Monarchie dient - auch einen politischen Zweck erfüllte. Gleiches gilt, wie wir gesehen haben, fur das Theresianum und die Orientalische Akademie, die 1754 eröffnet wird und deren Ziel die Ausbildung der habsburgischen Diplomaten ist. Andere Initiativen beziehen sich auf die traditionelle Rolle der Habsburger als Mäzene. In dieser Funktion hatte schon Karl VI. die Schaffung einer Hofbibliothek beschlossen. Diese war in der Hofburg untergebracht und sollte schon bald zur einer der am reichsten ausgestatteten Bibliotheken Europas werden. In diesem Sinne gründet Maria Theresia 1741 das Hoftheater, den Vorläufer des heutigen Burgtheaters. Diese Entscheidung zeugt in erster Linie von dem Wunsch, die Erhabenheit des Fürsten zu unterstreichen, denn aus ihrer religiösen Überzeugung heraus war die Herrscherin dem profanen Theater gegenüber eher mißtrauisch eingestellt. Nach dem Vorbild der Comédie Française sollte dieses Theater allmählich zur bedeutendsten Bühne im deutschsprachigen Raum werden. In beiden Fällen erwiesen sich die Herrscher als Schirmherren der Kunst und der Literatur. Diese neuen Institutionen unterstehen zwar der Autorität des Hofes, erweitern aber auch den Bereich der Zuständigkeit des Staates und verleihen diesem ein gewisses Prestige. Maria Theresia hat ihre Zentralisierungspolitik vorerst nur in den böhmischösterreichischen Ländern durchgeführt. Ihr Sohn Josef II. wollte sie auf das gesamte Gebiet der Monarchie ausdehnen. Mitregent seit dem Tode seines Vaters im Jahre
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Maria Theresia im Kreise ihrer Familie auf der Terrasse von Schloß S c h ö n b r u n n
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1765, tritt er Ende November 1780 die Nachfolge Maria Theresias an. Während er sich bislang durch seine Mutter, die über sein Systemdenken beunruhigt war, gehemmt fühlte, kann er nun das seit langem in ihm gereifte Reformprogramm endlich umsetzen. Die Sonderbehandlung Ungarns zeigt die Unterschiede in der Politik der beiden. Maria Theresias Ziel war es zweifellos, den Gegensatz zwischen Ungarn und den böhmisch-österreichischen Ländern zu verringern. Bedacht darauf, die Ungarn nicht vor den Kopf zu stoßen, hat Maria Theresia dies aber durch eine Politik der kleinen Schritte zu erreichen verstanden. Durch zunehmende Berührungspunkte hatte sie begonnen, Ungarn an die böhmisch-österreichischen Ländern heranzuführen. Mit dem gleichen Geschick weitergeführt, hätte dies auch gelingen können. Aber diese Umsicht fehlt Josef II., der beschließt, die Beziehungen zwischen Wien und Ungarn neu zu gestalten. Nachdem er das alte Komitatssystem aufgelöst hatte, eine der Grundlagen der ungarischen Autonomie, teilt er das Königreich des hl. Stephan in zehn Distrikte, die gleichzeitig auch Verwaltungsbezirke darstellen. Dort, wo Maria Theresia behutsam und verständnisvoll vorgegangen war, droht Josef II. den Bogen zu überspannen. Er, der Philosophenkaiser, setzt es sich zum Ziel, eine Monarchie zu errichten, die den Normen der Vernunft entspricht und deren Gebiete von den Niederlanden bis Siebenbürgen und von der Lombardei bis Böhmen nach den gleichen Gesetzen und Regeln regiert werden. Mit überstürztem Eifer und unter Mißachtung der Traditionen, der Interessen der Eliten und der Gefühle der Bevölkerung geht er daran, diesen Einheitsstaat zu formen. Die Landtage werden ihrer Vorrechte beraubt und somit auf den Rang von Registrierbehörden herabgesetzt. Die konstitutiven historischen Einheiten der Monarchie werden in Hinkunft nur mehr wie einfache Verwaltungsbezirke behandelt. Äußeres Zeichen dieser Politik ist die Überführung der Stephanskrone, des Symbols der ungarischen Nation, nach Wien. Aber diese Politik trägt keineswegs zur Stärkung der Monarchie bei, im Gegenteil, sie bringt diese sogar in Gefahr. Ein Opfer seines Systemdenkens, konnte Josef II. sich nicht vorstellen, daß seine zum Wohl der Gesamtmonarchie gedachten Maßnahmen auf derartigen Widerstand stoßen würden, daß er dessen nicht Herr wurde. Tatsächlich löst diese Politik in Böhmen, Ungarn, in der Lombardei und vor allem in den Niederlanden eine heftige Opposition aus, die sich auf die Verteidigung des historischen Rechtes stützt. Ungarn und die Niederlande, wo die Leidenschaften am stärksten hochgehen, drohen sogar mit einer Abspaltung. Vor seinem Tod im Februar 1790 wird Josef II. von einem Gefühl des Gescheitertseins überwältigt und kann nur die Vergeblichkeit seiner Anstrengungen feststellen. Die historischen Traditionen erwiesen sich als stärker als sein Wille zur Einheit. Dieses gescheiterte Unterfangen sollte tiefe Spuren hinterlassen. Es führte dazu, daß die Bewohner der Lombardei und der Niederlande einige Jahre später die fran7 4 : Kaiserliche Haupt- und Residenzstadt
zösische Revolutionsarmee mit offenen Armen empfangen. Langfristig gesehen stimulierte es sogar das Aufkommen nationaler Gefühle in Mitteleuropa. Zunächst gelingt es Josephs jüngerem Bruder Leopold II. noch, die Krise während seiner zweijährigen Regierungszeit dank einiger Konzessionen zu entschärfen, die gewisse Entscheidungen des verstorbenen Kaisers rückgängig machen, ohne jedoch am Wesentlichen zu rütteln. So werden nach Ablauf dieser Zeit die von Maria Theresia durchgeführten Reformen nicht in Frage gestellt. Wien bleibt unbestritten das politische und administrative Zentrum der Monarchie. Als Folge der Erweiterung der Zentralbehörden wird der Beamte zu einem Menschentypus der Wiener Gesellschaft. Parallel zu dieser Entwicklung erfährt Wien auch als Wirtschafts- und Handelszentrum einen neuen Aufschwung. Im Zusammenhang mit dem Niedergang Süddeutschlands kam es Ende des 16. Jahrhunderts zu einer Neubelebung der Handelsaktivitäten, die aber aufgrund des 30jährigen Krieges und der ständigen Bedrohung durch die Türken sehr unbeständig blieb. Auch in diesem Sinne stellt das Jahr 1683 einen Wendepunkt dar. Die Wiederherstellung eines sicheren und entspannten Klimas bringt die Bedingungen für einen wirtschaftlichen Aufschwung mit sich. Dieser wird noch durch die von den Führungskreisen der Monarchie übernommene merkantilistische Doktrin begünstigt. Schließlich fuhrt auch der Bevölkerungszuwachs zu einer Steigerung des Bedarfs, was wiederum die Produktion ankurbelt. Der Hof und die Gesellschaft in seinem Umkreis sind mächtige Wirtschaftsfaktoren. Der Hofstaat wird immer größer und zählt unter Karl VI. bereits über 2.000 Mitglieder. Wenn man die Familien und deren Dienerschaft berücksichtigt, so stellt er ungefähr ein Viertel der Bevölkerung intra muros. Es ist daher nicht erstaunlich, daß in Wien ebenso wie in anderen Hauptstädten - allen voran Paris - vor allem Luxusgüterindustrien angesiedelt werden. An erster Stelle steht dabei die Seidenindustrie, die Ende des 18. Jahrhunderts 20 Prozent der aktiven Bevölkerung, überwiegend in den Vorstädten Neubau und Schottenfeld, beschäftigt. Ein anderes Beispiel für die Ansiedlung einer Luxusgüterindustrie ist die mit Erlaß vom 27. Mai 1718 erfolgte Genehmigung der Gründung einer Porzellanmanufaktur durch Claude Innocent du Paquier, die nach der acht Jahre zuvor gegründeten Meißner Manufaktur nun die zweite Porzellanmanufaktur Europas ist. Drei Jahre später läßt sich diese in einer Straße, deren Name Porzellangasse uns heute noch an die Manufaktur erinnert, nieder. 1744 wird sie vom Staat übernommen und bleibt bis zu ihrer Schließung 1864 in dessen Eigentum. Dank der oberen Gesellschaftsschicht gibt es in Wien einen großen Markt für die Herstellung von Möbeln. Als Josef Dannhauser 1803 sein berühmtes Haus gründet, setzt dieses eine lange Tradition fort. Aber das Aufkommen neuer Branchen und Aktivitäten wiegt das Verschwinden jener Geschäftszweige, die in der Vergangenheit zum Reichtum Von der österreichischen Monarchie zum Kaisertum Österreich (I 683-1815) : 75
Wiens beigetragen haben, nicht auf. Der Weinhandel spielt zwar nicht mehr eine so dominierende Rolle wie im Mittelalter, doch ist er für das Wirtschaftsleben Wiens auch weiterhin von Bedeutung.
DAS
BAROCKZEITALTER
Unter Karl VT. und Maria Theresia erreicht das Barockzeitalter seinen Höhepunkt. Auch in dieser Beziehung nimmt Wien eine Vorrangstellung ein, obwohl es zweifellos mehrere bedeutende Zentren des Barock im Donauraum gibt. Was die Barockmusik betrifft, spielt Salzburg, das zwar noch nicht zur Monarchie gehört, mit dieser aber schon in enger Verbindung steht, dank der Initiativen seiner Fürsterzbischöfe eine herausragende Rolle. Prag, ein weiteres barockes Zentrum, war lange Zeit ein Konkurrent Wiens, aber seit der Schlacht am Weißen Berg hatte, zumindest politisch gesehen, ein Niedergang eingesetzt. Immer noch die Hauptstadt eines Königreiches, manifestiert sich dies aber nur mehr im äußeren Erscheinungsbild. Noch schmückt sich die Stadt in der zweiten Hälfte des 17. und während des 18. Jahrhunderts mit barocken Prachtstücken. Als ein Zeichen der neuen Zeit handelt es sich dabei aber nicht mehr um Gebäude mit einer politischen Zweckbestimmung, sondern um Palais des Adels, um Kirchen und Klöster. Sogar die böhmische Hofkanzlei wird von Johann Bernhard Fischer von Erlach zwischen 1708 und 1714 in Wien und nicht in Prag errichtet. Der Aufschwung Wiens, verbunden mit seinen verschiedenen Funktionen, äußert sich in zahlreichen Bauten, wie prächtigen Kirchen und eindrucksvollen Palais des Hochadels. Vor allem aber manifestiert der Stil des Barock mit Nachdruck den Glanz und die Macht dieser Monarchie, die in weniger als einem Jahrhundert zu einem der größten politischen Gebilde Europas geworden ist. Die von Fischer von Erlach, Vater und Sohn, erbaute Hofbibliothek verbindet Politik und Kultur. Diese Absicht wird sowohl durch die Statue Karls VI. in der Mitte des ovalen Saals als Hercules musarum als auch durch Daniel Grans Kuppelfresko, das die Apotheose des Herrschers zeigt, unterstrichen. Die von Josef Emanuel Fischer von Erlach erbaute und in die Hofburg eingebundene Winterreitschule stellt einen der Höhepunkte der höfischen Kultur dar. Hier finden große Reiterfeste und Karussells statt, wie jenes im Januar 1743, an dem auch Maria Theresia teilnimmt, um die Rückeroberung Prags zu feiern. Außerhalb der Hofburg zeugt eine Reihe prächtiger Gebäude von den Veränderungen in der Organisation der Monarchie, die in Hinkunft mit den Worten Prinz Eugens als totum gesehen wird. Es sind dies die böhmische Hofkanzlei und vor allem die zwischen 1717 und 1719 von Lukas von Hildebrandt erbaute Geheime Hofkanzlei, die nach der großen Reform von 1749 die Staatskanzlei beherbergt. In die76
: Kaiserliche Haupt- und Residenzstadt
Belvedere
Parade in Schönbrunn im
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sem Palais läßt sich 1753 Graf beziehungsweise später Fürst Kaunitz nieder und leitet von hier aus fast vierzig Jahre lang die Geschicke des Habsburgerreiches. Mit Schloß Schönbrunn vor den Toren Wiens schließlich verfügen die Habsburger über eine architektonische Anlage, die eindrucksvoll ihre Macht widerspiegelt. Hier ließ Kaiser Matthias 1612, nachdem er einen „schönen Brunnen" entdeckt hatte — daher auch der Name „Schönbrunn" —, einen Jagdpavillon erbauen. Nach dessen Zerstörung im Jahre 1683 beauftragten Leopold I. und später Josef I. Johann Bernhard Fischer von Erlach mit der Errichtung eines Schlosses nach dem Vorbild von Versailles. Karl VI., der sich für das Projekt eines österreichischen Escorial in Klosterneuburg begeisterte, vernachlässigte Schönbrunn in der Folge. Erst unter Maria Theresia ändert sich die Stellung Schönbrunns. Die Herrscherin beschließt, dort zu wohnen und das Schloß neben der Hofburg zu einem weiteren Machtzentrum zu machen. Unter Berücksichtigung dieser zweifachen Funktion wird das Schloß nun vom Hofbaumeister Nikolaus Pacassi innen umgebaut. Mit all diesen Baudenkmälern ist der Barock zu jenem Stil geworden, der die Macht und Größe der Monarchie widerspiegelt. Diese Assoziation ist so deutlich, daß Franz Joseph mehr als ein Jahrhundert später ganz selbstverständlich darauf zurückgreift, als er angesichts der zersetzenden Kräfte von Nationalismus und Liberalismus ein Bauprogramm initiiert, das die Fortdauer des habsburgischen Reiches manifestieren soll. Neben den Baumeistern sind auch andere Künstler von Bedeutung, vor allem die Maler, die die Ausgestaltung der Kirchen und Palais übernehmen. Ein relativ kleiner Kreis, zu dem u. a. Johann Michael Rottmayr, Martin Altomonte, Daniel Gran und Franz Anton Maulbertsch zählen, teilt sich die größten Aufträge. Bevor der aus Siebenbürgen stammende Rottmayr sich 1696 in Wien niederließ, verbrachte er mehr als zehn Jahre in Venedig, um dort seine Kunst zu erlernen. In der Karlskirche verewigt er das Eingreifen des hl. Karl Borromäus zugunsten der österreichischen Länder. Als offizielle Anerkennung seines Talents erhält er den Auftrag für mehrere Wandgemälde des Schlosses Schönbrunn. Ein weiterer großer Künstler der Barockmalerei ist Daniel Gran. Auch er perfektionierte seine Ausbildung durch eine Italienreise, die von seinem Förderer Fürst Schwarzenberg finanziert wurde, dessen Sommerpalais er später ausgestalten sollte. Berühmt wird Daniel Gran durch das Kuppelfresko der Hofbibliothek, das die Apotheose Karls VI. darstellt. In der Folge erhält er eine Reihe von offiziellen Aufträgen, allen voran die Ausgestaltung der Schönbrunner Schloßkapelle. Anton Maulbertsch hat uns aus der Zeit seines Wien-Aufenthaltes eines seiner Hauptwerke hinterlassen: den Freskenzyklus im Inneren der Piaristenkirche, vor allem das Chorfresko, das die Himmelfahrt Mariens darstellt. Auch wenn jeder dieser Künstler einen persönlichen Stil hat, sind ihnen doch dieselbe Ästhetik und die gleichen malerischen Werte gemeinsam. Sie beherrschen 7 8 : Kaiserliche Haupt- und Residenzstadt
die Technik des trompe-l'aeil bis zur Perfektion und verwirklichen in den Kuppelund Deckenfresken Kompositionen rund um das Thema der Apotheose, Zauberwerke an Bewegung und Farbe. Der Eindruck der Bewegung wird schon allein durch den Aufbau der Fresken vermittelt, ein Emporstreben zum Ruhme Gottes oder des Fürsten. Unterstrichen wird dies noch durch den Rhythmus der Formen, die fliegenden Engel und die schwebenden Wolken, die sich zum Himmelsblau hin öffnen. Weiters zeichnen sich diese Künsder durch die Leuchtkraft ihrer Palette aus. In der Tradition Tiepolos verwenden sie in ihren Werken frische und fröhliche, man möchte fast sagen wohlklingende Farbtöne. Dieses Beispiel illustriert den Gleichklang der verschiedenen barocken Kunstgattungen. Die kraftvollen Fresken von Rottmayr oder Maulbertsch lassen uns unausweichlich an die unter diesen Gewölben mit Kantaten und Liedern gefeierten Messen denken. Auch die Verbindung zur Oper ist offensichtlich. Diese Kunstgattung macht weiterhin Furore. Wie im vorangehenden Jahrhundert dominieren die italienischen Opern, die auch wiederholt auf dem Spielplan des Hofburgtheaters stehen. Hier kündigt sich jedoch bereits eine neue Entwicklung an: Obwohl noch immer auf italienisch gesungen, zeichnen Glucks Opern bereits den Weg des Klassizismus vor. Seine Opern werden nun auch am Hofburgtheater aufgeführt, was das Interesse des Hofes an dieser neuen Strömung zeigt. Aber nicht nur die Oper profitiert von der Begeisterung der Wiener für das Theater. Das barocke Wien findet auch Gefallen am volkstümlichen Theater. Auf subtile Art und Weise verbindet dieses die verschiedensten Einflüsse, von der Theatertradition der Jesuiten bis hin zu den mitreißenden Predigten der Gegenreformation. Auch der Einfluß der Commedia dell'arte auf diese neue volkstümliche Form des Theaters mit ihrer Vorliebe für den Schwank macht sich bemerkbar. Daß diese Stücke im Wiener Dialekt gespielt werden, trägt zu deren großem Erfolg bei. Man scheut auch nicht vor einer derben Sprache zurück, was die Zuschauer geradezu begeistert. Ein sehr gemischtes Publikum strömt in Scharen in die Theater, wo diese Stücke gespielt werden. Viele der damals berühmten Schauspieler sind auch heute noch nicht in Vergessenheit geraten. Josef Anton Stranitzky, der 1709 das Kärntnertortheater gründete, Gottfried Prehauser und Johann La Roche, sie alle triumphieren auf den Bühnen. Mit ihren Namen verbinden wir noch heute Figuren, die später zum Allgemeingut der Wiener Kultur wurden: Josef Stranitzky beispielsweise schuf die Figur des Hanswursts, Johann La Roche jene des Kasperls. Diese Schauspieler stehen am Beginn einer vielversprechenden Theatertradition, deren berühmteste Vertreter auf unterschiedliche Art und Weise ein Jahrhundert später Ferdinand Raimund und Johann Nestroy werden sollten. Wie diese Beispiele zeigen, prägt die Barockkultur alle Schichten der Wiener Gesellschaft und keineswegs nur die interessierte Elite. Deutlich wird dies im gesamten Stadtbild sowohl innerhalb der Mauern als auch in den Vorstädten, von den Von der österreichischen Monarchie zum Kaisertum Österreich (1683-1815) : 7 9
Palästen des Adels bis zu den Bürgerhäusern, an den Fassaden und der Ausgestaltung der prächtigsten Kirchen bis hin zu den einfachen Pfarrkirchen. Die barocke Kultur inspiriert nicht nur die vor einem erlesenen Publikum aufgeführten Opern, sondern auch den Gesang der feierlichen Sonntagsmessen, denen das gläubige Volk beiwohnt. Sie wird auch auf den Theaterbühnen in der Urwüchsigkeit eines Hanswursts oder Kasperls spürbar. Alle Schichten der Wiener Bevölkerung leben und entwickeln sich in einem Universum, das von dieser Kultur geprägt ist und daher auch die Mentalität der Wiener formt. Dieser Einfluß des Barock ist kein bloß vorübergehendes Phänomen, sondern wirkt über die historischen Umstände hinaus, die diese Kultur aufkommen ließen. Zunächst Ausdruck der Macht und des Glaubens, entwickelt sich der Barock, ohne seine ursprünglichen Merkmale zu verlieren, zu einer Kultur der plastischen Schönheit und des Hedonismus. Seine Denkart und Sensibilität werden zu bleibenden Kennzeichen nicht nur der Wiener, sondern der gesamten österreichischen Kultur. Sein Einflußbereich umfaßt den gesamten Donauraum, und zwar in einem solchen Ausmaß, daß er zu einem Integrationsfaktor wird. Wien ist zweifellos nicht die einzige Stadt, die die Werte des Barock propagiert, sie trägt aber sicherlich am meisten zu deren Verbreitung bei. Als Sitz der politischen Macht und Zentrum der Gegenreformation gehen von hier die meisten Impulse aus. Die Ausbreitung des Barock ist auch eine Folge der Zentralisierung. Als Hauptstadt der Monarchie dient Wien als Vorbild und Bezugspunkt, was sich beispielsweise auch daran erkennen läßt, in wie vielen großen und kleinen Städten Österreichs nach dem Vorbild Wiens Pestsäulen errichtet werden. In seiner Rolle als Zentrum der barocken Kultur entwickelt sich Wien auch langsam zu einer Metropole.
W I E N : D E U T S C H E S T A D T O D E R S C H M E L Z T I E G E L DER V Ö L K E R ?
Die allmähliche Veränderung der Stadt läßt sich auch an der Nationalitätenvielfalt der Wiener Bevölkerung feststellen. Sicherlich ist dieses Phänomen nicht neu. Schon seit langem lockt Wien einen nicht abreißenden Strom an Einwanderern an. Zahlreiche Deutsche aus dem Reich ließen sich hier im Laufe der Jahrhunderte nieder. Der Aufenthalt mehrerer zu jener Zeit höchst angesehener Persönlichkeiten zeigt, daß diese Tendenz anhält: Abraham a Sancta Clara, der bekannteste Prediger der Wiener Gegenreformation, kommt aus Baden; Philipp von Hörnigk, jener Verfechter des Merkantilismus, von dem der Ausspruch stammt „Osterreich über alles, wann es nur will", ist aus Frankfurt gebürtig; Samuel Oppenheimer, der Bankier Leopolds I., stammt aus der Pfalz. Der Kern der Wiener Bevölkerung ist zweifellos deutsch; der in Wien gesprochene Dialekt gehört zum hochdeutschen Sprachbereich. Aber es wäre sowohl in anthropologischer als auch in kultureller Hinsicht eine 8 0 : Kaiserliche Haupt- und Residenzstadt
Verzerrung, Wien als deutsche Stadt zu bezeichnen. Viele andere Beiträge und Einflüsse haben seit jeher das Bild der Stadt geprägt und tun dies auch heute noch. Der nationale Pluralismus der Bevölkerung verblüfft Montesquieu anläßlich seines Wien-Aufenthaltes im Jahre 1728. Die mit dem Aufstieg Wiens zur Hauptstadt einer großen Monarchie und gleichzeitig zu einem wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum verbundenen Folgen lassen nicht lange auf sich warten. Sie machen sich in allen Bereichen bemerkbar. Das Anwachsen der zentralen Behörden, der Ausbau der Dienste bei Hof, der Beginn einer regen Bautätigkeit, die Entfaltung des kulturellen Lebens, die Ansiedlung von Industrien, all dies schafft Bedürfnisse, die die Wiener Bevölkerung allein nicht befriedigen kann. Sie braucht daher Zuwachs und Unterstützung von außen. Die Anziehungskraft der Stadt zeigt sich in dem regelmäßigen Zustrom neuer Einwanderer, die vor allem aus den Erblanden kommen. Zu den Deutschen gesellen sich nun Tschechen, Ungarn, Südslawen und Italiener. Schon allein dieser Zuzug brachte eine nationale Vielfalt in Wien mit sich, hinzu kommen aber noch jene anderen Wiener, die aus entfernteren Gebieten stammen und die teils der Faszination der Hauptstadt erlagen, teils aus politischen und historischen Umständen veranlaßt wurden, sich hier anzusiedeln. Mit Karl VI. kamen habsburgertreue Spanier in die Stadt. Ihr Einfluß läßt sich jedoch nicht mit jenem der Italiener vergleichen, die - wie im vorangegangenen Jahrhundert - so zahlreich hier vertreten sind, daß Niccolo Madrisio ohne Ubertreibung das Gefühl haben kann, in Wien italienische Luft zu atmen. Der Tradition des 17. Jahrhunderts folgend, bleibt die Musik weiterhin ein nahezu ausschließlich italienisches Monopol. Künstler und Vorbilder kommen weiterhin von der Halbinsel. Es ist bezeichnend, daß das erste am Hoftheater aufgeführte Werk die italienische Oper Amleto von Carcano ist. Mit Gluck und Mozart sollte sich die Oper jedoch bald von dem italienischen Schema lösen, auch wenn Glucks Opern und Mozarts erste Librettos noch auf italienisch geschrieben sind. Wie groß auch immer der Erfolg der neuen Schule ist, bleibt die italienische Tradition mit ihren berühmten Vertretern wie Salieri, Bellini, Donizetti und Rossini auch nach der Jahrhundertwende in Wien weiterhin präsent. Mozarts schwierige Beziehungen zum Hof machen dies deutlich. Gleiches gilt, zumindest bis Johann Bernhard Fischer von Erlach, für die Baukunst. Auch im Gefolge des Kaisers gibt es viele Italiener. Der Römer Pietro Metastasio, Konservator der kaiserlichen Hofbibliothek, wird zum Hofdichter ernannt und schreibt unter anderem Librettos für Gluck und Mozart. Ein weiterer Italiener, Giovanni Brambilla, der Leibarzt Josefs II., gilt als treibende Kraft hinter dem vom Kaiser gegründeten Josefinum, einem Institut, das zur Heranbildung von Militärärzten bestimmt ist. Italienisch wird zwar weiterhin am Hof gesprochen, aber schon vor Beginn des 18. Jahrhunderts muß es immer mehr dem Französischen weichen. Obwohl FrankVon der österreichischen Monarchie zum Kaisertum Österreich (1683-1815) : 81
reich als Erzfeind gilt, wird es aufgrund seines wachsenden Ansehens und der zunehmenden Ausstrahlung seiner Literatur, seiner Künste und seines Gedankengutes allmählich zum unvermeidlichen Bezugspunkt. Dafür sind besondere Umstände mitverantwortlich. Der Streit mit Ludwig XIV. hindert Prinz Eugen nicht daran, einen Kreis um sich zu sammeln, der die französische Kultur in Wien verbreitet. So ist es nicht weiter erstaunlich, daß der Prinz längere Zeit Jean-Baptiste Rousseau beherbergt oder daß Montesquieu während seines Wien-Aufenthaltes als Gast bei ihm weilt. Auch die Heirat von Erzherzogin Maria Theresia mit Herzog Franz Stephan von Lothringen, eine Konsequenz des Polnischen Erbfolgekrieges, begünstigt die Ausbreitung des französischen Einflusses. Zahlreiche Lothringer folgen Franz Stephan in seine neue Residenz, und dieser Zustrom hält auch in den folgenden Jahren an. Viele dieser Neuankömmlinge sollten ihre Spuren in der Hauptstadt hinterlassen. Das gilt vor allem ftir den Baumeister Nicolas Jadot, der die Fassade der Neuen Universität in einem, vom Einfluß des französischen Klassizismus geprägten, gemäßigten Barockstil gestaltet. In welchem Bereich auch immer die Lothringer tätig werden, sind sie Vermittler des französischen Einflusses. Daher ist es auch nicht verwunderlich, daß am Hoftheater immer mehr französische Theaterstücke aufgeführt werden. Der in Wien schon deudich spürbare französische Einfluß wird durch die Umkehr der Bündnisse, die Wien und Paris ab 1756 auf Gedeih und Verderb zu Verbündeten macht, weiter gefördert. Dieser durch Neuankömmlinge und neue Einflüsse ständig verstärkte Pluralismus wird zu einem Hauptkennzeichen der Identität Wiens. Die vielfältigen nationalen Komponenten, aus denen sich die Wiener Bevölkerung zusammensetzt, beschränken ihre Kontakte nicht auf ein simples Nebeneinander. Natürlich kommt es bisweilen auch zu Reibereien und Auseinandersetzungen. Es wäre stark übertrieben zu sagen, daß die in Wien lebenden Italiener die Franzosen mit offenen Armen aufnahmen, sahen sie in ihnen doch eine Bedrohung für ihre gefestigte und einflußreiche Stellung. Aber das ist nicht das Ausschlaggebende. Denn abgesehen von diesen Reaktionen, bringen die Beziehungen zwischen den verschiedenen Gruppen, ob gewollt oder ungewollt, einen Austausch und eine Vermischung mit sich. Die wachsende Vielfalt von Einflüssen drückt der Wiener Kultur ihren Stempel auf, die durch diese Verflechtung bereits einen sehr eigenständigen Charakter zeigt. Alle Durchreisenden sind über die Vielfalt der in Wien gesprochenen Sprachen verblüfft. Nach der Rückkehr von seinem Aufenthalt in diesem modernen Sprachen-Babel kam Montesquieu der Gedanke, daß diese Stadt eine einzige Sprache bräuchte, damit sich all diese verschiedenen Völker untereinander verständigen könnten, wobei für ihn natürlich nur Französisch in Frage kommt. Die Verfechter der Universalität der französischen Sprache können auf das Verhalten der Wiener Elite verweisen. Französisch nimmt aber letztlich nie eine Monopolstellung ein. Italienisch und Französisch wetteifern um die Gunst des Hofes. Während des ersten
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Drittels des Jahrhunderts bewahrt sich das Italienische dort noch eine Vorrangstellung. Später wird es zwar vom Französischen verdrängt, jedoch nie ganz eliminiert. Es ist daher nicht erstaunlich, daß Karoline Pichler in ihren Memoiren schreibt, daß ihre Mutter, die zum Gefolge Maria Theresias gehörte, Französisch und Italienisch besser beherrschte als Deutsch.6 Deutsch bleibt weiterhin die meistgesprochene Sprache. Aber was fiir ein Deutsch, denkt man an die Reaktionen der aus Norddeutschland in die Hauptstadt der Monarchie kommenden Besucher! Der Wiener Dialekt beleidigt offenkundig ihre Ohren. Grund dafür ist nicht nur der unterschiedliche Akzent oder die Verdrehung der Worte, sondern das in Wien selbst in den gehobenen Gesellschaftsschichten gesprochene Deutsch ist fiir sie ein kaum verständlicher, schrecklicher Kauderwelsch. Im Laufe der Jahrhunderte kam es zu Vermischungen mit fremden Einflüssen, die gleichzeitig den Charme des Wienerischen ausmachen und die vielfältige Herkunft der Bevölkerung widerspiegeln. Das Vokabular umfaßt eine Vielzahl von Lehnworten aus dem Lateinischen, Tschechischen (vor allem was den kulinarischen Bereich betrifft), dem Italienischen und schließlich auch dem Französischen. Die Wiener sind Meister in der Kunst, französische Verben einzudeutschen, indem sie ihnen einfach die deutsche Endung -ieren hinzufugen. Maria Theresias Briefe strotzen nur so von solchen Neologismen, von denen auch zweihundert Jahre später viele noch immer verwendet werden. Der paradoxe Ausspruch von Karl Kraus - ,Was die Österreicher von den Deutschen unterscheidet, ist die gemeinsame Sprache" - trägt der Realität in Wien aber nur zum Teil Rechnung. Die in Wien vom Adel und vom einfachen Volk gesprochene Sprache hat ihre Eigenheiten, ein Spiegelbild der Vielfalt an Kulturen, die in dieser Stadt aufeinandertreffen und sich vermischen. Dennoch stellt die deutsche Kultur den Hauptfaktor in diesem Akkulturationsprozeß dar. Wien ist zwar die Hauptstadt eines Vielvölkerreiches geworden, das weit über die Grenzen des Corpus germanicum hinausreicht, doch den Kaisertitel tragen die Habsburger noch immer als Herrscher des Heiligen Römischen Reiches. Ihre Macht gründet zwar zu einem Gutteil auf den Erblanden, doch werden sie durch diese Würde zu deutschen Fürsten, eine Vormachtstellung, die ihnen der damals in seinen Anfängen begriffene Aufstieg Preußens noch nicht streitig macht. Als Residenz der Habsburger nimmt Wien in Verbindung mit dieser kaiserlichen Tradition eine besondere Stellung ein. Allgemein wird es als Kaiserstadt bezeichnet, ein Name, den auch Goethe immer wieder verwendet. Aus welchen anderen Nationalitäten sich die Bevölkerung auch zusammensetzen mag, fiir die meisten Deutschen steht der deutsche Charakter der Stadt außer Frage. Lessing stellt es sogar dem Berlin Friedrichs II. gegenüber, dem er vorwirft, sich dem französischen Einfluß unterworfen zu haben - fiir ihn der Gipfel des Verabscheuungswürdigen. Die Habsburger werden aber nicht zu Verfechtern einer deutschen Nationalidee. Als Herrscher über viele Völker identifizieren sie sich mit keinem von ihnen. Es mag Von der österreichischen Monarchie zum Kaisertum Österreich (1683-1815) : 8 3
den Anschein haben, als würde Josef II. seine deutschsprachigen Untertanen bevorzugen, als er beschließt, Deutsch zur Verwaltungssprache der Monarchie zu machen. Aber nur Vernunftgründe und die Sorge um die Effizienz seiner Verwaltung veranlassen ihn zu dieser Entscheidung, und die Hartnäckigkeit, mit der er seine Absichten in die Tat umzusetzen sucht, erklärt sich vor allem aus seinem vorbehaltlosen Charakter. Der Wunsch, die Vormachtstellung Österreichs in Deutschland zu verteidigen, und der Kampf gegen das von ihm gleichzeitig bewunderte und gehaßte Preußen Friedrichs II. schüren in ihm einen deutschen Patriotismus. Seine Überlegungen kommen auch in der Terminologie zum Ausdruck: So wird das Hoftheater 1776 auf seine Initiative hin in Hof- und Nationaltheater umbenannt. Dort werden in Hinkunft vorwiegend Stücke in deutscher Sprache zur Auffuhrung gebracht. Die Absicht ist klar: Es geht ihm darum, aus diesem Theater die erste Bühne des deutschsprachigen Raumes zu machen. Auch im Bereich der Oper und des Singspiels ist er bestrebt, die deutsche Kultur zu fördern. Obwohl Mozart bisweilen in Ungnade fällt, ermutigt Josef II. ihn doch immer wieder, eine Vorreiterrolle zu übernehmen und zumindest bei einigen seiner Opern deutsche Librettos zu verwenden. Nachdem es 1781 zum Bruch zwischen Mozart und dem Salzburger Erzbischof gekommen war, verbringt der Künstler die letzten Jahre seines so kurzen Lebens in Wien, wo ein Meisterwerk nach dem anderen entsteht: Die Entführung aus dem Serail (1782), Die Hochzeit des Figaro (1786), Don Giovanni (1787), Cosifan tutte (1790) und Die Zauberflöte (1791). Ist Wien also eine deutsche Stadt oder ein Schmelztiegel der Völker? Noch heute ist diese Frage aktuell. Sie steht bereits in der Logik des noch nicht begonnenen 19. Jahrhunderts. Noch ist das Zeitalter der nationalen Leidenschaften nicht angebrochen, noch haftet diesem Dualismus nichts Widersprüchliches und a fortiori Gegensätzliches an. Die dialektische Beziehung entwickelt sich positiv und fruchtbar, und die von der Geschichte geprägte Identität Wiens ist pluralistisch und vielfältig. Das zweifellos starke deutsche Element erstickt die anderen Einflüsse nicht, und deren Summe reduziert sich nicht auf eine einzige nationale Definition. Diese Verschmelzung hat zur Folge, daß Wien in Kontakt mit den geistigen Strömungen kommt, die damals in ganz Europa aufkommen. Im Zuge der Gegenreformation hatte der Barock die Stadt erobert; nun kommt Wien in Kontakt mit den verschiedenen Strömungen der französischen, der deutschen und der italienischen Aufklärung. Es öffnet seinen Horizont allmählich den Vorstellungen und Werten der Vernunft und des Fortschritts, der Menschlichkeit und der Toleranz. Ohne den Einfluß ihrer für diese neuen Ideen offenen Berater wäre Maria Theresia, die sich von ihrem Temperament her wohl weniger zur Ideologie der Aufklärung hingezogen fühlte, zweifellos an so manche Reformen, die heute mit ihrem Namen verbunden sind, nicht herangegangen. Ihr Leibarzt, der holländische Jansenist Gerhard van Swieten, ist die treibende Kraft hinter der Reform des Erziehungswesens und 84
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untergräbt den Einfluß der Jesuiten bei der Herrscherin. Fürst Kaunitz wiederum ist der Prototyp eines Edelmannes, der fiiir die Ideen der französischen Philosophen offen ist. Diese Öffnung zeigt sich an den Erfolgen der Freimaurerei unter der führenden Gesellschaftsschicht Wiens. Noch vor ihrer offiziellen Zulassung durch Josef II. im Jahre 1741 sind die Freimaurer in Wien präsent. Die erste, 1741 gegründete Loge wird bald wieder aufgelöst, doch schon bald wird sie unter dem Schutz Franz Stephans und mehrerer hoher Würdenträger der Monarchie erneut errichtet. Der Einfluß der Freimaurer wächst in den nächsten Jahrzehnten unaufhörlich, und Mozarts Zauberflöte ist wohl das berühmteste Zeugnis dafür. Aber lassen wir uns nicht täuschen. Trotz dieser Erfolge nimmt Wien eine Sonderstellung im Europa der Aufklärung ein. Sosehr dies auch der Wunsch Josefs II. gewesen sein mag, vermochte er nicht, die Vergangenheit auszulöschen. Zu mächtig war die Tradition des Barock. Damit die Saat aufgeht, müssen die neuen Werte mit dieser verschmelzen, eine Kombination, die die Identität Wiens vielleicht sogar noch etwas mehr kennzeichnet als die österreichische Identität. Dieser Kompromiß, man könnte fast sagen dieses Bündnis ist keineswegs nur ein vorübergehendes Phänomen, sondern sollte bald zu einer der Facetten der Wiener Kultur werden. Als Schnittpunkt mehrerer Kulturen ist Wien ein Schmelztiegel, in dem sich diese Einflüsse mischen und miteinander verschmelzen. Schon in dieser Rolle bestätigt Wien seine Berufung als Metropole. Wien beschränkt sich aber nicht darauf, die vielfältigen Einflüsse aufzunehmen und miteinander in Beziehung zu setzen, als politische Hauptstadt sichert es auch deren Verbreitung, eine Wirkung, die durch die zunehmende Integration des habsburgischen Gesamtreiches noch weiter verstärkt wird, auch wenn dieses Phänomen nicht überall im gleichen Umfang zum Tragen kommt. Schon allein aufgrund der Entfernung ist beispielsweise die Auswirkung auf die österreichischen Niederlande beschränkt. Auch die italienischen Besitzungen werden, im Unterschied zu jenen Gebieten, die schon seit langem mit der Monarchie verbunden sind, davon weniger berührt. Ganz anders ist die Situation im Donauraum, wo diese Einflüsse und kulturellen Muster, von Wien ausgehend, weite Verbreitung finden, was die Vorrangstellung der Stadt in diesem Raum weiter festigt.
D E R K A M P F G E G E N DAS R E V O L U T I O N Ä R E F R A N K R E I C H
NAPOLEONS
Die im Gefolge der Französischen Revolution ausbrechende Krise erschüttert auch diesen Raum, ohne jedoch einen Zerfall nach sich zu ziehen, und stellt letztlich die Dauerhaftigkeit des Zusammenhalts unter Beweis. Abgesehen von den Niederlanden und den Enklaven im süddeutschen Raum verfugt Osterreich über keiVon der österreichischen Monarchie zum Kaisertum Österreich (1683-1815) : 8 5
nerlei direkte Berührungspunkte mit Frankreich. Wäre da nicht das Schicksal Marie Antoinettes gewesen, wäre Wien in keiner Weise unmittelbar von den Ereignissen betroffen worden, die Frankreich erschüttern. Doch auch die österreichische Monarchie wird in den Sog dieses Erdbebens gezogen, das bald ganz Europa erfaßt. Trotz der Reformen Josefs II. ist Osterreich fiir die Revolutionäre ein Symbol des monarchischen Europa. Am 20. April 1792 erklärt die französische Nationalversammlung dem habsburgischen König von Böhmen und Ungarn den Krieg. Von nun an ist Osterreich direkt in den Konflikt verwickelt, der, nach der Fortsetzung der Revolution unter Napoleon, noch 23 Jahre andauern sollte, in denen zwar immer wieder Friedensverträge die Kriegshandlungen unterbrechen, doch handelt es sich dabei um kaum mehr als eine Atempause vor einem erneuten Ausbruch der Feindseligkeiten. Wien, die Hauptstadt eines der wesentlichsten Akteure in diesem Stück, kann sich den Folgen nicht entziehen. Nach seiner Thronbesteigung beginnt Leopold II. mit der Französischen Revolution zu sympathisieren. Wie sein Bruder im Geiste der Aufklärung erzogen, kommt er zu anderen Schlußfolgerungen als dieser. Während Josef II. das Wohl seiner Völker durchaus am Herzen lag, war er doch nicht bereit, ihnen ein Mitbestimmungsrecht einzuräumen, Leopold II. hingegen tritt fiir eine konstitutionelle Monarchie ein. Er begrüßt in der Französischen Revolution den Anbruch eines neuen Zeitalters, in dem die Beziehungen zwischen dem Herrscher und seinen Untertanen auf vertraglicher Grundlage geregelt werden sollen. Die Radikalisierung der Revolution setzt diesem Traum jedoch ein Ende. Obwohl selbst gemäßigt, kann Leopold II. einen Krieg nicht verhindern. Kurz nach seinem Tod am 1. März 1792 beginnen die Kampfhandlungen. Sein Sohn und Nachfolger Franz II. ist aus anderem Holz geschnitzt; ihm geht es vor allem um den Kampf gegen die Revolution, die er zutiefst verabscheut. Der Krieg beschränkt sich aber nicht auf Schauplätze im Ausland, wo die Truppen des österreichischen Herrschers auf die republikanischen Armeen treffen, denn die Angst vor einer Ansteckung durch die Revolution zeigt auch innerhalb der Grenzen der Monarchie ihre Wirkung. Die Verteidigung der Ordnung macht dort die vorangegangenen Reformen zunichte. Die Aufdeckung eines Komplotts in Wien im Juli 1794 scheint die Befürchtungen zu bestätigen. Ohne daß je eine diesbezügliche Verbindung bestätigt werden konnte, spricht man von einer „jakobinischen Verschwörung", was vor allem den Machthabern ein Argument liefert, ihre Unterdrückungspolitik zu rechtfertigen. Dieser Wille zur Entschlossenheit manifestiert sich in einer Reihe von Maßnahmen. Ein erster Schritt betrifft die Stadtverwaltung. Mit Erlaß vom 16. August 1783 hatte Josef II. deren völlige Unterwerfung unter seine Oberhoheit verfiigt, indem er festlegte, daß jedes Mitglied des Gemeinderates vom Hof bestätigt werden mußte. Dieses System konnte aber noch perfektioniert werden, und Franz II. zö-
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gert nicht. Obwohl die Wahl des Bürgermeisters schon lange der strengen Kontrolle des Herrschers unterstand, war man vor allem in dieser unsicheren Zeit nicht gänzlich vor bösen Überraschungen gefeit. Zweimal versucht der neue Herrscher, diese Gesetzeslücke zu schließen. 1793 verordnet Franz II., daß der Wiener Bürgermeister in Hinkunft auf Lebenszeit gewählt werden soll. In einem zweiten Schritt versucht er, diese Wahl zu verhindern. 1804 ist es soweit: Stephan von Wohlleben ist der erste Wiener Bürgermeister, der direkt vom Kaiser ernannt wird. Nachdem Josef II. zunächst alle Hindernisse für die Verbreitung neuer Ideen beseitigt hatte, tritt er in der zweiten Hälfte seiner Herrschaft den Rückzug an. Leopold II. zieht die Zügel weiter an, und Franz II. vollendet das Werk. Mit Erlaß vom 1. März 1793 wird die Produktion und Verbreitung von Zeitungen strengen Regeln unterworfen. Zwei Jahre später ist auch der letzte Rest an Pressefreiheit verschwunden, gleichzeitig erhält die Zensur wieder all ihre Macht zurück. In Hinkunft ist es Aufgabe der Polizei, die Bildung aufrührerischer Vereinigungen zu unterbinden. Eine weitere Schwelle wird 1801 überschritten, als alle Geheimgesellschaften verboten werden. Diese Maßnahme zielt in erster Linie auf die Freimaurer ab, die, nachdem sie sich zunächst der Gunst hoher Würdenträger des Staates erfreut hatten, nun der subversiven Tätigkeit beschuldigt werden. Von der Sorge um die Verteidigung der bestehenden Ordnung ist auch die 1802 getroffene Entscheidung getragen, die Ansiedlung von Fabriken innerhalb des Stadtgebietes zu untersagen. Franz II., fiir den die Arbeiterklasse ein gefährliches Potential darstellt, befurchtet, daß eine allzu große Konzentration von Arbeitern in seiner Hauptstadt einen Nährboden fiir revolutionäre Umtriebe bieten könnte. Dieses im Widerspruch zu den wirtschaftlichen Erfordernissen stehende Verbot kann jedoch nicht lange aufrechterhalten werden und wird schließlich 1809 wieder aufgehoben. Solange der Krieg sich in Frankreich und am Rande der Monarchie abspielt, ist Wien nicht unmittelbar betroffen. Als die Front näher rückt, ändert sich dies. Anfang 1797 fällt Napoleon nach einer beeindruckenden Siegesserie auf dem italienischen Schauplatz in der Steiermark ein und bedroht Wien. Angesichts der drohenden Gefahr wird die Wiener Bevölkerung mobilisiert. Zu diesem Zweck wird auch eine Kaiserhymne komponiert, die allen Völkern der Monarchie gemeinsam ist. Die von Joseph Haydn nach einem Text von Leopold Haschka vertonte Kaiserhymne Gott! Erhalte Franz den Kaiser erklingt erstmals am 12. Februar 1797 in Anwesenheit des Kaisers anläßlich dessen Geburtstages im Wiener Burgtheater. Am selben Tag wird sie auch in allen Theatern und Opernhäusern der größten Städte der Monarchie gespielt. Diese monarchistische Marseillaise soll den Widerstand gegenüber dem Feind entfachen. In den ersten Apriltagen werden die Wiener aufgefordert, Freiwilligenkorps aufzustellen. Innerhalb weniger Tage leisten 8.500 Bürger dem Aufruf Folge. Von der österreichischen Monarchie zum Kaisertum Österreich (1683-1815) : 8 7
Sie müssen ihren Mut allerdings nicht unter Beweis stellen, denn am 18. April beendet der Präliminarfrieden von Leoben die Kampfhandlungen. Als Belohnung fiir ihren Patriotismus erhalten die Freiwilligen am Tag ihrer Abrüstung eine Silbermedaille. Diese Ereignisse schüren eine antifranzösische Stimmung, wovon sich der nach dem Frieden von Campo Formio zum Vertreter der Französischen Republik in Wien ernannte General Bernadotte im April 1798 selbst überzeugen kann. Es bekommt ihm schlecht, als er an der Fassade seiner Botschaft die Trikolore anbringen läßt. Dies wird als Zeichen der Provokation gedeutet und erzürnt die Gemüter derart, daß die Demonstranten sich der Fahne bemächtigen und sie zerreißen. Von offizieller Seite wird lediglich beteuert, daß man diesen Vorfall bedauere; statt sich über diesen Affront zu grämen, beschließt Bernadotte, die Botschaft zu schließen und Wien zu verlassen. Dabei handelt es sich aber lediglich um einen Zwischenfall, und die Umwälzungen, die das Angesicht Europas grundlegend verändern sollten, bringen auch für Wien weitreichende Folgen. Als sich Napoleon 1804 anschickt, seine Hand nach der Kaiserkrone auszustrecken, sieht sich Franz II. ernsthaft bedroht. Seine Kaiserwürde verdankt er seiner Funktion als Herrscher des Heiligen Römischen Reiches, und auch wenn dieses sich schon seit längerem im Niedergang befindet, besteht kein Zweifel daran — und der Reichsdeputationshauptschluß von Regensburg im darauffolgenden Jahr ist ein beredtes Zeugnis dafür - , daß Napoleons Deutschlandpolitik diesmal schlichtweg auf dessen Abschaffung abzielt. Mit anderen Worten, wenn Franz II. sich in den Lauf der Geschichte fugt, verlieren die Habsburger gleichzeitig auch die Kaiserwürde, die sie seit 1452 bekleiden. Franz beschließt, dem zuvorzukommen. Am 11. August 1804 erläßt er ein Patent, mit dem er die Würde eines „Kaisers von Osterreich" annimmt und als solcher Kaiser Franz I. von Osterreich wird. Dieser Entschluß, zu dem er zweifellos durch die Umstände gedrängt wurde, setzt den Schlußpunkt unter eine lange Geschichte, die mit der Niederlassung der Habsburger in Wien ihren Anfang nahm. Mit der Geburt des österreichischen Kaisertums sind die Verbindungen zu Deutschland aber zweifellos nicht beendet. Trotz aller Unbilden der Zeit, vor allem dem zwei Jahre später folgenden offiziellen Ende des Heiligen Römischen Reiches, verzichtet Wien nicht auf seine deutsche Sendung. Aber dieser Gründungsakt bestätigt die Vereinigung der Erblande zu einer politischen Einheit, womit der Schwerpunkt der Macht Österreichs im Donauraum zu liegen kommt. Erst Jahrzehnte später sollten alle Folgen dieser Entscheidung Franz' II. zum Tragen kommen. Aber schon damals war klar, daß sie Wiens Stellung als mitteleuropäische Metropole stärken würde. Sie bewahrte Wien aber nicht vor der Erniedrigung einer ausländischen Besetzung im folgenden Jahr. Zweimal gelingt Napoleon, woran die Türken gescheitert waren. Im Kampf gegen die Dritte Koalition rückt er in Gewaltmärschen durch 88
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Napoleon vor Schloß Schönbrunn im Jahre 1805
Beschuß Wiens in der Nacht vom 10. auf den 11. Mai 1809
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Deutschland, zwingt einen österreichischen General bei Ulm zur Kapitulation und stößt dann auf das Gebiet der österreichischen Monarchie vor. Franz, der die Nutzlosigkeit einer Verteidigung erkennt, beschließt, die Hauptstadt zu verlassen. Unter dem Oberbefehl von Murat erreicht eine feindliche Vorhut am 13. November 1805 Wien; am nächsten Tag bezieht der Kaiser der Franzosen Quartier in Schönbrunn. Bei den Wienern weicht die Feindseligkeit der Neugier. Karoline Pichler muß mit Betrübnis feststellen, daß sie dem Einzug der Franzosen wie einem Schauspiel beiwohnen. Erleichtert, sich nicht inmitten einer zum Widerstand bereiten Bevölkerung niederlassen zu müssen, sind die Franzosen klug genug, die mit ihrer Anwesenheit verbundenen Zwangsmaßnahmen in Grenzen zu halten. Die Beziehungen zwischen Besatzern und Besetzten sind sogar von einer gewissen Höflichkeit gekennzeichnet. Die glühende Patriotin Karoline Pichler spart nicht mit Lob für die beiden bei ihr einquartierten Offiziere. Sie erinnert sich sogar voller Begeisterung an ihre Gespräche mit ihnen. Es gibt aber auch weniger fröhliche Aspekte jener Zeit. Nach der Schlacht von Austerlitz werden die Verletzten beider Seiten nach Wien transportiert, wo sie ohne Unterschied von österreichischen und französischen Ärzten gepflegt werden. Das Ende des Krieges bringt auch das Ende der Besetzung, die ziemlich genau zwei Monate dauerte. Am Tag nach dem Frieden von Preßburg, dem 13. Januar, verlassen die französischen Truppen Wien. Vor seiner Abreise veröffentlicht Napoleon eine Proklamation, in der er den Wienern dafür dankt, daß sie das in sie gesetzte Vertrauen gerechtfertigt haben - ein zweifellos doppeldeutiges Lob. Wie so oft in ähnlichen Fällen folgt auf die Niederlage eine Neuorientierung der österreichischen Politik. Diese wird durch Johann Philipp Graf Stadion verkörpert, der im Januar 1806 an die Spitze der habsburgischen Diplomatie berufen wird. Der neue Minister distanziert sich von der Aufklärung und tritt für eine katholische Restauration ein, die mit der Rückkehr des Redemptoristenpaters Klemens Maria Hofbauer nach Wien im September 1808 ihren Anfang nimmt. Vor allem aber ist Stadion von dem Wunsch beseelt, Österreich auf einen Vergeltungskrieg vorzubereiten. Zu diesem Zweck setzt er eine ganze Reihe von Initiativen, die allesamt darauf abzielen, den Patriotismus anzuheizen. Zeitschriften wie die Vaterländischen Blätter oder der Osterreichische Plutarch von Joseph Freiherr von Hormayr wetteifern miteinander. Jahre hindurch zehrt Wien von dem Ansehen, das die österreichische Politik genießt, und wird allmählich zu einem der Zentren der deutschen Romantik. Viele Persönlichkeiten der Romantik lassen sich von der Kombination aus Katholizismus und Nationalidee begeistern und reisen nach Wien. So mancher läßt sich dort auch auf Dauer nieder. Schon 1808 begegnen wir Friedrich Schlegel und seinem Bruder August-Wilhelm, der im Frühjahr Vorlesungen zu dem Thema Die dramatische Kunst und die Literatur an der Wiener Universität hält. Viele Schriftsteller und andere Berühmtheiten verkehren in diesen Kreisen, die sich im Salon Karoline Pichlers versammeln, die sich diesem edlen Anliegen verschrieben hat. 9 0 : Kaiserliche Haupt- und Residenzstadt
All diese Bemühungen zeitigen ihre Früchte: Es kommt zu einer Welle patriotischer Begeisterung. Doch dies alles hindert Napoleon nicht, Osterreich am 9. April 1809 den Krieg zu erklären. Einen Monat später stehen die Franzosen erneut vor den Toren Wiens. Diesmal ist Kaiser Franz gewillt, seine Hauptstadt zu verteidigen. Aber schon bald zeigt sich, daß Widerstand unmöglich ist, ohne Wien in ein zweites Zaragoza zu verwandeln, was niemand, auch nicht die glühendsten Patrioten, beabsichtigt. Am 11. Mai um halb drei Uhr früh beschließen die Verantwortlichen die Kapitulation, nachdem bereits 2.000 Haubitzengranaten auf die Stadt niedergegangen sind. Zwei Tage später ziehen die französischen Truppen erneut in Wien ein, und Napoleon nimmt wieder Quartier in Schönbrunn. Die Stimmung aber ist ganz anders als bei der ersten Besetzung; die Aufrufe an die Bevölkerung hatten diesen Stimmungsumschwung bereits eingeleitet, und die Bomben besorgten den Rest. Am 13. Mai ziehen die Franzosen in eine tote Stadt ein. Darüber hinaus hat sich der Kriegsschauplatz im Unterschied zu 1805 in die Nähe Wiens verlagert. Am 26. Mai gelingt Erzherzog Karl, einem Bruder des Kaisers, sogar ein Sieg über die Franzosen. Nach dieser Niederlage, der ersten, die Napoleon persönlich hinnehmen mußte, dürfen die Wiener hoffen, daß sich das Kriegsglück gewendet hat. Welcher Irrtum! Bevor Napoleon erneut in die Offensive geht, wartet er in Wien auf Verstärkung. Nach deren Eintreffen feiert er am 6. Juli einen entscheidenden Sieg bei Wagram nahe von Wien. Diese Unsicherheitsfaktoren tragen dazu bei, die Spannungen zwischen den Franzosen und den Wienern zu vergrößern. Schon bald hat Wien, vom Versorgungsnachschub aus dem Inneren der Monarchie abgeschnitten, unter Entbehrungen zu leiden. Französische Soldaten müssen eingreifen, um zu verhindern, daß es zu Hungermeutereien kommt. Verschlimmernd kommt noch die Dauer der Besatzungszeit von fünf statt zwei Monaten hinzu. Bezeichnend dafür, daß die allgemeine Stimmung immer bedrohlicher wird, sind eine Reihe von Zwischenfällen, deren ernsthaftester ein Attentatsversuch auf Napoleon selbst ist. Hatte man vier Jahre zuvor noch höflich miteinander verkehrt, ist es nun damit vorbei. Bevor Napoleon Wien nach dem Vertrag vom Schönbrunn vom 14. Oktober verläßt, bedankt er sich nicht bei den Wienern, sozusagen als Abschiedsgruß befiehlt er vielmehr die Zerstörung eines Teils der Befestigungsanlagen, vor allem der Mauern in der Nähe der Hofburg.
A L L T A G S L E B E N IN W I E N
Nach der Bekanntschaft mit den Franzosen beginnt Wien sich allmählich an seine Stellung als Metropole zu gewöhnen. Es ist aber nicht sicher, ob diese dort wirklich das Gefühl hatten, sich in einer Metropole zu befinden, ein Eindruck, den auch die meisten Reisenden teilten, die zu jener Zeit nach Wien kamen.
V o n d e r österreichischen Monarchie z u m Kaisertum Ö s t e r r e i c h ( 1 6 8 3 - 1 8 1 5 ) : 9 1
Das Antlitz Wiens hatte sich im Verlauf des vorangegangenen Jahrhunderts durch die Errichtung zahlreicher neuer Gebäude stark verändert. Die Hofburg, das Zentrum der Macht, aber machte einen befremdlichen Eindruck, und schon Montesquieu hatte sich erstaunt gezeigt über „dieses Land, wo die Untertanen besser untergebracht sind als der Herrscher". Nichts erinnert hier an Versailles oder den Buckingham Palace! Angesichts dieser aus Gebäuden unterschiedlicher Epochen und Stilrichtungen zusammengewürfelten Anlage fällt es schwer, wie ein englischer Reisender im Jahre 1792 schrieb, „sich vor der Residenz des ersten Fürsten der Christenheit" zu wähnen. 7 Hinter der noch schmeichelhaften Fassade verbirgt sich indes eine noch düsterere Realität. Stets bereit zur Kritik an der großen katholischen Stadt im Süden, sind die Norddeutschen keineswegs als einzige davon nur wenig angetan. Sanitäre Probleme gab es damals zweifellos in allen europäischen Städten, aber im Vergleich zu Paris oder London hinkte Wien in dieser Beziehung doch etwas hintennach. Beweis dafür ist etwa eine deutlich höhere Sterblichkeitsrate als in den beiden anderen westeuropäischen Metropolen. Die Behörden bleiben indes nicht untätig. Eine Verordnung aus dem Jahre 1738 verpflichtet die Wiener, sich selbst um die Reinigung ihrer Straßen zu kümmern. Auch wenn bezweifelt werden darf, daß diese Anordnung einhellig befolgt wurde, trug sie doch zu einer Verbesserung der Situation bei. Aber nicht nur der Kampf gegen den Abfall beschäftigt die Wiener, sie müssen noch gegen eine weitere Plage ankämpfen: den Staub. Wie andere Städte zu jener Zeit sieht sich auch Wien mit dem schwierigen Problem seiner Wasserversorgung konfrontiert. Diese wird durch ein Netz von Brunnen sichergestellt, und die Wasserverkäufer gehören zum Alltagsbild der Stadt. Nicht selten herrscht Wassermangel in den Vororten. Durch den Bau einer Kanalisation, die, von Hütteldorf ausgehend, die Vororte Mariahilf, Josefstadt, Schottenfeld und Gumpendorf versorgt, wird das System 1804 etwas verbessert. Andere Verbesserungen tragen ebenfalls zur Modernisierung der Stadt bei. Besondere Aufmerksamkeit schenken die Behörden dabei der Beleuchtung. Außer bei Vollmond erhellen rund 3.200 Laternen die Straßen und Gassen Wiens. Seit 1776 wird diese Beleuchtung durch die Zahlung einer jährlichen Abgabe in der Höhe eines Guldens pro Hausbesitzer sichergestellt. Und die Wiener sind stolz darauf; Spaziergänger müssen sich mehr vor Behinderungen durch den Verkehr furchten als vor unangenehmen nächdichen Begegnungen. 1770 schließlich wird die Numerierung der Häuser eingeführt. Schilder oder Aufschriften an der Mauer erleichtern es in Hinkunft, deren Bewohner zu identifizieren. Das Malerische geht mit diesem neuen System in gleichem Maße verloren, wie die Verwaltung vernünftigerweise davon profitiert. All diese schwierigen Jahren hindurch verzehren die Wiener sich nicht in Klagen über das Unglück der Zeit. Nie verlieren sie ihre Freude an der Unterhaltung. Ihre 9 2 : Kaiserliche Haupt- und Residenzstadt
Begeisterung für das Theater läßt keineswegs nach, und sie lassen dieser immer wieder freien Lauf. Die Zahl der Auffiihrungsstätten wächst stetig. Im Laufe weniger Jahre eröffneten vier Theater in den Vorstädten : 1781 das Theater in der Leopoldstadt, 1787 das Theater auf der Wieden, im folgenden Jahr das Theater in der Josefstadt und 1801 schließlich das Theater an der Wien, unter der Leitung von Emanuel Schikaneder, der dieses Theater errichten ließ, nachdem er das Theater auf der Wieden verlassen hatte. Schikaneder, der noch heute berühmt ist für seine Verbindung zu Mozart, dessen Zauberflöte er vor allem zur Aufführung brachte, vereint in seiner Person die Funktion des Direktors, Librettisten und Schauspielers. Das Theater an der Wien übertrifft damals von seiner Größe und Pracht her alle übrigen Aufführungsstätten Wiens. Ein weiterer Trumpf ist seine Ausstattung mit den modernsten technischen Einrichtungen jener Zeit. Auch der Hof verfugt nun über eine zweite Bühne: Das 1761 durch einen Brand zerstörte Kärntnertortheater, wo Stranitzky geglänzt hatte, wurde zwei Jahre später als zweites Hoftheater wiedererrichtet. Nun galt es, die Aufgaben dieser beiden Bühnen festzulegen, ein Problem, das allerdings erst 1810 endgültig gelöst wurde : Die Aufführung von Theaterstücken blieb in Hinkunft dem Burgtheater vorbehalten, während im Kärntnertortheater Opern und Ballette aufgeführt wurden. Wie beliebt das Theater bei den Wienern ist, läßt sich daran ermessen, daß der Schriftsteller Adolf Bäuerle 1806 eine eigene Theaterzeitung ins Leben ruft, die nahezu täglich erscheint. Darin werden auch andere mit Kunst oder Literatur in Verbindung stehende Themen behandelt, und es kommt die Mode des Feuilletons auf. Vor allem aber finden die Wiener dort eine Liste aller Veranstaltungen in der Hauptstadt, und Kritiken sollen ihnen die Wahl erleichtern. Viele Wiener Theater haben sich nicht auf eine einzige Kunstgattung spezialisiert. Am Theater in der Leopoldstadt etwa, damals eine der Hochburgen des volkstümlichen Theaters, werden auch Opern von Gluck, Salieri und Cherubini gespielt. 1805 wird Beethovens — der Künstler lebt seit 1792 in Wien — Fidelio im Theater an der Wien aufgeführt, das seinem Publikum aber auch gerne leichtere Stücke zeigt. Dennoch lassen sich gewisse Ausrichtungen erkennen. Am Burgtheater werden vorzugsweise Werke der großen Klassiker gespielt. Gemäß dem Goetheschen Konzept der Weltliteratur bevorzugt Joseph Schreyvogel - seit 1814 dessen künstlerischer Leiter - die herausragenden Dichter des europäischen Theaters : Goethe, Schiller, Calderón, Molière, Shakespeare. Die Theater in den Vorstädten ihrerseits spezialisieren sich auf Komödien und volkstümliche Schwanke. Die volkstümliche Unterhaltung nimmt in der Tat breiten Raum in der Wiener Kultur ein. Vor Grillparzer verfügt das österreichische Theater über keinen Vertreter, den man auf eine Stufe mit Lessing, Goethe oder Schiller stellen könnte. Das Barockzeitalter hingegen hat der kulturellen Szene Wiens mit der Komödie und dem Schwank eine Gattung hinterlassen, die auf Wien zugeschnitten ist, da sie durch Von der österreichischen Monarchie zum Kaisertum Österreich ( 1 6 8 3 - 1 8 1 5 ) : 9 3
den Volksgeist genährt wird. Durch zahlreiche Endehnungen aus dem Dialekt können diese Stücke nirgendwo anders gespielt werden. Diese Theaterstücke sind das Spiegelbild des Lebens der einfachen Leute in Wien, was durchaus nicht immer auf Wohlwollen stößt — weit gefehlt! Der Vorwurf der Genußsucht ist den meisten Kommentaren von Norddeutschen über die Hauptstadt der Donaumonarchie gemeinsam. Wenn man diesen Reisenden Glauben schenken darf, die an strengere Sitten gewöhnt sind, kennzeichnen sich die Wiener durch ihre dreifache Neigung zur Völlerei, Trunksucht und Ausschweifungen. Zutreffender wäre es hingegen hervorzuheben, daß die Wiener, welcher sozialen Schicht auch immer sie angehören, in der Tradition des Barock dazu neigen, mit der Umwelt in sinnliche Beziehung zu treten, und der Freude positiv gegenüberstehen. Auch wenn sich die Wiener mit einfachen Speisen zufriedengeben, ist Frugalität nicht ihre Sache. In Wien werden die Freuden des Tisches hochgehalten und - in diesem Land des Weines - natürlich vom Wein begleitet, was nicht verhindert, daß auch der Bierkonsum beeindruckend hoch ist. Die einfachen Schenken, in denen Weißwein getrunken und dazu deftige Speisen gegessen werden, gehören schon zum Bild der Stadt. Auch die Keuschheit scheint nicht unbedingt jene Tugend zu sein, der man hier am meisten frönt, und um den verdammenswürdigen Verirrungen ein Ende zu bereiten, setzt Maria Theresia 1752 eine „Keuschheitskommission" ein. Die Herrscherin dürfte sich allerdings sehr rasch in ihrem Schamgefühl gekränkt fühlen: So ordnet sie etwa an, daß die beiden Statuen des von Raphael Donner am Neuen Markt errichteten Brunnens, deren einziges Vergehen darin besteht, daß sie nackt sind, bekleidet werden müssen. Nach der anhaltenden Kritik in diesem Bereich zu urteilen, scheinen die erzielten Ergebnisse trotz des Ubereifers einiger Beamter indes nicht sehr überzeugend gewesen zu sein. Das Feiern von Festen zählt zu den bevorzugten Unterhaltungen der Wiener. Ohne unschicklich sein zu wollen, ist es wohl erlaubt, in diese Sparte auch die Vorliebe der Wiener fiir prunkvolle Begräbnisse einzureihen, die wie ein großes Schauspiel inszeniert werden. Die besondere Beziehung der Wiener zum Tod - ein weiteres Erbe des Barock - macht aus „der schönen Leich'" ein Wiener Spezifikum. Etwas klassischerer Art sind die kollektiven Feste im Jahreslauf. Allen voran der Karneval, hier „Fasching" genannt, in den Monaten Januar und Februar. Z u dieser Zeit folgt ein Fest auf das andere und ein Ball auf den anderen, insbesondere Maskenbälle, an denen sich alle Bevölkerungsschichten — wenn auch an getrennten Orten - beteiligen. Am 1. Mai bewegt sich ein langer, bunt zusammengewürfelter Zug Richtung Prater, jenes ausgedehnte bewaldete Grüngebiet, das sich entlang der Donau am Rand der Leopoldstadt erstreckt. In der riesigen Menschenmenge verschwimmen die unterschiedlichen Lebensbedingungen, und Adel, Bürgertum und einfaches Volk mischen sich. Die kaiserliche Familie beehrt dieses Fest mit ihrer An94
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Wesenheit. Der nächste große Treffpunkt ist der Sonntag nach dem ersten Vollmond im Juli, an dem sich einige tausend Wiener versammeln, um auf den Wiesen der Brigittenau neuerlich ein Fest zu feiern. Die unmittelbare Umgebung der innerhalb der Stadtmauern gelegenen Stadt bietet den Wienern zahlreiche Möglichkeiten für Spaziergänge und Ausflüge, die durch mehrere kaiserliche Verfügungen noch vergrößert werden. 1776 wird der Prater, bislang der Benützung durch den Hof und den Adel vorbehalten, von Josef II. für die Öffentlichkeit geöffnet; neun Jahre später wird auch der in der Leopoldstadt nahe der Altstadt gelegene Augarten allgemein zugänglich. Der bei den Wienern überaus beliebte Augarten ist ruhiger als der Prater und lockt vor allem am Sonntag, wo in den Alleen reges Leben herrscht, zahlreiche Spaziergänger an. Frühaufsteher haben auch die Möglichkeit, hier Konzert-Matineen beizuwohnen, die in die Musikgeschichte eingegangen sind. Einige Monate hindurch schwang Mozart hier den Taktstock. Ähnliche Veranstaltungen gibt es im Belvedere. Der Prater bietet ein breiteres Spektrum an Vergnügungen. Auch nach der Öffnung für die Allgemeinheit im Jahre 1766 stehen hier im Nobelprater der vornehmen Gesellschaft immer noch weite Landstriche für ihre Ausritte offen. Ein anderer Teil des Praters, von den Wienern als Wurstelprater bezeichnet, erfreut sich eines regen Besuchs. Diese Gegend, in der zahlreiche Buden aufgestellt sind, wird zum Treffpunkt der Schaulustigen, die in der Tat die Qual der Wahl haben: Je nach Lust und Laune bleiben sie stehen, um ein Würstel zu essen oder andere Gaumenfreuden zu probieren, sich bei einem Spiel zu versuchen, die Kunststücke der verschiedensten Gaukler zu bewundern, über die Hanswurstiaden des Kasperls zu lachen oder den Schauspielern auf den Bretterbühnen Beifall zu zollen. Schon bald sprießen kleine Lokale aus dem Boden — 1780 zählt man ihrer bereits 43 - und laden vor allem im Sommer mit ihren kühlen, schattigen Plätzen zum Verweilen ein. Der Prater gibt all jenen recht, die immer wieder auf den gesunden Appetit der Wiener hinweisen: „All diese Gaststätten", schreibt der französische Reisende Michel de Serres, „sind auch Tempel des guten Essens, wo dem Appetit unaufhörlich Opfer dargebracht werden [...], denn man verschlingt hier in wenigen Augenblicken Hunderte Ochsen und Schafe. [...] Man könnte es ein allgemeines Festbankett nennen, wo Bacchus hofhält." 8 Der Prater ist auch berühmt für seine Feuerwerke, die zur Bewunderung der Wiener dort in regelmäßigen Abständen veranstaltet werden. Eine Familie hat sich ganz dieser Kunst verschrieben: 1774 veranstaltet Georg Johann Stuwer, der Gründer der Dynastie, sein erstes Feuerwerk. Drei Jahre später stellt Josef II. ihm ein Areal zur Verfügung, das ausschließlich diesem Verwendungszweck dient und bis zu 25.000 Menschen Platz bietet. Die Feuerwerke werden auf Plakaten angekündigt, die überall in der Stadt angeschlagen sind. A m späten Nachmittag beginnen Tausende Wiener in den Prater zu strömen. Nach dem Abendessen macht man es
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sich gemütlich und ist bereit, sich vom Zauber des Spektakels einfangen zu lassen. Nach Einbruch der Dunkelheit verkünden drei Kanonenschüsse den Beginn des Festes. Auch die Tänzer kommen im Prater auf ihre Rechnung. Diese Form der Unterhaltung kommt mit Beginn des Jahrhunderts unter den Wienern in Mode. Etablissements wie das „Sperl" oder das „Apollo" eröffnen zu jener Zeit und werden bald zu wahren Tanztempeln. Ihr Erfolg ist enorm. Die Gäste drängen sich in den Lokalen und tanzen begeistert die neuen Tänze, allen voran den Walzer. Der größte Erfolg all dieser Tanzsäle ist dem 1808 eröffneten ,Apollo" beschieden. Sein Besitzer sparte an nichts, als er dieses aus mehreren großen Sälen bestehende Etablissement errichten ließ. Michel de Serres staunt über den Wagemut: „Man muß sich der ruhigen und friedlichen Laune der Wiener schon sehr sicher sein, um sich an den Bau eines derartigen Lokal heranzuwagen, das mehr als 10.000 Menschen aufzunehmen vermag."9 Die luxuriöse Ausstattung des Apollo übersteigt jede Vorstellungskraft. Eine etwa zwanzig Stufen umfassende Treppe fuhrt zum großen Saal, dessen Mittelteil den Tänzern vorbehalten ist. Auf der Tanzfläche drängen sich so viele Paare, daß ein ungeschickter Schritt genügt - vor allem bei einem rasenden Galopp —, daß sie in ganzen Trauben übereinander herstürzen. Die Gänge am Rand der Tanzfläche sind mit kleinen Bäumchen und Statuen geschmückt. Im Hintergrund des Saales sind Steine aufgeschichtet, von deren Höhe aus Apollo in seinem Wagen den Blick über die Tänzer schweifen läßt. In die Steine wurde eine Höhle gegraben, in der ein Wasserfall rauscht. In den benachbarten Salons, in denen kleine Tische aufgestellt sind, können die erschöpften Tänzer neue Kräfte tanken. Dort wird ihnen auch auf edlem Geschirr ein Essen serviert. Trotz des großen Erfolges vermag das .Apollo" all diese Pracht nicht zu verkraften: Sein Besitzer geht 1811 in Konkurs. Auf die Begeisterung der Tänzer hat dies indes keine Auswirkung. Im Laufe dieser Jahre entwickeln die Wiener eine Leidenschaft für den Tanz, die das ganze Jahrhundert lang anhalten sollte. Am Vorabend des Krieges von 1809 ist Wien die Hauptstadt eines beträchtlich kleiner gewordenen Reiches. Bereits im Vertrag von Campo Formio hatte Osterreich Lothringen und die Niederlande verloren; Austerlitz hatte es Tirol, Venetien, Istrien und Dalmatien gekostet; und nach Wagram setzt sich dieser Abbröckelungsprozeß fort: Im Westen verliert Osterreich Salzburg und einen Teil Oberösterreichs, im Norden Galizien und im Süden Triest, Krain und einen Teil Kroatiens. Diese Katastrophen machen sowohl neue Leute als auch eine neue Politik erforderlich. Stadion weicht Klemens Graf Metternich, der es als Vertreter Österreichs in Paris gelernt hat, mit Napoleon umzugehen. Es ist keine Rede mehr davon, den Kaiser der Franzosen herauszufordern. Das Ungleichgewicht der Kräfte erfordert 96
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vor allem Schlauheit. Um den Beherrscher Europas milde zu stimmen, willigt Franz sogar ein, ihm seine Tochter, Erzherzogin Marie-Louise, zur Frau zu geben. Sollte Napoleon an der Macht bleiben, könnte Österreich diese verwandtschaftliche Beziehung zum Vorteil gereichen und es könnte sich den Platz als glänzender Zweiter sichern. Einer anderen Hypothese zufolge wollte Osterreich sich dadurch ein gewisses Kontrollrecht über das Schicksal Frankreichs sichern. Diese bewußt mehrdeutige Politik trägt ihre Früchte. Nach der schweren Niederlage Napoleons in Rußland hat Österreich 1812 keine Eile, Partei zu ergreifen, und sichert sich so eine Trumpfkarte in der folgenden Auseinandersetzung zwischen den Franzosen und der preußisch-russischen Koalition auf deutschem Boden. Sein Kriegseintritt erhält entscheidende Bedeutung: Dadurch verlagert sich das Kräfteverhältnis zugunsten der Verbündeten, die kurz darauf, im Oktober 1813, die Völkerschlacht bei Leipzig für sich entscheiden und ihren Vorteil auch im folgenden Jahr ausnützen, um Napoleon schließlich am 6. April zur Abdankung zu zwingen. Als Wien sich der antifranzösischen Koalition anschloß, konnte Metternich ein erstes Mal punkten, indem es ihm gelang, einen Österreicher - Feldmarschall Fürst Schwarzenberg - als Oberbefehlshaber der vereinigten Armeen durchzusetzen. Nun kann er sich im Glanz eines weiteren Erfolges von wesentlich größerer Tragweite sonnen. Die Entscheidung, Wien als Austragungsort für die Abhaltung jenes Kongresses zu bestimmen, der das Antlitz Europas völlig neu gestalten sollte, ist eine Bestätigung dafür, wie wichtig Österreichs Beitrag zum Sieg war. Nach dieser langen Zeit der Prüfungen ersteht Wien, in seinem Rang und seiner Rolle bestätigt und für einige Monate Hauptstadt Europas, wieder in alter Macht und Herrlichkeit.
Von der österreichischen Monarchie zum Kaisertum Österreich (I 683-1815) : 9 7
II. Die Donaumetropole (1815-1914)
Graben
Kapitel 4: Vom Fest zurTragödie
Das 19. Jahrhundert begann mit einem Fest und endete mit einer Tragödie. Nach der Niederlage Napoleons beherbergte Osterreich — damals am Höhepunkt seiner Macht - in Wien jenen Kongreß von Monarchen und Fürsten, der nach zwei Jahrzehnten nahezu ununterbrochener Kriege eine Neuordnung Europas vornehmen sollte. Die Entscheidung für Wien als Kongreßort unterstreicht, welche Rolle Österreich beim Sieg der Koalition gespielt hatte. Wien wird damit für einige Monate gewissermaßen zur Hauptstadt Europas. Ein Jahrhundert später hat sich das Bild gewandelt. Österreich - inzwischen zu Österreich-Ungarn geworden - führt mit den anderen europäischen Großmächten einen Krieg, der sich, vom Balkan ausgehend, rasch über den ganzen Kontinent verbreitet und diesen in zwei feindliche Blöcke spaltet. 1848 hatte es noch vermocht, der Revolution standzuhalten, diesmal jedoch muß es sich den Armeen der Entente und dem Druck der Nationalitäten geschlagen geben. Anderen Reichen, wie dem Deutschen oder dem Russischen, ist zwar dasselbe Schicksal beschieden, doch kommt es dort nicht zu einem historischen Bruch, und diese Reiche bestehen in anderer Form weiter. Das Kaisertum Österreich hingegen erlischt 1918. Tödlich getroffen, zerfällt das Reich, und Wien wird zur Hauptstadt einer kleinen Alpenrepublik. Ein Jahrhundert lang wird das Schicksal Europas von dieser Stadt bestimmt.
H Ü T E R I N DER EUROPÄISCHEN ORDNUNG (1815-1848) 1815 ist Wien der Mittelpunkt eines aus zwei Sphären bestehenden politischen Systems: die erste bilden die Erblande, aus denen sich das Kaisertum Österreich zusammensetzt; die zweite umfaßt jene Einflußbereiche, die Metternich der Monarchie in Deutschland und Italien zu sichern verstand.
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Die Revolutionskriege und die Kriege im Reich verändern Österreichs territoriales Aussehen. Diese Veränderungen stehen in der Logik der Entscheidung von 1804. Zwar wurden die nach Austerlitz und Wagram abgetretenen Gebiete zurückerobert, doch bemühten sich Franz I. und Metternich nicht um eine Rückführung der jenseits der Grenzen des geschlossenen Territoriums der Monarchie liegenden Besitzungen — die Niederlande und die ehemaligen habsburgischen Enklaven in Süddeutschland sind endgültig verloren. Gleichzeitig mit diesem Verzicht erhebt Österreich jedoch ein Veto gegen die Errichtung eines Deutschen Reiches als Nachfolger des Heiligen Römischen Reiches. Wien will auch in Zukunft nicht darauf verzichten, eine entscheidende Rolle in deutschen Belangen zu spielen, doch sind von nun an sein Souveränitätsgebiet und sein Einflußbereich voneinander getrennt. Das Kaisertum Österreich bildet nach dem Verlust der externen Besitzungen in Hinkunft eine aus den Erblanden bestehende zusammenhängende Einheit und untersteht der direkten Herrschaft des Chefs des Hauses Habsburg. Sein Gravitationszentrum verlagert sich damit noch etwas mehr nach Mitteleuropa. Diese territoriale Geschlossenheit ändert jedoch nichts an der nationalen Vielfalt, einem Charakteristikum des habsburgischen Österreich, das sich zunächst und vor allem als Vielvölkerstaat sieht. Wien ist die Hauptstadt eines Reiches, das bei einer Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern im Jahre 1815 nicht weniger als elf Nationalitäten zählt (Deutsche, Tschechen, Polen, Ruthenen, Italiener, Slowenen, Ungarn, Slowaken, Kroaten, Serben und Rumänen). Im Unterschied zum Russischen Reich, dem zweiten großen Vielvölkerstaat jener Zeit, gibt es in der österreichischen Monarchie jedoch keine beherrschende Volksgruppe. Die zahlenmäßig stärkste Gruppe der Deutschen stellt nur knapp ein Viertel oder etwas mehr als ein Fünftel der Bevölkerung — je nachdem, ob Lombardo-Venetien hinzugerechnet wird oder nicht. Neben diesem unmittelbaren Herrschaftsgebiet erstreckt sich die Kontrolle Wiens aber noch auf eine weitere Sphäre, nämlich jenen Einflußbereich, welcher der Monarchie 1815 erstmals oder erneut zugesprochen wurde. Metternich widersetzte sich zwar der Errichtung eines Deutschen Reiches, bemühte sich jedoch um den Aufbau eines Systems, das Wien eine Vorrangstellung in Deutschland sichern sollte. Seit 1815 steht der Kaiser von Österreich an der Spitze des aus 39 Staaten gebildeten Deutschen Bundes. Österreich gehört dem Bund zwar nur mit seinen früher zum Heiligen Römischen Reich gehörenden Besitzungen an, damit wird jedoch auch deutlich, daß seine Interessen sich nicht allein auf Deutschland beschränken. Ungarn, Siebenbürgen, Galizien, die Bukowina, Lombardo-Venetien und Dalmatien sind aus dem Bund ausgeschlossen. Damit gab Metternich Wien die Mittel in die Hand, seine Bundespartner in gewisser Weise zu überwachen und gefährliche Entwicklungen zu verhindern, während durch die weitgehend lose Organisation des Bundes gleichzeitig die Souveränität der Mitgliedstaaten gewahrt
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Rückkehr Kaiser Franz' I. im Jahre 1814 nach Wien
Wien wird während des Wiener Kongresses zur Hauptstadt Europas
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blieb. Z u der Zeit, als das Kräfteverhältnis noch zugunsten Österreichs sprach, war es sein Ziel, die Ambitionen Preußens in Schach zu halten. In dieses Bündnis eingegliedert, würden die Hohenzollern nicht so leicht der Versuchung erliegen, sich eine beherrschende Stellung in Deutschland zu sichern. Der zweite Einflußbereich Österreichs ist Italien. Dort hat Wien nach dem Zusammenbruch der napoleonischen Machtstrukturen wieder jenen Platz zurückerobert, den es vor dem revolutionären Umsturz innegehabt hatte, ja es vermochte seine Position sogar zu stärken. Sein Einflußbereich erstreckt sich in unterschiedlicher Form auf die gesamte Halbinsel: die Lombardei untersteht direkt dem Kaiser, in Florenz und Modena werden Nebenlinien der Habsburger eingesetzt, und in Parma regiert Marie-Luise. Weiter im Süden sind der Kirchenstaat und das Königreich Neapel so sehr von Österreich abhängig, daß es ihnen kaum möglich ist, sich dessen Willen zu widersetzen. Und obwohl sich Piemont-Sardinien weitgehend dem Zugriff Österreichs entzieht, wäre Turin wohl schlecht beraten, angesichts dieser Konstellation eine allzu unabhängige Politik zu verfolgen. Wien kontrolliert also ein breites Band von Gebieten, das sich vom Baltikum bis zum Mittelmeer erstreckt und den Kontinent in der Mitte teilt; damit ist es geradezu prädestiniert, als Drehscheibe jener aus den fünf europäischen Großmächten gebildeten Pentarchie zu fungieren, die nach den Vorstellungen Metternichs die Stabilität des postnapoleonischen Europa sichern soll. Österreich soll die Rolle des Hüters dieses europäischen Gleichgewichts übernehmen. Mit seinen Erblanden und seinen Einflußbereichen ist es als einzige Macht dazu in der Lage, dem Druck standzuhalten, der diese neue internationale Ordnung zu erschüttern droht: im Westen dem Druck Frankreichs, das trotz der Restauration der Bourbonen noch vom revolutionären Schwung erfüllt ist; im Osten dem Druck Rußlands, das schon allein aufgrund seiner Größe auf Expansion drängt. Um diesem System die genügende Durchschlagskraft zu sichern, ist es erforderlich, daß auch die Regierungsform in diesen Staaten auf denselben Prinzipien beruht. Das Kaisertum Österreich ist ein Beispiel dafür. Wien ist die Hauptstadt einer Monarchie von Gottesgnaden, wo die Herrschergewalt in der Person des Monarchen konzentriert ist: Er ist die Quelle aller Macht. Die Organisationsform der Monarchie entspricht dem Schema des fürstlichen Absolutismus als Weiterentwicklung des von den Herrschern des 17. und 18. Jahrhunderts eingeschlagenen Weges. Zweifellos wurden einige der von Josef II. eingeführten Maßnahmen wieder rückgängig gemacht, und zweifellos wurden die Landtage im Zuge der Zentralisierung nicht völlig abgeschafft, sie hinderten den Monarchen aber schon lange nicht mehr, seinen Willen durchzusetzen. Auch was die Wahl seiner Mittel betrifft, ist der absolutistische Staat der Restauration und des Vormärz nicht wirklich erfinderisch. Die Theresianisch-Josefinische Ära wies ihm den Weg. Schon Josef II. scheute nicht davor zurück, sich der Zensur 104 : Die Donaumetropole (1815-1914)
und der Polizei zu bedienen, die Metternich zu einer der Säulen der Herrschaft machen sollte. Die Ziele aber sind andere geworden. Josef II. wollte seine Untertanen zwar ebensowenig wie Franz I. an einer Gestaltung teilhaben lassen, doch war der Absolutismus für ihn das Instrument einer Reformpolitik. Die notwendigen Veränderungen wurden vom Herrscher beschlossen, der sich dem Fortschritt und dem Wohl seiner Untertanen verpflichtet fühlte. Durch die Französische Revolution hat sich dies radikal geändert. In Hinkunft hat nicht mehr die Veränderung oder Umgestaltung der Gesellschaft Vorrang, sondern es geht um die Aufrechterhaltung von Frieden und Ordnung. Das Modell des Absolutismus findet in der gesamten Monarchie Anwendung — mit Ausnahme Ungarns, dem es gelingt, sich diesem weiterhin zu entziehen. Schon Josef II. war es nicht gelungen, es in die Schranken zu weisen, und auch Franz I. scheitert. Er weigert sich zunächst von 1812 bis 1825, den Landtag einzuberufen, muß aber schließlich nachgeben. Die ungarische Verfassung bleibt in Kraft, und auch die traditionellen Institutionen bleiben bestehen; nach 1825 entwickelt sich dort im Umfeld der Parteien ein reges politisches Leben. Metternich, der seine Lektion aus der Vergangenheit gelernt hat, findet sich mit dieser Situation ab und setzt statt dessen auf die Rivalität der Parteien. Das Kaisertum Österreich, dieser Bannerträger des Absolutismus in Europa, muß also - welches Paradoxon! — in einem Teil seines Staatsgebietes eine konstitutionelle Regierungsform dulden. Diese für die Zukunft so folgenschwere eigenständige Entwicklung bedeutet, daß in der Habsburgermonarchie ein De-facto-Dualismus festgeschrieben wird. Wien steht im postnapoleonischen Europa also im Zentrum eines Systems, dessen einzelne Teile ineinander übergreifen. Einerseits Hauptstadt des Kaisertums Osterreich, profitiert es auch von der Vormachtstellung, die Metternich der Habsburgermonarchie sowohl in Deutschland als auch in Italien zu verschaffen verstand, und von seiner Funktion als treibende Kraft im Konzert der europäischen Mächte. Seine Bedeutung sollte in Hinkunft, zumindest zum Teil, von der Geschicklichkeit der österreichischen Führungspersönlichkeiten abhängen, dieses Kapital wirkungsvoll einzusetzen.
H E M M N I S S E EINER HAUPTSTADT
Innerhalb der Monarchie bekommt Wien vom Dualismus, der die Beziehungen zwischen Österreich und Ungarn regelt, noch wenig zu spüren. Preßburg (Poszony, Bratislava), Krönungsstadt und Sitz des ungarischen Landtags, ist kein Konkurrent. Dafür liegt es zu nahe von Wien und ist gleichzeitig doch zu weit vom Zentrum des Königreiches entfernt. Und der Aufschwung von Buda-Pest - noch sind die beiden Städte nicht vereinigt — setzt gerade erst ein. Vom Fest zurTragödie : I 0 5
Gefahr droht am ehesten von der Anfälligkeit des politischen Systems. Trotz einer prächtigen Fassade, machen sich bald Anzeichen von Schwäche bemerkbar, die immer deutlicher werden. Die Regierungsgewalt wird zunehmend von einer gewissen Lähmung gekennzeichnet. Nicht ganz unbeteiligt daran ist die Persönlichkeit der Herrscher. Weder die mangelnde Intelligenz Ferdinands I., der Franz 1.1835 auf dem Thron nachfolgt, noch die Rivalitäten zwischen einigen führenden Persönlichkeiten sind einer dynamischen Entwicklung zuträglich. Vor allem aber die Philosophie des herrschenden Systems hat eine wachsende Lähmung des politischen Lebens zur Folge. Fast hat man den Eindruck, als lautete die Devise: quieta non movere, mahnt doch Franz seinen Erben in seinem Testament, nicht an den Grundfesten des Staates zu rütteln. Diese geistige Unbeweglichkeit wird durch die schwerfällige und in vieler Hinsicht archaischen Formen verhaftete Regierungsstruktur noch weiter verschärft. Auch hier ist ein Stillstand des Reformprozesses zu beobachten. Im Gegensatz zu England und Frankreich gibt es in Osterreich noch immer keine konstitutionelle Regierung. Das Fehlen einer einheidichen Administration macht die Grenzen der Zentralisierungspolitik deutlich. Die Verwaltung der Monarchie ist weiterhin auf mehrere Kanzleien aufgeteilt (die gemeinsame Kanzlei für die österreichischen und böhmischen Länder, die Kanzlei für Ungarn und Siebenbürgen, die Kanzlei für Galizien und die Kanzlei für Lombardo-Venetien). Zumindest auf dem Papier wird dadurch die Rechtspersönlichkeit der verschiedenen konstituierenden Teile der Monarchie respektiert. In der Praxis hingegen löst dieses System - obwohl alle Kanzleien ihren Sitz in Wien haben - oft Verwirrung aus und verhindert eine effiziente Vorgangsweise. Solange der Monarch seine Funktion als Koordinator wahrnimmt, verdeckt dies zumindest teilweise die Nachteile einer solchen Aufsplitterung in unterschiedliche Machtzentren. Franz war darin ein wahrer Meister. Aber mit der Thronbesteigung Ferdinands, der nicht in der Lage ist, diese Rolle zu erfüllen, treten die Schwächen des Systems deutlich zutage. Aber es dauert, bis sich ein Widerstand gegen diese absolutistische Regierungsform regt, der diese auch tatsächlich gefährden könnte. Nach der langen Zeit der Kriege und Unsicherheiten herrscht allgemein Sehnsucht nach Frieden und Ruhe. Das ist die Zeit des Biedermeier: Das städtische Bürgertum besinnt sich auf die Werte des Familienlebens, genießt die Behaglichkeit gemütlicher Wohnungen und ausgedehnte Spaziergänge in der freien Natur. In den 30er Jahren beginnt sich eine Veränderung abzuzeichnen. Unter dem bislang zufriedenen — oder resignierten - Bürgertum macht sich zunehmend eine gewisse Unruhe breit. Die Kunde von den Juli-Ereignissen 1830 in Paris verhallt auch hier, obzwar in etwas abgeschwächter Form, nicht ungehört. Liberale Ideen fallen im Laufe der Jahre in Kreisen des Adels und des gehobenen Bürgertums, bei hohen Beamten, Ärzten, Anwälten, Professoren, Wissenschaftlern und Schriftstellern auf fruchtbaren Boden. Die Opposition trifft sich in Wien in verschiedenen Vereini1 0 6 : Die D o n a u m e t r o p o l e ( 1 8 1 5 - 1 9 1 4 )
gungen wie der Concordia oder dem Juridisch-politischen Leseverein, wo Reformprojekte diskutiert werden. Ihr Forum ist der niederösterreichische Landtag mit Sitz in Wien. Die Forderungen sind gemäßigt: die Konstituierung eines von den einzelnen Landtagen beschickten Zentralparlaments, das einberufen werden sollte, um das Budget zu beschließen und den Kaiser zu beraten. Am Vorabend des Revolutionsjahres 1848 legt die Opposition damit ein Programm zur Umwandlung Österreichs in eine parlamentarische Monarchie vor, das in seiner Konzeption allerdings weder an den Parlamentarismus in England, ja nicht einmal im Frankreich LouisPhilippes heranreicht. Bei Metternich läßt dieser Vorstoß zur Errichtung einer konstitutionellen Monarchie jedoch die Alarmglocken läuten. In Osterreich vollzieht sich so — mit Verspätung — eine Entwicklung vergleichbar jener in den Staaten Westeuropas. Ein österreichisches Spezifikum hingegen ist die Koppelung dieses Fortschritts des Liberalismus mit dem Aufkommen nationaler Strömungen. Für diese Stärkung des Nationalbewußtseins sind mehrere Faktoren verantwortlich: die Elitenbildung infolge der großen Reformen Maria Theresias und Josefs II.; ein Anheizen des Lokalpatriotismus als Reaktion auf die Zentralisierungspolitik; die Bedeutung des Begriffs Nation sowohl für die Französische Revolution als auch ftir die deutsche Romantik. All diese Faktoren erhalten zunehmend eine kulturelle Dimension. Es ist die Zeit, wo die Völker sich auf der Suche nach ihrer Identität ftir ihre Vergangenheit zu interessieren beginnen, wobei der Mythos bisweilen die Realität verzerrt. Ein besonderes Augenmerk gilt der Sprache, in der man ein entscheidendes Attribut der Nationalität sieht. So ist es diese Generation, die darangeht, deren Formen und Regeln festzulegen. Solange diese Bemühungen sich auf das Gebiet der Kultur beschränken, hat Wien - von einigen Ausnahmen abgesehen - nichts dagegen einzuwenden. Die Grenze zwischen Kultur und Politik ist allerdings nicht immer leicht zu ziehen. Und es liegt in der Natur der Sache, daß diese Grenze früher oder später überschritten wird. Am Vorabend des Jahres 1848 schließlich haben all diese Bewegungen eine politische Dimension, was von den Behörden mit wachsamem Auge verfolgt wird. Noch ist die Nationalitätenfrage für Wien nicht jenes Schreckgespenst, zu dem sie Ende des Jahrhunderts werden sollte. Das Gesamtreich der Habsburger wird von niemandem in Frage gestellt, außer von einem Teil der Italiener in Lombardo-Venetien und kleinen Minderheiten unter den Magyaren und Polen. Es scheint vielmehr die einzig gültige Antwort auf den nationalen Pluralismus im mitteleuropäischen Raum, was Wien weiterhin seine Vorrangstellung garantiert. Das heißt jedoch nicht, daß man am status quo festhalten möchte, denn die nationalen Bewegungen lehnen den Absolutismus ab: Da die Anerkennung der nationalen Rechte ihrer Völker ftir sie Vorrang hat, ist ihnen an einer Machtstruktur gelegen, die deren Schutz sicherte. Und so blicken sie auf Wien, von wo allein jene Reformen kommen können, die sie für deren Entwicklung für notwendig erachteten. Vom Fest zurTragödie : 107
Die Nationalitätenfrage beschränkt sich indes nicht auf eine Auseinandersetzung zwischen Wien und den Völkern des Reiches. Bedingt durch die nationale Heterogenität in den meisten Ländern der Monarchie manifestiert sie sich auch in den Beziehungen zwischen den Volksgruppen, die aufgrund des Laufs der Geschichte nebeneinander leben: Deutsche und Tschechen in Böhmen und Mähren, Polen und Ruthenen in Galizien, Italiener und Deutsche in Tirol, Italiener und Slowenen in Triest, Italiener und Kroaten in Dalmatien. Mit dem Erwachen des Nationalbewußtseins wird dieses Nebeneinander zunehmend von Spannungen gekennzeichnet. Und wieder einmal unterscheidet sich die Situation in Ungarn vom Rest der Monarchie. Hier stehen die Minderheiten des Königreiches den Magyaren gegenüber, wobei die magyarische Elite im Rahmen der Ungarn zugestandenen Autonomie eine Politik verfolgt, die darauf abzielt, diese Minoritäten ihrer Herrschaft zu unterwerfen. So zwingen die Magyaren den Minderheiten ihres Landes beispielsweise Ungarisch an Stelle des Lateinischen als Sprache im Landtag sowie als Verwaltungssprache auf. Damit wird eine Sprache, in der alle Nationalitäten des Königreiches sich wiedererkennen können, durch jene der beherrschenden Volksgruppe ersetzt, die ihre Vorrangstellung dadurch gefestigt sieht. Dies hat jedoch zur Folge, daß die nationalen Bewegungen unter den anderen Völkern sich sehr bald eindeutig gegen die Magyaren richten. Diese Tatsache gewährt den österreichischen Behörden einen erheblichen Handlungsspielraum in ihrem Umgang mit den Nationalitäten. Sie könnten versucht sein, die Perspektiven zu nützen, die sich durch diese Opposition gegen die Magyaren eröffnen: Da die Ungarn schon immer das Haupthindernis ftir die Errichtung eines einheitlichen Reiches waren, ist diese Gelegenheit für eine Schwächung ihrer Position für Wien zu verlockend, um sie nicht zu ergreifen, auch wenn die Unterstützung überaus diskret und den jeweiligen Umständen gemäß erfolgt - oder auch bisweilen ausbleibt. Für den Augenblick hat Wien diese Bewegungen unter Kontrolle, die - wenn sie nicht gegeneinander gerichtet sind - noch sehr unkoordiniert agieren. In diesem Anfangsstadium setzen die nationalen Bestrebungen noch nicht ihre gesamte Sprengkraft frei. Da ihr Grundprinzip jedoch im Widerspruch zu den Grundlagen des habsburgischen Gesamtreiches steht, könnten diese Bewegungen eine tödliche Gefahr für die Monarchie bedeuten, sollte Wien je die Kontrolle über sie entgleiten. Die wirtschaftliche Situation Österreichs stellt einen weiteren Schwachpunkt dar. Hauptverantwortlich in dieser noch weitgehend agrarischen Gesellschaft ist dafür das System der Grundherrschaft. Obwohl die damit einhergehenden Belastungen in unterschiedlichem Maße zum Tragen kommen, verhindern sie eine Entwicklung des ländlichen Raumes. Die Bestrebungen der Bauern gehen ohne Unterschied in dieselbe Richtung, nämlich die Zinspflicht und die Belastungen, denen sie unterworfen sind, abzuschütteln. Sklave ihres eigenen Festhaltens am Althergebrachten, 108 : Die Donaumetropole (1815-1914)
hat die Regierung darauf keine Antwort, und das Klima in den ländlichen Gebieten wird immer drückender. Diese Situation hat natürlich Auswirkungen auf die übrigen Wirtschaftssektoren. Zur Stützung des Binnenmarkts fehlt eine starke Nachfrage seitens der ländlichen Bevölkerung. Die Beibehaltung des Systems der Grundherrschaft, das die Bauern an die Scholle bindet, bremst die Migrationsbewegung in Richtung der Städte, wodurch der Industrie die filr einen Aufschwung erforderlichen Arbeitskräfte fehlen. All diesen Hindernissen zum Trotz setzt eine Wachstumsphase der österreichischen Industrie ein. Neue Sektoren treten neben frühere Produktionsbereiche: Der Beginn des Eisenbahnbaues steigert den Kohlenabbau und in der Folge die Entwicklung der Eisen- und Stahlindustrie. Die Industrialisierung hat aber eindeutige Grenzen. Aufgrund der ungleichmäßigen Verteilung bzw. Konzentration auf einige Gebiete - Wien und Umgebung, Böhmen und Mähren, Lombardo-Venetien - und des dadurch bedingten unterschiedlichen Entwicklungsniveaus bleibt das Gesamtwachstum relativ bescheiden. So nimmt Osterreich eine Mittelstellung zwischen dem bereits stärker industrialisierten Westeuropa und dem noch unterentwickelten Osteuropa ein. Am Vorabend des Jahres 1848 macht diese Schwäche im industriellen Bereich Österreichs Macht zweifellos verwundbarer. Aber auch die internationale Position der Monarchie wird zunehmend untergraben. Das Metternichsche System hat nur wenige Jahre Bestand, nämlich nur solange die europäischen Mächte sich gemeinsam um eine Lösung für die Krisenherde bemühen. Aber schon bald gewinnen in diesem europäischen Konzert die eigenen Interessen und nationale Ideen die Oberhand, und die Einheit weicht der Zwietracht. Im Lauf der Ereignisse beginnt Österreichs Einfluß langsam zu sinken. Gegen den Willen Metternichs erhalten die Griechen 1829 ihre Unabhängigkeit, und zwei Jahre später wird Belgien aus der Taufe gehoben. Beide Male sieht W e n sich isoliert. Als unermüdlicher Verfechter der Legitimität ist Metternich ein Rufer in der Wüste. Die revolutionären Ereignisse der Jahre 1830 und 1831 mischen die Karten neu. Metternich ist bestrebt, die konservativen Mächte rund um Österreich zu versammeln, um durch ein Bündnis sozusagen einen Wall gegen den Druck des Liberalismus, der durch England und das Frankreich Louis-Philippes verkörpert wird, zu errichten. Anläßlich eines Treffens der Kaiser von Österreich und Rußland im September 1833 in Münchengrätz wird dieses Abkommen besiegelt. So wird also, gemeinsam mit Preußen, das damals noch im Kielwasser Wiens segelt, eine antirevolutionäre Front gebildet. Aber wie würde sich diese neue Verteidigungslinie bewähren? Hatte diese Dreierallianz größere Chancen auf Erfolg, wo man zuvor zu fünft gescheitert war? Metternich muß sich auch die Frage nach der Verläßlichkeit seiner Partner stellen. Mit der Gründung des Zollvereins (1834) hat Preußen bereits seine Absicht V o m Fest z u r T r a g ö d i e :
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durchblicken lassen, Deutschland unter seiner Ägide zu organisieren. Würde diese Zollunion nicht den Weg für eine politische Vereinigung ebnen? Rußland hat seine Ambitionen auf dem Balkan zwar im Augenblick zurückgeschraubt - aber für wie lange? Der Schweizer Bürgerkrieg hat gerade erst gezeigt, daß Wiens Einfluß zurückgeht: Die Unterstützung Metternichs vermochte die katholischen und konservativen Kantone 1847 nicht vor der Niederlage gegenüber ihren liberalen Gegnern zu bewahren. Österreich, in die Defensive gedrängt, ist schon lange nicht mehr die Drehscheibe der europäischen Politik.
D A S REVOLUTIONÄRE W I E N
Die Revolution 1848 bricht also keineswegs aus heiterem Himmel los. Mitte der 40er Jahre mehren sich die Anzeichen einer Krise. Die wirtschaftliche Depression, die ganz Europa erfaßt hat, erreicht Österreich. Schlechte Ernten spitzen die Situation auf dem Land weiter zu. Die Erhebung 1846 in Ostgalizien ist nur eine radikale Manifestation des allgemeinen Unbehagens der ländlichen Bevölkerung. Auch die Städte bleiben nun nicht mehr verschont. Die Schwächung des Binnenmarktes läßt die Geschäfte zurückgehen und die Arbeitslosigkeit steigen. Wien ist in besonderer Weise betroffen. Da hier bereits zahlreiche Arbeiter in den Handwerksbetrieben und in der Industrie beschäftigt sind, machen sich die Auswirkungen der Rezession stark bemerkbar, ganz zu schweigen von jenen Menschen, die die Not in die Stadt treibt. Dieses Heer von Arbeitslosen birgt zweifellos ein großes Potential für die Revolution. Für Österreich ist 1848 ein schreckliches Jahr. Es fehlt nur wenig, und es ginge in den Wirren der Revolution unter. Der Aufruhr steht in einer Linie mit den Revolutionen, die ganz Europa erschüttern. Im Januar bricht im Königreich Neapel die Revolution aus und breitet sich wie eine Schockwelle rasch über die ganze Halbinsel aus. Auch Lombardo-Venetien wird erfaßt, wo Feldmarschall Radetzky am 22. Februar das Kriegsrecht ausruft. Aber noch bleibt die Bewegung, trotz der Ausbreitung auf ganz Italien, lokal begrenzt; das ändert sich allerdings, als Louis-Philippe im Februar gestürzt und in Paris die Republik ausgerufen wird. Der Wind, der aus Paris weht, erreicht auch bald die österreichischen Lande. Aber noch bevor der Feuersturm auf Wien übergreift, erfaßt er andere Städte: Am 3. März fordert Lajos Kossuth, der Sprecher der Radikalen, in Preßburg eine Verfassung fiir eine ungarische Regierung; am 10. März formuliert eine Versammlung eine Adresse, in der die Forderungen nach einer Neuregelung der Beziehungen zwischen dem Reich und Böhmen dargelegt werden; und am 13. März schließlich schwappt die Woge der Revolution auf Wien über. Die Staatsfiihrung vermag die Lage nicht unter Kontrolle zu bringen. Hin und hergerissen zwischen der Versuchung, hart zu bleiben, und dem Bemühen um eine I 10 : Die Donaumetropole (1815-1914)
Metternich wird im März 1848 zur Flucht gezwungen
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Zeitungsversteigerung in den Straßen Wiens im Juni 1848
Vom Fest zurTragödie :
III
friedliche Lösung, läßt man zunächst auf die Menschenmenge in der Herrengasse schießen, um dann den Truppen den Befehl zum Rückzug zu geben; am Abend dieses bewegten Tages ist die Straße fest in Händen der Aufständischen. Aus Angst vor einer Volkserhebung ist der Hof zu Konzessionen bereit. Die kaiserliche Familie läßt Metternich fallen, der zur Demission gezwungen wird. Trotz seines Abgangs lassen die Demonstranten nicht locker, und zwei Tage später muß der Hof das bevorstehende Zusammentreten einer konstituierenden Nationalversammlung ankündigen. Auch in Ungarn überstürzen sich die Ereignisse: Am 17. März genehmigt Ferdinand die Bildung einer Regierung, am 11. April bestätigt Wien die vom Landtag beschlossenen Verfassungsgesetze, die Ungarn eine Regierung nach liberalem Vorbild geben und ihm weitgehende Souveränität innerhalb des Habsburgerreiches zubilligen. Auch Lombardo-Venetien bietet der Dynastie wenig Anlaß zur Freude. Nachdem es Radetzky nicht gelungen ist, den Aufstand in Mailand niederzuschlagen, entschließt er sich, die Truppen aus der Stadt abzuziehen; am 21. März schüttelt auch Venedig die österreichische Oberhoheit ab. Von Beginn an haben die revolutionären Ereignisse im habsburgischen Österreich eine Besonderheit. Die Revolution hat dort nicht nur eine Umgestaltung der politischen Strukturen bzw. eine Neuverteilung des nationalen Reichtums zum Ziel, sondern der habsburgische Staat als solcher ist von der Auflösung bedroht, wohingegen Frankreich weder in seiner Existenz noch in seiner Einheit gefährdet ist und die Einigung in Deutschland und Italien voranzuschreiten scheint. Hier zeigt sich bereits, daß die Revolution in den habsburgischen Ländern viele Keimzellen hat. Wien spielt dabei nicht dieselbe Rolle wie Paris in Frankreich. Es ist weder federführend noch als einzige Stadt betroffen. Pest, Prag, Lemberg, Mailand, Venedig werden zu eigenständigen Zentren der Revolution, die zunehmend der Kontrolle der Zentralmacht entgleiten. Diesen revolutionären Bewegungen fehlt es indes nicht an jeglicher Verbindung untereinander. Bezeichnenderweise fällt ihr Aufkommen mit einer Zeit der Schwäche der Regierung in Wien zusammen. Umgekehrt sollte die Restauration der monarchischen Gewalt Ende des Jahres dort, wo die Armee noch nicht vermocht hatte, den Brandherd zu löschen, sehr bald den Zusammenbruch der Bewegungen nach sich ziehen. Ihnen allen aber, gleichgültig, ob sich ihre Forderungen noch im Rahmen der Monarchie bewegen oder auf eine völlige Unabhängigkeit abzielen, geht es darum, sich aus der Vormundschaft Wiens zu lösen. Z u dieser Auflehnung gegen die Macht Wiens kommt noch die Trennung zwischen Wien und der Dynastie hinzu. Zweimal flieht die kaiserliche Familie aus ihrer Hauptstadt, um sich vor der Revolution in Sicherheit zu bringen. Die vom Hof angekündigten Konzessionen bringen nicht den erwünschten Erfolg, sondern setzen vielmehr Kräfte frei, für die es gilt, die Revolution so lange fortzufuhren, bis 1 1 2 : Die Donaumetropole (1815-1914)
eine demokratische Regierung eingesetzt ist. Sie rekrutieren sich vor allem aus Studenten, die in einer Akademischen Legion organisiert sind, aus Handwerkern sowie Arbeitern aus den Vorstädten und halten den Druck aufrecht. Tatsächlich hat die Staatsfiihrung die Hauptstadt kaum mehr unter Kontrolle als den Rest des Reiches. Nach einem weiteren Revolutionstag, dem 15. Mai, besteht kein Zweifel mehr an den Grenzen ihrer Macht. Die Regierung unterbreitet zwei Vorschläge, die nach Ansicht der Revolutionäre aber zuwenig weitgehend sind; die Minister werden zum Rückzug gezwungen. Für die kaiserliche Familie ist die Bedeutung dieses Zurückweichens klar. Aus Angst davor, zu einer Geisel der Revolution zu werden, flüchtet die kaiserliche Familie aus der Hauptstadt und trifft am 19. Mai in Innsbruck ein. Von Tirol aus, einer Hochburg der Kaisertreuen, sollte sie den Lauf der Ereignisse verfolgen und aufbessere Zeiten warten.
D I E R E S T A U R A T I O N DER M O N A R C H I S C H E N G E W A L T
In den ersten Augusttagen kehren der Kaiser und die Seinen nach Wien zurück. In den vergangenen zweieinhalb Monaten hat sich eine Umkehr des Kräfteverhältnisses abgezeichnet. An mehreren Fronten ist bereits die Gegenrevolution in Gang. Seit Mitte Juni herrscht dank Fürst Windischgrätz in Prag wieder Ruhe und Ordnung; am 25. Juli besiegt Radetzky die Piemontesen bei Custozza, womit sich gleichzeitig die Tore Mailands öffnen. In Wien selbst vermeint die Staatsfiihrung vielversprechende Anzeichen zu erkennen. Das durch die zunehmende Anarchie in Angst und Schrecken versetzte Bürgertum distanziert sich von den revolutionären Kräften. Es feiert die Siege Radetzkys und sehnt sich nach Wiederherstellung der Ordnung; es würde sich einer militärischen Intervention nicht entgegenstellen. Windischgrätz, dieser Vorreiter der Gegenrevolution, brennt darauf, gegen Wien zu marschieren. Zur Stunde fehlt dazu noch das Einverständnis des Kaisers. Aber dieses sollte nicht lange auf sich warten lassen. Die Revolutionäre sind, trotz der Abkehr des Bürgertums, noch immer in der Lage, der Staatsgewalt zu trotzen. Sie wissen nur zu gut, daß ihr Schicksal besiegelt ist, sobald sie ihren Gegnern die Initiative überlassen. Zum Ausbruch kommt es, als die Regierung beschließt, Truppen nach Ungarn zu schicken, wo die Radikalen unter der Führung von Lajos Kossuth die Oberhand gewonnen haben. Die Meuterei eines Regiments am 6. Oktober ist der Funke im Pulverfaß. Innerhalb weniger Stunden sind die Aufständischen Herr der Stadt. Um dieser neuerlichen Bedrohung zu entgehen, muß die kaiserliche Familie ein zweites Mal flüchten. Am nächsten Tag macht sie sich unter dem Schutz der treu ergebenen Truppen der Garnison auf
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den Weg nach Olmütz in Mähren, wo sie im Erzbischöflichen Palais Quartier nimmt. Schon bald wird klar, daß dieser Sieg der Revolutionäre ein Pyrrhussieg ist. Nun ist der Weg frei für Windischgrätz. Das Ungleichgewicht der Kräfte läßt keinen Zweifel über den Ausgang des Kampfes, um so mehr, als der Wiener Aufstand in den deutschsprachigen Gebieten nur auf wenig Solidarität stößt. Windischgrätz hingegen profitiert von der Verstärkung durch kroatische Regimenter, die ihm deren Anfuhrer, Banus Jellacic, zur Verfugung stellt. A m 20. Oktober ist Wien gänzlich eingekesselt. Die Ereignisse nehmen ihren unerbittlichen Lauf. Das Nahen einer ungarischen Hilfsarmee scheint diesen Ablauf vorübergehend zu stören, doch dauert die Unsicherheit nicht lange. Die Ungarn werden von den Kroaten Jellacics geschlagen und zurückgedrängt. Am 31. Oktober bricht der letzte Widerstand zusammen ; nun beginnt die Zeit der Unterdrückung. Nach der Ausrufung des Belagerungszustandes untersteht Wien der Militärgerichtsbarkeit. Von den Besiegten werden etwa 2.000 festgenommen und 25 von ihnen hingerichtet. Diesmal wartet die kaiserliche Familie mit ihrer Rückkehr nach Wien, bis auch der letzte Funke des Aufruhrs gelöscht ist. Dies obliegt der Armee und der Polizei. Der Sieg der Gegenrevolution bringt auch den Aufstieg neuer Männer in verantwortungsvolle Positionen mit sich, insbesondere Fürst Felix Schwarzenberg, dem die Leitung der Regierung anvertraut wird. Als Karrierediplomat und Offizier im Generalsrang hat er sich stets als Mann der Tat erwiesen, und als strikter Gegner der Revolution ist er vor jeder Versuchung gefeit, hier Konzessionen zu machen. Er glaubt an die ruhmreiche Sendung Österreichs, ist aber der Ansicht, daß diese nur innerhalb eines geeinten Reiches verwirklicht werden kann. An der Spitze der Regierung sieht er seine Aufgabe daher im Aufbau eines effizienten Staates. Seine Entschlossenheit veranlaßt ihn jedoch nicht zu einer reaktionären Politik. Er weiß, trotz aller Ablehnung der Revolution, inwieweit das Regime des Vormärzes an der Krise von 1848 mitschuldig ist. Auch beabsichtigt er, mit der Restauration der monarchischen Gewalt ein Modernisierungsprogramm für das Reich zu verbinden. Die Bestellung Schwarzenbergs ist indes nur der Vorbote einer noch wichtigeren Veränderung. Schon seit Beginn der Revolution hätten viele bei Hof es gerne gesehen, wenn Ferdinand zugunsten seines Neffen, Erzherzog Franz Joseph, abdankte. Grund dafiir ist nicht nur die intellektuelle Beschränktheit des Kaisers: Man wirft ihm auch vor, sich mit der Revolution kompromittiert zu haben, vor allem weil er alle ihm abgerungenen Zugeständnisse auch gedeckt hatte. Franz Joseph ist frei von dieser Last, da er bislang noch keinen verantwortungsvollen Posten innegehabt hat. Seine Jugend - er ist erst 18 Jahre alt - ist ein weiterer Trumpf zu seinen Gunsten. Der Fall Wiens macht einen solchen Wechsel möglich. Nach dem Sieg über die Revolution im Herzen der Monarchie ist der neue Herrscher an nichts gebunden. Die Zeremonie findet am Morgen des 2. Dezember im Erzbischöflichen Palais von I 14 : Die Donaumetropole (1815-1914)
Olmütz statt. Mit einigen wenigen Worten Ferdinands ist alles gesagt: Franz Joseph wird neuer Kaiser von Osterreich, was den Anteil der Armee an der Restauration der monarchistischen Gewalt illustriert. Windischgrätz und Jellacic sind anwesend, und eine der ersten Handlungen des neuen Herrschers besteht darin, ihnen seinen Dank auszusprechen. Aber auch nach der Thronbesteigung Franz Josephs ist für den Hof noch nicht die Zeit gekommen, nach Wien zurückzukehren. Zunächst muß die neue Regierung ihre Position festigen. Hier stehen einander die Regierung und der im Juli gewählte Reichstag gegenüber, dem die Aufgabe übertragen wurde, eine Verfassung ftir die Monarchie auszuarbeiten. Schwarzenberg ist nicht gewillt, sich vom Parlament die zukünftige Organisation der Staatsgewalt vorschreiben zu lassen. Der Reichstag, der zwar der kaiserlichen Familie nach Mähren gefolgt ist, hält an seiner liberalen Uberzeugung fest, wie der Verfassungsentwurf deutlich macht, der auf dem Prinzip der Souveränität des Volkes beruht und die Ministerverantwortlichkeit einfuhrt. Im Gegenzug proklamiert die Regierung am 4. März 1849 eine Verfassung, die ohne Rücksprache mit den Abgeordneten ausgearbeitet wurde. Dieser Text, in dem die Grundfreiheiten bestätigt werden, regelt die Beziehungen zwischen den verschiedenen Machtebenen und sieht die Errichtung eines zentralen Parlaments vor. Und dennoch ist die Sichtweise dieser Verfassung eine völlig andere. Die von der Regierung Schwarzenberg ausgearbeitete Verfassung konzentriert sich auf die Vorrangstellung der monarchischen Gewalt: Es gibt keinerlei Hinweis auf die Souveränität des Volkes, und es ist nicht mehr die Rede von der Ministerverantwortlichkeit, während dem Kaiser bei den vom Parlament beschlossenen Gesetzesvorlagen ein absolutes Vetorecht eingeräumt wird. Darüber hinaus soll die neue Verfassung für die gesamte Monarchie gelten, und somit auch fiir Ungarn, dessen Verfassungsgesetz vom April 1848 und dessen Sonderstellung damit gänzlich ignoriert werden. Die Promulgation der Verfassung ist mit der Auflösung des Reichstages verbunden, wodurch dessen Gesetzeswerk jedoch nicht fiir ungültig erklärt wird, insbesondere das wichtigste Vermächtnis: das am 7. September 1848 verabschiedete Gesetz über die Abschaffung der Grundherrschaft und die Ankündigung umfassender Agrarreformen. Die Regierung hütet sich davor, ein Gesetz anzutasten, durch das die Ruhe im Land wiederhergestellt worden war. Der Gewaltstreich vom 4. März macht allerdings jegliche Zusammenarbeit mit dem Parlament unmöglich. Nach Beseitigung dieses Hindernisses können Franz Joseph und Schwarzenberg nun frei regieren, ohne sich um eine parlamentarische Kontrolle kümmern zu müssen. Nun steht einer Rückkehr der kaiserlichen Familie nach Wien nichts mehr im Wege. Am 5. Mai wird die Stadt wieder zur kaiserlichen Residenz. Aber noch ist die Zeit der Vergebung nicht gekommen, das Trauma der Revolution noch lange nicht überwunden. Wien wurde zwar in die Schranken gewiesen, doch haftet an der Stadt
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das Stigma des Aufstands gegen ihren Herrscher, der zweimal zur Flucht gezwungen wurde; so bleibt der Belagerungszustand aufrecht. Franz Joseph verfolgt den Lauf der Ereignisse also in Hinkunft von seiner Hauptstadt aus. An allen Fronten, wo noch das Feuer flackert, verzeichnet die Restauration der österreichischen Macht entscheidende Erfolge. In Italien scheitert im März 1849 e i n neuerlicher Versuch der Piemontesen, die Lombardei zu erobern. Im Oktober, als Venedig nach einer mehrmonatigen Belagerung kapituliert, hat Osterreich wieder alle seine früheren Positionen inne. Auch in den schlimmsten Stunden war die Sicherheit Wiens nie durch die Ereignisse in Italien bedroht, die ungarische Revolution hingegen bedeutete eine unmittelbare Gefahr. Bereits im Oktober 1848 hatte eine ungarische Armee versucht, den Belagerten zu Hilfe zu kommen, und in der Folge sollte sich die Rückeroberung des Königreiches schwieriger als erwartet gestalten. Anfang des Frühjahrs rückt die Frontlinie der Hauptstadt gefährlich nahe. Angesichts dieser immer bedrohlicher werdenden Situation sehen Franz Joseph und Schwarzenberg keinen anderen Ausweg, als Rußland zu Hilfe zu rufen. Damit ist die Entscheidung gefallen. Der letzte Akt vollzieht sich am 1. August in Vilägos, wo der ungarische General Görgey vor den Russen kapituliert. In all dieser Zeit bleibt aber die deutsche Frage für Franz Joseph und Schwarzenberg von zentraler Bedeutung. Das Schicksal Österreichs, als Staat und als Großmacht, ist tatsächlich eng mit der Lösung dieser Frage verbunden. Damit steht das Schicksal Wiens auf dem Spiel. Schon bald treten die Aufständischen im Namen der Einigung Deutschlands auf. Als sichtbares Zeichen ihrer Uberzeugung hissen sie die deutsche Fahne in den Farben Rot, Gold und Schwarz auf dem Stephansdom. Wie alle anderen Nationalismen stellt auch der Deutschnationalismus eine tödliche Gefahr für Österreich dar. Alle in Frage kommenden Formeln für die Verwirklichung einer solchen Einigung Deutschlands bergen aus unterschiedlichen Aspekten Gefahren flir Österreich. Die großdeutsche Lösung, die flir die Gebiete des Deutschen Bundes gelten sollte, scheint auf den ersten Blick günstig für Österreich. Da jedoch nur ein Teil der habsburgischen Besitzungen in diesen Einigungsprozeß in Deutschland einbezogen würde, wäre damit ein Zerfall der Donaumonarchie vorprogrammiert. Für Wien könnte das verheerende Folgen haben: An des Rand des neuen Reiches gedrängt und von seinen Ausläufern in Mitteleuropa und auf den Balkan abgeschnitten, würde es unweigerlich seine Rolle als Metropole einbüßen. Bei der kleindeutschen Lösung besteht kein Zweifel: Damit bliebe die Habsburgermonarchie in ihrer Gesamtheit erhalten, wäre aber aus Deutschland ausgeschlossen, wo dann Preußen freie Hand hätte. Wien müßte nicht um seine Rolle als Metropole bangen; das Ende der österreichischen Präsenz in Deutschland aber hätte zur Folge, daß dadurch die Bande zu einer der Quellen seiner Kultur gelockert würden.
I 16 : Die Donaumetropole (1815-1914)
Für die neuen Verantwortlichen der Monarchie ist keine der beiden Lösungen akzeptabel. Franz Joseph und Schwarzenberg wollen gleichzeitig die Vorrangstellung Österreichs in Deutschland wiederherstellen und die Einheit des Reiches aufrechterhalten. Dieser Wunsch aber bringt sie in Konflikt mit dem Parlament in Frankfurt, das die Rahmenbedingungen für die deutsche Einheit ausarbeiten soll. Als sich das Parlament Anfang März 1849 für die kleindeutsche Lösung ausspricht, wird Schwarzenberg seine Aufgabe dadurch erleichtert, daß sich der preußische König Friedrich Wilhelm IV. weigert, die deutsche Kaiserkrone von einem Parlament anzunehmen. Aber auch der Abtritt des Frankfurter Parlaments von der Bühne beendet die Diskussionen nicht. Im nächsten Monat legt Friedrich Wilhelm IV. den Plan für eine eingeschränkte Union vor, der — anders als das vom Frankfurter Parlament vorgesehene Szenario — auf die Festigung der Vorrangstellung Preußens in Deutschland abzielt. Das nächste Jahr ist von der Auseinandersetzung zwischen den beiden Staaten bestimmt: Preußen ist bemüht, seinen Plan einer eingeschränkten Union voranzutreiben, und Osterreich unternimmt alles, um dies zu verhindern. Schwarzenberg ist sogar bereit, eine bewaffnete Auseinandersetzung in Kauf zu nehmen, so groß ist in seinen Augen der auf dem Spiel stehende Einsatz. Außerdem kann er mit der Unterstützung Rußlands rechnen, das wohl kaum die Absicht hat zuzusehen, wie Preußen seine Macht ausbaut und Deutschland schließlich beherrscht. Dieses Bündnis ist der Grund fiir die Unentschlossenheit Preußens: Berlin zieht es vor, sich zu fugen, statt eine militärische Katastrophe hinzunehmen. Die Kapitulation wird am 29. November in Olmütz besiegelt, wo der preußische Ministerpräsident Manteuffel dem Ultimatum Schwarzenbergs nachgibt. Angesichts dieser Ereignisse könnte man sich drei Jahre zurückversetzt wähnen, als wäre die Revolution nur ein böser Traum gewesen. Jenseits seiner Grenzen hat Wien die Kontrolle über seine Einflußbereiche zurückgewonnen: In Italien ist die Vorrangstellung Österreichs wieder gesichert und in Deutschland das frühere Machtverhältnis innerhalb des von Schwarzenberg neu belebten Deutschen Bundes wiederhergestellt. Aber der Schein trügt. Radetzkys Siege haben die nationalen Forderungen in Italien nicht zum Verstummen gebracht. Damit zeichnen sich für Österreich dort in allernächster Zukunft neue Schwierigkeiten ab. Und in Deutschland ist es Schwarzenberg nach Olmütz nicht gelungen, seinen Vorteil auszunützen und die österreichische Vormachtstellung zu konsolidieren, wie dies sein Plan eines großen mitteleuropäischen Komplexes unter der Ägide Wiens vorsah, dem die deutschen Staaten und das Habsburgerreich angehören sollten. Die bloße Rückkehr zum System von 1815 setzt Österreich der Gefahr neuerlicher Krisen aus. Mehr noch, in Preußen hat die Schmach von Olmütz Rachegelüste aufkommen lassen. Zunächst allerdings kann sich die preußische Führung nur darauf beschränken, dem Vorhaben Österreichs entgegenzuarbeiten - ihr Widerstand Vom Fest zurTragödie :
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trägt auch dazu bei, Schwarzenbergs Plan zu vereiteln und Wiens Versuch, die Tore des Zollvereins zu öffnen, zum Scheitern zu bringen. Aber Preußen sollte, sobald die Umstände es zuließen, zum Gegenschlag ausholen. Sein Ziel hatte sich nicht geändert: Berlin zum Mittelpunkt der deutschen Einigung zu machen. Sollte zur Verwirklichung diese Zieles ein bewaffneter Konflikt unausweichlich sein, würde es sich diesem kein zweites Mal entziehen. Von Olmütz an ist der Weg nach Königgrätz vorgezeichnet. Zur Stunde aber kann sich Franz Joseph darüber freuen, daß die Restauration der monarchischen Gewalt gelungen ist. Die Wiederherstellung Österreichs als Großmacht geht auch mit innenpolitischen Erfolgen einher. Die Verfassung vom 4. März 1849 hätte ein Hindernis für die Ausübung der monarchischen Gewalt darstellen können, aber die Regierung Schwarzenberg zögert deren Umsetzung hinaus. Nach der Wiederherstellung der Ordnung an den verschiedenen Fronten läßt man sich Zeit damit. Und Franz Joseph versteht es, sich dieser Bürde zu entledigen. Am 31. Dezember 1851 ist die Sache erledigt. Ein Patent verkündet den Untertanen des Reiches die Widerrufung der Verfassung. Im Grunde wird durch diesen letzten Akt nur das Recht an die Fakten angeglichen. Mit dem Silvesterpatent 1851, das dem im März 1849 eingeleiteten Prozeß ein Ende setzt, beginnt für Osterreich offiziell das Zeitalter des Neoabsolutismus.
HAUPTSTADT DES NEOABSOLUTISMUS (1851-1859) Die Herrschaftsform, die über die Revolution den Sieg davongetragen hat, entspricht der Definition von Absolutismus. Franz Joseph kann ohne Verzerrung der Tatsachen mit Fug und Recht sagen, daß „Österreich nur mehr einen Herrn hat". Es gibt keine Verfassung mehr, kein Parlament, das sich seiner Autorität entgegenstellen könnte. Die Minister sind einzig und allein dem Monarchen verantwordich. Der Posten des Ministerpräsidenten ist in Hinkunft mit einer derartigen Herrschaftsform nicht mehr vereinbar, so daß nach dem Tod Schwarzenbergs im April 1852 kein Nachfolger mehr ernannt wird. In der Öffentlichkeit ist für Ruhe gesorgt. Da die Opposition zum Schweigen verurteilt ist und die Presse streng kontrolliert wird, hat die Staatsgewalt volle Handlungsfreiheit. In den großen Städten, allen voran in Wien, herrscht noch immer der Belagerungszustand. Polizei und Armee wachen mit Argusaugen; auf dem Land übernimmt die zu diesem Zweck gegründete Gendarmerie diese Funktion. Dem Neoabsolutismus, der sich der Schwächen des Vormärz-Regimes durchaus bewußt ist, geht es um Effizienz, und man verschafft sich die dazu erforderlichen Mittel. In diesem Programm spielt Wien unweigerlich eine neue, bedeutendere Rolle. Die Staatsfiihrung nimmt den Plan Josefs II. wieder auf, Österreich durch
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eine verstärkte Zentralisierungspolitik zu einem Einheitsstaat zu machen, in dem alle Länder nach denselben Gesetzen und Vorschriften regiert werden. Zur Verwirklichung dieser Absicht stützt man sich auf drei Pfeiler: die Armee, die Verwaltung und die Kirche. Diese drei Kräfte erlauben es, jede auf ihre Weise, das Gebiet zu kontrollieren und die Völker der Monarchie in Schach zu halten. Seit die Monarchie durch die Revolution erschüttert wurde, gilt die Armee als wichtigste Stütze. Mit ihren mehreren hunderttausend Soldaten sorgt sie zum Teil für die Aufrechterhaltung der Ordnung im Innern. Der Ausbau der Verwaltung entspricht dem Zeitgeist. Abgesehen von dem Wunsch nach der Errichtung eines Einheitsstaates, muß man darin auch eine Folge der Abschaffung des Systems der Grundherrschaft sehen. All diese verschiedenen Faktoren tragen dazu bei, daß die gesamte Monarchie von einem Verwaltungsnetz überzogen wird. Auch hier ist klar, daß Wien von der Entwicklung dieses Militär- und Verwaltungsapparates profitieren sollte. Von der Kirche erwartet der Neoabsolutismus, daß sie die Gläubigen zum Gehorsam gegenüber dem Staat aufruft. Als Gegenleistung dafür erhoffen sich die Bischöfe ihrerseits Vorteile, insbesondere, daß der Staat die Kirche wieder aus jener Vormundschaft entläßt, unter der sie seit der Herrschaft Josefs II. steht, und ihr, vor allem im Bereich des Schulwesens, wieder einen Teil ihrer gesellschaftlichen Macht zurückgibt. Ihre Hoffnungen werden zunächst durch die Erlässe vom April 1850 und in der Folge durch das Konkordat erfüllt, das am 18. April 1855 mit dem Heiligen Stuhl abgeschlossen wird und die Stellung der Kirche innerhalb des Staates definiert sowie die Beziehungen zu Rom regelt. Dank ihrer anhaltenden Bemühungen gelang es der Kirche, die josefinische Gesetzgebung wieder weitgehend außer Kraft zu setzen. Vor allem aber ist die Fortschrittsfeindlichkeit der Zeit des Vormärzes überwunden. Die Staatsfiihrung hat erkannt, daß die Monarchie nur durch eine Reformpolitik vor einer neuerlichen Revolution bewahrt werden kann. Und diese Reformen betreffen nicht nur die Strukturen des Staates; der Neoabsolutismus setzt auch auf den wirtschaftlichen Fortschritt, in dem er eine Bedingung für die Stellung Österreichs als Großmacht sieht. Und so stützt sich die Staatsfiihrung auf eine Koalition der besitzenden Klassen: Wohlstand soll ihr - mangels politischer Freiheiten - die Unterstützung des Bürgertums sichern. Die 50er Jahre des 19. Jahrhunderts sind tatsächlich eine Zeit des wirtschaftlichen Wachstums. Zur günstigen internationalen Konjunktur kommen noch interne Faktoren hinzu. Ein neuer, einschneidender Wendepunkt ist die Entscheidung der Staatsfiihrung fiir den Wirtschaftsliberalismus; durch die Abschaffung der Zölle im Binnenhandel entsteht ein Wirtschaftsraum von der Größe der Gesamtmonarchie. Günstig auf die österreichische Wirtschaft wirkt sich auch die Abschaffung des Systems der Grundherrschaft aus, wodurch Arbeitskräfte freigesetzt wurden, die nun in anderen Sektoren eingesetzt werden können.
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Zusätzliche Geldmittel werden für diesen Aufschwung zur Verfügung gestellt. Finanzierungsbanken werden gegründet, die sich an der Finanzierung des Wirtschaftswachstums beteiligen, vor allem durch die Unterstützung der Entwicklung der Industrien. In diesen Jahren nimmt die industrielle Revolution in den österreichischen Ländern Gestalt an. Zeugnis dafür ist die rasche Ausbreitung einzelner Branchen wie der Textilindustrie oder der eisen- und stahlverarbeitenden Industrie. Gleichermaßen bedeutend ist der Vorstoß auf dem Gebiet des Eisenbahnbaus. Diese verschiedenen Entwicklungsstränge fließen auf unterschiedlichen Wegen in den Städten zusammen und fördern das Wachstum. Das Ende der Grundherrschaft setzt einen Uberschuß an handwerklichen Kräften auf dem Land frei und verstärkt die Migrationsbewegung in die Städte, die auch durch den Ausbau des Eisenbahnnetzes gefördert wird. Am Ende einer solchen Reise steht zweifellos oft bittere Not, und die Arbeitslosigkeit ist nicht verschwunden, aber die Möglichkeiten, eine Anstellung zu finden, steigen. Dieser demographische Druck führt zu einer Ausweitung des städtischen Raumes und sprengt die engen Grenzen vieler Städte. Ihre zunehmende Umgestaltung ist ein Aspekt der Modernisierung, die mit dem Neoabsolutismus einhergeht. An allen Ecken und Enden der Städte entstehen Baustellen; Straßen werden verbreitert, neue Hauptverkehrswege angelegt und Gebäude mit kultureller oder administrativer Zweckbestimmung errichtet. Dieses Phänomen läßt sich in allen Städten mittlerer Größe beobachten, ist aber vor allem in Wien besonders signifikant, wo all diese Faktoren zusammentreffen. Franz Josephs Jugend erhöht die Glaubwürdigkeit dieser Erneuerung, sie ist sozusagen das Banner des Regimes. Dieses Argument wird von der offiziellen Propaganda anläßlich der Hochzeit des Kaisers wiederholt ins Treffen gefuhrt. Franz Josephs Wahl fiel auf seine Cousine Elisabeth in Bayern, bekannt als „Sisi". Die Geschichte beginnt wie ein Märchen: Franz Joseph ist ein echter Märchenprinz, die 15jährige Elisabeth ein verträumtes junges Mädchen, geprägt von der Frische ihrer Berge. Würde sie über jene Eigenschaften verfugen, die von einer zukünftigen Kaiserin von Osterreich gefordert werden? Um der Wahrheit die Ehre zu geben, kam diese Frage dem jungen Monarchen wahrscheinlich nicht einmal in den Sinn. Die Hochzeitszeremonie findet am 24. April 1854 in Wien, wo erst wenige Monate zuvor der Belagerungszustand aufgehoben wurde, in der Augustinerkirche statt. Für die Wiener ist diese Hochzeit das erste große allgemeine Fest nach der Revolution. Die Zukunft ist reich an Hoffnungen, von denen sich einige bald erfüllen sollten. So sollte Elisabeth ihrem Gemahl Franz Joseph in den nächsten Jahren bis 1858 drei Kinder schenken, darunter einen Sohn: Rudolf. Aber schon bald sollte der Wind rauher werden. Für den Augenblick jedoch entspricht es durchaus der Wahrheit, wenn offiziell verlautet wird, das Kaiserpaar biete ein Bild des vollkommenen Glücks. 120 : Die Donaumetropole (1815-1914)
Auf dem politischen Himmel ziehen schon bald düstere Wolken auf. Obwohl die Staatsfuhrung die Lage unter Kontrolle hat, beginnt es innenpolitisch zunehmend zu gären. Das Trauma der Revolution verblaßt allmählich. Das Bürgertum ist immer weniger gewillt, auf politische Freiheiten zu verzichten, um so mehr, als sich der Aufschwung in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts verlangsamt. In der Koalition der besitzenden Klassen, auf welche sich die Staatsfuhrung zu stützen hoffte, werden Risse deutlich. Aber vor allem außenpolitisch hat der Neoabsolutismus mit Rückschlägen zu kämpfen. Ein erstes Alarmzeichen ist die Balkankrise 1853-1856, die eine Isolation Österreichs zur Folge hat. Wien, das keine feste Position zu beziehen vermag, überwirft sich mit Rußland, ohne sich der Sympathie der Mittelmeermächte versichern zu können. Es dauert nicht lange, bis die Folgen der Isolation spürbar werden. In Deutschland profitiert Preußen von den Schwierigkeiten seines Rivalen und vergrößert seinen Handlungsspielraum. Im Osten gehört das Bündnis zwischen Wien und St. Petersburg der Vergangenheit an. Verärgert stellt sich die russische Diplomatie in Hinkunft den österreichischen Bemühungen systematisch entgegen. Die beiden Großmächte entdecken auch bald, daß ihre Unstimmigkeiten tiefere Gründe haben. Diese Krise ist der Beginn einer Feindschaft um die Vormachtstellung am Balkan, die erst 1914 ihren Epilog erleben sollte. In Italien muß Österreich den Preis fiir das Abkühlen seiner Beziehungen mit Frankreich bezahlen. Napoleon III. und Cavour einigen sich im Juli 1858 über eine Neuordnung der Halbinsel unter Ausschluß Österreichs. Nicht einmal ein Jahr später bricht der Konflikt aus. Auch wenn die Erinnerung an Radetzky in der österreichischen Armee noch fortlebt, gibt es keinen eigentlichen Nachfolger des alten Feldmarschalls. Die Lombardei geht nach den beiden Schlachten bei Magenta am 4. Juni und bei Solferino am 26. Juni verloren. Am 8. Juli wird der Waffenstillstand von Villafranca unterzeichnet. Nach dem Ende der Kampfhandlungen wird der von Napoleon III. und Cavour ausgearbeitete Plan indes nur teilweise umgesetzt. Piemont muß auf Venetien verzichten, das es nicht zurückzuerobern vermochte. Dennoch bedeutet dieser Krieg das Ende des österreichischen Systems in Italien. Eine Kettenreaktion fuhrt zu dessen Zusammenbruch. Nach dem Verlust der Lombardei werden die Nebenlinien des Hauses Habsburg aus Mittelitalien vertrieben; dasselbe Schicksal ereilt die Bourbonen in Neapel; der Kirchenstaat beschränkt sich bald nur mehr auf Latium. Nach der Vereinigung dieser Gebiete mit Piemont wird im April 1861 in Florenz das Königreich Italien ausgerufen. Innerhalb von nicht einmal zwei Jahren hat Österreich damit die Kontrolle über einen seiner beiden Einflußbereiche verloren, auch wenn Venetien vorübergehend noch im Besitz der Habsburger verbleibt.
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D I E S C H A T T E N VON B E R L I N U N D B U D A P E S T
Die Folgen fiir das Zentrum der Monarchie lassen nicht lange auf sich warten. Der Neoabsolutismus vermag diesen Schicksalsschlägen nicht standzuhalten. Es beginnt eine Zeit der Suche nach einer neuen Stabilität. Innerhalb weniger Jahre unternimmt Franz Joseph zwei Experimente, die jedoch beide scheitern. Im Oktober 1860 versucht Franz Joseph mit dem Oktoberdiplom eine Neuordnung der Monarchie im Geiste des historischen Föderalismus, doch ist dies kaum mehr als eine Absichtserklärung. Das Februarpatent von 1861 hat wieder eine Zentralisierung zum Ziel, doch auch diesem Experiment ist dasselbe Los beschieden. Nach ersten Bemühungen um eine Umsetzung des Februarpatents scheitern diese an einer übermächtigen Opposition. Franz Joseph trägt diesem Widerstand Rechnung und beschließt im September 1865, das Experiment auszusetzen. Dennoch ist Österreich damit in das konstitutionelle Zeitalter eingetreten. Allerdings in sehr gemäßigter Form, da Franz Joseph, der zwar nun einen Schlußstrich unter den Absolutismus gezogen hat, jeder Reform des politischen Systems in Österreichs sehr enge Grenzen setzt. Der Kaiser muß das Zentrum der Macht bleiben, und es ist keine Rede davon, die Grundlagen fiir eine parlamentarische Regierungsform zu legen. Das Prinzip einer Regierungsverantwortung steht noch nicht auf der Tagesordnung. Vor allem hat der Reichsrat, dieses in der Verfassung begründete und aus zwei Kammern bestehende parlamentarische Organ, keinerlei Einfluß auf jene Bereiche, die Franz Joseph fiir entscheidend erachtet: Die Außenpolitik und die Verteidigung unterstehen ausschließlich der Autorität des Kaisers. Dieses Scheitern erklärt sich zu einem großen Teil aus der Weigerung der Magyaren, die Pläne einer Neuorganisation der Monarchie zu unterstützen. Sie sind aber zweifellos nicht die einzigen, die sich einer solchen Absicht entgegenstellen. Das Februarpatent von 1861 wird mit Ausnahme des deutschen Bürgertums nahezu einstimmig von allen Nationalitäten des Reiches abgelehnt. Diese Opposition ist jedoch nicht überall gleich stark ausgeprägt. Von entscheidender Bedeutung ist der Widerstand der Magyaren, die es unter der Führung von Ferencz Deák zweimal ablehnen, daß der ungarischen Nation ohne vorherige Absprache ein System aufgezwungen werden soll. Nicht zuletzt um mit ihnen wieder eine Gesprächsbasis zu finden, setzt Franz Joseph die Umsetzung des Februarpatents aus. Die wachsende Gefahr von außen gebietet es Franz Joseph, sich um eine Beruhigung zu bemühen. Diese Jahre werden vom Konflikt zwischen Österreich und Preußen beherrscht. Nach dem Krieg von 1859 tritt der Kampf um die Vormachtstellung in Deutschland in seine entscheidende Phase. Schon bald brechen die Feindseligkeiten erneut aus, aber im September 1862 erhält dieser Konflikt mit dem Auftreten Bismarcks auf der politischen Bühne eine neue Dimension. Dieser hat es sich zum Ziel gesetzt, der preußischen Lösung zum Durchbruch zu verhelfen. Auch 122 : Die Donaumetropole (1815-1914)
wenn er sich mehrere Optionen offenläßt, ist er überzeugt, daß das Duell zwischen Österreich und Preußen letztlich nur in einem Krieg entschieden werden kann. Im August 1863 bringt Bismarck zunächst den von Franz Joseph in Frankfurt zusammengerufenen Fürstentag, der Deutschland neu organisieren und die Vormachtstellung Wiens bestätigen sollte, zum Scheitern. Das Jahr 1863 eröffnet Bismarck auch die Möglichkeit, die Bande zwischen Preußen und Rußland zu stärken. Während Wien sich angesichts eines Aufstands im russischen Teil Polens ambivalent verhält, unterstützt er St. Petersburg. Und sogar die Avancen Bismarcks sind eine Falle. Ein Beweis dafür ist die Frage der Elb-Herzogtümer. Indem er Wien in eine gemeinsame Intervention gegen Dänemark hineinzieht, das mehrere 100 Kilometer von der Monarchie entfernt liegt, nagelt Bismarck Osterreich fest und sichert sich so einen casus belli gegen die Monarchie, den er zum gegebenen Zeitpunkt auszuspielen gedenkt. Mit dem Abschluß eines Bündnisvertrages mit Italien am 8. April 1866 wird eine neue Schwelle überschritten. Dieser auf drei Monate anberaumte Vertrag läßt erkennen, daß Bismarck die deutsche Frage vor Ablauf dieser Frist gelöst haben möchte. Als am 16. Juni 1866 der Krieg ausbricht, trägt seine Hintertreibungspolitik Früchte. Bismarcks diplomatische Manöver haben rund um Österreich ein Vakuum geschaffen. Darüber hinaus verfehlt der Vertrag vom 8. April seine Wirkung nicht. Durch den Kriegseintritt Italiens wird ein Teil der österreichischen Streitkräfte an der Südfront festgehalten. In der besten Tradition Radetzkys haben die Österreicher letzte Siege zu Land und zur See zu verzeichnen, aber diese Siege können den Ausgang des Konfliktes nicht beeinflussen. Das Fehlen dieser Truppen macht sich in Mähren deutlich bemerkbar, wo es zur entscheidenden Schlacht kommt. Am 3. Juli erleidet die österreichische Armee, bedingt durch die Fehler des Oberkommandos und die verheerende Wirkung des von den Preußen eingesetzten Zündnadelgewehrs, bei Königgrätz eine derart vernichtende Niederlage, daß der Krieg trotz einer innenpolitischen Intervention bereits verloren ist. Da Napoleon III. auf einen Hilferuf nicht reagiert, bleibt es Franz Joseph nicht erspart, drei Wochen später die Bedingungen des Feindes anzuerkennen. Diese werden am 23. August im Vertrag von Prag besiegelt. Königgrätz verändert das Antlitz Mitteleuropas und bringt eine grundlegende Veränderung des Kräfteverhältnisses auf dem Kontinent mit sich. Der Sieg der preußischen Armeen erlaubt es Bismarck nicht nur, Rache fiir die Schmach von Olmütz zu nehmen, sondern auch und vor allem sein nationales Ziel zu verwirklichen. Er verhilft der kleindeutschen Lösung zum Durchbruch, und Österreich muß sich fugen, nun aus Deutschland ausgeschlossen zu sein. Für Franz Joseph bedeutet dies die bittere Erkenntnis, daß damit eine Tradition seines Hauses zu Ende geht: Die jahrhundertelange Präsenz der Habsburger in Deutschland ist damit beendet. Selbstverständlich könnte das, was durch Königgrätz zerstört wurde, durch einen Vom Fest zurTragödie :
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neuerlichen Krieg wiederaufgebaut werden. Und so bemüht sich Franz Joseph um eine Annäherung an Frankreich und Italien, um Preußen diese Koalition zum gegebenen Zeitpunkt entgegenstellen zu können. Aber der Deutsch-Französische Krieg des Jahres 1870 zerstört auch seine letzten Hoffnungen. Der Ausgang dieses Krieges ist allzuschnell besiegelt, so daß Franz Joseph die Niederlage Frankreichs und die Proklamation des deutschen Kaiserreichs am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal in Versailles nur als betrübter Zuschauer verfolgen kann. Als Ausgangspunkt einer Bewegung, die zur Bildung eines neuen europäischen Systems unter der Vormachtstellung Deutschlands fuhrt, verleiht Königgrätz einer Strömung neuen Auftrieb, von der die Nation zum konstitutiven Prinzip des Staates erhoben wird. In dieser doppelten Hinsicht beschleunigt der Wendepunkt von 1866 einen historischen Prozeß, der im Widerspruch zu den eigentlichen Grundlagen des habsburgischen Osterreich steht. Es dauert nicht lange, bis die Folgen von Königgrätz für Wien spürbar werden. Während es Franz Joseph anfänglich noch für möglich hielt, in Deutschland wieder Fuß zu fassen, belehrt ihn der Lauf der Ereignisse eines Besseren. Darüber hinaus muß Osterreich in Italien auch Venetien abtreten. Seine früheren Einflußbereiche sind Osterreich damit versperrt, und will es auf seine Stellung als Großmacht nicht verachten, so muß es sich nun auf sich selbst zurückziehen. In diesem Europa nach Königgrätz kann Österreich nur auf dem Balkan einen neuen Einflußbereich gewinnen. Osterreich verlagert daher den Schwerpunkt seiner Außenpolitik zunehmend in diese Richtung. Durch einen Vorstoß in dieses Gebiet läuft Österreich allerdings Gefahr, mit den Interessen Rußlands zu kollidieren, das seinerseits davon träumt, dieses Gebiet unter seinen Einfluß zu bringen. Die Beziehungen zu Rußland bestimmen in Hinkunft die Bemühungen der österreichischen Diplomatie. Innenpolitisch machen sich die Folgen von Königgrätz noch rascher bemerkbar. Bereits vor dem Krieg hatte Franz Joseph den Dialog mit Ungarn wiederaufgenommen. Die Erfahrungen der Vergangenheit hatten ihn gelehrt, daß nur ein Abkommen mit Ungarn die innenpolitische Stabilität wiederherstellen konnte. Aus dieser Überzeugung heraus entschließt er sich Schritt für Schritt für die Errichtung eines Dualismus. Das Abkommen wird im Februar 1867 unterzeichnet, wobei die Ungarn unter der Führung der beiden charismatischen Persönlichkeiten des ungarischen Liberalismus, Deak und Andrässy, stehen. Dieser Ausgleich mit Ungarn sollte bis 1918 die Beziehungen zwischen Österreich und Ungarn und darüber hinaus die allgemeine Organisation der Monarchie regeln. Die Einführung des Dualismus bedeutet eine Rückkehr zu dem seit Dezember 1848 verfolgten Kurs. Vorbei ist es mit dem Einheitsstaat, den Josef II. und Schwarzenberg gewollt hatten. In Hinkunft: besteht die Monarchie aus zwei souveränen und gleichwertigen Teilen, wobei man sich darüber geeinigt hat, bestimmte Kompetenzen gemeinsam zu verfolgen: zunächst einmal die sogenannten „pragmatischen" Fra124 : Die Donaumetropole (1815-1914)
gen - Außenpolitik, Verteidigung und die diese beiden Bereiche betreffenden Finanzen - sowie jene Fragen, die als „von gemeinsamem Interesse" anerkannt wurden : Handel, Währung, Zölle, Verkehrswesen, die indirekte Besteuerung, die im Prinzip der Souveränität der Landtage untersteht, flir die aber der Zusammenhalt des Reiches eine Abstimmung der Politik erforderlich macht. Osterreich und Ungarn sollten schließlich jedes über eine Exekutive verfugen; im Rahmen einer konstitutionellen Regierung sollte jeder seine innenpolitischen Belange selbst regeln. Franz Joseph hat allen Grund, zufrieden zu sein. Er ist ihm nicht nur gelungen, den Abfall Ungarns zu verhindern, sondern er hat auch erreicht, daß die Bande mit Ungarn sich nicht auf eine bloße Personalunion beschränken. In diesem Sinne blieb die Einheit der Monarchie gewahrt. Und trotzdem tun sich mit dem .Ausgleich" mehr Probleme auf, als gelöst werden. In der Theorie besiegelt er die Vereinigung zweier gleichwertiger Partner, die jeweils Herr über eine Hälfte der Monarchie sind, wobei Deutsche und Magyaren sich diese Aufgabe teilen. In Wirklichkeit ist die Sache nicht so einfach. Auf den ersten Blick scheint es, als hätten die Magyaren das bessere Ende für sich. Während Ungarn ein altes Königreich ist, kann die andere Hälfte der Monarchie auf keinen vergleichbaren historischen Vorläufer verweisen. Diese fehlende Identität kommt in der unpersönlichen Bezeichnung „Die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder" zum Ausdruck, unter dem diese Reichshälfte in den offiziellen Dokumenten aufscheint. Lediglich der Einfachheit halber wird diese Reichshälfte weiterhin als Osterreich bzw. unter Bezugnahme auf den Fluß, der sie von Ungarn trennt, als Zisleithanien bezeichnet. Abgesehen davon ist Osterreich — während Ungarn eine einheitliche Struktur aufweist - in 17 Kronländer, Verwaltungseinheiten, aber auch regionale Gebiete aufgeteilt, die sich auf eine lokale Autonomie stützen. Diese politische und administrative Organisation ist selbst gegen die entschlossensten Bemühungen einer Zentralisierung ein wahres Bollwerk. Und schließlich verfugen die Magyaren in Ungarn über eine beherrschende Stellung, die die Deutschen in Österreich zumindest nicht in demselben Ausmaß für sich in Anspruch nehmen können. Die Magyaren haben es in ihrem Staatsgebiet mit verstreuten Nationalitäten zu tun, die - abgesehen von den Kroaten - erst am Beginn ihres politischen Reifungsprozesses stehen und daher für eine Assimilationspolitik relativ empfänglich sind. In Österreich ist die numerische Überlegenheit der Deutschen, die etwas mehr als ein Drittel der Bevölkerung stellen, keineswegs so deudich wie jene der Magyaren, die in Ungarn mehr als 40 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Vor allem aber verfugen die Völker Zisleithaniens, ob es nun die Tschechen, Polen oder Italiener sind, über ein Niveau in ihrer kulturellen und manchmal auch wirtschaftlichen Entwicklung, daß sie nicht bereit sind, sich den Deutschen einfach unterzuordnen. Von der Gesamtkonstellation her haben diese daher nicht dieselben Trümpfe in der Hand wie die Magyaren. Die Unsicherheit
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über die Zukunft läßt bei manchen von ihnen Zweifel aufkommen, um so mehr, als sie seit Königgrätz vom Rest der Deutschen abgeschnitten sind. Für Wien sind diese Veränderungen folgenschwer. Auch nach der Wende von Königgrätz bleibt es nicht nur dem Namen nach eine deutsche Stadt. Die Beziehungen zur deutschen Kultur bleiben zwar aufrecht, es kann für sich aber nicht mehr in Anspruch nehmen, die Metropole der germanischen Welt zu sein; hier muß es hinter Berlin zurücktreten, dessen Aufschwung mit dem Aufstieg Preußens einhergeht. Königgrätz setzt also den Schlußpunkt unter einen historischen Prozeß, der mehrere Jahrhunderte hindurch den Schwerpunkt der Habsburgermonarchie nach Mitteleuropa verlagert hatte. Die Lösung der deutschen Frage verankert Wien in seiner Funktion als Metropole des Donauraumes. Gleichzeitig droht ihm aber aufgrund des Dualismus in Budapest ein Konkurrent zu erwachsen. Das Aufkommen nationaler Bewegungen und der Fortschritt der Industrialisierung fördern das Wachstum anderer Städte, ohne daß diese jedoch in Rivalität zu Wien treten könnten. Daß Budapest sich als ebenbürtige Hauptstadt zu bestätigen sucht und sich darum bemüht, jene Strömungen innerhalb des Königreiches, die zuvor nach Wien geblickt hatten, aufzufangen, ist ein im Ausgleich von 1867 begründetes Phänomen. Dies stellt allerdings keine unmittelbare Bedrohung dar. Noch ist die Entfernung zwischen den beiden Städten zu groß, um die Ausstrahlung Wiens durch den Einfluß Budapests zu schmälern.
E I N E NEUE POLITISCHE LANDSCHAFT
In einer ersten Phase bringt der Ausgleich die von den Verhandlern erhofften Ergebnisse. In Österreich sichern sich die Deutschliberalen die Kontrolle der Macht und bewahren diese, abgesehen von kurzen Zwischenspielen, von 1867 bis 1879. Die Verfassungsgesetze vom Dezember 1867 garantieren, auch wenn sie die individuellen und kollektiven Freiheiten vergrößern, die Vormachtstellung des deutschen Bürgertums. Das auf einer Kombination aus einem erhöhten Wahlzensus und einer ungleichmäßigen Einteilung der Wahlkreise begründete Wahlsystem sichert den Liberalen komfortable Mehrheiten. Erleichtert wird diese Aufgabe darüber hinaus durch die Entscheidung der Tschechen, das Abgeordnetenhaus des Reichsrates zu boykottieren, um gegen die Verletzung des böhmischen Staatsrechtes durch den Ausgleich von 1867 zu protestieren. Die Liberalen können ihr Programm umsetzen: Die Kirchengesetze vom Mai 1868 schränken die Wirksamkeit des Konkordats ein, das schließlich im Oktober 1870 aufgekündigt wird. Vier Jahre später wird mit einer Reihe von Maßnahmen versucht, die Beziehungen zwischen Staat und Kirche neu zu regeln; ohne so weit zu gehen, eine Trennung von Staat und Kirche vorzuneh-
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men, entzieht eine Reform des öffentlichen Schulwesens den Primär- und Sekundärunterricht dem Einfluß des Klerus. Franz Joseph hat sich mit seiner Rolle als konstitutioneller Monarch abgefunden. Entgegen seiner persönlichen Präferenz läßt er die Liberalen zumindest so lange regieren, als sie sich nicht in die ihm vorbehaltenen Bereiche einmischen. Dieser Pakt zerbricht jedoch, als sie sich der Politik des Kaisers in der 1875 ausbrechenden Orientkrise entgegenstellen und die Okkupation von Bosnien-Herzegowina verurteilen, zu der die Monarchie im Juli 1878 vom Berliner Kongreß ermächtigt worden war. Die Strafe läßt nicht lange auf sich warten. Als erstes Zeichen für diesen Bruch betraut Franz Joseph einen seiner Vertrauten, Graf Eduard Taaffe, mit der Bildung einer neuen Regierung, wobei er von ihm den Sieg einer antiliberalen Koalition bei den Wahlen des Jahres 1879 erwartet. Die Entscheidung der Tschechen zur Beendigung ihrer parlamentarischen Obstruktion ermöglicht es Taaffe, diese Aufgabe erfolgreich zu meistern. Bei den Wahlen des Jahres 1879 verlieren die Liberalen nicht nur die Macht, sondern diese Wahl bedeutet auch das Ende einer politischen Ära, der sie ihren Stempel aufgedrückt hatten. Die Liberalen verlieren gegen die dreifache Koalition aus den katholischen Konservativen der Alpengebiete, den Tschechen und den Polen Galiziens. Auf diese Mehrheit gestützt, bricht Taaffe den bisherigen Regierungsrekord: 14 Jahre lang sollte er für die Geschicke Österreichs verantwortlich zeichnen. Ab den 80er Jahren gehen Österreich und Ungarn getrennte Wege. In Ungarn hat der Dualismus nicht nur die Macht der Liberalen gefestigt, sondern vor allem auch die anderen Völker auf Gedeih und Verderb der Gnade der Magyaren ausgeliefert, die eine Politik der Magyarisierung beginnen. In Österreich hingegen haben die Liberalen ihre Macht einer Koalition überlassen, in der die Slawen stark vertreten sind. Es handelt sich dabei allerdings nicht um eine völlige Umkehr der Verhältnisse: War es vor 1878 den Liberalen aufgrund der Kräfteverteilung nicht möglich, eine Germanisierung zu forcieren, so hat die neue Mehrheit nach 1879 weder die Absicht noch die Möglichkeiten, die Deutschen zu unterdrücken. Ein Dualismus kommt nicht in Frage, da Franz Joseph gegen einen solchen sein Veto einlegen würde. Vielmehr zielt eine Reihe von Maßnahmen in jenen Ländern, wo Deutsche und Slawen nebeneinander leben — wie in Böhmen oder Mähren —, darauf ab, die Beziehungen zwischen diesen Nationalitäten wieder ins rechte Lot zu bringen. Schon bald werden die Auswirkungen für Wien spürbar, und sei es nur durch die wachsende Zahl von Slawen in gewissen Bereichen der zentralen Verwaltung. In den Beziehungen zwischen Österreich und Ungarn gibt es immer wieder Krisenzeiten, die ihre Ursache in der Verschärfung des magyarischen Nationalismus haben, die mit dem allmählichen Abtreten der Generation der Väter des Ausgleichs von der politischen Bühne einhergeht. Den neuen Machthabern geht es darum, die von Ungarn im Ausgleich übernommenen Verpflichtungen zu reduzieren. Ihren HöheVom Fest zurTragödie : I 27
punkt erreicht die Krise 1905, als die politischen Parteien in Ungarn einen Angriff auf die Einheit der Armee starten. Franz Josephs Drohung mit der Einfuhrung des allgemeinen Wahlrechts weist die ungarische Führung allerdings rasch wieder in Schranken. Aber diese Krise hinterläßt ihre Spuren. Ein Gefühl des gegenseitigen Mißtrauens überschattet in Hinkunft die Beziehungen zwischen den beiden Partnern. Dieser Prozeß der Radikalisierung droht auch das politische Leben in Osterreich zu erfassen, das bislang von Angehörigen der Oberschicht beherrscht wurde, die über ihre unterschiedlichen Auffassungen hinweg eine elitäre Sicht der Gesellschaft teilten. In den 80er Jahren kommen neue politische Kräfte auf. Auch wenn die breite Masse des Volkes noch vom Wahlrecht ausgeschlossen bleibt, scheint die Herabsetzung des Wahlzensus den Weg zum allgemeinen Wahlrecht zu ebnen. Darüber hinaus entsteht im Sog des Börsenkrachs vom Mai 1873, der eine schwere Wirtschaftskrise auslöst, eine mächtige antiliberale Bewegung, die natürlich der aktuellen Regierungskoalition zustatten kommt, aber auch über diese parlamentarische Koalition hinaus ihre Wirkung nicht verfehlt. Eine weitere Facette dieser Radikalisierung ist die Zunahme nationalistischer Strömungen, die sich durch die im Reichsrat repräsentierten Gruppen nicht vertreten fühlen. Aus dieser Ablehnung der traditionellen Parteien entstehen drei Bewegungen, die zu einer Erneuerung der politischen Landschaft in Österreich fuhren sollten: Zunächst als Ausdruck des Protestes des Wiener Kleinbürgertums gegen den Wirtschaftsliberalismus gedacht, versammelt die Christlichsoziale Partei unter der Führung des charismatischen Karl Lueger unter ihrem Banner bald auch die Katholiken der Alpengebiete; die Sorge der Deutschen in Österreich, geschürt durch den Bruch von 1866 und verstärkt durch die Zunahme des slawischen Einflusses nach 1879, findet ihren politischen Ausdruck in der Entwicklung des Deutschnationalismus, zu dessen Herold bald Georg von Schönerer werden sollte; auf dem Parteitag von Hainburg im Januar 1889 kommt es zur Einigung der Sozialdemokraten, der Wortführer der Arbeiterklasse, hinter Victor Adler. Diese Radikalisierung muß aber auch als Teil eines umfassenderen Phänomens gesehen werden, nämlich des Eintritts Österreichs in das Massenzeitalter, von dem auch die Erfolge des antisemitischen Diskurses zeugen, dessen sich sowohl Lueger als auch von Schönerer ausgiebig befleißigen. Untrennbar verbunden mit der Urbanisierung, dem anderen folgenschweren Charakteristikum jener Zeit, bleiben diese tiefgreifenden Veränderungen vor allem in Wien nicht ohne Auswirkungen. Die Hauptstadt der Monarchie ist sozusagen das Experimentierfeld. Wien ist nicht nur die Wiege der Christlichsozialen Partei, die sich von dieser Bastion aus in den Alpengebieten ausbreitet, hier verzeichnet auch von Schönerer seine ersten Erfolge, obwohl zu seinen Parteigängern auch andere deutschsprachige Bevölkerungsgruppen in der Monarchie - vor allem in Böhmen - zählen; für die Sozialdemokratie wiederum sind die Arbeitervororte der Hauptstadt ein guter Nährboden.
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Die 1897 durch die Sprachenverordnungen von Graf Kasimir Badeni ausgelöste Krise macht die geänderten politischen Gepflogenheiten deutlich. Statt wie beabsichtigt die Konflikte in Böhmen beizulegen, lassen sie die Leidenschaften hochgehen. Die Schockwelle erfaßt auch Wien, wo das Volk seinen Emotionen freien Lauf läßt. Obwohl nach dem Rücktritt Badenis allmählich wieder Ruhe einkehrt, ist dieses Aufwallen der Emotionen keine Einzelerscheinung. Es macht die Spannungen deutlich, die im Innern in der Wiener Gesellschaft arbeiten und damals auch Lueger und die Christlichsozialen in das Wiener Rathaus bringen. Die Monarchie wird auch durch Schicksalsschläge für die kaiserliche Familie erschüttert. Am 30. Januar 1889 wird der Leichnam des Kronprinzen im Jagdschloß Mayerling aufgefunden. In einem Gefühl des moralischen und physischen Scheiterns hatte Rudolf sich das Leben genommen, nachdem er zuvor seine Geliebte getötet hatte. Um der Schmach der Verweigerung eines kirchlichen Begräbnisses zu entgehen, vertritt der Hof die offizielle Version, der Kronprinz habe in einem Zustand geistiger Umnachtung gehandelt, und verschweigt den zweiten Leichnam. 1898 ist neuerlich ein Schreckensjahr für Franz Joseph. Das denkwürdige Schicksal der „Seemöwe" erfüllt sich auf tragische Weise an den Ufern des Genfer Sees. Am 10. September fällt Kaiserin Elisabeth in Genf dem Attentat eines italienischen Anarchisten zum Opfer. Gemäß der Tradition der Habsburger beschließen Rudolf und Elisabeth ihr irdisches Schicksal in der Kapuzinergruft. Im Abstand von nur wenigen Jahren erlebt Wien so zweimal den Pomp eines großes Begräbnisses.
W I E N , DIE U N G E L I E B T E S T A D T ?
Auch außenpolitisch ziehen am Himmel Gewitterwolken auf. Aus Deutschland und Italien hinausgedrängt, bleibt Österreich-Ungarn nichts anderes übrig, als sich nach Südosteuropa zu wenden. Diese Neuausrichtung seiner Politik, die das Risiko eines Konfliktes mit Rußland in sich birgt, gebietet der Monarchie, nach Verbündeten zu suchen. Österreich-Ungarn zieht also einen Schlußstrich unter die Vergangenheit und bemüht sich um die Festigung seiner Beziehungen zum neuen Deutschland. Diese Annäherung mündet im Oktober 1879 im Abschluß eines militärischen Bündnisses. Damit sind die alten Beziehungen zwischen Berlin und Wien wiederhergestellt, das Kräfteverhältnis aber hat sich im Vergleich zur Zeit zwischen 1815 und 1848 umgekehrt. Der Weg steht offen fiir jene Entwicklung, die Wien schließlich in Abhängigkeit von Berlin bringen sollte. Zur Stunde ist Bismarck nicht an einem Bruch mit Rußland gelegen, der seinem vorrangigen außenpolitischen Ziel, der Isolation Frankreichs, zuwiderlaufen würde. Er muß also eine Konstellation finden, die Österreich-Ungarn und Rußland an Deutschland binden würde. Da ein erster Versuch die Orientkrise nicht überlebt
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hat, geht er daran, ein neues System zu entwickeln: Im Juni 1881 ist es soweit, das Abkommen wird von den drei Kaisern unterzeichnet. Dieselben Überlegungen veranlassen Bismarck, Italien auf die Seite der Mittelmächte zu ziehen. Der Gründungsakt des Dreibundes erfolgt am 20. Mai 1882. Das unter der Ägide Deutschlands geschlossene Abkommen zwischen Osterreich und Rußland soll die Beziehungen zwischen den beiden Reichen regeln. Ihre Rivalität aber bleibt, wenn auch verdeckt, bestehen. In den 80er Jahren wandelt diese sich jedoch zum Vorteil Österreich-Ungarns. Bereits 1878 wird es vom Berliner Kongreß zur Okkupation und Verwaltung von Bosnien-Herzegowina ermächtigt; 1881 stellt ein Vertrag Serbien unter den Schutz Wiens; nach der Annexion von Bessarabien schließt König Karol von Rumänien ein geheimes Defensivbündnis mit ÖsterreichUngarn und Deutschland gegen Rußland; die bulgarische Krise von 1885 bis 1887 schließlich löst Verwirrung in St. Petersburg aus. Die Thronbesteigung des Fürsten Ferdinand von Sachsen-Coburg, eines ehemaligen Offiziers der k. u. k. Armee, wird als Erfolg der österreichisch-ungarischen Diplomatie gewertet. Innerhalb weniger Jahre hat sich Wien also in Südosteuropa eine Art Einflußbereich aufgebaut. Ohne den Schutz des Bismarckschen Systems hätte Österreich-Ungarn seinen Einfluß auf dem Balkan zweifellos nicht in dieser Form ausweiten können. Und so birgt auch dessen allmählicher Zerfall nach 1890 Gefahren für die Monarchie. So könnte der Abschluß des französisch-russischen Bündnisses im Jahre 1893 eine neue Phase der Spannungen auf dem Balkan einleiten. Da Rußland jedoch im Fernen Osten engagiert ist, liegt ihm nichts an der Eröffnung einer zweiten Front, weshalb sich für die internationale Stellung Wiens keine unmittelbaren Folgen bemerkbar machen. Das österreichische System auf dem Balkan ist dennoch äußerst fragil. Sowohl das Bündnis Österreich-Ungarns mit Rumänien als auch jenes mit Serbien beruht auf einer persönlichen Entscheidung des Herrschers. Darüber hinaus ist die Stimmung unter der Bevölkerung in beiden Staaten der Habsburgermonarchie gegenüber feindlich gesinnt. Die Feindseligkeit der Rumänen gegenüber Rußland hindert sie nicht, ein Auge auf Siebenbürgen zu werfen. Und das serbische Volk ist gegen jedes Bündnis, das Serbien daran hindert, seine Rolle als „Piemont der Südslawen" zu spielen. Bislang sind all das jedoch nur mögliche Gefahren. Charles Benoist, dieser scharfsinnige Beobachter, der 1897 für die Leser der Revue des Deux Mondes eine Reise nach Österreich-Ungarn unternimmt, schenkt in seinen Schlußfolgerungen der Frage der Südslawen keine Beachtung, sondern beschäftigt sich vorrangig mit dem Erwachen der nationalen Leidenschaften in Böhmen und den Ambitionen Ungarns. Für Wien kommt die Wende 1903. Die Ermordung König Alexanders von Serbien und seiner Familie in der Nacht vom 13. Juni ist keine bloße Palastrevolution. Mit der Rückkehr der Karadjordjevic auf den Thron kommt eine Gruppe an die Macht, die zur Verwirklichung des großserbischen Programms entschlossen ist. Mit einem Schlag 130 : Die Donaumetropole (1815-1914)
ist die Frage der Südslawen von höchster Bedeutung für die österreichisch-ungarische Diplomatie. Im Zuge dieser Niederlage beschließt Wien 1908 die Annexion BosnienHerzegowinas. Durch diesen Rückschlag haben die Machtansprüche Serbiens aber noch kein Ende gefunden. Die Balkankriege der Jahre 1912 und 1913 bestätigen, daß Serbien in Hinkunft ein wichtiger Stein auf dem südosteuropäischen Schachbrett ist. Die serbische Bedrohung für Wien spitzt sich immer mehr zu. Auch die internationale Landschaft hat sich verändert. Das bereits durch das französisch-russische Bündnis erschütterte Bismarcksche System hat einer Spaltung Europas in feindliche Blöcke Platz gemacht. Frankreich und Rußland - seit den Abkommen von 1904 und 1907 noch durch England verstärkt — stehen dem Dreibund gegenüber. Hinter dessen auf den ersten Blick geeinter Fassade aber herrscht nicht derselbe Zusammenhalt. Ohne offen mit seinen Bündnispartnern zu brechen, geht Italien allmählich auf Distanz. Mit Erwachen der irredentistischen Bestrebungen kommt es vor allem zu einer Abkühlung der Beziehungen zwischen Wien und Rom. Als weitere Folge dieser Neuverteilung der Karten gerät Wien noch stärker in Abhängigkeit von Berlin. Durch das Bündnis von 1879 wurde Österreich-Ungarn zweifellos in ein System integriert, dessen Angelpunkt Deutschland war. Aber dieses auf mehreren Partnern mit ganz unterschiedlichen Organisationsformen beruhende System räumte der Monarchie aufgrund seiner Flexibilität zu Zeiten Bismarcks weitgehende Handlungsfreiheit ein. Die Veränderungen der 90er Jahre bringen Wien nun in gefährliche Abhängigkeit von Berlin. Wilhelm II. zwingt ÖsterreichUngarn in die Rolle des „glänzenden Zweiten". Es stimmt indes, daß sich das Ungleichgewicht in der Kräfteverteilung zwischen den beiden Verbündeten stark zugespitzt hat. Unter unterschiedlichen Formen spielten all diese Phänomene zusammen, um das Antlitz der Monarchie zu verändern. Und sie schlagen sich gleichzeitig auch auf die Position und Rolle Wiens innerhalb des habsburgischen Staates nieder. Mit dem Vertrag von 1879 hat Österreich einen endgültigen Schlußstrich unter seine Auseinandersetzungen mit Preußen gezogen. Ja, es hat mit Deutschland sogar wieder Bündnisbeziehungen aufgenommen. Die Folgen von Königgrätz aber sind keineswegs vergessen. Diese Zäsur von 1866 wird durch das Ungleichgewicht zwischen den beiden Bündnispartnern noch weiter verschärft. Für die Deutschen des Reiches ist Wien keine Alternative mehr, keine Anlaufstelle, an die sie sich wenden können. Damit versiegt allmählich auch der Zustrom, der Deutsche seit Jahrhunderten nach Wien führte. Die Zeit ist vorüber, da sie verantwortungsvolle Posten in der Verwaltung oder der Armee bekleideten. Deutsche Schriftsteller, Musiker, Künstler halten sich jetzt bestenfalls nur mehr vorübergehend in Wien auf. Johannes Brahms, der 1862 nach Wien kam und dort bis zu seinem Tod im Jahre 1897 lebte, hat keinen Nachfolger. Sollte der Lauf der Geschichte die Monarchie dazu verurteilen, von der Landkarte zu verschwinden, und sollten ihre deutschsprachigen Gebiete unter Vom Fest zurTragödie :
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den Einfluß Deutschlands kommen, so würde Wien durch diese mangelnde Kontinuität wohl zu einer bloßen Provinzhauptstadt degradiert. A m Vorabend des 20. Jahrhunderts scheint dieses von manchen herbeigewünschte Szenario jedoch nicht wahrscheinlich. Die schwächer werdenden Beziehungen zu Deutschland verstärken Wiens Orientierung nach Mitteleuropa. Gewisse innenpolitische Entwicklungen in Österreich-Ungarn festigen seine Position in diesem Raum. Als Hauptstadt einer Monarchie mit 51 Millionen Einwohnern ist Wien Sitz der im Ausgleich vorgesehenen zentralen Verwaltungsstellen sowie der Behörden Zisleithaniens. Aufgrund dieser doppelten Funktion reicht sein Einflußbereich bis an die Grenzen der Monarchie. Auch die Wirtschaft kommt Wien zugute. Die Monarchie erlebt eine Wachstumsphase, die zweifellos durch die allgemein günstige Konjunktur in Europa und in der ganzen Welt bedingt ist, aber auch Gründe hat, die auf die spezifische Situation in Österreich-Ungarn zurückzufuhren sind. Über alle nationalen Spannungen hinweg steht die Monarchie im Begriff, sich zu einem integrierten Wirtschaftsraum zu entwickeln. Die Abschaffung der Binnenzölle, um die sich schon Schwarzenberg bemüht hatte und die im Ausgleich bestätigt wurde, zeigt ihre Wirkung. Trotz der anhaltend großen Unterschiede in der Entwicklung der einzelnen Regionen ist ein riesiger Markt im Umfang der Gesamtmonarchie entstanden, der die Produktion ankurbelt. Wien bestätigt sich als Entscheidungs- und Impulszentrum dieses Staates. Viele große Unternehmen der Monarchie haben dort ebenso ihren Sitz wie die wichtigsten Banken, deren Investitionen eine Bedingung für den wirtschaftlichen Aufschwung darstellen. Kurz gesagt, mit jedem neuerlichen Schritt in Richtung Integration wächst der Einfluß Wiens. Auf der anderen Seite sieht Wien sich ebenso wie die gesamte Monarchie mit dem Aufkommen zentrifugaler Kräfte konfrontiert. Darunter sind nicht nur die separatistischen Strömungen zu verstehen, die — wenn überhaupt - innerhalb der österreichischen Gesellschaft nur eine kleine Minderheit bilden. Die Nationalitätenkonflikte hingegen erschüttern aufgrund der durch sie hervorgerufenen Spannungen die Monarchie, und Wien bekommt die Folgen unausweichlich zu spüren. Durch die Einfuhrung des allgemeinen Wahlrechts im Jahre 1906 in Zisleithanien hofft Franz Joseph, dieser Frage etwas von ihrer Brisanz zu nehmen. Dieser Reform bleibt indes nicht die Zeit, die von ihren Initiatoren erhoffte Wirkung zu zeigen, da als erste Folge die Zahl der Parteien mit nationalen Anliegen zunimmt, was die Aufgabe der einzelnen Regierungen noch schwieriger macht. Diese zentrifugalen Kräfte kommen aber auf anderem Wege zum Tragen. Es lag in der Natur des Dualismus, daß sich durch diesen die Beziehungen zwischen Wien und Budapest veränderten. Als Hauptstadt eines souveränen Königreiches mußte Budapest sich nun gegenüber Wien bestätigen. Die im Ausgleich vorgesehene Machtaufteilung bringt es mit sich, daß Budapest nun Aufgabenbereiche zufallen, 132 : Die Donaumetropole (1815-1914)
die bislang Wien vorbehalten waren. Franz Joseph trägt dieser neuen Kompetenzverteilung dadurch Rechnung, indem er Beschwerden, die ihm von Vertretern der nichtmagyarischen Nationalitäten Ungarns vorgetragen werden, an Budapest weiterleitet. Dadurch wird aber auch ein sich auf einer etwas tiefer liegenden Ebene abspielendes Phänomen deudich: In diesen Jahrzehnten ist es den Magyaren gelungen, sich sowohl in kultureller als auch in politischer Hinsicht als nationale Gesellschaft zu konstituieren. Dies ist ein weiterer Faktor, der das Wachstum Budapests erklärt, das sich in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts mit 1,1 Millionen Einwohnern unter die zehn größten Städte Europas einreiht. Zweifellos bleibt zwischen den beiden Städten jene Distanz aufrecht, die eine europäische Metropole von einer regionalen Hauptstadt trennt, aber die Herausbildung dieser ungarischen nationalen Gesellschaft schwächt die Einflüsse aus Wien ab bzw. filtert sie gewissermaßen. Ein weiteres Gebiet, dem wir gleichermaßen Beachtung schenken sollten, ist das tschechische Böhmen, auch wenn dort ganz andere politische Rahmenbedingungen herrschen. Von Prag ausgehend, das etwa 600.000 Einwohner zählt, hat sich hier eine tschechische nationale Gesellschaft entwickelt, die unter Besinnung auf sich selbst eine solide Position im Bereich des Schulwesens, der Universität und der Kultur erreicht hat. Ihre Vitalität widerlegt den einst gegen Österreich erhobenen Vorwurf eines Völkerkerkers. Die Nationalitätenkonflikte dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß Osterreich seinen Völkern einen Freiraum eingeräumt hat, in dem sie ihre spezifische Identität entwickeln konnten. Diesen nationalen Gesellschaften war es - auch bei unterschiedlich weit fortgeschrittener Entwicklung - möglich, sich eine Autonomie zu sichern, die zumindest in einigen Sektoren ihre Abhängigkeit von Wien lockerte. Diese Herausbildung einer nationalen Identität steht nicht im Widerspruch zum Vielvölkerstaat, ihre Vereinbarkeit erfordert aber eine Neugestaltung Österreichs auf föderaler bzw. konföderaler Grundlage. Sollte es jedoch verabsäumt werden, eine derartige Umgestaltung in Angriff zu nehmen, so drohte der Monarchie Gefahr. Ohne damit zu rechnen, daß die österreichisch-ungarische Monarchie tatsächlich von der politischen Landkarte verschwinden könnte, sehen die europäischen Kanzleien sie zunehmend als den anderen „kranken Mann" Europas. Viele führende österreichische Politiker befurchten ihren langsamen Niedergang, sollte sie sich nicht noch einmal aufbäumen können. Nur ein Gewaltakt kann einen Umschwung herbeiführen. Diese Uberzeugung charakterisiert - abgesehen von der geradezu besessenen Beschäftigung mit den Beziehungen zu Serbien - auch die Reaktionen der politischen Verantwortlichen Österreich-Ungarns auf die Krise, die durch das Attentat von Sarajevo auf Erzherzog Thronfolger Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 ausgelöst wird. Bei der Entscheidung für eine Strafexpedition gegen Serbien geht es Österreich-Ungarn in erster Linie darum, jenen Staat zum Schweigen zu bringen, dessen Politik seine südslawischen Besitzungen gefährdet; die Mon-
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archie ist aber auch bestrebt, sich selbst die eigene Fähigkeit zu beweisen, den Ereignissen in Hinkunft nicht einfach ihren Lauf zu lassen.
FINIS AUSTRIAE
Vor noch nicht allzu langer Zeit wäre dieser Konflikt wohl örtlich begrenzt geblieben. Im Juli 1914 aber nimmt nach Abflauen der ersten Welle der Entrüstung über das Attentat die Entwicklung gemäß der Logik der Teilung Europas in zwei feindliche Blöcke ihren Lauf. Der Konflikt, der auf eine rein österreichisch-serbische Auseinandersetzung hätte beschränkt bleiben können, breitet sich rasch über den ganzen Kontinent aus. Was zur Rettung der Monarchie gedacht war, gefährdet nun sogar deren Existenz. Zunächst aber erfaßt Österreich-Ungarn, wie auch die anderen kriegführenden Parteien, die Begeisterung der „Heiligen Allianz". Als Franz Joseph „seine Völker" zur Verteidigung der Monarchie aufruft, erheben sich nur wenige Gegenstimmen. Sie werden zwar mit zunehmender Dauer der Auseinandersetzung lauter, bleiben aber auch dann in der Minderheit. Trotz wechselnden Kriegsglückes können sich die österreichisch-ungarischen Armeen und mit ihnen die gesamte Monarchie vier Jahre lang halten. In dieser schweren Prüfung macht Österreich-Ungarn deutlich, daß seine Tatkraft ungebrochen ist. In diesen Jahren bleibt Wien natürlich weiterhin die Hauptstadt der Monarchie. Noch immer residiert dort der Kaiser, noch immer tagen dort die österreichisch-ungarischen Minister und die zisleithanische Regierung. Und dennoch bleibt Wien von der Verschiebung der Machtzentren nicht unberührt. Zurückgezogen in seinem Schloß Schönbrunn, läßt sich Franz Joseph zwar täglich über den Verlauf der militärischen Operationen informieren, in die Kriegsfiihrung selbst aber greift er nicht ein. Dies ist Aufgabe des Oberkommandos der Armee, das sich in Teschen eingerichtet hat, um näher an der Ostfront zu sein, die lange Zeit hindurch die wichtigste Front ist. Obwohl die Staatsordnung keine dem Deutschen Reich vergleichbare Militarisierung erfährt, müssen die Befehlshaber der Armee, bedingt durch das Überlappen politischer und militärischer Fragen, über ihren unmittelbaren Kompetenzbereich hinaus agieren. Verschärfend kommt hinzu, daß der Verlauf der Kampfhandlungen das zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn bereits bestehende Ungleichgewicht noch weiter zuspitzt. Die österreichisch-ungarischen Armeen sind an den verschiedenen Fronten auf die Hilfe ihres Verbündeten angewiesen, was den Handlungsspielraum der Monarchie ebenfalls einschränkt. Der Kriegseintritt Italiens 1915 und Rumäniens 1916 an der Seite der Entente macht diese Unterordnung noch deutlicher. Bis zum Tod Franz Josephs am 21. November 1916 bleibt der Schein gewahrt, als würde der Nimbus des alten Kaisers das bittere Ende hinauszögern. Für die Be134 : Die Donaumetropole (1815-1914)
gräbnisfeierlichkeiten entfaltet Wien noch einmal all seinen Pomp. An diesem 30. November 1916 läßt der milchige Sonnenschein die Monarchie ein letztes Mal aufleben, die mit diesem Trauerzug ihr eigenes Begräbnis zu begehen scheint. Die Ereignisse machen bald klar, daß die Entscheidung gefallen ist. Obwohl es gelingt, die Armee bis in die letzten Kriegstage zusammenzuhalten, überschreiten die Kriegsanstrengungen zunehmend die Kräfte der Monarchie und ihrer Völker. Das gilt zwar — wenn auch in unterschiedlichem Maße - für alle kriegführenden Parteien, für die Habsburgermonarchie kommen aber noch spezifische Faktoren hinzu. Lange schon hat sie mit zentrifugalen Kräften zu kämpfen, dabei bisher aber immer die notwendige Tatkraft aufzubringen vermocht, ihnen die Stirn zu bieten. Mit zunehmender Dauer des Konfliktes läßt diese Verteidigung aber nach. An ihre Stelle treten nationale Ansprüche, unter deren Druck schließlich jene Solidarität, welche die Völker der Monarchie noch untereinander verband, zusammenbricht. Trotz seiner Unerfahrenheit sieht der neue Kaiser Karl I. die wachsende Gefahr ganz klar. Er hat erkannt, daß er die Monarchie aus dem Krieg herausfuhren muß, um danach mit aller Kraft eine Neustrukturierung in Angriff zu nehmen. Dennoch läßt er voller Unentschlossenheit den Ereignissen ihren Lauf. Er könnte nur dann Erfolg haben, wenn er gegebenenfalls auch einen Konflikt mit seinem deutschen Verbündeten und den Magyaren in Kauf nähme, deren Widerstand bis jetzt jeden Versuch einer Reform der Monarchie verhindert hat. Bei aller guten Absicht des Kaisers erweisen sich die Hindernisse letztlich als zu groß. Da Karl es verabsäumt, rechtzeitig eine Initiative zu setzen, muß er sich schließlich dem Lauf der Geschichte fugen. Lange Zeit hindurch hatten sich die Staaten der Entente davor gehütet, die Auslöschung der Doppelmonarchie zu ihrem Kriegsziel zu machen. Im Mai 1918 aber, als Karl, ein Gefangener des wachsenden Ungleichgewichts der Kräfte zwischen Österreich und Deutschland, auch seine letzte Chance ungenützt läßt, sich von Deutschland zu trennen, stimmen England und Frankreich der Absicht einer Vernichtung Österreich-Ungarns zu. In all diesen Jahren ist Wien wie ein Spiegel, in dem sich jede Bewegung, die den Körper der Monarchie durchzuckt, reflektiert. Schon von Beginn der Feindseligkeiten an bekam Wien die Auswirkungen des Krieges vor allem durch den Zustrom Tausender von Flüchtlingen aus Ostgalizien zu spüren. Mit zunehmender Dauer des Konfliktes machen sich die Folgen in der Stadt nun mit voller Härte bemerkbar. Die Liste der Gefallenen und Verwundeten wird immer länger, kaum eine Familie bleibt verschont. Darüber hinaus leidet die Wiener Bevölkerung unter größten Entbehrungen. Die Auswirkungen der von der Entente über die Mittelmächte verhängten Blockade werden noch durch die Entscheidung der Regierung in Budapest verschärft, das Getreide, das bislang nach Österreich exportiert wurde, in Ungarn zu behalten. Die Bevölkerung in den Städten zählt zu den ersten, die unter diesen Maßnahmen zu leiden haben. Vom Fest zurTragödie : I 35
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Begräbnis Kaiserin Elisabeths am 10. September 1898
136 : Die Donaumetropole (1815-1914)
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Begräbnis Kaiser Franz Josephs am 30. November 1916
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In Wien droht die Versorgungslage in eine Katastrophe auszuarten. In den letzten Kriegsmonaten steht die Stadt am Rand einer Hungersnot. Parallel dazu verschlechtert sich Anfang 1918 das soziale Klima. Der Erfolg der im Januar in den Wiener Fabriken ausgerufenen Streiks ist ein deutliches Zeichen, daß es in der Arbeiterschaft gärt. Seit dem Sommer ist Wien nur mehr die Hauptstadt eines Reiches, das an allen Ecken zu zerfallen droht. Ein Zusammentreffen negativer Faktoren, die einander darüber hinaus noch gegenseitig beeinflussen, reißt die Monarchie in einen Auflösungsprozeß. Seit August nimmt der Krieg eine unheilvolle Wendung: An der Westfront sind die deutschen Armeen im allgemeinen Rückzug begriffen, auf dem Balkan übernehmen die Alliierten die Offensive und stehen Anfang November vor den Toren Ungarns; nur die italienische Front hält noch. Angesichts der nahenden Niederlage zerreißen auch noch die letzten Bande, die die Völker der Monarchie bislang noch zusammenhielten. Kaiser Karl unternimmt eine allerletzte Anstrengung, um den Zerfall noch zu verhindern. Sein Manifest vom 16. Oktober kündigt eine Reform der Monarchie an, die die Bildung von Nationalversammlungen vorsieht. Wäre dieser Plan einige Monate zuvor verkündet worden, hätte er als Grundlage für eine Neuorganisation des habsburgischen Staates dienen können, nun aber ist es zu spät, die Ankündigung fuhrt zum gegenteiligen Ergebnis. Da es den Verantwortlichen in Budapest gelingt durchzusetzen, daß eine Reorganisation sich nicht auf Ungarn erstrecken soll, gelangen die anderen Völker des Königreiches zu der Überzeugung, daß ihr Schicksal sich nicht mehr innerhalb der Monarchie erfüllen kann. In Zisleithanien treten die Nationalversammlungen zwar zusammen, werden aber zu einem Instrument ihrer Loslösung von Österreich. Die Entwicklung der nationalen Gesellschaften hat damit ihren logischen Abschluß gefunden. In den ersten Novembertagen ist alles vorüber. Mit dem Waffenstillstand von Villa Giulia am 3. November legt Österreich-Ungarn seine Waffen nieder, ein Volk nach dem anderen sagt sich von der Monarchie los. In Wien selbst wahrt die Regierung noch den Schein der Macht gegenüber der Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich. In Schloß Schönbrunn regiert Kaiser Karl, von allen isoliert, nur mehr auf einer Schattenbühne. Am 10. November unterzeichnet er, ohne formell abzudanken, seinen Verzicht auf die Ausübung der Regierungsgeschäfte. Mit seiner Abreise stirbt die jahrhundertealte Monarchie, die seit Anbruch der Neuzeit das Zentrum Mitteleuropas war. Für Wien geht so eine lange Geschichte zu Ende. Die seit dem 13. Jahrhundert bestehende Verbindung mit dem Haus Habsburg ist zerrissen. Damit ist aber auch jenes Fundament verschwunden, das den Aufschwung und Ruhm der Stadt begründet hatte. Die Änderung liegt jedoch nicht allein im Übergang von der Monarchie zur Republik; vor allem ist Wien auch nicht mehr das Zentrum einer großen politischen Einheit. Die Metropole Mitteleuropas wird zur Hauptstadt eines „Nachfolgestaates". 138 : Die Donaumetropole (1815-1914)
Kapitel 5: Mensch und Raum
1815 ist Wien mit 238.000 Einwohnern bereits die fiinftgrößte Stadt Europas. Seit Anfang des 17. Jahrhunderts kaiserliche Residenz- und Hauptstadt einer der Großmächte des Kontinents, liegt das Wachstum der Stadt in ihrer dreifachen — politischen, wirtschaftlichen und kulturellen - Funktion begründet. Als bedeutendste Stadt Mitteleuropas reicht ihre Anziehungskraft über die Grenzen des Habsburgerreiches hinaus und erstreckt sich auch auf die traditionellen Einflußbereiche Österreichs in Deutschland und Italien. Seit der großen Wende im Jahre 1683 vollzieht sich die Entwicklung des städtischen Raumes in drei unterschiedlich großen und unterschiedlich dicht bevölkerten Kreisen: die Altstadt, die Vorstädte und die Vororte. Die Altstadt ist noch immer von Stadtmauern umgeben, und weiter draußen bildet der Linienwall den Ubergang zwischen den Vorstädten und den Vororten. Dieser Gliederung entsprechen auch die Verwaltungsgrenzen: Das Stadtgebiet bleibt offiziell das von den Befestigungsanlagen umgebene Gebiet; jenseits derselben beginnen unabhängige Gemeinden. Die Entwicklung Wiens ist weitgehend durch diese Teilung bestimmt, wobei die umliegenden Gemeinden schon lange in gewisser Weise zur Stadt gehören. Für Zeitgenossen besteht die Stadt schon geraume Zeit vor deren tatsächlicher Eingliederung aus diesen beiden innersten Kreisen. Damit stehen die sichtbaren Barrieren zunehmend im Widerspruch zur Realität und werden unzeitgemäß. Die Befestigungsanlagen bilden auch ein Hindernis für die Kommunikation zwischen der Altstadt und den anderen Bereichen des städtischen Raumes. Kurz, der Aufschwung Wiens geht nun über die Beseitigung dieser Hindernisse.
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D I E A L T S T A D T U N D DIE V O R S T Ä D T E
Bei seiner Ankunft in Wien überrascht den Reisenden diese Teilung des städtischen Gebietes in mehrere klar getrennte Bereiche. Diese Erkenntnis verblüfft oft: „Wien ist eine große Stadt [...], sieht aber nicht aus wie eine Hauptstadt", meint 1856 der Straßburger Arzt Victor Stoeber. Es wirkt vielmehr wie eine,Ansammlung mehrerer Städte" und vermittelt den Eindruck, nicht ganz vollendet zu sein : „Es fehlt der Zusammenhang, die Einheit." 1 Der innerste Kreis - die Altstadt - ist zugleich auch der kleinste, was fur den Reisenden eine weitere Überraschung bedeutet, ist diese doch „höchstens so groß wie ein Pariser Quartier", schreibt Gérard der Nerval. 2 Die Engländerin Frances Trollope meint, daß eine Gesellschaft von Damen plaudernd innerhalb einer knappen Stunde einen Rundgang machen könne. 3 Eingezwängt zwischen den Stadtmauern, erstreckt sich die Altstadt auf kaum mehr als 134 Hektar. Hier haben sowohl die politische als auch die religiöse Macht ihren Sitz. Die im Zentrum gelegene Hofburg ist die traditionelle Residenz des Kaisers und des Hofes. In unmittelbarer Umgebung befinden sich die Zentralorgane (die Staatskanzlei und die als Ministerien fungierenden Ämter), von denen aus die kaiserliche Macht ausgeübt wird. In der Nähe stehen mehrere Palais, die im 17. Jahrhundert und Anfang des 18. Jahrhunderts von den Familien der Hocharistokratie errichtet wurden : das Palais Schwarzenberg auf dem Mehlmarkt, das Palais Lobkowitz, das Palais Liechtenstein auf dem Minoritenplatz, das Palais Esterhäzy in der Wallnerstraße, die Palais Kinsky und Harrach auf der Freyung sowie das Palais Schönborn in der Renngasse. Im Laufe der Zeit haben einige ihre Funktion geändert : So etwa beherbergt das ehemalige Winterpalais des Prinzen Eugen Anfang des 19. Jahrhunderts die Hofkammer, den Vorläufer des heutigen Finanzministeriums. Unterstrichen wird die politische Funktion der Altstadt durch die Ansiedlung weiterer Institutionen. Die niederösterreichischen Stände haben ihren Sitz in der Herrengasse nahe der Hofburg. Diese räumliche Nähe wird vor allem am 13. März 1848 von Bedeutung, als die Truppen auf die vor dem Landtag versammelte Menschenmenge schießen, wobei die Schüsse zweifellos auch in der Hofburg zu hören sind, was nicht nur die Angst des Hofes, sondern auch die Eile erklärt, mit der dieser seine Entscheidungen trifft. Die Gemeindebehörde ist - ein Zeichen für ihre Stellung innerhalb der Gewaltenhierarchie - in einem weniger imposanten Gebäude in einem bürgerlichen Viertel der Altstadt untergebracht. Nur wenige hundert Meter trennen die Hofburg von der Stephanskirche und der Residenz des Erzbischofs, dem geistigen und politischen Zentrum des katholischen Wien. Ein Erbe des Mittelalters und der Gegenreformation sind die zahlreichen Zeugnisse religiösen Lebens, die selbst den Angriffen Josefs II. standzuhalten 140 : Die Donaumetropole (1815-1914)
vermochten. Einige von diesen sind eng mit den Habsburgern verbunden. So etwa die unmittelbar an die Hofburg anschließende Augustinerkirche, wo die Hochzeitsfeierlichkeiten des Herrscherhauses begangen und seit Ferdinand II. die Herzen der verstorbenen Angehörigen der kaiserlichen Familie verwahrt werden, oder - vor allem - die Kapuzinerkirche, in deren Krypta die sterblichen Überreste der Habsburger seit dem 17. Jahrhundert ruhen. Es gibt auch zahlreiche Pfarr- und Klosterkirchen (Michaeierkirche, Peterskirche, Maria am Gestade, Schottenkirche, Annakirche, Minoritenkirche, Franziskanerkirche, Kirche am Hof). Religiöse Orden sind ebenfalls vertreten (Benediktiner, Kapuziner, Franziskaner), von denen einige über einen unermeßlichen Reichtum verfugen ; zu ihren umfangreichen Besitzungen zählen u. a. ganze Gebäudekomplexe, wie der Melkerhof, der Schottenhof oder der Klosterneuburgerhof. Die Altstadt vermittelt dem Reisenden den Eindruck eines dichtgedrängten Nebeneinanders. Die Bebauung hat mit 85 Prozent des verfügbaren Baugrundes nahezu einen Sättigungsgrad erreicht. Auf diesem eng begrenzten Raum leben nicht weniger als 50.000 Menschen, eine Situation, an der sich seit Ende des Mittelalters kaum etwas geändert hat. Ein Zuwachs wird im wesentlichen nur durch die Errichtung höherer Gebäude erreicht. Die Altstadt ist ein Gewirr von engen Gassen, die ihr mittelalterliches Aussehen bewahrt haben. Unterbrochen wird dieses nur von den wenigen Durchstichen wie der Kärntner Straße oder einigen Plätzen wie dem Graben im Zentrum der Stadt. Francés Trollope, von der wir über einen ausfuhrlichen Bericht über ihren Aufenthalt in Wien von 1836 bis 1837 verfugen, ist erstaunt über den guten Zustand der Straßen : „Ich habe nirgends Straßen in so vollkommen gutem Zustande von einem Stadtende zum anderen gesehen."4 Einige Jahre später lobt Gérard de Nerval seinerseits „das prächtige Granitpflaster" in den Straßen.5 Bei Tag bietet die Stadt das Schauspiel pulsierenden Lebens. Auf den Straßen, Gassen und Plätzen drängen sich die Menschen. Verkehrsstauungen gibt es nicht nur in Paris : Immer wieder sind die Hauptverkehrswege durch eine Unzahl von Equipagen verstopft. Ganz zu schweigen von den engeren Gassen, wo man als Fußgänger ständig auf der Hut sein muß, um nicht niedergestoßen zu werden. In ihren Berichten weisen die Reisenden immer wieder auf den Wohlstand, ja Luxus in diesen Vierteln hin. Diesen Eindruck vermitteln einmütig auch Francés Trollope und Gérard de Nerval. „Hier gibt es", so der Verfasser von Voyage en Orient, „nur Platz fur die Reichen und ihre Dienerschaft, fiir die Bankiers und Händler."6 Auch wenn die Gesellschaft der Altstadt zweifellos vielfältiger ist, als diese Schilderung vermuten läßt, vermittelt diese uns doch ein Charakteristikum dieser prächtigen Stadtviertel. Der Hof und die Palais des Hochadels haben ihnen ihren Stempel aufgedrückt und verleihen ihnen ein gewisses aristokratisches Flair. Die Luxusgeschäfte im Zentrum der Stadt, die Cafés und Restaurants, die ein erlesenes Publikum versammeln, fugen sich in diesen Rahmen ein. Mensch und Raum :
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Am Abend legt sich das Treiben allmählich. Die Theaterauffiihrungen, die um sieben Uhr beginnen, enden vor zehn Uhr, die Cafés und Restaurants aber bleiben noch bis Mitternacht geöffnet. In den 1840er Jahren hält nach und nach die Gasbeleuchtung Einzug in den Straßen ; beginnend 1842 in der Hofburg und deren unmittelbarer Umgebung, wird bald die gesamte Altstadt mit dieser Form der Beleuchtung ausgestattet. Die etwa 15 Meter hohen Befestigungsanlagen bilden die Grenze der Altstadt. Sie werden von acht Toren durchbrochen - den einzigen Verbindungswegen zwischen dem Zentrum und den übrigen Gebieten der Stadt - , die allabendlich um 10 Uhr geschlossen werden ; bis zum nächsten Morgen zieht sich die Altstadt in sich selbst zurück. Die Kriege von 1805 und 1809 haben deutlich gemacht, daß die Stadtmauern jeden militärischen Wert verloren haben; sie sind immer mehr nur ein Uberrest aus vergangenen Zeiten. Nun nützen die Wiener sie fur ihre Spaziergänge. Jenseits der Gräben am Fuße der Befestigungsanlagen erstreckt sich ein unbebautes Gebiet, das die Altstadt von der Vorstadt trennt. Dieses gut hundert Meter breite „Glacis" ist überwiegend mit Bäumen bepflanzt - Pappeln, Kastanien- und Lindenbäume - oder mit Wiesen überzogen. Alleen sind die Verbindungswege in die Vorstädte. Gegenüber der Josefstadt, einer der Wiener Vorstädte, geht das Glacis in ein Grünland über, das den Truppen der Garnison als Exerzierplatz dient. Auf Höhe des heutigen Stadtparks erstreckt sich das bei den Wienern beliebte Wasserglacis, auf dem Friedrich Pelikan 1818 einen Pavillon errichten ließ, wo Mineralwasser verkauft wird. Ohne ihre Stadt zu verlassen, können die Wiener sich dort nach Karlsbad oder Marienbad versetzt fühlen. Bei Tag ist das Wasserglacis fest in Hand der Kinder, bevor sich am späten Nachmittag Spaziergänger und Spaziergängerinnen aus allen Schichten der Bevölkerung seiner bemächtigen. Bei Nacht weicht das Idyll des Ortes einer ganz anderen Wirklichkeit : Das Glacis wird zum Reich der Prostituierten und Taschendiebe. Die Grenze der Vorstädte bildet der etwa 3,5 Meter hohe und 13 Kilometer lange Linienwall, dessen elf Tore Zutritt zu den Vororten gewähren. Wie die Befestigungsanlagen hat auch dieser Wall jede militärische Wirksamkeit verloren und behindert vor allem den Verkehr zwischen den Vororten und dem übrigen Ballungsraum. Innerhalb des Linienwalls wuchs die Bevölkerung seit 1683 ständig an: Anfang des 19. Jahrhunderts beläuft sich ihre Zahl auf etwa 150.000 Menschen. In Prozenten ausgedrückt leben in den Vorstädten rund 63 Prozent der Bevölkerung des gesamten Ballungsraumes gegenüber lediglich 20 Prozent in der Altstadt, wobei dieses Ungleichgewicht immer deutlicher wird: 1869 zählen die Vorstädte 800.000 Einwohner, während die Bevölkerung der Altstadt bei etwa 50.000 stagniert. Gérard de Nervals Begeisterung legt sich, wenn er von der Altstadt in die Vorstädte vordringt. Der Reichtum, so schreibt er, weicht der Armut: „Beispielloser Lu142 : Die Donaumetropole (1815-1914)
xus im Zentrum der Stadt und Armut in den umliegenden Stadtteilen, das ist der erste Eindruck, den Wien vermittelt." 7 In Wirklichkeit erfolgt dieser Ubergang nicht so abrupt. Die aus 34 Gemeinden mit einem jeweils sehr eigenständigen Charakter und spezifischem Aussehen geprägten Vorstädte, die sich über ein Gebiet von 55 km 2 erstrecken, bilden alles andere als eine homogene Einheit. Zahlreiche Gebäude zeugen dort bereits von einer langen Präsenz des Hofes und der Aristokratie; die architektonische Landschaft trägt den Stempel kaiserlicher Initiativen, ob es sich um Palais (Neue Favorita), Kirchen (Karlskirche) oder zweckgebundene Gebäude (Josefinum) handelt. Im 19. Jahrhundert lassen die Kaiser dort keine Palais oder Kirchen mehr errichten, aber die Raumnot zwingt die Verwaltung, für die Errichtung ihr unterstehender Gebäude - wie das Polytechnische Institut, Vorläufer der Technischen Universität, das 1816 nahe der Karlskirche errichtet wird — auf Standorte außerhalb der Mauern zurückzugreifen. Lang ist auch die Liste der Residenzen, Paläste oder Villen, die der Adel nach 1683 fiir sich in den Vorstädten errichten ließ. Diese Tendenz läßt sich, obzwar mit etwas verminderter Geschwindigkeit, noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts beobachten, wovon etwa die Palais Rasumofsky und Dietrichstein (später Clam-Gallas 8 ) Zeugnis ablegen. Auch Fürst Metternich macht sein Palais am Rennweg, außerhalb der Stadtmauern, zu seiner Hauptresidenz. Viele dieser Adelssitze befinden sich noch in der Hand derselben Familie, andere haben im Laufe der Zeit ihren Besitzer gewechselt oder ihre Funktion geändert: Das Schicksal des Theresianums, das in der Neuen Favorita eingerichtet wurde, ist kein Einzelfall. Von Maria Theresia stammt auch der Entschluß, die ungarische Garde-Eliteeinheit im Palais Trautson unterzubringen; das Obere Belvedere wird in ein Museum umgewandelt und beherbergt seit 1783 die kaiserlichen Gemäldesammlungen. Oft mußten die adeligen Besitzungen dem demographischen Druck Tribut zollen. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts wurden allmählich viele von ihnen parzelliert. Da der Baugrund in der Altstadt praktisch erschöpft ist, lassen sich die Neuankömmlinge in der Mehrzahl in den Vorstädten nieder. Sosehr die durch die Französische Revolution wachgerufenen Ängste die Behörden auch veranlassen, Maßnahmen zu ergreifen, um große Menschenansammlungen vor den Toren der Stadt zu verhindern, dem Anwachsen der Vorstädte tut dies keinen Abbruch. Am Vorabend des Jahres 1848 wird die Schwelle von 400.000 Einwohnern überschritten, von denen etwa 350.000 in den Vorstädten leben. Zweifellos ist die Bevölkerungsdichte nicht überall gleich hoch. Noch gibt es grüne Inseln wie die Parks der Palais oder die Gärten einiger Häuser. Die vorherrschende Bauform sind immer noch die niedrigen Pawlatschenhäuser mit ihren Wandelgängen aus Holz, wodurch der traditionelle Charakter dieser Stadtteile gewahrt bleibt. A m Vorabend der Revolution ist der Sättigungsgrad sicherlich noch nicht erreicht, aber der Prozeß der Urbanisierung ist bereits weit fortgeschritten. Mensch und Raum : 143
Einige dieser Vorstädte weisen eine besondere Spezialisierung auf. Zwischen der Mariahilfer Straße und der Altlerchenfelder Straße etwa konzentrieren sich die Handwerker, während die in der Seidenindustrie tätigen Arbeiter dem Stadtteil Neubau ein ganz anderes Gepräge verleihen. Die Josefstadt wiederum bewahrt sich einen überwiegend bürgerlichen Charakter. Die hier am stärksten vertretene Gruppe sind die Angehörigen der gesellschaftlichen Mittelschicht, wodurch die Kontinuität des Ubergangs zwischen dem Stadtzentrum und den Vorstädten gewahrt bleibt. In diesen weniger steifen Vorstädten gibt es auch ein regeres Nachtleben. Theaterfreunde kommen voll auf ihre Rechnung, befinden sich doch einige der besten Bühnen Wiens in den Vorstädten, wie etwa das Theater an der Wien, das Theater in der Josefstadt oder das Theater in der Leopoldstadt. Die Tänzer drängen sich in den erst kürzlich eröffneten Etablissements: im Sperl oder Odeon in der Leopoldstadt, im Apollo am Schottenfeld oder in der Goldenen Birne auf der Landstraße. Ein Höhepunkt der Raffinesse, verwandelt sich das Sophienbad, das im Winter als Ballsaal dient, im Sommer in ein Schwimmbad. Den dritten Kreis des Wiener Ballungsraumes bilden die Vororte. Im Gegensatz zu der gut erkennbaren Grenze mit den Vorstädten, ist jene nach außen fließend und verändert sich mit der Ausweitung des städtischen Raumes.9 Bis 1848 überwiegt dort der Gutsbesitz. Die nahe gelegenen Stifte und Abteien, wie etwa Klosterneuburg, zählen zu den größten Grundbesitzern. Vor dem 18. Jahrhundert erstreckte sich im Gebiet der Vororte ein ganzes Netz von kleinen Dörfern, vor allem inmitten der Weingärten, die schon seit dem Mittelalter eine der Grundlagen für den Wohlstand Wiens darstellen. Die Bevölkerungsdichte war dort daher deutlich geringer als in der Altstadt und in den Vorstädten: Noch 1700 lebten dort nur 10 Prozent aller Einwohner des gesamten Ballungsraumes. Im 18. Jahrhundert setzt jedoch auch dort ein Wachstumsprozeß ein. Die Vororte profitieren auch von der Zuwanderung in die Hauptstadt der Monarchie. Die Errichtung von Werkstätten und Manufakturen fuhrt zu einem Zuzug von Arbeitern, denen der Lebensunterhalt hier billiger kommt, weil die Lebensmittelpreise aufgrund des Wegfalles der bei Eintritt in die Vorstädte fälligen Steuern niedriger sind. Auch der Adel ist hier vertreten, wenngleich nicht mit Palais, sondern mit weniger prunkvollen Gebäuden, die sich besser in das ländliche Ambiente einfügen: Das noch ganz am Land gelegene, von einem weitläufigen englischen Park umgebene Schloß Neuwaldegg dient den Fürsten Schwarzenberg gelegentlich als Sommerresidenz. Die Statistiken beweisen den stetigen Bevölkerungszuwachs der Vororte, nicht nur in Absolutzahlen, sondern auch im Verhältnis zu den anderen Gebieten des Ballungsraumes : 1800 liegt ihr Anteil bereits bei 16 Prozent, Mitte des Jahrhunderts sind es 25 Prozent. Dieses Wachstum ist allerdings nicht gleichmäßig verteilt; der Norden mit seinem noch weitgehend ländlichen Charakter wird von der Urbani-
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sierung nicht erfaßt: Josefsdorf, Grinzing, Sievering, Pötzleinsdorf, Salmannsdorf, Neustift, Neuwaldegg, St. Veit, Lainz, Hetzendorf sind davon lcaum berührt; Gleiches gilt für die Orte jenseits der Donau: Kagran, Aspern, Großjedlersdorf, Strebersdorf und Stammersdorf. Allmählich werden die Beziehungen zwischen den Vororten und dem übrigen Ballungsraum enger. Die erste öffentliche Verkehrsverbindung wird 1817 zwischen dem Zentrum Wiens und dem Vorort Hietzing eröffnet. Bezeichnend ist auch, daß die Wiener Polizei ihren Einsatzbereich Mitte des Jahrhunderts auf die am dichtesten besiedelten Bereiche der Vororte ausdehnt. Auf derselben Linie liegt die Entscheidung zur Eröffnung einiger neuer Tanz- und Konzertsäle in den Vororten ab den 30er Jahren. Das Publikum des 1831 in Meidling am Tivoli eröffneten Attraktionsparks und des 1833 von Dommayer in Hietzing gegründeten Casinos kommt vor allem aus dem Zentrum und den Vorstädten. A m Vorabend der Revolution von 1848 zeichnet sich die Integration des Wiener Ballungsraumes bereits ab. Die Beziehungen und Kontakte zwischen den verschiedenen Teilbereichen des städtischen Gebietes werden immer enger. Wären da nicht die überholten Hindernisse, die sie noch immer voneinander trennen, würden sie schon jetzt ein zusammenhängendes Ganzes bilden.
E I N S T A D T B I L D , DAS D E M R A N G E N T S P R I C H T
Das fiir die Zeit der Restauration und des Vormärzes so charakteristische Festhalten am Althergebrachten verzögerte die Reform, mit der die Altstadt und die beiden äußeren Kreise einer einheitlichen Verwaltung unterstellt werden sollten. Die Revolution von 1848 erlaubt es, diese Blockade teilweise aufzuheben. Graf Stadion, der erste Innenminister der Regierung Schwarzenberg, ist entschlossen, dieses Problem anzugehen, und plant zunächst eine Erweiterung des Gemeindegebietes bis zu den Vororten. Seine Absicht aber stößt auf den Widerstand des Wiener Bürgertums, das die Rolle des Proletariats der Vororte bei den Zerstörungen und Plünderungen zu Beginn der Revolution nicht vergessen hat, bildete es doch einen Teil der radikalen Revolution; allzu frisch ist auch noch die Erinnerung an die zusätzlichen Kosten, die mit der Ausweitung des Wirkungskreises der Polizei und der städtischen Fürsorge auf diese Gebiete einhergingen. Stadions Nachfolger Alexander Bach ist bestrebt, das Bürgertum nicht vor den Kopf zu stoßen, und gibt sich mit einer Teillösung zufrieden. Im Erlaß vom 6. März 1850 bleiben die Vororte weiterhin ausgespart, während die Vorstädte in das Stadtgebiet eingegliedert werden. Das neue Gemeindegebiet umfaßt eine Fläche von 55 km z und ist in neun Bezirke eingeteilt (Innenstadt, Leopoldstadt, Landstraße, Wieden, Margareten, Mariahilf, Neubau, Josefstadt und 146 : Die Donaumetropole (1815-1914)
Aisergrund), eine Aufteilung, die 1873 dahingehend eine Änderung erfährt, als Teile des 3., 4. und 5. Bezirks zum Bezirk Favoriten zusammengeschlossen werden. Diese Kompromißlösung, die zwar das Bürgertum zufriedenstellt, ist einer koordinierten Entwicklung der verschiedenen Teilbereiche des Ballungsraumes hingegen nicht förderlich. Erst 1890 werden auch die Vororte in das Gemeindegebiet eingegliedert, das sich einschließlich der neun neuen Bezirke (Simmering, Meidling, Hietzing, Rudolfsheim, Fünfhaus, Ottakring, Hernais, Währing und Döbling) nun über 178 km 2 erstreckt. Zehn Jahre später erfolgt eine Neuaufgliederung, wobei aus dem westlichen Teil der Leopoldstadt der Bezirk Brigittenau entsteht. 1904 schließlich erfolgt ein neuer Schritt, der die zukünftige Entwicklung vorwegnimmt. Ein weitläufiges Areal von 95 km 2 jenseits der Donau wird zum Bezirk Floridsdorf zusammengeschlossen. Die Stadt hat nunmehr eine Ausdehnung von 273 km 2 . Der Erlaß vom 6. März 1850 kündigt die Schleifung der Befestigungsmauern rund um die Altstadt an. Der Plan fur diesen Abbruch reicht bereits fast ein Jahrhundert zurück. Schon 1767 wurde er Maria Theresia und zwanzig Jahre später noch einmal Josef II. unterbreitet. Offensichtlich sprach schon damals viel dafür. Mit dem Anwachsen der Bevölkerung in den Vorstädten, die bei weitem zahlreicher als jene der Altstadt ist, kommt den Befestigungsanlagen in zunehmend geringerem Maße eine Verteidigungsfunktion zu; darüber hinaus haben diese angesichts der Fortschritte auf dem Gebiet der Artillerie praktisch jeden militärischen Wert verloren. Dieser Tatbestand verschärft sich ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch weiter. Das demographische Ungleichgewicht zwischen der Altstadt und dem übrigen Ballungsraum wird immer deutlicher. Hinsichtlich der militärischen Effizienz der Befestigungsanlagen ist die Entscheidung gefallen : Weder 1805 noch 1809 konnten sie die Einnahme der Stadt durch die Grande Armée verhindern, und erst kürzlich, im Oktober 1848, vermochten sie den Kanonen Windischgrätz' nur vorübergehend Widerstand zu leisten. Das durch die Revolutionen in Paris bei der österreichischen Führung hervorgerufene Trauma hielt diese davon ab, diesen Plan weiterzuverfolgen. Wenn die Stadtmauern den Wiener Ballungsraum schon nicht gegen einen Feind von außen verteidigen konnten, so würden sie doch zumindest den Hof und die Regierung vor einem von den Vorstädten ausgehenden Volksaufstand schützen. Vom Regime des Vormärzes durfte man wohl kaum eine Änderung dieser Position erwarten, die sich jedoch auch nach dessen Sturz vereinzelt hielt. Nach der Revolution gab es noch immer, vor allem in Militärkreisen, Befürworter dieser Ansicht. Und ebendieses Sicherheitsargument führt Polizeiminister Baron Kempen gegen die Schleifung der Befestigungsanlagen ins Treffen : „Alle Republikaner jubeln, die Zeitungen streuen dem Kaiser Weihrauch fur diesen Akt", klagt er, „ich aber glaube, daß Habsburgs Zukunftssprossen, diese Übereilung bedauernd, richtiger richten werden." 10 Doch handelt es sich dabei nur um ein Rückzugsgefecht, das die Lehren der Revolutio-
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nen des Jahres 1848 nicht in Rechnung zieht. Steht dieses Sicherheitsdenken im Vordergrund, so gewähren wohl breite Hauptverkehrswege durch die Stadt, auf denen die Artillerie bequem vorwärts kommen kann, einen wesentlich effizienteren Schutz bei einem Volksaufruhr. Der Beschluß zum Abbruch der Befestigungsanlagen wird durch den kaiserlichen Erlaß vom 20. Dezember 1857 verkündet und fiigt sich in das Modernisierungsprogramm der Habsburgermonarchie. Federführend dabei ist Innenminister Alexander Bach, der diesen Plan nicht nur erneut aufgreift, sondern auch Franz Josephs Zustimmung zu erwirken versteht. Mit seinem Eintritt in die Regierung hat dieser ehemalige Revolutionär, der sich dann dem Neoabsolutismus anschloß, nichts von seiner reformfreudigen Begeisterung verloren. Wie Schwarzenberg ist er der Uberzeugung, daß es der neuen Staatsftihrung obliegt, die Ursachen zu beseitigen, die diese Revolution ermöglicht hatten. Sein Name ist mit zwei großen Reformen verbunden: der Landwirtschaftsreform infolge der Abschaffung des Systems der Grundherrschaft und der Neuorganisation der österreichischen Verwaltung. Und Bach bezieht auch den Plan einer Schleifung der Befestigungsanlagen in dieses Modernisierungsprogramm der Habsburgermonarchie mit ein. Mit dem Abreißen der Befestigungsanlagen werden drei Ziele verfolgt, die im Erlaß vom 20. Dezember klar aufgeführt sind. Zunächst soll dadurch eine Verbindung zwischen der Altstadt und den Vorstädten geschaffen und so die Kommunikation zwischen den verschiedenen Bereichen des Ballungsraumes erleichtert werden. Nach Beseitigung der juristischen Hindernisse ist nun die Zeit gekommen, auch die physische Einheit der Stadt herzustellen. Bei diesem Vorhaben solle, so Franz Joseph, aber auch auf die „Verschönerung Meiner kaiserlichen Residenz- und Reichshauptstadt Bedacht genommen" werden." Wien soll ein neues Gesicht bekommen, das seinem Rang entspricht. Franz Joseph konnte dieser Aspekt nicht ungerührt lassen, stand dieser doch auf einer Linie mit seinem Bemühen, die Macht und Größe Österreichs nach der Erschütterung des Jahres 1848 erneut zu unterstreichen. In Einklang mit dieser Absicht wird ein Bauprogramm angekündigt, das die Errichtung einer Reihe prestigeträchtiger kultureller Einrichtungen (Oper, Theater, Archiv, Bibliothek, Museum) auf dem frei werdenden Areal vorsieht. Diese Gebäude sollen zum Teil endang einer geplanten Prachtstraße errichtet werden, die wie ein Ring die Altstadt umgeben soll. Aus dieser Ankündigung geht die Absicht hervor, einen Teil des etwa 300 Hektar großen Gebietes der Befestigungsanlagen, der Gräben und des Glacis zu parzellieren. Dadurch könnte auch die Wohnungsnot etwas gelindert werden, die sich zunehmend verschärft. In den vergangenen Jahrzehnten hatte die Bautätigkeit bei weitem nicht mit der demographischen Wachstumskurve Schritt halten können. Während der Bevölkerungsanstieg zwischen 1827 und 1847 42,5 Prozent betrug, 148 : Die Donaumetropole (1815-1914)
Regulierung der Donau im Jahre 1875
Die Eisenbahnlinie entlang des Donaukanals im Jahre 1858
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hatte das Bauvolumen lediglich ein Wachstum von 11,4 Prozent zu verzeichnen. Die Situation ist so schlimm, daß Wien nun zu den Hauptstädten Europas mit der höchsten Belegung pro Wohnung zählt. Diese ist beträchtlich höher als etwa in London oder Paris. Es wäre indes sehr optimistisch zu glauben, daß das vorgesehene Bauprogramm hier eine spürbare Erleichterung schaffen könnte. Es ist ja wohl kaum vorstellbar, daß die auf diesem Boulevard - der nach dem Willen der Obrigkeit eine „Prachtstraße" werden sollte - errichteten Unterkünfte für die Arbeiter aus den Vorstädten zugänglich sein würden. Architekten machen sich ans Werk: Insgesamt werden den Behörden nicht weniger als 85 Projekte zur Neugestaltung dieses Stadtteiles vorlegt. Statt sich fiir eines dieser Projekte zu entscheiden, sieht der von der Auswahlkommission verfolgte Plan eine Synthese dreier verschiedener Projekte vor. Auf einer Gesamtfläche von 302 Hektar sind 152 ha für Verkehrswege, 64 ha für öffentliche und private Gebäude sowie 56 ha für Grünflächen vorgesehen. Die Finanzierung dieser Arbeiten soll, so hofft man, durch den Verkauf von Parzellen in diesem Bereich sichergestellt werden. Nach Abschluß der Arbeiten zeigt sich, daß diese Rechnung aufgegangen ist: Die Gewinne liegen tatsächlich über den Kosten. Etwa 30 Jahre hindurch ist also ein Teil Wiens in eine riesige Baustelle verwandelt, obwohl nicht alle Arbeiten gleichzeitig stattfinden. Ab März 1858 werden die Befestigungsanlagen den Schaufeln und Krampen der Abbrucharbeiter preisgegeben. Obwohl das Gesamtvorhaben erst 1875 abgeschlossen wird, ist der wesentlichste Teil bereits 1865 fertiggestellt." Nach der Eröffnung des Franz-Josephs-Kais entlang des Donaukanals geht man an die Errichtung der Prachtstraße, die aufgrund ihres halbkreisförmigen Verlaufs bald den Namen Ringstraße erhält. Am 1. Mai 1865 weiht Franz Joseph zwischen dem Stuben- und dem Burgtor ein erstes Teilstück — etwa die Hälfte der Gesamtlänge — ein. Es dauert noch weitere fünf Jahre, bis die Ringstraße in ihrer vollen Länge eröffnet werden kann. Den zentralen Straßenteil der 57 Meter breiten und etwa vier Kilometer langen Prachtstraße flankieren zwei Reihen von Bäumen, die ihrerseits einen Gehsteig säumen. Dem Verlauf des ehemaligen Glacis von einem Ende bis zum anderen folgend, ist die Ringstraße die Achse dieses völlig neu gestalteten Stadtteils; obwohl nur ein Teil desselben, wird sie in der allgemeinen Vorstellung schon bald zu dessen Symbol. Im Mai 1860 beginnt der Verkauf der Parzellen. Die neuen Eigentümer kommen als Gegenleistung für ihre Anstrengung, den Bau in vier Jahren fertigzustellen, in den Genuß einer steuerlichen Immunität für dreißig Jahre. Ende des darauffolgenden Jahres sind die ersten vier Gebäude fertig. Ihre Besitzer sind ein Inbegriff der späteren Ringstraßengesellschaft: Neben einem Aristokraten, Graf Ernst Hoyos, finden sich Vertreter der Hochfinanz, wie Jonas von Königswarter, Albert Klein von Wiesenberg und die Brüder Todesco. Umgehend drückt diese „zweite Gesellschaft" dem neuen Stadtteil ihren Stempel auf. Diese ersten Bauten signalisieren darüber
150 : Die Donaumetropole (1815-1914)
hinaus den Einfluß des jüdischen Großbürgertums, eine Folge der Entscheidung, Juden den Erwerb von Immobilien zu gestatten. Diese Tendenz setzt sich in den nächsten Jahren fort, so daß die Ringstraße bald allgemein die „Zionstraße des neuen Jerusalem" genannt wird. 1862 wird mit der Handelsakademie das erste öffentliche Gebäude eingeweiht; im selben Jahr folgt der Stadtpark am Wasserglacis. Neben dem Volksgarten steht den Wienern mit diesem ein zusätzlicher Grünraum im Zentrum der Stadt zur Verfügung. Aus dem Schutt der Befestigungsanlagen und der Beseitigung des Glacis beginnt eine neue städtische Landschaft zu entstehen. In Wahrheit herrscht alles andere als allgemeine Begeisterung. Grund dafür sind nicht nur die durch die Bauarbeiten hervorgerufenen Behinderungen. Angesichts der Umwälzungen lassen die Liebhaber des alten Wien ihrer Melancholie freien Lauf. Der berühmte Feuilletonist Daniel Spitzer vertraut seinen Lesern an, daß es ihm keine Freude macht, die stolze Ringstraße entlangzuspazieren, mit ihren neuen Häusern und ihren neuen Bewohnern, sie gegen die kleinen alten Straßen und Gassen zu tauschen. Wenn er durch die Altstadt spaziert, läßt er sich von den Erinnerungen entfuhren. Die Ringstraße ist nicht sein Zuhause. 13 Gräfin Rzewuska, die Wien nach der Revolution verlassen hat, erkennt die Stadt nach zwanzigjähriger Abwesenheit nicht wieder: „Man hat den Forderungen des Jahrhunderts nachgegeben, um der Bevölkerung mehr Raum zu geben. M a n hat die Befestigungsanlagen und ihre alten Tore zerstört. Das umgebende Gebiet wurde verkauft, die schönen Alleen, die diese grasbedeckten Gegenden durchzogen, wo sich abends und morgens viele Kinder einfanden, gibt es nicht mehr. Der D u f t der Akazien erfüllt die Luft nicht mehr. Die Spaziergänger, die nur mehr in Steinschluchten herumirren können, sind in Staubwolken gehüllt, die aus den berstenden Mauern hervorquellen. M a n will Paris nachahmen, heißt es, aber während man darauf wartet, hat Wien sein altes Antlitz verloren." 14 Franz Grillparzer läßt sich in Zusammenfassung dieser Gefühle zu der traurigen Feststellung hinreißen: „Das ist nicht mehr das Wien, das ich kenne, in dem ich geboren und gewachsen bin." 1 ' Er überträgt seine Kritik aber auf eine andere Ebene: Was nützt es, die Befestigungsanlagen niederzureißen, wenn das neoabsolutistische Österreich in den Mauern eines unsichtbaren Gefängnisses eingeschlossen bleibt: „Wiens Wälle fallen in den Sand; Wer wird in engen Mauern leben! Auch ist ja schon das ganze Land Von einer chinesischen umgeben."16 Im Laufe der Jahre schwinden diese Vorbehalte und diese Reserviertheit. In dem Maße, wie die neuen Stadtteile Gestalt annehmen, entwickeln sich neue GewohnMensch und Raum : 151
heiten, und die Ringstraße wird zu einem der Zentren des gesellschaftlichen Lebens. Ein Zeichen dieser Entwicklung ist, daß derselbe Spitzer, der zuvor so heftig gegen die Ringstraße gewettert hatte, in den Chor ihrer Bewunderer einstimmt. Zur gleichen Zeit wie die Wohnhäuser aus dem Boden emporwachsen, entstehen auf der Ringstraße und in ihrer unmittelbaren Umgebung neue Gebäude fiir politische, administrative, wirtschaftliche oder kulturelle Einrichtungen. Zu den politischen Bauten zählen das Parlament von Theophil Hansen und das Rathaus von Friedrich Schmidt, die 1883 eingeweiht werden. Hinzu kommen noch einige Ministerien wie das imposante, 1913 fertiggestellte Kriegsministerium auf dem Stubenring. In die gleiche Kategorie fallen die Roßauer Kaserne und das Korpskommando; der Justizpalast (1881) und die von Otto Wagner, dem großen Architekten der Secession, erbaute Postsparkasse (1906) vervollständigen diesen Reigen. Die Welt der Wirtschaft ist durch die Börse (1877) und die Länderbank (1884) vertreten. Der zweite große Nutznießer dieses Bauprogramms ist die Kultur in all ihren Facetten. Die Hofoper, ein Werk der Architekten Van der Nüll und Siccardsburg, steht an der Spitze einer langen Liste von Bauwerken mit kultureller Bestimmung. Das Konzerthaus und der Musikverein runden den Bereich der Musik ab. Das zweite Hoftheater - das Burgtheater - hält 1888 Einzug in seinem neuen Haus auf der Ringstraße. Ein Jahr später erhält die Wiener Theaterszene mit dem unweit von hier errichteten Volkstheater eine weitere Bühne. Die Akademie der bildenden Künste (1876) und das Künstlerhaus, wo seit 1869 Ausstellungen veranstaltet werden, vertreten die bildenden Künste. Und 1882 übersiedeln die bislang im Oberen Belvedere untergebrachten kaiserlichen Gemäldesammlungen ins Kunsthistorische Museum. Wie im Erlaß vom 20. Dezember 1857 vorgesehen, zählen die Museen zu den Glanzstücken der Ringstraße. Das Naturhistorische Museum und das gegenüberliegende Kunsthistorische Museum bilden ein prächtiges bauliches Ensemble, hinzu kommt noch das Völkerkunde-Museum in der Neuen Hofburg. Während man entgegen dem ursprünglichen Plan darauf verzichtet, ein eigenes Gebäude für das Archiv zu errichten, beherbergt die 1913 fertiggestellte Neue Hofburg die erweiterte Hofbibliothek.
EINE MODERNE
METROPOLE
Als weiterer Beweis für den Aufstieg Wiens zu einer modernen Metropole werden entlang der Ringstraße und in deren unmittelbarer Umgebung in den darauffolgenden Jahren mehrere Luxushotels errichtet, Einrichtungen, an denen es der Stadt bislang gefehlt hatte. Das Grand Hotel in der Nähe des Schwarzenbergplatzes öffnet 1866 seine Pforten. Die Weltausstellung 1873 läßt weitere Hotelbauten folgen: das Hotel de France nahe dem Schottentor und vor allem das Hotel Impe1 5 2 : Die Donaumetropole (1815-1914)
rial, das in das zwischen 1863 und 1865 von Herzog Philipp von Württemberg errichtete Palais einzieht. Drei Jahre später beginnt an der Stelle des alten Kärntnertortheaters die glanzvolle Geschichte des Hotel Sacher. In diese Liste reiht sich 1891 noch Aas Hotel Bristol, das aus zwei der ersten Gebäude auf der Ringstraße darunter dem Palais Hoyos - entsteht. Franz Joseph hat sein Hauptziel also erreicht: Wien bietet nun das Bild einer Stadt des 19. Jahrhunderts. Endang der Ringstraße und in deren Umgebung erheben sich eine Reihe monumentaler Gebäude, die der Hauptstadt einer europäischen Großmacht würdig sind; keine andere Großstadt des Kontinents kann auf eine ähnliche Ansammlung von Prachtbauten entlang einer ihrer Hauptverkehrsadern verweisen. Darüber hinaus aber gibt die Umsetzung des Erlasses vom 20. Dezember 1857 nur eine teilweise Antwort auf die durch das Wachstum der Stadt hervorgerufenen Probleme. Wie zu erwarten, bringt die Urbanisierung dieses Bereiches keine Entschärfung der Wohnungskrise. Vertretern des Adels sowie des Geld- und Bildungsbürgertums vorbehalten, bleiben die weniger begünstigten Schichten der Wiener Bevölkerung ausgespart; man muß also an eine andere Lösung denken, um diesem demographischen Druck zu begegnen. Durch ihren halbkreisförmigen Verlaufbietet die Ringstraße als neue Verkehrsachse zweifellos eine gewisse Endastung, die Frage der Verbindung zwischen dem Zentrum der Stadt und dem übrigen Ballungsraum ist dadurch aber noch nicht gelöst. Diese Aufgabe soll ein Netz von radialen Verbindungswegen übernehmen. Die Stadtteile entlang der Ringstraße verstehen sich als Schmuckkästchen des neuen Wien. Ihre Neugestaltung ist aber nur ein Element eines umfassenderen Modernisierungsprogramms der Stadt, zu dem vordringlich auch die Regulierung der Donau gehört. Auf der Höhe von Wien teilt sich die Donau in eine Reihe von Armen, deren Lauf sich durch die Jahrhunderte verändert hat. Im 14. Jahrhundert war man darangegangen, den am Fuß der Altstadt verlaufenden Wiener Arm zu regulieren. Im 18. Jahrhundert wird mit der Kanalisierung ein neuer Markstein gesetzt. Es gibt aber immer noch ein Netz von Nebenarmen zwischen dem Donaukanal und der Donau, die einen Teil dieses Gebietes durchziehen, wo das Wasser dem Land immer wieder Boden streitig macht und der daher von Überschwemmungen bedroht ist. 1830 fordert eine große Überschwemmung zahllose Menschenleben und fuhrt den Behörden die Gefahr eindringlich vor Augen, konkrete Schritte folgen jedoch nicht. Erst eine neuerliche Katastrophe im Jahre 1862 veranlaßt sie zu handeln: Ein Plan ftir die Regulierung der Donau wird ausgearbeitet. 1870 nimmt das mit der Durchfuhrung betraute französische Unternehmen Castor-Couvreux et Heursent die Arbeiten auf, die fiinf Jahre später beendet sind. Die Errichtung von Staudämmen ermöglicht eine Trockenlegung der Nebenarme und der Überschwemmungsgebiete, die so für eine Urbanisierung geöffnet werden. Die Gründung des Bezirkes Brigittenau im Jahre 1890 ist die logische Folge dieser Umgestaltung. Mensch und Raum : I 5 3
Zwanzig Jahre später wird die Regulierung des Wienflusses in Angriff genommen. Dieser kleine Donauzufluß tritt im Winter oft über die Ufer, während er im Sommer lediglich als dünnes Rinnsal dahindümpelt. Da die Werkstätten und Fabriken der näheren Umgebung immer wieder ihre Abfälle hier entsorgen und auch anderer Unrat hier abgelagert wird, vermittelt der Fluß nur allzuoft den Eindruck einer Kloake; der Gestank ist entsprechend. Um dem Abhilfe zu schaffen, wird eine aufsehenerregende Entscheidung getroffen: Die Wien soll über weite Strecken ihres Verlaufes überdeckt werden. Ein weiterer Vorteil dieses Beschlusses liegt darin, daß damit eine Modernisierung des öffentlichen Verkehrswesens verbunden werden kann. Der Zuwachs der Bevölkerung und die räumliche Ausdehnung der Stadt erhöhen die Bedürfnisse bzw. schaffen neue. Zählte Wien 1857 noch 476.000 Einwohner, sind es 1890 bereits über 827.000 und nach der Eingliederung der Vorstädte in das Gemeindegebiet 1.364.000. Das Problem liegt aber nicht nur in der Bevölkerungszahl. Mit der Ausdehnung des Gemeindegebietes werden auch die Entfernungen größer. Der Durchmesser der Stadt hat sich von 12 auf 25 Kilometer mehr als verdoppelt. Ziel zahlreicher Maßnahmen der 90er Jahre ist es, den Wiener Ballungsraum mit einer neuen Infrastruktur auszustatten, die diesen Bedürfnissen gerecht wird. Schon lange ist geplant, parallel zur Ringstraße einen zweiten halbkreisförmigen Boulevard auf der Höhe der äußeren Grenze der ehemaligen Vorstädte zu errichten; zuvor aber müssen die Vororte in das Gemeindegebiet eingegliedert werden. Dies erfolgt 1890. Wie der Abbruch der Befestigungsanlagen die Voraussetzung flir die Anlegung der Ringstraße war, so muß nun noch der Linienwall geschleift werden. Das ist bald getan. 1892 können die Arbeiten am Gürtel beginnen. Die Errichtung öffentlicher Verkehrsmittel ist eine weitere Antwort auf das Wachstum der Stadt. Diese sind allerdings nicht ganz neu. Schon seit 1824 stehen den Wienern von Pferden gezogene Omnibusse zur Verfügung. Die Einführung von Pferdestraßenbahnen im Jahre 1865 ist ein weiterer Markstein. Die,Wiener Allgemeine Omnibus Gesellschaft" befördert ihre Passagiere zunächst vom Schottentor bis Hernais. Aber schon bald durchzieht ein ganzes Netz von Linien die Stadt. Diese Verkehrsmittel leisten große Dienste: 1890 werden nicht weniger als 42,8 Millionen Fahrgäste befördert; in fünf Jahren steigt ihre Zahl auf 56,8 Millionen. Der Fortschritt der Technik macht die Pferdetramway bald obsolet. Schon seit langem spielte man mit dem Gedanken, die Eisenbahn als städtisches Verkehrsmittel zu verwenden. Mit der Errichtung des Gürtels und der Überdeckung des Wienflusses kann dieser Plan jetzt Wirklichkeit werden. A m 9. Mai 1898 eröffnet Franz Joseph die erste Stadtbahnlinie (Wiental—Gürtel). Der Bau der Stadtbahn erfolgt nahezu zeitgleich mit der Errichtung der Metro in mehreren anderen europäischen Hauptstädten (Budapest, Paris, London). Aber während Paris den unterirdischen Weg bevorzugt, verkehrt die Stadtbahn ober der Erde. 1 5 4 : Die Donaumetropole (1815-1914)
E I N E VIELFÄLTIGE BEVÖLKERUNG
Die Erweiterung der Stadtgrenzen erklärt sich, wie wir gesehen haben, weitgehend durch das ständige Anwachsen der Bevölkerung. 1800 zählt Wien 231.000 Einwohner, 1820 sind es 260.224,1840 356.869,1869 607.514, nach der Eingliederung der Vorstädte 1.364.548,1900 1.674.957 und 1910 2.031.498. Das zunächst relativ langsame Wachstum wird ab 1820 zunehmend rascher (1820-1840: 37 Prozent; 1840-1860: 30,4 Prozent, 1860-1890: 35,5 Prozent). Diese Progression hält bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges an, auch wenn Ende des 19. Jahrhunderts eine Verlangsamung eintritt. Zumindest bis zur Mitte des Jahrhunderts ist das Wachstum nicht auf eine steigende Zahl von Geburten zurückzufuhren. Erst in den 50er Jahren weist das natürliche Wachstum einen soliden positiven Wert auf. 1782 betrug die Geburtenrate 46,3 Prozent gegenüber einer Sterberate von 54,1 Prozent. Dank eines beträchtlichen Rückgangs der Sterberate verringert sich der Abstand in der Folge, aber erst 1850 kommt es zu einer Trendumkehr. Bis 1890 beträgt der Geburtenüberhang gegenüber den Todesfällen jährlich durchschnitdich etwa ein Prozent. In den letzten Jahrzehnten des Beobachtungszeitraumes zeichnet sich jedoch mit einem Rückgang der Geburtenrate von 39,7 auf 20,4 Prozent zwischen 1881 und 1910 eine Trendumkehr ab, wobei sich die natürliche Wachstumsrate bei 0,5 Prozent einpendelt. Die Zunahme der Wiener Bevölkerung resultiert in erster Linie aus dem seit Jahrhunderten anhaltenden stetigen Zustrom von Zuwanderern in die Hauptstadt, der langfristig gesehen die Zusammensetzung der Bevölkerung verändert. Dieses bereits bekannte Phänomen erhält eine neue Dimension, als sich zum Prestige der kaiserlichen Hauptstadt nun offenkundig günstige Arbeitsmarktbedingungen gesellen. Verstärkt wird dieser Trend durch den Bau der Eisenbahnlinien, deren Netz bald eine direkte Verbindung zum Herz der Monarchie schaffen. Die Statistiken bestätigen die Auswirkungen dieses Phänomens. 1800 waren 90 Prozent der Wiener in ihrer Stadt geboren; 1830 liegt dieser Prozentsatz nur mehr bei 70 Prozent; 1880 fällt er auf 38 Prozent. Diese Zuwanderungsbewegung erfolgt nicht im gleichen Ausmaß aus allen Teilen der Monarchie. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts zeichnen sich Tendenzen ab, die sich im wesentlichen bis 1914 fortsetzen sollten. Das Wachstum Wiens ist vor allem auf dem Zuzug aus Niederösterreich - d. h. der näheren Umgebung der Hauptstadt - , aus Böhmen und Mähren sowie schließlich aus Süddeutschland zurückzufuhren, wobei der Zustrom aus letztgenanntem Raum infolge des Bruches nach Königgrätz allmählich versiegt. 1890 sind nur mehr 1,9 Prozent der Wiener Bevölkerung Deutsche aus dem Reich gegenüber 4,9 Prozent im Jahre 1857. Der Migrationsstrom aus Niederösterreich und den Ländern des Krone des hl. Wenzel hingegen hält an. 1880 stammen 155.379 Wiener aus Niederösterreich und 378.000 aus den Ländern des Königreiches Böhmen. Ein nicht unerheblicher Teil der
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Zuwanderer nach Wien stammt aus Ungarn, wobei es sich allerdings weniger um Magyaren als um Deutsche und Juden handelt; 1857 stellen sie 5 Prozent der Wiener Bevölkerung, und ihr Anteil steigt bis zum Ende des Jahrhunderts auf 7,4 Prozent. Der Trend beginnt sich dann zweifellos umzukehren, und der Anteil der in ihrer Stadt geborenen Wiener steigt auf 48,8 Prozent. Aber trotz einer einsetzenden Verlangsamung der Migrationsbewegung kommen noch immer 11,1 Prozent der in Wien lebenden Bevölkerung aus Niederösterreich und 23 Prozent aus Böhmen, Mähren oder Schlesien. Umgekehrt spielen die Alpengebiete nur eine marginale Rolle (Tirol: 0,3 Prozent, Salzburg 0,2 Prozent, Steiermark 1,4 Prozent, Kärnten 0,4 Prozent und Krain 0,2 Prozent). Der Anteil der Südslawen, Ruthenen und Rumänen ist noch geringer. Relativ stark vertreten hingegen sind das gesamte Jahrhundert hindurch die Italiener. Auch aus Polen ist ein stetiger Zustrom nach Wien zu verzeichnen: Wenn nach offiziellen Angaben 1910 2,3 Prozent der Wiener aus Galizien stammen, so ist dieser Prozentsatz allerdings vor allem auf die Juden aus den Ghettos dieser weit entfernten Provinz zurückzufuhren, die - von der Not getrieben — dem trügerischen Schein Wiens erliegen. In noch stärkerem Ausmaß als früher zieht es Menschen unterschiedlichster Herkunft nach Wien. Dieses Phänomen wirkt sich sowohl auf die demographische als auch die Berufsstruktur der Wiener Gesellschaft aus. Wie in der Vergangenheit geht der Integrationsprozeß allerdings nicht reibungslos vor sich und ist oft mit Enttäuschungen verbunden. Aber diese Migrationsbewegung hat noch andere Auswirkungen. Die vielfältigen Beiträge sind eine unerhörte Bereicherung des kulturellen und intellektuellen Lebens. Z u den Schriftstellern, Künsdern und Wissenschaftlern, deren Namen heute mit Wien verbunden ist, zählen viele, die nicht in Wien geboren wurden: Hermann Bahr, Theodor Herzl, Josef Hoffmann, Oskar Kokoschka, Adolf Loos, Gustav Mahler, Sigmund Freud und viele andere. Das wachsende Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen ist ein weiteres Charakteristikum. Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern liegt 1869 bei 1.000 :1.007, !88O bei 1.000 :1.036 und 1910 bei 1.000 :1.078. Auch wenn es sich dabei um ein allgemeines Phänomen handelt, sind Frauen in einigen Stadtteilen, vor allem im 1. und 9. Bezirk, wo es viele weibliche Hausangestellte gibt, besonders überproportional vertreten. Charakteristisch für die Wiener Bevölkerung ist auch eine große Mobilität, die in den letzten Jahrzehnten des Beobachtungszeitraumes besonders deutlich zutage tritt. Im Verlauf eines Jahres übersiedelt fast jeder dritte Haushalt; über einen Zeitraum von zehn Jahren betrachtet, sind nur 13 Prozent der Bevölkerung nicht übersiedelt. Diese Prozentsätze müssen in Relation zur Migrationsbewegung gesehen werden: In der Regel brauchen Neuankömmlinge einige Zwischenstationen, bis sie sich endgültig niederlassen. Die oft dramatisch schlechten Wohnbedingungen verstärken diese Mobilität. 1 5 6 : Die Donaumetropole (1815-1914)
DIE TSCHECHEN
Besondere Erwähnung unter jenen Gruppen, die im Zuge der Migrationsbewegung nach Wien kommen, verdienen die Tschechen. Die flir die Länder des Königreiches Böhmen angegebenen Zahlen und Prozentsätze umfassen sowohl Tschechen als auch Deutsche. Diese Migration setzt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein, beschleunigt sich während der Zeit des Vormärzes und verharrt schließlich das gesamte Jahrhundert hindurch auf einem gleichbleibend hohen Niveau. Die Volkszählung des Jahres 1910 zeigt, daß 467.158 Wiener in Böhmen oder Mähren geboren wurden. Bei diesem Zuzug aus Böhmen und Mähren nach Wien überwiegen bis in die 60er und 70er Jahre des 19. Jahrhunderts die Deutschen, dann kehrt sich dieser Trend um. Im letzten Drittel des Jahrhunderts stammen die meisten Auswanderer aus tschechischen Gebieten. Die Volkszählung 1890 unterstreicht die Tragweite dieser Zuwanderungsbewegung: Nicht weniger als 244.586 Wiener, d. h. mehr als 18 Prozent, bezeichnen sich als tschechischer Herkunft. Diese an sich schon hohe Zahl ist zweifellos noch zu niedrig gegriffen, da die Saisonarbeiter, die vor allem im Baugewerbe ein große Rolle spielen, dabei nicht mitberücksichtigt sind. Auf der anderen Seite kehren einige dieser erst jüngst eingebürgerten Wiener, nachdem sie etwas Geld angespart haben, wieder in ihr Land zurück. Diese Beschleunigung der tschechischen Migrationsbewegung Richtung Wien läßt sich hauptsächlich aus dem Bedarf an Arbeitskräften erklären, der sich durch die Verwirklichung des großen Bauprogramms ab 1857 und durch die Entwicklung der Industrien in der Hauptstadt ergab. Auch hier wird der Zustrom durch die kleiner werdenden Distanzen infolge der Eröffnung von Eisenbahnlinien zwischen Böhmen/Mähren und dem Zentrum der Monarchie erleichtert. Die meisten Tschechen, die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Wien ansiedeln, stammen aus Südböhmen oder Mähren, d. h. aus überwiegend landwirtschaftlichen Gebieten, in denen die Anziehungskraft der kaiserlichen Hauptstadt voll zum Tragen kommt, vor allem als der Preisverfall bei Getreide und Zucker - ihren Hauptprodukten - in den 70er Jahren eine Krise auslöst. Der vorwiegend an Prag und den Industriegebieten im Norden orientierte Rest Böhmens wird von dieser Migrationsbewegung hingegen kaum erfaßt. Um die Jahrhundertwende nimmt indes auch der Zustrom aus Südböhmen ab, das zunehmend in den Bannkreis von Prag kommt. In Hinkunft überwiegen die Zuwanderer aus Mähren, wo die Anziehungskraft von Brünn nicht mit jener von Prag für Böhmen vergleichbar ist. Die tschechische Bevölkerung, die hauptsächlich aus dem bäuerlichen und handwerklichen Milieu kommt, gehört zu den unteren Schichten der Wiener Gesellschaft. Die Frauen sind meist Dienstmägde oder Hausangestellte, einige aber sind auch auf den großen Baustellen auf der Ringstraße beschäftigt. Gleiches gilt für die Mensch und Raum : I 5 7
Männer, die überwiegend in der Industrie oder im Handwerk tätig sind. Am Vorabend des Krieges sind drei Viertel der in Wien lebenden Tschechen in diesen Sektoren beschäftigt, während der entsprechende Anteil unter der deutschsprachigen Bevölkerung auf 46 Prozent zurückgeht. Vor allem die Textil- und die Lederbranche profitieren von diesen Zuwanderern; der tschechische Flickschuster oder Schneider sind den Wienern vertraute Figuren. Auch als Maurer und Hilfsarbeiter sind die Tschechen zahlreich auf den Baustellen anzutreffen, die das Antlitz Wiens verändern. Entsprechend dieser sozialen Struktur siedeln sich die Tschechen vorzugsweise in Bezirken mit einer starken Konzentration von Arbeitern an, ausgenommen die Hausangestellten, die üblicherweise im Haus der Familie wohnen, bei der sie angestellt sind. Der Volkszählung von 1910 zufolge sind 15 Prozent der Bevölkerung im 10. Bezirk (Favoriten) und 11,5 Prozent der Bewohner des 20. Bezirks (Brigittenau) Tschechen. Trotz ihres zahlenmäßigen Gewichts widerstehen die Tschechen Wiens nur schwer dem Assimilationsprozeß, dem die aufeinanderfolgenden Wellen von Einwanderern zunehmend unterworfen sind. O f t auf Initiative böhmischer Adliger werden tschechische Schulen errichtet. Dies ist vor allem auch das Ziel der 1872 gegründeten Komensky Gesellschaft. Die Ergebnisse stehen allerdings in keinem Vergleich zu den Anstrengungen: 1910 werden von 13.048 schulpflichtigen tschechischen Kindern nur 940 in ihrer Nationalsprache unterrichtet. Das wachsende Unbehagen unter der deutschsprachigen Bevölkerung trägt darüber hinaus nicht unbedingt zu einem günstigen Klima bei. Das Kolisko-Gesetz, wodurch Deutsch als einzige Unterrichtssprache in Niederösterreich und Wien anerkannt wird, hemmt die Verbreitung eines privaten Tschechisch-Unterrichts. Auch die Zeit arbeitet für die Politik der Behörden: In einem fremdsprachigen Umfeld ist es fiir eine Minderheit auf die Dauer schwierig, die eigene nationale Identität zu bewahren. Die verschiedenen Initiativen zur Verteidigung der tschechischen Kultur können die Integration bestenfalls verlangsamen. Während sich 1890 244.586 Wiener als tschechischer Herkunft bezeichnen, geben nur 61.257 von ihnen (d. h. 4,7 Prozent der Bevölkerung der Hauptstadt) an, Tschechisch noch als Umgangssprache zu verwenden. 1900 ist mit 102.974 tschechischsprachigen Wienern, d. s. 6 Prozent, zwar ein leichter Anstieg zu verzeichnen, die Volkszählung 1910 aber weist wieder einen Rückgang auf 98.451 bzw. 4,9 Prozent aus. Dieser Trend beschleunigt sich nach 1918, als ein beträchtlicher Teil der Tschechen in ihre Heimat zurückkehrt. Die Bedeutung des tschechischen Elements ist auch heute noch zu erkennen; ein Blick auf die Firmenschilder oder in das amtliche Telefonbuch genügt. Eine Untersuchung aus dem Jahre 1965 zeigt, daß ein gutes Viertel der Wiener einen Namen tschechischer Herkunft trägt, ein Prozentsatz, der dem Ausspruch „Jeder Weana hat mindestens a bemische Großmutter" gewisse Glaubwürdigkeit verleiht. 158 : Die Donaumetropole (1815-1914)
Orthodoxe Juden am Karmeliterplatz im Jahre 1915
Mensch und Raum : I 5 9
DIE JUDEN
Die Existenz einer starken jüdischen Gemeinde ist ein weiteres Charakteristikum des Lebens in Wien. Die Wiener Juden haben eine lange, bewegte und bisweilen tragische Geschichte hinter sich. Seit dem Mittelalter in der Stadt ansässig, standen sie häufig unter dem Schutz der Fürsten, die dafiir finanzielle Gegenleistungen erhielten. Es war dies indes ein unsicherer Gunstbeweis, konnte diese Gnade doch jederzeit widerrufen werden. Die Geschichte der Wiener Juden ist auch eine Geschichte der Massaker und der Vertreibungen. 1421 vertreibt Albrecht V. sie aus der Stadt und läßt mehr als 200 von ihnen verbrennen. Aber schon bald bildet sich eine neue Gemeinde. Zwei Jahrhunderte später werden die Juden Wiens nach dem Vorbild Venedigs in einem Ghetto außerhalb der Stadtmauern angesiedelt. 1670 vertreibt Leopold I. nach einem Brand der Hofburg, für den sie verantwortlich gemacht werden, 3.000 Juden aus seiner Hauptstadt. Der Name Leopoldstadt, den jene Vorstadt, in der die meisten von ihnen gelebt hatten, als Zeichen der Dankbarkeit erhielt, erinnert noch heute daran. 1675 jedoch erhalten erneut 250 Familien die Erlaubnis, sich in Wien anzusiedeln, während der Bankier Samuel Oppenheimer die Kriege Leopolds finanziert. Mit dem am 2. Januar 1782 von Josef II. erlassenen Toleranzpatent beginnt die rechtliche Integration der Juden in die Wiener Gesellschaft. Vor Abschluß dieses Prozesses durchläuft dieser aber noch einige Stadien. 1815 dürfen sich nur die sogenannten „tolerierten" Juden und ihre Glaubensbrüder aus dem Osmanischen Reich frei in Wien niederlassen. Die übrigen in Wien ansässigen Juden sind zur Leistung einer Sondersteuer verpflichtet. Noch ist die Gemeinde sehr schwach und zählt höchstens einige hundert Menschen. Zur Zeit des Vormärz setzt eine Zuwanderungsbewegung ein, die jedoch verglichen mit den jüdischen Gemeinden in Prag, Preßburg oder Budapest nur bescheidene Ausmaße aufweist. 1848 leben etwa 4.000 Juden in Wien, d. h. ein Prozent der Bevölkerung, von denen allerdings nur 197 „toleriert" sind, was die konterrevolutionären Kreise jedoch nicht daran hindert, antisemitische Töne anzuschlagen. Die durch die Revolution erreichte Abschaffung der Judensteuer verstärkt die Migrationsbewegung in Richtung Wien. Der Erlaß vom 18. Februar 1860, mit dem Juden der Grunderwerb gestattet wird, wirkt sich ebenfalls positiv aus. In der Dezemberverfassung 1867 schließlich wird ihre Gleichstellung mit den übrigen Untertanen der österreichischen Monarchie verankert. Nun setzt ein rascher Aufstieg ein. 1857 zählt die jüdische Gemeinde in Wien 6.217 Mitglieder, 1857 sind es 40.230 und 1880 bereits 72.588, d. h. 1,3 Prozent, 6,i Prozent resp. 10,06 Prozent der Bevölkerung. Zehn Jahre später stellen die Juden mit 99.444 Personen 12 Prozent der Bevölkerung; mit der Ausweitung des Ge-
160 : Die Donaumetropole (1815-1914)
meindegebietes auf die Vororte, in denen deudich weniger Juden leben, fällt ihr Anteil wieder auf 8,69 Prozent zurück. Danach wächst die jüdische Bevölkerung kontinuierlich und erreicht 1910 eine Gesamtzahl von 175.294, der relative Anteil hingegen bleibt stabil (8,77 Prozent im Jahre 1900 bzw. 8,6 Prozent im Jahre 1910). Wie hoch diese Zahlen auch sein mögen, stellen sie für das Mitteleuropa jener Zeit keine Besonderheit dar, abgesehen davon, daß sie noch deutlich unter jenen in den anderen großen Städten der Monarchie liegen: Mit einem Anteil von etwa 10 Prozent der Gesamtbevölkerung ist die Situation in Prag jener in Wien vergleichbar; in Budapest aber stellen die Juden Anfang des 20. Jahrhunderts 23 Prozent der Bevölkerung, in Krakau und Lemberg sind es 28 Prozent und in Czernowitz 32 Prozent. Der Zuwandererstrom in Richtung Wien kommt nach der Revolution von 1848 im wesentlichen aus zwei Quellen. 1857 stammen 25 Prozent der in Wien lebenden Juden aus Ungarn, etwa ein Fünftel kommt aus Preßburg. Der Zuzug aus Mähren beträgt zu dieser Zeit 15 Prozent, zu dem noch die 4 Prozent aus Böhmen kommenden Juden hinzugerechnet werden können. Die verstärkte Zuwanderung bringt keine grundsätzliche Änderung. Der Prozentsatz der aus Ungarn stammenden Juden bleibt weiterhin hoch: 1880 stammen 27,8 Prozent der Wiener Juden aus Ungarn. Bei der Zuwanderung aus Mähren und Böhmen kommt es zu dieser Zeit mit 12,9 bzw. 9,7 Prozent zu einer gewissen Angleichung. Am Ende des Beobachtungszeitraumes zeichnet sich ein neues Phänomen ab: der starke Zuzug aus den östlichen Gebieten, aus Galizien und der Bukowina. Die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten innerhalb der jüdischen Gesellschaft in Wien tragen an sich nicht zu einer Einigung bei. Die Gegebenheiten des städtischen Lebens aber bewirken eine Verringerung der Unterschiede und fördern eine Integration der Juden in ihr Umfeld. Die Juden aus Galizien und später der Bukowina aber bieten ein ganz anderes Bild. Diese sehr religiösen Juden bringen eine Mentalität und Gewohnheiten mit nach Wien, die ganz anders sind als jene der Mehrheit der bereits in der Hauptstadt ansässigen Juden, und ihre Integration ist daher wesentlich schwieriger; sie bleiben meist ein oder zwei Generationen lang am Rande der in Wien bereits eingewurzelten jüdischen Gesellschaft. Notgedrungen wurden die verschiedenen Geldgeschäfte lange Zeit nur von Juden ausgeübt. Obwohl ihnen allmählich die meisten Berufe offenstehen, sind die Auswirkungen der Vergangenheit noch weiterhin spürbar. Das gesamte 19. Jahrhundert sind sie überwiegend im Handel tätig, obwohl der Prozentsatz stetig zurückgeht: Er fällt von 58,5 Prozent der aktiven jüdischen Bevölkerung im Jahre 1870 auf 33,3 Prozent im Jahre 1910. Auch bei den Handwerkern, unter denen die Juden traditionell stark vertreten waren, ist ein beträchtlicher Rückgang von 19,4 auf 8 Prozent zu beobachten. Die Zahl der in der Industrie tätigen Juden bleibt gering, wohingegen es immer mehr Angestellte gibt: Hier ist mit einem Anstieg von 2,8 auf 35,2 Prozent ein spektakulärer Zuwachs zu verzeichnen. Mensch und Raum : 1 6 1
Bei den freien Berufen ist die Situation von Stabilität gekennzeichnet. Die Juden sind hier mit n Prozent vertreten (ihr Anteil bleibt zwischen 1870 und 1910 unverändert), in manchen Sparten aber überwiegt ihr Einfluß bei weitem ihr Gewicht in der Gesamtbevölkerung: So sind 1881 61 Prozent der Wiener Ärzte jüdischer Abstammung; 1868 sind von 631 Advokaten 394 Juden. Die Tatsache, daß sich die meisten jüdischen Studenten fiir ein Jus- oder Medizinstudium an der Wiener Universität entscheiden, bereitet sie offenkundig für diese Berufslaufbahn vor; so ist die Universität ein weiterer Sektor, in dem mit einem Prozentsatz, der bei etwa einem Drittel der Gesamtstudentenzahl liegt, eine jüdische „Uberrepräsentation" beobachtet werden kann. Die Wiener Juden verteilen sich nicht gleichmäßig über den gesamten Ballungsraum. Sie sind zwar in allen Stadtteilen vertreten, haben aber dennoch eine Vorliebe fiir bestimmte Bezirke. Am höchsten ist ihre Siedlungsdichte im Bezirk Leopoldstadt. Hier knüpfen die Juden an ihre Vergangenheit an. Als es jüdischen Familien nach der Landesverweisung von 1670 wieder gestattet wurde, sich in Wien anzusiedeln, kehrten viele von ihnen wieder hierher zurück, was in der Folge die Ansiedlung weiterer Juden nach sich zog. Neuankömmlinge lassen sich natürlich vorzugsweise in jenem Stadtteil nieder, wo bereits eine Gemeinde ihrer Glaubensbrüder besteht. Insgesamt gesehen lebt etwas mehr als die Hälfte der Wiener Juden in der Leopoldstadt, wo sie etwa 30 Prozent der Bevölkerung stellen. Hier wachsen unter anderen auch Sigmund Freud und Arnold Schönberg auf. Den Stellenwert dieses Phänomens zeigt auch die Errichtung einer ganzen Reihe von Synagogen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Von den anderen Zentrumsbezirken, namentlich jenen entlang des Donaukanals, gibt es vor allem im 1. Bezirk und am Aisergrund zahlreiche Juden. Die Judengasse im 1. Bezirk ist nicht bloß eine Erinnerung an die Geschichte. Ein weiteres Zeichen ihrer Einwurzelung ist die starke Vertretung der Juden unter der Ringstraßengesellschaft. Die jüdische Elite konnte in diesem Stadtteil entsprechend ihrem Reichtum und ihres Einflusses ihre Stellung bestätigen. Die Gesellschaft in der Umgebung der Stadt ist eine ganz andere. Lange Zeit hindurch leben nur wenige Juden in den Vororten, was sich allerdings mit dem Zuzug der galizischen Juden ändert. Diese meist armen Zuwanderer, die an ihren religiösen Ritualen festhalten, siedeln sich vor allem in den Randbezirken wie Brigittenau, Ottakring oder Hernais an. Die Grenze ist dabei allerdings nicht scharf gezogen. So manchen galizischen Juden gelingt ein Aufstieg in der sozialen Hierarchie. Zeugnis dafür sind etwa der Erfolg von Carl Menger, dem international bekannten Ökonomen, oder von Moritz Szeps, einem der Granden der Wiener Presse. Dieser Trend zeigt aber dennoch die zweifache Schwierigkeit für diese Neuankömmlinge, nämlich sich sowohl in das Wiener Milieu als auch in die bereits assimilierten Schichten der jüdischen Gesellschaft zu integrieren.
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Im Laufe eines Jahrhunderts ist Wien also beträchtlich gewachsen. Zwischen 1815 und 1914 hat sich seine Bevölkerung von 238.000 auf 2.059.000 Einwohner nahezu verzehnfacht, und die räumliche Ausweitung ist nicht weniger spektakulär zunächst auf 134 Hektar begrenzt, umfaßt das Gemeindegebiet 1914 273 km 1 . Auch die Wiener Bevölkerung erfuhr sowohl in nationaler als auch in sozialer Hinsicht eine Neuzusammensetzung. Ein weiteres wichtiges Element ist die räumliche Gliederung: Neben den beiden halbkreisförmigen Hauptverkehrsadern, deren Streckenfuhrung das Gemeindegebiet in drei Einheiten mit klaren Grenzen teilt, wird die Besiedlung des Raumes durch die Industrialisierung geprägt, die der Entwicklung vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Stempel aufdrückt. Wien entwickelt sich in einem Rhythmus, der sowohl Permanenz als auch Bewegung umfaßt. Verglichen mit London oder Paris erlebte Wien, wie der amerikanische Historiker Donald Olsen betont, weniger tiefgreifende Umwälzungen. 17 Ein Untertan Maria Theresias hätte nicht allzu große Schwierigkeiten, sich ein Jahrhundert später, im Wien Kaiser Franz Josephs, zurechtzufinden. Trotz der Ausweitung des Stadtgebietes und neuer Verwaltungseinheiten, bleibt das Viertel eine vertraute Realität; hier lebt die Erinnerung an die alten Gemeinden und Pfarrsprengel fort, hier bleiben Traditionen und Beziehungen gewahrt. Die Vergangenheit lebt auch in den Grünzonen weiter, die selbst in den Vororten erhalten bleiben; sogar einige Gebiete, die dem Gemüseanbau vorbehalten sind, bleiben von der Urbanisierung verschont. Einige Vororte bewahren sich darüber hinaus ihren ländlichen Aspekt. Bis zur Mitte des Jahrhunderts ist der zukünftige Bezirk Favoriten nur sehr dünn besiedelt; 1860 ist Simmering lediglich ein bescheidenes Dorf. Sobald die Urbanisierung diese Gegenden erreicht, geht die Veränderung indes rasch vor sich. Innerhalb weniger Jahre entstehen dort Häuserzeilen, in denen die Arbeiterbevölkerung eingepfercht wird. Dieses Phänomen beschränkt sich allerdings nicht nur auf die Vororte, sondern ist auch in den alten Vorstädten zu beobachten, wo sich in der Folge die ursprüngliche Struktur ändert. In dem bei Adel und Bürgertum als Wohngegend gleichermaßen geschätzten Bezirk Landstraße siedeln sich Botschaften an, aber auch das Handwerk hat hier eine lange Tradition. Im 18. Jahrhundert werden dort Manufakturen errichtet; es ist die Zeit der neuen Industrien. Ein anderes Beispiel ist der Bezirk Margareten: Einst eine Bastion des Kleinbürgertums, ändert sich sein Aussehen, als Arbeiter gegen Ende des Jahrhunderts beginnen, sich hier anzusiedeln. Diese Bezirke mit heterogener Struktur bilden einen Ubergang zu den ehemaligen Vororten, die überwiegend von Arbeitern bewohnt werden. Die dem Gemeindegebiet 1890 eingegliederten Vororte bilden keine kompakte Einheit. Neben reinen Arbeiterbezirken (Favoriten, Simmering, Brigittenau) gibt es andere Bezirke mit gemischter Bevölkerung (Ottakring, Meidling, Fünfhaus, Hernais). Es gibt sogar vornehme Wohngegenden in diesen Vororten, wie etwa den an Schloß SchönMensch und Raum : I 6 3
brunn angrenzenden 13. Bezirk (Hietzing). Seit dem 18. Jahrhundert ließen sich adelige und bürgerliche Familien in den zukünftigen Bezirken Währing (18. Bezirk) und Döbling (19. Bezirk) Wohnhäuser errichten. Sie machten es sich zur Gewohnheit, den Sommer in diesen noch ländlichen Gegenden mit Weingärten und Wäldern zu verbringen. Ende des 19. Jahrhunderts beginnt man sich - nun in stattlichen Villen - auf Dauer dort anzusiedeln. Was vor Abbruch der Befestigungsanlagen galt, hat auch fünfzig Jahre später noch weitgehend Gültigkeit. Als Beweis für das Zusammenspiel aus Permanenz und Bewegung erfolgt der Übergang zwischen den verschiedenen Bereichen des Ballungsraumes nicht in Form eines brutalen Bruches, sondern gewissermaßen fließend. Die Beziehungen untereinander sind eher eine Frage der Deutung und der Verbundenheit als der fehlenden Kontinuität. Insgesamt gesehen haben diese Bereiche dennoch unterschiedliche Strukturen. Aufschlußreich ist ein Blick auf die sozioberufliche Zusammensetzung: Hier zeigt sich ein großer Unterschied zwischen dem Stadtzentrum und den Randgebieten; während die Arbeiter Anfang des 20. Jahrhunderts nur ein Fünftel der Einwohner des 1. Bezirks ausmachen, liegt ihr Anteil in den ehemaligen Vororten bei 40 bis 47 Prozent. Ein weiteres Charakteristikum des Stadtzentrums ist, daß dort lediglich 9 Prozent der Bevölkerung unter 14 Jahre alt ist, während diese Altersstufe etwa ein Drittel der Bevölkerung in den neuen Bezirken ausmacht. Dieser Unterschied enthält einen Hinweis auf das Alter der Einwanderer, die sich in diesen Bezirken niedergelassen haben: Sie kommen noch jung, etwa mit 20 Jahren, in die Stadt, was zur Folge hat, daß diese Bezirke hohe Geburtenraten zwischen 30 und 35 Promille aufweisen. Diese Unterschiede und Kontraste beleuchten nicht nur die Vielfalt der Wiener Gesellschaft. Auch wenn sie offenkundig nicht deren zwangsläufiges Resultat sind, zeigen sie doch zumindest teilweise die unterschiedlichen Funktionen für die Abgrenzung der Rahmenbedingungen auf, innerhalb welcher sich die Entwicklung der Stadt vollzieht.
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Kapitel 6: Das Herz des monarchischen Systems
Seit den Zeiten der Babenberger hat sich Wien ohne Unterbrechung als Zentrum der politischen Macht behaupten können. Dank dieser Funktion ist die Stadt im Laufe der Jahrhunderte gewachsen, hat sich weiterentwickelt und ihren Einfluß auf ganz Mitteleuropa ausgedehnt. Andere Städte steigen in den Rang einer Hauptstadt auf. Seit Beginn des Dualismus konkurriert Budapest, das Anfang des Jahrhunderts die Schallmauer von einer Million Einwohnern durchbricht, mit Wien. 1892 räumt ein k. u. k. Erlaß der Stadt sogar den Rang einer Haupt- und königlichen Residenzstadt ein, sie ist Wien somit gleichgestellt. Im Grunde hielt sich Franz Joseph schon seit langem immer dort auf, wenn konstitutionelle Verpflichtungen ihn nach Ungarn riefen. Ebenfalls schon sehr bald macht Franz Joseph es sich zur Gewohnheit, den Großteil der Sommermonate im Herzen der oberösterreichischen Alpen zu verbringen. Z u diesen Ortsveränderungen kommen noch die jährlichen Manöver hinzu, denen er sich in seiner Eigenschaft als Oberkommandierender der Streitkräfte verpflichtet fühlt beizuwohnen. Trotz dieser im Vergleich zu früheren Regierungen zweifellos häufigeren Abwesenheiten, bleibt Wien - abwechselnd die Hofburg und Schönbrunn - die bedeutendste Residenz des Kaisers. Selbst nach der Wende von 1867 bewahrt es seinen Rang als Hauptstadt der Monarchie. Auch wenn Budapest zum Sitz der ungarischen Regierung wird, beherbergt Wien neben der österreichischen Regierung auch die gemeinsamen Ministerien und den zentralen Verwaltungsapparat. Bezeichnend ist darüber hinaus, daß die ausländischen Staaten ihre Botschaften in Wien unterhalten.
Das Herz des monarchischen Systems : I 65
D I E R E S I D E N Z DES K A I S E R S , DES E R S T E N B E A M T E N DES R E I C H E S
Auf den ersten Blick scheint Franz I. nicht der Definition eines absoluten Herrschers zu entsprechen. Man denkt sofort an Metternichs Einfluß, der von 1809 bis 1848 die Geschicke der österreichischen Diplomatie lenkt. Zudem ist der Absolutismus stark durch Trägheit gemäßigt, d. h. jene für das Osterreich des Vormärzes so oft charakteristische Ineffizienz. Und dennoch fällt Metternich nicht einmal in der Außenpolitik wichtige Entscheidungen ohne die vorhergehende Einwilligung seines Herrn. A fortiori wacht Franz in der Innenpolitik eifersüchtig über seiner Autorität und ist nicht gewillt, den Staatsbeamten die Zügel zu lockern. Wie einst Josef II. widmet er den Großteil seiner Zeit der Arbeit und vertieft sich in die Lektüre der Akten, die er bis in kleinste Details bearbeitet. Ferdinand I. (1835-1848) war zu einer derartigen Konzentration weit weniger in der Lage. Durch geistige wie körperliche Unzulänglichkeiten geschwächt, ist er außerstande, seine Funktion als Herrscher auszuüben. Lediglich die Sorge, das Prinzip der Legitimität nicht zu erschüttern, hielt Franz davon ab, die Erbfolge zu verändern, und so wurde die monarchische Macht während der Regierungszeit dieses armen Behinderten zu einer Fiktion. Bei Franz Joseph, dem jungen, vor Gesundheit und Vitalität strotzenden Fürsten, droht diese Gefahr nicht. Seine Regierungszeit ist von Beginn an durch die Rückkehr zur früheren Praxis gekennzeichnet. Im Geiste des Neoabsolutismus aber beschränkt Franz Joseph sich nicht auf die Wiederherstellung der monarchischen Gewalt, er interpretiert diese vielmehr oft in einem Sinne, der an Autokratie grenzt. Er verurteilt sogar Züge, für die sein Großvater beispielhaft war. Außer Fürst Schwarzenberg kann sich keiner seiner Minister in den allerersten Jahren seiner Regierung einen Einfluß sichern, der jenem von Metternich bei Franz I. gleichgekommen wäre. Franz Joseph verlangt von seinen Ministern, getreu seinen Willen auszufuhren. Wenn die Amtsträger fachspezifischerer Aufgabenbereiche über einen gewissen Handlungsspielraum verfugen, so trifft dies ausnahmslos nur auf Personen zu, die für sensible Posten verantwortlich sind. Der Ubergang vom Neoabsolutismus zur konstitutionellen Ära hätte weitreichende Veränderungen mit sich bringen können. Die verschiedenen Verfassungen, vor allem die Dezemberverfassung von 1867, schränken die kaiserlichen Vorrechte ein. Dennoch schlüpft Franz Joseph mit einer Leichtigkeit in seine Aufgabe als konstitutioneller Monarch, die aus seinen früheren Entscheidungen nicht zu ersehen war. Außerdem erkennt er rasch, daß er weiterhin die Mittel in der Hand hält, Spielmacher zu bleiben. Die Dezembergesetze haben kein parlamentarisches System nach englischem Vorbild installiert; die Minister sind weiter in erster Linie Diener des Kaisers; im neuen Verfassungssystem bleibt dem Herrscher zudem die Kontrolle über jene Bereiche, die er gemäß der monarchischen Tradition für 166 : Die Donaumetropole (1815-1914)
Kaiser Franz Joseph in seinem Arbeitszimmer in Schönbrunn
Hofburg um 1820
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grundsätzlich erachtet: die Außenpolitik und die Verteidigung; weiters trägt die immer stärkere Lähmung der parlamentarischen Institutionen gegen Ende der Regierungszeit dazu bei, das Machtzentrum noch stärker auf die Person des Monarchen zu konzentrieren. Die neue Verfassung veranlaßt Franz Joseph also nicht, seine Gewohnheiten zu ändern, die er während seiner gesamten Regierungszeit unverändert beibehält. Von der Thronbesteigung an ist das Verhaltensmuster festgeschrieben. In einem Brief an Metternich unterstreicht Schwarzenberg voll Begeisterung, daß der junge Kaiser täglich mindestens zehn Stunden pro Tag arbeitet. In der Folge schwächt sich dieser Arbeitseifer keineswegs ab, ja er wird zu Franz Josephs zweiter Natur. Um diesen Rhythmus beibehalten zu können, läßt sich der Kaiser schon um vier Uhr morgens wecken. Eine Stunde später läßt er sich in seinem Arbeitszimmer nieder, wo ihn die von seinem zivilen Kabinett und von der Militärkanzlei vorbereiteten Akten erwarten. Zunächst liest er die Korrespondenz des Außenministeriums. Ihm liegt auch eine Liste mit Geburtstagsgrüßen, Glückwünschen und Kondolenzschreiben zur Beantwortung vor, wobei die Texte für die Telegramme vorbereitet sind, nicht selten kommt es jedoch vor, daß er diese korrigiert oder gänzlich neu formuliert. Ein karges Frühstück lenkt ihn kaum von seiner Aufgabe ab. Gegen halb acht Uhr läutet er dem diensthabenden Adjutanten und übergibt diesem die Mappe mit den gerade bearbeiteten Akten. Nun beginnt die Zeit der Audienzen. Ais erster wird der Chef der Militärkanzlei empfangen; diesem folgt der Leiter des zivilen Kabinetts, dann die Minister. Vollkommene Pünkdichkeit regelt dieses Ballett. Wehe dem, der sich nicht zur festgesetzten Zeit einfindet! Zweimal wöchendich wird dieses Programm abgewandelt, um Zeit für die allgemeinen Audienzen zu schaffen. Hier nimmt Franz Joseph eine Gewohnheit seines Großvaters wieder auf, der Mittwoch vormittags bis zu zweihundert Personen empfing. Im Prinzip kann sich jeder Untertan bei dieser Gelegenheit dem Kaiser nähern; tatsächlich trifft der Leiter des zivilen Kabinetts jedoch unter den Anfragen eine Auswahl. Franz Joseph empfängt auf diese Weise an die hundert Personen. Um mit den Kräften des alten Monarchen hauszuhalten, wird sein Programm in den letzten Jahren des Jahrhunderts gekürzt, die Anzahl der vorgelassenen Personen auf etwa fünfzig reduziert. Diese allgemeinen Audienzen sind ein Beitrag zur Aufrechterhaltung des Monarchenkults: Das Bild des Herrschers, der den Problemen seiner Untertanen zugänglich ist und diese ernst nimmt, wird auf diese Weise genährt und berechtigt zum Beinamen Volkskaiser, der mit der Person Franz' I. und mit der respektvollen Zuneigung verbunden bleibt, die Franz Joseph zunehmend von seinen Untertanen entgegengebracht wird. Nach dem Mittagessen beschäftigt sich Franz Joseph mit dem täglichen Rapport des Wiener Polizeichefs sowie mit einem Pressedossier mit Auszügen aus österreichischen und ausländischen Zeitungen. Diese Lektüre, zu der manchmal weitere 168 : Die Donaumetropole (1815-1914)
Audienzen kommen, dauert bis zum Abendessen, das zwischen fünf und sechs Uhr serviert wird. Lediglich mit seiner Funktion in Verbindung stehende Verpflichtungen, Feiern oder Besuche können Veränderungen in diesen Zeitablauf bringen, niemals wird er jedoch grundsätzlich angetastet. Kein noch so schwerwiegender Umstand kann Franz Joseph von der Erfüllung seinen Herrscherpflichten abhalten. In dieser Hinsicht ist das Ende des alten Kaisers beispielhaft: Am Abend vor seinem Tod, als sich schon das Fieber seiner bemächtigt hatte, gelten seine letzten Worte seinem Kammerdiener, ihn am nächsten Morgen zur gewohnten Stunde zu wecken. Franz I. und Franz Joseph haben weder Freude an Luxus noch an Uberfluß, sie stehen dabei ganz in der Nachfolge zahlreicher Vorfahren. Das Arbeitszimmer, in das sie sich zum Arbeiten zurückziehen, zeigt keinerlei überflüssigen Prunk. Auch ihre Kleidungsgewohnheiten weisen die gleiche Strenge auf; während Franz I. Zivilkleidung trägt, bevorzugt Franz Joseph indes die Uniform. Privat begnügt sich Franz Joseph mit einer manchmal fast schäbigen, einfachen Leutnantsuniform. Diese Bescheidenheit stimmt mit dem Bild des ersten Beamten ihres Reiches überein, das zunehmend mit beiden Herrschen verbunden wurde; andererseits steht es im Gegensatz zu dem Luxus, mit dem sich manche Adelsfamilien und in noch viel stärkerem Maße das Großbürgertum ostentativ umgeben. Sobald der Kaiser in seine Rolle als offizielle Persönlichkeit schlüpft, sind Prunk und Prachtentfaltung ein absolutes Muß. Am Hof entfaltet sich ein Majestätskult, dessen Pol der Kaiser ist, als Herrscher wie auch als Oberhaupt des Hauses Habsburg.
DER HOF
Während des Wiener Kongresses erstrahlt der Hof in tausend Lichtern. Wien, das für einige Monate zur Hauptstadt Europas wird, empfängt mehrere Monarchen und eine Unzahl von Fürsten in Begleitung von Ministern und großem Gefolge. Den Herrschern königlichen Geblüts (dem russischen Zaren, den Königen von Preußen, Dänemark, Württemberg und Bayern) gewährt er in den Gemächern der Hofburg Gastfreundschaft. Ganz im Gegensatz zur Legende begnügt sich der Kongreß nicht allein mit dem Tanz. Es stimmt jedoch, daß der Kaiser zur Zerstreuung seiner Gäste Bälle und Feste organisiert. Einige davon haben Berühmtheit erlangt, wie z. B. das Karussell, das am 23. November 1814 seinen Prunk in der Winterreitschule der Hofburg entfaltet. In Erinnerung an das anläßlich der Wiedereroberung Prags im Jahre 1743 aufgeführte Karussell wird nach alter Tradition ein Turnier veranstaltet, an dem 24 Ritter, alle Träger großer Namen des österreichischen Adels, teilnehmen, die in
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prächtige Renaissancegewänder gekleidet sind, während 24 Damen in ihrem prunkvollen Putz die Farben ihrer Favoriten tragen. Auf das Fest folgt eine riesengroße Redoute, zu der sich an die dreitausend geladene Gäste drängen. Ein weiterer großer Augenblick des Kongresses ist die Schlittenfahrt, die am 22. Januar 1815 stattfindet. Die Gäste des Kaisers werden mit Schlitten von der Hofburg nach Schönbrunn gefahren. Da das Wetter mitspielt, wird die Veranstaltung ein voller Erfolg - die Stadt und ihre Umgebung versinken im Schnee. Das Fest klingt mit einer Oper im Schloß Schönbrunn aus. A m Ende des Kongresses gehen diese Lichter rasch aus. Der Geist des Biedermeier weht nun bei Hofe wie in der gesamten übrigen Gesellschaft. Im Gegensatz zum Glanz offizieller Feiern bevorzugt Franz die Schlichtheit des Familienlebens, fernab von den strengen Regeln des Protokolls. Daß die familiären Werte wieder zu Ehren kommen, ist im Haus Osterreich nichts Neues, hat doch Maria Theresia sie schon hochgehalten. Am Ende einer langen Zeit von Revolutionen und Kriegen räumt Franz ihnen wieder einen wichtigen Platz ein. Darüber hinaus fugen sie sich bestens in das offizielle Bild, demzufolge der Kaiser der Vater seiner Völker ist, so wie er als Oberhaupt seiner Familie fungiert. Um die Bedeutung dieser Werte zu unterstreichen, läßt Franz sich gern inmitten der Seinen porträtieren. Ein Gemälde von Leopold Fertbauer zeigt ihn 1826 unter dem Vordach eines Bauernhauses mit seiner dritten Ehefrau, Kaiserin Caroline Augusta, mit zwei seiner Söhne, seiner Tochter, Kaiserin Marie-Louise, der Witwe Napoleons, dem Herzog von Reichstadt und seiner Schwiegertochter, Erzherzogin Sophie, die zwei Jahre zuvor in den Kreis der Familie aufgenommen worden war. In dem 1834 von Johann Passini gemalten Bild wird die Botschaft noch deutlicher — hier sind 3 6 Mitglieder der Familie um den greisen Kaiser versammelt. Der Künstler hat den Augenblick einer Familienzusammenkunft festgehalten: um Franz sind verschiedene Gruppen im Gespräch versammelt, im Vordergrund Mütter und junge Mädchen, die stolz auf die reizenden Kinder, darunter auch den kleinen Franz Joseph, blicken; etwas weiter entfernt spielen ältere Kinder; ein blonder Knabe, der seine Cousins keines Blickes würdigt, zeigt stolz sein Gewehr; ganz vorne spielt ein kleines Mädchen lieber allein am Boden; einige am Boden verstreute Spielzeuge runden das Bild der Eintracht der kaiserlichen Familie ab. Dieselbe Schlichtheit findet sich bei Franz in seinen Beziehungen zu seinen Untertanen wieder. Die allgemeinen Mittwochsaudienzen geben ihm dazu Gelegenheit. Er promeniert auch gerne in den Straßen Wiens und unterhält sich mit den Bewohnern seiner Hauptstadt; zu diesem Anlaß trägt er Zivilkleidung und zeigt sich leutselig. Im Grunde genommen ist dieser Verfechter der Restauration in viel mehr Punkten dem Bürgerkönig Louis-Philippe ähnlich, als er sich träumen lassen mochte. Dieselbe Schlichtheit zählt auch zu den Eigenschaften Ferdinands, der sich ebenfalls manchmal unter seine Untertanen mischt. Charakteristisch flir ihn ist überdies 170 : Die Donaumetropole (1815-1914)
sein echtes Mitleid mit seinen Untertanen, die regelmäßig von Katastrophen heimgesucht werden. Stiche zeigen ihn, wie er im Boot die von den Überschwemmungen im Februar 1830 betroffenen Bezirke besucht. Trotz seiner Unzulänglichkeiten genießt er große Beliebtheit, wie sein Beiname „der Gütige" zeigt. Der Hof jedoch kann in seiner Regierungszeit nicht in tausend Lichtern erstrahlen. Mit einem solchen Herrscher, der ein armseliges Bild monarchischer Majestät abgibt, dämmert der Hof in Erwartung besserer Zeiten dahin. Mit Franz Joseph hat Wien wieder einen Herrscher, der seine Rolle ausfüllen kann. Seit seiner Kindheit wurde er darauf vorbereitet, die Kaiserwürde zu übernehmen. Das Zeremoniell und die Etikette werden wieder streng eingehalten. Nach der Revolution von 1848 ist es erforderlich, die Würde des Kaisers und seiner Funktion zu betonen. Die Stärkung des höfischen Systems ist daher Teil der Restauration der monarchischen Gewalt. Nach Uberwindung des durch die revolutionäre Erhebung hervorgerufenen Traumas führen die Umstände die Monarchie 1860 zum Konstitutionalismus, die strikte Einhaltung der Regeln prägt aber weiterhin die politische Strategie. Die österreichische Gesellschaft ist in eine Phase der Bewegung eingetreten, in der viele Gefahren lauern. Angesichts des Drucks der zentrifugalen Kräfte ist der Kaiser der Fixpunkt, der Pol, um den sich die verschiedenen Teile des Gesamtreiches drehen. Das höfische System und der dazugehörige Prunk sollen die Fortdauer des monarchischen Prinzips gegenüber jenen betonen, die an einer Destabilisierung Österreichs arbeiten. Der Hof ist eine gewaltige Maschinerie, die mehrere tausend Personen beschäftigt. Der reibungslose Ablauf setzt eine fein aufeinander abgestimmte Organisation voraus, die von einer Art internen Regierung unter der Leitung von vier hohen Beamten gelenkt wird. Der Obersthofmeister, der immer unter den bedeutendsten Familien des Hochadels ausgewählt wird, ist sozusagen der entsprechende Regierungschef, wenn er auch nicht so genannt wird. Er hat ganz unterschiedliche Befugnisse: sie reichen von der Einhaltung des Zeremoniells bis zur Hofkapelle, von der Organisation der Reisen des Kaisers bis zu den Gärten und Jagden der verschiedenen Schlösser oder Besitzungen der Krone; außerdem ist er für die Gebäude des Hofes verantwortlich, ihm unterstehen auch das Burgtheater und die Oper. Zu den vielen Aufgaben des Obersthofmeisters gehört auch die Mitarbeit an der Ausarbeitung der Bebauungspläne, die nach der Schleifung der Stadtmauern konzipiert werden. Er nimmt an den Kommissionssitzungen teil, wo die Leidinien diskutiert werden, und vertritt dort die Interessen der Krone. Von 1845 bis 1865 fällt diese Aufgabe Fürst Karl Franz Liechtenstein, dann, von 1867 bis 1896, Fürst Konstantin Hohenlohe-Schillingfiirst zu. Wenn sie auch mit der Gesamtheit der Projekte befaßt sind, so liegen ihnen einige Punkte besonders am Herzen - so z. B. die Errichtung und Ausschmückung der Oper und des Burgtheaters, die Erweiterung Das Herz des monarchischen Systems : 171
der Hofburg und die Einbeziehung der Hofmuseen in dieses monumentale Ensemble. Die kulturellen Belange gehören auch zu den Aufgabenbereichen des Oberstkämmerers, der für die Hofbibliothek und die Hofsammlungen zuständig ist. Seine wichtigste Aufgabe ist indes das Kommando über das Heer von Lakaien, Kammerdienern und Kammerjungfern, die in den verschiedenen kaiserlichen Residenzen in Dienst stehen; zudem befindet er über die Hoffähigkeit, das Recht auf Erscheinen bei Hof. Die interne Rechtsprechung des Hofes untersteht der Zuständigkeit des Obersthofmarschalls. Zumeist muß er einfache Dinge regeln, er kann aber auch zu delikaten Fällen zugezogen werden, wenn Mitglieder der kaiserlichen Familie betroffen sind. Der Oberstallmeister rundet diese Regierung ab. Ihm unterstehen die Ställe und Kutschen des Hofes, seine Dienste werden daher täglich gebraucht. Ihm obliegt auch die Pferdedressur und die Hofreitschulen, darunter die berühmte Spanische Hofreitschule. Das höfische System umfaßt auch eine Reihe hochrangiger Würdenträger. Bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts waren die Titel Geheimrat, Kämmerer und Hofrat dem alten Adel vorbehalten. In der Regierungszeit Franz Josephs werden diese Würden auch Ministern, hohen Beamten, Industriellen und Hochschulprofessoren verliehen. Für diese aus dem Bürgertum hervorgegangenen, wenn auch oft in den Adelsstand erhobenen Notabein waren diese Titel wohl die Krönung ihrer beruflichen Laufbahn. Dies war jedoch ein teures Vergnügen: 1900 mußte für die bedeutendste Auszeichnung, den Titel eines Geheimrats, die Summe von 12.600 Gulden bezahlt werden! Für die Ehre, in die Reihen des Verdienstadels aufgenommen zu werden, war dieses Opfer jedoch leicht hinzunehmen. Die Hofgesellschaft wird durch das Siegel der Exklusivität geprägt. Der Regel nach kann nur zugelassen werden, wer einen sehr alten Adel, d. h. mindestens acht Generationen väterlicherseits, nachweisen kann. Ausnahmen sind jedoch immer möglich: davon profitieren vor allem die Generäle, die erst jüngst Geadelten, Persönlichkeiten aus dem Bürgertum, die über Vermögen oder Wissen verfügen, denen höfische Titel verliehen wurden. Anläßlich des jährlichen Hofballs verlängert sich die Liste der Ausnahmen. Im Gegensatz zum Ball bei Hof, der dem Adel und dem diplomatischen Korps vorbehalten ist, steht der Hofball den Rittern der verschiedenen habsburgischen Orden (dem Maria-Theresien-Orden, dem Leopolds- und Stephansorden, dem Orden des Eisernen Kreuzes), den Offizieren der Wiener Garnison sowie „Ausländern von Rang" offen, die in der Hauptstadt wohnen oder auf Durchreise sind. Insgesamt drängen sich nicht weniger als zweitausend Menschen im Redoutensaal, dem größten Saal der Hofburg. Im Februar, am Höhepunkt der Wiener Saison, läuft ein Zeremoniell ab, das sich alljährlich wiederholt. Hinter dem Obersthofmeister betritt 172 : Die Donaumetropole (1815-1914)
Franz Joseph um Punkt halb neun Uhr den Saal. In der Galauniform eines Feldmarschalls geleitet er die Kaiserin oder, wenn diese abwesend ist, die ranghöchste Erzherzogin oder die Doyenne der am Ball anwesenden ausländischen Herrscherinnen in den Saal. In Begleitung seines Gefolges nimmt er zunächst auf einer der Estraden Platz, von wo aus er das Publikum überblickt, bald darauf mischt er sich in die Menge der geladenen Gäste und spricht mal hier, mal da ein paar Worte mit seinen Gästen. Das Orchester spielt ohne Unterlaß, aber nur wenige wagen es, bei so wenig Platz zu tanzen. Gegen Mitte des Abends begeben sich Franz Joseph, die kaiserliche Familie und einige auserwählte Geladene in einen benachbarten Saal, wo ein Abendessen serviert wird. Währenddessen drängen sich die übrigen Gäste um ein monumentales Buffet. Der Ball geht dann weiter, bis sich Franz Joseph, immer in Begleitung seines Gefolges, zurückzieht. Der Ball bei Hof findet einige Tage später für ungefähr siebenhundert Personen statt. Um den weniger festlichen Charakter zu unterstreichen, trägt Franz Joseph die Oberstuniform eines seiner Regimenter. Die Diplomaten folgen seinem Beispiel und erscheinen in ihrem kleinen Galaanzug. Das Souper wird diesmal allen Gästen an kleinen Tischen gereicht. Das Menü umfaßt immer die gleichen fünf Gerichte: Gänsecreme in der Tasse, Fischmayonnaise, Pastete, Braten und Eis, dazu Champagner. Jene Zeitgenossen, die noch nicht Bescheid wissen, entdecken dabei, daß Franz Joseph keine langen Mahlzeiten liebt. Die Sache wird zügig durchgezogen, sie dauert nicht länger als eine halbe Stunde. Der Kaiser erhebt sich und signalisiert so das Ende des Festessens. Einige Gäste bleiben wahrscheinlich hungrig, das nahe der Hofburg gelegene Hotel Sacher kann ihnen jedoch dafür angenehme Entschädigung bieten. Zu den Pflichten des Herrschers gehören auch die offiziellen Abendessen, die Galatafeln oder Hoftafeln. Erstere werden bei Wien-Besuchen von ausländischen Herrschern gegeben. Mit den Hoftafeln ist Franz Joseph bestrebt, Einrichtungen, oberste Behörden bzw. herausragende Persönlichkeiten aus den Natur- und Geisteswissenschaften zu ehren, die dem Staat dienen oder zum Ruhme Österreichs beitragen. Diese Abendessen für zwanzig bis fünfundzwanzig Personen laufen nach einem gut eingespielten Ritual ab. Die Hofküchen haben nicht weniger als zwölf Gänge vorbereitet. Das Mahl dauert nicht länger als eine halbe Stunde, wobei ein ganzes Heer von aufeinander eingespielten Lakaien den Beweis für perfekte Aufmerksamkeit erbringen muß. Jedem Gast sind jeweils vier Lakaien zugeteilt: der erste serviert die Gerichte, der zweite die Saucen, der dritte die Weine, der vierte deckt die Gedecke ab. Für einige, die dieses rasante Tempo nicht gewohnt sind, haben diese Essen etwas Theoretisches an sich. Was wiegen jedoch die Nachteile gegenüber der Tatsache, die Ehre zu haben, an den Tisch des Kaisers geladen zu sein? Auf ein Zeichen des Herrschers erheben sich die Gäste und folgen ihm in einen Salon, wo ihnen zu Likör und Kaffee Zigarren angeboten werden. Das Herz des monarchischen Systems : I 7 3
Z u den in regelmäßigen Abständen wiederkehrenden Pflichten des Kaisers gehören die Besuche ausländischer Herrscher. Da die europäischen Dynastien im Lauf der Jahrhunderte ein unentwirrbares Netz von Allianzen gewoben haben, kommen diese Reisen Familienbesuchen gleich. Manchmal geben sie auch Gelegenheit zu politischem Austausch. Wenn diese Besuche auch die Monotonie der Arbeit und des Tagesablaufs durchbrechen, geschieht dabei dennoch nichts Unerwartetes. Nach der Begrüßung des Gastes am Bahnhof und dem Geleit zu dessen Wiener Residenz nimmt Franz Joseph sein normales Tagespensum bis zu dem in der Hofburg stattfindenden abendlichen Galadiner wieder auf. Im allgemeinen klingt dieser Abend mit einer Opernauffiihrung aus. Am nächsten Tag wird Franz Joseph seinerseits von seinem Gast empfangen, der ihm zu Ehren ein großes Abendessen gibt. Während der Wiener Weltausstellung im Mai 1873 finden die Besuche von Herrschern in rascherer Abfolge statt. Sieben Jahre nach Königgrätz muß die österreichisch-ungarische Monarchie zeigen, daß sie weiterhin zu den europäischen Großmächten zählt. Wie zur Zeit des Kongresses, jedoch in einer Atmosphäre frei von großer Politik, steht Wien wieder im Mittelpunkt Europas. Wie 1867 Paris, wird die Stadt zum Treffpunkt gekrönter Häupter. Manche Besuche haben einen ganz besonderen Charakter. Der Schah von Persien, Nasir al-Din, belustigt und fasziniert die Wiener mit seiner Zurschaustellung orientalischer Exotik. Es ist nicht erwiesen, ob Franz Joseph diese Begeisterung teilte: Zweifelsohne empfand er Erstaunen, wenn nicht Besorgnis, als er erfuhr, daß der König der Könige von einer Schafherde begleitet wurde und diese gar im Park von Laxenburg weiden ließ, wo er in der ihm während der Dauer seines Wiener Aufenthalts zur Verfugung gestellten kaiserlichen Residenz Wohnung nahm. Abgesehen von den Feiern und Veranstaltungen, die nur einem eingeschränkten Publikum zugänglich sind, seien noch jene erwähnt, bei denen sich der Kaiser den Untertanen zeigt, die sich ihm nähern wollen. Häufig werden sie anläßlich eines Geburtstagsfestes organisiert und unterstützen auf diese Weise den Monarchenkult. Die Feier der Silbernen Hochzeit des Kaiserpaares im Jahr 1879 bietet Gelegenheit zu zahlreichen Volksfesten. Den Höhepunkt bildet der von der Stadt Wien am 27. April initiierte Festzug, der in einem fast dreistündigen Defilee alle Berufszweige der Hauptstadt versammelt. Die Durchfuhrung dieses Vorhabens wird Hans Makart anvertraut, dem Modemaler der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts. Er läßt seiner Vorliebe fiir Luxus und Farbenfreude freien Lauf und stellt die Berufszweige in ungefähr vierzig lebenden Bildern im Stil der Renaissance dar. Auf der Ringstraße ziehen an die zehntausend Menschen an Franz Joseph, Elisabeth, der kaiserlichen Familie und Hunderttausenden Wienern vorüber, die sich zu beiden Seiten der Prachtstraße drängen, um den Festzug zu sehen. Die Erfindungsgabe hat Makart noch nie im Stich gelassen. Zur Darstellung der Eisenbahnen vereinigt er die Jahrhunderte in einer unge-
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wohnlichen Synthese. Er zeigt den Wienern eine Lokomotive, die von Heizern und Mechanikern in Renaissancegewändern betrieben wird. Die Organisatoren des Festzuges haben für Franz Joseph eine Überraschung bereit. Da sie seine Vorlieben kennen, haben sie einen Festwagen vorbereitet, der verschiedene Formen der Jagd szenisch darstellt: die Treibjagd, die Jagd auf Gemsen, Hirsche und Bären und die Falkenjagd. Als Apotheose schließt der Zug mit der Gruppe der Künsder unter Leitung des Zeremonienmeisters. Für diese allerletzte Komposition hat sich Makart von Rubensschen Vorbildern inspirieren lassen. Trotz des wachsenden Nationalismus legen die Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Regierungsantritts im Jahr 1898 Zeugnis für die Stärke der monarchischen Gesinnung ab. Am 24. Juni ziehen an die 70.000 Wiener Kinder auf der Ringstraße an Franz Joseph vorüber. Am gleichen Tag wird der Kaiser von 4.000 in Schönbrunn versammelten Jägern umjubelt. Am 26. Juni erweisen ihm die Radfahrer als Symbol für die neuen Zeiten die Ehre. Das Attentat auf die Kaiserin unterbricht jäh diese Feiern. Zehn Jahre später bietet jedoch ein neuerliches Jubiläum die Gelegenheit zu weiteren Veranstaltungen, bei denen die Völker der Monarchie ihre Anhänglichkeit zu ihrem Herrscher unter Beweis stellen, obwohl zu diesem Zeitpunkt die nationalen Spannungen weiter zugenommen haben. Zum Auftakt huldigt ein Zug von 80.000 Schülern und Schülerinnen dem greisen Kaiser. Dieses Jubiläum knüpft wieder an die Mode der lebenden Bilder an. Ein Zug auf der Ringstraße feiert die großen Abschnitte der österreichischen Militärgeschichte und betont die Einheit der Völker der Monarchie: kein Volk fehlt, außer die Tschechen. Drei Stunden lang grüßt Franz Joseph 12.000 Menschen, deren Bilder die Abfolge der Jahrhunderte und die Verschiedenheit der habsburgischen Länder symbolisieren. Zum Schluß ehrt die k. u. k. Armee ihren Oberbefehlshaber mit einer großen Parade. Auch im Stadtbild wird dem Herrscherkult gehuldigt. Uberall erinnern Denkmäler an die großen Stunden Österreichs, wie sie sich im Geist von Bildern einprägen, die mit den Werten der Monarchie verknüpft werden. Dies gilt etwa für das 1824 eingeweihte Burgtor. Da Napoleon den Entschluß gefaßt hatte, die Stadtmauern gegenüber dem kaiserlichen Palast zu zerstören, ermöglicht dieses Tor nun den Zugang zur Hofburg über das Glacis. Vom Tessiner Architekten Pietro Nobile im neoklassischen Stil errichtet, trägt es im Giebel die Inschrift Justitia regnorum fiindamentum, die als offizielle Devise der Regierungszeit gelten könnte. Die Statuen auf vielen Plätzen Wiens legen ebenfalls Zeugnis für die Größe der Monarchie ab. Im 19. Jahrhundert wird eine Unzahl von offiziellen Denkmälern in Auftrag gegeben. So wird im Zentrum des inneren Burghofes der Hofburg 1846 eine Statue Franz' I. von dem Mailänder Bildhauer Pompeo Marchesi enthüllt, die ihn als römischen Kaiser darstellt. Die kaiserliche Familie mußte den Herrscher ehren, der die Revolution niedergeschlagen und die Restauration eingeleitet hatte. Die im Sockel eingemeißelte Inschrift schreibt ihm alle Tugenden eines idealen MonarDas Herz des monarchischen Systems : I 7 5
chen zu: Treue, Gerechtigkeit, Mut und Friedensliebe. Einige Monate später zeigt sich dem Blick der Wiener auf der Freyung im Herzen der Altstadt ein Denkmal, das Osterreich in Gestalt der Austria feiert, wobei diese die Züge einer behelmten Kriegerin trägt. Der Bezug auf die Dynastie ist offenkundig. Das Denkmal wurde von der Stadt Wien zu Ehren Ferdinands I. in Auftrag gegeben. Auf die Revolution von 1848 wird auch an anderer Stelle hingewiesen. A m Josefsplatz, gegenüber der Hofbibliothek, versammeln sich die Wiener Studenten um das Denkmal Josefs II., das den Herrscher und Philosophen zu Pferd zeigt. In ihm grüßen sie den Vater des Liberalismus und in diesem Sinne den Vorläufer der Revolution. Anfang der 60er Jahre, die von der österreichisch-preußischen Rivalität um die Vorherrschaft in Deutschland geprägt sind, entstehen mehrere Denkmäler, welche die deutsche Bestimmung Österreichs unterstreichen. Auf dem weiten Platz zwischen Burgtor und Hofburg, dem heutigen Heldenplatz, errichtet Anton Fernkorn die einander gegenüberstehenden Reiterstatuen der beiden großen Feldherren Prinz Eugen und Erzherzog Karl, die zu unterschiedlichen Zeiten für die Größe Österreichs und die Freiheit Deutschlands gekämpft hatten. Die gleiche Absicht steht auch hinter dem Beschluß, ein Denkmal zu Ehren Generalfeldmarschall Schwarzenbergs, des Siegers der Völkerschlacht bei Leipzig, zu errichten, wo die deutschen Heere unter dem Befehl eines österreichischen Generalissimus vereint wurden. In dieser Galerie großer Persönlichkeiten der Monarchie wird auch Maria Theresia geehrt, für die ein monumentales Denkmal zwischen den beiden Hofmuseen an der Ringstraße errichtet wird. In der Stunde, da zentrifugale Kräfte den Zusammenhalt der Monarchie bedrohen, scheint es opportun, der großen Kaiserin, „der Mutter ihrer Völker", zu gedenken, die die habsburgischen Besitzungen auf ihrem Weg zur Einigung förderte. Die Kaiserin sitzt auf ihrem Thron. Die zu Pferd dargestellten großen Heerfiihrer und die wichtigsten Minister ihrer Regierungszeit halten zu Füßen ihrer Herrscherin Wache. Auch das 1912 vor dem neuen Kriegsministerium zu Ehren Feldmarschall Radetzkys errichtete Denkmal vermittelt eine ähnliche Botschaft: Hier soll nicht nur des großen Soldaten gedacht werden, der die Lombardei und Venetien zweimal für Österreich erhalten hat, sondern angesichts der Auflösungskräfte, die gegen Österreich am Werk sind, auch an das Band erinnert werden, das die Armee mit der Monarchie verbindet.
DIE
ARMEE
In Wien ist eine starke Militärpräsenz zu verzeichnen, die der Doppelfunktion der Stadt als kaiserliche Haupt- und Residenzstadt einer politischen Großmacht Rechnung trägt. Z u mancher Zeit wirkt sich deren Gewicht sicherlich stärker aus. 176 : Die Donaumetropole (1815-1914)
Ende Oktober 1848, nach der Rückeroberung durch die Truppen Windischgrätz', wird Wien einem strikten Belagerungszustand unterworfen, der bis September 1853 aufrecht bleibt. Zudem ist die Armee eine der Säulen des Neoabsolutismus, der manche Züge einer Militärherrschaft trägt. Der Eintritt Österreichs in das konstitutionelle Zeitalter verringert zwar zweifelsohne die politische Rolle der Armee, nicht aber ihre Präsenz in Wien. Die wichtigste Funktion der Armee ist es auch, die Sicherheit des Kaisers zu garantieren. Das im Februar 1853 von einem jungen Ungarn verübte Attentat auf Franz Joseph liefert den Beweis, daß er von Beginn seiner Regierungszeit an gegen die Tat eines einzelnen nicht zu schützen ist. Die in den Jahren 1880 bis 1890 grassierende Welle von Attentaten, deren Opfer Fürsten und hohe politische Persönlichkeiten in ganz Europa sind, zeigt, daß die Gefahr nichts an Aktualität eingebüßt hat. Zwei Eliteeinheiten haben die Aufgabe, den Kaiser und seine Familie zu schützen : die Adelige Leibgarde und die Ungarische Leibgarde. Erstere, die zunächst von Maria Theresia für junge Adelige vorgesehen war, wurde 1806 auch für Nichtadelige geöffnet. Traditionsgemäß werden ihr Kommandierender, der Hauptmann der Leibgarde, und sein Stellvertreter aus dem Korps der Generäle gewählt; die Garden, es sind ungefähr sechzig an der Zahl, haben zumindest den Rang eines Hauptmanns der Kavallerie. Die Ungarische Leibgarde hat die Rekrutierungsregelungen beibehalten, wie sie von Maria Theresia aufgestellt worden waren, und bleibt daher eine Domäne des Adels. Neben den Offizieren wird sie von jungen Adeligen gebildet, die dort drei bis vier Jahre dienen. Der Rangordnung nach rangiert die Ungarische Leibgarde zwar hinter der Adeligen Leibgarde, sie fällt jedoch durchaus auf, insbesondere wenn sie in Galauniform erscheint: Kaipak, Pantherfell um die Brust, rote Attila, silberne Armelaufschläge, rote Hosen und gelbe Stiefel. Dem Kaiser zur Seite steht eine Militärkanzlei, die das Gegenstück zum zivilen Kabinett bildet und deren Leiter zu den dem Herrscher am nächsten stehenden Personen zählt. Manchmal spielt dieser eine wichtige politische Rolle, wie etwa General Graf Grünne, der zur Zeit des Neoabsolutismus nach und nach zur grauen Eminenz aufsteigt. Grünne, der den Kriegsminister auf rein technische Aufgaben zu beschränken versucht - bis er 1853 schließlich die Abschaffung dieser Funktion erreicht —, sichert sich ein Mitspracherecht bei Ernennungen und strategischen Entscheidungen. Zweifelsohne ist dieser Aufstieg auf Machtstreben zurückzuführen, gleichzeitig aber auch auf den Versuch, die Armee dem Kaiser, ihrem obersten Befehlshaber, direkt zu unterstellen, ohne einen Minister dazwischenzuschalten. Mit dem Ende des Neoabsolutismus verliert der Träger dieser Funktion einen Teil des zuvor von Grünne ausgeübten Einflusses. Seine Stellung als enger Mitarbeiter des Kaisers wird jedoch nicht in Frage gestellt. Zudem dienen dem Kaiser insgesamt vier Adjutanten im Majorsrang. Lange Zeit wurden sie aus den Reihen der Armee ausgewählt. Angesichts der zunehmenden
Das H e r z des m o n a r c h i s c h e n Systems :
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Bedeutung der Marine in der Verteidigungsstrategie der Monarchie gehört ab 1899 ein Marineur zu diesem Quartett, wie z. B. der spätere Admiral Horthy in den Jahren 1909 bis 1914. Die Aufgaben sind unter den Adjutanten ganz klar aufgeteilt: Zwei von ihnen halten sich ständig zur Verfügung des Kaisers. Ein dritter ist für Sonderaufgaben, wie die Begleitung kaiserlicher Gäste während ihres Aufenthalts in Wien, abgestellt. Und der vierte Adjutant ist für einen Monat beurlaubt. Zahlreiche Gebäude im Stadtbild belegen diese militärische Präsenz. Seit der Auflösung des Jesuitenordens im Jahr 1773 ist der Hofkriegsrat im ehemaligen Jesuitenkloster am Platz Am Hof untergebracht. In diesen Mauern wird Kriegsminister General Graf Latour am 6. Oktober 1848 vom Pöbel ermordet, bevor seine sterblichen Uberreste auf einem Laternenpfahl aufgehängt werden. Infolge des Aufgabenzuwachses muß der Kriegsminister nach der Jahrhundertwende diese Räumlichkeiten wegen allzu großer Beengtheit aufgeben und zieht an den Stubenring an einem Ende der Ringstraße. Ludwig Baumann, der als Sieger eines Wettbewerbs hervorging — Mitstreiter waren Otto Wagner und Adolf Loos - , errichtet ein imposantes neubarockes Gebäude, in das - welche Ironie des Schicksals - 1 9 1 3 das Ministerium einzieht. Die in Wien stationierte Garnison zählt bis zu 15.000 Mann. Ihre Aufgabe ist es, die Hauptstadt gegen einen äußeren Feind zu verteidigen, aber auch die Sicherheit des Kaisers bei inneren Unruhen zu garantieren. 1815 besitzt Wien bereits ein Netz von zehn Kasernen aus dem 18. Jahrhundert, fünf davon wurden allein während der Regierungszeit Josefs II. errichtet. Nach der Revolution von 1848, welche die Unzulänglichkeiten dieses Systems bloßgelegt hat, beeilen sich Franz Joseph und die Verantwortlichen des Neoabsolutismus, die Kapazität der in Wien gegen eine innere Bedrohung stationierten Streitkräfte zu verstärken. Die militärischen Anlagen konzentrieren sich zunächst auf das Arsenal, dessen Bau auf einer Anhöhe südlich von Wien 1849 beschlossen und sieben Jahre später fertiggestellt wird. Das Arsenal, eine wahre Stadt innerhalb der Stadt, erstreckt sich über 33 Hektar und umfaßt drei Artillerieregimenter, die auf sieben Kasernen verteilt sind, Gießereien für die Waffen- und Munitionsherstellung, die dazugehörigen Depots, ein dem Kommando vorbehaltenes Gebäude und einen Schießplatz. 1869 kommt ein Heeresgeschichtliches Museum hinzu. Ein unterirdischer Gang verbindet das Arsenal mit der Hofburg und dem Schloß Schönbrunn. Im Falle revolutionärer Unruhen könnte die kaiserliche Familie dort rasch Zuflucht finden. Ein weiterer entscheidender Vorteil ist, daß die Artillerie von dort aus leicht die Stadt bombardieren kann. Es ist daher kein Zufall, daß die Entscheidung zur Schleifung der Stadtmauern nur ein Jahr nach Vollendung des Arsenals getroffen wurde. Die Neuordnung der militärischen Anlagen umfaßt auch zwei neue Kasernen, die beide im Bereich des Rings errichtet werden. 1857 nimmt die Armee die erste
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Arsenal
Große Militärparade anläßlich der Genesung von Franz I. im Jahre 1826
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Kaserne, die Franz-Josephs-Kaserne, in Besitz und dreizehn Jahre später die Rudolfskaserne (die heutige Roßauer Kaserne), deren neu-maurischer Stil noch heute die Blicke anzieht. Diese beiden Kasernen wurden nicht an willkürlichen Standorten errichtet, sie bewachen vielmehr die Altstadt. Beim ersten Anzeichen einer Gefahr können ihre Regimenter die Kontrolle über die Ringstraße übernehmen und sich jeder subversiven Tätigkeit aus den Vorstädten oder Vororten entgegenstellen. Schließlich wurden diese beiden strategisch wichtigen Anlagen des neuen Wiener Militärsystems in der Nähe von Bahnhöfen errichtet, um bei Bedarf rasch Verstärkung heranzuschaffen. Im Laufe der Zeit wurden weitere Veränderungen der militärischen Anlagen vorgenommen. 1898 wird die Franz-Josephs-Kaserne, kaum vierzig Jahre nach Inbetriebnahme, abgerissen. Manch andere alte Kaserne erleidet dasselbe Schicksal, an ihrer Stelle werden jedoch neue an anderen Standorten der Stadt errichtet: die GrafRadetzky-Kaserne, die Erzherzog-Albrecht-Kaserne und die Erzherzog-WilhelmKaserne, die beiden letztgenannten im Prater. Lange Zeit verfugt die Armee über einen Exerzierplatz auf einem Teil des Glacis nahe der Vorstadt bzw. dem späteren Bezirk Josefstadt. Wenngleich der Bau der Ringstraße und die Parzellierung der angrenzenden Umgebung die Armee zur Aufgabe desselben zwingt, liefert sie dennoch ein Rückzugsgefecht, was unter anderem die verspätete Errichtung der Votivkirche zur Folge hat, deren Bau nach dem mißglückten Attentat auf Franz Joseph im Februar 1853 beschlossen wurde. Diese Verzögerungstaktik sichert ihr einen Aufschub bis zum Ende der 60er Jahre. Danach muß sie sich einen neuen Standort suchen. Auf der Schmelz, am Rande des Vorortes Fünfhaus, finden dann die großen Paraden der zweiten Hälfte der Regierungszeit Franz Josephs statt.
E I N E KATHOLISCHE HAUPTSTADT
Daß der Katholizismus der beherrschende Glaube in den habsburgischen Ländern blieb, verdankt er der Entschlossenheit der Habsburger gegenüber der Reformation. Und diese Treue dankt ihnen die Kirche mit einer unerschütterlichen Loyalität gegenüber der Krone. Josef II., der sich anschickte, die Kirche der staatlichen Autorität unterzuordnen, läutete eine neue Phase in der Geschichte der beiderseitigen Beziehungen ein. Dieser Grundsatz, an den sich auch seine Nachfolger bis Franz Joseph halten, löst feindselige Reaktionen aus, die ihren Ausdruck in der katholischen Restaurationsbewegung finden, die in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts in den romantischen Kreisen Wiens und um Pater Clemens Maria Hofbauer ihren Anfang nimmt. Die katholische Hierarchie bricht indes niemals die Beziehungen, die sie mit dem Jose-
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finismus verbinden. Nicht einmal die reserviertesten Bischöfe können sich die Beziehungen zwischen Kirche und Staat in anderer Form als einer Zusammenarbeit vorstellen. Das durch die Revolution von 1848 verursachte Trauma fuhrt den Verantwortlichen in Politik und Religion die Notwendigkeit einer engen Allianz vor Augen. Monsignore Rauscher, der spätere Erzbischof von Wien, sagt daher ohne jede Doppeldeutigkeit : „Wenn das Werk der Rettung und der Erneuerung gelingen soll, so muß die Macht des Geistes sich mit der Macht des Schwertes verbinden." 1 Als Gegenleistung für die Unterstützung des Neoabsolutismus erreicht die Kirche den Abbau der josefinischen Gesetzgebung, der durch das Konkordat vom 18. August 1855 ihren Abschluß findet. Der Triumph ist allerdings vergänglich. Unter den liberalen Regierungen neigt sich die Waage auf die andere Seite. Die Maigesetze von 1868 höhlen das Konkordat um seine wesendiche Substanz aus, bevor es zwei Jahre später außer Kraft gesetzt wird. Die neue, 1874 beschlossene Gesetzgebung bekräftigt erneut die Vorherrschaft des Staates. Im Verlauf dieser schwierigen Jahre bleiben die Verfechter einer harten Linie innerhalb des Episkopats in der Minderzahl. Die josefinische Tradition hat die Kirche zu stark geprägt, als daß die Bischöfe nicht vor einem Konflikt mit dem Staat zurückscheuten. Zudem sind sie überzeugt, daß Franz Joseph nicht zulassen würde, daß die Offensive der liberalen Regierungen bestimmte Grenzen überschreitet, und erkennen, daß sie durch eine Verzögerungstaktik lediglich riskierten, seine Unterstützung zu verlieren. Die Tatsachen bestätigen, wie berechtigt dieses Kalkül war. Auch wenn die Kirche einen Rückzug ihrer Positionen hinnehmen muß, ist sie doch nie mit einer Herausforderung konfrontiert, die dem deutschen Kulturkampf gleichkäme. Sobald ein neues Gleichgewicht erreicht ist, bleibt die Situation danach stabil. Den Wiener Erzbischöfen, die oft als Primasse der österreichischen Kirche fungieren, ohne diesen Titel zu tragen, geht diese Allianz von Thron und Altar in Fleisch und Blut über. Auf unterschiedliche Weise pflegt jeder von ihnen enge Beziehungen zum Herrscher. Fürsterzbischof Vinzenz Milde (1832-1853), der typische Vertreter eines josefinischen Prälaten, identifiziert sich so voll und ganz mit dem Regime des Vormärzes, daß er 1848 von den Aufständischen, die unter den Fenstern des Erzbischöflichen Palais einen Höllenspektakel veranstalten, als dessen Symbol angesehen wird. Sein Nachfolger, Kardinal Othmar Josef von Rauscher (1853-1875), zählt zu den markanten Persönlichkeiten des Jahrhunderts. Seit der Zeit, da er zum Kreis der Erzieher gehörte, pflegt er persönlichen Kontakt zu Franz Joseph. Der junge Kaiser legt die Konkordatsverhandlungen mit dem Heiligen Stuhl in seine Hände, wobei diese Entscheidung die ungebrochene josefinische Tradition deutlich macht, auch wenn es in dem künftigen Vertrag darum geht, die Vormundschaft des Staates über
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die Kirche zu lockern. Bald wird dieser geschickte Unterhändler auch mit dem Kardinalspurpur belohnt. In der Folge richtet sich Rauscher in der Position als bevorzugter Gesprächspartner von Krone und Regierung ein. Die Krisen der liberalen Ära geben ihm dazu mannigfaltige Gelegenheit. Gegen die Versuchung, eine unnachgiebige Haltung einzunehmen, überzeugt er das Episkopat, den Weg des Kompromisses zu gehen. Nach der Aufkündigung des Konkordats, während der Ausarbeitung der Gesetze, welche die Beziehungen zwischen Kirche und Staat neu regeln sollen, hat er zahlreiche Unterredungen mit Carl von Stremayr, dem liberalen Unterrichtsminister, in deren Verlauf sich die Konturen eines modus vivendi herauskristallisieren. Da er den Kaiser mehr als je zuvor als natürlichen Schutzherrn der Kirche sieht, wird er bei ihm in der Hoffnung vorstellig, daß dieser - wenn nötig - eine Radikalisierung der Regierungspolitik verhindern solle. Auf anderer Ebene setzt er sich dafür ein, daß jegliche unangemessene Initiative unterbleibt, die seine Bemühungen in Frage stellen könnte. Rauschers Sympathien für den Zentralismus sind vielleicht ein weiterer Grund, daß er die Liberalen rücksichtsvoll behandelt. Während sein österreichischer Patriotismus durch die mit dem Dualismus einhergehende Teilung der Monarchie gelitten hat, ist er mit der Dezemberverfassung von 1867 zufrieden, bleibt diese doch dem zentralistischen Postulat für die österreichisch-böhmische Reichshälfite treu. Mit dieser Haltung ist er bei den Katholiken in den österreichischen Ländern in der Minderheit, die großteils föderalistischen Ideen anhängen. Andererseits kann er auf die Unterstützung des Kerns der Wiener Katholiken rechnen, die nur wenig geneigt sind, ein System zu befürworten, das die Machtfiille der Hauptstadt einzuschränken droht. Sein Nachfolger, Erzbischof Johann Kutschker, verfugt zwar nicht über denselben Einfluß, hat aber keinerlei Schwierigkeiten, dieselbe Linie zu verteidigen, war er doch zuvor Koadjutor des Erzbischofs gewesen. Die Neue Freie Presse, das Sprachrohr liberaler Kreise, unterstreicht die Kenntnis der gegenwärtigen Lage, die den neuen Erzbischof auszeichnet, und beglückwünscht diesen, den unantastbaren Erfordernissen der Souveränität des Staates in seiner hohen Funktion Rechnung zu tragen.2 Kutschker schließt sich im Geiste der Versöhnung sogar der liberalen Fraktion im Herrenhaus des Reichsrats an. Seine Nachfolger gehen zwar nicht so weit, sie sind jedoch gleichermaßen an einem guten Einvernehmen mit dem Kaiser interessiert und wenden sich weiter bei Gefahr an ihn. Die feindselige Haltung der katholischen Hierarchie gegenüber den Christlichsozialen, deren Radikalismus das Episkopat beunruhigt - hier sei besonders der Wiener Erzbischof Gruscha erwähnt - , ist nicht unbeteiligt an dem Veto, das Franz Joseph zweimal, 1895 und 1896, gegen die Wahl des Christlichsozialen Karl Lueger zum Bürgermeister seiner Hauptstadt einlegt. Alljährlich erinnern mehrere Feste und Feiern an das starke Band, das die Habsburger mit dem Katholizismus verbindet, wie z. B. die Feier der Fußwaschung am 182 : Die Donaumetropole (1815-1914)
Fronleichnamsprozession am Graben im Jahre 1872
Regierungsjubiläum von Kaiser Franz Joseph im Jahre 1898
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Gründonnerstag, bei welcher die den Herrscher umgebende sakrale Aura offensichtlich wird. Der Kaiser teilt das Essen an zwölf Greise aus, die aus dem Altersheim der Stadt ausgewählt wurden und denen die Rolle der Apostel zugewiesen wird; Offiziere ziehen ihnen die Schuhe und den rechten Socken aus; Franz Joseph kniet unter Mithilfe zweier Priester nieder und erfüllt sorgfältig seine Pflicht; zum Abschluß hängt er jedem der Greise eine Börse mit 30 Silbergulden um den Hals. Auch das Fronleichnamsfest unterstreicht diese starke barocke Tradition und betont die außerordentliche Beziehung, welche die Dynastie mit dem Katholizismus verbindet. Dort entfaltet sich der höfische Prunk wie in einem Schauspiel fiir die riesige Menschenmenge, die sich zu beiden Seiten der Prozession zusammendrängt. In einer von sechs Schimmeln gezogenen Kutsche begibt sich Franz Joseph zum Stephansdom, wo der Wiener Erzbischof die Messe zelebriert. Nach dem Gottesdienst ziehen die Teilnehmer langsam über die Kärntner Straße. In Galauniform gehen die Ordensritter der Monarchie vor dem Domkapitel, dann folgt der Erzbischof mit der Monstranz unter einem Baldachin. Danach erscheint Franz Joseph in der Galauniform eines Feldmarschalls, barhäuptig mit einer brennenden Kerze in der Hand, gefolgt von den Erzherzögen und flankiert von den Adeligen und Ungarischen Leibgarden. Der weitere Zug erstreckt sich dann über mehrere hundert Meter: an der Spitze die Kämmerer und Hofräte, der Wiener Bürgermeister und die Stadträte, dann Hunderte von jungen Leuten, Mönche und Klosterschwestern, die Priester aller Pfarreien und schließlich die Vertreter der Innungen und Vereine der Hauptstadt. Die Prozession hält vor der Kapuzinerkirche, wo ftir Franz Joseph und sein Gefolge ein Zelt errichtet wurde. Nach dieser Pause wendet sich der Zug auf der Höhe des Michaelerplatzes zum Kohlmarkt und mündet in den Graben, um wieder zum Dom zurückzukehren.
D I E POLITISCHE HAUPTSTADT
In Übereinstimmung mit der Rolle als politische Hauptstadt des Reiches bleibt Wien Sitz der Regierung und der zentralen Verwaltungsbehörden. Darüber hinaus wandelt sich die österreichische Regierung in hundert Jahren beträchtlich. Im Gegensatz zum britischen Kabinett oder dem französischen Ministerrat gibt es 1815 keine österreichische Regierung als kollektives Ganzes. Sie wird vielmehr von Ämtern gebildet, die unabhängig voneinander arbeiten. Außerdem ist die Regierungsmaschinerie durch Komplexität gekennzeichnet. Daß die verschiedenen Verwaltungseinheiten mit einer Vielzahl von Namen bedacht werden (Kanzlei, Kammer, Rat), scheint zudem zu bestätigen, daß die österreichische Exekutive eine Anhäufung von verschiedenen, zu unterschiedlichen Zeitpunkten aufgekommenen Einzelinstitutionen ist, die keinem einheitlichen Leitgedanken entsprechen. Wäh-
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rend manche Verwaltungsbehörden das gesamte Reich umfassen und damit dessen Einheit zum Ausdruck bringen, sind die Aufgabengebiete anderer auf eine der großen historisch-politischen Einheiten beschränkt, aus denen die Monarchie hervorgegangen ist. Die Staatskanzlei, das jüngste dieser „Ministerien" der ersten Gruppe, ist auch am bekanntesten, weil sie in Verbindung zu den ausländischen Höfen steht. Ihr obliegt es eigendich, die Außenpolitik der Monarchie zu fuhren. Der Staatskanzler ist zweifelsohne jener Mitarbeiter des Kaisers, mit dem dieser den regelmäßigsten Kontakt pflegt. Das Gewicht, das der Staatskanzlei im Regierungsgefuge zukommt, läßt sich auch an dem Bekanntheitsgrad der Persönlichkeiten ermessen, die dieses Amt — zudem über eine lange Zeitspanne hinweg - innehatten. Fürst Kaunitz führte sie vierzig Jahre lang (1753—1793) und diente in dieser Position vier Herrschern; Metternich blieb nur wenig kürzer im Amt (1809-1848). Der für die militärischen Belange zuständige Hofkriegsrat und die als Finanzministerium fungierende Hofkammer gehen auf die Regierungszeit Ferdinands I. zurück und verfügen über einen Wirkungskreis, der sich auf ganz Österreich erstreckt. Die zweite Gruppe umfaßt die verschiedenen fiir die regionalen Gebiete zuständigen Kanzleien. Die Vereinigte böhmisch-österreichische Hofkanzlei verwaltet die böhmisch-österreichischen Erblande, denen Galizien zugeschlagen wird. Lombardo-Venetien verfugt über eine eigene Kanzlei, was diesem Gebiet jedoch keinen wirklichen Autonomiespielraum zusichert. Dieser hängt vielmehr von der Hofkanzlei ab, die folglich die Oberhand über die Lombardei und Venetien behält. Die ungarische Hofkanzlei hat es da besser; daß sie ihren Sitz in Wien hat, unterstreicht jedoch ihre Integration in das österreichische Machtsystem. Im Laufe der Zeit wird es immer schwieriger, die Mängel dieser zersplitterten Regierungsform zu kaschieren. Z u einer Zeit, da viele Probleme ineinandergreifen, ist es unumgänglich, diese wachsende Unzulänglichkeit durch eine bessere Koordination der unterschiedlichen Staatsdienste zu beheben. Es werden verschiedene Versuche unternommen, eine übergeordnete Instanz zu schaffen, die diese Verwaltungseinheiten umfassen und ihnen die nötigen Impulse verleihen soll. Einer nach dem anderen erweist sich jedoch als Fehlschlag: Entweder prallen sie am Partikularismus der Behörden ab, die sich gegen eine externe Vormundschaft wehren, oder sie werden durch rivalisierende Persönlichkeiten konterkariert. So etwa die Staatskonferenz, die sich während der Regierungszeit Ferdinands I. um Erzherzog Ludwig, den Bruder des verstorbenen Kaisers, Fürst Metternich und Graf KolowratLiebsteinsky versammelt, der seit 1826 die Vereinigte Hofkanzlei fiihrt. Die Rivalität zwischen den beiden Letztgenannten lähmt die Institution. Als Folge dieses Patts wird die Regierungsmaschinerie widersprüchlichen Weisungen unterworfen, die sich - einander das Gleichgewicht haltend - neutralisieren und dadurch zur Bewegungslosigkeit des Vormärzes beitragen.
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Unter dem Druck der Revolution von 1848 kommt es zur Wende. Eine der ersten Entscheidungen der neuen Machthaber ist die Reorganisation der Regierung auf moderner Grundlage. Auf die alten zentralen Amter folgen Ministerien; außerdem wird eine Regierung gebildet, die als kollektive Instanz arbeitet. Als sichtbares Zeichen dieser Umwandlung wird das Amt des Regierungschefs geschaffen. Verschiedene Ministerien treten an die Stelle der zentralen Verwaltungsbehörden. Das Ministerium des Äußern und des allerhöchsten Kaiserhauses folgt auf die Haus-, Hof- und Staatskanzlei, das Finanzministerium auf die Hofkammer; das Innenministerium tritt das Erbe der Vereinigten Hofkanzlei an. Gleichzeitig werden auch Kompetenzen verlagert: die Verantwortung für Religiöse Angelegenheiten und Unterricht, die bis dahin in das Aufgabengebiet der Hofkanzlei fiel, wird nun einem eigenständigen Ministerium anvertraut; die Justiz erhält eine ministerielle Abteilung; auch die wirtschaftlichen Angelegenheiten erhalten durch die Schaffung eines Ministeriums für Landwirtschaft, Handel und Gewerbe einen eigenständigen Kompetenzbereich. Auch die Regierungsstruktur bleibt nicht unverändert, sie wird vielmehr in der Folge je nach Umständen, Politik oder Erfordernissen verändert. Das Ministerium für öffendiche Arbeiten überlebt die Revolution nicht: Als der Neoabsolutismus die Kontrolle der Verwaltung über die Justiz wiederherstellt, verliert es die Daseinsberechtigung. Die Restauration der monarchischen Gewalt wird auch von viel einschneidenderen Veränderungen begleitet, da die Regierung nun dazu tendiert, zum Exekutivorgan des kaiserlichen Willens zu werden. Wie schon erwähnt, hütet sich Franz Joseph daher nach dem Tod Schwarzenbergs davor, einen Nachfolger zu ernennen. Es werden jedoch nicht alle Errungenschaften von 1848 in Frage gestellt. Das Prinzip von Ministerien, die für spezifische Ressorts verantwortlich sind, wird beibehalten, und auch wenn sich deren Einfluß verringert, so kommen sie dennoch weiter zu Ratssitzungen zusammen. Die auf den Neoabsolutismus folgende Phase institutioneller Versuche spiegelt sich in der Regierungsstruktur wider. Manche Neuordnungen bereiten auch die künftige Entwicklung vor. Die Funktion des Regierungschefs, die zunächst lediglich ein Ehrenamt war, taucht wieder auf. Der Erbe des Innenministers, der Staatsminister, ist - insbesondere mit Anton von Schmerling - nun der wirklich starke Mann der Regierung. Z u den traditionellen Aufgabenbereichen eines Innenministers fugt er weitere Kompetenzen hinzu, wie Kultus und Unterricht, deren Ministerium aufgelöst wird. Er mischt sich auch in die deutschen Angelegenheiten ein, die im Prinzip in das Ressort des Außenministeriums fallen. Schließlich fällt ihm auch die Aufgabe zu, mit dem Februarpatent das neue Grundgesetz der Monarchie auszuarbeiten. Im Vergleich zum vorhergehenden Jahrzehnt ist zudem neu, daß zwei Minister die ungarischen Interessen innerhalb des Kabinetts vertreten. Obwohl Schmerling ein bewußter Verteidiger der Einheit des Reiches ist, folgt die Präsenz 186 : Die Donaumetropole (1815-1914)
dieser beiden Minister einer dualistischen Logik. Durch die Anerkennung der Sonderstellung Ungarns innerhalb des habsburgischen Gesamtreiches werden die von Maria Theresia vorgezeichneten Linien der politischen und administrativen Entwicklung wiederaufgenommen. Wenn der Ausgleich von 1867 auch nicht vollkommen mit dem Februarpatent bricht, so wird die Regierungsstruktur doch von Grund auf modifiziert, die nun jene Form annimmt, die sie bis 1918 beibehalten sollte. Wien, die Hauptstadt der Monarchie, ist Sitz der gemeinsamen Ministerien Österreich-Ungarns: des Außenministeriums, des Kriegsministeriums, das die Befehlsgewalt über die kaiserlich und königliche Armee hat, des Finanzministeriums, dessen Aufgabe es ist, diese gemeinsamen Belange zu finanzieren, eine Kompetenz, zu der sich - ab 1878 - noch die Verwaltung von Bosnien-Herzegowina gesellt. Im Sinne des Ausgleichs werden die anderen Ressorts zwischen Wien und Budapest aufgeteilt. Die österreichischen Belange werden von einer Regierung geleitet, deren Kompetenzen sich auf die zisleithanische Hälfte der Monarchie beschränken. Unter diesem Vorbehalt - und abgesehen von der Außenpolitik, wo sie kein Mitspracherecht hat - verfugt sie über eine komplette Regierungsstruktur (Innere Angelegenheiten, Finanzen, Justiz, Kultus und Unterricht, Landwirtschaft und Handel). In ihren Rängen findet sich sogar ein Verteidigungsminister, da der Ausgleich Osterreich wie Ungarn die Kontrolle über eine territoriale Armee überläßt. Bald kommt zu dieser Liste noch ein Minister flir die Belange Galiziens hinzu, was zeigt, welche Bedeutung dieses Gebiet im politischen Leben Österreichs gewinnt. Ab den 80er Jahren wird diese Gliederung schließlich durch ein Ministerium ergänzt, das die tschechischen Interessen wahrt. Diesen Regierungen steht ein Ministerpräsident vor, der die Tätigkeit der Regierungsmitglieder koordiniert und leitet. Zudem obliegt es ihm, mit seinem ungarischen Gegenpart die alle zehn Jahre fällige Erneuerung der Finanz- und Wirtschaftsklauseln des Ausgleichs auszuhandeln. Durch die Fülle seiner Aufgabenbereiche kann Josef Redlich ihn einen „Universalminister" nennen. Trotz des Ausgleichs verbleibt dem Gefiige der Monarchie noch eine gemeinsame Instanz. Unter außergewöhnlichen Umständen hält Franz Joseph einen Kronrat ab, in dem er die Minister fiir die gemeinsamen Angelegenheiten und bestimmte österreichische bzw. ungarische Entscheidungsträger um sich versammelt. So wird im Kronrat vom 18. Juli 1870 beschlossen, daß die Monarchie im Konflikt zwischen Preußen und Frankreich neutral bleibt. Am 30. Oktober des folgenden Jahres macht sich Franz Joseph im gleichen Rahmen ein Meinungsbild der wichtigsten Amtsträger Österreichs und Ungarns zu dem Vorhaben eines Ausgleichs mit Böhmen. Die Krise im Juli 1914 fuhrt ebenfalls zu mehreren Kronratssitzungen, wo schließlich die Entscheidung getroffen wird, Serbien ein Ultimatum zu stellen.
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DER
REICHSRAT
Wien ist der Sitz von Vertretungskammern, die sowohl in ihrer Zusammensetzung als auch in ihrem Auswahlverfahren und ihrem territorialen Fundament Spiegelbild der Verfassungsgeschichte der Monarchie sind. Vor 1848 beherbergt Wien den niederösterreichischen Landtag. Er setzt sich nach den Grundsätzen der klassischen Ständeordnung zusammen und ist der Vormundschaft des Staates unterworfen, was seine Handlungsfreiheit stark einschränkt. Um eine Lockerung der Regierungsmacht zu erreichen, wird er im Vormärz daher zu einem Zentrum der liberalen Opposition. Am Beginn der Revolution sollte die Kundgebung am 13. März 1848 das Reformprogramm unterstützen. Der Parlamentarismus in moderner Form hält seinen Einzug als Folge der Revolution von 1848. Der Reichstag, der nur von den österreichischen Ländern gewählt wird, tagt ab Juli in der Winterreitschule der Hofburg. Da er zum Opfer von Ereignissen wird, die über ihn hinwegfegen, ist ihm lediglich ein kurzer Bestand beschieden. Nach den Oktobertagen folgt er der kaiserlichen Familie nach Mähren. In Kremsier überlebt er die Restauration der monarchischen Gewalt nur um wenige Monate und wird von Schwarzenberg, der dessen Verfassungsvorschläge ablehnt, am 7. März 1849 aufgelöst. Im Rahmen des neoabsolutistischen Regimes ist kein Platz für parlamentarische Vertretungen. Anfang der 60er Jahre gewinnt die Frage jedoch wieder an Aktualität. Nach dem Scheitern des Oktoberdiploms sieht das Februarpatent ein Zweikammernsystem vor, in dem sich der Reichsrat aus zwei Kammern zusammensetzt: dem Herrenhaus und dem Abgeordnetenhaus. Die obere Kammer wird von den wichtigsten Mitgliedern des Kaiserhauses, den Oberhäuptern der Familien des Hochadels, den Erzbischöfen und Fürstbischöfen sowie von Personen gebildet, die vom Kaiser aufgrund von Verdiensten, die sie sich in Verwaltung, Armee, Industrie, Handel, den Natur- und Geisteswissenschaften oder den Künsten erworben haben, auf Lebenszeit ernannt werden. Bis zur Errichtung eines Parlamentsgebäudes ist sie im Landhaus des niederösterreichischen Landtags in der Herrengasse untergebracht. Die untere Kammer tagt zunächst in einem Behelfsgebäude nahe dem Schottentor, dem Zeitgenossen den Spitznamen „Schmerlingtheater" gaben. Für das Abgeordnetenhaus hat Schmerling eine komplizierte, zweistufige Gliederung vorgesehen, die den Status Ungarns berücksichtigt und sich zum Dualismus innerhalb des parlamentarischen Systems bekennt. Diese sieht in der Tat vor, daß Belange, die nur die österreichischen Kronländer betreffen, von dem auf die Abgeordneten dieser Länder beschränkten „engeren Reichsrat" behandelt werden; dieser umfaßt 203 Abgeordnete. Bei Fragen, welche die gesamte Monarchie betreffen, erweitert sich das Gremium jedoch um 120 ungarische Abgeordnete.
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Das Wahlsystem ist nicht in allen konstituierenden Ländern der zisleithanischen Reichshälfte gleich, doch abgesehen von Unterschieden im Detail entspricht es dem gleichen Schema. Die untere Kammer geht aus den Landtagen hervor, die wiederum nach einem Kurien- und Zensussystem gewählt werden. Die Wähler werden in vier Kurien eingeteilt (Großgrundbesitzer, Handels- und Gewerbekammern, Städte und Märkte, Landgemeinden), welche die Interessenvertretung und das Territorialprinzip kombinieren. In jedem dieser Gremien ist die Wählerschaft eng begrenzt; sogar in den Kurien der Stadt- und Landgemeinden ist nur ein geringer Teil der Bevölkerung vertreten. Um wahlberechtigt zu sein, muß eine Steuerleistung von mindestens 20 Gulden nachgewiesen werden, eine Bedingung, die nur von der Oberschicht des Bürgertums und der ländlichen Bevölkerung erfüllt wird. Insgesamt haben nur sechs Prozent der Bevölkerung das Recht, an der politischen Willensbildung teilzunehmen. Dieses wohldurchdachte Gebäude bleibt indes toter Buchstabe. Wohl versammelt sich der engere Reichsrat dem Wunsch Schmerlings gemäß, aufgrund des ungarischen Boykotts fehlt jedoch der zweite Teil des Systems. Schmerling kann zwar einige sächsische Abgeordnete aus Siebenbürgen für sich gewinnen und auf diese Weise den Anschein erwecken, sich durchgesetzt zu haben, er kann jedoch niemanden hinters Licht fuhren. Der Ausgleich begräbt dieses zweistufige System. Ab diesem Zeitpunkt gibt es keine gemeinsame parlamentarische Instanz mehr für Österreich und Ungarn, lediglich die abwechselnd in Wien und Budapest abgehaltene Jahresversammlung der Delegationen der beiden Parlamente, wo die gemeinsamen Angelegenheiten der Gesamtmonarchie beraten werden. Nach 1867 behält Österreich das durch das Februarpatent eingeführte Zweikammernsystem bei. Erst 1906 werden Regelungen eingeführt, welche die Zahl der Ernennungen begrenzen, um „Beschickungen" zu verhindern, welche die Mehrheit der Kammer künstlich verändern sollten. Sowohl seiner Form als auch seinem Wahlmodus nach ist das Abgeordnetenhaus eine Neuauflage der von Schmerling geschaffenen unteren Kammer. Die in der liberalen Ära 1873 beschlossene Reform verändert zweifellos die Abgeordnetenzahl von 203 auf 343; ebenso wird die Direktwahl ohne Zwischenschaltung der Landtage beschlossen. Andererseits wird das Kuriensystem nicht angetastet, und die Politikfähigkeit bleibt den gleichen Bedingungen unterworfen mit der Folge, daß die Wählerschaft weiter eng begrenzt bleibt. Die Parlamentarier müssen sich noch einige Jahre gedulden, bis sie sich in dem für ihre Arbeit bestimmten Gebäude einrichten können. 1883 vollendet, zählt dieses zu den Kleinoden der liberalen Ära. Es wurde am Ring errichtet und ist das Werk Theophil Hansens, eines der meistbeschäftigten Architekten des Historismus. Für das Parlament nahm sich Hansen das antike Athen zum Vorbild, die Mutter der politischen Freiheiten: Der zentrale Bau ist einem griechischen Tempel nachDas Herz des monarchischen Systems : 189
empfunden, eine übergroße Statue der Pallas Athene hält vor dem Eingang des Parlaments Wache. Vier Jahre vor der Parlamentseröffnung hatten die Liberalen die Macht abgegeben. Nur ein Jahr zuvor beschloß die Regierung des Grafen Taaffe eine Maßnahme, aufgrund derer die Wählerschaft durch die Absenkung des Zensus auf 5 Gulden um die Mittelschicht des Bürgertums und der Landbevölkerung erweitert wurde. Dies leitete den Demokratisierungsprozeß im politischen Leben ein. 1893 versucht Taaffe durch seine Mehrheit die Verabschiedung der Einfuhrung des allgemeinen Wahlrechts in den Stadt- und Landgemeinden zu erzwingen. Wenn dieser Versuch auch scheitert, so zeigt die 1896 von Graf Badeni eingeführte Reform, daß die Dinge in Bewegung geraten sind. Es wird eine fünfte Kurie eingerichtet, in der die fünf Millionen Untertanen eingeschrieben werden, denen bisher das Stimmrecht verweigert worden war. Auf diese Weise werden die Arbeiter, Hausangestellten, das Kleinbürgertum und die breite Masse der Landbevölkerung politikfähig. Zweifelsohne kann man sich jedoch kaum ein System vorstellen, das eine größere Ungleichheit aufweist. Diese fünf Millionen Neuwähler wählen nur 72 Abgeordnete, während die 5.000 Großgrundbesitzer 85 bestimmen. Es war vorherzusehen, daß diese Regelung nur vorübergehend gelten würde. Elf Jahre später wird der entscheidende Schritt getan. Auf ausdrücklichen Wunsch Franz Josephs, aber auch aufgrund des Drucks der Ereignisse, insbesondere der russischen Revolution von 1905, fuhrt die Wahlrechtsreform von 1907 ein echtes allgemeines Wahlrecht ein. Das Prinzip „ein Mann, eine Stimme" wird noch nicht wirklich angewendet: Wohldurchdachte Kontingente für die einzelnen Nationalitäten Zisleithaniens sind vorgesehen, wobei sich die Deutschen und Polen eine gewisse Überrepräsentation sichern, die Unterschiede werden dadurch jedoch stark reduziert. Die wichtigste Tatsache bleibt, daß mit dem Verschwinden der Kurien von nun an alle Abgeordneten direkt im Rahmen von Wahlkreisen gewählt werden.
D I E M A C H T IN DER
GEMEINDE
Seit dem 11. Jahrhundert ist das Schicksal der Stadt Wien ohne Unterbrechung mit ihrem Status als fürstliche Residenz verknüpft. Mit unermüdlicher Ausdauer haben sich die Herrscher bemüht, das Ausmaß der kommunalen Freiheiten zu verringern. Die Stadt hat ihre Selbständigkeit wahrlich nicht widerstandslos aufgegeben, aber dennoch ist sie schon lange auf ein kleines Rädchen im Verwaltungsgetriebe der kaiserlichen Macht reduziert. Die Geschichte der Beziehungen zwischen den beiden Machtpolen zur Zeit der Restauration und des Vormärzes ist rasch erzählt: Im wesentlichen handelt es sich um eine Fortfuhrung der früheren Jahrzehnte. Die in Abhängigkeit zur kaiserlichen 190 : Die Donaumetropole (1815-1914)
M a c h t gehaltene Stadtverwaltung hat keine Möglichkeit, eine unabhängige Politik zu fuhren. D a r u m ist auch Ignaz Czapka, der W i e n e r Bürgermeister, eines der ersten O p f e r der Revolution von 1848. N a c h d e m Fall Metternichs beschließt er zu fliehen, nachdem er v o m M o b als Kreatur des untergegangenen Regimes bezeichnet wird. D a s Bild ändert sich 1848. Eine der ersten von der demokratischen Revolution getroffenen Entscheidungen ist gerade die Wahl eines Gemeinderates. Es ist ein Z u sammentreffen von symbolischer Bedeutung, daß sich dieser am 7. Oktober im Saal des niederösterreichischen Landhauses konstituiert, dem Tag, an d e m die kaiserliche Familie W i e n in Richtung M ä h r e n verläßt. Sein Schicksal ist mit dem der Revolution verbunden: Als eine der ersten M a ß n a h m e n der Gegenrevolution wird die Auflösung des Gemeinderates beschlossen, der den R u f hat, in Rebellion zur m o n archischen Gewalt zu stehen. A u f diesem Gebiet, wie auf vielen anderen, setzen sich die neuen Machthaber nicht einfach die Wiederherstellung der Vergangenheit z u m Ziel. W i e so viele andere Gemeinden Österreichs, profitiert auch W i e n v o m Gesetz v o m 20. März 1849, das auf Initiative des Grafen Stadion den allgemeinen Grundsatz der kommunalen A u t o n o m i e einfuhrt. Ein Jahr später, am 6. M a i 1850, wird eine neue Verordnung ftir W i e n erlassen, in welcher die Wahlregeln für den Gemeinderat festgelegt werden ; abgesehen von gewissen Veränderungen sollte diese bis z u m Ende der Monarchie in Kraft bleiben. D e m Geist des Neoabsolutismus entsprechend, wird das Stimmrecht auf Grundeigentümer limitiert. Je nach Steuerhöhe werden diese in drei Klassen eingeteilt, die jeweils vierzig Stadträte, jedoch mittels einer ungleichen A n zahl an Wählern benennen. Im Verlauf der verschiedenen Reformen erweitert sich die Wählerschaft, bis schließlich das allgemeine Wahlrecht eingeführt wird. Die Einteilung in verschiedene Wahlkollegien wird jedoch erst in der Republik abgeschafft. Rasch wird eine A b s t i m m u n g organisiert, u m den neuen Gemeinderat zu wählen, doch g e m ä ß der Verordnung v o m 6. M a i 1850 besitzt nur eine winzige M i n derheit der Wiener das Stimmrecht, insgesamt sind es an die 6.000 Menschen, d. h. knapp 1,5 Prozent der Bevölkerung. D i e Staatsmacht m u ß also nicht in Sorge sein, es mit einer Vertretungsinstanz zu tun zu haben, die von subversiven Gelüsten beseelt sein könnte. Im G r u n d e g e n o m m e n tendiert der Gemeinderat allgemein zu einem Liberalismus, der durch die Sorge u m O r d n u n g gemäßigt wird. Als mit dem Silvesterpatent v o m 31. Dezember 1851 offiziell der Absolutismus wieder eingeführt wird, erachtet es die Regierung auch nicht für nötig, der Arbeit des Gemeinderates eine Frist zu setzen, sie begnügt sich damit, dessen M a n d a t über die v o n der Verordnung vorgesehenen drei Jahre hinaus zu verlängern. Diese Vorgangsweise wird bis z u m 25. November 1860 wiederholt; mit dem Beginn der Rückkehr Österreichs zu einer konstitutionellen Regierung werden an diesem Tag schließlich Neuwahlen beschlossen.
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Der Abschied vom Neoabsolutismus wird durch das Gesetz vom 5. März 1862 bestätigt, das einen entscheidenden Fortschritt darstellt. Indem darin der Kompetenzbereich der Gemeinden festgelegt wird, bietet es eine Garantie für die städtische Autonomie gegen die Willkür seitens der Regierung oder der Verwaltung. Im Gegenzug wird keine substantielle Veränderung im Wahlmodus des Gemeinderates oder der Zusammensetzung der Wählerschaft vorgenommen. Das Dreiklassensystem wird beibehalten. Die erste Klasse umfaßt die Grundbesitzer mit dem höchsten Steueraufkommen, die eine Grund- oder Gebäudesteuer von mindestens 500 Gulden oder eine Einkommensteuer von mindestens 100 Gulden entrichten; die zweite ist für Grundbesitzer geöffnet, die eine Grund- oder Gebäudesteuer von unter 500 Gulden bezahlen, die aber zu einer Einkommensteuer von 10 Gulden oder mehr herangezogen werden. Hinzu kommen noch die Offiziere, Priester, Doktoren der verschiedenen Fakultäten sowie in Wien ansässige Beamte gewisser Gehaltsgruppen. In der dritten Klasse schließlich sind jene Grundbesitzer eingeschrieben, die eine Grund- oder Gebäudesteuer von unter 10 Gulden entrichten. Ganz im Sinne der allgemeinen Ausrichtung des Regimes bleibt die Politikfähigkeit ein Vorrecht des Geld- und Bildungsbürgertums, während das Kleinbürgertum vom Wahlrecht ausgeschlossen ist. In Verbindung mit der Zunahme der Wiener Bevölkerung steigt die Wählerschaft mit der Zeit langsam an, ist aber aufgrund der Kriterien, die ihre Zusammensetzung bestimmen, den wirtschaftlichen Schwankungen unterworfen. 1861 erfüllen 18.322 Bürger die Voraussetzungen für das Wahlrecht; 1870 sind es 26.069; I ^8o wirkt sich die in die Osterreich herrschende Wirtschaftskrise aus, da sind es nur mehr 24.627. Die Wahlbeteiligung variiert je nach Abstimmung, selten übersteigt sie jedoch die 50-Prozent-Marke; manchmal liegt sie bei lediglich 10 bis 30 Prozent. Dieses Wahlsystem begünstigt die Liberalen, und daher sind die folgenden drei Jahrzehnte von deren Vorherrschaft geprägt. Alle, die von 1861 bis 1895 nacheinander das Bürgermeisteramt bekleiden (Andreas Zelinka, Cajetan Felder, Julius von Newald, Eduard Uhl), gehören dem liberalen Lager an. Lange Zeit ist sogar die Gesamtheit der Abgeordneten im Gemeinderat dort beheimatet. Die Liberalen sind alles andere als ein homogener Block, sie verteilen sich vielmehr auf verschiedene Strömungen, deren Grenzen fließend sind. Das gesamte 19. Jahrhundert hindurch gehört die Mehrheit der Mittelpartei an, die - fest verankert im Großbürgertum — die Bürgermeister der Stadt stellt. Eine Randgruppe des Gemeinderates — die aus den liberalen Reihen hervorgegangenen Demokraten plädiert insbesondere ab den 70er Jahren für eine Ausweitung des Wahlrechts, dessen Erweiterung auf das Kleinbürgertum sie fordern. In der Tradition der Revolution von 1848 sorgen sie sich um das Los der einfachen Schichten innerhalb der Wiener Gesellschaft. Im Rahmen dieser Gruppe beginnt Karl Lueger seine Laufbahn und bestätigt sich schon von Anfang an als Volkstribun.
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Die Vorherrschaft der Liberalen überdauert die liberale Ära um mehr als fünfzehn Jahre. Während sie 1879 die Mehrheit in der unteren Kammer des Reichsrats verlieren, erleiden sie erst 1895 eine ähnliche Niederlage im Wiener Rathaus. Schon ab Ende der 70er Jahre indes sind die ersten Anzeichen der Auflösung ihrer Mehrheit zu spüren. Der Börsenkrach von 1873 und die darauffolgende Wirtschaftskrise beginnen die Liberalen zu schwächen. Die Abspaltung mehrerer Abgeordneter zu einer Reformgruppe, dem Reformklub, ist ein weiteres Indiz dieses Machtabnützungsprozesses. Die entscheidende Wende tritt jedoch ein, als der Gemeinderat 1885 beschließt, die Wahlrechtsschranke auf fiinf Gulden abzusenken. Gleichzeitig wird die Zahl der Abgeordneten pro Klasse auf 46 angehoben; diese Senkung des Zensus bewirkt, daß sich die Politikfähigkeit auf das Kleinbürgertum ausdehnt. Damit wird lediglich das Wahlsystem an die drei Jahre zuvor für die Abgeordnetenkammer des Reichsrats verabschiedete Reform angeglichen. Schon bald machen sich die Folgen der Ausweitung des Stimmrechts auf das Kleinbürgertum bemerkbar. Die neuen Wähler sind die ideale Wählerschaft fiir die Chrisdichsoziale Partei, die sich 1893 hinter Lueger schart. Als Sprachrohr für deren Protest gegen den Liberalismus gelingt es ihm, bei der Wahl im April 1895 den Sieg davonzutragen. Unter dem Vorwand eines knappen Wahlergebnisses (66 Abgeordnete gegen 64) kann Franz Joseph sich weigern, die Wahl Luegers anzuerkennen. Zunächst eine zweite und dann noch eine dritte Wahl verstärken jedoch lediglich den Triumph der Christlichsozialen. Beim dritten Wahlgang im März 1896 erreichen sie 96 Sitze gegenüber 42 für die Liberalen. Um zu verhindern, daß sich die Stimmung in der Wiener Bevölkerung gegen ihn kehrt, resigniert Franz Joseph angesichts dieses Ergebnisses und bestätigt die Wahl. Im Lauf der folgenden Jahre verstärken die Christlichsozialen unter dem Taktstock Luegers regelmäßig ihre Mehrheit, bis die Liberalen 1910 ganz von der Bühne der Gemeinde verschwinden, nachdem sie ihre letzten Sitze verloren haben. Das erdrückende Ausmaß dieser Mehrheit läßt sich zugegebenermaßen stark auf das Wahlsystem zurückfuhren. Bis 1900 ist die Mehrheit der Arbeiter und Hausangestellten vom Stimmrecht ausgeschlossen. Die Wahlrechtsreform von 1896 schlägt sich 1900 auch in Wien mit der Einfuhrung einer vierten Kurie nieder, in der alle Erwachsenen zusammengefaßt werden, die bisher noch kein Stimmrecht hatten, d. h. 228.490 Personen. Die Auswirkungen dieser Reform werden jedoch durch die Entscheidung gemildert, daß diesem Wahlkollegium die drei anderen Kurien zugeschlagen werden, deren Angehörige damit das Vorrecht haben, zweimal zu wählen. Diese Anpassungen des Wahlsystems ermöglichen der Sozialdemokratie den Einzug in den Gemeinderat, gleichzeitig beschränken sie aber auch die Zahl der Abgeordneten. 1900 gelingt es den Sozialdemokraten nicht, mehr als zwei ihrer Kandidaten in den Bezirken mit dem höchsten Arbeiteranteil, Ottakring und Favoriten, wählen zu lassen. In dieser vierten Kurie können sie jedoch schon einen Anteil von Das Herz des monarchischen Systems : 193
43 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen. Dieses Resultat gibt eindeutig zu verstehen, daß sie in einem weniger unausgeglichenen Wahlsystem eine ernsthafte Bedrohung für die Chrisdichsozialen darstellen könnten. Der Anstieg der Sozialdemokratie setzt sich bis 1914 fort. 1905 sichert ihnen die Erweiterung des Stadtgebietes in Floridsdorf einen dritten Abgeordneten. Im Jahr darauf erhalten sie sieben Mandate und treten an die Stelle der Liberalen als Opposition gegen die christlichsoziale Mehrheit. Angesichts von 158 christlichsozialen Stadträten erlaubt ihnen dieses Ergebnis natürlich nicht, als Gegengewicht in der Stadtpolitik zu agieren. Aber bei den Parlamentswahlen von 1911, nur ein Jahr nach Luegers Abgang von der politischen Bühne, überholen sie erstmals die Christlichsozialen bei den Wahlen innerhalb des Stadtgebiets. Diese Wahl, die zwar keine unmittelbare Auswirkung auf die Machtausübung innerhalb der Stadt hat, ist jedoch eine deutliche Vorankündigung für den Wechsel, der innerhalb der politischen Kräfte nach dem Bruch von 1918 stattfinden sollte. Im Verlauf dieser Jahrzehnte hat die Stadt ihr Einflußgebiet sukzessive ausgeweitet. Gestärkt durch die den Gemeinden im Gesetz von 1861 zugestandene Autonomie beteiligen sich die städtischen Behörden am Wandlungs- und Modernisierungsprozeß, der durch die Vergrößerung des Stadtgebietes nötig wurde. Die liberalen Mehrheiten geben eine Reihe von großen Bauvorhaben in Auftrag, welche die Regierungsbauten ergänzen und somit das Bild der Stadt verändern. Um eine Wiederkehr der verheerenden Überschwemmungen zu verhindern, finanzieren sie die Regulierung des Donaukanals. Der Einsatz der Stadt wirkt sich natürlich auf die Infrastruktur aus: Straßen werden verbreitert; die Elisabethbrücke wird 1854 über die Wien geschlagen; auf einer Länge von 120 km wird eine Wasserleitung für die Stadt gebaut. Die Behausungen der Armen würden von diesem großartigen Bauwerk gleichermaßen profitieren wie die Palais der Reichen,3 erklärt der Wiener Bürgermeister Cajetan Felder anläßlich der Eröffnung am 24. Oktober 1874. Neue Gebäude — insbesondere Schulen — schießen aus dem Boden, da das Schulgesetz vom Mai 1869 die Gemeinden mit der Schulpolitik betraut. Um die kleinen, in der Stadt verstreuten Friedhöfe zu ersetzen, wird 1874 der sich über zwei Quadratkilometer erstreckende Zentralfriedhof eröffnet. Als Krönung dieses Programms errichtet Friedrich Schmidt das neue Rathaus am Ring, fiir das er anknüpfend an das mittelalterliche Flandern, die Heimstatt der kommunalen Freiheiten, die Neugotik wählt. Karl Weiss hatte schon in der Neuen Freien Presse angemerkt, daß die Gotik als der bürgerliche Stil bezeichnet werden müsse.4 Diese Bezeichnung erhält 1883 ihre volle Bedeutung, als das Rathaus einige Jahre nach seiner Eröffnung dem neuen Burgtheater gegenübersteht, das im neubarocken Stil erbaut wird, der fiir die kaiserlichen Gebäude der Jahrhundertwende charakteristisch ist. Als die Christlichsozialen die Macht in der Stadt erobern, wird eine neue Schwelle überschritten. Unter der Verwaltung von Karl Lueger maßt sich die Stadt 194 : Die Donaumetropole (1815-1914)
Rathaus
Parlament
Das Herz des monarchischen Systems : 195
zusätzliche Kompetenzen an. Dies ist der Anfang einer Politik des städtischen Sozialismus. Große allgemeine Versorgungsbetriebe werden unter städtische Verwaltung gestellt. In Simmering und der Leopoldau läßt Lueger Gaswerke errichten, welche die Versorgung der einundzwanzig Bezirke sicherstellen sollen. Die privaten Elektrizitätsgesellschaften werden von der Stadt zurückgekauft, gleichzeitig gehen die Straßenbahnen in den Besitz der Stadt über und werden elektrifiziert. Indem Lueger die Stadt mit sozialen Aufgaben betraut, regt er weitere Neuerungen an. Auf dem Gebiet von Gesundheit und Hygiene werden besondere Anstrengungen unternommen (Errichtung von Krankenhäusern, Sanatorien, städtischen Badeanstalten). Die Entscheidung, Wien mit einem Grüngürtel zu umgeben, der von der Verstädterung ausgenommen wird, entspringt dem gleichen Ansinnen. Diese verschiedenen Betätigungsfelder können jedoch die Tatsache nicht verschleiern, daß das Stadterneuerungsprogramm an einem Mangel krankt: dem Fehlen einer sozialen Wohnbaupolitik, ein Mangel, der um so schwerwiegender ist, als ein mehr als dringendes Bedürfnis danach besteht. Wien erfüllt seine politische Funktion damit auf verschiedene Weise. Es ist gleichzeitig die Residenz des Kaisers und des Hofes, politische Hauptstadt der Monarchie und Sitz der zentralen Behörden und des Reichsrates, weiters Sitz des Landtags und der Verwaltung Niederösterreichs und schließlich Sitz der städtischen Macht. Die Beziehungen zueinander entwickeln sich den Umständen gemäß, aber auch unter dem Druck der starken Strömungen des Jahrhunderts. Von all diesen Veränderungen fällt sicherlich am meisten auf, wie sehr die städtische Macht im letzten Drittel des Jahrhunderts zugenommen hat. Natürlich muß erwähnt werden, daß diese verschiedenen Erscheinungsformen der politischen Funktion Wiens nicht gleich zu gewichten sind, die Aufgabe als kaiserliche Residenz und Hauptstadt steht weiterhin an erster Stelle.
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Kapitel 7: Das wirtschaftliche Zentrum der Monarchie
Die politischen und religiösen Kämpfe und die anhaltende Türkengefahr lasteten lange drückend auf dem wirtschaftlichen Leben Wiens. Ende des 17. Jahrhunderts sind diese Hypotheken endgültig aus dem Weg geräumt. Die Präsenz des Hofes und die Konzentration der zentralen Verwaltungsbehörden nähren das Wachstum der Stadt, gleichzeitig werden dadurch Bedürfnisse geweckt, die die Ansiedlung von Industriebetrieben, insbesondere im Bereich der Luxusgüter, begünstigen. Am Beginn des 19. Jahrhunderts verfugt Wien daher über solide Pluspunkte. Wiens politische Vormachtstellung dient als Hebel, um den wirtschaftlichen Einfluß bis an die Grenzen des Reiches auszudehnen, ein vielfältiges Geflecht von Industriebetrieben hat sich in der Stadt angesiedelt. Werden diese Vorteile genügen, um den Wechselfallen des Jahrhunderts standzuhalten und die Herausforderung der industriellen Revolution anzunehmen?
D I E A N F Ä N G E DER I N D U S T R I E L A N D S C H A F T
Durch die Auswirkung der Reformen der Theresianisch-Josefinischen Ära hatte Wien von einem Aufschwung profitiert, der die Habsburgermonarchie auf das Niveau der Großmächte Westeuropas hob. Die Erschütterungen der Revolutionszeit und der Napoleonischen Ära sowie die 1811 dekretierte Geldabwertung erschütterten diese Position. Mit geringeren Wachstumsraten gerät Österreich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verglichen mit England, der Wiege der industriellen Revolution, aber auch im Hinblick auf die anderen Staaten im Westen des Kontinents sowie auf Preußen, seinen Rivalen in Deutschland, ins Hintertreffen. Der Fortbe-
Das wirtschaftliche Zentrum der Monarchie : 197
stand der Feudalherrschaft, die Aufrechterhaltung der Zünfte (die in Frankreich schon 1791, in Preußen 1810 abgeschafft wurden) und die Beibehaltung der Binnenzölle zwischen Osterreich und Ungarn wirken sich ebenfalls bremsend auf die Entwicklung aus. Der verzögerte Reformwillen ist zu einem guten Teil auf die Einstellung des Regimes zurückzuführen. Franz I., der ein geradezu krankhaftes Mißtrauen gegenüber der Industrie an den Tag legt, deren Wachstum das revolutionäre Umfeld begünstigen könnte, ist dafür das beste Beispiel. Auf seine Anregung hin wird beschlossen, die Ansiedlung neuer Industrien in Wien zu verbieten. Auch wenn diese Anordnung nicht auf Dauer aufrechterhalten werden konnte, macht sie doch die feindselige Haltung des Staates gegenüber dem Wandel deutlich. Ganz allgemein bereitet der Konservatismus des Regimes den Staat nicht auf die Notwendigkeiten der industriellen Entwicklung vor. Trotz dieser Nachteile erlebt Österreich weiterhin ein positives Wachstum. Innerhalb dieses Rahmens verfugt Wien über Trümpfe zur Konsolidierung der eigenen Position. Weiter gelten die Vorteile, die sich aus seiner Funktion als politische Hauptstadt ergeben; die Wiener Bevölkerung stellt außerdem einen stetig wachsenden Markt dar; und schließlich ist das Vorhandensein qualifizierter Arbeitskräfte ein wichtiges Argument, um neue Industriebetriebe anzuziehen: 1840 geht allein ein Achtel der industriellen Produktion der österreichischen Länder auf das Konto Wiens. In der Tradition des 18. Jahrhunderts steht die Konsumgüterherstellung, die sich insbesondere an einer begüterten Klientel orientiert, noch immer an erster Stelle und entwickelt sich in manchen Fällen weiter. Die Porzellanmanufaktur Augarten, die Glas- und Kristallherstellung von Lobmeyr sind auch zu dieser Zeit Markenzeichen Wiens. Eine weitere Spezialität bleibt die Möbelproduktion: Z u m Haus Dannhauser gesellt sich die Firma Thonet, die 1842 die Bewilligung zur Niederlassung in Wien erhält und bald internationale Bekanntheit erlangt. Ignaz Bösendorfer, der seit 1828 in seiner Fabrik in der Josefstadt Klaviere herstellt, macht sich einen Namen, der weit über die Grenzen Österreichs hinausreicht. Dennoch steht sowohl hinsichtlich der Anzahl der Beschäftigten als auch hinsichtlich der Höhe des Umsatzes der Textilsektor, insbesondere die Seidenherstellung, an der Spitze. Angesiedelt in den Vorstädten Neubau, Schottenfeld, Gumpendorf, Mariahilf und Margareten, beschäftigt dieser Industriezweig bis zu 30.000 Menschen, d. h. ein Fünftel der werktätigen Bevölkerung der Hauptstadt. Die Wiener Seidenindustrie sichert sich damit innerhalb der Monarchie eine herausragende Stellung. Sie erzielt 1841 mit insgesamt 12 Millionen Gulden fast zwei Drittel des Umsatzes dieser Branche in ganz Österreich, eine Bilanz, die darauf zurückzufuhren ist, daß mehrere große Seidenfabrikanten es sich angelegen sein ließen, technische Neuerungen in ihren Werkstätten einzuführen. In den übrigen Textilzweigen hingegen muß Wien mit mehreren anderen Regionen konkurrieren. Im 18. Jahrhundert hatte sich die Stadt zum Zentrum der mit198 : Die Donaumetropole (1815-1914)
teleuropäischen Baumwollproduktion entwickelt; in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts behält sie nur mehr im Spinnereisektor ihre Vormachtstellung, bei der Weberei und Druckerei wird Wien indes von Böhmen überholt. Im Bereich der Lebensmittelindustrie nimmt die Brauerei eine herausragende Stellung ein: Der Bierkonsum macht nun dem Wein Konkurrenz. 1849 zählt Wien nicht weniger als 49 Brauereien. 1840 erwirbt Adolf Mautner die Brauerei von St. Marx und macht daraus ein modernes Unternehmen, das sogar einen Teil seiner Produktion exportiert. Außerdem wird 1846 eine Tabakmanufaktur in der Porzellangasse eröffnet; sie beschäftigt 600 Arbeiterinnen und produziert bald 25 Millionen Zigarren jährlich. Das Wachstum der Stadt begünstigt die Entwicklung neuer Industriebetriebe. In diesem Zusammenhang muß besonders die zu Beginn des Jahrhunderts von Alois Miesbach in Inzersdorf errichtete Ziegelei erwähnt werden. Auch wenn die Bautätigkeit innerhalb des Wiener Großraumes nicht mit den Bedürfnissen Schritt halten kann, eröffnet diese Branche einem dynamischen Unternehmer ein reiches Betätigungsfeld. Die Zahlen sprechen für sich. Während die Produktion 1820 eineinhalb Millionen Stück erreicht, steigert das Unternehmen, mitderweile in Besitz von Heinrich Dräsche, dem Neffen des Gründers, diese 1848 auf 50 Millionen. In dieser Zeit entstehen jedoch vor allem Wirtschaftsbetriebe, die die Struktur und die Industrielandschaft der Stadt schrittweise verändern sollten. Dies ist insbesondere eine Folge der Revolution im Transportwesen, die nun auch auf Osterreich übergreift, wenn auch die Auswirkungen dort weniger heftig sind als in den westeuropäischen Staaten. Wien profitiert auch hier von seiner Stellung als Hauptstadt und befindet sich natürlicherweise im Mittelpunkt des Netzes, das sich allmählich abzeichnet. Mit der Einfuhrung der Dampfschiffahrt wird die Donau als Verkehrsweg neu belebt. 1829 wird die Donau-Dampfschiffahrtsgesellschaft gegründet, die das Monopol auf den Personen- und Warentransport auf dem Strom erhält. Auf der Jungfernfahrt am 17. September 1830 legt das Dampfschiff Kaiser Franz I. die Strecke zwischen Wien und Pest in 14 Stunden und 15 Minuten zurück. Im darauffolgenden Jahr wird der Linienbetrieb bis zu den Donaufürstentümern erweitert. 1837 wird eine zweite Linie eröffnet, die donauaufwärts bis Linz fährt. Von Jahr zu Jahr steigert die DDSG ihr Verkehrsvolumen: 1852 umfaßt ihre Flotte 71 Dampf- und 233 Schleppschiffe. Das Aufkommen der Eisenbahn sollte jedoch zu den größten Veränderungen fuhren. Die Anfänge sind schleppend, die Richtung wird jedoch schon von den ersten Initiativen an vorgegeben: Wien ist dazu ausersehen, zum Mittelpunkt eines sternförmigen Netzes zu werden. Am 19. November 1837 wird die Strecke Floridsdorf—Deutsch-Wagram eröffnet, die kaum über den Wiener Großraum hinausfuhrt. Das Ereignis wird mit großer Neugier verfolgt. Die in den Werkstätten von Das wirtschaftliche Z e n t r u m der Monarchie : 199
Newcastle in Auftrag gegebene Lokomotive zieht mit einer Geschwindigkeit von 33 Kilometern pro Stunde acht Waggons, in denen 164 geladene Gäste Platz genommen haben. Diese bescheidene Leistung ist lediglich das erste Teilstück der Kaiser-Ferdinand-Nordbahn, die Wien über Mähren und Schlesien mit Galizien verbinden soll; durch die Herstellung einer raschen Verbindung zum Steinkohlebecken von Ostrau (Ostrava) soll sie gleichzeitig zur Kohlenversorgung der Hauptstadt dienen. Die 1841 zwischen Wien und Wiener Neustadt eröffnete Strecke ist das erste Teilstück der Südbahn, die bis Triest fuhren wird. Im gleichen Jahr wird ein enormes Programm zur Konstruktion neuer Eisenbahnstrecken festgelegt: das Nordbahnnetz soll bis Prag verlängert werden und darüber hinausgehend bis zur sächsischen Grenze; im Westen wird eine Strecke Wien mit Bayern verbinden; im Süden ist eine Verbindung zwischen Mailand und Venetien vorgesehen. 1848 steckt die Verwirklichung dieses Plans erst in ihren Anfängen, das österreichische Eisenbahnnetz umfaßt jedoch bereits 1.249 Kilometer. In diesen Jahren werden auch die ersten Bahnhöfe gebaut, die beiden Kopfbahnhöfe Nord- und Südbahnhof, von wo aus die Eisenbahnlinien aus Wien hinausfuhren. Ab den 40er Jahren beginnen die Eisenbahngesellschaften in der Nähe der Bahnhöfe ihre Reparaturwerkstätten zu errichten, die bald auch eigene Eisenbahnteile erzeugen - zuvor gaben die Gesellschaften Lokomotiven und Waggons bei englischen Firmen in Auftrag. Diese Unternehmen setzen den Importen zwar ohne Zweifel kein Ende, sie reduzieren jedoch zumindest das Auftragsvolumen. So verläßt 1840 die erste in Osterreich hergestellte Lokomotive die Werkstätten der Nordbahn. Im gleichen Jahr wird eine weitere Fabrik nahe dem Südbahnhof eröffnet. Vor der Revolution sind nicht weniger als acht neue Fabriken zu verzeichnen. Diese Neubauten beginnen die Industrielandschaft der Stadt zu verändern. Bis Anfang der 30er Jahre waren die Industriebetriebe hauptsächlich in den Vorstädten Schottenfeld, Margareten und entlang der Wien konzentriert. Neue Zonen entstehen nun in der Nähe der Bahnhöfe in Bezirken, die, wie die Leopoldstadt, davon zuvor kaum berührt waren. Diese Veränderungen wirken sich auch auf die Unternehmensgröße aus. Vor den 30er Jahren gab es praktisch kein Großunternehmen in Wien. Sogar die Seidenindustrie blieb - von einigen Ausnahmen abgesehen - auf dem Niveau des Handwerksbetriebes, ganz abgesehen von der Heimarbeit. Auch wenn das Kleinunternehmen weiter im großen und ganzen vorherrscht, beginnt für Wien mit der Eröffnung der Werkstätten der Eisenbahngesellschaften das moderne Industriezeitalter. 1840 beschäftigt die von der Nordbahn errichtete Werkstätte 100 Arbeiter; 1845 gibt die Wien-Gloggnitz-Bahn 500 Menschen Arbeit. A m Vorabend der Revolution sind in drei weiteren Werkstätten zwischen 200 und 300 Personen tätig. Für die Wiener lassen sich diese Neuerungen in Gleiskilometern, in der Anzahl von Arbeitsplätzen, aber auch in Eindrücken und Sensationen messen. Diese Züge, 2 0 0 : Die Donaumetropole (1815-1914)
diese Bahnhöfe und mechanischen Konstruktionswerkstätten verändern die städtische Landschaft des ausgehenden Biedermeier. Ihr Rauch steigt in den Himmel der Stadt auf, und neuer Lärm fugt sich zu den fiir die Wiener gewohnten Tönen. Diese Veränderungen stehen auch im Zusammenhang mit der Beteiligung der Banken an der industriellen Entwicklung, die in diesen Jahren in Gang kommt. Gemäß des vom Staat erteilten Auftrags ist die 1816 gegründete Nationalbank eine Emissionsbank. Als Aktienbank ist sie mit mehreren Privatbanken vor Ort verbunden. Seit den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts wurden weitere Bankhäuser insbesondere von aus dem Ausland stammenden Persönlichkeiten ins Leben gerufen : der Begründer der Bankhauses Fries stammt aus Mühlhausen; die Geymüllerbank gehört seit 1805 einer aus Basel zugezogenen Familie; Salomon Rothschild, der seit 1820 auf dem Wiener Finanzmarkt tätig ist, hat in Frankfurt das Licht der Welt erblickt; Baron Sina entstammt einer griechischen Familie aus Mazedonien; die Barone Nathan von Arnstein und Bernhard von Eskeles, die seit 1774 assoziiert sind, sind in Wien geboren und gehören zur Gruppe der sogenannten „tolerierten Juden". Diese Privatbanken dominieren den Markt und machen Wien zum ersten Finanzplatz des Reiches. Sie konkurrieren um die Kundschaft, die in der Monarchie über großes Vermögen verfugt, um Kaiser, Hof und Aristokratie. Die Darlehen der Bank Arnstein und Eskeles waren Wien bei der Finanzierung der Feldzüge von 1805 und 1809 behilflich; 1821 spielt Salomon Rothschild, der Chef des österreichischen Zweiges der Familie Rothschild, diese Rolle, als es darum ging, eine militärische Intervention gegen die Revolutionsbewegungen in Neapel und Turin auf die Beine zu stellen. Unmittelbar nach seiner Niederlassung in Wien gelang ihm auf diese Weise ein Glanzstück, das ihm von Anfang an eine privilegierte Stellung beim Kaiser und bei Metternich sichert, wobei letzterer sich nicht als undankbar erweisen sollte. Die untersten Schichten der Gesellschaft sind nicht aufgerufen, zur Kundschaft dieser Banken zu gehören, aber auch sie werden nicht vergessen: ein Netz von Sparkassen wird sukzessive für sie aufgebaut. Die erste, 1819 in Wien eröffnet, dient als Vorbild. Sie wird zunächst in der Leopoldstädter Vorstadt angesiedelt, bis sie 1838 an Respektabilität gewinnt, als sie in die Mauern des von Alois Pichl errichteten imposanten Gebäudes am Graben im Herzen Wiens einzieht. Mehrere Privatbanken erkennen die Zeichen der Zeit und beschließen, im Transportsektor zu investieren. Dieses Engagement geht nicht ohne heftige Auseinandersetzungen ab. In einem gnadenlosen Kampf um die Konzession für die Nordbahn stehen einander Salomon Rothschild und das Haus Arnstein und Eskeles gegenüber. Schließlich erhält die Rothschildsche Bank im März 1836 eine Konzession über fünfzig Jahre für Bau und Betrieb der Strecke, die Wien mit Bochnia, nahe des noch unabhängigen Krakau, verbinden und Brünn, Olmütz und Troppau anfahren soll. Die wirtschaftliche Bedeutung dieser Strecke, über welche die schleDas wirtschaftliche Zentrum der Monarchie : 201
sische Kohle nach Wien transportiert werden kann, veranlaßt Salomon Rothschild, seinen ganzen Einfluß in die Waagschale zu werfen. Auf diese Weise sichert sich die Nordbahn, und mit ihr die Rothschild Bank, das Monopol fur die Brennstoffversorgung der Hauptstadt. Die Sina Bank ihrerseits erhält die Konzession fur die Strecken Wien-Raab und später Wien-Gloggnitz, die ersten Teilstücke, die später die Hauptstadt mit Buda-Pest und Triest verbinden werden. Die Stärkung Wiens als Wirtschaftsstandort ist auch mit dem Wirken dynamischer Unternehmer verbunden, die der industriellen Entwicklung der Stadt ihren Stempel aufdrücken. Als Anzeichen fur eine neue Zeit stammen mehrere von ihnen aus Wien. Während Alois Miesbach aus Mähren kommt, sind Rudolf von Arthaber, Philipp Haas, Christian Hornbostel und Anton Dreher in Wien geboren. Arthaber, Hornbostel und Dreher erben ein eigenes Unternehmen, auf das sie sich beim Aufbau ihres Vermögens stützen können, ein solcher Vorteil kommt Miesbach und Haas nicht zugute. Als Indiz fur seine Vormachtstellung in der Wiener Industrie ist derTextilsektor innerhalb dieser Gruppe am stärksten vertreten. Rudolf von Arthaber verkörpert den Typ des Großseidenfabrikanten. Sein Ruf ist eng mit dem Seidenschal verknüpft, einem Artikel, auf den er sich spezialisiert hat. Nicht damit zufrieden, die englische und französische Produktion am Binnenmarkt zu bekämpfen, gelingt es ihm, sich eine starke Position im Export bis Rußland und Nordamerika zu sichern. Auch Christian Hornbostel gehört zur Welt der Seidenfabrikanten. Nachdem er sich auf seine Aufgabe in den väterlichen Werkstatt vorbereitet hat, rundet er seine Ausbildung durch einen Aufenthalt in Lyon ab. Die lombardische Konkurrenz veranlaßt ihn, sich 1816 fur die Mechanisierung zu entscheiden, die mittelfristig zum Aufstieg des Unternehmens beiträgt. Außerdem ist er auch der erste, der sich außerhalb von Wien, in Leobersdorf, ansiedelt, wo er das Wasser zu günstigeren Preisen verwenden kann. Wie Arthaber, verbindet auch er seinen Namen mit einer Spezialität. In seinem Fall ist es der Crêpe de Chine, den er 1822 in Osterreich einfuhrt. Sein Sohn Theodor folgt ihm 1841 nach ; als Zeichen für den Ubergang zu einer neuen Generation besuchte dieser das Wiener Polytechnische Institut (heute : T U Wien), hat also eine universitäre Ausbildung. Philipp Haas, der sich nicht auf väterlichen Rückhalt stützen konnte, ist ein Selfmademan. 1810 erwirbt er seine eigene Werkstätte und entwickelt sich stetig weiter, bis er zu den Großen im Baumwollgeschäft gehört. 1831 verlagert er seine Fabrik von Wien nach Niederösterreich ; 1845 entschließt auch er sich für den Einsatz des mechanischen Webstuhls, im gleichen Jahr weitet er seine Aktivitäten auf die Teppichfabrikation aus. Durch die Qualität seiner Produkte erringt er zahlreiche Auszeichnungen anläßlich von Ausstellungen, 1839 und 1845 ' n Wien und 1844 in Berlin. Alois Miesbach absolvierte ein Wirtschaftsstudium und wurde zum Bauingenieur ausgebildet. Seine Fähigkeiten lassen Fürst Alois von Kaunitz auf ihn auf-
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merksam werden, der ihn in sein Gefolge aufnimmt, als er zum Botschafter in Madrid und später in Rom ernannt wird. Der junge Miesbach nützt seinen Aufenthalt, um sich mit den von den antiken Römern bei der Ziegelherstellung verwendeten Techniken vertraut zu machen. 1820 kauft er eine Ziegelei, wo jährlich etwa eineinhalb Millionen Stück produziert werden. Drei Jahre später errichtet er eine neue Fabrik in Meidling. Dies ist der Beginn eines Imperiums: 1855 besitzt er neun Ziegeleien, die meisten in Wien und der näheren Umgebung. Als Beispiel fiir eine vertikale Integration erwirbt er Kohlenbergwerke, um sich selbst mit dem für seine Ziegeleien nötigen Brennstoff zu versorgen. 1855 steht er an der Spitze von dreißig Zechen und beschäftigt 2.350 Arbeiter. All diese Persönlichkeiten treffen sich im Niederösterreichischen Gewerbeverein, der im November 1839 gegründet wird. Seine Gründung zeigt ganz deutlich den Aufstieg einer sozioprofessionellen Gruppe, die in der Gesellschaft des Vormärzes immer mehr an Einfluß gewinnt. Die Mitglieder des Gewerbevereins kommen nicht nur aus den Bereichen Handel und Industrie, vielmehr werden auch von außerhalb kommende Persönlichkeiten aufgenommen: Aristokraten, Beamte, Militärangehörige. Auf diese Weise wird der Gewerbeverein gleichzeitig zum Treffpunkt dieser „zweiten Gesellschaft", die für das Wien des 19. Jahrhunderts so typisch ist. Auch wenn dem Verein jegliche politische Betätigung untersagt ist, sind die dort geführten Gespräche ohne Zweifel nicht allein auf wirtschaftliche Themen beschränkt. Der Niederösterreichische Gewerbeverein ist vielmehr ein Ort des Meinungsaustauschs, wo ein Beziehungsgewebe zwischen Vertretern der wirtschaftlichen, sozialen und administrativen Eliten entsteht.
D A S S C H A U F E N S T E R DES L I B E R A L E N Ö S T E R R E I C H
Wie in den anderen Hauptstädten im Herzen des Gewittersturms fuhrt auch in Wien die Revolution von 1848 zu einer starken Verlangsamung der Wirtschaftstätigkeit und zu einem enormen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Mit der Rückkehr zur Ordnung kommen die Dinge erneut in Bewegung. Das wiedergewonnene Klima des Vertrauens genügt indes nicht zur Erklärung des Phänomens. Die Wirtschaftskrise war der Revolution vorangegangen und hat diese teilweise auch provoziert. Die Wiederaufnahme der wirtschaftlichen Tätigkeit läßt sich zu einem großen Teil durch die laissez-faire-Politik der Regierungen in der neoabsolutistischen Ära erklären, die sich für einen wirtschaftlichen Liberalismus entscheiden. Nicht aus politischer Klugheit allein läßt Schwarzenberg das vom Reichstag im September 1848 beschlossene Gesetz unangetastet, mit dem das Feudalsystem abgeschafft und eine große Agrarreform vorgezeichnet wurde. Er erkennt auch die darin enthaltenen Möglichkeiten für alle Sektoren der österreichischen Wirtschaft, da durch dieses Das wirtschaftliche Zentrum der Monarchie : 2 0 3
Gesetz Arbeitskräfte fiir die Industrie frei würden. Und gerade Wien kann von diesen Migrationsströmen nur profitieren. Die zweite wichtige von der Regierung Schwarzenberg ergriffene Maßnahme, die Abschaffung der Zölle zwischen Österreich und Ungarn, soll das neuerliche Anlaufen des Wirtschaftslebens stimulieren und einen wachsenden Austausch innerhalb des Reiches fördern. Zweifelsohne wird sie auch von einem politischen Ziel getragen - dem Willen, die Einheit der Monarchie zu stärken. Angesichts der in den beiden Reichshälften herrschenden unterschiedlichen Entwicklungsniveaus kann diese Maßnahme den österreichischen, also auch den Wiener Industrien nur förderlich sein, weil diesen dadurch die Möglichkeit gegeben wird, auf dem ungarischen Markt stärker präsent zu werden. Der Neoabsolutismus revidiert auch die seit den 40er Jahren vom Staat in der Eisenbahnpolitik verfolgte Linie. Hierzu wird das Gesetz vom 19. Oktober 1854 erlassen. In einer ersten Phase wurden Bau und Betrieb der Eisenbahnstrecken Privatunternehmen überlassen, die bei einer jährlichen Verzinsung von 1,4 Prozent die erzielten Gewinne nicht entnommen haben. Dann ersetzt der Staat allmählich die Privatinitiativen, entweder weil er selbst den Bau neuer Strecken übernimmt oder die Konzessionen von den Gesellschaften zurückkauft. 1850 kontrolliert er schon 70 Prozent des Netzes; vier Jahre später gehört nur mehr die Kaiser-FerdinandNordbahn den ursprünglichen Besitzern. 1854 faßt der Staat den Entschluß, sich aus dem Geschäft zurückzuziehen. Zweifelsohne kann er auf gute Geldeinnahmen hoffen — es ist dies die Zeit des Krimkriegs und der Okkupation der Donaufürstentümer, die beide schwer auf den öffentlichen Finanzen lasten. Aber außer diesen konjunkturellen Überlegungen eröffnet diese Kehrtwendung auch die Chance für den wirtschaftlichen Liberalismus. Diese neue Politik trägt auch bald ihre Früchte. Der Eisenbahnbau erlebt einen wahren Schub: Innerhalb von zwanzig Jahren wird das österreichische Netz auf 9.344 Kilometer erweitert und erreicht in Ungarn eine Länge von 6.253 Kilometern. Diesmal hat der Staat den Gesellschaften besonders attraktive Bedingungen zugestanden. Die Laufzeit wird nicht nur auf 99 Jahre verlängert, sondern vor allem wird den Gesellschaften eine Mindestrendite für das investierte Kapital garantiert. Diese Formel hält jedoch nicht angesichts der Depression, die auf den Börsenkrach im Mai 1873 folgt. Nun setzt eine Gegenbewegung ein - die Eisenbahnen kommen sukzessive wieder unter staatliche Kontrolle. Während 1883 noch drei Viertel des österreichischen Netzes in privater Hand sind, verbleiben dreißig Jahre später nur mehr 18 Prozent. Z u diesen allgemeinen Bedingungen gesellen sich die fiir Wien spezifischen Gegebenheiten. Zunächst sind da die mit der Schleifung der Stadtmauern verbundenen Großbaustellen und die Verbauung des Glacis. Auch die Ausweitung der Stadt kurbelt die Bauindustrie an. Hinzu kommt noch die mit diesem Wachstum im Zu-
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sammenhang stehende notwendig Entwicklung der Infrastruktur. Diese Bedürfnisse, die sich nicht allein aus der Zunahme der Oberflächenausdehnung des Wiener Großraumes ergeben, sondern auch durch die neuen Erfindungen, z. B. der Elektrizität, hervorgerufen werden, bewirken, daß sich die Lebensbedingungen der Stadtbewohner verändern. Im Hinblick auf das Modernisierungsprogramm verfugt Wien über weitere Pluspunkte, insbesondere sind hier die mit den exakten Wissenschaften und der Technik befaßten höheren Bildungseinrichtungen zu erwähnen. Das 1815 gegründete Polytechnische Institut steht in diesem Zusammenhang an erster Stelle. Mehrere ihm angehörende Professoren waren an der Konstruktion des österreichischen Eisenbahnnetzes beteiligt, wie z. B. Franz Xaver Riepl, ein Mineraloge, dem die Vaterschaft fiir die technische Konzeption der Kaiser-Ferdinand-Nordbahn gebührt. Die durch eine Gruppe von Industriellen 1857 ins Leben gerufene Handelsakademie und die Hochschule für Bodenkultur, die seit 1872 im Palais Schönborn untergebracht ist, erfüllen die gleiche Funktion. An dieser Stelle ist das Museum fiir Kunst und Industrie zu erwähnen, das 1864 auf Initiative von Rudolf von Eitelberger, Inhaber des Lehrstuhls für Kunstgeschichte an der Universität Wien, gegründet wird. Nach dem Vorbild des South Kensington Museum in London konzipiert, hat es sich die Aufgabe gestellt, als Bindeglied zwischen Kunst und Industrie zu fungieren, ein Ziel, das um die Jahrhundertwende von mehreren Schöpfern des Jugendstils wiederaufgegriffen werden sollte. Zunächst im Ballhaus untergebracht, zieht es 1873 in ein eigens dafür errichtetes Gebäude am Stubenring. Die Weltausstellung des Jahres 1873 versteht sich als Schaufenster des liberalen Österreich. Der Augenblick ist besonders günstig. Getragen von der Euphorie einer beispiellosen Expansionsphase soll sie die Erfolge der neuen Ära und die Dynamik der österreichischen Wirtschaft veranschaulichen. Es wird alles unternommen, um die Ausstellung zu einem herausragenden Erfolg zu machen. Der Öffentlichkeit zugänglich sind um die zweihundert Pavillons auf einer sechzehn Hektar umfassenden Fläche, die fünfmal größer ist als in Paris sechs Jahre zuvor. Die Hauptattraktion ist eine Rotunde von riesigen Ausmaßen, die von einer Kuppel mit einer Höhe von 84 Metern und einem Durchmesser von 108 Metern gekrönt wird, in der sich die rund vierzig an der Schau teilnehmenden Länder präsentieren. Nahe dieses riesigen „Gugelhupfs", wie die Wiener sie gerne nennen, kann man in einem Maschinensaal das Getriebe der Industriegesellschaft erleben. Österreich-Ungarn beansprucht naturgemäß den Löwenanteil: Von 53.000 Exponaten zeigt es allein 15.000, wobei die wichtigsten Beiträge aus derTextil- und Lebensmittelindustrie sowie aus der Landwirtschaft stammen. Wurde zu groß geplant? Die Bilanz entspricht nicht der Erwartung der Organisatoren. In der Tat wird die Weltausstellung das Opfer mehrerer Schicksalsschläge. Das wirtschaftliche Zentrum der Monarchie : 2 0 5
Da ist zunächst der Börsenkrach vom 9. Mai, nur acht Tage nach ihrer Eröffnung, dann die Choleraepidemie, die zu diesem Zeitpunkt in Mitteleuropa wütet. Letztlich zieht die Ausstellung lediglich sieben Millionen Besucher an anstelle der erwarteten zwanzig Millionen. Dennoch war sie für die Industrien der Monarchie eine einzigartige Gelegenheit, ihren Produkten einen größeren Bekanntheitsgrad zu verschaffen und sich an der Produktion der anderen europäischen Großmächte zu messen. Wien verstärkt seine Stellung als Eisenbahnmittelpunkt der Monarchie. Die von Karl von Ghega konstruierten Kunstbauten ermöglichen ab 1853 die Uberwindung des Semmeringpasses und damit eine direkte Verbindung von Wien nach Triest. Kurz darauf wird dieser Strecke eine Nebenverbindung von Wien nach Laibach angefiigt. Neue Programme werden in Angriff genommen, die eigentlich schon im Plan von 1841 vorgesehen waren. So wird 1856 die Kaiserin-Elisabeth-Westbahn gegründet, die Wien mit Bayern verbinden soll. 1858 wird das erste Teilstück von Wien nach Linz für den Verkehr freigegeben; zwei Jahre später werden Salzburg und die bayerische Grenze erreicht. Der von der Kaiser-Ferdinand-Nordbahn ausgeübte Druck, die eifersüchtig auf ihr Monopol achtet, verzögert lange Zeit die Eröffnung einer direkten Streckenverbindung von Wien nach Prag. Als dieser Widerstand Ende der 60er Jahre endlich gebrochen wird, werden zwei neue Gesellschaften, die Franz-Joseph-Bahn und die Nordwestbahn, gegründet, die eine Verbindung nach Böhmen und Mähren ermöglichen. Überdies beginnt die Geschwindigkeit die Distanzen zu verringern. Wo man früher zwölf Stunden von Wien nach Brünn brauchte, sind es nun nur mehr vier. Neue Bahnhöfe werden gebaut. Der 1858 eröffnete Westbahnhof dient der Kaiserin-Elisabeth-Westbahn als Ausgangspunkt; die Reisenden, welche die nach Böhmen und Mähren eröffneten Strecken benutzen, steigen am Franz-Joseph-Bahnhof bzw. am Nordwestbahnhof in den Zug, ersterer wurde 1870, letzterer 1872 fertiggestellt. Die alten, zu eng gewordenen Bahnhöfe werden erneuert (der Nordbahnhof von 1858 bis 1865, der Südbahnhof von 1869 bis 1873). Die Wiener Bahnhöfe werden zu imposanten Gebäuden, die in den damals modernen eklektizistischen Stilarten errichtet werden. Die Fassade des Nordbahnhofs vermischt Spätromanik mit maurischen Anklängen, die damals sehr geschätzt wurden; die Front des Südbahnhofs ist von der Renaissance inspiriert. Der Abfahrtshalle des Nordbahnhofs wird mit Statuen geschmückt, welche die von der Gesellschaft angefahrenen Städte darstellen; am Nordwestbahnhof übernehmen Fresken an der Hallenwand diese Funktion. Als äußeres Zeichen für den sensationellen Aufschwung des Schienentransports verfugt Wien Anfang der 70er Jahre über fünf Bahnhöfe, die es mit den verschiedenen Gebieten der Monarchie und einige auch mit dem Ausland verbinden.
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Nordbahnhof. Wien sollte zur Kopfstation eines sternförmigen Eisenbahnnetzes werden.
Die Rotunde auf der Weltausstellung des Jahres 1873.
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Sicherlich profitiert Wien nicht von allen wirtschaftlichen Entwicklungen, und einige Industrien leiden auch unter den relativ teuren Arbeitskräften. Hierfür bietet der Rückgang der Seidenindustrie ein gutes Beispiel. Sie, die lange Zeit der wichtigste Industriezweig Wiens war, verzeichnet schon kurz vor der Revolution von 1848 einen Rückgang, die Krise weitet sich ab den 50er Jahren aus. Wenn der Verlust der Lombardei die schon unbeständige Situation nicht verbessert, so ist die Hauptursache in der Entscheidung der Unternehmer zu sehen, ihre Betriebe in andere Regionen, wie Niederösterreich, Böhmen oder Mähren, zu verlagern, wo ihnen mehr Raum und billigere Arbeitskräfte zur Verfugung stehen: Zwischen 1850 und 1887 geht die Zahl der in der Hauptstadt ansässigen Fabriken oder Werkstätten von 456 auf 83 zurück, jene der Arbeiter von 8 . 6 6 5 I - I 3 4 - Auch die nachgelagerte Seidenbänderindustrie verzeichnet einen starken Rückgang: Im Verlauf des gleichen Zeitraums fällt die Zahl der Hersteller von 175 auf 42, jene der Arbeiter von 3.068 auf 785. Die Entscheidungen des Hauses Adensamer, das sich auf die Seidenbandherstellung spezialisiert hat, illustrieren diese Grundtendenz. Nach der Gründung 1828 in Wien übersiedelt das Unternehmen 1846 nach Niederösterreich, bleibt also noch nahe der Hauptstadt, gegen Ende des Jahrhunderts jedoch fällt die Wahl auf Schlesien als Standort einer neuen Fabrik. Auch finanzielle Faktoren schrecken einige Unternehmen davor ab, sich in Wien niederzulassen. Bis Anfang der 70er Jahre bedingt das Monopol der Nordbahn, daß die Kohle in der Hauptstadt um 50 Prozent teurer als in Prag verkauft wird. Dieser Unterschied veranlaßt manche Unternehmen, sich eher in Böhmen als in Wien anzusiedeln. Auch in Wien schlagen die Krisen zu Buche, welche die österreichische Wirtschaft in regelmäßigen Abständen treffen. Mit voller Wucht erlebt die Stadt die Auswirkungen der großen Krise von 1873. Nach einer günstigen Phase zu Beginn des Ringstraßenbaus wird die Bauindustrie hart getroffen. In wenigen Jahren verlieren die Unternehmen dieses Wirtschaftszweiges bis zu einem Drittel ihres Kapitals. Parallel dazu steigt die Arbeitslosigkeit stark an. Ende Februar 1874 sind 19.000 Arbeitslose in Wien registriert, zu denen noch 14.000 Arbeitnehmer hinzukommen, welche die Stadt in Ermangelung einer Arbeit verlassen. Die Schließung eines Konfektionsbetriebes nahe dem Arsenal setzt 1.200 Leute auf die Straße; durch die Auswirkung der Krise reduzieren die fünf Wiener Eisenbahnfabriken zwischen 1872 und 1876 ihr Personal von 5.428 auf 1.767 Beschäftigte. Bis 1880 bleibt die österreichische Wirtschaft in einem Depressionstief. Diese düsteren Jahre, die wie ein Trauma wirken, sollten die Einstellung der Menschen noch lange prägen. Sie nähren das Aufkommen einer starken antiliberalen und antikapitalistischen Stimmung in der Wiener Gesellschaft, deren Auswirkungen auch lange nach der Erholung der Wirtschaft noch stark zu spüren sind. Bis Mitte der 90er Jahre verläuft der Aufschwung, der immer wieder Rückschläge erlebt, zöger-
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lieh, erst dann gewinnt er an Schwung. Wien, das die innerhalb des großen Gefuges der Monarchie herrschenden Bewegungen widerspiegelt und häufig verstärkt, profitiert vorrangig von dieser Wiederbelebung des Wachstums.
N E U E INDUSTRIEN
Während dieser Jahrzehnte verstärkt Wien seine Position als industrielles Zentrum, bis 1914 behält der Kleinbetrieb jedoch weiterhin ein starkes Gewicht. Das Handwerk, das von der Krise des Jahres 1873 zwar hart getroffen wurde, gibt 1890 jedoch noch fast 200.000 Menschen Arbeit, 60.000 davon sind Meister. Am Vorabend des Krieges arbeiten noch immer mehr als die Hälfte der Wiener Arbeiter in Unternehmen mit weniger als zwanzig Beschäftigten. Innerhalb der verschiedenen Produktionszweige kommt es zu Umschichtungen. Die Textilbetriebe verzeichnen einen starken Rückgang, beschäftigen sie 1869 doch nur mehr fünf Prozent der arbeitenden Bevölkerung Wiens. In der Lebensmittelindustrie verliert Wien zunehmend seine Mühlenbetriebe an Budapest, das sich schließlich auf diesem Gebiet weltweit auf Platz zwei schiebt. Andererseits können sich traditionelle Industriezweige halten bzw. sogar prosperieren. 1829 arbeiten 29 Prozent der Arbeitnehmer in Industrie und Handwerk in der Konfektion; mit einem Anteil von acht Prozent ist auch die holzverarbeitende Industrie im Aufschwung. Wien hält seine starke Position im Brauereiwesen; dieser Zweig erfährt einen starken Konzentrationsprozeß, so daß fünf Unternehmen den Markt beherrschen. Vor allem diesen, wenn auch in der Minderzahl bleibenden, modernen Produktionszweigen verdankt Wien die Stärkung seiner industriellen Funktion. In einer ersten Phase, die mit dem beschleunigten Ausbau des Eisenbahnnetzes zusammenfällt, geben die metallverarbeitenden Industrien weiter den Ton an. Neue Reparatur- und Fabrikationswerkstätten für Eisenbahnzubehör werden eröffnet. Wenn sich die Süd- und Westbahn noch für Flächen nahe der Bahnhöfe entscheiden, so siedeln andere Gesellschaften ihre Werkstätten in weiter entfernten Gegenden an, wo die Bodenpreise niedriger sind. Die Nordbahn ging da schon 1852 beispielhaft voran, als sie eine Werkstatt zur Waggonherstellung in Floridsdorf errichtete. 1873 kommt noch eine Fabrik zur Montage von Lokomotiven dazu. Nach diesem Vorbild fällt bei der Staatseisenbahn und der Nordwestbahn die Entscheidung fiir Simmering bzw. Jedlersee. Mit einer Arbeitnehmerschaft zwischen 500 und 1.000 Arbeitern erreichen diese Einheiten eine Größe, die sie zu den Großunternehmen der damaligen Zeit zählen läßt. Dieser Sektor wird noch um Fabriken erweitert, die unabhängig von den Gesellschaften gegründet werden: z. B. die Wiener Lokomotivfabrik A G , seit 1869 in Floridsdorf ansässig, und die Waggons und Tramway Baugesellschaft, die im gleichen Jahr in Hernais ihre Tätigkeit aufnimmt.
Das wirtschaftliche Zentrum der Monarchie : 2 0 9
Die Industrien beginnen sich also in Vororten, wie Favoriten oder Simmering, anzusiedeln, die noch kaum parzelliert sind und wo der Boden billig ist, oder sogar in Gemeinden jenseits der Donau, wie Floridsdorf. Diese Verlagerung an die Peripherie des Wiener Großraums hat zahlreiche Auswirkungen. Zunächst werden auch die nachgelagerten Industrien angezogen und damit als Multiplikatoreffekt die Entwicklung von Arbeiterwohnraum gefördert. Dieses Reservoir an Arbeitskräften wiederum fuhrt zur Ansiedlung von Industrien, die vom Eisenbahnbau unabhängig sind. 1871 etabliert sich eine Fabrik zur Juteverarbeitung in Simmering; drei Jahre später eröffnet das gleiche Unternehmen einen zweiten Betrieb in Floridsdorf. 1877 siedelt sich eine weitere Fabrik zur Stearin- und Margarineherstellung in Simmering an. Eine zweite Phase beginnt in den 80er Jahren mit dem Aufkommen der verschiedenen Elektroindustrien, einer neuen Branche mit stark wachsendem Bedarf. Zunächst erfolgt 1897 der Start der elektrischen Straßenbahn, die bald die alte Pferdetramway ersetzen wird, gefolgt von einer raschen Verlegung eines Schienennetzes, das den ganzen Großraum erfaßt; dann kommt es zur Errichtung von Kraftwerken zur Speisung dieses Netzes, aber vor allem zur Beleuchtung der Straßen und Häuser, was wiederum die Massenproduktion von Kabeln und Lampen zur Folge hat; schließlich erfordert die Einfuhrung des Telefons im Jahre 1881 die Herstellung des Materials und die Verlegung eines Telefonnetzes, und wenig später kommt noch der Aufzug hinzu. Während Telefon und Aufzug um die Jahrhundertwende noch Kuriositäten sind, ist 1913 bereits ein Durchbruch gelungen: 60.000 Telefone sind schon in Verwendung und 3.000 Häuser mit einem Aufzug ausgestattet. Die Zahlen sprechen fiir den raschen Aufstieg dieser Branche. In den Anfängen, 1885, wurden kaum 300 Leute beschäftigt; fünf Jahre später sind es schon 2.500; mit 9.000 Arbeitskräften wird 1902 bereits ein Anteil von 6,6 Prozent der in den Wiener Betrieben Beschäftigten erreicht. Als weiterer Indikator für die Gesundheit dieses Industriezweigs wurden allein im Jahr 1890 590 Kilometer Kabel, 220.000 Glühbirnen, 11.900 Telefonapparate und 10.400 Telegrafen erzeugt. Diese neuen Industrien verstärken die schon zuvor wirksamen Tendenzen, weil sie sich vorzugsweise in den Randbezirken der Hauptstadt (Leopoldau, Simmering, Favoriten und Ottakring) ansiedeln, wo sie den nötigen Raum vorfinden. Der Großraum Wien bietet diesen Industrien einen Markt, der allein schon deren dortige Ansiedlung rechtfertigen würde. Ihre geschäftlichen Aktivitäten aber erstrecken sich auf die gesamte Monarchie und manchmal sogar bis ins Ausland. Die Wiener Unternehmen haben Kunden auf allen fünf Kontinenten. Sie exportieren Glühbirnen nach Frankreich, Spanien, Südamerika und bis Australien; die Schweiz, Serbien, Bulgarien, die Türkei und Ägypten kaufen von ihnen Telefonapparate und Telegrafen. Mit den hauptsächlich am Binnenmarkt tätigen Firmen und den exportorientierten Unternehmen konzentriert Wien innerhalb Österreichs den Löwenanteil dieser stark expandierenden Produktion auf sich. 2 1 0 : Die Donaumetropole (1815-1914)
Diese Feststellung muß jedoch insofern korrigiert werden, als diese Industrien im allgemeinen von ausländischem, meist deutschem Kapital kontrolliert werden. Die Firma Feiten und Guilleaume, die seit 1893 im 10. Bezirk Kabel herstellt, hat ihren Sitz in Köln; die im 20. Bezirk ansässige Gesellschaft Kremenetzky, die elektrische Lampen produziert, stammt aus Nürnberg; 1898 schließen sich drei Berliner Gruppen zusammen, um die Osterreichische Union Elektrizitäts Gesellschaft zu gründen, die 1903 von der A E G des Emil Rathenau übernommen wird. Ganz sicherlich das deutlichste Anzeichen für diese deutsche Präsenz ist das mächtige Siemens-Werk, das am Vorabend des Ersten Weltkrieges allein in Wien über nicht weniger als fünf Fabriken mit 5.400 Arbeitern verfugt. Mit der Ansiedlung von Unternehmen, die mit den modernen Transportmitteln im Zusammenhang stehen, werden die modernen Industriesektoren ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert weiter verstärkt. Als Ergebnis der Zusammenarbeit des Industriellen Ludwig Lohner und des Ingenieurs Ferdinand Porsche nimmt Wien einen guten Platz in der Geschichte der Anfänge des Automobilbaus ein. Der von Porsche entwickelte Verbrennungsmotor ermöglicht es Lohner 1899, ein Automobil herauszubringen, das bei der Präsentation im folgenden Jahr bei der Pariser Weltausstellung seinen Konstrukteuren prompt eine internationale Auszeichnung einbringt. Wenn das Haus Lohner 1906 auch die Herstellungspatente an die österreichische Daimler-Filiale verkauft, so wird die Produktion keineswegs eingestellt, sondern vielmehr weitergeführt und -entwickelt. Ludwig Lohner, der mehr denn je in seiner Rolle als Pionier aufgeht, dehnt seine Tätigkeit 1910 auf den Flugzeugbau aus, wo er mit Unterstützung von Militäraufträgen neue Lorbeeren erntet. 1916 verlassen 30.000 Fahrzeuge und 500 Flugzeuge seine Fabrik in Floridsdorf. All diese Neuerungen machen eine neue Realität deutlich: In der Regel handelt es sich um Großunternehmen. Daran läßt sich das starke Wachstum der österreichischen Wirtschaft in den Vorkriegsjahren erkennen - und Wien geht bei dieser Expansion beispielhaft voran: Um die Jahrhundertwende verfugt der Wiener Raum lediglich über zehn Unternehmen mit mehr als 1.000 Arbeitern, 1913 sind es bereits 29. 1914 ist Wien zu einem bedeutenden Industriezentrum geworden, das durch die Einbeziehung der modernen Industrien seine Produktionspalette zu diversifizieren verstand. Der Maschinenbau, der allein 60.000 Arbeiter beschäftigt, hat dem Aussehen der neuen Bezirke seinen Stempel aufgedrückt und dadurch die Bevölkerungsstruktur bestimmt.
D E R E R S T E F I N A N Z P L A T Z DES R E I C H E S
Vor 1848 hatten die Banken begonnen, in das Transportwesen zu investieren. Mit dem Aufkommen von Aktienbanken, die ihren Tätigkeitsbereich auch auf die Industrie ausdehnen, erweitert sich dieses Engagement ab den 50er Jahren. Das wirtschaftliche Zentrum der Monarchie : 21 I
Auch hier dient Frankreich während des zweiten Kaiserreichs als Vorbild, und zwar in diesem Fall die Crédit mobilier der Brüder Pereire. Ermutigt durch Finanzminister Baron von Bruck, soll die Creditanstalt für Handel und Gewerbe eine Antwort auf die von den Brüdern Pereire auf Mitteleuropa gerichtete Offensive sein. 1855 gegründet, vereinigt die Creditanstalt in ihrem Kapital den Adel und das Großbürgertum. An dem Kapital von 100 Millionen Gulden ist Anselm Rothschild mit einem Betrag von 24 Millionen beteiligt, was ihm von Anfang an eine dominierende Position sichert. Andere große Namen des österreichischen Bürgertums beteiligen sich an der Operation: der Prager Bankier Leopold von Lämel, sein Schwager Eduard Wiener, Präsident der Donau-Dampfschiffahrtsgesellschaft, der Bankier und Industrielle Alexander Schoeller, der Seidenfabrikant Theodor Hornbostel. Die Aristokratie beteiligt sich ebenfalls, da mehrere Mitglieder des Hochadels den Entschluß fassen, die anläßlich der Agrarreform erhaltenen Ausgleichszahlungen in moderne Wirtschaftszweige zu investieren. So steht der Aufsichtsrat der Creditanstalt unter dem Vorsitz von Fürst Johann Adolf Schwarzenberg, dem Oberhaupt des älteren Zweiges der bedeutendsten Familie Böhmens. Zudem sitzen an seiner Seite - für die böhmische Gruppe - die Fürsten Auersperg und Fürstenberg sowie Graf Chotek, während der ungarische Adel von den Grafen Barkoczy und Zichy vertreten wird. Dem Beispiel der Creditanstalt folgt bald darauf die Niederösterreichische Escompte-Gesellschaft. Anfang der 60er Jahre werden zwei neue Aktienbanken aus der Taufe gehoben : die Bodencreditanstalt, an der französische Kapitalgeber beteiligt sind, und die Anglo-österreichische Bank, deren Name schon die Bedeutung der englischen Beteiligung erahnen läßt. Später entstehen noch der Wiener Bankverein, die Länderbank und die Unionbank. Ende der 60er Jahre wird der Bankensektor von einem wahren Fieber erfaßt. Ubereilt gegründete Banken überschwemmen den Börsenmarkt mit Aktien von ebenso überhastet gebildeten Gesellschaften. Zwischen 1867 und 1873 werden 138 Banken - 70 davon haben ihren Sitz in Wien - in ganz Österreich geschaffen, wobei diese Zahl eindeutig die Möglichkeiten des Marktes übersteigt. Die Mehrzahl von ihnen beteiligt sich an der Spekulationsbewegung, die während jener Jahre für die überhitzte österreichische Wirtschaft; charakteristisch ist. Die Folgen lassen nicht lange auf sich warten. Mehr als die Hälfte dieser Banken werden anläßlich der Krise von 1873 hinweggefegt. Nach diesem Sturm verbleiben noch kleine Unternehmen, neun Großbanken heben sich jedoch in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts ab und beherrschen den Wiener Markt. Wien bestätigt mithin seine Stellung als erster Finanzplatz im österreichisch-ungarischen Gefüge. Die Krise hat einen anhaltend negativen Einfluß auf die Beziehungen zwischen den Banken und der Industrie. Bis zum Ende des Jahrhunderts schrecken die Bankiers vor Investitionen in der Industrie zurück, die als Risikosektor eingeschätzt 212
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wird. Dieses Mißtrauen wird durch den Mißerfolg des französischen Finanziers Eugène Bontoux geschürt, dem es Anfang der 8oer Jahre nicht gelingt, um die Länderbank ein Imperium aufzubauen, das sich auf Großunternehmen in der Schwerindustrie und dem Transportwesen stützt. Der Einfluß der Wiener Großbanken manifestiert sich im Filialnetz, das allmählich in der gesamten Monarchie aufgebaut wird. Die Nationalbank hat den Weg vorgezeichnet. Anfang der 50er Jahre verfugt sie über fünf Filialen in Linz, Graz, Prag, Brünn und Troppau. 1864 wird dieses Netz um weitere elf Niederlassungen erweitert. Nach dem Tief, das auf die große Depression folgt, wird die Weiterentwicklung Ende der 80er Jahre wieder aufgenommen. Die Bank, die seit dem Ausgleich zur Österreichisch-ungarischen Bank wurde, öffnet zwischen 1887 und 1897 elf neue Filialen und weitere zwölf in der Zeit zwischen 1890 und 1907. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges verfugt sie insgesamt über an die fünfzig Niederlassungen. Von den Aktienbanken geht die Creditanstalt als erste diesen Weg. Anfang der 60er Jahre steht sie bereits an der Spitze eines Netzes von sechs Filialen (Prag, Brünn, Lemberg, Triest, Pest und Kronstadt). Z u dieser Zeit ist sie beinahe eine Ausnahmeerscheinung. Nur die Anglo-österreichische Bank und die Unionbank folgen ihrem Beispiel, wenn auch in bescheidenerer Form - erstere mit zwei Filialen (Prag und Brünn) und zweitere mit einer einzigen (Triest). Erst in den 80er Jahren werden die Maschen dieses Netzes enger: Zwischen 1885 und 1895 werden elf Filialen eröffnet. A m Vorabend des Krieges zählt die Anglobank 23 Filialen. Die Länderbank, der Wiener Bankverein und die Merkurbank, die sich bis dahin dem Trend noch nicht angeschlossen hatten, beginnen sich nun diesem anzuschließen. Gegen Ende des Jahrhunderts beschleunigt sich der Prozeß: Von 1895 bis 1909 werden 43 Filialen außerhalb der Hauptstadt eröffnet, zu denen zwischen 1910 und 1913 noch weitere 67 hinzukommen. Die Wiener Großbanken dehnen ihren Einflußbereich auf die gesamte Monarchie aus und übernehmen somit auch die Kontrolle über die Provinzbanken. Dem Imperium der Creditanstalt werden die Galizische Bank fur Handel und Industrie in Krakau, die Galizische Bodencreditbank in Lemberg und die Bielitz-Bialer Escompte- und Wechselbank in Bielitz einverleibt; der Wiener Bankverein bestimmt über die Böhmische Union-Bank in Prag, die Banca Commerciale Triestina in Triest und die Bukowiner Bodencreditanstalt in Czernowitz; 1891 übernimmt die Eskompte-Gesellschaft die Böhmische Eskomptebank, eine deutsche Bank in Prag. Die Wiener Banken sichern sich auch in Ungarn eine beherrschende Stellung, wobei sie häufig eine Mehrheitsbeteiligung an den ungarischen Banken übernehmen : So kontrollieren die Rothschild Bank und die Creditanstalt die Ungarische Allgemeine Creditbank, die Ungarische Commerciale Bank hängt vom Wiener Bankverein ab und die Ungarische Escompte- und Wechselbank von der Wiener Unionbank. Das wirtschaftliche Zentrum der Monarchie : 2 I 3
Erst in den letzten Jahren des Jahrhunderts engagieren sich die Wiener Großbanken energisch in der Industrie. In den 50er und 60er Jahren richtet sich ihr Interesse weiterhin hauptsächlich auf die Eisenbahnen. Insbesondere die Creditanstalt hat sich hier ein riesiges Imperium geschaffen. Im Verbund mit der Rothschild Bank beteiligt sie sich an der Gründung der Kaiserin-Elisabeth-Westbahn, kauft die Eisenbahnen der Lombardei und Venetiens zurück und übernimmt vor allem die Kontrolle über die Südbahn. Mit ihrer Tochtergesellschaft, der Staatseisenbahn Gesellschaft, baut sie die Verbindungsstrecke von Budapest nach Siebenbürgen. Die Entwicklung, die sich während der Zeit der großen Depression verlangsamt hat, gewinnt in den 90er Jahren wieder an Dynamik. Bezeichnend für die Expansion der österreichischen Wirtschaft in der Zeit von 1907 bis 1913 ist, daß die Wiener Großbanken mit einem Kapital von 427 Millionen Kronen an der Gründung von 119 Aktiengesellschaften mit industrieller Zielsetzung beteiligt sind. Am stärksten engagiert sind die Creditanstalt und die Anglo-österreichische Bank, jede mit 24 Beteiligungen, gefolgt von der Länderbank, dem Wiener Bankverein und der Bodencreditanstalt mit 17 bzw. 14 und 12 Beteiligungen. Bezogen auf die Kapitalsumme hebt sich die Creditanstalt mit Beteiligungen im Wert von 120 Millionen Kronen deudich ab. Als Ergebnis der Politik zweier aufeinanderfolgender Präsidenten, Theodor von Taussig und Rudolf Sieghart, nimmt die Bodencreditanstalt mit 82,5 Millionen an Investitionsmitteln Platz zwei ein, während die Länderbank und die Anglobank schon mit erheblichem Abstand mit 45,3 bzw. 44,5 Millionen folgen. Nach dem Fieber der 50er und 60er Jahre nimmt der Anteil der Eisenbahnen an den Bankinvestitionen zugunsten anderer Branchen ab. 1899 erwirbt die Creditanstalt die Skoda Maschinen- und Waffenfabriken und wandelt diese in Aktiengesellschaften um, damit gelingt ihr ein Coup, der den anderen Bankiers den Weg weist. Beim Aufbruch ins neue Jahrhundert favorisieren die Wiener Großbanken Investitionen in die Eisenhüttenindustrie und den Maschinenbau, wo sie 46,8 Prozent des Kapitals halten. Auch hier hat sich die Creditanstalt mit 24,6 Prozent des Industriekapitals wieder eine beherrschende Position gesichert. Der Wiener Bankverein und die Niederösterreichische Escompte-Gesellschaft folgen mit Anteilen von 18,7 bzw. 15 Prozent. Dieser Zufluß von Wiener Kapital wirkt sich auch insofern aus, als mehrere Gruppen beschließen, den Sitz ihrer Gesellschaft in die Hauptstadt zu verlegen. Nach den beiden größten Eisenhüttengesellschaften Böhmens, der Prager Eisenindustrie-Gesellschaft aus Kladno und der Böhmischen Montangesellschaft, verlegt auch Skoda, nun unter Kontrolle der Creditanstalt, 1902 die Generaldirektion von Pilsen nach Wien. Die Interventionen der Wiener Banken machen an den Ufern der Leitha nicht halt. Von Belang für die Beziehungen zwischen Österreich und Ungarn ist durchaus, daß sie direkt oder indirekt durch ihre Beteiligungen an Budapester Banken einen
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wichtigen Teil der ungarischen Industrie kontrollieren. Zunächst Ausdruck der nationalen Selbstbehauptung der Magyaren, nimmt diese im Laufe der Zeit allmählich ab. Am Vorabend des Krieges ist die ungarische Industrie daher zu einem großen Teil von österreichischem Kapital abhängig. 1913 kontrollieren die fünf größten Wiener Banken allein 47 Prozent. Im Gegensatz zu den politischen Beziehungen zwischen Osterreich und Ungarn bleibt Wien in wirtschaftlicher Hinsicht im Vorteil. Am Vorabend des Krieges bewahrt Wien somit seine Stellung als Finanzzentrum der Monarchie. Ohne Zweifel hat es keine Monopolstellung, doch auch wenn andere Finanzplätze aufgetaucht sind, ist doch keiner in der Lage, eine ernsthafte Bedrohung ftir Wien darzustellen: Budapest kann sich nicht zum Gegenspieler aufschwingen, da es zum großen Teil von Wien abhängig ist; Prag ist es durchaus gelungen, sich zu einem eigenen Pol zu entwickeln. Der Aufschwung der Zivnostenska Banka bezeugt die Entstehung von tschechischem Kapital und bestätigt die Fähigkeit der Tschechen, eine eigenständige nationale Gesellschaft zu bilden. Die Spanne zwischen den beiden Plätzen bleibt jedoch auf jeden Fall zu groß, als daß die Vorherrschaft Wiens ernsthaft in Gefahr geraten könnte. Während die neun größten Banken Wiens zwischen 1907 und 1913 ein Kapital in der Höhe von 427 Millionen Kronen in die Industrie investieren, beläuft sich der Beitrag aller Banken Böhmens gemeinsam auf lediglich 66 Millionen.
M Ä R K T E UND KAUFHÄUSER
Das Wachstum Wiens läßt sich auch an der Entwicklung als Handelsplatz ablesen. Zwischen 1869 und 1910 steigt die Zahl der in dieser Branche Beschäftigten auf fast das Vierfache: von 28.000 auf 109.000. Die verschiedenen Handelsformen spiegeln die Bewegungen wider, die bei der Diversifizierung der Wirtschaft der Hauptstadt am Werke sind, die gleichzeitig Konsum- und Produktionszentrum ist. Die Hausierer gehören zum Alltag in den Wiener Straßen und Gassen und verleihen ihnen eine malerische Note. Die meisten von ihnen kommen von weit her, um ihre Erzeugnisse in der Hauptstadt feilzubieten. Manche erreichen in diesen Jahren einen gewissen Bekanntheitsgrad, wie der Gottschewer, der aus der deutschen Enklave Gottschee aus der Krain stammt und Früchte, besonders Orangen, und Töpferwaren aus Istrien verkauft, die in einem großen Rückentragekorb verstaut sind; bevorzugt schlägt er seinen Stand im Prater oder in den Heurigenlokalen auf, Orten also, wo sich viele Menschen tummeln. Der aus Italien kommende Salamutschi verkauft Salami und Käse, während sich die Slowaken auf Zwiebeln und Knoblauch spezialisiert haben. Die Hausierer können indes die wachsenden Bedürfnisse der Stadt bei weitem nicht decken: In den 80er Jahren beläuft sich der jährliche Milch- und Butterverbrauch auf Das wirtschaftliche Z e n t r u m der Monarchie : 2 I 5
6o Millionen Liter bzw. 2,2 Millionen Kilo, es werden 70 Millionen Eier benötigt; jährlich wird pro Einwohner im Mittel knapp 50 kg Rindfleisch - das in Wien am meisten geschätzt wird - verzehrt. Wien bezieht die Milch aus den landwirtschaftlichen Gebieten Niederösterreichs. Andere Produkte kommen von weiter her: Die Alpenregionen decken den Bedarf an Butter, während Ungarn der Kornspeicher ist. Die Märkte, die häufig auf eine gewisse Produktpalette spezialisiert sind, existieren schon seit langer Zeit, woran heute noch Straßennamen wie Fleischmarkt, Heumarkt oder Kohlmarkt — wo man sich einst mit Holzkohle versorgen konnte - erinnern. Von den Märkten jüngeren Datums genießt sicherlich der Naschmarkt den größten Bekanntheitsgrad. Er wird 1793 vor dem Kärntnertor eingerichtet und bietet den Wienern frische Früchte und Gemüse zum Kauf an. 1916 - nach der Überbauung des Wienflusses - übersiedelt er an seinen gegenwärtigen Standort. Ein weiterer Früchte- und Gemüsemarkt befindet sich am Platz Am Hof. Fischliebhaber können ihre Käufe auf einem Markt erledigen, der seit 1768 auf jenem Teil des Donaukanals etabliert wurde, der in den 60er Jahren zum Franz-Josephs-Kai wurde. Der Markt am Neulerchenfeld wiederum ist auf den Eierverkauf spezialisiert. Der Lebensmitteleinzelhandel wächst weiter: 1890 verfugt Wien über 720 Bäcker, während es 1872 nicht mehr als 295 waren; zur gleichen Zeit schnellt die Zahl der Fleischer von 456 auf 1.400. Bis zum Ersten Weltkrieg bleibt der Kleinhandel bestimmend. 1880 hält er einen Anteil von fast 83 Prozent am Handel im Großraum Wien; der Greißler mit einem Gehilfen ist zu dieser Zeit die Norm. Am anderen Ende der Skala kommen auf die 1902 in der Hauptstadt gemeldeten 35.144 Geschäfte nur 17, die mehr als 100, und nur eines, das mehr als 300 Personen beschäftigt. Seit mehr als dreißig Jahren steht der Kleinhandel jedoch im Wettbewerb mit Kaufhäusern nach Pariser und Londoner Vorbild. Das erste Kaufhaus wird 1867 im Herzen der Altstadt Ecke Graben — Stock-imEisen-Platz eröffnet. Philipp Haas, auf dessen Initiative dieses zurückgeht, beauftragt die beiden Architekten August Siccard von Siccardsburg und Eduard van der Nüll mit der Errichtung eines fünfstöckigen Gebäudes, in dem er die in seinen Werkstätten hergestellten Teppiche zum Verkauf anbieten will. Im Unterschied zu Paris und London spezialisiert sich das Wiener Kaufhaus auf ein bestimmtes Produkt, meist auf Stoffe und Konfektionswaren. Erst in den letzten Jahren des ausgehenden Jahrhunderts bietet Gerngross, das bedeutendste Kaufhaus, mit einer Lebensmittel-, einer Möbel- und einer Haushaltswarenabteilung eine größere Auswahl von Produkten an. Herzmansky und die „Grande Fabrique" diversifizieren ihre Produktpalette ebenfalls: ersteres, wo man sich lange Zeit nur auf den Verkauf von Stoffen spezialisiert hat, wendet sich nun auch der Konfektion zu, während letzteres sich zunächst auf die Herrenmode beschränkt, sich dann aber auch der weiblichen Kundschaft zuwendet. 2 1 6 : Die Donaumetropole (1815-1914)
Die von den Kaufhäusern praktizierte Preisgestaltung ist einer der Gründe für ihren Erfolg. Dort, wo der Kleinhändler seine Gewinnspanne mit mehr als 40 Prozent festsetzt, kommt das Kaufhaus mit weniger als 30 Prozent aus, hinzu kommen noch häufige Werbeaktionen. Der Erfolg dieser Branche fuhrt schließlich dazu, daß mehreren Geschäften der angestammte Ort zu eng wird: 1895 vergrößern Joseph Rothberger am Stephansplatz und Ludwig Zwieback auf der Kärntner Straße; Herzmansky und Gerngross, die seit den 80er Jahren auf der Mariahilfer Straße ansässig sind, ziehen bald nach. Die Kaufhäuser arbeiten in der Regel als integrierte Unternehmen. So verkaufen die auf Konfektionsware spezialisierten Geschäfte zumindest teilweise Artikel, die in ihren eigenen Werkstätten hergestellt werden, und umgeben sich gleichzeitig mit Handwerkern, die in Heimarbeit auf Stücklohn arbeiten. So beschäftigt z. B. die 1895 von dem belgischen Unternehmer Stefan Enders eröffnete „Grande Fabrique" an die 200 Personen außerhalb des Geschäfts und 40 Verkäufer, 8 Kassierer, 10 Laufburschen, 25 Schneider und 40 Lehrlinge vor Ort. Von nun an gehört das Kaufhaus zum Stadtbild. Als „moderne Kathedrale", wie Emile Zola sagt, lehnt es sich in der Bauweise an das Palais und in der Ausstattung an das Theater an. Auffällig ist die monumentale Fassade, die sich über mehrere Stockwerke erstreckt, jedoch durch große Fensteröffnungen gut belichtet wird. Die ersten Kaufhäuser - wie das Haas-Haus oder das Porzellanhaus in der Kärntner Straße - , die in den 60er und 70er Jahren errichtet wurden, gleichen den Prachtbauten am Ring. Die um die Jahrhundertwende entstandenen Gebäude behalten diese Monumentalität bei, die Verwendung von Metallkonstruktionen ermöglicht jedoch eine größere Leichtigkeit in der Bauweise. Von weitem scheint die Fassade von Gerngross ganz aus Glas zu bestehen; erst aus der Nähe erkennt man die feinen Metallstützen, welche die über vier Stockwerke gehenden Glasfenster voneinander trennen. Im Inneren glaubt sich der Besucher in ein Bühnenbild versetzt: Der Raum ist um eine große Halle angeordnet, wo eine monumentale Treppe den Zugang zu den Stockwerken freigibt. Die verwendeten Materialien, die Spiegeleffekte tragen zum Zauber des Ortes bei. Der Besucher ist bereit, der Versuchung nachzugeben. Die Kaufhäuser sind nicht gleichmäßig in der Großstadt verteilt - auch hier spielt sich eine gewisse Art von Staddandschaft ein. Natürlich gibt es diese Luxustempel in den Arbeitervororten nicht. In der Altstadt hingegen sind sie zahlreich und reihen sich somit in eine lange Tradition von Geschäften für eine begüterte Kundschaft ein. Hier findet man die ältesten Kaufhäuser (Haas, Kranner, Rothberger), und manche Geschäfte der 90er Generation (Neumann, Zwieback) bleiben ihr ebenfalls treu. Die drei größten - Gerngross, Herzmansky und die „Grande Fabrique" - lassen sich jedoch außerhalb der Altstadt auf der Mariahilfer Straße nieder, die, zwischen dem Zentrum und dem Westbahnhof gelegen, zu einem neuen Handelsviertel aufsteigt.
Das wirtschaftliche Zentrum der Monarchie : 2 1 7
E I N I G E GROSSE
UNTERNEHMERPERSÖNLICHKEITEN
Zahlreiche Unternehmensinhaber setzen das von ihren Vätern, manchmal ihren Großvätern begonnene Werk fort. Sie begnügen sich jedoch nicht mit der Verwaltung ihres Erbes. Fast alle haben eine höhere, meist sogar universitäre Ausbildung, manche haben diese auch durch einen Auslandsaufenthalt ergänzt. Ihr Erfolg schlägt sich nicht nur in einer Mehrung ihres Vermögens zu Buche, sie können dadurch auch ihre gesellschaftliche Position festigen; manche haben sogar das Glück, in den Adelsstand erhoben zu werden. Viele fuhrt die Logik des Wachstums ihrer Unternehmen an die Schwelle der Entscheidung, ob es verantwortlich sei, diese im familiären Rahmen zu belassen. Als Ubergang von einem Stadium des Kapitalismus zum nächsten entschließen sich mehrere, ihr Unternehmen in Aktiengesellschaften umzuwandeln. Anton Dreher hat von seinem Vater die größte Brauerei Österreichs geerbt, die 1860 in Schwechat 800.000 Hektoliter Bier erzeugt. Nach einer klassischen Ausbildung am Akademischen Gymnasium in Wien setzt er seine Studien am Polytechnischen Institut in Zürich fort, später rundet er seine Ausbildung mit Aufenthalten in mehreren europäischen Ländern ab (Deutschland, England, Frankreich, Niederlande, Schweiz). Er ist seit 1870 fiir das Unternehmen verantwortlich und gibt diesem, insbesondere durch den Kauf von Kühlwaggons, die ihm den Export eines Teils seiner Produktion ermöglichen, neuen Schwung. Dieser Aufstieg eröffnet ihm neue Horizonte. Ab 1880 sitzt Anton Dreher im niederösterreichischen Landtag in der Kurie der Großgrundbesitzer, was besagt, daß er, wie viele Familien des industriellen Großbürgertums, einen Teil seines Vermögens in Grund und Boden investiert. 1902 wird er als Krönung einer glänzenden Karriere zum Mitglied auf Lebenszeit in das Herrenhaus des Reichsrats ernannt. Die Mautner von Markhof, eine weitere große Wiener Brauereifamilie, setzen sich allmählich unter der Leitung von Adolf Ignaz, dem Gründer der Dynastie, als die einzig echten Konkurrenten der Dreher durch. Sein ältester Sohn Karl Ferdinand, der seit 1858 sein Partner ist, folgt ihm nach einer langen Zeit der Zusammenarbeit nach und steigert die Produktion im familiären Spitzenbetrieb in der Brauerei St. Marx im 3. Bezirk 1896 auf 583.000 Hektoliter. Dessen Sohn Viktor jedoch faßt 1913 den Entschluß, mit dem Haus Dreher zu fusionieren. Die neue Gruppe, eine Aktiengesellschaft, wird zu einem wahren Giganten. Auch die Textilbranche hat ihre Dynastien. Eduard Haas erweitert den Familienbetrieb, in den ihn sein Vater 1850 als Teilhaber aufgenommen hat. Er eröffnet zwei neue Zweigwerke, eine zweite Teppich- und Möbelstoffabrik im niederösterreichischen Ebergassing und eine auf die Samtherstellung spezialisierte Fabrik in Böhmen. Seine Teilnahme an diversen Weltausstellungen trägt zum internationalen Ruf der Firma Haas bei. Die Errichtung des ersten Kaufhauses im Großraum
2 1 8 : Die Donaumetropole (1815-1914)
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Das Automobil : Beginn eines neuen Zeitalters
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