Wiederholungsgefahr bei Sittlichkeitsverbrechen: Der Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO in historischer, rechtsdogmatischer und kriminologischer Sicht [1 ed.] 9783428418411, 9783428018413


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German Pages 220 Year 1970

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Wiederholungsgefahr bei Sittlichkeitsverbrechen: Der Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO in historischer, rechtsdogmatischer und kriminologischer Sicht [1 ed.]
 9783428418411, 9783428018413

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ECKHART DIETRICH

Wiederholungsgefahr bei Sittlichkeitsverbrechen

KRIMINOLOGISCHE FORSCHUNGEN Herausgegeben von Professor. Dr. Hellmuth Mayer

Band 7

Wiederholungsgefahr bei Sittlichkeitsverbrechen Der Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO in historischer, rechtedogmatischer und kriminologieeher Sicht

Von

Dr. jur. Eckhart Dietrich

DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN

Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlln 41 Gedruckt 1970 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlln 65 Printed in Germany

© 1970 Duncker

Meiner Frau

Vorwort Nachstehende Arbeit hat - im wesentlichen unverändert - während des Wintersemesters 1968/69 der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität Kiel als Dissertation vorgelegen. Für den Druck wurden wegen der neueren Rechtsentwicklung noch einige Anmerkungen zugefügt. Die Themenstellung, die auf der Neugestaltung des Rechts der Untersuchungshaft durch das Strafprozeßänderungsgesetz von 1964 beruht, hat - was bei Inangriffnahme der Arbeit nicht vorauszusehen war - durch die Gesetzgebungsvorhaben bezüglich der "Vorbeugehaft" erneut an Aktualität gewonnen. Wenn sich ein großer Teil der Arbeit auch speziell mit den in § 112 Abs. 3 StPO genannten Sittlichkeitsverbrechen und deren prognostischer Beurteilung befaßt - das erschien angesichts der fast völligen Vernachlässigung dieser für die praktische Anwendung der Vorschrift letztlich entscheidenden Frage als vordringliche Aufgabe der Bearbeitung -, so wurden im Rahmen der verfassungsrechtlichen Untersuchung doch auch alle jene Probleme behandelt, die sich aus der Einführung einer strafprozessualen Präventivhaft ganz allgemein ergeben. Insoweit vermag die Arbeit also auch über die von der Untersuchungsaufgabe her gesteckten Grenzen hinaus Anregungen und Hinweise auf Lösungsmöglichkeiten zu vermitteln. Für die Überlassung des interessanten Themas habe ich meinem verehrten Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Joachim Hellmer, an erster Stelle zu danken. Dank schulde ich ferner Herrn Prof. Dr. Hellmuth Mayer für die Aufnahme der Arbeit in die "Kriminologischen Forschungen" und nicht zuletzt dem Verlag Duncker & Humblot für die Bereitschaft, die Arbeit gegen nur geringen Druckkostenzuschuß zu verlegen. Berlin, im Juni 1969

Eckhart Dietrich

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

Erster Teil Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr in historischer Siebt

A. Geschichte bis 1871 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

I. Römischrechtliche Quellen (cautio de non offendendo) . . . . . . . . . .

17

II. Deutschrechtliche Quellen (Carolina von 1532) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

III. Preußische Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

1. Allgemeines Landrecht von 1794 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2. Criminalordnung von 1805 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22 23

IV. Deutsche Partikulargesetzgebung des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . .

25

B. Geschichte von 1871 bis 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26

I. Deutsche Reichsgesetzgebung bis 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26

1. Strafprozeßordnung von 1877 .... .. ................ . ...... ... 2. Reformbestrebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entwurf eines Strafgesetzänderungsgesetzes von 1875 . . . . b) Entwurf eines Strafprozeßänderungsgesetzes von 1894/95 . . c) Entwurf einer Strafprozeßordnung von 1908 . . . . . . . . . . . . . . d) Entwurf einer Strafprozeßordnung von 1920 . . . . . . . . . . . . . . e) Entwurf eines Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch von 1929 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26 27 27 30 31 32 32

II. Deutsches Strafprozeßrecht unter der Herrschaft des Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

1. Strafverfahrensrechtsänderungsgesetz von 1935 . . . . . . . . . . . . . . 2. Entwurf einer Strafverfahrensordnung von 1936/39 . . . . . . . . . . 3. Die Anwendung des Haftrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34 34 36

C. Geschichte ab 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

I. Erste Nachkriegsgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

II. Vereinheitlichungsgesetz von 1950 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

III. Reformbestrebungen

. .. . . ... .. . . . .. . . . .. . . ... . . . . .. . . . . .. .. .. .

40

IV. Strafprozeßänderungsgesetz von 1964 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

Inhaltsverzeichnis

10

1. Vorlage des Regierungsentwurfs in der dritten Wahlperiode

des Bundestages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2. Erneute Vorlage des Regierungsentwurfs in der vierten Wahlperiode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 a) Beratungen im Rechtsausschuß des Bundestages . . . . . . . . . . 43 b) Beratungen im Bundestag und Beschlußfassung . . . . . . . . . . 48

D. Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Deutschland

50 50

1. Bundesrepublik

a) Jugendgerichtsgesetz von 1953 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Militärstrafgerichtsordnung von 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Österreich

50 50 51 51 52

III. Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

IV. Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

V. England

54

VI. Zusammenfassung

55 Zweiter Teil

Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr in remtsdogmatisdter Sicht A. Die verfassungsrechtliche Problematik des § 112 Abs. 3 StPO . . . . . . . . I. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundesgesetzgebers

56 56

1. Verbrechensprävention als Aufgabe des Polizei-

und damit Landesrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2. Der Präventivcharakter des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 3. Die "Zweispurigkeit" des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 II. Die rechtsstaatliche Unbedenklichkeit der Vorschrift . . . . . . . . . . . . 1. Vereinbarkelt mit dem Grundgesetz

............... .. ....... a) Erfüllung der formellen Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einhaltung der materiellen Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Grundsatz der Interessenabwägung . . . . . . . . . . . . . . a) Der Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ~) Die Interessenkollision zwischen dem Grundrecht der persönlichen Freiheit und den Erfordernissen der Verbrechensbekämpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . y) Die Interessenabwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (zugleich zur Auslegung des § 116 Abs. 3 StPO) . . . . . . . . c) Ergebnis ................ . ............. . . . ...... , . . . . . . . .

62 63 63 64 65 65 67 69 73 77

Inhaltsverzeichnis

11

2. Vereinbarkeit mit der Menschenrechtskonvention . . . . . . . . . . . .

77

B. Die sachliche Berechtigung des § 112 Abs. 3 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

I. Der beschränkte Anwendungsbereich der Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 1. Keine Sicherungshaft ohne dringenden Tatverdacht hinsichtlich eines bereits verübten Sittlichkeitsverbrechens . . . . 80 2. Keine Sicherungshaft nach der Strafverbüßung . . . . . . . . . . . . . . 81 II. Die polizeirechtlichen Möglichkeiten der Verbrechensverhütung . . III. Ergebnis

82

............ ................. ..... ............. ... ....

84

C. ,.Systemwidrigkeit des § 112 Abs. 3 StPO? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

84

D. Fragen der Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

I. "Bestimmte Tatsachen" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

II. Untersuchungshaft und richterliches Ermessen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88

III. Der Anwendungsbereich des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr (insbesondere hinsichtlich § 330a StGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 IV. Das Verhältnis der Haftgründe untereinander . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

V. Zwingende Anrechnung der wegen Wiederholungsgefahr erlittenen Untersuchungshaft auf di~ spätere Freiheitsstrafe . . . .

97

E. Zusammenfassung und kriminologische Fragestellung

98

Dritter Teil Der Haftgrund der Wiederholnngsgefahr in krimlnologlsdler Sldlt A. Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Sind von den in § 112 Abs. 3 StPO bezeichneten Sittlichkeitsverbrechen irreparable Schäden zu besorgen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Begriff "irreparabler Schaden" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die in § 112 Abs. 3 StPO bezeichneten Sittlichkeitsverbrechen im einzelnen ..... .. ................... .. . . ............. . .. . . a) Notzucht, Schändung und Gewaltunzucht . ... ..... .... . ... . b) Unzucht mit Kindern und Abhängigen . . . . . . . ..... ..... ... c) Blutschande . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Schwere Unzucht unter Männern . . .. ......... .. . .. . .. ... aa) Nötigung zur gleichgeschlechtlichen Unzucht . . . . . . . . . . bb) Bestimmung zur gleichgeschlechtlichen Unzucht . . . . . . cc) Verführung zur gleichgeschlechtlichen Unzucht .. ...... dd) Gewerbsmäßige gleichgeschlechtliche Unzucht ... .....

99 99 99 100 100 101 105 106 108 108 109 111

3. Ergebnis ......... .. ................. .. .. . . . ...... .. . . . ... ... 112 II. Ist die in § 112 Abs. 3 StPO geforderte Prognose möglich? .... .. 113

12

Inhaltsverzeichnis 1. Das Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

2. Die Freiheit des Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 3. Die Bedeutung "kriminogener Faktoren" . . .................. 118 a) Anlage und Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Persönlichkeit ................. . .. . ................... aa) Die "Schichttheorie" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) besonders: Die "Personschicht" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Zufall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

118 120 121 122 124 125

4. Die verschiedenen Prognosemethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 a) Die statistischen Verfahren (die "Punktemethode" und das "Punktwertverfahren") .............. . ................... aa) Erläuterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kritische Würdigung .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. . .. . . .. . .. . b) Die "intuitive Methode" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Erläuterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kritische Würdigung .. .. .. .. .. . .. .. .. .. . .. . .. . .. . . . . a) Grundsätzliche Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ~) Kritik der "verstehenden Erfassung der Täterpersönlichkeit" (Leferenz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Punkteverfahren oder intuitive Methode? ................ 5. Ergebnis . ......... .. .................... . .. . ................

126 126 128 133 133 136 136 138 143 145

111. Welches sind die in§ 112 Abs. 3 StPO vorausgesetzten "bestimmten Tatsachen"? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 1. Grundsätzliches zur Ätiologie der Sittlichkeitsdelikte . . ...... 146

2. Einzelne Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Tatsachen, die auf eine allgemeine kriminelle Belastung des Beschuldigten hindeuten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Tatsachen, die auf eine besondere Neigung zu Sittlichkeitsdelikten hindeuten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Anhaltspunkte aus dem Alter und Entwicklungsstand der Sexualdelinquenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Nichterwachsene Sittlichkeitsverbrecher . . . . . . . . . . . . P> Senile Sittlichkeitsverbrecher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . y) Erwachsene Sittlichkeitsverbrecher . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Eigenheiten der Persönlichkeit von Sexualdelinquenten a) Hypersexualität und Perversion . . . . . . . . . . . . . . . . . . ~) Schwachsinn, Willensschwäche und Neigung zum Alkoholmißbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . y) Mangelnde "Wettbewerbsfähigkeit" ........... . . . . . cc) Besonderheiten nach der Art der einzelnen Delikte . . . . a) Sexuelle Gewaltverbrechen .. ...... .... ....... . .... ~) Kinderschändung ................................

151 151 154 157 157 159 163 166 168 169 172 173 174 178

Inhaltsverzeichnis

13

y) Blutschande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

Gleichgeschlechtliche Unzucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 ~)

B. Der Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 I. Das Untersuchungsmaterial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 li. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 1. Statistische Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 2. Die Begründung der Haftbefehle im einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . 201

III. Zusammenfassung

Literaturverzeidlnis

204

......... . ....... . ......................... . _.. . . . . 205

Abkürzungsverzeichnis AGO ALR AnwBl. AöR ArchKrim BRAK

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CO DJ DÖV DRiZ DRZ DVBl. DZfgerMed. GA GrStrRK HdK JR JuS JW JZ KMR LK MDR MschrKrim NJ NJW RdJ Rpfl. SchlHA SJZ

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Im übrigen wurden die gebräuchlichen Abkürzungen verwandt.

Einleitung "Gegen den Beschuldigten, der eines Verbrechens wider die Sittlichkeit nach § 173 Abs. 1 oder §§ 174, 175 a, 176 oder 177 des Strafgesetzbuches dringend verdächtig ist, besteht ein Haftgrund auch dann, wenn bestimmte Tatsachen die Gefahr begründen, daß der Beschuldigte vor rechtskräftiger Aburteilung ein weiteres Verbrechen der bezeichneten Art begehen werde, und die Haft zur Abwendung der drohenden Gefahr erforderlich ist."

Obige Bestimmung, die auf Grund des Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 19. Dezember 19641 (Strafprozeßänderungsgesetz- StPÄG -) als § 112 Abs. 3 in die Strafprozeßordnung eingefügt worden ist, eröffnet die Möglichkeit der Verhaftung des Beschuldigten aus einem von dem Zweck der Untersuchungshaft herkömmlicher Art - nämlich die Durchführung eines geordneten Strafverfahrens zu gewährleisten und die spätere Strafvollstreckung sicherzustellen2 - abweichenden Grunde: In engen Grenzen darf die Untersuchungshaft nunmehr auch angeordnet werden, wenn dies zur Sicherung der Rechtsgemeinschaft vor weiteren Straftaten des Beschuldigten erforderlich erscheint. Diese Vorschrift ist, abgesehen von der Beschränkung auf gewisse Sittlichkeitsverbrechen, keine Erfindung des Gesetzgebers unserer Tage. Schon seit vielen Jahrhunderten hat sich die Rechtswissenschaft mit der Frage auseinandergesetzt, wie die Gesellschaft vor künftigen Verbrechen einzelner ihrer Mitglieder geschützt werden könne. Als Früchte dieser Überlegungen sind gesetzliche Vorschrüten ganz unterschiedlicher Konzeption überliefert. Wenn wir uns diesen zu Beginn unserer Arbeit näher widmen, so nicht allein deshalb, um eine möglichst erschöpfende Bearbeitung des gestellten Themas vorzulegen; es gilt vielmehr auch, aus der bisherigen Anwendung und Ausgestaltung des Rechts der Präventivhaft Argumente zu sammeln, die uns bei der heutigen Untersuchung dienlich sein könnten. So fanden wir auch beispielsweise den verfassungsrechtlich entscheidenden Gesichtspunkt des "irreparablen Schadens" 3 zuerst in einem Kommentar zur Carolina4! - Die folgende Darstellung neuerer Rechtsgeschichte bis hin zu t !

3 4

Vgl. BGBl. I, S. 1067. BVerfG, NJW 1966, 243 (244). Siehe unten Seite 70 ff. Siehe unten Seite 70 f.

Einleitung

16

den (unter schweren Wehen zur Welt gekommenen) Vorschriften des geltenden Rechts sowie die den historischen Teil abschließende rechtsvergleichende Betrachtung bedürfen keiner besonderen Rechtfertigung; die Breite der Abhandlung entspricht der Fülle des vorgefundenen Materials und der Vielfalt unterschiedlicher Regelungen. Im zweiten Teil beschäftigen wir uns neben einzelnen Fragen der Auslegung unseres Haftgrundes vor allem mit dessen verfassungsrechtlicher Zulässigkeit und sachlichen Berechtigung. Dabei zeigt sich, daß eine rein dogmatische Betrachtungsweise den anstehenden Problemen nicht gerecht wird. Insbesondere die Frage, welche "bestimmten Tatsachen" eine Wiederholungsgefahr begründen, ja ob eine solche Prognose überhaupt möglich ist (wie es der Gesetzgeber ohne weiteres unterstellt), kann nur an Hand kriminologischer Forschungsergebnisse beantwortet werden11• Damit ist der dem dritten Teil vorbehaltenen kriminologischen Untersuchung ihre Aufgabe im wesentlichen zugewiesen•. Bei der Erörterung der Prognosemöglichkeiten hielten wir es wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Untersuchungsaufgabe und angesichts mancher recht einseitigen Stellungnahme dazu für geboten, vor der kritischen Auseinandersetzung mit den bisher entwickelten Prognosemethoden auf deren gemeinsame Grundlagen zurückzugehen, um so vor allem auch die naturgegebenen Grenzen jeglicher prognostischen Bemühung sichtbar werden zu lassen. -Die diesen Fragen vorangestellte Untersuchung der möglichen Verbrechensfolgen aller in § 112 Abs. 3 StPO bezeichneten Delikte beruht auf dem Ergebnis unserer verfassungsrechtlichen Überlegungen, daß die Verhängung von Präventivhaft gegenüber eventuell zu Unrecht in Verdacht geratenen Personen nur dann gerechtfertigt sei, wenn der zu besorgende Schaden im Wiederholungsfalle nicht wiedergutzumachen wäre. Die Arbeit schließt mit einem Blick auf die einschlägige Haftpraxis, wobei wir uns auf 100 Strafakten der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin stützen können.

' Hellmer, NJW 1965, 1727. 8 Die von Naucke an vielen

dogmatisch/kriminologischen Dissertationen zu Recht kritisierte fehlende Beziehung beider Teile zueinander, ist hier also schon vom Thema selbst hergestellt (vgl. Naucke, S. 15).

Erster TeiL

Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr in historischer Sicht A. Geschichte bis 1871 Abgesehen von der in § 112 Abs. 3 StPO ausgesprochenen Beschränkung auf bestimmte Sittlichkeitsverbrechen begegnen wir ähnlichen Regelungen bereits in verschiedenen deutschen Partikulargesetzgebungen des vorigen Jahrhunderts1 sowie in der Österreichischen Strafprozeßordnung vom 23. Mai 18732 • Will man aber den Ursprung des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr nicht nur in vergleichbaren Vorschriften des Untersuchungshaftrechts, sondern schon in präventivrechtlichen Bestimmungen allgemeiner Art sehen, so lassen sich seine Wurzeln sogar bis in das späte römische und frühe deutsche Recht zurückverfolgen. In letzterem Sinne halten vor allem Baumann3 und Zuckez-4 die von den Glossatoren entwickelte "cautio de non offendendo" für das älteste Vorbild unseres Haftgrundes, weswegen wir unsere historische Betrachtung mit einer kurzen Beschreibung dieses Rechtsinstituts einleiten.

I. Römischrechtliche Quellen (cautio de non offendendo) Während die Lehre von der bezeichneten cautio seitens der italienischen Juristen nur wenig ausgebildet war5, verfaßte als erster Guilielmus de Cuneo, ein Rechtslehrer französischer Herkunft und Zeitgenosse des Cinust, einen eigenen- von von Savigny7 allerdings als unbedeutend bezeichneten - "tractatus de securitate" 8 • In diesem definiert Siehe unten Seite 25 f. Siehe unten Seite 52. 3 Vgl. JZ 1962, 689. ' Vgl. Zucker, S. 62; siehe ferner Lanzendörfer, Juristische Blätter 1954,

1

2

248.

Schierlinger, S. 68. • von Savigny, S. 35.

5

Vgl. a.a.O., S. 36. Hierzu siehe auch SchierZinger, S. 69, und ihm folgend Zucker, S. 62, deren Darstellung jedoch grobe Ungenauigkeiten aufweist. 7

8

2 Dietrich

18

Erster Teil: Der Haftgrund in historischer Sicht

Guilielmus11 das fragliche Rechtsinstitut als .,legitimum praesidiu, quod iuste timenti periculum" per iudicem conceditur. Besorge jemand irgendeine Verletzung seitens einer bestimmten Person, so spreche der Richter nach Untersuchung des Falles und unter besonderer Rücksicht auf das Vorleben des Beklagten gegebenenfalls dessen Verpflichtung zur Leistung von Sicherheiten aus10• Diese können auf dreierlei Weise erbracht werden: .,primo per promissionem, secundo per personae publicae aditionem, tertio per signi seu tituli appositionem" 11 • - Eine Verhaftung des künftiger Verbrechen Verdächtigen war somit zunächst nicht vorgesehen. Diese Lehre, die von Bartolus, Baldus, Felinus und deren Nachfolgern fortentwickelt und erweitert wurde12, fand schließlich durch Franciscus Herculanus Perusinus ihren Abschluß11• Nach Herculanus, dessen 1569 erstmals veröffentlichter "tractatus de cautione de non offendendo" bereits einen Umfang von mehreren hundert Seiten erreicht und entsprechend differenzierte Regelungen enthält, stellte sich die Verpflichtung zur Sicherheitsleistung etwa folgendermaßen dar14 : Der Richter verleiht auf Antrag (in dringenden Fällen ex officio) demjenigen, der aus einem bestimmten Grunde für sich oder seine Angehörigen von einem anderen die Zufügung eines Übels befürchten zu müssen glaubt, das Recht, von dem Bedroher Haftung dafür zu verlangen, daß dieser ihm nichts zu Leide tun werde. Die Furcht muß eine gerechte sein, nämlich eine solche, die auch einen bedächtigen Mann befallen würde. Die Sicherheit wird durch Pfänder, Bürgschaften oder einfaches Versprechen geleistet, je nach der Persönlichkeit des um Sicherheitsleistung Belangten. Ist dieser wohlhabend und gut beleumundet, so genügt einfaches Versprechen, während anderenfalls Bürgschaften und Pfänder oder auch hypothekarische Sicherheiten verlangt werden. Ist wegen der Unzuverlässigkeit des Verpflichteten eine juratorische Kaution nicht am Platze, so soll nach richterlichem Ermessen auch Verbannung ("interdictio aliquo loco seu provincia") unter Androhung einer Freiheits-, insbesondere Galeerenstrafe für den Fall der Rückkehr verhängt werden können. Weigert sich der Betreffende, die auferlegte Sicherheit zu leisten, so kann er durch Haft ("captura personae"), Beschlagnahme des Vermögens oder auch Verbannung hierzu gezwungen werden, wobei die einzelnen Maßnahmen so lange aufrechterhalten bleiben, bis die auferlegte Kaution erbracht wird. • Vgl. Guilielmus, Randnr. 2. 10 Zucker, S. 62. 11 Guilielmus, Randnr. 20. 11 Hierzu siehe im einzelnen Schierlinger, S. 69 ff. 11 Zucker, S. 62. 1' Nach Schierlinger, S. 71 f., und Zucker, S. 62 f.

A. Gesmichte bis 1871

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Es handelt sich bei den hier in Anwendung kommenden Freiheitsentziehungen somit nicht eigentlich um Sicherungshaft, als vielmehr um Beugemaßnahmen zur Erzwingung der Sicherheitsleistung oder Strafe für die Zuwiderhandlung gegen das richterliche Gebot, Italien und die Provinzen nicht mehr zu betreten. Immerhin erscheint hier jedoch - unseres Wissens - erstmals, wenn auch nur mittelbar, die rechtliche Möglichkeit der Verhaftung einer Person unter der Begründung, daß von dieser die Verübung von Straftaten zu gewärtigen sei. Allerdings erwähnt Herculanus15 auch die Verhaftung selbst als Sicherungsmittel gegenüber solchen Personen, die sich anderenfalls der Kautionsstellung durch die Flucht entziehen würden ("qvod subterfugiens dare hanc cautionem, potest etiam capi si judici videatur"). Indes scheint nach den Untersuchungen Schierlingers1' die Haft in diesem Sinne weder häufig gebraucht, noch ihre Anwendung durch ältere Rechtslehrer besonders empfohlen worden zu sein.

D. Deutschrechtliche Quellen (Carolina von 1532) Unabhängig von den römischrechtlichen Präventivmitteln entwikkelte sich in Deutschland ein eigenes System von Sicherungsmaßregeln, das zur Zeit der Rezeption bereits in sich abgeschlossen war17• Wir dürfen auf eine Darstellung der etwa bei Karl dem Großen18 ihren Ausgang nehmenden Rechtsgestaltung bis hin zur Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V. verzichten-zumal insoweit auf die eingehende Schilderung Schierlingers11 verwiesen werden kann - und uns sogleich der Carolina zuwenden, in der wir als Ergebnis jahrhundertelanger deutscher Rechtsentwicklung erstmals ein vollständiges Präventivsystem vorfinden. Als gelindeste Maßregel zur Sicherung gegen drohende Angriffe auf die Rechtsordnung ist die Urfehde vorgesehen: das eidlich bekräftigte Versprechen, eine erlittene Schmach nicht zu rächen. Ihr sind vornehmlich aus den Händen der Justiz entlassene Straf- und Untersuchungsgefangene unterworfen20• Erweist sich die Urfehde als unangebracht, so findet Art. 176 CCC21 "Von straff oder versorgung der personen von 15 1'

Vgl. Perusinus, caput XLIV, Randnr. 6. Vgl. Schierlinger, 8.'72.

n Schierlinger, S. 68.

mit dem der Fehde Schranken setzenden Friedegebot (.,pacificatio") -. Vgl. Smierlinger, s. 8 ff. 10 von Feuerbach, § 232 f .; siehe z. B. Art. 157 und Hl4 CCC. 11 Neuerdings im Wortlaut abgedruckt bei Baumann, JZ 1962, 689, Note 64 - Die Bestimmung entspricht mit geringen Abweichungen Art. 202 der Bambergensis und geht somit auf von Schwarzenberg zurück. 18 -

18

Erster Teil: Der Haftgrund in historischer Sicht

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den man auß ertzeygten vrsachen, übels und missethatt warten muß" Anwendung. Diese Vorschrift umfaßt drei verschiedene Tatbestände: den Bruch einer früher geleisteten Urfehde (sofern dafür nicht schon gemäß Art. 108 CCC - handelnd von der "straff der, so geschworne vrphede brechen" - die Todesstrafe verwirkt ist), die Drohung, eine bereits einmal begangene Missetat zu wiederholen, und schließlich in Form einer Generalklausel ganz allgemein die ernstliche Gefahr irgendeiner Gewalttätigkeit seitens einer bestimmten Person. Einzelne Arten der Kaution sind in Art. 176 CCC nicht genannt. Offenbar konnte seinerzeit von der Tradition her nicht zweifelhaft sein, worin die Sicherheitsleistung zu bestehen hatte. Promissorische Sicherheiten scheiden bereits aus gesetzessystematischen Gründen aus; denn die Forderung einer Kaution (i. S. einer realen Sicherheit) ist ja gerade als Ausdruck der Besorgnis zu verstehen, die Ableistung der Urfehde bzw. deren Erneuerung werde nutzlos sein22• Es bleibt damit nur die Sicherheit durch Bürgen und Pfänder23• Die Höhe der Sicherheit sowie die Dauer der Haftung sind nach der gesetzlichen Bezeichnung als "notturfft caution" dem richterlichen Ermessen anheimgestellt. Ist der zur Kautionsleistung Verpflichtete nicht in der Lage, eine der oben genannten Sicherheiten zu erbringen, so "soll die selbig vnglaubhafftige boßhafftige person inn gefengknuß, als lang biß die nach erkantnuß des selben gerichts gnugsame caution sicherung, vnd bestandt für solche vnrechtliche thätliche handlung thut", verwahrt werden. Somit kennt auch die Carolina als äußerste Sicherungsmaßregel die Verhaftung des den Rechtsfrieden Bedrohenden. Nicht zuzustimmen ist der Ansicht Schierlingers24, mit der in Art. 176 CCC erfolgten Bezugnahme auf Art. 178 CCC erscheine als radikalstes Mittel der Prävention sogar die gänzliche Unschädlichmachung des Übeltäters im Wege des Todesurteils. Zwar kommt die in Art. 176 CCC getroffene Sicherheitsregelung hinsichtlich derer, die mit der Wiederholung einer schon einmal begangenen Missetat drohen, nur in Anwendung, wenn keine "sunst weitther beschwerlich vmbstende" hinzutreten und der Betreffende "darmit nit souil gethan hett, daß jm darumb das leben (wie hernach imm hundersten vnd acht vnd sibentzigsten artickel . . . geschriben steht) genommen werden möcht". Die von der "Straff vnderstandner missethatt" handelnde Vorschrift des zitierten Artikels enthält aber keinen Präventivtatbestand mehr, sondern fordert den im mißglückten Versuch einer Straftat zum Ausdruck kommenden "bösen Willen" an Leib und Leben "peinlich zu straffen", n Schierlinger, !4

S. 36.

a.a.O. Vgl. Schierlinger, S. 31.

n Schierlinger,

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21

je nach im Einzelfall "angesehen gelegenheit vnd gestalt der sach" zu bestimmender Härte. Art. 178 CCC hat also reinen Strafcharakter, es sei denn man berücksichtigte den jeder Freiheits- oder gar der Todesstrafe notwendigerweise innewohnenden Sicherungswert. Im übrigen scheinen aber die Grenzen zwischen Straf- und Präventivtatbeständen, wie etwa die unterschiedliche Betrachtung des Urfehdebruchs, die Gesetzesüberschrift zu Art. 176 CCC selbst: "Von straff oder versorgung ... " sowie manch weitere Ausdrucksweise des Gesetzgebers zeigen, fließend gewesen zu sein25•2t. Wir dürfen es uns versagen, der von unserem Rechtsinstitut in der Folgezeit ausgehenden Entwicklung im einzelnen nachzugehen, zumal wegen der nur subsidiären Geltung der Peinlichen Gerichtsordnung und deren unterschiedlicher Handhabung in den verschiedenen Territorien Deutschlands eine einheitliche Linie ohnehin kaum festzustellen ist. Hervorzuheben ist jedoch, daß mit der stark romanistisch ausgei:ichteten Kommentierung der Carolina alsbald eine Verschmelzung der in Art. 176 CCC getroffenen Regelung mit der der italienischen cautio de non offendendo eintrat27, wozu auch die Gleichartigkeit der Kautionsmittel beigetragen haben mag. Damit ergaben sich mancherlei Ungereimtheiten, wie etwa die beschränkte Zulassung eidlicher Kaution28, die dem Sinn der Vorschrift des Art. 176 CCC21 gänzlich zuwiderläuft80. Ferner ist nicht zu übersehen, daß eine gewisse Tendenz dahin bestand, die Verpflichtung zur Kautionsleistung auf Fälle der gefährlichen Drohung zu beschränken81 , während die Generalklausel des Art. 176 CCC trotz ihrer Ähnlichkeit zur cautio de non offendendo am wenigsten gewürdigt wurden. Was schließlich die Arten der Sicherheit anlangt, so werden für solche Personen, die schon mehrfach die Urfehde gebrochen haben oder denen das doch wenigstens zuzutrauen wäre, verschiedentlich Gefangenhaltung oder- nach italienischem Vorbilde- Verbannung empu So kennt ja auch das geltende Recht den Straftatbestand des Landzwanges und der Bedrohung (§ 12& bzw. § 241 StGB). 11 Fuchs meint, man könne wohl sagen, daß die Bestimmung des Art. 176 CCC die Mitte zwischen einer Präventivmaßregel und einer eigentlichen kriminellen Strafe halte; vgl. 1i'uchs, S. 64. 17 SchieTlingeT, S. 38 f., mit Nachweisen aus der älteren Literatur; ZuckeT, S. 66; GeyeT, § 6. 18 Meckbach beispielsweise kommentiert in seiner Anmerkung zu Art. 176 CCC überhaupt nur die Urfehde. ze Vgl. oben Seite 20. 3o SchieTlingeT, S. 40 f. 31 So namentlich CaTpzov, Quaestio 37, Randnr. 79 ff. ; Tittmann, §. 24. und §. 133.; weitere Nachweise bei ZuckeT, S. 66, Note 10. 11

SchieTtingeT, S. 39.

Erster Teil: Der Haftgrund in historischer Sicht

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fohlenaa, während es im übrigen bei den schon genannten Mitteln ver~ bleibt. Jedoch fordern Kress3 ' und BoehmerU für den Fall, daß der zu besorgende Schaden unersetzlich sein würde, von vornherein und ohne Rücksicht auf die Kautionsfähigkeit des Verpflichteten dessen Inhaftnahme141. Wie diese Präventivmaßregeln in der Praxis gehandhabt wurden, ist heute schwer zu beurteilen. Schierlingers7 will aus der Ungleichmäßigkeit der Regelungen und der Dürftigkeit der Literatur sowohl zur Carolina selbst wie auch zu der gemeinrechtlichen Praxis auf eine nur spärliche Übung unseres Instituts schließen.

m. Preußische Gesetzgebung 1. Allgemeines Landrecht von 17H

Wenden wir uns nun dem ersten umfassenden preußischen Gesetzgebungswerk, dem Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten, zu, dessen zweiter Teil im 20. Titel "Von den Verbrechen und deren Strafen" handelt. Im Rahmen dieser strafrechtlichen Bestimmungen finden sich auch einige Vorschriften präventivrechtlichen Inhalts, die sich allerdings in Fortführung des von dem Schrüttum zur Carolina eingeschlagenen Weges auf Fälle der Bedrohung beschränken. Unterschieden werden "bloße Drohungen", ein gewisses Verbrechen begehen zu wollen, und .,gefährliche Drohungen". Während erstere nach§ 44 das. strafbar sind und den Staat zu Maßregeln verpflichten, "wodurch der Bedrohte in Sicherheit gesetzt wird", bestimmt § 533 das. für den Fall, daß "gefährliche Drohungen oder Anstalten noch durch obrigkeitliche Hilfe abgewendet werden können", es müsse "jede Obrigkeit, wenn sie auch übrigens nicht die gehörige wäre, die zur Abwendung einer dringenden Gefahr erforderlichen Anstalten unverzüglich treffen". Nähere Angaben darüber, wie die Bedrohung beschaffen sein müsse, um die Qualifikation "gefährlich" zu erreichen, fehlen ebenso, wie der Gesetzgeber verschweigt, welcher Art die "Maßregeln" oder "Anstalten" zur Sicherung des Bedrohten zu sein hätten. Gräff, Rönne, Simons Kommentar'8 zu letztgenannter Frage erschöpft sich in cin~m lapidaren Hinweis auf § 10 II 17 ALR, nach welch bekannter Vorschrift die Polizei die "nötiaa Schiertinger, S. 41. Vgl. Kress, Art. 176 CCC, §. 2. Ziff. 2. 35 Vgl. Boehmer, Art. 176 CCC, §.IV. 38 Siehe auch unten Seite 71. 11 Vgl. Schierlinger, S. 41. as Vgl. Gräff- Rönne- Simon, § 44 II 20 ALR, Anm. 5).

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gen Anstalten" zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung sowie zur Gefahrenabwehr zu treffen hat. Unabhängig von der den Polizeiorganen zukommenden Sicherungsaufgabe kann der Bedrohte aber selbst, sofern es sich um eine "gefährliche Drohung" handelt, von dem Bedroher nach näherer Maßgabe der §§ 534 ff. II 20 ALR "Sicherstellung durch Pfand oder Bürgen" fordern, "solange die nach den Umständen wahrscheinliche Gefahr fortdauert". (§ 534 das.) "Die Caution muß auf eine bestimmte Geldsumme gerichtet und diese, im Falle der dennoch erfolgten Beleidigung, zu etwaiger Entschädigung derer, welche dadurch gelitten haben, angewendet werden." (§ 535 das.) Als durch obige Vorschriften geschützte Rechtsgüter kommen, wie § 509 das. als der unseren Gesetzesabschnitt einleitenden Bestimmung zu entnehmen ist, Ehre, Gesundheit, Leib, Leben, Freiheit oder Vermögen in Betracht. Hinsichtlich der Frage, was zu geschehen habe, wenn der Kautionspflichtige weder Bürgen noch Pfänder zu stellen vermag, vertreten Gräff, Rönne und Simon38 die Auffassung, es bleibe in einem solchen Falle nichts anderes übrig, als den Betreffenden in Analogie zu § 11 I 21 AG040 "eidliche Bürgschaft" leisten zu lassen. Ein "persönlicher Arrest" sei jedenfalls ausgeschlossen'1; denn wäre ein solcher zulässig, so würde es einer Sicherstellung durch Pfänder oder Bürgen gar nicht bedürfen. Wenn diese Argumentation auch- schonangesichtsder früheren Praxis, nach der die Verhaftung stets nur äußersten Falles zur Anwendung kam - nicht überzeugen kann, ist doch nicht zu verkennen, daß das Gesetz selbst die Inhaftnahme nicht vorsieht. 2. Crlmlnalordnung von 1805

Erweisen sich damit die landrechtliehen Vorschriften als recht wenig geeignet, künftigen Verbrechen vorzubeugen, so kann es nicht verwundern, daß bereits verhältnismäßig kurze Zeit später, nämlich in der preußischen Criminalordnung vom 11. Dezember 1805, mit der Wiedereinführung der Präventivhaft eine wesentlich strengere Regelung geVgl. a.a.O., §§ 533--537 II 20 ALR, Anm. 2) a). Nach § 1 I 21 AGO konnte der Beklagte im Zivilprozeß von dem Kläger eine Kaution für die Prozeßkosten verlangen. Leistete der Kläger auf richterliche Anweisung die Sicherheit nicht, so mußte er nach fruchtloser Vollstrekkung (§ 10 das.) auf Antrag des Beklagten den Kautionseid dahin leisten, "daß er, alles angewendeten Fleißes ungeachtet, die ihm auferlegte Kaution durch Bürgen oder Pfänder nicht bestellen könne, und daß er dem Gegenteile, falls er demselben die Kosten zu erstatten verurteilt werden sollte, dieselben nach seinem besten Vermögen redlich bezahlen wolle". 41 Zwar komme der Arrest als Polizeimaßregel in Frage, rechtfertige sich insoweit jedoch nicht in längerer Dauer. 81 40

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troffen wurde. Dabei ist zugleich eine bemerkenswerte Änderung der gesetzgeberischen Konzeption festzustellen. Genügte in zurückliegender Zeit - von der Regelung des Allgemeinen Landrechtsn einmal abgesehen - schon ganz allgemein die Besorgnis, daß man sich von einer bestimmten Person aus gewichtigen Gründen strafbarer Handlungen zu versehen habe, um die Kautionsforderung und nötigenfalls auch die Verhaftung des derart Belangten zu rechtfertigen, so setzte sich jetzt die naturrechtliche Anschauung durch, daß erst die geschehene Rechtsverletzung und ein wirklicher Angriff auf die Rechtsordnung dem Staat das Recht gebe, in die Freiheit des Täters resp. des hinreichend Tatverdächtigen einzugreifen43 • Dieser Erkenntnis folgend, konnte nach der preußischen Criminalordnung Sicherungshaft nur noch dann verhängt werden, wenn gegen die zu verhaftende Person ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts von dieser bereits verübter Straftaten in Gang gekommen war. Damit findet sich hier erstmals eine echte Parallele zu dem derzeit geltenden Recht. Die vergleichbare Bestimmung des§ 231 CO lautet: "Wenn zu besorgen ist, daß der Angeschuldigte seine Freiheit zu fortgesetzter Beleidigung seiner Mitbürger mißbrauchen werde, so kann sich derselbe nur dann, wenn die Beleidigungen von der Art sind, daß sie durch Geld vergütigt werden können, von der persönlichen Haft durch Bestellung einer von dem Richter zu bestimmenden Caution für die besorgte Beleidigung befreien." Die Bedeutung dieser Vorschrift erhellt aus deren Zuordnung zu weiteren, die Untersuchungshaft betreffenden Bestimmungen. Während heutigen Tages die Voraussetzungen für die Verhängung der Untersuchungshaft aus berechtigten rechtsstaatliehen Gründen äußerst eng gefaßt sind, konnte § 208 CO noch gebieten: "Diebe, Betrüger und ähnliche Verbrecher werden in der Regel jederzeit verhaftet; andere Verbrecher nur, wenn die Strafe, welche sie zu erwarten haben, wahrscheinlich einjährige Einsperrung übersteigt." Die harten Folgen dieser Regelung vermochte der von ihr Betroffene allerdings meistenteils durch die in § 210 das. zugelassene Stellung einer "annehmlichen Caution"44 abzuwenden; jedoch fand die Möglichkeit, sich die Freiheit soln Vgl. oben Seite 22 f. 41 Zucker, S. 67, mit zahlreichen Nachweisen; besonders Glaser, S. 68. Roßhirt bemerkt hierzu: "Auf einer solchen unglücklichen Idee (nämlich eine Kaution dafür zu fordern, daß jemand kein Verbrechen begehen werde) kann man den ganzen Staat zu einem Gefängnisse machen. Wir behaupten daher, der Staat habe an sich kein besonderes Recht, von dem Verbrecher wegen der Zukunft eine Garantie zu fordern." (vgl. Roßhirt, §. 84.) 44 Die Kaution mußte auf eine bestimmte Geldsumme gerichtet sein und nach Maßgabe der §§ 188 ff. I 14 ALR, also durch Pfänder und Bürgen, bewirkt werden (vgl. § 225 CO). Eidliche Kaution sollte nur ausnahmsweise angenommen werden (vgl. §§ 234 ff. das.).

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ehermaßen erkaufen zu können, gemäß § 211 das. ihre Grenze, sobald der Beschuldigte wahrscheinlich eine dreijährige Freiheitsstrafe verwirkt hatte. Ganz ausgeschlossen war sie schließlich für den uns allein interessierenden Fall, daß von dem Beschuldigten zu besorgen sei, er werde "seine Freiheit zu fortgesetzter Beleidigung seiner Mitbürger mißbrauchen" und dabei nicht mit Geld wiedergutzumachenden, also unersetzlichen Schaden anrichten45• Was die praktische Handhabung dieser Vorschrift anlangt, so mahnt Paalzow" unter Berufung auf Art. 176 CCC47 zur Mäßigkeit und Bedachtsamkeit. Der Richter müsse die Persönlichkeit des künftiger Verbrechen Bezichtigten erforschen und überlegen, ob dem Betreffenden eine solche Tat zuzutrauen sei, oder "ob er nur dem pralenden Soldaten des Plautus" gleiche, von dem man im Grunde nichts zu besorgen habe. Gehaltvollere Stellungnahmen sucht man vergeblich. IV. Deutsche Partikulargesetzgebung des 19. Jahrhunderts Außer in Preußen finden wir die Präventivhaft zur Verhütung künftiger Verbrechen auch in verschiedenen anderen Partikulargesetzgebungen des 19. Jahrhunderts vorgesehen, und zwar ausnahmslos unter der schon von der preußischen Criminalordnung geforderten Voraussetzung48, daß der in Haft zu Nehmende zugleich einer bereits begangenen Straftat verdächtig ist. So kann gemäß Art. 151 der revidierten Strafprozeßordnung für das Königreich Sachsen vom 1. Oktober 1868 (gleichlautend die Lübecker Strafprozeßordnung vom 26. November 1862, §§ 27, 30)41 die Verhaftung verfügt werden, "wenn besondere, aktenkundig zu machende Umstände die Befürchtung rechtfertigen, daß der Angeschuldigte die Freiheit zur Verübung neuer strafbarer Handlungen mißbrauchen oder die noch nicht vollendete Tat ausführen werde" 50 • Noch weiter gefaßt ist § 22 der Strafprozeßordnung von Basel Stadt vom 5. Mai 186251, nach 45 Baumanns Darstellung (vgl. JZ 1962, 689), die preußische Criminalordnung habe in§ 231 den Passus enthalten, daß die Verhaftung erfolgen könne, wenn zu befürchten sei, daß der Angeschuldigte seine Freiheit zu fortgesetzter Beleidigung seiner Mitbürger mißbrauchen würde, ist daher so nicht richtig. 41 Vgl. Paalzow, §§ 231. 232, Anm. 47 "Jedoch soll solche Strafe nicht leichtfertiglieh oder ohne merklich Verdächtigkeit künftiges Uebels, als obstehet, sondern mit Rats der Rechtsverständigen beschehen." 48 Vgl. oben Seite 24. 4• Baumann, JZ 1962, 689 (690). 50 Vgl. sächsische GS, S. 1031; vgl. auch Motive (StPO), Anlage 3, S. 132. 51 So auch noch die geltende Fassung vom 15. Oktober 1931, siehe unten Seite 53.

Erster Teil: Der Haftgrund in historischer Sicht

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welcher Vorschrift (in Übereinstimmung mit§ 19 der Thurgauer Strafprozeßordnung) die Verhaftung schon zulässig ist, wenn die Freiheit des Verdächtigen "mit Gefahr für andere verbunden ist" 52, während Harnburg in § 54 seiner Strafprozeßordnung vom 30. April 1869 die Haftvoraussetzungen dahin einschränkt, es müsse mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, daß der Verdächtige das Vergehen "fortsetzen" werde51• Auf der anderen Seite ist festzustellen, daß eine weit größere Zahl von Prozeßgesetzgebungen - genannt seien beispielsweise nur die von Oldenburg, Bremen, Thüringen, Hessen, Baden, Württemberg und Zürich54 - die Verhaftung unter präventiven Gesichtspunkten überhaupt nicht kennt. Bemerkenswert ist ferner, daß mit der Einführung des preußischen Strafgesetzbuches vom 14. April 1851 die bis zu dieser Zeit in §§ 534 ff. li 20 ALR1111 erhalten gebliebenen Rudimente des ungleich vollkommeneren Präventivsystems der Carolina" ersatzlos beseitigt wurden117, und daß auch die am 25. Juni 1867 eigens für die im Jahre 1866 zu Preußen geschlagenen Gebiete erlassene Strafprozeßordnung118 in § 109 die Untersuchungshaft nur noch wegen Flucht- und Kollusionsgefahr, nicht aber mehr wegen der Besorgnis künftiger Straftaten seitens des Verdächtigen zuließ, während die preußische Strafprozeßreform von 1849111 hinsichtlich der Voraussetzungen der Untersuchungshaft noch keine Änderung gebracht hatte.

B. Geschichte von 1871 bis 1945 I. Deutsehe Reiehsgesetzgebung bis 1933 I. Strafproseßorclnunl' von 1877

Nachdem mit der Reichsgründung von 1871 dem Reichsgesetzgeber die Gesetzgebungskompetenz für das Gebiet des Straf- und Strafverfahrensrechts zugefallen war1, stand dieser bei der Vorbereitung der Vgl. Motive (StPO), Anlage 3, S. 133, sowie Baumann, JZ 1962, 689. Vgl. Motive (StPO), a.a.O., S. 13a; Baumann, a.a.O., S. 690. " Vgl. Motive (StPO), a..a.O., S. 132; Baumann, a.a.O., S. 689. 55 Vgl. oben Seite 22 f. " Vgl. oben Seite 19 ff. 57 Vgl. Art. 2 Abs. 1 des Einführungsgesetzes zum preußischen Strafgesetzbuch, preußische GS, S. 93. 18 Vgl. preußische GS, S. 933. n Auf Grund der Verordnung über die Einführung des mündlichen und öffentlichen Verfahrens mit Geschworenen in Untersuchungssachen vom 3. Januar 1849; vgl. preußische GS, S. 14. 1 Vgl. Art. 4 Ziff. 13 der Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871; RGBI., S. 64. 11

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nachmaligen Strafprozeßordnung von 1877 und besonders der Ausgestaltung des Rechts der Untersuchungshaft vor der Frage, welchem der von den partikularen Prozeßordnungen eingeschlagenen Wege er folgen sollte. Er entschied sich in ausdrücklicher Abkehr von der entgegenstehenden Gesetzgebung dahin, daß einer Strafprozeßordnung nicht die Aufgabe zukomme, Vorbeugungsmaßregeln polizeilicher Natur zu treffen, sondern nur die andere, die Formen für die Anwendung des Strafgesetzes auf bereits vorgefallene Gesetzesverletzungen zu schaffen1 . Unter Zugrundelegung dieser Auffassung beschränkten sich die verschiedenen Vorschläge des Entwurfs•, wie auch die spätere Gesetzesfassung vom 1. Februar 18774 auf die Zulassung der Untersuchungshaft bei Flucht- und Verdunkelungsgefahr; ein Rechtszustand, der- ungeachtet sonstiger Änderungen des Untersuchungshaftrechts5 - bis zum Jahre 1935 erhalten bleiben sollte. 2. Reformbestrebungen

a) E n t w u r f e i n e s S t r a f g e s e t z ä n d e r u n g s g e s e t z e s von 1875 Angesichts der eben zitierten8 und - wie man meinen möchte richtungweisenden Stellungnahme der Motive zur Reichsstrafprozeßordnung muß es verwundern, wenn die Motive zu einem etwa um die gleiche Zeit vorgelegten Regierungsentwurf einer Strafgesetznovelle7, mit der unter Berufung auf die "an Zweck und Bedeutung nahestehenden Vorschriften"8 des Art. 176 CCC' und Hinweisen auf die§§ 44 und 533 TI 20 ALR10, §§ 231 ff. C011 und Art. 151 der sächsischen Strafprozeßordnung von 186811 sowie das Vorbild des englischen Rechts1• eine Kodifikation der sog. Friedensbürgschaft angestrebt wurde, das gerade Gegenteil behaupten. 1 Motive (StPO), S. 70 = Hahn, S. 131; vgl. auch Baumann, JZ 1962, 689 (690). 1 Vgl. § 98 des Entwurfs 1873 und § 101 des Entwurfs 1874. ' Vgl. RGBI., S. 253. 1 Namentlich durch das Gesetz vom 27. Dezember 1926 sog. Iex Höfle (vgl. RGBI. I, S. 529); über die weiteren Änderungen und Reformbemühungen siehe Kastendieck, S. 45 ff. 8 Vgl. oben. 7 Die hier interessierenden Bestimmungen sind abgedruckt bei Fuchs, S. 57 f., und Schierlinger, S. 78 f. 8 Nach Fuchs, S. 60, und Schierlinger, S. 76 f. 1 Vgl. oben Seite 19 ff. 1• Vgl. oben Seite 22 f. n Vgl. oben Seite 23 ff. 11 Vgl. oben Seite 25. 1• Siehe die Darstellung bei Schierlinger, S. 80 ff.

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"Aufgabe der Gesetzgebung sei, auch präventiv zu wirken und Mittel darzubieten, um beabsichtigten Verbrechen in gewissen Fällen nicht bloß polizeilich, sondern auch im Rechtswege erschwerend und hindernd entgegentreten zu können14." Zwar habe die deutsche Strafrechtswissenschaft die Ansicht vertreten, daß die oben genannten Vorschriften polizeilicher Natur wären und deshalb aus dem Gebiete des Strafrechts und Strafprozeßrechts ausscheiden müßten, und die deutsche Strafgesetzgebung sei dieser Ansicht auch allmählich gefolgt. Auf diesem Wege sei jedoch in Deutschland "ein nationales wertvolles Rechtsinstitut16 in dem Streben nach Systematik verkümmert worden und schließlich verschwunden""· Solchen Schaden gelte es wiedergutzumachen. Dieses Ziel zu erreichen, wollte die Revisionsvorlage das Strafgesetzbuch um im wesentlichen folgende Bestimmungen erweitert wissen17 : "Neben einer Freiheits- oder Geldstrafe kann in den durch das Gesetz vorgesehenen Fällen18 auf die Leistung einer Friedensbürgschaft im Betrage von 30 bis zu 3000 Mark und für die Zeitdauer von einem Monat bis zu einem Jahre erkannt werden" (§ 39 a S. 1). "Der zur Leistung von Friedensbürgschaft Verurteilte hat auf Höhe des festgesetzten Betrages durch Hinterlegung in barem Gelde oder in Wertpapieren, durch Pfandbestellung oder mittels Bürgschaft geeigneter Personen Sicherheit dafür zu leisten, daß er während der festgesetzten Zeit die in dem Erkenntnis angegebene strafbare Handlung nicht begehen werde. Solange die Sicherheit nicht geleistet wird, ist der Verurteilte in Haft zu nehmen" (§ 39 b Abs. 1 und Abs. 2 S. 2). "Hat der zur Leistung von Friedensbürgschaft Verurteilte während der in dem Erkenntnisse festgesetzten Zeit den ihm auferlegten Frieden gewahrt, so wird die bestellte Sicherheit frei. Die noch nicht freigegebene Sicherheit verfällt der Staatskasse, wenn der Verurteilte den ihm auferlegten Frieden bricht" (§ 39 c Abs. 1 und Abs. 3 S. 1). Wie sehr die in § 39 b Abs. 2 S. 2 gleichsam beiläufig erwähnte und nur subsidiär vorgesehene Verhaftung vordergründig bezweckt wurde, bekennen die Motive freimütig, wenn es daselbst heißt, die "Rücksicht auf das Wohl der Gesamtheit" gebiete es, "den Übelgesinnten für eine gewisse Zeit durch Beschränkung seiner Freiheit unschädlich zu maNach Schierlinger, S. 76. Gegen diese Bezeichnung wendet sich Fuchs, indem er meint, hätte es sich tatsächlich um ein wertvolles nationales Rechtsinstitut gehandelt, so würde sich dasselbe wohl auch erhalten haben. Im übrigen erscheine eine Berufung auf die Carolina heutigen Tages wenig glücklich, da man mit demselben Recht auch auf die Folter zurückgreifen könnte (vgl. Fuchs, S. 60 f.). 18 Nach Fuchs, S. 60, und Schierlinger, S. 77. 17 Der Hauptzweck des Novellenentwurfs lag indessen bei einer Revision des Rechts der Antragsdelikte; vgl. im einzelnen Fuchs, S. 3 ff. ts Bedrohnung, Landzwang, Herausforderung zum Zweikampf, Aufforderung zum Widerstand gegen die Staatsgewalt und zu strafbaren Handlungen, Körperverletzung, Sachbeschädigung, Störung des öffentlichen Friedens sowie Verabredung, Anerbieten und Versuch hinsichtlich aller Verbrechen; nach Sch.ierlinger, S. 77 f. 1•

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chen" 11 ; - worin sich im übrigen die Begründung hierzu erschöpft. Bedenkt man, daß der überwiegende Teil der Verbrecher damaliger Zeit der mittellosen Klasse entstammte, so hätte die geplante Regelung in der Tat - wie Fuchs2o voraussagte - nichts weiter gebracht als eine verlängerte Freiheitsstrafe. Der zitierte Revisionsvorschlag ist denn auch bereits an der ersten Hürde des Gesetzgebungsverfahrens, der Zustimmung des Justizausschusses des Bundesrats, gescheitert. Über die Gründe der Ablehnung verlautete u. a.tt: Mit Einführung der Friedensbürgschaft würde die in Deutschland immer schärfer ausgebildete Trennung der Justiz- und Polizeigewalt wesentlich verschoben werden. Auch erscheine das fragliche Rechtsinstitut recht wenig geeignet, künftigen Verbrechen vorzubeugen; denn das Bedürfnis einer Präventivjustiz falle mit seinem Schwerpunkte viel weniger in das Stadium, in welchem eine strafrechtliche Verantwortlichkeit begründet sei und die Gefährlichkeit des in einer strafbaren Handlung bereits verkörperten Willens bei der Abmessung der verwirkten Strafe mitgewogen werden könne, als in das Stadium des strafrechtlich zwar nicht faßbaren aber die Rechtssicherheit tatsächlich bereits bedrohenden verbrecherischen Entschlusses. Als Accessorium einer schon verwirkten Hauptstrafe lasse die Friedensbürgschaft das Bedürfnis einer Prävention in den Stadien vor Begründung einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit, ja selbst in den Stadien nach Begründung einer solchen bis zur Vollstreckung des Urteils jedoch ungedeckt. Aus dieser Begründung verdient unseres Erachtens Beachtung, daß die ablehnende Stellungnahme - trotz der eingangs erwähnten Grenzverschiebung zwischen Justiz- und Polizeiaufgaben - das "Bedürfnis einer Präventivjustiz" ausdrücklich anerkennt, wenn auch die in der Revisionsvorlage vorgesehene Lösung als von nur geringem praktischen Wert abgelehnt wurde. Hervorzuheben ist ferner, daß uns in der vom Justizausschuß verworfenen Regelung die dritte der möglichen Konzeptionen einer vorbeugenden Freiheitsentziehung begegnet: Kannte die Carolina in der Generalklausel des Art. 17622 eine von prozessualen Voraussetzungen freie (wenn auch nur hilfsweise in Frage kommende) Möglichkeit der Verhaftung von Personen, denen aus "gnugsamen vrsachen ... nit zu verttrawen oder zu glauben wer", so 11 Nach Schierlinger, S. 79. " Vgl. Fuchs, S. 68. 11 Nach Fuchs' auf "übereinstimmender Mitteilung in den öffentlichen Blättern" beruhender Darstellung; vgl. a.a.O., S. 56. " Vgl. oben Seite 19 ff.

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Erster Teil: Der Haftgrund in historischer Sicht

war seit der preußischen Criminalordnung von 180523 (§ 231) die Anordnung von Präventivhaft nur noch als besondere Form der Untersuchungshaft, also gegenüber zugleich begangener Straftaten Verdächtigen statthaft. Hier nun finden wir den Vorschlag, die Verhängung von (subsidiärer) Sicherungshaft im Strafurteil und neben der Strafe" zuzulassen, - ein Gedanke, der wesentlich modifiziert und gegenüber einer ganz anderen Gruppe von Personen25 bei der späteren Einführung der Sicherungsverwahrung• wiederkehren sollte. Weitere Versuche, die Friedensbürgschaft in oben dargestellter oder ähnlicher Weise doch noch zum Gesetz zu erheben, sind- entgegen der Prophezeihung von Fuchs17 - späterhin nicht mehr unternommen worden. b) Entwurf eines Strafpro z e ß ä n d er u n g s g es e t z es von 1894/95 Ganz anders verlief die Entwicklung des Strafprozeßrechts, in deren Verlauf mit wechselndem Erfolg immer wieder versucht wurde, der Sicherungshaft im Rahmen der ·Untersuchungshaft Anerkennung zu verschaffen. Schon in den Jahren 1894/9528 sah der Entwurf eines vom Bundesrat beschlossenen Gesetzes betreffend Änderung und Ergänzung des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozeßordnung die Erweiterung der Haftgründe dahin vor, daß die Verhaftung des Angeschuldigten bei dringendem Tatverdacht auch dann möglich sein sollte, wenn Tatsachen vorliegen, aus denen zu schließen ist, "daß er seine Freiheit zur Begehung neuer strafbarer Handlungen mißbrauchen werde" (§ 112 Abs. 1 S. 1 a. E.)tt. In der amtlichen Begründung10 wurde dazu ausgeführt, dieser Haftgrund habe sich in der Praxis als ein Bedürfnis herausgestellt. Die u Vgl. oben Seite 23 ff. 14 Aber nicht als "Nebenstrafe"; so jedoch Fuchs, S. 59. 16 Während die Sicherungsverwahrung für "gefährliche Gewohnheitsverbrecher", also schwerste Kriminalität vorgesehen ist, sollte die Friedensbürgschaft gemäß der gesetzlichen Aufzählung (vgl. oben Note 18 auf Seite 28) nur im Bereich der mittleren Kr iminalität Anwendung finden; Schierlinger, s. 101. 11 Vgl. §§ 20a, 42e StGB; eingefügt durch das Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24. November 1933; RGBl. I, S. 995. 17 Vgl. Fuchs, S. 57. 11 Ober die Daten siehe im einzelnen bei Robert von Hippel (Lehrbuch), s. 65. n Reichstagsdrucks. 1894/95, Nr. 15, S. 58. 11 Vgl. a .a.O., S. 75.

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Staatsgewalt müsse Mittel besitzen, durch die sie den Übeltäter hindern könne, die öffentliche Ordnung während des häufig nicht kurzen Zeitraumes bis zu seiner Verurteilung fortgesetzt weiter zu stören, damit nicht das Verhalten desselben "als eine Verhöhnung der Rechtsordnung empfunden, das Ansehen der Justiz herabgesetzt und das allgemeine Vertrauen in die Rechtssicherheit beeinträchtigt" werde. Dieser Entwurf, mit dem zugleich und vornehmlich eine Anzahl weiterer Reformanliegen verwirklicht werden sollte, scheiterte, als die Regierung am 15. Dezember 1896 wegen der Unvereinbarkeit der Standpunkte in anderen Fragen auf eine weitere Verhandlung im Reichstag verzichtete'1 • e) Entwurf einer Strafprozeßordnung von 1908 Ein besseres Schicksal sollte auch der ersten, ab 1902 vorbereiteten Gesamtreform des Strafprozeßrechts nicht beschieden sein. In dem Bestreben, das Strafverfahrensrecht "auf breiter Erfahrungsgrundlage unter Heranziehung von Wissenschaft und Praxis"82 grundlegend umzugestalten, tagte seit dem Frühjahr 1903 eine vom Reichsjustizamt berufene Sachverständigenkommission, die ihre Arbeiten im Herbst 1908 mit der Vorlage des Entwurfs einer Strafprozeßordnung nebst Begründung abschloß. Daß diesem Werk die spätere Bestätigung durch den Gesetzgeber versagt blieb, ist im wesentlichen auf Zufälligkeiten zurückzuführen: Als der maßgebliche Staatssekretär im Reichsjustizamt krankheitshalber zurücktreten mußte, konnte der überwiegend durchberatene Entwurf wegen des Ablaufs der Legislaturperiode im Herbst 1911 nicht mehr in dritter Lesung des Reichstages verhandelt werden88• Unter den Themen, die das Reichsjustizamt der Kommission als Arbeitsgrundlage zur Beratung gestellt hatte, befand sich auch die Frage, ob die Voraussetzungen für den Erlaß und die Aufhebung des Haftbefehls zu ändern seien84• Hierzu vertrat die Kommission den die weiteren Beratungen kennzeichnenden, grundsätzlichen Standpunktlll, daß es sich keinesfalls empfehlen werde, die Verhängung der Untersuchungshaft zu erleichtern oder die Haftgründe zu vermehren. Es könne allein in Betracht kommen, ob und bejahendenfalls in welcher Richtung es, ohne die Wirksamkeit der Strafrechtspflege zu beeinträchtigen, ana1 Robert von Hippel (Lehrbuch), S. 65. Robert von Hippel, a .a.O. 11 Robert von Hippel, a .a.O., S. 66. 11

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11

Frage F des Fragebogens; vgl. Entwurf 1908 (Protokolle), S. 87. Vgl. a.a.O., S. 88.

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Erster Teil: Der Haftgrund in historischer Sicht

gängig sei, die Voraussetzungen der Untersuchungshaft zu erschweren88. Daß bei dieser Grundhaltung die in dem gescheiterten Entwurf eines Änderungsgesetzes von 1894/95 vorgeschlagene Einführung eines besonderen Haftgrundes der Wiederholungsgefahr der Ablehnung verfiel, verwundert nicht; in der Begründung machte sich die Kommission überdies die schon in den Motiven zu dem Entwurf einer Strafprozeßordnung von 1877 geäußerte Anschauung37 zu eigen, daß eine Strafverfahrensordnung im allgemeinen nicht die Aufgabe haben könne, polizeiliche Präventivmaßregeln bereitzustellen38• Indes wurden zu dieser Zeit auch gegenteilige Stimmen laut, die die Aufnahme eines derartigen Haftgrundes forderten811• d) Entwurf einer Strafpro z e ß o r d n u g von 1920 Nach dem Ersten Weltkrieg wurde auf Anordnung des Reichsministers der Justiz erneut ein vollständiger, in wesentlichen Teilen von James Goldtschmidt verfaßter Entwurf eines Gesetzes über den Rechtsgang in Strafsachen erarbeitet und zu Beginn des Jahres 1920 dem Reichsrat zugeleitet40 ; er kam jedoch nicht einmal zur Beratung in der N ationalversammlung41 • Auch zu den Anliegen dieses Entwurfes gehörte es, die Rechtsstellung des Beschuldigten durch eine Einschränkung des Verhaftungsrechts zu stärken'1 . Dieses Ziel zu erreichen, sollte u. a. die Aufhebung der dem Richter für den Haftgrund der Fluchtgefahr eingeräumten Begründungserleichterung sowie das Verbot der Untersuchungshaft in Fällen leichterer Kriminalität dienen43 • Von der Einführung eines Haftgrundes der Wiederholungsgefahr war nicht mehr die Rede. e) E n t w u r f e i n es Ei n f ü h r u n g s g es e t z es zum Strafgesetzbuch von 1929 In die Zeit der Weimarer Republik fiel schließlich noch ein zweiter -ebenfalls mißglückter- Versuch, die Vorschriften über Verhaftung •• Über die Ergebnisse und den Verlauf der vorangegangenen Beratungen siehe den Entwurf 1908, S. 43, sowie Kastendieck, S. 46. 37 Vgl. Motive (StPO), S. 70 = Hahn, S. 131. 38 Vgl. Entwurf 1908 (Protokolle), S. 88, und Entwurf 1908, Sp. 231. •• Vgl. Feisenberger, S. 206. co von Stackelberg, Juristen-Jahrbuch 2, 171 (174); Kern (8. Aufi.), § 80. B.

II. 1.

Robert von Hippel (Lehrbuch), S. 67. Goldschmidt, zstw 41, 569 (597). 43 Vgl. im einzelnen die §§ 131> ff. des Entwurfs 1920 sowie Robert von Hippel, ZStW 41, 325 (341 f.). u

Cl

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und vorläufige Festnahme zu reformieren4'. Im Jahre 1929 wurde auf Veranlassung des Reichsjustizministeriums ein Amtlicher Entwurf eines Einführungsgesetzes zum Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuch nebst Begründung veröffentlicht, der in den Artikeln 66 bis 79 mit zahlreichen Einzelvorschriften eine Erneuerung des Strafprozeßrechtes anstrebte45• Hinsichtlich der Vorschriften über die Untersuchungshaft4' wurde im wesentlichen die gleiche Tendenz wie schon in den beiden früheren Entwürfen von 1908 und 1920 verfolgt47 • Da schon der Entwurf zum Strafgesetzbuch in langwierigen Reichstagsverhandlungen versandete, kam es auch nicht zu einer Beratung der. Vorschrüten des Einführungsgesetzes". D. Deutsches Strafprozeßrecht unter der Herrschaft des Nationalsozialismus Waren die bisherigen Reformbestrebungen dadurch gekennzeichnet, daß in Ansehung der Untersuchungshaft immer aufs Neue erwogen wurde, wie deren Voraussetzungen weiter zu erschweren48 und auf das unbedingt notwendige Maß zurückzuführen seien - eine Forderung, die schon die Motive zur Strafprozeßordnung von 1877 betont herausstellen50 -, so sollte nach der Machtübernahme durch die Nationalsozia1isten der entgegengesetzte Kurs gesteuert werden. "Gemeinnutz geht vor Eigennutz", unter dieser Parole, die das Titelblatt der geplanten Neufassung eines Strafgesetzbuches nationalsozialistischer Prägung "zieren" sollte11, wurden die persönlichen Freiheitsrechte zugunsten eines fiktiven "Volksganzen" nach und nach bis auf deren Fundamente abgetragen. Die Zielsetzung des Vorhabens, eine umfassende Rechtserneuerung im nationalsozialistischen Geiste durchzuführen, zeichnete sich hinsichtlich des Strafprozeßrechts und besonders des Rechts der Untersuchungshaft in Stellungnahmen wie etwa der von Stock52 ab, wonach das bisherige Haftrecht "eine starke 'Oberschätzung des Wertes der individuellen Freiheit und eine Vernachlässigung des Wohles der Volksgemeinschaft" erkennen lasse. " Vgl. Art. 67, Ziff. 59 bis 77 des Entwurfs 1929. " Robert von Hippel (Lehrbuch), S. 67. 41 Vgl. Art. 67, Ziff. 60 und 6'1 des Entwurfs 1929. n Kastendieck, S. 49. 4' Robert von Hippel (Lehrbuch), S. 67. " Vgl. Entwurf 1908 (Protokolle), S. 87 f., und Entwurf 1929, BegründUß8, s. 47 f. 60 Vgl. Motive (StPO), Anlage 3, S. 107. 51 Vgl. den Entwurf eines Deutschen Strafgesetzbuches, Berlln o. J. (um 1935). sz Vgl. Stock, 8.17. 3 Dletrldl

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Erster Teil: Der Haftgrund in historischer Sicht I. Strafverfahrensrechtsänderungsgesetz von 1935

Die Änderung dieses Zustandes erschien so dringlich, daß bereits am 28. Juni 1935 ein Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und Gerichtsverfassungsgesetzes53 verkündet wurde, während die geplante Gesamtreform des Strafprozeßrechts in verschiedenen, seit 1933 tätigen Kommissionen weiterhin vorbereitet wurde54• Die Novelle schuf in Art. 5 des Änderungsgesetzes mit zwei neuen, zusätzlichen Haftgründen eine Erweiterung, die "das Recht der Untersuchungshaft von seinen formalen Bindungen befreien und mit dem gesunden Volksempfinden in Einklang bringen" sollte55• Zu diesem Zweck wurde in § 112 Abs. 1 StPO hinter dem Wort "entziehen" folgender Nachsatz eingefügt: "oder daß er die Freiheit zu neuen strafbaren Handlungen mißbrauchen werde oder wenn es mit Rücksicht auf die Schwere der .Tat und die durch sie hervorgerufene Erregung der Öffentlichkeit nicht erträglich wäre, den Angeschuldigten in Freiheit zu lassen".

Nach der amtlichen Begründung" des zuerst genannten Haftgrundes der Wiederholungsgefahr, sollte mit dieser Vorschrift unter Anknüpfung an§ 126 a StP057 und § 96 Ziff. 4 der Militärstrafgerichtsordnung vom 4. November 193358 dem schon durch das Gewohnheitsverbrechergesetz verwirklichten Gedanken Rechnung getragen werden, daß das Strafrecht sich nicht darauf zu beschränken habe, begangenes Unrecht zu sühnen, daß es vielmehr dazu diene, die Allgemeinheit vor dem Rechtsbrecher wirksam zu schützen. 2. Entwurf einer Strafverfahrensordnung von 1936/39

Im Februar 1936 wurde der Entwurf einer Strafverfahrensordnung, einer Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung und eines Gerichtsverfassungsgesetzes von der amtlichen Strafprozeßkommission des Reichsjustizministeriums fertiggestellt, der "streng vertrauliche" Wortlaut jedoch- auch in den folgenden Jahren- nicht bekanntgemacht. Die Öffentlichkeit wurde lediglich in einem von dem damaligen Reichsminister der Justiz, Gürtner, herausgegebenen und eine Sammlung von Aufsätzen der Mitarbeiter enthaltenden Kommissionsbericht über "das Vgl. RGBl. I, S. 844. Siehe im einzelnen Robert von Hippel (Lehrbuch), S. 67 f. u Schlüter, JW 1935, 2329 (2333); siehe auch Lehmann, DJ 1935, 009 (1000, 1004 f.). 68 Abgedruckt bei Löwe - Hellweg - Rosenberg, S. 25 f. 67 Diese Vorschrift wurde durch Art. 2 des Ausführungsgesetzes zum Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. November 1933 in die Strafprozeßordnung eingefügt (vgl. RGBl. I, S. 1000); siehe auch unten Seite 59. 68 Vgl. RGBl. I, S. 924; siehe unten Seite 51. 53

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kommende deutsche Strafverfahren" unterrichtet. Schaffsteins5' vergebliche Anregung, den Text mitzuteilen, darf aus damaliger Sicht Beachtung finden. Wir wissen heute, daß bei Aufrechterhaltung der klassischen Haftgründe folgende Regelung vorgesehen war: "Der Beschuldigte muß ohne Rücksicht auf Fluchtgefahr oder Verdunkelungsgefahr in Untersuchungshaft genommen werden, 1. wenn er Ächtung, Todesstrafe, lebenslanges Zuchthaus, Sicherungsverwahrung oder Entmannung zu erwarten hat oder 2. wenn es nach seinem Verhalten in der Freiheit geboten ist, um die Volksgemeinschaft vor ihm zu schützen" (§ 199 Abs. 2 des Entwurfs 1936), bzw. nach der letzten Fassung des Entwurfs: "Gegen einen Beschuldigten, der einer Straftat dringend verdächtig ist, wird die Untersuchungshaft angeordnet: ... 3. wenn zu besorgen ist, daß er die Freiheit zu neuen Straftaten mißbrauchen werde; 4. wenn sein Verbleiben dn der Freiheit mit Rücksicht auf die Schwere oder die Verwerflichkeit der Tat für die Volksgemeinschaft unerträglich wäre" (§ 201 Abs. 1 des Entwurfs 1939). In der Sprache des Berichterstatters konnte man das so lesen60 : "Der Bann, der in früherer Zeit auf dem Haftrecht lag und der allein darauf sah, die Sicherung des ,staatlichen Strafanspruchs'fl1 zu verwirklichen, war (schon mit der Novelle von 1935) gebrochen, und als ebenbürtig war dem früheren Zweck der neuzeitliche zur Seite getreten, die Gemeinschaft vor künftigem Rechtsbruch zu bewahren, das Wohl der Volksgemeinschaft zu fördern und das Gemeinschaftsbewußtsein zu stärken.... Nicht mehr Fluchtgefahr oder Verdunkelungsgefahr sind die Pole, die die Verhaftung tragen, sondern das Entscheidende ist, daß das Schutzbedürfnis der Allgemeinheit die Sicherung vor dem vielfach gemeinschädlichen, hartnäckigen, schweren Verbrecher fordert. Das Haftrecht der Novellengesetzgebung von 1935 wird damit zum Dauerrecht62 erhoben6 3." Nun, dazu ist es nicht gekommen. Der mit so viel Aufwand betriebene Entwurf fand- sicher um anderer Vorschriftenwillen- vor den Augen Hitlers und Himmlers keine Gnade64• So wurde er, obschon bereits in zweiter Lesung von der großen Strafprozeßkommission abschließend beraten und nebst Begründung gedruckt, späterhin nicht weiter verfolgt. 58 60 61 62 63

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Vgl. ZStW 57, 531. Vgl. Dörffler, S. 265. Hervorhebung von Dörffler. und das im Rahmen der Untersuchungshaft! Dörffler, S. 268. Kern (8. Aufl.), § 81. B.

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Erster Teil: Der Haftgrund in historischer Sicht

3. Die Anwendunl" des Baflredlts

Haben wir im bisherigen die gesetzgeberische Tätigkeit geschildert, so würde dies doch allein, wollte man es damit sein Bewenden haben lassen, nur ein unvollständiges Bild damaliger Strafrechtspflege ergeben. Indes lassen sich, was die praktische Handhabung der durch die Novelle von 1935 eingeführten Haftgründe anlangt, heute keine Feststellungen mehr treffen'6, und auch die spätere Literatur erschöpft sich in Bemerkungen allgemeiner Art ohne Hinweis auf konkrete Mißbräuchen. Wir stimmen Rudolf Schmitt'7 zu, wenn er überhaupt bezweüelt, daß die Mißbräuche der Untersuchungshaft häufig waren, weil eine Diktatur den Strafrichter nicht nötig habe, um ihrer- politischen Gegner Herr zu werden. Diese Auffassung erscheint uns um so zutreffender, als den Machthabern des Dritten Reiches das pseudo-legitimeea Institut der Schutzhaft'a zu Gebote stand, als deren Anwendungsbereich Spohr70 "ganz allgemein die Sicherung des Aufbaus des neuen Staates gegenüber seinen Feinden innerhalb der Grenzen des Reiches" bezeichnet. Daß unter diesen Feinden nicht allein die politischen Gegner begriffen wurden, sondern daß auch willkürlich in die richterliche Strafrechtspflege eingegriffen wurde, veranschaulicht treffend ein 1938 von dem Münchener Polizeipräsidenten veranlaßter öffentlicher Anschlag: "Autodiebe kommen nach Dachau71."

C. Geschichte ab 1945 I. Erste Nachkriegsgesetzgebung

Nachdem der Zweite Weltkrieg mit der bedingungslosen Kapitulation Hitler-Deutschlands sein Ende gefunden hatte und die Verwaltungsund Justizhoheit zufolge einer alliierten "Deklaration in Anbetracht der Niederlage Deutschlands und der Übernahme höchster Autorität"' vom 5. Juni 1945 auf die vier Siegermächte übergegangen war, beganSo auch Baumann, JZ 1962, 689 (691), und Rudolf Schmitt, JZ 1965, 193. "Siehe etwa Eberhard Schmidt (Kommentar), § 112, Randnr. 4; PauU, DRZ 1950, 461; Dahs, NJW 1965, 81 (82). 17 Vgl. JZ 1965, 193 (194). 88 Spohr nennt als Rechtsgrundlage der Schutzhaft neben § 1 des Ermächtigungsgesetzes (Verordnung zum Schutze von Volk und Staat vom 28. Februar 1933, RGBl. I, S. 83) einen amtlich nicht bekanntgemachten Erlaß des Reichsministers des Innern vom 12. April 1934, .,dessen wesentlicher Inhalt aber der Öffentlichkeit durch die Tagespresse bekannt gegeben worden" sei .,(vgl. Völkischer Beobachter Nr. 104 vom 14. April 1934)"; vgl. Spohr, S. 11 ff. " Uber deren Handhabung siehe Eberhard Schmidt (Geschichte), § 358. 1o Vgl. Spohr, S.l3. 71 Also ins Konzentrationslager; Kern (8. Aufi.), § 81. C. 1 Berliner VOBl., S. 21. 11

C. Geschichte ab 1945

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nen diese in Ausübung der ihnen zugefallenen Rechte schon bald nach Kriegsende damit, die Mißbräuche der nationalsozialistischen Gesetzgebung auszumerzen' und so dem heutigen Rechtsstaat den Weg zu ebnen. Bereits am 20. Oktober 1945 wurden in der Proklamation Nr. 31 des Alliierten Kontrollrats die Grundlagen der späteren, in den einzelnen Besatzungszonen durchgeführten Neugestaltung des Strafverfahrensrechts geschaffen. Hierbei legte man neben anderen Grundsätzen rechtsstaatlicher Strafrechtspflege besonderes Gewicht auf die Gewährleistung der Rechte des Angeklagten, ohne daß jedoch im einzelnen zu unserer Frage nach den Voraussetzungen der Untersuchungshaft Stellung genommen worden wäre. Ferner erging am 30. Oktober 1945 das Kontrollratsgesetz Nr. 44, das eine Reorganisation des deutschen Gerichtswesens nach dem Vorbild des Gerichtsverfassungsgesetzes von 1877 in dessen Fassung vom 29. März 1924 bestimmte. Da eine vergleichbare Regelung für das Prozeßrecht nicht getroffen wurde, erließen in der Folgezeit die einzelnen Besatzungszonen entweder eigene Verfahrensordnungen oder behalfen sich mit Übergangslösungen. So wurden in den Ländern der amerikanischen Zone in den Jahren 1946/47 sog. Rechtspflegeordnungen (bestehend aus Gerichtsverfassungsgesetz und Strafprozeßordnung) übereinstimmenden Inhalts in Kraft gesetzt1 und damit im Wege der Parallelgesetzgebung einheitliches Recht geschaffen. In der britischen und in der Sowjetzone wurden zum 1. Oktober 1946 sog. Zentraljustizämter eingerichtet, die für alle Länder der jeweiligen Zone einheitliches Justizrecht, also auch Strafprozeßrecht, zu setzen befugt gewesen wären41• Dem war jedoch in der britischen Zone die Militärregierung mit dem Erlaß der Allgemeinen Anweisungen an Richter Nr. 27, denen die revidierten Texte der Strafprozeßordnung und des strafprozessualen Teils des Gerichtsverfassungsgesetzes beigefügt waren, zuvorgekommen, während in der sowjetischen Besatzungszone in den Jahren 1945 bis 1948 weder einheitliche Strafprozeßgesetze noch Prozeßordnungen der Länder erlassen wurden8 • 1 So die Allgemeine Anweisung für Richter Nr. 2. • Vgl. AmtsBl. des Kontrollrats, S. 22. • Vgl. a.a.O., S. 26. ' Vgl. z. B. hessisches GVBI. 1946, S. 13 (19); württemberg-badensches RegBl. 1946, S. 89 (98); Bremer GBl. 1947, S. 129 (135). • Kem (1. Aufl.), § 3. A. II., mit Nachweis der Rechtsquellen. 7 Auch abgedruckt in SchlHA 1946, 16 (ohne Gesetzestexte). 1 Ober die verschiedenen Bemühungen, auch hier zu einer gemeinsamen Neuregelung zu gelangen, berichtet ausführlich Weiss, NJ 1948, 215 f.

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Erster Teil: Der Haftgrund in historischer Sicht

In den Ländern der französischen Zone hingegen ergingen Mitte des Jahres 1946 mit Genehmigung der Militärregierung gleichlautende Rechtsanordnungen über die Gerichtsverfassung und das gerichtliche Verfahren9 , wonach für das Gerichtsverfassungsgesetz grundsätzlich das am 30. Januar 1933 und für das Verfahrensrecht grundsätzlich das am 7. Mai 1945 gegoltene Recht Anwendung finden sollte10• Für die viergeteilte Stadt Berlin schließlich, in deren Sektoren nicht etwa das Recht der entsprechenden Besatzungszone anzuwenden war11 , ist eine einheitliche Regelung durch die Alliierte Kommandantur oder unter deren Zustimmung nicht zustande gekommen. Fuhrmann12, der 1948 in Berlin einen Neudruck der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes besorgt hat und sich dabei die Frage nach dem derzeit geltenden Recht stellen mußte, bezog sich hinsichtlich des Gerichtsverfassungsgesetzes auf das schon genannte Kontrollratsgesetz Nr. 413, während er die Strafprozeßordnung ohne Angabe einer Rechtsgrundlage nach dem Stande von 1932 zum Abdruck brachte. War somit eine völlige Rechtszersplitterung erreicht, so fragt es sich, welches Schicksal das Recht der Untersuchungshaft und besonders die einzelnen Haftgründe dabei erfahren hatten. Dazu kann zunächst festgestellt werden, daß neben der allgemeinen Haftvoraussetzung dringenden Tatverdachts die "klassischen" Haftgründe Flueht- und Verdunkelungsgefahr ausnahmslos beibehalten wurden. Der Haftgrund der Erregung der Öffentlichkeit wurde in allen vier Besatzungszonen fallen gelassen, wobei es allerdings in der sowjetischen Zone wegen des Fehlens einer verbindlichen Gesetzesfassung zu unterschiedlichen Auffassungen kommen konnte. So hielt das Oberlandesgericht Dresden14 den genannten Haftgrund nicht nur für frei von nationalsozialistischem Gedankengut, sondern auch für gerade in die gegenwärtige Zeit (1946) passend, in der die öffentliche Meinung und die Einstellung der Bevölkerung gegen sozialschädliches Verhalten in besonders empfindlicher Weise zu reagieren pflege. Die gegenteiligeund wohl der allgemeinen Praxis entsprechende15 - Ansicht vertrat 8 Vgl. z. B. AmtsBl. des Staatssekretariats für das französisch besetzte Gebiet Württembergs und Hohenzollerns, S. 230; weitere Nachweise bei Kern (1. Aufl.), § 3. A. II. 3., und in der Gesetzgebungsübersicht der NJ 1947, 110. 1° Kern (6. Aufl.), § 3. A. II. 3. c). 11 Siehe hierzu die Veröffentlichung der Rechtsabteilung des Magistrats, Berliner VOBl. 1946, S. 34. n Vgl. Fuhrmann, Vorwort. 13 Vgl. oben Seite 37. Jt Beschluß vom 25. Aprill946, vgl. DRS 1946, 195 = NJW 1949, 234~ u weiss, Nj ·Ül48, 215 (2'Üi); Baum!i?ut; ·J Z'19&2, 649 (651); Kastendieck',' s. 52.

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das Oberlandesgericht Gera18, indem es die Gültigkeit des fraglichen Haftgrundes vom Standpunkt einer demokratischen Strafrechtspflege verneinte. Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr wurde in den drei westlichen Besatzungszonen unverändert beibehalten17• 18, in der Sowjetzone dagegen nicht mehr angewandt19• 20• Für den Verzicht auf diesen Haftgrund waren indes nicht, wie behauptet worden ist21 , rechtsstaatliche Bedenken, sondern gesetzessystematische Gründe maßgeblich, und zwar dieselben (der Haftgrund der Wiederholungsgefahr enthalte ein den Zwecken der Untersuchungshaft wesensfremdes, in Wahrheit polizeilichen Präventivcharakter tragendes Element22), wie sie schon vor 1877 erfolgreich gegen die Aufnahme einer ähnlichen Bestimmung in die Reichsstrafprozeßordnung geltend gemacht worden waren23• 24•

ß. Vereinheitlichungsgesetz von 1950 Nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland gehörte es zu den vordringlichen Aufgaben des ersten Deutschen Bundestages, die auf zahlreichen Gebieten verlorene Rechtseinheit zunächst wenigstens provisorisch wiederherzustellen. Der Verfolgung dieses Zieles diente auch das am 12. September 1950 verkündete Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrensrechts und des Kostenrechts25• 18 Beschluß vom 1. Dezember 1947; vgl. NJ 1947, 221 (mit zust. Anmerkung von Weiss) = NJW 1947/48, 497 (Nr. 692). · 17 Vgl. für die amerikanische Zone§ U2 StPO i. d. F. der Strafrechtspflegeordnung 194S, für die britische Zone § 112 StPO i. d. F. des der Allgemeinen Anweisung an Richter Nr. 2 beigefügten Gesetzestextes und für die französische Zone § 17 der Rechtsanordnung über die Gerichtsverfassung und das gerichtliche Verfahren. 18 Bader berichtet, in der südbadischen Praxis sei nach 1945 auf diesen Haftgrund zunächst nicht mehr zurückgegriffen worden; vgl. Bader, S. 5. 10 Siehe neben den in Note 15 auf Seite 38 Genannten; Schneider, S. 43, Note 1; Bader, S. 6; Henkel (Grundriß), § 36. III. 1. b, Note 44. to Die formale Aufhebung erfolgte hier durch § 141 der Strafprozeßordnung i. d. F . vom 1. Januar 1949-; Kastendieck, S. 52, mit Nachweisen. u Bader betont, "ausgerechnet die Sowjetzone" habe das "streng rechtsstaatliche Prinzip" gewählt (vgl. Bader, S. 6); ähnlich auch Baumann, JZ 1962, 689 (691); zutreffend dagegen Schneider (vgl. Schneider, S. 43, Note 1). 11 So Weiss in seinem Bericht über eine am 12. Oktober 1948 in der Sowjetzone stattgefundene Konferenz der Deutschen Justizverwaltung mit Vertretern der Länder-Justizministerien; vgl. NJ 1948, 215 (216). u Vgl. oben Seite 27. u Ganz im Widerspruch hierzu steht die neuere Rechtsentwicklung in der DDR; siehe unten Seite 51 f. 26 Vgl. BGBl. I, S. 455.

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Erster Teil: Der Haftgrund in historischer Sicht

Dabei habe - wie es in der amtlichen Begründung des Gesetzentwurfs heißt" - wegen der Dringlichkeit der Arbeit und der durch diese gebotenen Beschleunigung der gesetzgeberischen Tätigkeit davon abgesehen werden müssen, auf den von dem Vereinheitlichungsgesetz betroffenen Rechtsgebieten Neuerungen einzuführen. Es sei vielmehr in jedem Falle auf eine Regelung zurückgegangen worden, die bereits einmal in Deutschland einheitlich rechtens gewesen sei und sich bewährt habe. Hinsichtlich der Untersuchungshaft bedeutete das - da man im wesentlichen den Rechtszustand vor 1933 zugrunde legte11 - eine Beschränkung auf die beiden "klassischen" Haftgründe, deren Voraussetzungen in dem Bestreben, dem richterlichen Ermessen klare Richtlinien zu geben und die Gefahr einer schematischen Anwendung zu verringern18, zugleich schärfer umschrieben wurden. Zu der Aufhebung des bis dahin in den drei Westzonen fortgegoltenen Haftgrundes der Wiederholungsgefahr wird hi der umstrittenen" Begründung lediglich ausgeführt, dieser aus § 176 Ziff. 4 der Militärstrafgerichtsordnung von 189810 entlehnte Haftgrund sei "mit rechtsstaatlichem Denken nicht vereinbar"''·

m. Reformbestrebungen Nachdem schon bei der Vorbereitung des Vereinheitlichungsgesetzes von 1950 der Wunsch nach einer umfassenden Erneuerung des Strafverfahrensrechts zwar vorhanden, wegen der Eilbedürftigkeit des Gesetzgebungsverfahrens aber zurückgestellt worden war~', ist auch im Laufe der folgenden Jahre der Ruf nach einer Reform des in wesentlichen Teilen noch auf 1877 zurückgehenden Strafprozeßrechts nicht verstummt11• Insbesondere die Anwaltschaft trat immer wieder mit enbiprechenden Forderungen hervor". Ihren Höhepunkt erreichte die • Vgl. BT-Druclts. I/530, S. 3. 17 Gollwitzer, DRiZ 1964, 393. • Eberhard Schmidt (Kommentar), § 112 Randnr. 6. " Siehe unten Seite 62 ff. • Siehe unten Seite 51 und das. Note 6. 11 BT-Druclts. 1/530, S. 3'7; siehe auch Dallinger, § 112 Note 1; ders., SJZ 1950, Sp. 732 (737); Gerner, NJW 1950, 722 (727), sowie Nüse, JR 1950, 553 (554). 11 Die Begründung zu dem Entwurf des Vereinheitlichungsgesetzes betont ausdrücltlich den "'Obergangscharakter" dieser Regelung; vgl. BT-Druclts. 1/530, s. 3. 11 von Stackelberg, Juristen-Jahrbuch 2, 171 (175). " Der am 14./15. Mai 1959 in Stuttgart abgehaltene

30. Deutsche Anwaltstag stand mit den vielbeachteten Grundsatzreferaten von Dahs (vgl. AnwBl. 1959, 171 ff.) und von Stackelberg (vgl. AnwBI. 1-959, 190 ff.) ganz im Zeichen vielfältiger Reformverlangen; vgl. auch Dahs, NJW 1959, 505 ff., und SchmidtLeichner, NJW 1959, 841 ff.

C. Geschichte ab 1945

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Diskussion in der großen Justizdebatte des Bundestages am 22. Januar 195935, in deren Verlauf der seinerzeitige Bundesjustizminister, Schäffer, die völlige Neugestaltung der Strafprozeßordnung ankündigte". Zunächst war geplant, den wichtigsten Reformanliegen vorweg iri einem Einführungsgesetz zu der in Vorbereitung befindlichen Neufassung des Strafgesetzbuchs Rechnung zu tragen17• Als sich dann jedoch die Strafrechtsreform in die Länge zu ziehen drohte, reifte der im folgenden verwirklichte Plan einer "kleinen Strafprozeßreforin" im Wege der Novellengesetzgebung38• Nunmehr soll in einem zweiten Abschnitt der Reform das Strafverfahrensrecht mit dem neuen Strafgesetzbuch in Einklang gebracht werden••, während die große Strafprozeßreform erst nach Abschluß der Strafrechtsreform in Angriff genommen werden kann40• IV. Strafprozeßlnderungsgesetz von 1914 1. Vorl&l'e des RerferunpentwurfsiD der dritten Wahlperlode des Bundestages Der am 13. Juni 1960 vom Bundesjustizministerium vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes (StPÄG)U wurde am 21. Oktober 1960 im Bundestag in erster Lesung verhandelt41 • Dabei zeigte sich, daß die Regierungsvorlage bei weitem nicht alle der in den Parlamenten, in den Fachkreisen und in der interessierten Öffentlichkeit geäußerten Reformwünsche berücksichtigt hatte'3 • Vor allem waren solche Änderungen vermieden worden, die sich nicht organisch in das Gesamtgefüge des geltenden Strafverfahrensrechts hätten einfügen lassen". u - die auf eine Große Anfrage der SPD-Fraktion zur Justizpolitik der Bundesregierung stattfand - Die Frage 4 der Anfrage lautete, ob der Bundesregierung bekannt sei, daß gerichtliche Verfahren übermäßig lange dauerten und die Verfahrensordnungen, namentlich im Strafprozeß, zeitgerechten und rechtsstaatliehen Anforderungen nicht genügten, und welche Reformen zur Abhilfe geplant seien; vgl. sten. Ber. v. d. 56. Sitzung d. Deutschen Bundestages, 3. Wahlp., S. 3059 B. u Vgl. a.a.O., S. 3060 A-C. 17 Schäffer, a.a.O., S. 3060 C. u Kanka, sten. Prot. d. Rechtsausschusses d. Bundestages, 4. Wahlp., 3/14; Schäffer, sten. Ber. v. d. 128. Sitzung d. Deutschen Bundestages, 3. Wahlp.,

S. 7404 A (D).

11 Durch entsprechende Vorschriften eines Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch. 40 von Stackelberg, Juristen-Jahrbuch 2, 171 (175). tt BT-Drucks. III/2037. 41 Vgl. sten. Ber. v. d. 128. Sitzung d. Deutschen Bundestages 3 Wahlp S. 7404 A ff. ' . ., ° Kletnknecht, JZ 1965, 113. " Eberhard Schmidt, DRiZ 1963, 176; Gollwitzer, DRiZ 1964, 393; Klein• knecht, a.a.O.

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Erster Teil: Der Haftgrund in historischer Sicht

So erfuhr auch das Recht der Untersuchungshaft, dessen Neugestaltung eines der Hauptanliegen der Reform sein sollte, keinen grundlegenden Strukturwandet Der Entwurf beschränkte sich vielmehr darauf, die bestehenden Haftgründe der Verdunkelungsgefahr und des Fluchtverdachts (jetzt als Flucht-"gefahr" bezeichnet) neu zu begrenzen, besser zu ordnen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach dem Untersuchungshaft nicht angeordnet werden darf, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe außer Verhältnis steht - gesetzlich Ausdruck zu verleihen45 • Ferner griff der Entwurf einen Vorschlag aus dem Jahre 1920 auf40 , indem er die dem Richter bei dem Verdacht eines Verbrechens für den Haftgrund der Fluchtgefahr bislang eingeräumte Begründungserleichterung aufgab. Eine Wiedereinführung des 1950 eliminierten Haftgrundes der Wiederholungsgefahr war zunächst nicht geplant. Während die amtliche Begründung zu der vorgeschlagenen Fassung des § 112 StPO davon spricht, es sei das Ziel des Entwurfs, in Fortsetzung des mit der Novelle zur Strafprozeßordnung vom 27. Dezember 192647 beschrittenen Weges die Anordnung und die Dauer der Untersuchungshaft zu beschränken, soweit es "kriminalpolitisch vertretbar" erscheine48, hat der Deutsche Richterbund in einer offiziellen Stellungnahme zu obigem Entwurf am 29. Oktober 1960 bedauert, daß ein zusätzlicher Haftgrund der Wiederholungsgefahr nicht vorgesehen sei, obwohl ein solcher "dringenden kriminalpolitischen Bedürfnissen" entspreche40. Ob und gegebenenfalls welche konkreten Gesichtspunkte bei den gegensätzlichen Vorstellungen hinsichtlich der rechten Kriminalpolitik berücksichtigt wurden, verschweigt die amtliche Begründung wie die Äußerung des Richterbundes. Am 21. Oktober 1960 fand die erste Lesung des Regierungsentwurfs im Bundestag statt50• Als sich dabei zusätzliche - unser Thema nicht unmittelbar berührende - Änderungswünsche ergaben, wurde der Entwurf an den Rechtsausschuß des Bundestages überwiesen; dieser konnte ihn jedoch in der dritten Wahlperiode nicht mehr beraten51 • 45 Da dieser Grundsatz ohnehin Verfassungsrang genießt (vgl. BVerfG, NJW 1966, 243 (244)), kommt der gesetzlichen Fixierung nur deklaratorische Bedeutung zu; so auch Kleinknecht, sten. Prot. d. Rechtsausschusses d. Bundestages, 4. Wahlp., 4/4. 48 Vgl. oben Seite 32. 47 Vgl. oben Note 5 auf Seite 27. 48 Vgl. BT-Drucks. III/2037, S. 15. 4• Vgl. DRiZ 1960, 448. 50 Siehe sten. Ber. v. d. 128. Sitzung d. Deutschen Bundestages, 3. Wahlp., s. 7404 ff. 51 Siehe im einzelnen Kleinknecht, JZ 1965, 113.

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2. Erneute Vorlage des Regierungsentwurfs in der vierten Wahlperiode

a) B e r a t u n g e n i m R e c h t s a u s s c h u ß d e s Bundestages Nachdem der Entwurf in der vierten Legislaturperiode erneut eingebracht worden war5z, überwies ihn der Bundestag am 14. Februar 1962 wiederum seinem Rechtsausschuß53, dessen Beratungen sich über 33 Sitzungen erstreckten und am 20. Februar 1963 ihren Abschluß fanden54. Dabei hat - was auf den ersten Blick erstaunen mag - von Anfang an die Diskussion um die Aufnahme eines zusätzlichen Haftgrundes der Wiederholungsgefahr breitesten Raum eingenommen55• Diesen Umstand bezeichnete denn auch Dahs anläßlich seiner vom Rechtsausschuß erbetenen Stellungnahme" zu verschiedenen Fragen des Entwurfs als ein von der Bundesrechtsanwaltskammer, dem Initiator der Reform, nicht erwartetes "Eigentor" 57• Daß der Haftgrund der Wiederholungsgefahr so eingehend erörtert wurde, erscheint deshalb auffällig, weil das erklärte Ziel der Reform ja gerade auf eine Beschränkung der überkommenen Haftgründe gerichtet war58• Andererseits ist die Forderung der neuen Haftgründe des § 112 Abs. 3 und 4 StPO aber eben als Folge der Einengung der sog. klassischen Haftgründe zu verstehen. Man argumentierte etwa folgendermaßen59 : Bislang sei eine Verhaftung wegen Wiederholungsgefahr bei Nichtvorliegen von Verdunkelungsgefahr oder Fluchtverdacht häufig unter dem Vorwand des Fluchtverdachts erfolgt, weil für diesen, sofern ein Verbrechen den Gegenstand der Untersuchung bildete, eine Begründung nicht gegeben zu werden brauchte (§ 112 Abs. 2. S. 2 Ziff. 1 StPO a. F.). Da nach dem in Rede stehenden Gesetzentwurf nun aber auch 52 Und zwar gleich zweimal: am 6. Dezember 1961 gemeinsam von den drei Fraktionen (BT-Drucks. IV/63) und am 7. Februar 1962 von der Bundesregierung (BT-Drucks. IV/178); letzterer wurde den weiteren Beratungen zugrunde gelegt. 113 Vgl. sten. Ber. v. d. 14. Sitzung d. Deutschen Bundestages, 4. Wahlp.,

S. 434 A. 54

Vgl. sten. Prot. d. Rechtsausschusses d. Bundestages, 4. Wahlp., 2 bis 21,

23, 25, 26, 31, 33 und 3·5 bis 42.

Auf Anregung des Abgeordneten Jahn; vgl. a.a.O., 3/15. Der Ausschuß beriet den Entwurf in zwei Lesungen. Zwischen beiden hörte er Sachverständige des Deutschen Richterbundes, der Bundesrechtsanwaltskammerund des Bundeskriminalamtes; vgl. a.a.O., 23/3 ff. s1 Vgl. a.a.o., 23/31 (39). 58 Schäffer, sten. Ber. v. d. 128. Sitzung d. Deutschen Bundestages, 3. Wahlp., 55

58

S. 7404 A (7405 B). 59

Vgl. sten. Prot. d. Rechtsausschusses d. Bundestages, 4. Wahlp., 3/15 und

4/9 (Jahn), 4/12 (Memmel), 8/12 (Wahl), 23/47 (48) (Baldus).

· ·

'

••

Erster Tell: Der Haftgrund in historischer Sicht

bei Verbrechen die Fluchtgefahr begründet werden müsse, ergebe sich mit dem Wegfall der illegitimen Praxis eine Lücke. Diese gelte es zu schließen; denn es sei nicht zu verkennen, daß drohende Wiederholungsgefahr vom Gesetzgeber her unter gewissen Voraussetzungen ein zulässiger Haftgrund sein könne. Es gelte ferner, den Richter aus quälender Gewissensnot zu befreien; er müsse in die Lage versetzt werden, Haftgründe anzugeben, die mit der Wahrheit übereinstimmen. Die Aussprache im Rechtsausschuß ergab somit, daß keinesfalls das Bestreben obwaltete, in Verkennung der Reformanliegen willkürlich neue und zusätzliche Gründe zur Verhängung von Untersuchungshaft zu erfinden, daß vielmehr nur der bisher "apokryphe"80 Haftgrund der Wiederholungsgefahr zum legalen Rechtsinstitut erhoben werden sollte. Im Verlauf der Beratungen wurden dem Ausschuß nicht weniger als 2ehn verschiedene Formulierungsvorschläge81 - darunter vier im Rahmen einer von dem Bundesjustizministerium erbrachten Formulierungshilfe - unterbreitet. Diese Tatsache kennzeichnet die Vielfalt unterschiedlicher Meinungen bezüglich des Umfanges, den die neue Bestimmungerhalten sollte; denn daß es nicht mit der Wiedereinführung einer Vorschrüt, wie sie bis zum Vereinheitlichungsgesetz von 1950 gegolten hatte, sein Bewenden haben könne, entsprach allgemeiner Auffassung, während sich nur eine Minderheit überhaupt gegen die Aufnahme des fraglichen Haftgrundes aussprach. Betrachtet man die einzelnen Formulierungsvorschläge in ihrer historischen Reihenfolge, so ergibt sich manch bemerkenswerte Verschiebung. Der erste- vom Bundesjustizministerium formulierte- Vorschlag'~ enthielt noch keinerlei Begrenzung in materieller Hinsicht auf bestimmte Delikte oder Deliktsgruppen, wollte dafür aber die Zulässigkeit der Verhaftung neben dem Vorliegen auf Tatsachen gegründeter Wiederholungsgefahr davon abhängig machen, daß der Beschuldigte bereits zweimal wegen einer vorsätzlichen Tat rechtskräftig zu Zuchthaus- oder Gefängnisstrafen von mindestens sechs Monaten verurteilt worden ist. Demgegenüber machte schon der - vom Referenten des Rechtsausschusses, Kanka, vorgelegte - zweite Entwurf" insofern eine Einschränkung, als Gegenstand der Untersuchung mindestens eine solche vorsätzliche Tat sein sollte, deretwegen der Beschuldigte voraus10

Baldus, a.a.O., 23/29.

Siehe a.a.O., 6/3 (1. Vorschlag, Bundesjustizministerium) = Ausschußdrucks. IV/10, 26/5 (2., Kanka), 31/17 (3., Kanka), 31/23 (4., Jahn), 33/3 (5., Bundesjustizministerium), 37/4 (6., Jahn), 37/6 (7., Kanka), 37/7 f. (8., Hoogen) = Ausschußdrucks. IV/24, Anlage 1 zu 40/5 (9., Bundesjustizministerium) Ausschußdrucks. IV/26, Anlage 1 zu 40/5 (10., Bundesjustizministerium). 11 Vgl. a.a.O. 11 Vgl. a.a.O. 81

=

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sichtlich eine Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verwirkt hat, während andererseits die Bindung an eine bestimmte Anzahl von Vorstrafen gelockert wurde, indem es nur noch hieß, daß die die Wiederholungsgefahr begründenden Tatsachen "namentlich im Hinblick auf sein" - des Beschuldigten - "strafbares Verhalten vor der Tat" festzustellen seien. In den späteren Formulierungen ist dann das Vorstrafenerfordernis ganz fallen gelassen worden, dafür aber auf der anderen Seite der Anwendungsbereich der Vorschrift auf bestimmte Delikte bzw. Gruppen von Delikten beschränkt worden: so im Entwurf des Abgeordneten Jahnu auf Verbrechen wider das Leben und die Sittlichkeit im Sinne des 16. und 13. Abschnitts des Strafgesetzbuchs, in einer Formulierungshilfe des Bundesjustizministeriums66 auf Hochverrat (§§ 80, 81 Abs. 1, 83 des Strafgesetzbuchs), Verbrechen wider Leib oder Leben in den Fällen der §§ 211, 212, 225 und 229 des Strafgesetzbuchs, Verbrechen wider die Sittlichkeit in den Fällen des § 173 Abs. 1 und der §§ 174, 175 a, 176 und 177 des Strafgesetzbuches und gemeingefährliche Verbrechen sowie in einem weiteren Vorschlag des Abgeordneten Kanka" neben Verbrechen gegen das Leben und die Sittlichkeit auch auf solche strafbaren Handlungen, die wegen Rückfalls als Verbrechen geahndet werden. Hinsichtlich des Begriffs "Wiederholungsgefahr" findet sich von dem dritten Formulierungsvorschlag an die Definition, daß zu besorgen sein müsse, der Beschuldigte werde "eine weitere Tat von gleicher oder ähnlicher Art"87, "ein gleichartiges Verbrechen"", "ein Verbrechen der bezeichneten Art"" oder "ein Verbrechen der ihm vorgeworfenenArt"71 begehen. Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sollte nach den vom Bundesjustizministerium herrührenden Vorschlägen durch einen Nachsatz des Inhalts Ausdruck gegeben werden, daß sich die Verhaftung nur dann rechtfertige, wenn die mit der Wiederholung für die öffentliche Sicherheit drohende Gefahr "nur durch seine" - des Beschuldigten "Verhaftung abgewendet werden" könne71 bzw. wenn "die Haft zur Abwendung der drohenden Gefahr erforderlich" sei71• 4. Formulierungsvorschlag, vgl. a.a.O. 5. Formulierungsvorschlag, vgl. a.a.O. •• 7. Formulierungsvorschlag, vgl. a.a.O. 17 3. Formulierungsvorschlag, vgl. a.a.O. 18 4. Formulierungsvorschlag, vgl. a.a.O. " 5. und 8. bis 11. Formulierungsvorschlag, vgl. a.a.O.; so auch die spätere Fassung des Strafprozeßänderungsgesetzes. 70 7. Formulierungsvorschlag, vgl. a.a.O. 71 1. Formulierungsvorschlag, vgl. a.a.O. 71 So der 5. und 8. bis 11. Formulierungsvorschlag (v&l. a.a.O.) sowie die spätere Fassung des Strafproze.ßänderungsgesetzes. 04

85

46

Erster Teil: Der Haftgrund in historischer Sicht

Hervorhebung verdient ferner, daß die Haft wegen Wiederholungsgefahr - in Erkenntnis der im Ausschuß unbestrittenen Tatsache, daß es sich insoweit nur um eine präventive Maßnahme handeln könne in den Formulierungsvorschlägen vier und fünf 73 als "Sicherungshaft" bezeichnet wurde und der damit auch äußerlich gekennzeichneten Unterscheidung von der Untersuchungshaft im eigentlichen Sinne durch Verwendung besonderer Paragraphen (112 a oder 126 b) Rechnung getragen werden sollte74• In diesem Zusammenhang ist schließlich noch auf eine Besonderheit des dritten Formulierungsvorschlages75 hinzuweisen, in dem der Referent des Rechtsausschusses vorgeschlagen hatte, die in Rede stehende Bestimmung durch folgenden zweiten Satz zu erweitern: "Die Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr darf nur dann angeordnet werden, wenn kein anderer Haftgrund besteht". Zusammen mit der Einführung einer solchen Subsidiaritätsklausel sollte sodann auch § 450 StPO durch einen weiteren Absatz dahin ergänzt werden7e, daß die wegen Wiederholungsgefahr verhängte Untersuchungshaft obligatorisch auf die zu vollstreckende Freiheitsstrafe anzurechnen sei77• Der Rechtsausschuß hat jedoch gegen Ende seiner Beratungen von einer entsprechenden Empfehlung an den Gesetzgeber Abstand genommen78 • Neben den oben79 im Rahmen der verschiedenen Formulierungsvorschläge genannten Verbrechen und Verbrechensgruppen, unter Aufzählung derer eine Begrenzung des in Aussicht genommenen Haftgrundes zur Beratung stand, ist die Einbeziehung einer beträchtlichen Anzahl weiterer Delikte erwogen worden. Dabei reichte die Skala der zumindest namentlich erwähnten Straftatbestände80 von Raub, Erpressung und schwere Brandstiftung über gewisse Fälle des schweren Diebstahls (z. B. Bandendiebstahl) und Betruges (berufsmäßige Vertretungsschwindler, reisende Warenbetrüger, Hochstapler) bis zur Wilderei und zum Exhibitionismus, von denen insbesondere letztgenanntes Vergehen Gegenstand wiederholter Erörterung war81 • Unabhängig von den ÜberVgl. a.a.O. Der 6. Formulierungsvorschlag (vgl. a.a.O.) enthielt den neutralen Ausdruck "Haft". 75 Vgl. a.a.O. 78 Vgl. sten. Prot. d. Rechtsausschusses d. Bundestages, 4. Wahlp., 31/17 f. 77 So auch eine vom Bundesjustizministerium in zwei Alternativen vorgeschlagene Ergänzung bzw. Neufassung der§§ 60 StGB und 450 StPO; vgl. sten. Prot. d. Rechtsausschusses d. Bundestages, 4. Wahlp., 33/6 f. 78 Zu der Problematik der Anrechnung der Untersuchungshaft siehe unten Seite 97. 7' Vgl. Seite 45. 80 Vgl. sten. Prot. d. Rechtsausschusses d . Bundestages, 4. Wahlp., 4/12, 23/26, 31/25, 31/26 und 31/28. 81 Vgl. a.a.O., 4/12 f., 23/26, 23/51 und 23/53 f. 73

74

C. Geschichte ab 1945

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legungen um die enumerative Erfassung einzelner Delikte wurde die vorrangige, grundsätzliche Frage diskutiert, auf welche Arten von Kri... minalität der Haftgrund der Wiederholungsgefahr ausgerichtet sein solle. Während einerseits die Ansicht vertreten wurde, es käme vornehm... lieh der Bereich der "mittleren Kriminalität" - also beispielsweise Hochstapelei und andere Fälle des Betruges- in Betracht82, stand die Mehrheit der Mitglieder des Rechtsausschusses auf dem- unseres Er... achtens billigenswerten83 - Standpunkt, es könnten nur die Fälle schwerster Kriminalität und unter diesen nur jene in Frage kommen, in denen bei einem Verzicht auf die Verhaftung des Beschuldigten besorgt werden müsse, es könnten "irreparable Schäden" erheblichen Umfanges entstehen"'. Mit Zugrundelegung dieser Auffassung ergab sich eine Beschränkung auf Verbrechen wider das Leben und die Sittlichkeit, wie sie schon in den Formulierungsvorschlägen vier und sechs des Abgeordneten Jahn85 zum Ausdruck gekommen war. Allerdings erfuhren diese Vorschläge in der schließlich vom Ausschuß dem Bundestag empfohlenen Fassung noch eine weitere Einengung und wesentliche Umgestaltung. Eine Einengung insofern, als aus der ansonsten als zu weitgehend abgelehnten Formulierungshilfe des Bundesjustizministeriums vom 28. November 196288 die gegenüber der generellen Bezugnahme auf die Verbrechen des 13. Abschnitts des Strafgesetzbuchs einschränkende Aufzählung der§§ 173 Abs.1, 174, 175a, 176 und 177 StGB übernommen und somit auf eine Einbeziehung der Verbrechen nach §§ 179, 181 und 181 a StGB verzichtet wurde. Für den Fall, daß dringender Tatverdacht hinsichtlich eines Verbrechens wider das Leben nach den §§ 211, 212 oder 220 a Abs. 1 Ziff. 1 StGB besteht, wurde die Schaffung eines völlig neuen, von dem etwaigen Vorliegen von Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr unabhängigen Haftgrundes empfohlen87• Dieser Vorschlag wurde damit begründet, daß der besondere Respekt, den man dem menschlichen Leben entgegenzubringen habe, es unerträglich erscheinen lasse, daß ein des Mordes oder Totschlages dringend Verdächtiger auf freiem Bader, a.a.O., 23/21 (2ß). Siehe unten Seite 70. 84 So namentlich Jahn, sten. Prot. d. Rechtsausschusses d. Bundestages, 4. Wahlp., 31/26 und 37/5, und Benda, das. 37/5; vgl. auch Frau Diemer-Nicolaus, das. 3'1/4. 85 Vgl. oben Note 61 auf Seite 44. 81 5. Formulierungsvorschlag, vgl. a.a.O. 87 9. und 10. Formulierungsvor schlag, vgl. a.a.O. 8!

83

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Erster Teil: Der Haftgrund in historischer Sicht

Fuß belassen werde; bei solch schweren Verbrechen ertrage die Gesellschaft den Täter nicht unter sich88• b) B e r a tun g e n im B und es t a g und B es c h 1 u ß f a s s u n g Deckt sich somit der vom Rechtsausschuß nach dem Abschluß seiner Beratungen dem Bundesgesetzgeber empfohlene Formulierungsvorschlagse - von einer geringfügigen sprachlichen Verbesserung abgesehen - mit der später vom Bundestag beschlossenen Gesetzesfassung, so ist daraus doch nicht zu schließen, das Parlament habe sich leichthin von der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit der neuen Haftgründe überzeugen lassen. Zwar wurde am 27. März 1963, für welchen Tag die zweite und zugleich dritte Lesung des Gesetzentwurfs angesetzt war, der Artikel 1 Ziff. 1 des Änderungsgesetzes (§ 112 StPO) in der Fassung des Ausschusses ohne Debatte angenommen110, nachdem zuvor ein im einzelnen nicht begründeter Änderungsantrag der SPD-Fraktion auf Zusammen· fassung der Absätze 3 und 4 des § 112 StP0111 (wonach auch bei Verbrechen wider das Leben eine Verhaftung nur bei Wiederholungsgefahr möglich sein sollte) gleichfalls ohne Aussprache abgelehnt worden war'!. Als jedoch wegen der Vielzahl weiterer Änderungsanträge mit denen die Gefahr bestand, der Bundestag werde den Gesamtüber· blick über das Gesetzgebungswerk verlieren und so einander widersprechende Beschlüsse fassen - die dritte Lesung verschoben und der Entwurf nebst allen Änderungsvorschlägen erneut dem Rechtsausschuß überwiesen wurde11•, kam es in der Folge auch über die Voraussetzungen der Untersuchungshaft zu regen Auseinandersetzungen. Es begann damit, daß sich der Rechtsausschuß den oben erwähnten und bereits in zweiter Lesung des Bundestages abgelehnten SPD-An· trag zu eigen machte und nunmehr seinerseits eine Zusammenfassung der Absätze 3 und 4 empfahl11'. Daraufhin befürworteten die Abgeordneten Güde, Kanka und Weber (Koblenz) sowie die Fraktion der CDU/ 88 Güde, sten. Prot. d. Rechtsausschusses d. Bundestages, 4. Wahlp., 37/11; vgl. auch den schriftl. Ber. d. Rechtsausschusses, BT-Drucks. IV/1020, S. 2. et Vgl. BT-Drucks. IV/1020. "Vgl, sten. Ber. v. d. 69. Sitzung d. Deutschen Bundestages, 4. Wahlp., s. 3102 c. " Umdruck 226; vgl. Anlage 3 zum sten. Ber. v. d. 69. Sitzung d. Deutschen Bundestages, 4. Wahlp. " Vgl. sten. Ber. v. d. 69. Sitzung d. Deutschen Bundestages, 4. Wahlp., s. 3102 c. 11 Vgl. a.a.O., S. 3152 A, sowie BT-Drucks. zu IV/2378. N Vgl. BT-Drucks. IV/2378.

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CSU einen weiteren Änderungsantrag, mit dem die ursprüngliche Allsschußfassung wiederhergestellt werden sollte95 • Doch nicht genug damit: die genannten Abgeordneten nebst Genossen beantragten ferner, den Haftgrund der Wiederholungsgefahr auch auf besondere Fälle der Vermögenskriminalität auszudehnen. Dazu sollten dem dritten Absatz folgende Sätze angefügt werden": "Ein Haftgrund besteht auch gegen den Beschuldigten, der dringend verdächtig ist, ein anderes Verbrechen oder Vergehen, das die öffentliche Sicherheit und Ordnung empfindlich beeinträchtigt, gewerbs- oder gewohnheitsmäßig oder als einer von mehreren zur fortgesetzten Begehung strafbarer Handlungen miteinander Verbundenen begangen zu haben; in diesem Fall besteht der in den genannten Umständen enthaltene Haftgrund jedoch nur, wenn der Beschuldigte wegen des Verbrechens oder Vergehens, dessen er dringend verdächtig ist, voraussichtlich eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr verwirkt hat." Während letzterwähnter Antrag, den man dahin zu begründen versucht hatte, es sei zur Aufrechterhaltung der allgemeinen Friedensordnung vonnöten, daß "der nach seinem Hang, nach seiner Gewohnheit, nach seiner Gewerbsmäßigkeit, nach seiner bandenmäßigen Verbindung zur Wiederholung neigende, hindrängende Täter in Sicherheit gebracht und die Bevölkerung vor ihm geschützt" werde97, als "von Generalklauseln geradezu wimmelnd" 98 abgelehnt wurde98, fand der erstere mit knapper Mehrheit100 Zustimmung101 • Damit setzte sich die schon im Rechtsausschuß vertretene Auffassung, es sei "schlechterdings unerträglich", daß sich ein "eines brutalen Mordes" dringend Verdächtiger der Freiheit solle erfreuen können101, gegenüber der von Emotionen freien, anderen durch, daß sich die Verhaftung eines einstweilen lediglich Verdächtigen nur dann rechtfertigen lasse, wenn sie zur Sicherstellung der Untersuchung oder Verhütung nicht wiedergutzumachenden Schadens erforderlich sei1°8• 104• Hinsichtlich des Haftgrundes 96 Umdruck 498; vgl. Anlage 4 zum sten. Ber. v. d. 132. Sitzung d. Deutschen Bundestages, 4. Wahlp. 98 Umdruck 500; vgl. Anlage 5 zum sten. Ber. v. d. 132. Sitzung d. Deutschen Bundestages, 4. Wahlp. 17 Kanka, sten. Ber. v. d. 132. Sitzung d. Deutschen Bundestages, 4. Wahlp., S. 6438 D (6439 C). 98 Bucher, a.a.O., S. 6438 A (B); Müller-Emmert, das. S. 6440 A-B. 99 Vgl. a.a.O., S. 6445 C. 100 149 gegen 143 Stimmen bei 4 Enthaltungen. 101 Vgl. sten. Ber. v. d. 132. Sitzung d. Deutschen Bundestages, 4. Wahlp., s. 6445 c. 102 Kanka, a.a.O., S. 6438 D (6439 A). 1os Jahn, a.a.O ., s. 6442 B (D-6443 A). 104 Wir hätten es begrüßt, wenn das Bundesverfassungsgericht, das bald nach dem Inkrafttreten des Gesetzes Anlaß hatte, die Vereinbarkeit dieses "Haftgrundes der Unerträglicllkeit" (so Dünnebier, NJW 1966, 231 (233)) mit

4 Dietrich

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Erster Teil: Der Haftgrund in historischer Sicht

der Wiederholungsgefahr ergab die Debatte im Plenum des Bundestages keine Gesichtspunkte, die nicht schon zuvor in dessen Rechtsausschuß erörtert worden wären105• Seit dem 1. April 1965 sind die neuen Haftgründe geltendes Recht1° 8 .

D. Rechtsvergleichung Bevor wir uns im folgenden der Problematik des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr, wie er in dem Strafprozeßänderungsgesetz von 1964 Ausdruck gefunden hat, im einzelnen zuwenden, sei noch ein Blick auf vergleichbare Regelungen des In- und Auslandes geworfen. Dabei müssen wir uns jedoch im Rahmen des uns zugänglichen Quellenmaterials eine gewisse Beschränkung auferlegen, um der geschichtlichen Betrachtung nicht unangemessen Raum zu geben. I. Deutschland 1. Bundesrepublik

In der Bundesrepublik ist auf zwei weiteren Rechtsgebieten eine Freiheitsentziehung zur Verhütung künftiger Straftaten vorgesehen.

a) J u g e n d g e r i c h t s g e s e t z v o n 1 9 5 3 Im Jugendstrafverfahren kann gemäß § 71 Abs. 2 S. 1 des Jugendgerichtsgesetzes vom 4. August 1953 1 die "einstweilige Unterbringung" des Jugendlichen in einem geschlossenen Erziehungsheim u. a. dann angeordnet werden, "wenn dies geboten ist, um einem Mißbrauch der Freiheit zu neuen Straftaten entgegenzuwirken" 2 • Zur Begründung dieser weder auf bestimmte Delikte oder besonders schwere Straftaten beschränkten Regelung verweisen Dallinger und Lackners auf die "Inäen Rechtsgarantien des Grundgesetzes zu überprüfen (vgl. Beschl. v. 15. Dezember 1965, NJW 1966, 243 ff.), hier seinem Streben nach verfassungskonformer Auslegung (vgl. Maunz und Dürig in Maunz- Dürig, Art. 20, Randnr. 67) Grenzen gesetzt und nicht unter Ubergehung der Motive des Gesetzgebers eine Interpretation gewählt hätte, die dessen Intentionen gänzlich zuwiderläuft; siehe auch unten Seite 72, Note 102. 105 Vgl. die Stellungnahmen von Kanka, Bucher, Müller-Emmert, Busse, Güde, Jahn, Frau Diemer-Nicolaus und Benda; sten. Ber. v. d. 132. Sitzung d. Deutschen Bundestages, 4. Wahlp., S. 6'437 ff. 108 Gemäß Art. 18 StPÄG. 1 Vgl. BGBI. I, S. 751. 1 § 71 Abs. 2 S. 2 JGG ist durch Art. 12 Ziff. 1 Buchst. g StPÄG den neuen Vorschriften der Strafprozeßordnung über die Untersuchungshaft angepaßt worden. 1 Vgl. Dallinger- Lackner, § 71, Randnr. 11.

D. Rechtsvergleichung

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teressen der Allgemeinheit" gegenüber "Straftaten von erheblicher Wirkung für andere". Trotz der im Vergleich zu § 112 Abs. 3 StPO beträchtlich weiteren Fassung4 hat diese (1953 neu geschaffene) Vorschrift- soweit ersichtlich- bisher keine Kritik hervorgerufen5• b) Militärstrafgerichtsordnung von 1933 Ebenfalls keine Beschränkung auf bestimmte Arten von Straftaten ist in § 96 Ziff. 4 S. 1 der Militärstrafgerichtsordnung vom 13. November 19336 ausgesprochen, derzufolge Untersuchungshaft im Militärstrafverfahren u. a. dann verhängt werden darf, "wenn dringende Verdachtsgründe gegen den Beschuldigten vorhanden sind und . .. Tatsachen vorliegen, aus denen zu schließen ist, daß der Beschuldigte ... seine Freiheit zur Begehung neuer strafbarer Handlungen mißbrauchen werde". Eine ähnliche Vorschrift soll auch die in Vorbereitung befindliche "Militärstrafgerichtsordnung für den Verteidigungsfall" enthalten7. Hier hat allerdings ein Vergleich mit dem allgemeinen Strafprozeßrecht auf die besonderen militärischen Belange Rücksicht zu nehmen. So kann nach § 96 Ziff. 3 der Militärstrafgerichtsordnung eine Verhaftung- dringenden Tatverdacht vorausgesetzt- auch schon erfolgen, wenn die Aufrechterhaltung der militärischen Disziplin dies erfordert. 2.DDR

In der sowjetischen Besatzungszone waren- wie bereits dargestellt8 - nach Ende des Krieges die Haftgründe des Strafverfahrensrechtsänderungsgesetzes von 19359 nicht mehr angewendet worden. Auch die spätere Neufassung der Strafprozeßordnung im Gesetz über das Verfahren in Strafsachen in der DDR vom 2. Oktober 195210 gestattete gemäß § 141 die Untersuchungshaft nur bei Fluchtverdacht oder Verdunkelungsgefahr; die Gesetzesfassung ging im wesentlichen auf die Reichsstrafprozeßordnung von 1877 zurück. Im Rahmen der jüngst durchgeführten Straf- und Strafprozeßrechtsreform ist nun aber ein genereller Haftgrund der Wiederholungsgefahr 4 Auch "bestimmte Tatsachen" werden zur Begründung der Wiederholungsgefahr nicht verlangt. 5 So auch Rudolf Schmitt, JZ 1965, 193 (194). 6 Vgl. RGBl. I, S. 294; so auch schon § 176 Ziff. 4 S. 1 der Militärstrafgerichtsordnung vom 1. Dezember 1898, vgl. RGBl. I, S. 1189. 7 Schafheutle, sten. Prot. d. Rechtsausschusses d. Bundestages, 4. Wahlp., 8/10 (11). s Vgl. oben Seite 38 f. 9 Vgl. oben Seite 34. to Vgl. GBl., S. 997.

4*

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Erster Teil: Der Haftgrund in historischer Sicht

wieder eingeführt worden, wie überhaupt die Voraussetzungen für die Verhängung von Untersuchungshaft eine nicht unerhebliche Ausweitung erfuhren. Nach der maßgeblichen Bestimmung(§ 122 Abs. 1 Ziff. 3 der Strafprozeßordnung der DDR vom 12. Januar 196811) darf der Beschuldigte oder Angeklagte jetzt auch in Untersuchungshaft genommen werden, wenn sein Verhalten "eine wiederholte gleichartige und erhebliche Mißachtung der Strafgesetze darstellt und dadurch Wiederholungsgefahrbegründet wird". Bemerkenswert erscheint hierbei, daß es nicht auf die Schwere der Straftaten, sondern die "Erheblichkeit der Mißachtung der Strafgesetze" ankommt und die Wiederholungsgefahr durch eine wiederholte Tatbegehung "begründet wird", also offenbar nicht besonders festgestellt zu werden braucht. U. Osterreich

Nach § 175 Abs. 1 Ziff. 4 der Österreichischen Strafprozeßordnung vom 12. Mai 1960 kann der Haftrichter die "vorläufige Verwahrung" des eines Verbrechens oder Vergehens Verdächtigen anordnen, "wenn besondere Umstände die Befürchtung rechtfertigen, daß der Beschuldigte die vollendete Tat wiederholen oder eine versuchte oder angedrohte Tat ausführen werde". Diese Vorschrift, die wörtlich auf die frühere Österreichische Strafprozeßordnung vom 23. Mai 187312 zurückgeht, ist seinerzeit besonders von Zucker13 heftiger Kritik unterworfen worden; dabei ist in der Argumentation eine beachtenswerte Übereinstimmung zu den Stellungnahmen moderner Kritiker zu verzeichnen14. Neuerdings verlautete11', das Österreichische Justizministerium erwäge unter Berufung auf das mit dem Vereinheitlichungsgesetz von 195018 in der Bundesrepublik Deutschland gegebene Vorbild, den fraglichen Haftgrund abzuschaffen.

m. Schweiz Durchaus unterschiedlich ist die Regelung des Untersuchungshaftrechts in der Schweiz, deren 25 Kantone jeweils eigene Strafverfahrensvorschriften17 erlassen haben, während das Strafrechtspflegegesetz des Vgl. GBI. I, S. 49. Insoweit abgedruckt bei Zucker, S. 59, Note 1. 11 Vgl. Zucker, S. 59 ff. 14 Siehe unten Seite 57 und 79. 15 Nach Kleinknecht, sten. Prot. d. Rechtsausschusses d. Bundestages, 4. Wahlp., 31/21 (22). 11 Vgl. oben Seite 39 f. 17 Nachweis der Fundstellen bei Kastendieck, S. 19 f. 11 12

D. Rechtsvergleichung

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Bundes nur in besonderen Fällen zur Anwendung gelangt. Bei dieser Vielzahl von Bestimmungen müssen wir uns darauf beschränken, einige Beispiele herauszugreifen. In den Kantonen Bern18 und Solothurn18 sowie nach dem Bundesstrafrechtspftegegesetz20 ist - im einzelnen modifiziert - die Anordnung von Untersuchungshaft nur bei Flucht- oder Kollusionsgefahr zulässig. Dagegen ist in Appenzell A. Rh.11 die Verhängung von Untersuchungshaft auch möglich "bei Verbrechen in allen Fällen", in BaselStadt22, "wenn seine (des Beschuldigten) Freiheit mit Gefahr für andere verbunden ist, insbesondere wenn die Fortsetzung einer verbrecherischen Tätigkeit befürchtet werden muß", und in St. Gallen11, "wenn die Fortsetzung der strafbaren Tätigkeit ernsthaft zu befürchten ist". Am weitestengefaßt ist die entsprechende Vorschrift des Kantons Uri14, derzufolge die Verhaftung schon angeordnet werden kann, "wenn mit Grund zu befürchten ist, daß der Beschuldigte gefährliche Handlungen vornehmen werde". Das Festhalten an derart unterschiedlichen Rechtsauffassungen innerhalb eines Staates läßt sich nur von der besonderen Schweizer Tradition her verstehen. IV. Frankreich

Gänzlich anders konzipiert ist das französische Recht der detention preventive. Nach Art. 94 des Code d'instruction criminelle von 1808 verhängt der juge d'instruction die Untersuchungshaft!& nach seinem Ermessen, ohne auf besondere Haftgründe wie Flucht- oder Verdunkelungsgefahr Rücksicht nehmen zu müssen•. Voraussetzung ist lediglich, daß es sich um keinen gering zu bewertenden Rechtsbruch handelt und zumindest Gefängnis oder härtere Strafen drohen (Art. 94 Abs. 1 18 Vgl. Art. lll des Gesetzes über das Strafverfahren des Kantons Bern vom 20. Mal 1928. 18 Vgl. § 134 der Strafprozeßordnung für den Kanton Solothum vom 25. Oktober 1885. 10 Vgl. Art. 44 des Bundesgesetzes über die Bundesstrafrechtspflege vom 15. Juni 1934. u Vgl. Art. 33 Buchst. a der Strafprozeßordnung für den Kanton Appenzell A. Rh. vom 26. April1914. " Vgl. § 53 Zlff. 3 der Strafprozeßordnung vom 15. Oktober 193·1. 11 Vgl. Art. 92 Abs. 1 Ziff. 3 des Gesetzes über die Strafrechtspflege vom 30. Juni 1954. !' Vgl. § 16 Buchst. c der Strafprozeßordnung für den Kanton Uri vom 8. Juni 1959. 15 Dies historisch bedingt - in der Form des mandat de depöt oder des mandat d'arret; siehe im einzelnen Roskothen, S. 70. 28 Roskothen, a.a.O.

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Erster Teil: Der Haftgrund in historischer Sicht

C. instr. crim.) 27• Der französische Haftrichter kann beispielsweise schon deshalb die Untersuchungshaft verhängen, weil er den Beschuldigten nur jederzeit für Vernehmungen und Konfrontierungen zur Verfügung haben will28• Bei dieser Rechtslage besteht zweifellos auch die Möglichkeit einer Verhaftung wegen Wiederholungsgefahr29 • Diese französische Regelung der Untersuchungshaft wurde bereits in den Motiven zum Entwurf der Reichsstrafprozeßordnung von 1877 als zu Mißgriffen und Willkür Anlaß gebend und wenig nachahmenswert bezeichnet30• V. England Eine Sonderstellung nimmt das englische Recht ein, da es keine Gesamtkodifikationen und folglich auch keine Strafprozeßordnung kennt; ja es findet sich hinsichtlich der Voraussetzungen und Grenzen der Untersuchungshaft nicht einmal in den Präjudizien der höheren Gerichte eine - über die gelegentliche Behandlung von Einzelfragen hinausreichende- grundsätzliche Regelung31 • Damit ist die Frage, ob im Einzelfall Untersuchungshaft angeordnet werden soll, ganz in das freie, durch gesetzliche Bestimmungen weder beschränkte noch auch nur gelenkte Ermessen des Gerichts gestellt32, so daß sich eine Darstellung des englischen Rechts nur auf den Gerichtsgebrauch stützen kann. Nach den Feststellungen Grünhuts33 kommen als maßgebliche Gesichtspunkte für die Verhängung von Untersuchungshaft vor allem Fluchtgefahr, Schwere und Art der zur Aburteilung stehenden Straftat sowie die Beweislage34 in Betracht; aber auch eine aus Art, Schwere und Häufigkeit des dem Beschuldigten zur Last gelegten kriminellen Verhaltens abgeleitete Wahrscheinlichkeit der Begehung weiterer Straftaten könne die Verhaftung rechtfertigen35• Die Ansichten darüber, ob auch Verdunkelungsgefahr als Haftgrund zur Anwendung kommt, sind geteilt38 • Roskothen, a.a.O.; Heinitz, S. 4. Roskothen, a.a.O.; Heinitz, a.a.O. 29 Heinitz, a.a.O.; Kleinknecht, sten. Prot. d. Rechtsausschusses d. Bundestages, 4. Wahlp., 31/21 (22). so Vgl. Hahn, S. 129 f. 31 Grünhut, S. 1. 32 Magistrates' Courts Act 1952, S. 7 und 105 (nach Grünhut, S. 5, Note 9); Heinitz, S. 5. s3 Vgl. Grünhut, S. 7. 27 28

84 Es gilt als unangebracht, jemanden freizulassen, dessen Verurteilung mit Sicherheit bevorsteht. 36 Nachw. aus der englischen Rspr. bei Grünhut, Note 13; a. A. Heinitz, S. 5. 38 Bejahend: Grünhut, S. 8 f.; Jescheck, GA 1962, 71; verneinend: Cromwell, NJW 1954, 378.

D. Rechtsvergleichung

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VI. Zusammenfassung Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß- bei im einzelnen unterschiedlicher Fassung der gesetzlichen Voraussetzungen- in mehreren europäischen Ländern37 eine Verhängung von Untersuchungshaft unter dem präventiven Gesichtspunkt der Wiederholungsgefahr zulässig ist, daß es andererseits aber auch Staaten gibt, die einen solchen Haftgrund nicht kennen38• Hinsichtlich der im deutschen Recht vorgenommenen Beschränkung auf bestimmte Sittlichkeitsverbrechen fanden wir keine Parallele.

31 Neben den bereits genannten auch in Ungarn und Schweden (hier allerdings nur bei dem Verdacht solcher Straftaten, die mit Strafarbeit bedroht sind); vgl. § 97 Abs. 1 Buchst. d der ungarischen StPO bzw. Kap. 24 § 1 Abs. 1, letzter Halbs. des schwedischen Prozeßgesetzes vom 18. Juli 1942 (nach Hei-

nitz, S. 1 f.). 38

Beispielsweise die UdSSR; nach Heinitz, a.a.O.

Zweiter Teil

Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr in rechtsdogmatischer Sicht Mit der Einführung eines besonderen Haftgrundes der Wiederholungsgefahr bei gewissen Sittlichkeitsdelikten sind eine Fülle von dogmatischen und praktischen Fragen zu Tage getreten. Während erstere bereits Gegenstand mehrfacher Erörterung gewesen sind1 , finden sich hinsichtlich der Handhabung des neuen Haftgrundes im wesentlichen nur Hinweise auf die Notwendigkeit kriminologischer Vorbildung und Erfahrung sowie zu erwartende Schwierigkeiten bei der Prognosestellung2. Mit diesen Problemen werden wir uns daher im kriminologischen Teil vorliegender Arbeit besonders auseinandersetzen. Zuvor müssen freilich auch wir die Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit und der sachlichen Berechtigung der getroffenen gesetzlichen Regelung stellen, zumal insoweit durchaus unterschiedliche Auffassungen vertreten werden.

A. Die verfassungsrechtliche Problematik des § 112 Ahs. 3 StPO I. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundesgesetzgebers Die eingangs zu erörternde Frage, ob bezüglich der in § 112 Abs. 3 StPO geregelten Materie überhaupt die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundesgesetzgebers begründet war, mag auf den ersten Blick trivial und direkt aus dem Gesetz heraus lösbar erscheinen: Bekanntlich kommt dem Bund gemäß Art. 74 Ziff. 1 GG (im Rahmen der konkur1 Siehe besonders Baumann, JZ 1962, 689 ff., und Rudolf Schmitt, JZ 1965, 193ff.; siehe ferner Ackermann, AnwB1.1965, 2ff.; Baumann, JuS 1965, 172ff.; Creifelds, NJW 1965, 946 ff.; ders., JR 1965, 1 ff.; Dahs, AnwBl. 1966 34 ff. ; ders., NJW 1965, 81 ff.; ders., NJW 1966, 761 ff.; Dreves, DRiZ 1965, 110 ff.; Gay, Kriminalistik 1965, 605 ff.; Gollwitzer, DRiZ 1964, 393 ff.; Hengsberger, JZ 1966, 209 ff.; Kanka, MDR 1965, 245 ff.; Kleinknecht, MDR 1965, 781 ff.; ders., JZ 1965, 113 ff.; Oppe, MDR 1966, 641 f.; ders., NJW 1966, 93 ff.; Petermann, Rpfl. 1965, 68 ff.; Philipp, DRiZ 1965, 83 ff.; Reitberger, Kriminalistik 1965, 173 ff.; Hans-Wolfgang Schmidt, SchlHA 1965, 49 ff.;. Schmidt-Leichner, NJW 1965, 1309 ff.; ders., NJW 1966, 425 ff.; Schorn, NJW 1965, 841 ff. ; Georg Schulz, Kriminalistik 1962, 433 ff. 2 So etwa Baumann, JZ 1965, 689 (694); Rudolf Schmitt, a.a.O., S. 196; Peters, § 47 A. II. 2. b) dd).

A. Die verfassungsrechtliche Problematik

57

rierenden Gesetzgebung) die Gesetzgebungskompetenz für das Gebiet des Strafrechts und des gerichtlichen Verfahrens zu. Und doch verbirgt sich hier ein erstes Problem. 1. Verbrechensprävention als Aufgabe des Polizei- und damit Landesrechts

Schon die Motive zur Reichsstrafprozeßordnung von 18773 vertraten nachdrücklich den Standpunkt, daß eine Strafprozeßordnung nicht die Aufgabe habe, Vorbeugungsmaßregeln "polizeilicher Natur" zu treffen, sondern nur die andere, die Formen für die Anwendung der Strafgesetze auf bereits vorgefallene Gesetzesverletzungen zu schaffen. In dem gleichen Sinne äußerte Zuckert anläßlich des Inkrafttretens der Österreichischen Strafprozeßordnung von 18735 : Es erscheine nach der Aufgabe, die den Organen der Justizpflege in dem System des Strafprozesses zugewiesen sei, untunlich, dem Untersuchungsrichter die Verhaftung zur Vermeidung der Wiederholung einer vollendeten oder der Ausführung einer versuchten oder angedrohten Tat zuzuweisen; denn Funktionen dieser Art seien "präventiv-polizeilicher Natur" und stünden mit der Vorbereitung des Verfahrens zum Zwecke strafrichterlicher Aburteilung in keinerlei Zusammenhang. Zwar müsse dem Untersuchungsrichter eine Art polizeilicher Gewalt zugestanden werden, soweit dies zur Vorbereitung des Erkenntnisses vonnöten .sei. Dabei könne die Tätigkeit des Richters neben der Beseitigung von Verfahrenshindernissen auch auf die Vorbeugung möglicher Störungen gerichtet sein; "nimmermehr aber auf die Verhinderung der Begehung der Übeltat selbst". Hier sei nur Raum für die Polizeibehörde im sog. engeren Sinne des Wortes. Unterstellt man einmal die Berechtigung dieser Unterscheidung zwischen Verbrechensrepression und -prävention auch für die heutige ZeW1 - wie dies nach Rudolf Schmitt7 noch "ganz verbreiteter Vorstellung" entspricht -, so ist zumindest fraglich, ob die in Rede stehende Vorschrift von der Gesetzgebungskompetenz des Bundes erfaßt wird; denn die "vorbeugende Verhütung strafbarer Handlungen" ist in Vgl. oben Seite 26 f. Vgl. Zucker, S. 74 f. 5 Vgl. oben Seite 52. • So ausdrücklich Niese, DRiZ 1950, 73 (76). - Baumann lobt die Auffassung der Motive als "eine rechtsstaatlich saubere, vom Grundsatz der Gewaltenteilung beherrschte und das Strafverfahren mitsamt seinen Zwangsmitteln und Organen streng auf repressive Tätigkeit beschränkende Regelung" (vgl. JZ 1,962, 689 (690)) und spricht an anderer Stelle (vgl. JuS 1965, 172) davon, in § 112 Abs. 3 StPO würden "präventivpolizeiliche Maßnahmen in gefährlicher Weise mit repressiven Maßnahmen vermengt". 7 Vgl. JZ 1965, 193. 3

4

58

Zweiter Teil: Der Haftgrund in rechtsdogmatischer Sicht

der Tat traditionell (eigentliche)8 Polizeiaufgabe9 und als solche gemäß Art. 70 Abs. 1 GG der Gesetzgebungsbefugnis des Landesgesetzgebers zugeordnet. (Nach der auf die berühmte Vorschrift des § 10 II 17 ALR zurückgehenden polizeilichen Generalklausel haben "die Polizeibehörden . . . die notwendigen Maßnahmen zu treffen, um von der Allgemeinheit oder dem einzelnen Gefahren abzuwehren, durch die die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bedroht wird" 10.) 2. Der Präventivcharakter des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr

Nun ist zwar versucht worden, der aus der Sicherungsfunktion unseres Haftgrundes erwachsenen Problematik dadurch auszuweichen, daß dessen rein präventiver Charakter geleugnet und stattdessen strafprozessuale Gesichtspunkte in den Vordergrund gestellt wurden. So meint Baldus11 , die Verhaftung wegen Wiederholungsgefahr habe, wenn auch nicht die Sicherung des Strafverfahrens, so doch die Sicherung der Strafvollstreckung wegen dieser Sache im Auge. Es gelte durch sofortigen Zugriff "die Besserungsfunktion der Strafe zu erhalten", die sabotiert würde, wenn der "Täter" Gelegenheit erhielte, in der Freiheit seine Taten fortzusetzen. Ähnlich spricht Kleinknecht1 2 davon, daß "die Freiheitsentziehung zugleich der Sicherung des Strafverfahrens in einem weiteren Sinne, nämlich der Ermöglichung nachhaltiger Abschreckung und Besserung des Täters durch die Bestrafung wegen der begangenen Tat" diene13• Beiden Ansichten ist jedoch entgegenzuhalten, daß es sich im Ermittlungsverfahren nicht um "Täter", sondern um "Beschuldigte", und zwar womöglich zu Unrecht Beschuldigte handelt. (In 23 der 100 von uns untersuchten Fälle14, in denen zunächst ein Haftbefehl erlassen worden war, wurde das Verfahren später von der Staatsanwaltschaft eingestellt oder der Angeklagte in der Hauptverhandlung freigesprochen.) Gegenüber diesem Kreise von Betroffenen, gleichsam im Wege 8 Im Gegensatz zur Verfolgung strafbarer Handlungen, bei denen die Polizei nur als Hilfsorgan der Strafverfolgungsbehörden tätig wird; Wacke in Drews - Wacke, § 7 4. 8 Wacke, a .a.O. 10 Siehe etwa § 14 des früheren preußischen und jetzigen Berliner Polizeiverwaltungsgesetzes i. d. F. vom 2. Oktober 1958; Berliner GVBl., S. 961. 11 Vgl. sten. Prot. d. Rechtsausschusses d. Bundestages, 4. Wahlp., 23/29 und 23/47 (49). 11 Vgl. JZ 1965, 113 (117). 13 Insoweit zustimmend auch Hengsberger, JZ 1966, 209; ähnlich bereits Henkel ((1943), § 74. A. II. b) cc)) zu dem Haftgrund der Wiederholungsgefahr i. d. F. des Strafverfahrensrechtsänderungsgesetzes von 1935; ausdrücklich ablehnend hingegen Eberhard Schmidt (Nachträge), § 112, Randnr. 4. 14 Siehe unten Seite 198 ff.

A. Die verfassungsrechtliche Problematik

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einer dem Zivilprozeß entlehnten einstweiligen Verfügung16, die Strafwirkung des (verurteilenden) Erkenntnisses vorwegnehmen zu wollen, erscheint von vornherein verfehlt16 • Vor allem wäre ein solches Motiv des Gesetzgebers aber auch nicht geeignet, einen Eingriff in das dem Beschuldigten zur Seite stehende Grundrecht der persönlichen Freiheit zu rechtfertigen. Wir werden später im einzelnen nachweisen17, daß der Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO nur und gerade als Präventivmaßnahme seine Berechtigung erfährt. 3. Die "Zweispurigkeit" des Strafrechts

Es bleibt somit bei der Fragestellung, ob der Bundesgesetzgeber trotz des Sicherungscharakters unserer Vorschrift zu deren Erlaß berechtigt war. Dazu ist zunächst festzustellen, daß das geltende Strafrecht seit langem nicht mehr "reinrassig"18 auf Repression hin ausgerichtet ist. Über fünfzig Jahre währenden Reformverlangen nach gesetzlichen Handhaben auch gegen das dispositioneile Verbrechterturn nachgebend19, wurden bereits im Jahre 1933 mit dem Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung20 der Verbrechensbekämpfung neue Wege eröffnet. Seit dieser Zeit ist das (materielle und formelle) Strafrecht nicht nur mehr ein Recht zur Durchsetzung und Sicherung staatlicher Strafansprüche, sondern gleichzeitig "Verbrechensbekämpfungsrecht"21 im weiteren Sinne. Ausdruck dieser "Zweispurigkeit"22 des Strafrechts sind auf dem Gebiet des Verfahrensrechts die§§ 126 a und (seit 1952) 111 a StPO. Diese Situation fand auch der Verfassunggeber vor, als er im Jahre 1949 die Gesetzgebungskompetenzen auf Bund und Länder neu zu verteilen hatte. Hinsichtlich des Straf- und Strafprozeßrechts beließ er es bei der bisherigen Regelung!~; die in Art. 9 WV für den Schutz der öf15 Diesen Vergleich entnehmen wir Rudolf Schmitt (vgl. JZ 1965, 193 (195)); ähnlich spricht Roesen (vgl. NJW 1953, 1733 (1734)) von "vorläufiger Vollstreckbarkeit" des Strafurteils. 18 In diesem Sinne auch BVerfG, NJW 1966, 243 (244). 17 Siehe unten Seite 69 f. 1s Baumann, JZ 1962, 689 (692). 19 über den Verlauf der bei Franz von Liszt begonnenen Reformbewegung siehe etwa bei Exner, ZStW 53, 629 ff.; Sieverts, HdK II, S. 589 (590 f.); Baumann (Strafrecht), § 44 I. 1. 20 Vom 24. November (RGBl. I, S. 995); vgl. §§ 20 a, 42 a ff., StGB. 21 Niggemeyer, sten. Prot. d. Rechtsausschusses d. Bundestages, 4. Wahlp., 23/3 (12). zz Rietzsch, DJ 1933, 741 (746); Dünnebier, ZStW 72, 32; Schönke- Sehröder (13. Auf!.), Vorbem. § 13, Randnr. 1, und Vorbem. § 42 a, Randnr. I. 23 Vgl. Art. 7 Ziff. 2 und 3 WV bzw. Art. 74 Ziff. 1 GG.

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Zweiter Teil: Der Haftgrund in rechtsdogmatischer Sicht

fentlichen Ordnung und Sicherheit begründete Zuständigkeit des Reichsgesetzgebers24 geriet jedoch in Wegfall. Es fragt sich, ob damit auch der in den zurückliegenden Jahrzehnten erzielte Fortschritt in den strafrechtlichen Möglichkeiten der Verbrechensbekämpfung auf den Stand von 1871 zurückgedrängt werden sollte, oder ob die Maßregeln der Sicherung und Besserung als dem Strafrecht zugehörige Reaktionsmittel von der Aufhebung des Art. 9 WV unberührt blieben. Ersteres ist - soweit ersichtlich - von niemandem behauptet worden. Man wird vielmehr die Wandlung vom reinen Vergeltungsstrafrecht zum auf Repression und Prävention hin ausgerichteten Verbrechenbekämpfungsrecht als vom Grundgesetzgeber erkannt und gebilligt anzusehen haben. Das Strafrecht "als solches" darf also auf verübte Straftaten nicht nur mit Strafe (nach Maß der Einzeltatschuld), sondern auch (nach Maß der Gefährlichkeit des Täters) mit Präventivmaßregeln reagieren. Entscheidendes Abgrenzungskriterium gegenüber den Sicherungsmaßnahmen des Polizeirechts stellt demnach allein die Anknüpfung an eine begangene Straftat dar25• So würde etwa eine Vorschrift, die ganz allgemein bei der Gefahr künftiger Straftaten seitens einer bestimmten Person deren Inhaftnahme vorsähe, - ungeachtet ihrer sonstigen Bedenklichkeit - jedenfalls nicht der Gesetzgebungskompetenz des Bundes unterliegen18• Die gleichen Überlegungen haben für die Präventivmaßnahmen der Strafprozeßordnung zu gelten. Setzt das Strafrecht die Feststellung einer Straftat voraus, so das Verfahrensrecht den dringenden Tatverdacht bezüglich einer solchen. Dabei darf freilich die prozessuale Maßregel nicht über das hinausgehen, was nach Bestätigung des Tatverdachts als endgültige Maßnahme in Betracht kommt; geht sie darüber hinaus, so handelt es sich insoweit um eine vom Strafrecht nicht mehr gedeckte, rein polizeiliche Maßnahme, die im Strafprozeßrecht fehl am Platze ist und auf einer Überschreitung der Gesetzgebungsbefugnis des Bundesgesetzgebers beruht. u Unter der Voraussetzung eines Bedürfnisses für den Erlaß einheitlicher Vorschriften. u Exner, ZStW 53, 009 (636); Sieverts, HdK II, S. 589; Baumann (Strafrecht), § 44 I. 3.

11 Ein entsprechendes gesetzliches Beispiel bietet die Einweisung eines Geisteskranken in eine Heil- oder Pflegeanstalt aus Gründen der "öffentlichen Sicherheit": Hat der Geisteskranke eine mit Strafe bedrohte Handlung begangen, so ordnet gemäß § 42b StGB der Strafrichter die Unterbringung an; anderenfalls erfolgt die Einweisung auf Grund der landesrechtliehen Unterbringungsgesetze (vgl. z. B. § 1 des Berliner Gesetzes über die Unterbringung von Geisteskranken und Süchtigen vom 5. Juni 1958; Berliner GVBI.,

s. 521).

A. Die verfassungsrechtliche Problematik

61

Hieraus könnten sich Zweifel an der Zulässigkeit unseres Haftgrundes ergeben; denn während die §§ 111 a und 126 a StPO mit den entsprechenden Vorschriften des materiellen Rechts (§§ 42m bzw. 42b StGB) fast wörtlich übereinstimmen und lediglich einen Vorgriff auf den späteren Urteilsinhalt bedeuten27, fehlt dem Haftgrund der Wiederholungsgefahr eine solche Entsprechung im Strafgesetzbuch28 : Ein wegen Sittlichkeitsverbrechens verurteilter Täter kann nach geltendem Recht nicht allein wegen seiner fortdauernden Gefährlichkeit in Haft gehalten werden, es sei denn die sehr viel engeren Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung gemäß §§ 20 a, 42 e StGB seien gegeben29 • Die Vorschrift des § 112 Abs. 3 StPO läßt sich jedoch unter einem anderen Gesichtspunkt als Maßnahme des Strafprozeßrechts rechtfertigen. Im Gegensatz zu der Entziehung der Fahrerlaubnis, die ohne die Bestimmung des § 42 m StGB im Strafverfahren nicht möglich wäre, und der Unterbringung eines Zurechnungsunfähigen, gegen den es wegen § 51 Abs. 1 StGB ebenfalls keine strafrechtliche Handhabe gäbe, ist der für seine Tat verantwortliche Sittlichkeitsverbrecher auf Grund der bestehenden Gesetze zu einer Freiheitsstrafe zu verurteilen. Indem der eines solchen Verbrechens Beschuldigte bereits im Ermittlungsverfahren wegen Wiederholungsgefahr verhaftet wird, nimmt der fragliche Haftgrund zwar keine reine Sicherungsmaßregel, aber die der Strafe neben den anderen Strafzwecken zukommende Sicherungsfunktion30 vorweg31• Damit hält sich der Haftgrund der Wiederholungsgefahr wie die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis und die einstweilige Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt in den Grenzen des späteren strafrichterliehen Erkenntnisses. Dem kann auch mit Berechtigung nicht entgegengehalten werden, daß im Einzelfall die Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden könne. Denn nach § 23 Abs. 2 StGB darf die Strafaussetzung nur angeordnet werden, "wenn die Persönlichkeit des Verurteilten und sein 27 29

Baumann, JZ 1962, 689 (690); Rudolf Schmitt, JZ 1965, 193. Baumann weist darauf hin, daß dieser Unterschied bei allen Stellung-

nahmen zur Einführung des neuen Haftgrundes übersehen oder verschwiegen werde (vgl. a.a.O.); siehe aber neuerdings Dünnebier in Löwe- Rosenberg (Ergänzungsband), Vor§§ 112 ff., Anm. 6. 28 Baumann, a .a.O., S. 693. Baldus empfahl daher, den Haftgrund der Wiederholungsgefahr mit den Kautelen des § 20a Abs. 2 StGB zu versehen; vgl. sten. Prot. d. Rechtsausschusses d. Bundestages, 4. Wahlp., 23/511. 10 Niggemeyer spricht von deren "Sicherungszweck" (vgl. sten. Prot. d. Rechtsausschusses d. Bundestages, 4. Wahlp., 23/3 (12)), Sehröder von deren "Schutzfunktion" (vgl. Schönke- Sehröder (11. Aufl.), Vorbem. § 13, Randnr. 2). 11 In diesem Sinne jetzt auch Dünnebier, der in der Haft wegen Wiederholungsgefahr allerdings eine "vorweggenommene Strafvollstreckung" sieht (vgl. Löwe- Rosenberg (Ergänzungsband), Vor §§ 112 ff., Anm. 6.). Das ist sie aber gerade nicht; vgl. oben Seite 58 f.

62

Zweiter Teil: Der Haftgrund in rechtsdogmatischer Sicht

Vorleben in Verbindung mit seinem Verhalten nach der Tat oder einer günstigen Veränderung seiner Lebensumstände erwarten lassen, daß er unter Einwirkung der Aussetzung in Zukunft ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben führen wird". Ist aber eine solche Prognose zu stellen, so wäre für eine Sicherungshaft wegen Gefährlichkeit des Täters ohnehin kein Raums2• 4. Ergebnis

Als Ergebnis ist somit festzustellen, daß die Bestimmung des § 112 Abs. 3 StPO trotz ihres rein präventiven Charakters im Strafprozeßrecht einen legitimen Platz gefunden hat33• Damit sind Zweifel an der Gesetzgebungskompetenz des Bundes - die für das gerichtliche Verfahren gemäß Art. 74 Ziff. 1 GG außer Frage steht- nicht begründet.

II. Die rechtsstaatliche Unbedenklichkeit der Vorschrift Während die oben erörterte Frage der Gesetzgebungszuständigkeit des Bundesgesetzgebers - soweit ersichtlich - von uns in diesem Zusammenhang erstmals behandelt wurde, sind die kritischen Stimmen hinsichtlich des materiellen Gehaltes unserer Vorschrift zahlreich: Daß sich die Wiedereinführung des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr nicht schlechthin als Aufleben der "Haftgründe aus der NaziNovelle"34 von 193585 charakterisieren und damit diskreditieren läßt, zeigt schon ein Blick auf seine wechselvolle Geschichte, deren Entwicklung wir im ersten Teil vorliegender Arbeit über die Jahrhunderte zurückverfolgt hatten, sowie die Tatsache, daß auch mehrere andere nationalsozialistischer Tendenzen unverdächtige - Staaten ähnliche und zum Teil viel weiterreichende Regelungen kennen". Schwerer wiegt schon die Behauptung, der im Vereinheitlichungsgesetz von 195037 aufgehobene Haftgrund der Wiederholungsgefahr (i. d. F. des Gesetzes von 1935) sei als "mit rechtsstaatlichem Denken 32 Es stimmt daher bedenklich, wenn in knapp 24 Ofo der von uns untersuchten Fälle, in denen zunächst ein Haftbefehl wegen Wiederholungsgefahr erlassen worden war und in denen später eine Verurteilung erfolgte, die Strafe zur Bewährung ausgesetzt wurde; siehe im einzelnen unten Seite 200 f. 33 ob auch im Recht der Untersuchungshaft, ist eine andere Frage; hierzu siehe unten Seite 84 ff. 34 So Baumann in JuS 1965, 172, obwohl er in JZ 1962, 689 (690), einräumt. es handele sich bei dieser Vorschrift nicht um nationalsozialistisches Gedankengut. 35 Vgl. oben Seite 34. 36 Vgl. oben Seite 52 ff. 37 Vgl. oben Seite 39 f.

A. Die verfassungsrechtliche Problematik

63

nicht vereinbar" gestrichen worden38, ein Vorwurf, der- wenn er zu Recht bestünde- auch die jetzige Fassung des Gesetzes treffen könnte. Indes erscheint die Argumentation mit dem Rechtsstaatsbegriff als solchem wegen dessen Komplexität wenig geeignet, daraus Schlußfolgerungen für die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit unseres Haftgrundes zu ziehena9 • Es gilt daher zunächst, den Rechtsstaatsbegriff40 auf seine Elemente zurückzuführen. Als solche kommen heutigen Tages in erster Linie die im Grundgesetz verbrieften Grundrechte in Betracht41 , so daß unsere Frage - richtig gestellt - nur lauten kann, inwieweit der fragliche Haftgrund mit den Freiheitsgarantien des Grundgesetzes in Einklang zu bringen ist. 1. Vereinbarkelt mit dem Grundgesetz

a) E r f ü 11 u n g d e r f o r m e 11 e n V o r a u s s e t z u n g e n Es ist davon auszugehen, daß das Grundgesetz in seinem GrundrE"chtskatalog sowohl unter besonderem Gesetzesvorbehalt stehende, als auch gesetzlich nicht einschränkbare Grundrechte statuiert. Zu den ersteren rechnet die Unverletzlichkeit der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) - worunter nach ganz herrschender Auffassung die körperliche Bewegungsfreiheit, die Freiheit der Ortsveränderung zu begreifen ist42 - , in die nach Satz 3 desselben Absatzes auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden darf. Dieser Gesetzesvorbehalt wird wegen des hohen Ranges, den der Verfassunggeber diesem Grundrecht zuerkennt, in Art. 104 GG noch einmal aufgegriffen, präzisiert und durch weitere wichtige Rechtsgarantien ergänzt43• Danach kann die Freiheit der Person nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden (Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG). Die Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung ist ausschließlich dem unabhängigen Richter vorbehalten (daselbst Abs. 2 S. 1), der unverzüglich entweder einen mit Gründen versehenen schriftlichen Haftbefehl zu erlassen oder die Freilassung anzuordnen hat (daselbst Abs. 3 S. 2). All diesen Erfordernissen trägt der in Rede stehende Haftgrund Rechnung; in formeller Hinsicht können gegen seine Gültigkeit also 38 Vgl. oben Note 31 auf Seite 40; dagegen schon Kern (2 Aufl.), § 31. A. III. 2. 39 Auch Baumann bezeichnet das Argument der Rechtsstaatlichkeit als vage und verschwommen; vgl. JZ 1962, 689 (691). ' 0 Dazu sieh Maunz und Dü.Tig in Maunz - Dürig, Art. 20, Randnr. 58, 59. u Maunz und Dürig, a.a.O., Randnr. 70, 71. ' 2 Für viele Dürig, a.a.O., Art. 2 Abs. II, Randnr. 49; das. zahlreiche Nachweise. n Dürig, a.a.O., Art. 104, Randnr. 1.

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Zweiter Teil: Der Haftgrund in rechtsdogmatischer Sicht

keine Bedenken bestehen. Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß auch die in Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG verlangte ausdrückliche Kenntlichmachung der eingeschränkten Grundrechte in Art. 15 StPÄG erfolgt ist. b) E in h alt u n g d e r m a t er i e 11 e n S c h ranken Es liegt auf der Hand, daß eine wirksame Garantie der Grundrechte sich nicht in formellen Regelungen erschöpfen kann. Soll die Substanz der Grundrechte bewahrt bleiben, so bedarf es auch sachlicher Grenzen des gesetzlichen Eingriffsrechts. In Erkenntnis dessen bestimmt Art.19 Abs. 2 GG, daß in keinem Falle ein Grundrecht "in seinem Wesensgehalt angetastet" werden darf. Zu der problemreichen und letztlich nur von Fall zu Fall zu entscheidenden Frage44, wann ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt betroffen wird46, braucht hier nicht im einzelnen Stellung bezogen zu werden, da die vorübergehende Freiheitsentziehung im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens jedenfalls nicht geeignet ist, an die Substanz des Grundrechts der Freiheit der Person zu rühren48 • Mit dieser Feststellung dürfen wir uns indes nicht begnügen; denn mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folgt aus Art. 19 Abs. 2 GG eine weitere wesentliche Beschränkung des gesetzgeberischen Eingrüfsrechts47. Diesem Grundsatz hat der Bundesgerichtshof48 folgendermaßen Ausdruck verliehen: "Ein Grundrecht wird durch einen gesetzlichen Eingriff dann in seinem Wesensgehalt angetastet, wenn durch den Eingriff die wesensgemäße Geltung und Entfaltung des Grundrechtes stärker eingeschränkt würde, als dies der sachliche Anlaß und Grund, der zu dem Eingriff geführt hat, unbedingt und zwingend gebietet. Der Eingriff darf also nur bei zwingender Notwendigkeit und in dem nach Lage der Sache geringstmöglichen Umfang vorgenommen werden und muß zugleich von dem Bestreben geleitet sein, dem Grundrecht gleichwohl und in weitestmöglichem Umfang Raum zu lassen49." Diese Definition, die ganz verschiedene - und darum auseinander zu haltende " Maunz, § 16. I. 2.

Siehe die Gegenüberstellung der Theorien bei Klein in von Mangoldt Klein, Art 19, Anm. V. 4. a) bis c), und Eike von Hippel, S. 55, Note 27. 48 Kühne, DRiZ 1963, 17.9. er Dürig, in Maunz- Dürig, Art. 2 Abs. II, Randnr. 53; ders., AöR 81, 117 (146 f.); von Krauss, S. 47 ; Zippetius, DVBI. 1956, 353 f., Eike von Hippel, S. 50; Kühne, a.a.O., BGHSt. 4, 375 (377). 48 Vgl. a.a.O.; ferner BGHSt. 4, 385 (392). ' 8 Ähnlich Eike von Hippel, S. 47 ff. 45

A. Die verfassungsrechtliche Problematik

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Prinzipien vermengt, wird jedoch der Problematik des Art. 19 Abs. 2 GG nicht gerecht. Es gilt in dreifacher Weise zu differenzieren: Zunächst kann sich die Beantwortung der Frage, ob ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt verletzt ist, nicht nach dem Zweck und Grund der Beschränkung richten, sondern - wie es das Bundesverwaltungsgericht60 wiederholt formuliert hat- ausschließlich danach, "was nach der Beschränkung von dem Grundrecht überhaupt übrig bleibt"61. Es handelt sich also insoweit um eine absolute Schranke des gesetzlichen Eingriffsrechts62, die selbst das nützlichste Ziel und das sparsamste Mittel nicht zu durchbrechen vermag68• Daß unter diesem Gesichtspunkt gegen den Haftgrund der Wiederholungsgefahr in seiner jetzigen Fassung keine Bedenken bestehen, wurde bereits gesagt. Ferner ist zu unterscheiden zwischen dem sachlichen Grund für den Eingriff und der Erforderlichkeit des Eingriffs". Zu Recht warnt Zippelius66 vor dem Irrtum, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besage irgend etwas darüber, aus welchen Anlässen in Grundrechte eingegriffen werden dürfe; denn dieser Grundsatz verbietet die Verfolgung keines Zieles, vorausgesetzt lediglich, daß es ökonomisch verfolgt wird50• Vielmehr setzt die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bereits voraus, daß berechtigte Gründe zu einer Grundrechtsbeschränkung bestehen. Erst für diesen Fall bestimmt er, daß diese Gründe nur zu dem geringstmöglichen, zwingend gebotenen Eingriff führen dürfen67.

aa) Der Grundsatz der Interessenabwägung a) Der Begriff Was sind nun aber "berechtigte Gründe", die den Eingriffin-einem speziellen Gesetzesvorbehalt unterliegende - Grundrechte rechtfertigen? - oder anders ausgedrückt: Ist der ordentliche Gesetzgeber bei 60

Vgl. BVerwG 1, 26.9 (272f.); NJW 1955, 763; NJW 1955, 1773; NJW 1956,

196 (197).

Siehe andererseits unten Seite 66 und das. Note 59. sz Klein in von Mangoldt- Klein, Art. 19, Anm. V. 4. d); von Krauss, S. 48; Schunck in Giese- Schunck, Art. 19, Anm. II. 4.; BVerfG 6, 377 (411). 53 Krüger, DÖV 1955, M7 (598). 54 Zippelius, DVBl. 1956, 353. 55 Vgl. a.a.O., S. 354. 58 Krüger, DÖV 1955, 597 (598); a. A. Kühne, der meint, der fragliche Grundsatz umfasse sowohl die Frage des "ob überhaupt" als auch die Frage des "wie" (vgl. DRiZ 1963, 179). Denkgesetzlich kann von Verhältnismäßigkeit zwischen Zweck und Mittel jedoch erst gesprochen werden, wenn der Zweck als solcher anerkannt ist. 57 Zippelius, DVBl. 1956, 353 (354). 51

5 Dietrieb

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Zweiter Teil: Der Haftgrund in rechtsdogmatischer Sicht

der Ausfüllung der Gesetzesvorbehalte (neben der Unantastbarkeit des Wesensgehaltes der betroffenen Grundrechte) überhaupt noch weiteren Direktiven von der Verfassung her unterworfen? Wenn das Bundesverwaltungsgericht58 die Auffassung vertreten hat, eine Prüfung in der Richtung, ob ein Grundrechtseingriff nach seinem sachlichen Anlaß und Grund unbedingt geboten sei und eine zwingende Notwendigkeit darstelle, könne erst dann Bedeutung gewinnen, wenn zuvor festgestellt worden sei, daß das Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werde51, so ist damit nichts anderes gesagt, als daß der Gesetzgeber bis zu dieser Grenze seinen Intentionen unbeschränkt nachgeben könne. - In ähnlicher Weise hat auch das Bundesverfassungsgericht-0 aus der Gemeinschaftsbezogenheit der Person (wie sie sich insbesondere aus einer Gesamtansicht der Art. 1, 2, 12, 14, 15, 19 und 20 GG ergebe) den Schluß gezogen, der einzelne Grundrechtsträger müsse sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber "zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren" zieht. Gegen eine solche "Relativierung der Grundrechte" hat sich nachdrücklich der Bundesgerichtshof81 gewandt. Nach der rechtlichen Beziehung, die zwischen Art. 1 Abs. 2 und 3 und Art. 19 Abs. 2 GG obwalte, bestehe das Wesen der Grundrechte darin, daß sie grundsätzlich undurchbrechbar, also auch grundsätzlich dem Eingriff des ordentlichen Gesetzgebers entzogen seien. Zwar gebe es Lagen, in denen sie aus übergeordneten Gründen - nämlich dann, wenn sie in Konflikt mit klar übergeordneten Rechtswerten zu kommen drohen - bis zu einem gewissen Grade eingeschränkt werden müßten und nach Auffassung des Grundgesetzes auch eingeschränkt werden dürften. Bestehe aber ihr rechtliches Wesen darin, daß sie gesetzlichen Eingriffen grundsätzlich entzogen sind, und bestimme das Grundgesetz in Art. 19 Abs. 2, daß sie in keinem Fall in ihrem Wesensgehalt angetastet werden dürfen, so folge daraus, daß eine Einschränkung nur dann erfolgen dürfe, wenn das nach Lage der Dinge ganz zwingend notwendig ist (und auch dann nur in einem möglichst geringen Umfange). Ein Eingriff des Gesetzgebers in die Grundrechte könne also nur statthaft sein, Vgl. DOV 19·55, 731 (732). Damit setzt sich das Gericht allerdings in Gegensatz zu seiner sonstigen Rechtsprechung: "Die gesetzliche Einschränkbarkeit des Rechts ... findet in Art. 19 Abs. 2 GG ihre unverrückbare und enge Grenze. Danach darf ein Grundrecht durch die Gesetzgebung in keinem Fall in seinem Wesensgehalt angetastet werden." (vgl. z. B. BVerwG 1, 92 (93 f.)). Auf diesen Widerspruch weist auch Klein hin; vgl. von Mangoldt- Klein, Art. 19, Anm. V. 4. c) eo Vgl. NJW 1954, 1235. u Vgl. DÖV 1955, 729 (730). 68 GD

A. Die verfassungsrechtliche Problematik

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wenn und soweit übergeordnete Rechtsgründe ihn zwingend erfordern, nicht aber schon dann, "wenn politische Wünschbarkeiten ihn ,vertretbar' oder erwünscht erscheinen lassen" mögen. Es sei immer zu berücksichtigen, daß die Grundrechte nach der Rangordnung des Grundgesetzes selbst die höchsten Rechtswerte seien. Diese Auffassung des Bundesgerichtshofes, die insoweit als einzige dem zutreffend gekennzeichneten Wertgehalt der Grundrechte gerecht wird, verdient Zustimmung62 • Der spezielle Gesetzesvorbehalt, unter dem einzelne Grundrechte stehen, stellt diese nicht zur beliebigen Disposition des Gesetzgebers (womit weitgehend der Rechtszustand unter der Weimarer Verfassung wiederhergestellt wäre63), sondern trägt allein der Tatsache Rechnung, daß es vorrangige Rechtsinteressen geben kann, die im Einzelfall (ausnahmsweise) eine Grundrechtsbeschränkung erforderlich machen. Als weitere Schranke des gesetzgeberischen Eingriffsrechts ergibt sich somit der "Grundsatz der Interessenabwägung", wie ihn Zippeliust4 genannt hat. Der Gesetzgeber hat danach nicht nur darauf Bedacht zu nehmen, daß - um die Terminologie des Bundesverwaltungsgerichtes zu gebrauchen65 - von dem Grundrecht genug "übrig bleibt" und die Intensität des Eingriffs in rechtem Verhältnis zu dem verfolgten Zweck steht, sondern auch- und zwar zuerst!- zu prüfen, ob dem einzuschränkenden Grundrecht vorgehende Interessen den Eingriff überhaupt rechtfertigen"• 67• Dabei ist von dem grundsätzlichen Vorrang der Freiheitsrechte auszugehene8 • Die Interessenkollision zwischen dem Grundrecht der persönlichen Freiheit und den Erfordernissen der Verbrechensbekämpfung

~)

In kaum einem anderen Rechtsbereich stoßen die gegensätzlichen Interessen so hart aufeinander, wie auf dem strafprozessualen Gebiet der Untersuchungshaft~!'. 6z nicht jedoch, soweit damit "in zwingenden Fällen" ein Eingriff in deren Wesensgehalt gerechtfertigt werden soll. Nach Art. 19 Abs. 2 GG darf ein Grundrecht "in keinem Fall" in seinem Wesensgehalt angetastet werden. Vgl. auch oben Seite 64. 63 BGH, DÖV 1955, 729 (730). 64 Vgl. DVBl. 1956, 353 (354). 65 Vgl. oben Note 50 auf Seite 65. 68 In diesem Sinne jetzt auch das Bundesverfassungsgericht (vgl. NJW 1966, 243 (244)), wenn es ausführt, die Untersuchungshaft müsse in Anordnung und Vollzug von dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beherrscht werden. Wir halten die Unterscheidung zwischen dem Grundsatz der Interessenahwägung (für den Konflikt der widerstreitenden Prinzipien) und dem der Verhältnismäßigkeit (für die Zweck/Mittel-Relation) für dogmatisch sauberer. 11 Freilich kann im Einzelfall die Interessenabwägung auch von dem Maß

II"

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Zweiter Teil: Der Haftgrund in rechtsdogmatischer Sicht

Auf der einen Seite steht das Interesse des Staates- und damit der Allgemeinheit - an einer möglichst erfolgreichen Durchführung des Strafverfahrens, auf der anderen Seite das Interesse des Beschuldigten -und, da jedermann in die Lage kommen kann, als Unschuldiger in ein Strafverfahren verwickelt zu werden, auch wieder ein Interesse der Allgemeinheit - an einem möglichst gesicherten Schutz der persönlichen Freiheit70• Dieses Spannungsverhältnis zwischen individueller Freiheit und staatlicher Verbrechensverfolgung71 ist in der Vergangenheit dem Wandel der politischen Anschauungen entsprechend unterschiedlich gelöst worden71 ; ja, man kann mit Roesen78 die verschiedene Einschätzung des Wertes der persönlichen Freiheit als schlechthin entscheidenden Unterschied zwischen einem Rechts- und einem totalitären Staat bezeichnen. Hatte das nationalsozialistische Regime, insbesondere durch die Einführung der Schutzhaft7', mit einem weitgehend an politischer Zweckmäßigkeit orientierten Verhaftungsrecht dem Mißbrauch Tor und Tür geöffnet, so war es das Bestreben des Grundgesetzgebers, die wiedergewonnene- und so erst recht in ihrem Wert begriffene - Freiheit möglichst vollkommen gegen staatliche Eingriffe abzusichern. Dieser Grundhaltung folgend, war es auch das Ziel der zum Strafprozeßänderungsgesetz von 1964 geführten kleinen Strafprozeßreform, die Anordnung und Dauer der Untersuchungshaft zu beschränken, soweit es nur kriminalpolitisch vertretbar erschien76• Völlig auf das Institut der Untersuchungshaft als solche zu verzichten, wird sich der Gesetzgeber freilich nie entschließen können, da es sonst dem Beschuldigten freistünde, sich der Strafverfolgung jederzeit nach Belieben zu entziehen70• Der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr ist allerdings problematisch, weswegen auch wiederholt seine Abschaffung gefordert worden ist77• des Eingriffs mitbestimmt werden; Zippelius, DVBl. 1956, 353 (354 f.). 68 BVerfG 13, 97 (105); Klug, S. 27 (31). 60 Henkel (1943 und 1953), § 74. A. I.; Kern (Freiheit), S. 76; Schmidt-Leichner, NJW 1961, 337; aus der früheren Literatur Sundelin, S. 5. 7° Kern, a.a.O.; Exner (Strafverfahrensrecht), S. 7; Baumann (Bedeutung), S. 528; ders., JuS 1965, 172; Kühne, DRiZ 1963, 179 (181); BVerfG, NJW 1966, 243. 71

Baumann, JuS 1965, 172.

"Anderer Staat - anderes Strafverfahren"; vgl. Exner, a.a.O., der am Beispiel der Untersuchungshaft die Wechselbeziehungen zwischen der Staatsverfassung und dem Strafprozeßrecht aufzeigt. 1a Vgl. NJW 1953, 1733 (1735). 74 Vgl. oben Seite 36. 75 Amtl. Begründung des Regierungsentwurfs; vgl. BT-Drucks. 111/203'7, s. 15. 78 Exner (Strafverfahrensrecht), S. 7. 77 z. B. von Goldschmidt, S. 31; neuerdings auch vom Strafrechtsausschuß der Bundesrechtsanwaltskammer; vgl. BRAK (Synopse), S. 5 f. 71

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Läßt sich die Verhängung von Untersuchungshaft im eigentlichen Sinne damit begründen, daß "der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters nicht anders gesichert werden kann" 78, so bedarf die Anordnung von Präventivhaft einer anderen Rechtfertigung. y) Die Interessenahwägung

Es ist daher zu fragen, ob der Verhaftung zur Verhütung künftiger Straftaten ein so "unabweisbares Bedürfnis"78 zugrunde liegt, daß die Interessenahwägung zwischen individueller Freiheit und dem Schutz der Allgemeinheit vor drohenden Straftaten zu Gunsten letzterer ausfällt. So allgemein gestellt, ist diese Frage indes nicht zu beantworten, selbst wenn man die Verhaftung wegen Wiederholungsgefahr auf Verbrechen im gesetzestechnischen Sinneso beschränken wollte; denn das Strafgesetzbuch qualifiziert - etwa beim schweren Diebstahl - auch solche Straftatbestände als Verbrechen81 , bei denen das Ungleichgewicht zwischen den Erfordernissen einer wirksamen Verbrechensverhütung und den Interessen eines möglicherweise zu Unrecht Verdächtigten sofort ins Auge fällt. Es gilt also andere Kriterien der Abgrenzung zu finden. Dieses verfassungsrechtliche Problem (wenn auch nicht als solches) erkannt, in allen Stadien des Gesetzgebungsverfahrens gebührend zur Geltung gebracht und schließlich auch einer sachgerechten Lösung zugeführt zu haben, darf als das Verdienst des Bundestagsabgeordneten Jahn bezeichnet werden82, von dem83 im übrigen seinerzeit auch die Anregung ausgegangen war, die Schaffung eines Haftgrundes der Wiederholungsgefahr in die Erörterungen des Bundestags-Rechtsausschusses einzubeziehen84 • Während - wie schon dargestellt wurde8G - im So BVerfG, NJW 1966, 243 (244). wie es dies das Bundesverfassungsgericht für die eigentliche Untersuchungshaft annimmt; vgl. NJW 1966,243. 80 Gemäß § 1 Abs. 1 StGB. 81 z. B. Wegnahme eines Herrenmantels aus einem verschlossenen Pkw nach Aufdrücken des unverriegelten Ausstellfensters als Verbrechen gemäß § 243 Abs.l Ziff. 2 StGB; vgl. BGH, NJW 1956, 389. 81 Vgl. sten. Prot. d. Rechtsausschusses d. Bundestages, 4. Waplp., 31/18 f., 31/26 f., 37/5, sowie sten. Ber. v. d. 132. Sitzung d. Deutschen Bundestages, 4. Wahlp., S. 6442 B (6442 D-6443 A). 83 In seiner Eigenschaft als Korreferent des Rechtsausschusses des Bundestages. 84 Vgl. sten. Prot. d. Rechtsausschusses d. Bundestages, 4. Wahlp., 3/15. B5 Vgl. oben Seite 44 ff. 78

71 -

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Zweiter Teil: Der Haftgrund in rechtsdogmatischer Sicht

Laufe dieser Beratungen mit einer Vielzahl von Sach- und Formulierungsvorschlägen die besondere Gefährlichkeit bestimmter einzelner Delikte oder Deliktsgruppen betont und deren Berücksichtigung im Rahmen des in Rede stehenden Haftgrundes vorgeschlagen wurde, griff Jahn mit glücklicher Hand auf einen grundlegenden Unterschied in den Verbrechensfolgen zurück: Ausgehend von der - oben bereits als zutreffend gekennzeichneten86 - grundsätzlichen Überlegung, daß ein Eingriff in das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG stets eine Ausnahme zu bleiben habe und daher nur in den Fällen einer außerordentlichen Gefährdung der Allgemeinheit zu rechtfertigen sei, forderte er die Beschränkung unseres Haftgrundes auf diejenigen Verbrechensarten, von denen im Wiederholungsfalle ein nicht wiedergutzumachender, "irreparabler Schaden" zu besorgen sei87 • Diesen Gesichtspunkt, der im folgenden die Billigung des Rechtsausschusses fand 88 und den weiteren Beratungen zugrunde gelegt wurde, halten auch wir für geeignet, daraus den rechten Maßstab einer beiden Seiten gerecht werdenden Interessenahwägung zu gewinnen; dies um so mehr, als mit der gefundenen Abgrenzung dem grundsätzlichen Vorrang des Grundrechts der Freiheit der Person gegenüber einer möglichen Einbuße lediglich materieller Güter in klar bestimmter Weise Rechnung getragen ist. Demgegenüber erscheint die rein wertende Formulierung des Bundesverfassungsgerichtes88, der Haftgrund der Wiederholungsgefahr lasse sich damit rechtfertigen, daß es hier um die "Bewahrung eines besonders schutzwürdigen Kreises der Bevölkerung vor mit hoher Wahrscheinlichkeit drohenden schweren Straftaten" gehe, obschon sachlich zutreffend, so doch allein nur wenig brauchbar, daraus Rückschlüsse auf den verfassungsrechtlich zulässigen Umfang unseres Haftgrundes (etwa bei Überlegungen um die Einbeziehung weiterer Verbrechensarten90) zu ziehen. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß der von Jahn neuerlich entwickelte Gedanke, auf die Verbrechensfolgen abzustellen, bereits Jahrhunderte zuvor bei der Auslegung des Art. 176 CCC91 BeVgl. Seite 67. Vgl. sten. Prot. d. Rechtsausschusses d. Bundestages, 4. Wahlp., 31/26 f. und 37/5. 88 Vgl. Kleinknecht, a.a.O., 31}21 (23), Frau Diemer-Nicolaus, das. 37/4, und Benda, das. 37/5. 8t Vgl. NJW 1966, 243 (244). '0 wie sie im Rahmen des Gesetzgebungsvorhabens zur Einführung der "Vorbeugehaft" derzeit gerade angestellt werden; vgl. BT-Drucks. V/3631 und 3633 sowie den sten. Ber. v. d. 211. Sitzung d. Deutschen Bundestages, 5. Wahlp., S. 11428 A ff. u Vgl. oben Seite 19 ff. 81 81

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rücksichtigung erfahren hat. So zeigte etwa Kress" am Beispiel der Brandstiftung03 und des Totschlages04, daß es Fälle geben könne, in denen die Folgen der Straftat nicht wiedergutzumachen seien (non "reparabuntur"), und begründete damit seine Forderung einer obligatorischen Verhaftung solcher Verbrechen verdächtiger Personen an Stelle der sonst möglichen Kautionsauferlegung. - Der gleiche Gedanke kommt in der preußischen Criminalordnung von 1805°5 zum Ausdruck, wenn die normalerweise gegen Sicherheitsleistung mögliche Aussetzunil der - auch wegen Besorgnis künftiger Straftaten zu verhängenden - Untersuchungshaft in den Fällen für ausgeschlossen erklärt wurde, in denen die zu befürchtenden Verletzungen nicht "durch Geld vergütigt" werden könnten. Legt man den gewonnenen Maßstab zugrunde, so ergibt eine Überprüfung der im Strafgesetzbuch unter Strafe gestellten Tatbestände, daß in erster Linie von den Verbrechen wider das Leben und die Sittlichkeit nicht wiedergutzumachende Schäden beträchtlichen Ausmaßes zu befürchten sind". Damit ist zugleich gesagt, daß - vorbehaltlich einer noch zu treffenden Differenzierung - in diesen Fällen die Abwägung der gegensätzlichen Interessenlagen dazu führt, das Spannungsverhältnis zwischen dem Grundrecht der persönlichen Freiheit des evtl. zu Unrecht in Verdacht Geratenen97 und dem Schutz der von einer Wiederholung der bezeichneten Verbrechen bedrohten Bevölkerung zu Gunsten letzterer zu lösen°8 • 119 • Die damit von dem einzelnen Vgl. oben Seite 22 und das. Note 34. "si quis universitati incendium minetur". " "si truculentus atque vagabundus intemecionem probalissime innocenti intentandam jactet". 95 Vgl. oben Seite 23 ff. •• Bei verschiedenen anderen Delikten (z. B. Brandstiftung) kann man zweifeln. 97 Nur diesem gegenüber besteht das Problem. Dem wirklich Schuldigen geschieht durch die Untersuchungshaft kein Unrecht; Hellmuth Mayer (Strafrecht), § 7. li. 3. a). 18 Dieser Erkenntnis entsprechen die im Rechtsausschuß des Bundestages unterbreiteten Formulierungsvorschläge vier und sechs des Abgeordneten Jahn (vgl. sten. Prot. d. Rechtsausschusses d. Bundestages, 4. Wahlp., 31/23 und 37/4), ein dem Bundestag auf Umdruck 226 vorgelegter SPD-Antrag (vgl. Anlage 3 zum sten. Ber. v. d. 69. Sitzung d. Deutschen Bundestages, 4. Wahlp.) sowie ein späterer Antrag des Rechtsausschusses des Bundestages (vgl. BTDrucks. VI/2378); vgl. auch oben Seite 47. 10 Der jüngst von Dünnebier unterbreitete Vorschlag, der Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO solle "zu einer allgemeinen vorläufigen Verwahrung für Neigungstäter ausgebaut" werden, scheitert somit schon an dessen verfassungsrechtlicher Unzulässigkeit (vgl. Löwe - Rosenberg (Ergänzungsband), Vor §§ 112 ff., Anm. 6.); im Sinne von Dünnebier aber auch Eberhard Schmidt (Nachträge), Vor§ 112, Randnr. 4. 01

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Zweiter Teil: Der Haftgrund in rechtsdogmatischer Sicht

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geforderten persönlichen Opfer hat der unglücklich Betroffene dem gemeinen Wohle gegebenenfalls zu bringen1oo, 101. Diesen Überlegungen ist der Gesetzgeber für den Bereich der Sittlichkeitsverbrechen gefolgt (§ 112 Abs. 3 StPO), während er hinsichtlich der Verbrechen wider das Leben mit der Schaffung eines neuen, von dem etwaigen Vorliegen besonderer Haftgründe unabhängigen Grundes zur Verhängung von Untersuchungshaft einen anderen Weg beschreiten wollte (§ 112 Abs. 4 StPQ)1o2. Scheinen die Sittlichkeitsverbrechen als solche - denkt man etwa an die schweren seelischen und bisweilen auch körperlichen Schäden infolge einer Notzucht - schon auf den ersten Blick unseren Voraussetzungen zu entsprechen, so ist doch eine gewisse Auslese zu treffen. Dementsprechend hatte auch der Rechtsausschuß des Bundestages, nachdem zunächst von den Verbrechen im Sinne des 13. Abschnitts des Strafgesetzbuchs die Rede gewesen war103, späterhin nur eine begrenzte Enumeration in Vorschlag gebracht. Damit wurden die Erschleichung außerehelichen Beischlafs (§ 179 StGB), schwere Kuppelei (§ 181 StGB) und Zuhälterei(§ 181 a StGB) ausgenommen104, so daß sich unser Haftgrund nunmehr auf die Tatbestände der Blutschande (§ 173 Abs. 1 StGB)- und zwar nur, sofern sie von einem Verwandten aufsteigen1oo

Seibert, NJW 1950, 772 (773).

Die Frage nach der "Opfergrenze" stellt ausdrücklich Dahs; vgl. sten. Prot. d. Rechtsausschusses d. Bundestages, 4. Wahlp., 23/59. 101 Letztgenannter Vorschrift, die dahin motiviert wurde, daß es auch bei Nichtvorliegen von Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr unerträglich sei, einen des Mordes oder Totschlages dringend Verdächtigen auf freiem Fuß zu lassen, hat jedoch das Bundesverfassungsgericht (vgl. NJW 1966, 243 ff.) unter dieser Begründung zu Recht die Vereinbarkeit mit der Verfassung abgesprochen, wenn es auch im Ergebnis schließlich doch noch zu einer verfassungskonformen Auslegung gelangt ist. So soll die fragliche Bestimmung nunmehr dazu dienen, in den aufgezählten Fällen "mit Rücksicht au! die Schwere der hier bezeichneten Straftaten" die ansonsten zur Begründung der einzelnen Haftvoraussetzungen erforderliche Feststellung "bestimmter Tatsachen" entbehrlich zu machen. Solchermaßen mit den vorhergehenden Haftgründen verknüpft, könne auch die ernstliche Befürchtung, daß der Beschuldigte weitere Verbrechen ähnlicher Art begehen werde, für den Erlaß eines Haftbefehls nach § H2 Abs. 4 StPO genügen.- Wenn audl bereits oben Zweifel an der Zulässigkeit einer derart die Motive des Gesetzgebers außer Acht lassenden Gesetzesinterpretation geäußert wurden (vgl. Note 104 auf Seite 49), so ist doch nicht zu bestreiten, daß die vom Bundesverfassungsgericht gegebene Auslegung zu einem billigenswerten Ergebnis führt. Zur Problematik der Vorschrift siehe auch Dahs, NJW 1966, 761 ff.; Dünnebier, NJW 1966, 2'31 ff.; Kanka, NJW 1966, 428 ff.; Oppe, NJW 1966, 93 ff.; ders., MDR 1966, 641 f., sowie Schmidt-Leichner, NJW 1966, 425 ff. 101 Vgl. den vierten Formulierungsvorschlag, sten. Prot. d. Redltsausschusses d. Bundestages, 4. Wahlp., 31/23. 104 über die Gründe gerade dieser Auswahl ist den Gesetzgebungsmaterialien nichts zu entnehmen. 101

A. Die verfassungsrechtliche Problematik

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der Linle gegenüber einem Verwandten absteigender Linie begangen ist -, der Unzucht mit Abhängigen und Kindern (§§ 174, 176 Abs.1 Ziff. 3 StGB), der schweren Unzucht unter Männern (§ 175 a StGB), der Nötigung und des Mißbrauchs einer Frau zur Unzucht (§ 176 Abs. 1 Ziff. 1 und 2 StGB) sowie der Notzucht (§ 177 StGB) beschränkt. Ob diese Tatbestände sämtlich unserem Maßstab, der zu besorgende Schaden müsse besonders schwer und irreparabel sein, entsprechen, ist im einzelnen zweifelhaft105• Im Interesse der dieser Arbeit zugrunde liegenden Systematik wollen wir diese Frage jedoch- bei grundsätzlicher Zustimmung zu der getroffenen Auswahl - zunächst auf sich beruhen lassen, um erst später im Rahmen unserer kriminologischen Untersuchungen darauf zurückzukommenU141•

bb) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (zugleich zur Auslegung des§ 116 Abs. 3 StPO) Hatten wir oben den Unterschied des Prinzips der Interessenahwägung von dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit herausgearbeitet107 und im folgenden festgestellt, daß der fragliche Haftgrund auf die Verfassung respektierenden Gründen beruht, so ist nun weiterhin ·zu prüfen, inwieweit sich die Anordnung von Untersuchungshaft mit dem letztgenannten Grundsatz verträgt. Dabei wird man davon ausgehen dürfen, daß in der Regel zur Verhütung der hier in Rede stehenden Sittlichkeitsverbrechen nur die Verhaftung des Beschuldigten in Betracht kommt, da andere Maßregeln - etwa das Erbringen einer Sicherheitsleistung - nur unvollkommenen Schutz bieten würden108• Andererseits sind aber auch Fälle denkbar, in denen schon weniger einschneidende Maßnahmen zum Ziele führen könnten. Hat sich beispielsweise ein sog. Jugendleiter in Zeltlagern an Mitgliedern seiner Jugendgruppe vergangen, so kann unter Umständen bereits das Verbot jeder weiteren Jugendarbeit genügen, eine Wiederholungsgefahr auszuschließen. Überhaupt wird in den Fällen des § 174 StGB im allgemeinen die Lösung des Abhängigkeitsverhältnisses ausreichen, um weiterer Gefährdung vorzubeugen1o•. 105 Die von Arndt (vgl. sten. Prot. d. Rechtsausschusses d. Bundestages, 4. Wahlp., 23/10 (11 f.)) geforderte Beschränkung auf an Kindern unter 14 Jahren begangene Sittlichkeitsverbrechen ist freilich zu eng. 108 Siehe unten Seite 99 ff. 107 Vgl. Seite 64 f. 108 Gegen die M-öglichkeit einer Abwendung der Wiederholungsgefahr durch Kautionsstellung namentlich Hirsch und Jahn, sten. Prot. d. Rechtsausschusses d. Bundestages, 4. Wahlp., 40/6, sowie Baumann, JZ 1965, 193 (197), Note 55. 10' In diesem Sinne auch Dreves, DRiZ 1965, 110 (111).

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Zweiter Teil: Der Haftgrund in rechtsdogmatischer Sicht

Ein Gesetz, das bei der Befürchtung künftiger Sittlichkeitsverbrechen ausnahmslos die Inhaftnahme des Verdächtigen geböte, wäre sohin wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verfassungswidrig. Dem trägt § 112 Abs. 3 StPO insofern Rechnung, als ein Haftgrund wegen Wiederholungsgefahr nur dann zuerkannt wird, "wenn die Haft zur Abwendung der drohenden Gefahr erforderlich ist". Ausdruck desselben Prinzips ist auch die Bestimmung des § 116 Abs. 3 StP0110, nach welcher Vorschrift der Richter den Vollzug eines gemäß § 112 Abs. 3 StPO erlassenen Haftbefehls unter der Bedingung aussetzen kann, daß der Beschuldigte bestimmte Anweisungen befolgt. Diese Regelung ist von Rudolf Schmitt111 - allein vom Wortlaut her gesehen - zu Recht als inkonsequent bezeichnet worden. Schmitt meint, ein auf § 112 Abs. 3 StPO gestützter Haftbefehl dürfe ja nur ergehen, wenn die Festhaltung des Beschuldigten zur Verhinderung weiterer Straftaten unerläßlich sei. Liege diese Voraussetzung noch vor, so komme eine (auch bedingungsweise) Freilassung nicht in Frage; sei die Voraussetzung aber weggefallen, so müsse der Haftbefehl aufgehoben werden (§ 120 Abs. 1 S. 1 StPO). Diese Auffassung wird noch dadurch erhärtet, daß § 116 Abs. 4 Ziff. 3 StPO ausdrücklich bestimmt, der Richter habe den Vollzug eines bisher ausgesetzten Haftbefehls anzuordnen, wenn neu hervorgetretene Umstände "die Verhaftung erforderlich machen". Im Umkehrschluß besagt dies nichts anderes, als daß zuvor die Verhaftung nicht erforderlich gewesen sei. Trotz dieses im Wege einer rein grammatikalischen Gesetzesinterpretation nicht zu lösenden Widerspruchsm ist der Sinn der in engem Zusammenhang stehenden und auch nur zusammen zu begreifenden §§ 112 Ab. 3 und 116 Abs. 3 StPO klar. Er sei an einigen Beispielen verdeutlicht. Folgende vier Fälle sind zu unterscheiden: (1) Besteht keine Wiederholungsgefahr, weil es sich bei dem Sittlichkeitsverbrechen, dessen der Beschuldigte verdächtig ist, um ein einmaliges Versagen handelt, so fehlt es von vornherein an einem Grund für irgendwelche Sicherungsmaßnahmen.

(2) Liegt keine Wiederholungsgefahr vor, weil die an sich bestehende Besorgnis der Wiederholung entweder durch vom Beschuldigten selbst getroffene, ausreichende Vorkehrungen (er begibt sich z. B. freiwillig in ein geschlossenes Heim)lla BVerfG, NJW 1966, 243 (244). Vgl. JZ 1965, 193 (197). 111 der, soweit ersichtlich, nur von Rudolf Schmitt erkannt wird; vgl. a.a.O. - Hengsberger äußert lediglich, er teile die Bedenken Schmitts nicht; vgl. JZ 1966, 209 (212). 11a Müller in KMR, § 112, Anm. 5. cl. 11o

ut

A. Die verfassungsrechtliche Problematik

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oder durch Maßnahmen anderer Personen oder Institutionen (das blutschänderisch mißbrauchte Kind wird in einen anderen Haushalt aufgenommen oder sonst dem Einflußbereich des Beschuldigten entzogen) oder durch die einstweilige Unterbringung des Beschuldigten gemäß § 126 a StP0114 ausgeschlossen ist, so besteht ebenfalls kein Grund für weitere Sicherungsmaßregeln; ein Haftbefehl ist unangebracht115• (3) Besteht Wiederholungsgefahr, die weder durch die unter (2) genannten Maßnahmen noch durch richterliche "Anweisungen" ausgeschlossen werden kann, so ist ein Haftbefehl zu erlassen und dieser auch zu vollstrecken. (4) Liegt dagegen Wiederholungsgefahr vor, die sich durch bestimmte Weisungen des Haftrichters ausräumen ließe (etwa durch das Gebot an den Jugendleiter, sich jedes weiteren Kontaktes zu seiner Jugendgruppe zu enthalten116), so ergibt sich das Problem: Bei wortgetreuer Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO, wonach ein Haftgrund nur besteht, wenn "die Haft" erforderlich ist, dürfte ein Haftbefehl nicht erlassen werden, weil die Haft als solche nicht erforderlich ist. Andererseits könnten aber auch keine Anweisungen nach § 116 Abs. 3 StPO ergehen, weil dafür das Vorliegen eines Haftbefehls Voraussetzung ist117• Dieses unbefriedigende und vom Gesetzgeber offensichtlich nicht beabsichtigte Ergebnis ist jedoch zu vermeiden, wenn man in § 112 Abs. 3 StPO den letzten Halbsatz folgendermaßen liest: " . .. und ,der Haftbefehl' zur Abwendung der drohenden Gefahr erforderlich ist" 118• Dann kann der Haftbefehl vollstreckt werden, wenn "die Haft . . . er· forderlich ist", während anderenfalls sein Vollzug unter Erteilung von -die Wiederholungsgefahr ausschließenden- Weisungen auszusetzen ist. Abzulehnen ist die Auffassung Kleinknechts119, § 116 Abs. 3 StPO komme "nach dem Ermessen des Gerichts" dann zur Anwendung, wenn "weniger einschneidende Weisungen die Erwartung hinreichend begründen, die Wiederholungsgefahr werde erheblich vermindert". Bei 114 115

DTeves, DRiZ 1005, 110 (111). SchwaTz- Kleinknecht, § 112', Anm. 7) B.

m Vgl. oben Seite 73. Zutreffend weist Kleinknecht darauf hin, daß es unzulässig sei, den Erlaß eines Haftbefehls abzulehnen und isolierte Anweisungen zu erteilen; vgl. MDR 1965, 781 (784), Note 37. 118 So allerdings ohne das Problem zu erkennen - SchwaTz -Kleinknecht, § 112, Anm. 7) B. 111 Vgl. a.a.O., § 116, Anm. 7); so auch CTeifelds, NJW 1965, 946 (950); Mii.lleT in KMR, § 116, Anm. 3. b) ; PeteTS, § 47 A. IV.; Eberhard Schmidt (Nachträge), § 116, Randnr. 14; ähn1ich Georg Schulz {StPO), § 116, Anm. E. 117

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Zweiter Teil: Der Haftgrund in rechtsdogmatischer Sicht

dieser Auslegung ließe sich zwar§ 112 Abs. 3 StPO streng seinem Wortlaut entsprechend handhaben, indem ein Haftbefehl tatsächlich nur zu erlassen wäre, wenn die Haft als solche erforderlich ist. § 116 Abs. 3 StPO käme dann die Bedeutung zu, daß sich der Haftrichter ungeachtet der Erforderlichkeit der Haft gleichwohl mit der Erteilung von Anweisungen begnügen dürfte, wenn dadurch nur die Gefahr vermindert würde. Eine solche Auffassung, die sich bei oberflächlicher Betrachtung zudem auf eine Analogie zu § 116 Abs. 2 S. 1 StPO stützen könnteuo, wird jedoch dem besonderen Zweck des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr nicht gerecht1t 1 • Nach§ 116 Abs. 2 S.l StPO kann der Vollzug eines wegen Verdunkelungsgefahr erlassenen Haftbefehls ausgesetzt werden, "wenn weniger einschneidende Maßnahmen die Erwartung hinreichend begründen, daß sie die Verdunkelungsgefahr erheblich vermindern werden". Diese Vorschrift erfährt ihre Berechtigung dadurch, daß es hier allein um die Sicherung des Strafverfahrens geht. Verdunkelt der Beschuldigte trotz der für vermindert gehaltenen Gefahr doch, so ist äußerstenfalls der Erfolg des anstehenden Strafverfahrens in Frage gestellt. Wird dagegen ein wegen der Besorgnis künftiger Sittlichkeitsverbrechen Verhafteter auf freien Fuß gesetzt, so ist im Falle der Wiederholung nicht nur eines der schwersten Verbrechen ermöglicht worden, sondern womöglich auch nicht wiedergutzumachender Schaden verursacht. Dieser grundlegende Unterschied in der Motivation der genannten Haftgründe verbietet jegliche Analogie. Die Auffassung von Müller122, eine solche (auf die Abschwächung der Gefahr Rücksicht nehmende} Interpretation ergebe sich "aus dem Zweck der Bestimmung" ist also unzutreffend. - Im übrigen läßt sich auch die hier abgelehnte Auslegung nicht widerspruchsfrei zu Ende führen. Zufolge des schon erwähnten § 116 Abs. 4 Ziff. 3 StP0123 ordnet der Richter den Vollzug des Haftbefehls an, wenn neu hervorgetretene Umstände die Verhaftung "erforderlich machen". Folglich darf eine Aussetzung nicht stattfinden, solange die Haft erforderlich ist. Zu Recht folgert daher Dünnebier12• aus dem "System der Vorschrift", daß der Richter "sinnvollerweise den Vollzug ... nur aussetzen (könne}, wenn durch die von ihm gestellte Bedingung der Haftzwecke erreicht, d. h. also die Wiederholungsgefahr, die von dem Sittlichkeitsverbrecher ausgeht, gebannt wird". Kommt hier eine Aussetzung des Haftbefehls aber ausschließlich dann in Betracht, wenn die vom Haftrichter erteilten AnweisunSo MülleT, a.a.O. Eine (ebenfalls unzulässige) Analogie zu § 116 Abs. 1 S. 1 StPO käme unserem Ergebnis schon näher. 111 Vgl. KMR, § U6, Anm. 3. b). 111 Vgl. oben Seite 74. 114 Vgl. Löwe- Rosenberg (Ergänzungsband),§ 116, Anm. 4. 110 111

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gen eine Gefahr der Wiederholung nach menschlichem Ermessen ausschließen, so hat der Richter andererseits in solchem Fall auch von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen. Nach dem Gesetzeswortlaut {"kann ... aussetzen") handelt es sich zwar um eine dem richterlichen Ermessen anheimgestellte Entscheidung. Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der nicht nur im Gesetzgebungsverfahren, sondern auch bei der Rechtsanwendung jederzeit zu berücksichtigen ist125, obliegt dem Richter jedoch die Pflicht, bei jeder Verhängung von Untersuchungshaft zu prüfen, ob deren Zweck nicht auch durch weniger einschneidende Freiheitsbeschränkungen erreicht werden kann; ist das der Fall, so ist der Vollzug des Haftbefehls auszusetzen118• c) Ergebnis Zusammenfassend ist festzustellen, daß gegen den Haftgrund der Wiederholungsgefahr, wie er in den §§ 112 Abs. 3 und 116 Abs. 3 StPO Ausdruck gefunden hat, verfassungsrechtliche Bedenken nicht bestehen. Die fragliche Bestimmung beschränkt das ·Recht der Verhaftung auf wenige, der Bewahrung im höchsten Maße schutzwürdiger Rechtsgüter dienende Fälle, in denen der der Allgemeinheit drohende Schaden die Opfer des (evtl. unschuldig) in Verdacht Geratenen übersteigt. {Hinsichtlich der rechten Auswahl der in § 112 Abs. 3 StPO bezeichneten Sittlichkeitsverbrechen hatten wir uns allerdings noch eine Überprüfung vorbehalten.) 127 Es ist ferner sichergestellt, daß - bei dem Gesetz entsprechender Handhabung128 ! - der Freiheitsentzug nur als "ultima ratio", wenn andere Maßregeln die Wiederholungsgefahr nicht auszuschließen vermögen, zur Anwendung kommt. 2. Vereinbarkelt mit der Menscbenrecbtskonvention

Auch die am 4. November 1950 von den Regierungen der Mitgliedstaaten des Europarates unterzeichnete Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die gemäß Gesetz vom 7. August 1952120 in der Bundesrepublik Deutschland als {einfaches) Bundesrecht130 gilt, steht der Zulässigkeit von Freiheitsentziehung zur Verhütung künftiger Verbrechen nicht entgegen. Die insoweit maßgebliche us Für vi-ele Kleinknecht, JZ 1965, 113 (114); ders. in Schwarz- Kleinknecht, Einl 1) E. ue BVerfG, NJW 1966, 243 (244). 111 Vgl. oben Seite 73; unten siehe Seite 99 ff. 118 Über die tatsächlich geübte Praxis siehe unten Seite 198 ff. m Vgl. BGBl. II, S. 685. tao Also nicht als Verfassungsrecht!

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Zweiter Teil: Der Haftgrund in rechtsdogmatischer Sicht

Vorschrift des Art. 5 Abs. 1 Buchst. c der Konvention gestattet die Inhaftnahme schon dann, wenn der von ihr Betroffene wegen hinreichenden Verdachts einer strafbaren Handlung festgenommen ist oder "begründeter Anlaß zu der Annahme besteht, daß es notwendig ist, den Betreffenden an der Begehung einer strafbaren Handlung . . . zu verhindern". Damit sind die von der Menschenrechtskonvention geforderten Haftvoraussetzungen weit weniger streng als die des geltenden deutschen Rechts.

B. Die sachliche Berechtigung des § 112 Ahs. 3 StPO Bei der Frage nach der sachlichen Berechtigung unseres Haftgrundes sind zunächst die gesetzgeberischen Motive zu betrachten, die für den Erlaß der fraglichen Vorschrift maßgeblich waren. Wie wir bereits dargestellt hatten!, war es das erklärte Ziel der sog. kleinen Strafprozeßreform, die überkommenen Haftgründe des Fluchtverdachts und der Verdunkelungsgefahr zu beschränken, soweit dies kriminalpolitisch vertretbar erschien. Im Verlauf dieses Vorhabens geriet die dem Haftrichter bei dem Verdacht eines Verbrechens für den Haftgrund der Fluchtgefahr bisher gewährte Begründungserleichterung (§ 112 Abs. 2 S. 2 Ziff. 1 StPO a. F.) in Fortfall. Damit entfiel zugleich die- zweifellos illegitime- Möglichkeit, unter dem Vorwand des Fluchtverdachts anderen, gesetzlich nicht anerkannten Haftgründen Berücksichtigung zu verschaffen. Darf man der im Rechtsausschuß des Bundestages aufgestellten und - soweit wir das überblicken unwidersprochen gebliebenen Auffassung Glauben schenken2 , so ist insbesondere drohende Wiederholungsgefahr unter dem "falschen Etikett"3 des Fluchtverdachts häufig ein "apokrypher"' Haftgrund gewesen11. Der Gesetzgeber stand somit - die Streichung des § 112 Abs. 2 S. 2 StPO a. F. war beschlossene Sache- vor der Wahl, es entweder bei der Aufhebung der Begründungserleichterung sein Bewenden haben zu lassen und damit seiner Mißbilligung der bisherigen Praxis Ausdruck zu verleihen, oder aber den Haftgrund der Wiederholungsgefahr Vgl. oben Seite 42. Eine Nachprüfung liegt außerhalb unserer Möglichkeiten. Eine solche Entwicklung hatte Seibert anläßlich der Aufhebung des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr i. d. F. des Gesetzes von 1935 durch das Vereinheitlichungsgesetz von 1950 bereits vorhergesagt; vgl. NJW 1950, 772 (773). 3 Dahs, sten. Prot. d. Rechtsausschusses d. Bundestages, 4. Wahlp., 23/31 1

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(42). 4 Baldus, a.a.O., 23/29. s

Nachweise oben Note 59 auf Seite 43.

B. Die sachliche Berechtigung der Vorschrift

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zu einem legalen Rechtsinstitut zu erheben. Er entschied sich für einen Kompromiß: Während einem generellen Haftgrund der Wiederholungsgefahr, wie er seit 1935 gegolten hatte, die Zustimmung versagt blieb, verschloß sich der Gesetzgeber andererseits nicht der Erkenntnis, daß besonders hochwertige Rechtsgüter auch eines besonderen, ihrer Bedeutung zugemessenen Schutzes bedürfen. Die Überlegung, dabei nur auf solche Rechtsgüter abzustellen, deren Verletzung bei den Betroffenen nicht wiedergutzumachende Schäden hinterlassen könnte, hatten wir bereits unter dem Gesichtspunkt der Verfassungsmäßigkeit unseres Haftgrundes als billigenswert bezeichnet. Insoweit kann auf die früheren Ausführungen verwiesen werden•. Gestattet aber das Grundgesetz angesichts der widerstreitenden Interessen des evtl. zu Unrecht in Verdacht Geratenen und der gefährdeten Allgemeinheit das zwischen beiden bestehende Spannungsverhältnis zu Gunsten letzterer zu lösen und die grundsätzlich unverletzliche Freiheit der Person für den eng begrenzten Bereich des § 112 Abs. 3 StPO einzuschränken, so ist damit zugleich die sachliche Berechtigung der in Rede stehenden Vorschrift hinlänglich dargetan. I. Der beschränkte Anwendungsbereich der Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr Gegen den Haftgrund der Wiederholungsgefahr ist geltend gemacht worden, mit einer derartigen Vorschrift sei keine vollständige Sicherung der bedrohten Rechtsgüter zu erreichen, da auch ohne anhängiges Ermittlungsverfahren oder nach rechtskräftiger Verurteilung und StrafverbüBung die Gefahr künftiger Straftaten bestehen könne7 • So meint Weiss8, das Institut der Untersuchungshaft sei zur Verfolgung präventiver Zwecke ungeeignet, weil damit ein Schutz nur in den Fällen erreicht werden könne, "in denen zufällig schon eine Straftat begangen worden" sei. Werde aber die Mehrzahl der Fälle, in denen ein wirklicher Anlaß zu Sicherungsmaßnahmen besteht, ohnehin nicht erfaßt, so solle man auf eine solche Vorschrift ganz verzichten. Den anderen Gesichtspunkt betont schon Zucker', indem er darauf hinweist, dem Beschuldigten stehe nach der Entlassung aus der Untersuchungsoder Strafhaft nichts mehr im Wege, "sich auf den Bedrohten zu stürzen und die Missetat auszuführen"10• Vgl. oben Seite 70 ff. Dahs, sten. Prot. d. Rechtsausschusses d. Bundestages, 4. Wahlp., 2'3/311 (41); siehe auch Baumann, JZ 1962, 689 (693). 8 Vgl. NJ 1947, 221. 1 Vgl. Zucker, S. 72. 10 In diesem Sinne auch Jahn, sten. Prot. d. Rechtsausschusses d. Bundestages, 4. Wahlp., 23/45. 1

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Zweiter Teil: Der Haftgrund in rechtsdogmatischer Sicht

Beiden Ansichten ist zu entgegnen, daß es nicht die Aufgabe des Gesetzgebers sein konnte, im Rahmen des auf ganz andere Ziele gerichteten Strafprozeßänderungsgesetzes ein umfassendes Sicherungsrecht zu schaffen. Dazu wäre nach der im Grundgesetz getroffenen Verteilung der Gesetzgebungskompetenz der Bundesgesetzgeber auch gar nicht befugt gewesen11 • Es ging vielmehr allein darum, die mit dem Wegfall des § 112 Abs. 2 S. 2 StPO a. F. entstandene Gesetzeslücke für den beschränkten Bereich der Wiederholungsgefahr bei gewissen, für besonders gefährlich gehaltenen Sittlichkeitsdelikten zu schließen. 1. Keine Sicherungshaft ohne dringenden Tatverdacht hinsichtlich eines bereits verübten Sittlichkeitsverbrechens .

Hinzu kommt folgendes: Voraussetzung einer jeglichen gezielten Verbrechensprävention ist die kriminelle Prognose, daß von einer bestimmten Person die Begehung künftiger Straftaten zu gewärtigen ist12• Diese Prognose kann nicht aus dem Nichts geschöpft werden, sondern bedarf ganz bestimmter Anhaltspunkte, die auf eine solche Gefahr hinweisen. Damit stellt sich die Frage, welcher Art diese Anhaltspunkte zu sein haben, um äußerstenfalls die Verhaftung des Verdächtigen zu rechtfertigen. Die Problematik mag folgendes Beispiel andeuten: Unsere Untersuchungen legen die Annahme nahe, daß Stiefkinder gefärdeter als leibliche Kinder sind, von ihrem Stiefvater bzw. Vater zur Unzucht bis hin zum vollendeten Geschlechtsverkehr mißbraucht zu werden. Als "kriminogene Faktoren" 1a fielen uns dabei besonders Enge der Wohnverhältnisse, Abwesenheit der Mutter (etwa durch Krankheit oder Schichtarbeit), Alkoholmißbrauch und niedere soziale Verhältnisse auf. - Es liegt auf der Hand, daß nun nicht alle Stiefväter, in deren Person sich die oben genannten Faktoren vereinigen, als potentielle Sittlichkeitsverbrecher in Haft genommen werden können. Jemanden allein auf Grund einer kriminalpolitisch ungünstigen Prognose die Freiheit zu nehmen, würde zu einer unerträglichen Rechtsunsicherheit, ja Willkür führen 14• Es bedarf also zusätzlicher, in der Person des Verdächtigen begründeter Anzeichen, die die Gefahr künftiger Verbrechen besonders wahrscheinlich erscheinen lassen. Als solche kommen, da eines der besten Indizien für das Verhalten eines Menschen in der Zukunft dessen Verhalten in der Vergangenheit Vgl. oben Seite 56 ff. Über die Problematik der Prognosestellung siehe im einzelnen unten Seite 113 ff. 13 Siehe unten Seite 118 f. 14 Baumann meint, so allgemein sei eine solche Forderung auch noch nie erhoben worden; vgl. JZ 1962 689 (693). 11 1t

B. Die sachliche Berechtigung der Vorschrift

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istu, vor allem bereits begangene Straftaten resp. der dringende Tatverdacht hinsichtlich solcher in Betracht. Exner16 spricht in ähnlichem Zusammenhang17 von der Straftat als einem "gesetzlichen Symptom der Gefährlichkeit" und meint: Indem die Anwendung von Präventivmaßregeln das Vorliegen einer mit Strafe bedrohten Handlung voraussetze, werde gewissermaßen eine "gesetzliche Beweisregel" aufgestellt; der Richter sei nur dann die Gefährlichkeit einer Person anzunehmen berechtigt, wenn diese ihre Gefährlichkeit bereits durch ein entsprechendes Vorverhalten dokumentiert habe. In diesem Sinne erwächst der in § 112 Abs. 3 StPO (als einer Maßnahme des Untersuchungshaftrechts) verlangten Haftvoraussetzung, der Beschuldigte müsse eines der daselbst aufgezählten Sittlichkeitsverbrechen dringend verdächtig sein, zugleich die Bedeutung eines aus Gründen der Rechtssicherheit zu fordernden, notwendigen Indizes für die Gefährlichkeit des Verdächtigen. Treten zu diesem Indiz dann noch (weitere) "bestimmte Tatsachen" hinzu, die die Gefahr der Wiederholung eines einschlägigen Verbrechens begründen, so kann die Verhaftung erfolgen. Erst beide Voraussetzungen zusammengenommen bieten die Gewähr, daß sich die bei der Anwendung unseres Haftgrundes nicht zu vermeidenden Mißgriffe in engen Grenzen halten, andererseits aber auch der Verbrechensverhütung genügender Spielraum bleibt. 2. Keine Sidlerungshaft nach der Strafverbilßnnr

Dem anderen Argument, der fragliche Haftgrund versage gegenüber aus der Strafhaft entlassenen und nach wie vor gefährlichen Verbrechern, ist in der Tat zuzugeben, daß zwischen den Voraussetzungen des § 112 Abs. 3 StPO und denen der Sicherungsverwahrung gemäß §§ 20 a, 42 e StGB eine Lücke besteht18• Der nach dem ersten oder zweiten Sittlichkeitsverbrechen gefaßte Täter kann - bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen- zwar zunächst allein wegen Wiederholungsgefahr in Haft genommen werden, muß jedoch nach der Strafverbüßung in jedem Fall wieder auf freien Fuß gesetzt werden. Dieser Gesetzeslage schlicht mit dem Hinweis zu begegnen, man habe dann mit der Sicherungshaft wenigstens die Straftaten verhütet, die anderenfalls bis zur Aburteilung begangen worden wären, erscheint 15

Hellmer, ZStW 73, 441 (450).

Vgl. ZStW 53, 629 (673). Die Stellungnahme bezieht sich auf die Maßregeln der Sicherung und Besserung des Strafgesetzbuches. 18 Daran soll sich auch nach dem Entwurf 1962 eines Strafgesetzbuchs nichts ändern; vgl. §§ 85 f. des Entwurfs. 11

17

6 Dietrich

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Zweiter Teil: Der Haftgrund in rechtsdogmatischer Sicht

allein wenig überzeugend11• Man wird jedoch ferner zu berücksichtigen haben, daß die Situation vor und nach der StrafverbüBung eine andere ist20 ; denn keinesfalls werden alle verurteilten Sittlichkeitsverbrecher nach der Entlassung aus der Strafhaft wieder einschlägig straffällig21 • Vielmehr ist statistisch erwiesen, daß gerade auf diesem Gebiet der Kriminalität der bei weitem größte Teil der Täter nach der Strafverbüßung nicht mehr einschlägig straffällig wird22• Damit erscheint es aber auch sachlich gerechtfertigt, im Ermittlungsverfahren eine Präventivmaßregel zur Verfügung zu stellen, für die nach der Strafverbüßung (ohne weiteres) kein Raum ist. ll. Die polizeirechtliehen Möglichkeiten der Verbrechensverhütung Läßt sich demnach der Vorwurf, mit der in § 112 Abs. 3 StPO getroffenen Regelung sei nur eine unvollkommene Sicherung zu erreichen, nicht aufrechterhalten23, so fragt es sich schließlich, ob nicht die polizeilichen Möglichkeiten der Verbrechensverhütung24 eine im Strafprozeßrecht etablierte Sicherungshaft überflüssig machen25• Die Polizeigesetze kennen indes von jeher eine Präventivhaft nur in ganz beschränktem Umfang. Nach§ 15 Abs. 1 Buchst. a des preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes vom 1. Juni 1931" - das hier stellvertretend für die ähnlichen Regelungen der übrigen Länder21 zitiert werden soll- dürfen Personen in polizeiliche Verwahrung genommen werden, wenn diese Maßnahme "zur Beseitigung einer bereits eingetretenen Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung oder zur Abwehr 18 So aber Niggemeyer, sten. Prot. d. Rechtsausschusses d. Bundestages, 4. Wahlp., 23/46. 10 Baldus, a .a.O., 23{47; in diesem Sinne auch Dünnebier, wenn er seine Forderung nach einem Haftgrund der Wiederholungsgefahr u. a. damit begründete, der Sittlichkeitsverbrecher werde allenfalls dann von weiteren Verbrechen lassen, wenn er seine Strafe verbüßt hat; vgl. Löwe- Rosenberg, Vor §§ 112 ff., Anm. 6. 21 Baldus, a.a.O. !! Siehe hierzu im einzelnen unten Seite 147 f. n So zutreffend Baumann, JZ 1962, 689 (693). u Der "präventiv-polizeiliche" Charakter unserer Vorschrift wird ja allenthalben hervorgehoben. 25 Baumann äußert dazu : Man könnte meinen, daß- wenn in den Fällen, in denen ein Ermittlungsverfahren noch nicht ei.ngeleitet ist, nur ein Rückgriff auf die allgemeinen Polizeigesetze in Frage komme - es auch bei schon begangenen Straftaten dabei verbleiben könne; vgl. JZ 1002, 689 (693). 2e Vgl. preußische GS, S. 77. 27 Vgl. z. B. noch § 4 des schleswig-holsteinischen Polizeigesetzes vom 23. März 1949 und Art. 18, 20 des Gesetzes über die Aufgaben und Befugnisse der Polizei in Bayern vom 16. Oktober 1959 (zusammen mit den weiteren Polizeigesetzen abgedruckt bei Kiskalt, s. 382 bzw. 97 f.).

B. Die sachliche Berechtigung der Vorschrift

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einer unmittelbar bevorstehenden polizeilichen Gefahr" erforderlich ist; und auch dann müssen gemäß Abs. 2 derselben Vorschrift die in Verwahrung genommenen Personen spätestens im Laufe des auf die Ergreifung folgenden Tages wieder entlassen werden28 • Daß der in § 112 Abs. 3 StPO betroffene Personenkreis mit einer derartigen Vorschrift weder in sachlicher Hinsicht (die Gefahr muß "unmittelbar" bevorstehen), noch was die notwendige Dauer des Freiheitsentzuges anlangt, ausreichend erfaßt werden kann, ist offenbar. Die gesetzliche Ausgestaltung des polizeilichen Verhaftungsrechts wird denn auch seit langem als unzureichend bezeichnet211 • Erich Kaufmann30 faßt dies in die Worte: "Das Rechtsinstitut der polizeilichen Verwahrung hat bisher immer ein Dornröschendasein am Rande des großen Kampfes ums Recht, in Deutschland wie anderwärts, geführt"11• Eine Änderung dieses Zustandes steht unter der Herrschaft des Grundgesetzes - nach Art. 104 Abs. 2 S. 3 GG darf die Polizei aus eigener Machtvollkommenheit niemanden länger als bis zum Ende des Tages nach dem Ergreifen in eigenem Gewahrsam halten- nicht zu erwarten. Hat aber gemäß Art. 103 Abs. 2 S. 1 GG über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung in jedem Falle der Richter zu entscheiden, so erscheint es durchaus sinnvoll, daß mit der Bestimmung des § 112 Abs. 3 StPO diese Reaktion in die Hand des Richters gelegt wurde, der wegen des möglichen Vorliegens "echter" Untersuchungshaftgründe sowieso mit der Strafsache befaßt istn, 13• Das ist 28 So schon § 6 des preußischen Gesetzes zum Schutz der persönlichen Freiheit vom 12. Februar 1850; vgl. preußische GS, S. 45. - Die Fristen variieren in den einzelnen Ländern geringfügig. Die äußerste zeitliche Grenze ergibt sich aus Art. 104 Abs. 2 S. 3 GG und den verschiedenen Landesverfassungen. Hessen z. B. verlangt eine Vorführung innerhalb von 24 Stunden; vgl. Baumann (Bedeutung), S. 534, mit Nachweis. 19 Vgl. z. B. Erich Kaufmann, S. 266 ff. und 308. Kitzinger sprach schon 1913 von einem Versagen des geltenden Rechts (vgl. Kitzinger, S. 215); besonders deutlich neuerdings Gay, Kriminalistik 1965, 605 (606). 10 Vgl. a.a.O., S. 257. 11 Bezeichnend erscheint uns, daß Wenzky anläßlich einer Besprechung der polizeilichen Präventivmöglichkeiten die Verwahrung überhaupt nicht erwähnt; vgl. ArchKrim 1965, 80 ff. und 150 ff. 11 In knapp 46 °/o der von uns durchgesehenen, wegen Wiederholungsgefahr erlassenen Haftbefehle wurde die Verhaftung zugleich auf einen oder beide anderen Haftgründe gestützt; siehe unten Seite 199. ss In diesem Sinne hält es auch das Bundesverfassungsgericht für zweckmäßiger, die Schutzaufgabe des § 1'12 Abs. 3 StPO den mit der Aufklärung der begangenen Straftat befaßten Strafverfolgungsbehörden und damit dem Richter anzuvertrauen als der Polizei (vgl. NJW 1·966, 243 (244)); kritisch hierzu Schmidt-Leichner, NJW 1966, 425 (427), Note 21; ähnlich hingegen Baumann bezüglich der Zuständigkeit des Strafrichters in den Fällen der §§ 42a ff. StGB (vgl. JZ 1962, 689 (692)).

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Zweiter Teil: Der Haftgrund in rechtsdogmatischer Sicht

auch Eberhard Schmidt zu entgegnen, der eine "Ausgestaltung der polizeilichen Vorbeugungsmöglichkeiten" fordert, die "Überbürdung präventiv-polizeilicher Aufgaben ... auf den Richter" aber ablehnt". Die Zuständigkeit eines anderen als des Strafrichters85 würde zu einer prozeßökonomisch und rechtsstaatlich nicht zu verantwortenden, letzten Endes nur den Beschuldigten belastenden Doppeluntersuchung führen".

m. Ergebnis Als Ergebnis kann zusanunengefaßt werden: Die in § 112 Abs. 3 StPO für den eng begrenzten Bereich schwerer Sittlichkeitskriminalität zugelassene Sicherungshaft ist sachlich darin gerechtfertigt, daß mit dieser Maßnahme besonders schutzwürdige Rechtsgüter vor möglicherweise nicht wiedergutzumachenden, schweren Schäden bewahrt werden sollen. Die Notwendigkeit einer solchen Vorschrift wird weder durch deren inhaltliche Beschränkung auf Personen, gegen die bereits wegen des dringenden Verdachts begangener einschlägiger Verbrechen ein Strafverfahren in Gang gekommen ist, noch die praktisch bedeutungslosen Möglichkeiten der Präventivpolizei in Frage gestellt.

C. "Systemwidrigkeit" des § 112 Abs. 3 StPO? Unter dem Stichwort "Systemwidrigkeit" 1 werden gegen den Haftgrund der Wiederholungsgefahr ferner gesetzessystematische Gründe ins Feld geführt. Soweit sich diese allgemein gegen die Aufnahme von Präventivvorschriften in die Strafprozeßordnung richten, hatten wir uns damit bereits oben auseinandergesetzt2• Wir können uns daher im folgenden auf die Frage beschränken, ob unser Haftgrund im Recht der Untersuchungshaft einen legitimen Platz gefunden hat1• Vgl. Eberhard Schmidt (Nachträge), § 112 Vorbem., Randnr. 4. Eine landesrechtliche Erweiterung des Instituts der polizeilichen Verwahrung unter Hinzuziehung eines Richters wäre denkbar. •• Baumann, JZ 1962, 689 (692). 1 So wörtlich Creifetds, JR 1965, 1; Dahs, NJW 1965, 81 (82); Hengsberger; JZ 1966, 209; Oppe, NJW 1966, 93 (94); ders., MDR 1966, 641 (642); in dem gleichen Sinne Baumann, a.a.O., S. 690 ff.; ders., JuS 1965, 172; Kleinknecht, JZ 1965, 113 (116); Hans Wolfgang Schmidt, SchlHA 1965, 49; Rudolf Schmitt, JZ 1965, 193 ff.; Bucher sten. Ber. v. d. 132. Sitzung d. Deutschen Bundestages, 4. Wahlp., S. 6438 A-B; Kanka, das. S. 6438 D (6439 B-C); ferner auch Lanzendörjer, Juristische Blätter 1954, 248. 1 Anläßlich der Frage nach der Gesetzgebungskompetenz des Bundesgesetzgebers; vgl. oben Seite 59 ff. • Ausdrücklich ablehnend Dahs, NJW 1965, 81 (82), und Baumann, JZ 1962, 689 (693). 34

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C. "Systemwidrigkeit" der Vorschrift?

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Bedenken gegen einen Einbau der fraglichen Vorschrift in die Bestimmungen über die Untersuchungshaft könnten sich daraus ergeben, daß die Untersuchungshaft bisher allein dazu bestimmt war, die staatliche Strafkompetenz in einem historisch gegebenen Fall zu sichern, während mit dem Haftgrund der Wiederholungsgefahr - in die Zukunft weisend- weitere Verbrechen verhütet werden sollen. Diesem Unterschied Rechnung zu tragen, wurden denn auch im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens' verschiedene Vorschläge unterbreitet. So wurde u. a. erwogen, die Haft wegen Wiederholungsgefahr als "Sicherungshaft" oder auch nur als "Haft" zu bezeichnen und in einer (§§ 111 a und 126 a StPO vergleichbaren) besonderen Bestimmung unterzubringen5. Wenn es im Ergebnis schließlich doch zu einer Zusammenfassung der Haftgründe kam, so mag dafür neben einer gewissen Zeitnot, unter der die Gesetzgebungsarbeiten standent, auch die Tatsache maßgeblich gewesen sein, daß man im Rahmen der "kleinen" Strafprozeßreform alle nicht unmittelbar notwendigen Änderungen vermeiden wollte7• Bestätigt wird diese Annahme durch eine Stellungnahme des seinerzeitigen Bundesministers der Justiz, BucherB, derzufolge man darauf verzichtet habe, "perfektionistisch zu sein", die Haft wegen Wiederholungsgefahr als Sicherungshaft zu bezeichnen und durch das ganze Gesetz hindurch entsprechende redaktionelle Änderungen vorzunehmen. In die gleiche Richtung zielt die Äußerung Kankas•: "Wir Deutschen und wir Juristen sollten es mit dem Systematisieren auch nicht übertreiben. Wir machen die Gesetze nicht um eines Systems willen, sondern ... um der menschlichen Ordnung und hier um der sicheren Friedensordnung willen" 10• Müssen wir uns also damit abfinden, daß der Gesetzgeber "Pfuscharbeit" geleistet hat - Baumann11 meint, ein Einbau des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr in § 112 StPO verriete "Formulier- und Ge4 Vgl. im einzelnen sten. Prot. d. Rechtssausschusses d. Bundestages, 4. Wahlp., 4/12 f., 8/1, 31/18 (19) (Jahn); 8/9- (Hoogen); 8/9 f. (Arndt); 8/10 (11) (Schafheutle); 8/12, 31/20 (Kanka); 23/47 (49) (Baldus); 31/19 (Gilde). • Vgl. oben Seite 46. • Schmidt-Leichner meint, das Recht der Untersuchungshaft sei in der Novelle zu schnell zur Welt gekommen und infolgedessen nicht genau genug durchdacht worden; vgl. NJW 1966,425. 7 Vgl. oben Seite 41. 8 Vgl. sten. Ber. v. d. 132. Sitzung d. Deutschen Bundestages, 4. Wahlp., S. 6438 A (B}. 1 Vgl. a.a.O., S. 6438 D (6439 C). 10 Dieser Argumentation angeschlossen haben sich: Creifelds, JR 1965, 1; Oppe, NJW 1966, 93 (9-4); Philipp, DRiZ 1965, 83 (85); Rudolf Schmitt JZ 1965,

193 (194). 11

Vgl. JZ 1962, 689 (693).

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Zweiter Teil: Der Haftgrund in rechtsdogmatischer Sicht

dankenfaulheit" -, oder läßt sich die Zusammenfassung der verschiedenen Haftgründe vielleicht doch systematisch rechtfertigen? Für eine solche Annahme spricht, daß auch andere Länder, die eine ähnliche Vorschrift kennen12, die Haftgründe der Flucht-, Verdunkelungs- und Wiederholungsgefahr stets gemeinsam geregelt haben. Auszugehen ist von dem Begriff "Untersuchungshaft". Dieser setzt bekanntlich auch nach der bisherigen Anwendung nicht voraus, daß noch etwas zu untersuchen sein muß13. So kann die Untersuchungshaft (wegen Fluchtgefahr) angeordnet werden, wenn die Ermittlungen völlig abgeschlossen sind, aber die Gefahr besteht, der Beschuldigte werde sich der weiteren Strafverfolgung entziehen. Erst recht dient die Untersuchungshaft selbst nicht als Mittel der Untersuchung14 ; sie soll (im Falle der Verdunkelungsgefahr) nur verhindern, daß die Untersuchungen in unlauterer Weise gestört werden. Wird aber auch die Untersuchungshaft bisheriger Praxis nicht nur angeordnet, "wenn" oder "weil" noch Untersuchungen zu führen sind, so kann der Bezeichnung als "Untersuchungshaft" lediglich die Bedeutung zukommen, daß es sich hier um eine Haft "während" des Untersuchungsverfahreng-auf der einen Seite begrenzt durch die Annahme dringenden Tatverdachts bezüglich einer begangenen Straftat, auf der anderen Seite begrenzt durch den rechtskräftigen Abschluß des Strafverfahrens15 - handelt. Diese Voraussetzungen erfüllt aber auch die Haft wegen Wiederholungsgefahr. Wir halten es daher - ungeachtet der unterschiedlichen Zielsetzung der einzelnen Haftgründe - für durchaus gerechtfertigt, die übereinstimmenden Haftvoraussetzungen auch zum Anlaß einer einheitlichen Regelung zu nehmen, zumal in den Folgebestimmungen (etwa in bezug auf die Beschwerdemöglichkeiten des Beschuldigten) weitgehend die gleichen Vorschriften Anwendung finden 1'. Es wäre freilich wünschenswert gewesen, daß der Gesetzgeber dem besonderen Charakter unseres Haftgrundes durch gewisse Modalitäten hinsichtlich der Aussetzung des Haftvollzuges17 und der Anrechnung der Haft auf die spätere Freiheitsstrafe18 besser Rechnung getragen hätte19. Für die Zusammenfassung der Haftgründe im Recht der Untersuchungshaft hätte er sich indes nicht zu entschuldigen brauchen. Vgl. oben Seite 52 ff. Arndt, sten. Prot. d. Rechtsausschusses d. Bundestages, 4. Wahlp., 8/9. 14 Kanka, a.a.O., 8/1:2. 15 Müller in KMR, § 112, Anm. 9. 18 In diesem Sinne auch Güde, sten. Prot. d. Rechtsausschusses d. Bundestages, 4. Wahlp., 31/19, und Rudolf Schmitt, JZ 1965, 193 (194). 17 Vgl. oben Seite 74 ff. 18 Siehe unten Seite 97. 10 Rudolf Schmitt, JZ 1965, 193 (195 ff.). 12

13

D. Auslegungsfragen

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D. Fragen der Auslegung des § 112 Ahs. 3 StPO Wenden wir uns nun im einzelnen der Auslegung unseres Haftgrundes zu. I. "Bestimmte Tatsachen"

Nach § 112 Abs. 3 StPO besteht ein Haftgrund, wenn "bestimmte Tatsachen" die Gefahr begründen, der Beschuldigte werde vor seiner rechtskräftigen Aburteilung ein weiteres einschlägiges Sittlichkeitsverbrechen begehen. Damit konfrontiert uns das Gesetz mit einer zweifachen Fragestellung: Ist es überhaupt möglich, das künftige strafbare Verhalten eines Menschen mit einem gewissen Maß von Wahrscheinlichkeit vorherzusehen?- und bejahendenfalls: Welcher Art haben die vom Gesetz geforderten "bestimmten Tatsachen" zu sein, um äußerstenfalls die Verhaftung des Beschuldigten zu rechtfertigen? In diesen Fragen liegt die eigentliche Problematik unseres Haftgrundes beschlossen; mit ihrer positiven Beantwortbarkeit steht oder fällt die gesamte Regelung. Gleichwohl können wir uns, um die für diese Arbeit gewählte Systematik nicht zu verlassen, erst weiter unten damit auseinandersetzen1 ; denn hier werden Erkenntnisse und Erfahrungen vorausgesetzt, die in einer rein rechtsdogmatischen Betrachtung nicht zu gewinnen sind. Das wird besonders deutlich, wenn man die bisherigen Stellungnahmen zu dem angeschnittenen Problem vergleicht. Sei es, daß unbewiesene Behauptungen aufgestellt werden1 , wie etwa: "Die im Gesetz aufgezählten Sittlichkeitsverbrechen sind ... namentlich solche, die erfahrungsgemäß häufig von Hangtätern begangen werden3." - oder: In § 112 Abs. 3 StPO handelt es sich um die "schwersten Unzuchtsverbrechen, bei denen die Gefahr der Wiederholung stets in hohem Maße gegeben ist"'· Sei es, daß sich die Ausführungen in Allgemeinheiten verlieren, wie: "Die Wiederholungsgefahr muß sich ,aus den Umständen' ergeben, die auf eine so stark ausgeprägte, spezifische Neigung zu solchen Straftaten hindeuten, daß zu befürchten ist, sie werde sich noch vor einer StrafverbüBung neuerlich auswirken5 ." - oder: " ... diese Tatsachen . . . müssen ,nach der Lebenserfahrung' den Schluß nahelegen, daß der Beschuldigte wieder straffällig werden wird" 8 • Erörtert Siehe unten Seite 113 ff. Hierzu siehe unten Seite 146 ff. 1 So Kleinknecht, JZ 1965, 113 (116). • So Philipp, DRiZ 1965, 83 (85). 5 So Kleinknecht, JZ 1965, 113 (117). • So Müller in KMR, § 112, Anm. 5. b).

1 !

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Zweiter Teil: Der Haftgrund in rechtsdogmatischer Sicht

wird meist nur, ob und inwieweit einschlägige Vorstrafen die Annahme von Wiederholungsgefahr rechtfertigen7 ; im übrigen begnügt man sich mit der Feststellung, es müsse gegebenenfalls ein Hang oder eine Neigung zu solchen Straftaten vorhanden sein8 • 9 • Offen blieb indes bisher die nur an Hand kriminologischer Fakten zu beantwortende Frage10, wann das der Fall ist. Lediglich bei Hellmer11 finden sich im Rahmen einer Anmerkung zu einer Gerichtsentscheidung einige wesentliche Hinweise. Hier werden daher unsere Untersuchungen im kriminologischen Teil der Arbeit einzusetzen haben. - Als Ergebnis sei vorweggenommen, daß eine kriminelle Prognose in gewissem Umfang möglich ist und bestimmte kriminogene Faktoren erkennbar sind.

n. Untersuchungshaft und richterliches Ermessen Nach § 112 Abs. 1 StPO darf gegen den Beschuldigten Untersuchungshaft verhängt werden, wenn einer der im folgenden aufgezählten Haftgründe gegeben ist und die Haft nicht zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Sicherung oder Besserung außer Verhältnis steht. Aus dem in der Gesetzessprache verwendeten Ausdruck "darf" ist zu schließen, daß es sich dabei um eine Ermessungsentscheidung handeltt!. Eine uneingeschränkte Pflicht zum Erlaß des Haftbefehls besteht also auch dann nicht, wenn dessen Voraussetzungen gegeben sind und der Ausschlußgrund mangelnder Verhältnismäßigkeit nicht vorliegt13• 7 Siehe Creifelds, NJW 1965, 946 (950); Kern (8. Aufl.), § 31. A. III. 2. c); Schwarz- Kleinknecht, § U2, Anm. 7) A.; Kleinknecht, JZ 1965, 113 (117); ders., MDR 1965, 781 (782); Müller, a.a.O.; Phitipp, DRiZ 1965, 83 (85); Hans Wolfgang Schmidt, SchlHA 1965, 49; Rudolf Schmitt, JZ 1965, 193 (196). 8 .So Creifelds, a.a.O.; Schwarz - Kleinknecht, a.a.O.; Kleinknecht, JZ, a.a.O.: Müller, a.a;O.; einschränkend Georg Schulz (StPO), § 112, Anm. C. 2., und

OLG Frankfurt, NJW 1965, 1342. • Ähnlich dürftig sind die Erläuterungen der inzwischen in Ergänzungsbänden erschienenen großen Kommentare: "Die Tatsachen ... sind die Vortaten und alle Lebensverhältnisse des Beschuldigten, die eine Prognose zulassen." (so Dünnebier in Löwe- Rosenberg (Ergänzungsband), § 112, Anm. 13 b)) ferner: "Die Tatbegehung als solche kann hierzu (sc. zur Annahme bestimmter Tatsachen) nicht ausreichen. Auch eine einschlägige Vorstrafe für sich allein begründet die Wiederholungsgefahr noch nicht. Es müssen also ganz bestimmte Tatsachen dafür sprechen, daß der Beschuldigte eine bedrohliche Neigung zu Sittlichkeitsverbrechen der in Abs. 3 bezeichneten Art hat." (so Eberhard Schmidt (Nachträge), § 112, Randnr. 26) ro Hellmer, NJW 1965, 1727. 11 Vgl. a .a.O., S. 1727 f . 11 Müller in KMR, § 112, Anm. 8. c); BVerfG, NJW 1966, 243 (244); OLG Oldenburg, NJW 1965, 1613. 11 Müller, a.a.O.

D. Auslegungsfragen

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Allerdings sind nur wenige Überlegungen denkbar, die in einem solchen Falle bei pflichtgemäßer, an Sinn und Zweck des Gesetzes orientierter Ermessensausübung zur Versagung des Haftbefehls führen können14. Abzulehnen ist die generalisierende und nicht weiter begründete Ansicht von Müllern, solches Ermessen könne seltener in den Fällen, in denen die Verhaftung die Durchführung des Verfahrens gewährleisten soll, häufiger aber in den Fällen, in denen die Verhaftung nicht das gegenwärtige Verfahren sichert, zum Absehen von der Untersuchungshaft Anlaß geben. Wir vermögen vielmehr gerade angesichts drohender Wiederholungsgefahr1' keinen Grund zu erkennen, der bei Vorliegen sämtlicher Haftvoraussetzungen aus sachgemäßen Erwägungen zu einem Verzicht auf die Anordnung der Untersuchungshaft führen könnte. Die Ermessensentscheidung hat sich infolgedessen im wesentlichen -hinsichtlich unseres Haftgrundes praktisch ausschließlich- auf die Frage zu beschränken, ob die Anordnung der Haft dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gemäß § 112 Abs. 1 S. 2 StPO entspricht. Welche Bedeutung in diesem Zusammenhang der negativen Formulierung des Gesetzes (die Haft "darf nicht angeordnet werden", wenn sie zu der Bedeutung der Sache oder der zu erwartenden Sanktion "außer Verhältnis steht"} zukommt, ist umstritten. Verschiedentlich wird daraus der Schluß gezogen, die Untersuchungshaft sei nur dann nicht gerechtfertigt, wenn die Unverhältnismäßigkeit feststehe. Bestünden insoweit lediglich Zweifel, so könne die Verhaftung erfolgen17 ; für den Grundsatz "in dubio pro reo" sei hier also kein Raum18• Dem steht jedoch der berechtigte Einwand Eberhard Schmidts19 gegenüber, daß der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (in seiner positiven Ausprägung} unter der Herrschaft des Grundgesetzes Verfassungsrang genießt10• Es hätte daher - wäre das auch die Absicht des Gesetzgebers gewesen- gar nicht in dessen Macht gestanden, den fraglichen Grundsatz zu Lasten des Beschuldigten zu verschieben. 14 Zu denken wäre etwa daran, daß eine Bande nicht durch die Verhaftung eines ihrer Mitglieder gewarnt werden soll. u Vgl. KMR, § 112, Anm. 8. c). 11 Auf die unterschiedlichen Folgen der mit der Untersuchungshaft bekämpften Handlungen hatten wir bereits in anderem Zusammenhang hingewiesen; vgl. oben Seite 76. 17 So Creifelds, NJW 1965, 946 (949); Kleinknecht, JZ 1965, 113 (114 f.). 18 So Creifelds, a.a.O., Note 26; Hengsberger, .TZ 1966, 209 (210); Kleinknecht, a.a.O., S. 115, Note 24; Schorn, NJW 1965, 841. 1' Vgl. Eberhard Schmidt (Nachträge), § 112, Randnr. 6 ff. !O So erst kürzlich wieder das Bundesverfassungsgericht; vgl. NJW 1966, 243 (244).

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Zweiter Teil: Der Haftgrund in rechtsdogmatischer Sicht

Die herausgestellte Formulierung kann daher nur den Sinn haben, den Richter darauf hinzuweisen, daß er nach Lage der Akten zu entscheiden hat und keine Ermittlung in tatsächlicher Hinsicht anzustellen braucht1!1• Damit wird der Eilbedürftigkeit der haftrichterlichen Entscheidung sowie dem Umstand Rechnung getragen, daß im Ermittlungsverfahren sämtliche Beurteilungen wegen des laufend der Veränderung unterworfenen Tatsachenmaterials nur vorläufiger Art sein können22• Es kann somit festgestellt werden, daß die Anordnung der Untersuchungshaft auch bei Vorliegen sämtlicher Haftvoraussetzungen (einschließlich der Verhältnismäßigkeit) nicht zwingend vorgeschrieben ist23• " · Im Hinblick auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr sind jedoch keine Gründe ersichtlich, die in einem solchen Falle bei sachgerechter Ermessensausübung zur Ablehnung des Haftbefehls führen könnten. Bei Zweifeln an der Verhältnismäßigkeit der Haft und der Bedeutung der Sache bzw. der zu erwartenden Strafe oder Maßregel ist die Anordnung der Untersuchungshaft unzulässig. Zur Feststellung der Verhältnismäßigkeit braucht der Haftrichter aber keine besonderen Ermittlungen zu führen; er kann vielmehr die jeweilige Aktenlage zugrunde legen.

m. Der Anwendungsbereich des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr (insbesondere hinsichtlich § 330 a StGB) Daß der Haftgrund der Wiederholungsgefahr gemäß § 112 Abs. 3 StPO nur bei den daselbst im einzelnen aufgeführten Sittlichkeitsverbrechen Anwendung finden kann, unterliegt vom Gesetz her keinem Zweifel25• Es ist auch unbestritten, daß damit nach dem Sprachgebrauch unseres Strafgesetzbuchs zugleich die weniger schweren Verbrechensformen des Versuchs (§ 43 StGB) und der Teilnahme(§§ 48, 49 und 49a StGB) mit erfaßt werden1'. :t

~~

Dünnebier in Löwe - Rosenberg (Ergänzungsband), § 112, Anm. 15. Dünnebier, a.a.O.; a. A. Eberhard Schmidt (Nachträge),§ 112, Randnr. 6a,

der eine weitergehende Aufklärungspflicht des Haftrichters annimmt. 13 Damit ist einer entsprechenden Empfehlung des Ministerkomitees des Eur oparates vom 3. Juni 1965 Rechnung getragen; siehe im einzelnen BVerfG, NJW 1966, 243 (244), mit Nachweis. 24 Zu der Frage, ob der Haftrichter unter mehreren vorliegenden Haftgründen wählen darf oder gegebenenfalls alle anzugeben hat, siehe unten S. 93 ff. 15 Wenn das Bundesverfassungsgericht bei seiner verfassungskonformen Interpretation des § 112 Abs. 4 StPO ausgeführt hat, auch die ernstliche Befürchtung, daß der Beschuldigte weitere Verbrechen ähnlicher Art begeht, genüge für den Erlaß eines Haftbefehls nach dieser Vorschrift, so ist damit nicht unser Haftgrund erweitert, sondern der des Abs. 4 eingeengt; vgl. NJW 1966, 243 (244). :e Dünnebier in Löwe - Rosenberg (Ergänzungsband), § 112, Anm. 13. b);

D. Auslegungsfragen

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Fraglich ist jedoch, ob Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr angeordnet werden darf, wenn der Beschuldigte des nach § 330 a StGB strafbaren Vollrausches dringend verdächtig ist und eine der in § 112 Abs. 3 StPO bezeichneten Straftaten nur als Bedingung der Strafbarkeit in Betracht kommt. Bejaht wird diese Frage in einem Beschluß des Oberlandesgerichts Frankfurtn, in dessen Begründung es u. a. heißt: § 112 Abs. 3 StPO nenne das Vergehen des Vollrausches zwar nicht ausdrücklich. Es sei jedoch kein Grund ersichtlich, warum unser Haftgrund dann ausscheiden solle, wenn der unter Alkoholeinfluß zur Begehung von Sittlichkeitsverbrechen neigende Täter möglicherweise im Einzelfall wegen seines Rauschzustandes unzurechnungsfähig war. Sinn des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr sei es, die Allgemeinheit vor Hangtätern dieser Art zu schützen. Wollte man die Fälle ausklammern, in denen der Täter nur deshalb nicht nach den in § 112 Abs. 3 StPO angegebenen Tatbeständen bestraft werden kann, weil ihm infolge übermäßigen Alkoholgenusses § 51 Abs. 1 StGB zur Seite steht, so wäre der Schutz der Allgemeinheit nur unvollkommen, zumal Delikte dieser Art häufig unter Alkoholeinfluß begangen zu werden pftegten'8 • Dieser Auffassung ist Dünnebier'' mit folgenden Erwägungen entgegengetreten: Wenige Wochen vor dem Erlaß des § 112 Abs. 3 StPO sei in das Strafgesetzbuch die Vorschrift des § 42m Abs. 2 eingefügt worden30 • Dort werde die Vermutung aufgestellt, ein Täter sei zum Führen eines Kraftfahrzeuges ungeeignet, wenn er bestimmte, unter den Ziffern I bis 3 aufgeführte Delikte begangen habe. Als letztes dieser Delikte sei aufgeführt die "Volltrunkenheit (§ 330 a), die sich auf eine der mit Strafe bedrohten Handlungen nach den Nummern 1, 2 oder 3 bezieht". Angesichts dieses Vorbildes, das dem Gesetzgeber in frischer Erinnerung gewesen sein müsse, könne man nicht annehmen, daß dieser geglaubt habe, der Fall der Volltrunkenheit unterfalle den Absätzen 3 und 4 des § 112 StPO als selbstverständlich. - Auch ein Redaktionsversehen liege nicht vor. Ein solches könnte nur angenommen werden, wenn die klare Absicht des Gesetzgebers nicht zum Ausders., NJW 1:966, 231; Schwarz- Kteinknecht, § 112, Anm. 7); Georg Schulz (StPO), § 1!12, Anm. C. 1.; siehe auch OLG Hamm, NJW 1965, 1729, und OLG Düsseldorf, NJW 1965, 2118 (2119) (beide zu § 112 Abs. 4 StPO). 21 Vgl. NJW 1965, 1728 f. 28 Zustimmend Hengsberger, JZ 1966, 209 (21n sich oft als beliebte und (in übriger Hinsicht) mustergültige Familienväter. Aus der Unterschiedlichkeit der gewonnenen Eindrücke erhellt, daß es ein bestimmtes, für alle Fälle charakteristisches familiäres "Inzestmilieu" offenbar nicht gibt. Bedeutsam für das Zustandekommen des Delikts erscheint hingegen, daß die eigene Tochter für die überwiegend primitiven und ganz ihren vitalen Bedürfnissen lebenden Täter801 das nach der Ehefrau nächstliegende Sexualobjekt darstellt101 und die Opferangesichts der Autorität des Vaters803• 10' oder auch aus sexueller Neugier dessen Ansinnen nur selten stärkeren Widerstand entgegenbringen105• 3011, ja bisweilen selbst der verführende Teil sind807• In prognostischer Hinsicht ist wiederum zu unterscheiden, ob die jeweils zur Beurteilung stehende Tat ein Gelegenheitsverbrechen istl08, oder ob es sich insoweit um eine der vielfältigen Äußerungen allgemeiner krimineller Disposition handelt. Oft wird ein gleichartiger Rückfall aber auch in letztgenanntem Fall schon dadurch ausgeschlossen sein, daß das Opfer - etwa durch Einweisung in ein Heim - dem Einflußbereich des Täters entzogen ist und weitere potentielle Opfer nicht vorhanden sind. Am gefährlichsten erscheint der Täter, der bei bestehender genereller krimineller Belastung die Blutschande unter Vgl. Die Polizei 1967, 319 (3~). Gerchow, S. 38 (44). 801 Eber, S. 17; Schwab, MschrKrim 1938, 257 (270). 8o8 Berg, S. 67; Schwab, a.a.O., S. 273. 80' Maisch betont ferner das Fehlen einer tragfähigen Vertrauensbasis des Opfers zur Mutter und die damit nur geringe Möglichkeit der Opfer, sich dieser wegen der durch die Tat bedingten seelischen Konflikte zu eröffnen (vgl. Maisch, S. 51 (55 f.)). 308 Eber, S. 55 f. und 65; Gechow, S. 38 (44); Koch, S. 41; Schwab, a.a.O., S. 270; Többen, S. 74; Wittmann, S. 183 f. 808 woraus im übrigen bisweilen ein echtes Liebesverhältnis entsteht (Finke und Zeugner, MschrKrim 1934, 3()5 (312); Wagner, S. 41 (46); Wulffen, s. 631 f.). 807 Eber, S. 63; Finke und Zeugner, a.a.O., S. 3117; von Hentig in von Hentig und Viernstein, S. 203 ff. 8os Bei fortgesetzter Handlung sind hierfür d·i e Umstände der ersten Tatbestandsverwirklichung maßgebend; denn ist die Schranke erst einmal gebrochen, so begegnet der Trieb zur Wiederholung nur noch geringeren Hemmungen als beim ersten Mal, und der Täter wird nun von sich aus zur Tat drängen (Eber, S. 22). 8oo

8ot

A. III. Welches sind die "bestimmten Tatsachen"?

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Gewaltanwendung erzwungen hat808, ein Vorgehen, das auch die Verübung anderer - nach § 112 Abs. 3 StPO einschlägiger - Sittlichkeitsverbrechen besorgen läßt; denn wer schon seine eigene Tochter aus geschlechtlicher Begierde bedenken- und hemmungslos mißbraucht, wird vor Angriffen auf fremde Sexualobjekte erst recht nicht zurückschrekken. 8) Gleichgeschlechtliche Unzucht Daß die abschließend zu behandelnden Straftaten auf homosexueller Grundlage im Rahmen der gesamten Sittlichkeitskriminalität eine Sonderstellung einnehmen, ergibt sich nicht nur aus der Widernatürlichkeitder Sexualhandlungen als solcher, sondern wird auch durch die im Vergleich zu den übrigen Sexualdelinquenten ganz andere soziale Struktur dieses Täterkreises offenbar; denn sind ansonsten fast ausschließlich Angehörige der unteren Volksschichten beteiligtstO, so ist hier der Anteil erziehungs- und berufsmäßig höher gestellter gesellschaftlicher Kreise auffallend groß311• Diese Tatsache dürfte darauf zurückzuführen sein, daß gleichgeschlechtliche Handlungenalt eine keiner bestimmten Gesellschaftsschicht vorbehaltene anormale sexuelle Veranlagung voraussetzen313, deren straffreie Realisierung allen Homosexuellen gleichermaßen unmöglich ist. Die Schwierigkeit der Beurteilung homosexueller Verhaltensweisen beruht hauptsächlich darauf, daß es trotz langjähriger wissenschaftlicher Bemühungen um dieses Problem bis heute nicht gelungen ist, die Ursachen der Homosexualität814 zu ergründen815• Nach wie vor stehen 301 Die Angaben über die Häufigkeit gewaltsamer Inzesthandlungen variieren stark: Während von. Hen.tig "das Universalmodell des rohen, brutalen, das arm~ Kind zwingenden Vaters" für ein "kriminalpsychologisches Märchen" hält (vgl. von Hentig und Viernstein, 5. 207), beobachteten Eber und Schwab die Anwendung von Gewaltmitteln oft (vgl. Eber, 5. 62 ff., bzw. MschrKl'lim 1938, 257 (273)). Nach Berg sowie Finke und Zeugner sind ausgesprochene Gewalttätigkeiten hingegen selten (vgl. Berg, 5. 67, bzw. MschrKrim 1934, 305 (317)). 810 Vgl. oben Seite 165 f. 811 Freund, S. 38, Giese (Mann), S. 213 und 224 (beide mit instruktiven Tabellen über die Berufszugehörigkeit der Homosexuellen ihres Untersuchungsmaterials); Klimmer, S. 14; Meixner, S. 42; Plaut, S. 221 f. 31 z -die von jeher die verbreiteste und bedeutendste Perversion in der Objektwahl darstellen; Marcuse, HdK I, 5. 676 (677); Meixner, 5. 37. 313 -abgesehen von der uns nicht interessierenden "Strichjungentätigkeit", die meist von heterosexuell veranlagten Minderjährigen ausgeübt wird; vgl. oben Seite 111 f. au Homosexualität und homosexuelles Verhalten sind zu unterscheiden. Es gibt eine homosexuelle Veranlagung, die nicht zwangsläufig zu einer entsprechenden Betätigung führen muß, während es andererseits zu homosexuellen Handlungen auch ohne Vorliegen einer gleichgeschlechtlichen Veran-

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Dritter Teil: Der Haftgrund in kriminologischer Sicht

der Theorie von Hirschfelds1•, die Homosexualität sei ausschließlich angeboren - es handele sich um ein "drittes Geschlecht", eine Verführung zur Homosexualität sei also praktisch ausgeschlossen-, zahlreiche andere311 entgegen, die in mehr oder minder weitem Umfang auch eine äußere Beeinflussung der Triebrichtung- teils nur bei entsprechender Disposition, teils auch ohne eine solche - für möglich halten318• Überwiegend wird die Auffassung vertreten, daß es eine kleine Minderheit von "echten" Homosexuellen gebe, deren Geschlechtstrieb von seinen ersten Regungen an auf Personen des gleichen Geschlechts gerichtet sei, daß der bei weitem größte Teil aller gleichgeschlechtlichen Verkehr pflegenden Männer aber durch Verführung in der Jugend, geschlechtliche Isoliertheit (etwa in Internaten, Kasernen, Klöstern, Gefängnissen, auf Schiffen, im Felde usw.), aus Minderwertigkeitsgefühlen gegenüber dem anderen Geschlecht oder aus Übersättigung an heterosexuellem Verkehr311 (als sog. Bisexuelle) zur Homosexualität bzw. .,Pseudohomosexualität" kommell20• Mezgerll21 hat sich dieser Auffassung mit dem Bemerken angeschlossen, daß die Kriminologie an dieser zentralen Frage nicht ohne eigene Stellungnahme vorübergehen dürfe, während Kretschmer322 den Streit darum, ob die Homosexualität angeboren oder erworben sei, als zwecklos bezeichnet, da zwischen biologischen Dispositionen und äußeren Einflüssen ein reziprokes Verhältnis bestehe. Wir stimmen Klimmer123 zu, wenn er die weitere Verfolgung dieser Frage zugunsten der für den Juristen ungleich bedeutungsvolleren anderen vernachlässigen zu können glaubt, ob nämlich die Homosexualität "fest eingewurzelt, echt, gleichsam ehrlich" sei. Insoweit ist - da es nach den bisher vorliegenden Forschungsergebnissen keinem Zweifel unterliegen kann, daß in der Intensität homosexueller Triebstärke ganz erhebliche individuelle Unterschiede und Abstufungen bestehen324 - von Fall zu Fall eine Entscheidung möglichm. lagung kommen kann (Bräutigam, S. 2 f.; Exner (Kriminologie), S. 170; Giese (Fehlhaltungen), S. 32 (33); Marcuse, HdK I, S. 676 (677); Mei xner, S. 37; Wenker, S. 7 und 13). 315 So auch Freund, S. 236; Lemke, S. 3; Meixner S. 37; Plaut, S. 193 und 251. 316 Vgl. Hirschfeld, S. 315 ff. und 375 f., sowie oben Seite 109. 311 Über die einzelnen Theorien berichten ausführlich u. a. Freund, S. 160 ff., und Plaut, S. 195 ff.; aus der älteren Literatur siehe ferner Wulffen, S. 574 ff. 318 Vgl. hierzu auch oben Seite 109. 318 -welche "Ursache" Bräutigam jedoch für eine durch keinerlei ärztliche Erfahrungen gestützte "Phantasiegeburt" hält; vgl. Bräutigam, S . 134. 320 So z. B. Exner (Kriminologie), S. 171; Koch, S . 48; Marcuse, HdK I, S. 676 (6tll); Rottenberg, S. 100 ff.; Seelig, S. 123 f.; Seelig- Weindler, S. 53 ff. 321 Vgl. Mezger (Kriminologie), § 15. V. 1. m Nach Plaut, S. 201. 323 Vgl. Klimmer, S. 88. 3!4 Ähnlich Lemke, S. 34; Meixner, S. 40 f.; Plaut, S. 212. 125 Klimmer, S. 88.

A. III. Welches sind die "bestimmten Tatsachen"?

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Gehört der Delinquent der (relativ kleinen32t) Gruppe von Homosexuellen an, deren Geschlechtstrieb von Anbeginn und ausschließlich auf das eigene Geschlecht anspricht327 - welchen Zustand Bellavic328 als "Kernhomosexualität" bezeichnet-, so ist mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, daß der unglücklich so Veranlagte wieder und wieder homosexuelle Handlungen begehen wird328 ; denn die Lage des "echten" Homosexuellen, für den die gleichgeschlechtliche Betätigung ja gewissermaßen die "normale" Art der Triebbefriedigung darstellt, läßt sich etwa mit der (utopischen) Situation vergleichen, daß man heterosexuell Empfindenden den - sei es auch nur außerehelichen Geschlechtsverkehr verböte. Auch hier wäre vorauszusehen, daß ansonsten gesetzestreue Bürger in Scharen zu "Verbrechern" werden würden. Obiger Vergleich macht zugleich deutlich, warum die Homosexuellen dieser Kategorie weit häufiger als alle anderen Sittlichkeitsverbrecher einschlägig rückfällig werden, auf anderen Gebieten aber jeder kriminellen Versuchung widerstehenaao. Mit konkreten Zahlenangaben können wir diese Feststellung indes nur dürftig belegen, da insoweit - den zahlreichen Untersuchungen über die anderen Sittlichkeitsverbrechen vergleichbare - kriminologische Forschungsarbeiten fast völlig fehlen. Das mag darauf zurückzuführen sein, daß die umfangreiche Literatur zur Homosexualität vorwiegend von Medizinern stammt, denen die juristische Fragestellung ferner liegt, während die Juristen ihrerseits wegen der noch ungelösten medizinischen Fragen eigene Untersuchungen scheuen. Lediglich Lang, von dem die unseres Wissens einzige einschlägige Arbeit stammt, sind einige Angaben zu entnehmen. Diese können jedoch, da Lang"1 die Täter homosexueller Unzucht nur in "Anlagehomosexuelle" und "Heterosexuelle" unterscheidet und sich bei dieser Einteilung zudem ausschließlich auf den (oft allein aus den Urteilsgründen bestehenden) Inhalt der Strafakten stützt, keineswegs Anspruch auf auch nur annähernd ausreichende Genauigkeit erheben, sondern allenfalls die bestehende Tendenz aufzeigen332. Diese kommt darin zum Ausdruck, daß der Anteil nur einschlä"' Marcuse, HdK I, S. 676 (681); Mezger (Kriminologie), § 15. V. 1.; E:rner (Kriminologie), S. 171; Rottenburg, S. 102; Seelig, S. 123. 317 Seelig und Weindler registrierten unter 28 homosexuellen Straftätern lediglich neun "echte" Homosexuelle; vgl. Seelig- Weindler, S. 54. sts Vgl. Kriminalbiologische Gegenwartsfragen, Heft 3, 1958, 26 (30). 328 Im gleichen Sinne Bellavi~, a.a.O.; Giese (Fehlhaltungen), S. 32 (40); Lemke, S. 42; Middendorff, Kriminalistik 1959, 325 (329); Plaut, S. 334. 330 Lemke, S. 41. 331 Vgl. Lang, S. 48 ff. asz Daß in der als "Anlagehomosexuelle" bezeichneten Gruppe nicht nur die "echten" Homosexuellen im Sinne unserer Unterscheidung zusammengefaßt sind, zeigt auch deren von Lang mit 51,8 °/o aller Täter viel zu hoch angenommener Anteil (vgl. Lang, S. 49).

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gig vorbestrafter Anlagehomosexueller um rund ein Drittel höher lag als bei allen Tätern gleichgeschlechtlicher Verfehlungen zusammengenommen, während andererseits der Anteil nur nicht einschlägig Vorbestrafter bei den Anlagehomosexuellen um etwas mehr als den gleichen Satz geringer warsas,as•. Handelt es sich bei der Sittlichkeitskriminalität im übrigen - von einmaligen Gelegenheitsentgleisungen abgesehen- regelmäßig nur um eine der verschiedenen Ausdrucksformen allgemeiner krimineller Disposition335, so findet sich in dieser Tätergruppe eine ganze Anzahl völlig einordnungsfähiger oder sogar sozial wertvoller Persönlichkeiten386, deren Lebensschicksal einer gewissen Tragik oft nicht entbehrt. Ein gänzlich unausweichliches Schicksal stellt freilich auch für sie die homosexuelle Veranlagung nicht dar, wenn es auch nur wenigen auf der Grundlage eines hochqualifizierten Persönlichkeitsniveaus gelingt, dauernd auf die Verwirklichung des anormalen sexuellen Verlangens und damit praktisch auf jeden Geschlechtsumgang zu verzichten337• Ist der zu Prognostizierende indes der Mehrzahl der nach Qualität und Quantität ihres homosexuellen Geschlechtstriebes individuell recht unterschiedlich veranlagten Delinquenten zuzurechnen338, so hat die Beurteilung neben dem jeweiligen Intensitätsgrad gleichgeschlechtlichen Verlangens ferner alle die Kriterien mit zu berücksichtigen, die wir hinsichtlich der Sittlichkeitskriminalität im allgemeinen als prognostisch bedeutsam herausgestellt hatten. Denn wenn die homosexuellen Straftäter auch durchschnittlich auf einer höheren gesellschaftlichen Stufe stehen als die Sittlichkeitsverbrecher sonst - was vornehmlich dem Anteil "echter" Homosexueller zuzuschreiben sein dürfte -, erweist sich das Gros der homosexuellen Delinquenten (nicht der Homosexuellen überhaupt! 339) doch als mit den gleichen Persönlichkeitsmängeln behaftet, wie sie schon bei den bisher behandelten Sittlichkeitstätern festzustellen waren340• 841 • Es ist also keineswegs so, daß HomoVgl. Lang, S. 79 und 123. Bei Hellmer waren von vier als reine Sittlichkeitsverbrecher verurteilten Gewohnheitsverbrechern drei Homosexuelle; vgl. oben Seite 149. 335 Vgl. oben Seite 146 ff. 338 So auch Leferenz, allerdings nicht speziell auf diesen Täterkreis bezogen; vgl. zstw 77, 379 (382). as1 Giese (Fehlhaltungen), S. 32 (33). 338 Daß es keinen einheitli