Die gesellige Natur des Menschen: Sozialanthropologie aus kriminologischer Sicht [1 ed.] 9783428439997, 9783428039999


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German Pages 288 Year 1977

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Die gesellige Natur des Menschen: Sozialanthropologie aus kriminologischer Sicht [1 ed.]
 9783428439997, 9783428039999

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HELLMUTH MAYER

Die gesellige Natur des Menschen

KR I M IN 0 LO GI SC H E·FOR SC H U N GEN Herausgegeben von Profeeeor Dr. Hellmuth Mayer

Band 10

Die gesellige Natur des Menschen Sozialanthropologie aus kriminologischer Sicht

Von

Prof. Dr. Hellmuth Mayer

DUNCKER&HUMBLOT/BERLIN

AUe Rechte vorbehalten

!Cl 1977 Duncker & Humblot. Berlln 41

Gedruckt 1977 bei Buchdruckerei Bruno Luck. Berl1n 65 Printed in Germany ISBN 3 428 03999 8

Gewidmet meiner lieben

Frau Charlotte geb. Keding, der realistischen Gesprächspartnerin, der tapferen und beglückenden Gefährtin in vielen guten und auch in bösen Jahren

Vorwort Nach langjährigen Vorarbeiten für eine große Kriminologie mußte Verfasser sich eingestehen, daß keine befriedigende Sicherheit zu erzielen sei, bevor es gelänge, die anthropologischen Voraussetzungen hinreichend aufzuhellen. Er sah sich daher genötigt, alle bisherigen Ausarbeitungen in ihren Ordnern liegen zu lassen und sich deranthropologischen Frage zu stellen. Sie ist zuerst von Lombroso aufgeworfen worden (vgl. dazu Mezger, Kriminalpolitik auf kriminologischer Grundlage, 2. Aufl. 1942, S. 14 ff.). Die Forschung hat mit Recht die von Lombroso angebotene Lösung verworfen, leider aber das Sachproblem liegen lassen. Weder die gründlichste Negation noch die bequeme Auskunft der üblichen Anlage-Umwelt-Theorie geben eine positive Antwort auf die von Lombroso - vielleicht nur mittelbar - gestellte Frage. Die Möglichkeit einer gültigen Aussage scheint dem Verfasser die vergleichende Verhaltenslehre zu bieten. Diese begreift die naturwissenschaftlich erfaßbare Basis des Menschen als kausalmechanische Regelstruktur, als ein Gefüge von Strukturelementen und Teilstrukturen. Die Gesamtstruktur ist im Spiel von Mutationsexperimenten der Natur und Selektion so zustandegekommen, wie wir sie heute beim rezenten Menschen beobachten können. Diese Beobachtungen über das Verhalten des rezenten Menschen können wir aber nicht etwa der Psychologie entnehmen, wir dürfen sie auch nicht durch Konstruktionen ersetzen. Wir finden sie vielmehr nur in der Sozialhistorie, welche sechs Jahrtausende mit hinreichender Sicherheit überschauen kann. Biologische Verhaltensbeobachtung geht notwendigerweise von Ein':' zelbeobachtungen an solchen· Arten aus, welche sich der Forschung gewissermaßen aufdrängen. Wer mit diesen Zufallsdaten ein Gesamt...; bild menschlichen Verhaltens zeichnen will, wird Einseitigkeiten wie die derzeit vielbesprochene Aggressionstheorie nicht vermeiden können. Die Sozialhistorie betrachtet dagegen den Menschen als Einheit und Ganzheit, in welche sie die Summe der menschlichen Lebensäußerungeneinbezieht. Diese Gesamtheit,die wir einigermaßen kennen, ist biologisch zu erklären. Beide Betrachtungsweisen, sowohl die der naturwissenschaftlichen Verhaltensforschung als auch die der geisteswissenschaftlich-historischen .Empirie, sind klar zu unterscheiden und dann zu verbinden (Goethe).

VIII

Vorwort

Als eine wichtige Vorarbeit war die Gesellschaftslehre von Alfred Vierkandt (2. Aufl. 1928) zu nutzen. Dieser stützt den sozialpsychologischen Ansatz auf den Vergleich mit der Tierpsychologie. Verfasser ist von der Instinktlehre schon 1936 fasziniert worden. Er hat seitdem die Forschungen von Tinbergen, Lorenz, Remane, EiblEibesfeldt - um nur die wichtigsten zu nennen - ständig verfolgt. Konrad Rieger verdankt er die Einsicht, daß die Sexualität primär ein physiologisches Phänomen ist, Eduard Spranger die Anleitung, Sexus und Eros als verschiedene Triebrichtungen zu behandeln. Hauptquelle der Sozialhistorie ist die universale Rechtsgeschichte, deren Material zugleich den Grundstock für die Sozialethnologie bereitstellt (vgl. dazu Thurnwald, Die menschliche Gesellschaft, 5 Bde., ab 1930). Alle sozial relevanten Verhaltensweisen drängen zu rechtlicher Fixierung und Regelung. In die Universal-Rechtshistorie ist Verfasser von seinem Vater Ernst Mayer eingeführt worden, der ihn seit seinem sechzehnten Lebensjahr an seinen Forschungen teilnehmen ließ. Daneben kommen die älteren religionsgeschichtlichen Quellen, namentlich der sogenannten prophetischen Religionen in Betracht, welche die vordringlichen Lebensprobleme der Menschheit ins Auge fassen. Die moderne Verhaltensstruktur der Menschheit erfahren wir aus der erzählenden Literatur und Dichtung. Dabei kommt es weniger auf den künstlerischen Wert, als vielmehr auf die realistische Schilderung an. Wertvolle Einzelschilderungen bringt vielfach gerade die Trivialliteratur, vieles die volkstümliche, das Beste freilich die "klassische" Erzählung und Dichtung, welche Durchschnitt und Mitte der Wirklichkeit objektiv gestaltet. Dagegen befaßt sich die spätere psychologisierende Literatur mehr mit der Verarbeitung der tatsächlichen Lebensvorgänge, leider gerade auch mit strukturfremden Verhaltensweisen, welche eben nicht mehr beweisen, als daß die Verhaltensstruktur der Menschheit nicht fest gefügt ist. Stellt man so Natur und Historie gegenüber und sucht sie zu verbinden, so zeigt sich deutlich, daß der Mensch über seine natürliche Gesamtstruktur hinaus noch etwas anderes ist als eine Regelstruktur, nämlich Ganzheit, Entelechie, subjektiver Geist und Persönlichkeit. Aber diese Sphäre interessiert uns hier nur insoweit, als wir die Ansatzpunkte für eine finale Steuerung des basalen Regelsystems aufzuzeigen haben. Das Spiel, das nun zwischen Natur und Geist anhebt, steht außerhalb unserer Betrachtung. Immerhin ist hervorzuheben, daß der Mensch immer wieder versucht und auch vermocht hat, über die Dispositionen des Regelsystems hinauszugehen. Bei solchem Tun ist er der Selektion unterworfen. Es gibt Verhaltensweisen, welche der Selektion standhalten und solche, welche dies nicht tun.

Vorwort

IX

Bei aller Vorsicht kann man beispielsweise anmerken, daß Versuche zu einer permissiven Gesellschaft, zur Emanzipation des Weibes heute keineswegs zum ersten Mal gemacht werden. Bisher haben aber die betroffenen Populationen solche Experimente immer mit dem Leben bezahlt. Dieses Buch will nur einen eigenen Lösungsversuch in die wissenschaftliche Diskussion einführen. Literarische Auseinandersetzungen wären daher eine Vorwegnahme einer Antikritik. Eine solche darf aber doch nur auf die wirklich erhobenen Einwände antworten oder auch eingehen. In vielbewegter Zeit hat Verfasser auch als verantwortlich Handelnder mehrere Lebensbereiche durchwandert. Er hofft zwar nur vorläufige, aber doch nützliche Aussagen machen zu können, die nicht nur in der Studierstube ausgeklügelt sind. Kiel, 31. Oktober 1977

Hellmuth Mayer

Inhalt 1. Kapitel Aufgaben und Methode § 1. Die Aufgabe

1

§ 2. Methodische Vorbemerkungen....................................

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2. Kapi tel Der Mensch im Licht der vergleichenden VerhaItenslebre § 3. Das Verhalten der Lebewesen .................................... § 4. Die Sonderstellung des Menschen ................................ § 5. Der Aufbau des menschlichen Verhaltens ........................

19 40 58

3. Kap i tel Strukturgefüge des Sozialdranges § 6. Vom Kleinstamm zur Großgesellschaft ............................

68 75 § 8. Die Verhaltensordnung .......................................... 97 § 9. Die Einbindung des Einzelnen in die Sozietät .................... 108 § 10. Einbindung durch Zwang ........................................ 129 § 7. Die innere Struktur. .. ... . .. .. . .. . . ... .. . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

4. Kapitel Selbstbehauptungsdrang, Strukturgefüge und soziale Leistungen § 11. Die menschliche Individuation .................................... 133 § 12. Selbstbehauptung im Dasein und Wohlsein ........................ 142

§ 13. Selbstbehauptung der Individualität .............................. 153 § 14. Selbstbehauptung in Kooperation ................................ 157 § 15. Selbstbehauptung im intragentilen Widerstreit .................... 166

§ 16. Die Tötung ...................................................... 173

§ 17. Das Kampfverhalten

............................................ 181

XII

Inhalt 5. Kapi tel

Geschlechtliches und familiäres Verhalten § 18. Vorerörterungen

189 1. Abschnitt

Die Geschlechtlichkeit

!i 19. Die natürliche Geschlechtsgemeinschaft .......................... 199 § 20. Varianten und Fehlhaltungen .................................... 207 2. Abschnitt

Familiäres Verhalten § 21. Instinkte und Institutionen ...................................... 216 § 22. Eheliches Verhalten

218

§ 23. Elternverhalten .................................................. 226 § 24. Kindliches Verhalten und Kindererziehung ...................... 233 § 25. übertragungen

.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 236 6. Kapi tel

Ekstatisches und strukturfremdes Verhalten § 26. Individuation und Ekstase

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 240

§ 27. Die wichtigsten Fälle der Ekstase ................................ 244

§ 28. Strukturfremdes Verhalten

...................................... 251

Autoren und Symbolgestalten ........................................ 267 Sachregister .......................................................... 269

Das Buch sollte ursprünglich den Arbeitstitel als Buchtitel führen. Erst im Fortgang der Arbeit kam der Verfasser zur Gewißheit, daß der ursprüngliche Untertitel "Die gesellige Natur des Menschen" als Antwort auf die Sachfrage und damit als "Buchtitel" gerechtfertigt ist. Leider ist S. 2 unten nicht in diesem Sinn berichtigt worden.

Erstes Kapitel

Aufgabe und Arbeitsweise § 1. Die Aufgabe

I. Redliche Buchtitel wollen die Erwartungen des Lesers nüchtern auf das Thema vorbereiten und zugleich Mißverständnissen vorbeugen. Beides ist nicht leicht, wenn der Gegenstand im Brennpunkt rechtspolitischer Kämpfe steht.

1. Das Arbeitsvorhaben (Thema) könnte schlicht und einfach Kriminalanthropologie genannt werden, hätte nicht Lombroso vor etwa 100 Jahren diese Bezeichnung für eine einseitige Fragestellung festgelegt. Lombroso meinte in einer Zeit optimistischer Naturgläubigkeit und relativ stabiler Sozialverhältnisse, der gesunde Durchschnittsmensch neige von Natur aus kaum zu kriminellem Verhalten. Nur eine Minderzahl anthropologisch besonderartiger Außenseiter bestätige sich in dieser Richtung. Die Besonderheiten dieser Minderheit zu untersuchen sei also die Aufgabe der Kriminalanthropologie. Wer aber die Veränderungen miterlebt hat, welche die industrielle Revolution der Gesellschaft erzeugt hat, deren Folgen in der Zeit der Welt- und Bürgerkriege, der revolutionären Sozialbewegungen, der Vernichtung der kleinbürgerlichen Existenzen durch den Untergang der Geldstabilität, der ist sich schm~rzlich bewußt, daß es auch der Durchschnittsmensch reichlich schwer haben kann, ständig auf dem Pfad bürgerlicher Rechtschaffenheit zu wandeln. So einsichtig dies jedem Vernünftigen sein sollte, hat dennoch die Irrmeinung, kriminelle Anfälligkeit sei die soziale Ausnahme und könne daher als besondere Erscheinung untersucht werden, noch lange vorgehalten. Zwar glaubte man sehr bald nicht mehr an die einseitige anthropologische Erklärung Lombrosos. Die Kriminalätiologie huldigte ganz überwiegend der kombinierten Theorie, daß Anlage und Umwelt, genauer endogene und exogene Faktoren gleichermaßen zusammenwirken, wo Kriminalität zustande kommt. Aber die Frage, inwieweit und inwiefern kriminelles Verhalten durch die anthropologische Veranlagung der Menschheit als solcher bedingt sei, hat noch Franz Exner 1949 (Kriminologie 3. Auf!., S. 41) als unergiebig betrachtet. "Eine Erklärung dafür zu suchen, daß ein Volk Verbrechen und Verbrecher aufweist, wäre sinnlos. Ob wir nämlich hoch- oder tiefstehende Völkerschaften im Auge haben, ob wir auf Vergangenheit oder Gegenwart sehen, oder

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1. Kap.: Aufgabe und Arbeitsweise

einen Blick in die Zukunft versuchen, nie und nirgends finden wir ein Volk, dessen Lebensordnung nicht immer wieder von einzelnen Volksgenossen schuldhaft gestört würde. Das Verbrechen ist allem Anschein nach eine notwendige soziale Erscheinung, mit dem menschlichen Zusammenleben so selbstverständlich verbunden wie Krankheit und Tod mit dem Leben des einzelnen ... " "Wenn dem so ist, dann hat es keinen Sinn, nach einer "Erklärung" für die Kriminalität zu fragen, denn diese Frage könnte nur durch den Hinweis beantwortet werden, daß eben der Mensch kein vollkommenes Wesen und sein Staat kein Paradies sei." "Anders bei dem Verbrechen als Einzeltat im Leben des Menschen. Hier stehen wir nicht vor der Tatsache, daß dies eine Allgemeinerscheinung ist, die wegen der Beschaffenheit der menschlichen Natur bei jedem Menschen zutage treten müßte, vielmehr ist es jeweils nur eine größere oder kleinere Zahl von Personen, die sich verbrecherisch vergeht. Da nun drängt sich die Frage auf, warum gerade sie und nicht auch die anderen? Man kann das kurz so ausdrücken: die Tatsache, daß ein Volk Verbrechen aufweist, ist eine normale Erscheinung, nicht weiter erklärbar, aber auch nicht weiter erklärungsbedürftig; die Tatsache dagegen, daß ein bestimmter Einzelner ein Verbrechen begeht, ist etwas Abnormales, obgleich nicht immer erklärbar, so doch stets erklärungsbedürftig... Diese Sätze bleiben in ihrer Art bestehen. Die gegenwärtige überbetonung der Soziologie hat die anthropologische Frage praktisch nicht weiter gefördert.

Selbst wenn wirklich nur eine Minderzahl von Menschen kriminell anfällig wäre, müßte man untersuchen, wie sich die besondere anthropologische Verfassung dieser Minderheit zur allgemeinen sozialen Veranlagung der Menschen verhält. Diese Frage läßt sich aber nur beantworten, wenn man untersucht, wie denn überhaupt das normale Sozialleben der Menschen zustande kommt. Den Insektenstaat betrachtet der Naturforscher als ein Wunderwerk und widmet seine Anstrengungen den Triebkräften, welche diesen Bau bewirken. Auch das Sozialleben der Säugetiere wird von der Verhaltenslehre untersucht. Das Sozialleben der Menschen ist ein viel erstaunlicheres Wunderwerk als das Sozialleben etwa der Bienen. Die möglichen Fehlleistungen einschließlich der Kriminalität hängen doch irgendwie mit den aufbauenden Kräften und den diesen innewohnenden Grenzen zusammen. Die Beobachtung der sozialen Fehlleistungen könnte also Aufschlüsse über Natur und Grenzen der aufbauenden Kräfte liefern. Insofern könnte die kriminologische Sicht wertvolle Beiträge zur Sozialanthropologie beisteuern. Andererseits interessieren den Kriminologen an der Sozialanthropologie die Ansatzstellen für mögliche soziale, insbesondere kriminelle Konflikte. So ergibt sich der Arbeitstitel dieses Buches Sozialanthropologie aus der Sicht des Kriminologen. 2. In den Katastrophen der letzten Menschenalter hat die Menschheit den Glauben an sich selbst weitgehend eingebüßt. In der Gegenwart

§ 1.

Die Aufgabe

3

stößt sie vielleicht wirklich an ihre eigenen Grenzen, für die Zukunft fürchtet sie unabsehbare Gefahren aus neuen Techniken heraufsteigen. In dieser Situation wuchern einseitige Theorien, welche etwa in der überbetonung der Sexualität oder in der modernen Aggressionstheorie ihren Ausdruck finden. In solcher Lage ist der Leser ungeduldig, er will vorher wissen, welche vorläufigen Ergebnisse eine Untersuchung hat. Das will er aus einem Sachtitel erfahren. Unser Untertitel "Die gesellige Natur des Menschen" will Einseitigkeiten in ihre Schranken weisen. Anthropologie fragt zunächst nach der animalischen Grundstruktur des Säugetieres Mensch. Unsere erste These ist, daß der Mensch seine soziale Verhaltensstruktur als Glied einer Säugetierherde erworben hat, und daß diese Vormenschenherde die humane Lebensform des Kleinstammes erreicht hat. Genauere Betrachtung zeigt, daß das Leben im Kleinstamm bis in die jüngste Vergangenheit das alltägliche Sozialleben ausmachte, wenn auch die laute große Geschichte in weiteren Räumen und Zusammenhängen verlief. Aus diesem Herden- und Stammesdasein hat sich der Einzelmensch erst sekundär vermöge des subjektiven Geistes gelöst und so den verheißungsvollen und gefährlichen Weg zur geistigen Einzelpersönlichkeit beschritten. Die totalitären Gegenbewegungen versuchen aus Mißtrauen oder Menschenverachtung diesen Weg abzuschneiden. Wenn Aristoteles den Menschen ein zoon politikon nennt, so denkt er dabei weniger an basale (auf das animal bezogene) Anthropologie, sondern er hebt hervor, daß der Mensch gerade auch vermöge seines Geistes mit allen anderen Menschen verbunden sei. Die gesellige Natur des Menschen entbindet diesen nicht von schweren Konflikten. Die besondere Last der chronischen Sexualität kann das geordnete Sozialleben zerstören. Mit dem Stammesleben ist intraspezifischer Kampf unvermeidlich verbunden. Aber es gelang doch dem Menschen bisher diese schweren Belastungen sogar fruchtbar zu nutzen. Daher liefert die Anthropologie kein Argument dafür, daß der Mensch nicht auch in Zukunft seiner Aufgabe gewachsen sein könne. Freilich bleibt die Frage offen, ob diese Zukunft ihn nicht vor allzu schwierige Probleme stellt. Diese Frage ist ernst. II. Die Aufgabe der Kriminologie muß für unsere Zwecke umfassender gesehen werden als dies in Europa gewöhnlich geschieht. Kriminologie ist die Wissenschaft von der Steuerung des sozialen Geschehens durch die Strafrechtspflege und ergänzende soziale Sanktionssysteme. Die anthropologische Frage lautet also gerade auch, inwieweit und inwiefern die natürliche Struktur des Menschen mit exogenen Mitteln gesteuert werden kann.

4

1.

Kap.: Aufgabe und Arbeitsweise

Die obige Definition der Kriminologie bezeichnet ein vielverschlungenes Geschehen. Darin ist der erste Akt die Setzung von sanktions bewehrten Verhaltensnormen durch die Rechtsgemeinschaft, der zweite Akt ist die wirkliche oder auch nur mögliche Normverletzung, dritter und vierter Akt sind Einrichtung und Handhabung der Sanktionsordnungen. Die Anthropologie hat u. a. also auch zu prüfen, inwieweit und in welcher Weise der Mensch exogener sogar planender Steuerung zugänglich ist. Ähnlich wie wir definiert Sutherland: "Criminology is the body of knowledge regarding the crime as a social phenomenon. It includes within its scope the processes of making laws, of breaking laws and of reacting towards the breaking of laws." (Hier nach Sutherland/Cressey, Principles of Criminology, 6. Auf!., Chicago 1960, S. 3.) Unsere Definition greift noch etwas weiter, kann aber auch nicht alle zugehörigen Betrachtungsweisen einbeziehen. Definitio semper est periculosa. Die europäische, insbesondere die deutsche Wissenschaft meint den zweiten Akt dieses Komplexes, nämlich die Normverletzung aus dem Zusammenhang des sozialen Steuerungsgeschehens herauslösen und gesondert betrachten zu können. Diese ein Teilphänomen isolierende Kriminologie wird dann als Grundwissenschaft der angewandten Wissenschaft der Kriminalpolitik gegenübergestellt. Diese isolierende Betrachtungsweise scheitert - von anderen Mängeln abgesehen - aus drei Gründen: a) Es gibt kein empirisches Phänomen "crimen", welches vor und außerhalb der Steuerungsvorgänge läge. Zwar gibt es soziale Vorgänge, welche Kontrolle und Steuerung durch die Gesellschaft nahelegen und schließlich zur Einrichtung des Strafrechtssystems führen. Aber die Strafrechtsnorm ist logisch immer früher als das crimen, der Strafrichter (die Strafrechtsnorm) immer früher als der Straftäter. Bevor es den Strafrichter gibt, gibt es nur soziale Vorgänge, die als Störungen empfunden werden können, nicht müssen. Wer als Kriminologe nicht mit heiden Füßen auf dem Boden des positiven Rechts in seinen wechselnden historischen Gestaltungen steht, verliert jeden Boden unter den Füßen. b) Die sozialen Steuerungsvorgänge dürfen nicht als bloße Reaktion auf vorgefallene Fehlleistungen aufgefaßt werden. Sie gestalten vielmehr positiv die soziale Ordnung. Das crimen ist Reaktion auf diesen Gestaltungswillen. c) Die strafrechtlichen und ergänzenden Steuerungssysteme sind integrierender Bestandteil der normalen Vergesellungsvorgänge. Wie bereits gesagt, ist das Zusammenleben der Menschen ein weit erstaunlicheres Wunderwerk als das Zusammenleben von Insekten in Insektenstaaten. Ohne soziale Steuerung hätte der Mensch dies Werk nie-

§ 1. Die Aufgabe

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mals vollbracht. Soziales Wohlverhalten der einzelnen darf also nicht als naturhaft-selbstverständlich vorausgesetzt werden. Zu a) Man hat natürlich früh erkannt, daß "was nicht sein soll", das crimen zu allen Zeiten juristisch-positiv festgelegt war und ist, also rechtsgeschichtlich variiert. Garofalo hat deshalb den Hilfsbegriff des natürlichen Verbrechens erfunden. Er meinte, es ließe sich ein Grundbestand von strafbaren Handlungen erkennen, der für alle Zeiten und Zonen gültig sei und daher als empirisches vorjuristisches Phänomen betrachtet werden könne. Er denkt z. B. an Mord und Diebstahl. Aber die meisten heute vorfallenden Morde wären im archaischen Sippenkleinstaat von der Volksgemeinde nicht verboten gewesen. Diebstahl innerhalb des Stammes ist in archaischen Zeiten äußerst selten und löst dann, wenn er doch vorfällt, harte Reaktionen aus. Die Spätantike verzichtete umgekehrt in der Regel auf öffentliche Verfolgung des einfachen Diebstahls und gab dem Verletzten eine qualifizierte Zivilklage. Das Delikt des furtum war also damals kein crimen. So ist auch heute die Frage erlaubt, ob nicht die öffentliche Strafverfolgung des einfachen Diebstahls durch eine handgerechte Schadensersatzklage abgelöst werden könnte. Bei vielen Sittlichkeitsverbrechen ist heute die Strafwürdigkeit zweifelhaft geworden. Es bleibt also vom natürlichen Verbrechen sehr wenig übrig. Zieht man sich auf den rein soziologischen Begriff der qualifizierten sozialen Fehlleistung zurück, welche Strafwürdigkeit nahelegt, so wird sich kaum eine übereinkunft darüber finden lassen, wo denn die Grenzen dieses Begriffs zu ziehen wären. Wir geraten dabei in den Streit der sozialpolitischen Meinungen. Auch fehlt dem als vorjuristisch gedachten Phänomen crimen die psychologische oder soziologische Einheitlichkeit. über so verschiedenartige Vorgänge wie Tötung, Diebstahl, Betrug, Wirtschaftsdelikte, Urkundenfälschung, Meineid, Widerstand gegen die Staatsgewalt, politische Kriminalität, Sexualdelikte, läßt sich positiv nichts Gemeinsames aussagen. Es bleibt nur die negative Feststellung übrig, daß alle diese Handlungen von der Rechtsgemeinschaft mißbilligt und daher mit Strafe belegt werden. Zu b) Langfristige historische Betrachtung zeigt überdeutlich, daß die Steuerung des Soziallebens durch Strafrechtspflege und ergänzende Maßnahmen nicht bloße Reaktion, sondern schöpferische Tat ist, die freilich überwiegend durch störende Fakten ausgelöst wird. Die großen Befriedungsaktionen seit der Gründung der Großreiche in Antike und Abendland, insbesondere die europäischen Landfriedensbewegungen mit dem Einsatz der im Gesamtreich geltenden Sanktionsmacht (Oberacht) haben die Welt verändert. Gänzlich unberührt vom modernen Gerede werden heute trotz Lombroso und Ferri immer neue Strafsatzungen eingeführt, um den einzelnen den Lebensbedingungen einer sich verändernden, neu geplanten Welt anzupassen. Im modernen demokratischen Staat herrscht sogar ein überraschendes Vertrauen auf die Wirksamkeit von Strafdrohungen, wie die ständige Inflation der Strafrechtsatzungen beweist. Zu c) Hat sich der Kriminologe erst einmal von den Simplifikationen der sog. modernen Schule freigemacht, so sieht er, wie das Wunderwerk des normalen

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1.

Kap.: Aufgabe und Arbeitsweise

menschlichen Soziallebens zustande kommt. Er muß aufzeigen, inwieweit Störungen und soziale Fehlleistungen in der allgemeinen Sozialveranlagung des Menschen wurzeln, erst in zweiter Linie, welche anthropologischen Besonderheiten der Straftäter aufweist. Dabei muß er sein Augenmerk auch darauf richten, inwieweit der Einzelmensch in seinem sozialen Verhalten auf Außensteuerung angewiesen ist. III. In seinen bisherigen Arbeiten hat der Verfasser sich darauf beschränken müssen, die Folgerungen aus dem seinerzeitigen Stand der Anthropologie und der vergleichenden Verhaltenslehre zu ziehen. Aber die damals gängigen Formulierungen, der Mensch sei das nicht festgestellte Tier, ein Instinktmangelwesen, eine allen Inhalten offene Struktur, reichen nicht mehr aus. Zwar bleibt es richtig, daß der Mensch durch Instinktzwänge nicht behindert ist, sich den Lebensverhältnissen aller Zeiten und Zonen anzupassen. Dies beweist zwingend die außerordentliche Variabilität der sozialen Verhaltensweisen und Lebensformen, wie sie durch Ethnologie und Geschichte bezeugt wird. Verfasser hat aber schon früher auf die Einseitigkeit dieser Lehre hingewiesen. Die Menschheit verwirklicht in ihrem Sozialverhalten doch offenbar gewisse Tendenzen, welche die einzelnen Völker berücksichtigen müssen, wollen sie sich im Lebenskampf behaupten. Die neuere Verhaltensforschung legt großen Wert darauf, daß man im vitalen menschlichen Bereich ziemlich fest ausgeformte Instinkte finden kann wie etwa den Suchreflex der Säuglinge, etwa auch die Äußerungsformen, z. B. das Lächeln. Für uns ist wichtiger, daß auch im höheren Verhaltensbereich vieles dem Menschen von Natur nahegelegt erscheint, andere Wege ihm erschwert oder geradezu versperrt sind. Eine völlig offene Struktur ist der Mensch keinesfalls, er besitzt vielmehr eine halbfertige Instinktstruktur, welche zwar große, aber doch nicht jede Freiheit zuläßt. Schon 1962 hat Verfasser eine Inventur der einschlägigen Strukturelemente gefordert, aber beim derzeitigen Stand unseres Wissens nicht für möglich gehalten. Das pragmatische Bedürfnis der Kriminologie zwingt aber zum Wagnis. Mit der Möglichkeit eines solchen Wagnisses hat sich der Verfasser viele Jahre beschäftigt. Ausgangspunkt einer solchen Untersuchung muß eine basale Anthropologie im engeren Sinne sein. Sie muß jedoch bis zur allgemeinen Soziologie fortgeführt werden. Ob der Gesamtzusammenhang der Naturwissenschaft oder Geisteswissenschaft zugehört, ist eine wissenschaftstheoretische Frage, welche hier auf sich beruhen mag. Jedenfalls müssen wir zunächst allgemeine Aussagen über den Menschen und die Möglichkeiten menschlichen Zusammenlebens gewinnen. Bezüglich der Naturwissenschaft im engeren Sinn scheinen einige allgemeine Hinweise angezeigt. Die Sozialanthropologie muß auch die allgemeine Biologie zu Rate ziehen. Wir verweisen nur beispielsweise

§ 2. Methodische Vorbemerkungen

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auf einzelne Grundfragen. Wie verhält sich überhaupt die lebendige Struktur gegenüber Außenreizen? Die alte Vorstellung der Entelechie ist nicht mehr verwendbar. Die Lehre vom Reizautomatismus genügt als Erklärung aber offensichtlich nicht. Welche Reichweite kommt der Selektionstheorie für die Entstehung der lebendigen Formen und ihrer Lebensäußerungen zu? Wie verhalten sich ungeschlechtliches Leben und ungeschlechtliche Vermehrung zur geschlechtlichen Fortpflanzung? Das Verhalten des Menschen ist zunächst abhängig von anatomischen und psysiologischen Gegebenheiten, insbesondere von seinem neuralen Apparat. Als Naturwesen ist der Mensch ein Säugetier. Die menschliche Verhaltenslehre muß im Rahmen der vergleichenden Verhaltenslehre gesehen werden. Allerdings hat der Mensch die grundlegende Besonderheit, daß sein soziales Verhalten ohne introspektive Betrachtung nicht einmal zu beschreiben geschweige denn zu erklären ist. Der Mensch ist ein bewußtes Wesen. Sozial-relevante Verhaltensweisen kommen nur zustande, wenn die Antriebe im Bewußtsein verarbeitet wurden, mindestens aber dasselbe passiert haben, wobei wir vom Fall nur möglicher bewußter Beherrschung (Fahrlässigkeit) zunächst absehen. Soweit ein Antrieb sich unmittelbar durchsetzt, ohne daß er das Bewußtsein passiert hätte, fehlt es nach dem Recht aller zivilisierten Völker an einer zurechenbaren Handlung. Sieht man genauer zu, so gilt das auch für die Primitivkulturen. Wir müssen also die meisten sozialen Handlungen und Sachverhalte zugleich von außen im Sinne des bloßen Behaviourismus und von innen betrachten. Sozialanthropologie ist ohne Sozialpsychologie nicht möglich. IV. Erst wenn wir die Frage der allgemeinen sozialen anthropologischen Verfassung des Menschen geklärt haben, läßt sich die weitere Frage beantworten, was anthropologisch zur Summe der einzelnen tatsächlich vorgefallenen kriminellen Handlungen und zu ihren Tätern zu sagen ist, ob im Sinne der Anlagetheorie die Täter als besonders geartet oder als krank anzusehen sind. Erst an dieser Stelle tritt gerade auch die Psychiatrie und Psychopathologie in ihr Recht. § 2. Methodische Vorbemerkungen 1. Die kriminologisch orientierte Sozialanthropologie behandelt Teilfragen aus der allgemeineren Frage nach der Natur des Menschen. Je-

dermann weiß, daß auch in der Anthropologie die Lehrmeinungen vielfach weit auseinandergehen. Der Kriminologe darf sich keiner dieser Lehrmeinungen einfach anschließen, gerade dann nicht, wenn ihm für

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1. Kap.: Aufgabe und Arbeitsweise

die Lösung seiner Probleme eine bestimmte Lehrmeinung besonders hilfreich erscheint. Er muß vielmehr auf seinem Teilgebiet in Erhebung und Ordnung der Sachverhalte selbständig verfahren, er muß alle anderweit erzielten anthropologischen Aussagen zunächst als problematisch behandeln, denn sie könnten durch seine Teilforschung in Frage gestellt werden. Nur so kann er sein Sachgebiet unvoreingenommen bearbeiten und zugleich einen vielleicht nützlichen Beitrag zur allgemein anthropologischen Forschung leisten. Dabei entstehen gewisse sprachliche Schwierigkeiten. Es bleibt uns nicht erspart, die allgemeinen herkömmlichen Ordnungsbegriffe vorläufig zu benutzen, sowohl solche, die aus uralter Selbsterfahrung der Menschheit stammen wie das Gegensatzpaar Leib und Seele, als auch solche, die in der neueren wissenschaftlichen Sprache heimisch geworden sind, etwa die Rede vom Schichtenaufbau der menschlichen Persönlichkeit oder die Rede vom bewußten und unbewußten Seelenleben. Man kann z. B. die Behauptung, die geschlechtliche Scham gehöre zum Urbesitz menschlichen Seelenlebens, heute kaum anders gemeinverständlich ausdrücken, als indem man sagt, sie wurzele in biologischen Tiefenschichten. Natürlich ist eine solche Aussage entwicklungsgeschichtlich problematisch, aber sie weist doch die Scham in den Bereich der naturhaften Triebe oder Triebhemmungen, welche dann freilich kulturell ausgeformt werden können. Mit dem Satz, ein Antrieb wurzele in biologischen Tiefenschichten, soll dann nicht behauptet werden, daß man wirklich "Schichten" der Persönlichkeit unterscheiden könne. Solche allgemein eingeführten Unterscheidungen müssen wir als Verständigungsmittel benutzen, wollen wir nicht eine ganz neue Terminologie schaffen. Man muß sich aber der Vorläufigkeit solcher Ausdrucksweisen bewußt bleiben. 11. Wir gehen von der Doppelnatur des Menschen aus, der zugleich als Tier und als menschliche Persönlichkeit beschrieben werden muß. Die

philosophische Frage wie er beides zugleich sein kann, haben wir als Kriminologen nicht zu beantworten.

1. Als Tier ist der Mensch durch seine Leiblichkeit ausgewiesen. Auch sein neurales System erweist ihn trotz aller seiner Sonderheiten als Glied in der Säugetierreihe. Wir gehen daher von der Arbeitshypothese aus, daß die vitale Grundstruktur des Menschen zunächst mit den Mitteln der Naturwissenschaft zu untersuchen ist, genauer daß der Kriminologe auf die Hilfe der modernen Verhaltensforschung angewiesen ist, denn kriminelle Betätigung ist eben Verhalten. Beim Tier sind wir nahezu ausschließlich auf die Beobachtung des äußeren Verhaltens angewiesen. Über subjektive Erlebnisse des Tieres können wir bestenfalls Vermutungen anstellen. Die neuere Verhaltensforschung hat für Beobachtung und Kausalanalyse des Verhaltens ein reiches Instrumentarium entwickelt, welches gestattet, die Instinktstruktur der Tiere befriedigend zu erklären. Den Menschen kennen wir auch von innen her aus den verstehbaren Inhalten, Akten und Strebungen seines bewußten Seelenlebens. Wir können uns aber nicht verhehlen, daß alle unsere Antriebe eine tiefere Wurzel in unserer vitalen Grundstruktur haben müssen. Von dieser Grundstruktur erfahren wir leider in unserem Bewußtsein so gut wie nichts. Wir müssen also

§ 2. Methodische Vorbemerkungen

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insoweit auch den Menschen zum Gegenstand der vergleichenden Verhaltensforschung machen. Wir können dies freilich nur, wenn wir die Vermutung wagen dürfen, daß die vitale Grundstruktur des Menschen auch nach der Homination im Kern erhalten geblieben ist, wenn sie auch in gewissem Maß verändert worden sein mag. Sie wäre dann soweit erhalten geblieben, daß die menschliche Struktur mit der tierischen verglichen werden kann, daß die eine aus der anderen gedeutet werden kann.

2. Persönlichkeit ist der Mensch als subjektiver Geist, welcher durch die Leiblichkeit bedingt ist, diese aber zugleich in seinen Dienst stellt. Die Äußerungen des subjektiven Geistes reichen von den Anfängen halbbewußten Erlebens, also von den Empfindungen bis zu den höchsten geistigen Leistungen der Phantasie, des begrifflichen und produktiven Denkens, des bewußten verantwortlichen Willens, bis zum Gewissen und zur Selbstgestaltung der Persönlichkeit. Die Annahme sub. 1, daß der Mensch als Tier in der Tierreihe zu beschreiben sei, wird heute kaum bestritten. Die weitere Annahme, daß der Mensch "subjektiven Geist" hat, vielleicht sogar wesentlich subjektiver Geist ist, findet nicht ohne weiteres Glauben. Unsere Annahme, dient uns daher auch nur als Arbeitshypothese in doppelter Bedeutung. a) Die empirische Wirklichkeit des subjektiven Geistes, das Spiel der Gefühle und Empfindungen, der erlebten Antriebe und Handlungstendenzen läßt sich schlechterdings nicht von außen, sondern nur von innen, also introspektiv und analogisch verstehend erfahren. Das gewonnene Material ist zwar nicht so exakt greifbar wie naturwissenschaftliche Beobachtungen, aber es ist dennoch hinreichend wißbar und genügt durchaus soliden wissenschaftlichen Ansprüchen. b) Wir gehen ferner von der unleugbaren Tatsache aus, daß der Mensch als Persönlichkeit auch in allen Primitivkulturen für sein Verhalten verantwortlich gemacht wird und sich selbst verantwortlich fühlt. Die einschlägigen Beobachtungen sind für unser Gebiet besonders wichtig. Die Anerkennung der Verantwortlichkeit der Person enthält für die Naturwissenschaft als solche immer die harte Zumutung, ein anderes Reich als das ihre anzuerkennen. Dennoch sollte man nicht leugnen, daß unser ganzes menschliches Zusammenleben, nicht nur etwa die Strafrechtspflege auf der Voraussetzung beruht, daß der einzelne Mensch sowohl für seine Innerlichkeit, also sein Denken und Fühlen, als auch für seine äußeren Taten, ja für sein ganzes So-Sein verantwortlich ist. Daran wird sich voraussichtlich nichts ändern, solange die Menschen Menschen sind. Crimina begeht der Mensch immer nur in seiner geist-leiblichen Doppelnatur. Soweit sich im Menschen das bloße Naturwesen durchsetzt, ist er rechtlich nicht verantwortlich (vgl. § 21 StGB, früher §§ 51 StGB und § 3 JugGG). Einseitiges naturwissenschaftliches Denken will daher die Unterscheidung zwischen zurechenbarem und unzurechenbarem Tun, zwischen Unrecht und Unglück aus der Welt schaffen. In den Staaten des Ostblocks, insbesondere in der Sowjetrepublik, hat man dies auch ernstlich versucht, ist aber

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1. Kap.: Aufgabe und:Arbeitsweise

sehr bald wieder auf die alte strafrechtliche Verantwortlichkeit zurückgekommen, weil es eben praktisch gar nicht anders geht.

Es soll schon hier dem Mißverständnis entgegengetreten werden, als wollten wir das crimen allgemein aus der sinnlichen Natur des Menschen erklären, welche vom Geist nicht hinreichend beherrscht werde. Vielleicht lassen sich manche Leidenschaftstaten, auch manche Sexual..., delikte auf diese Formel bringen. Wichtiger bleibt aber der Widerspruch im Bereich des geistigen Lebens, zwischen dem bewußten kriminellen Wollen und den Anforderungen der Norm. 3. Indem wir von der Doppelnatur des Menschen ausgehen, lassen wir die Frage der psychophysischen Beziehungen ob sie als Wechselwirkung, als Zusammenspiel oder als bloßer Parallelismus zu begreifen sind, unbeantwortet. Wir können so unbefangen und theoriefrei sowohl das äußere Verhalten beobachten als auch die geistig introspektiv beobachteten und wißbaren Phänomene aufnehmen und einordnen. Wir entnehmen diese Phänomene in erster Linie einerseits der Verhaltenslehre, andererseits der Sozialpsychologie. Historisches Material liefert uns vor allem die vergleichende Universalrechtsgeschichte. Die ältesten Reflexionen unseres europäischen Kulturkreises über soziales Verhalten und soziale Veranlagung finden wir in der Bibel. Es ist nämlich die Besonderheit der biblischen Religionen, d. h. der jüdischen, christlichen und der islamischen Religion (Koran), daß sie als ethischprophetische Systeme das Verhältnis des Menschen zu Gott mit dem sozialen Verhältnis der Menschen untereinander zusammensehen. In diesen Urkunden ist ein uralter Erfahrungsschatz der Menschheit über die Grundlagen des Soziallebens aufbewahrt, der sonst nirgends in der Welt sich findet. Diesen Erfahrungsschatz nicht zu nutzen, weil aufklärerisches Ressentiment sich dagegen sträubt, wäre überaus töricht. Wir werden in dieser Untersuchung auch die eigene Selbstbeobachtung heranziehen. Sie liefert jedem von uns das erste Anschauungsmaterial. Daher ist es ein Gebot intellektueller Redlichkeit, die Abhängigkeit aller psychologischen Aussagen vom eigenen Erleben sichtbar zu machen. Da der Verfasser 1895 geboren ist, hat er mit seinen Altersgenossen das seiner Zeit allgemeine, historisch aber höchst ungewöhnliche Schicksal gemein, die beiden größten Kriege der bisherigen Geschichte als "gebildeter" (Goethe) Soldat mitgemacht zu haben. Der Krieg ist eines der lehrreichsten Experimente der Menschheit mit sich selbst. Dies sollte auch der entschiedenste Pazifist zugestehen. Man kann z. B. über die verbreiteten Aggressionstheorien nicht mitreden, wenn man nicht die persönlichen Erfahrungen des Kriegers verwerten kann, Erfahrungen, die auch viele andere Lebensbereiche in wichtigen Beziehungen erhellen.

§ 2. Methodische Vorbemerkungen

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IH. Andere Betrachtungsweisen 1. Der einseitige Behaviourismus will mit einer einzigen Beobachtungsreihe, nämlich der Beobachtung des äußeren Verhaltens als solchen auskommen. Er behauptet jede introspektive Betrachtung ausschließen zu können. Auf diese Weise ist aber an die Probleme der Normsetzung (Law-making), der Normübertretung (Law-breaking) und der Normsanktion gar nicht heranzukommen. Auch die moderne vergleichende Verhaltenslehre verzichtet keineswegs auf introspektive Beobachtung. 2. Die Lehre vom unbewußten Seelenleben will die beiden Beobachtungsreihen leibliches und geistiges Geschehen durch ein drittes, das sog. Unbewußte zusammenschließen. Dann wäre das sog. Unbewußte die Mitte menschlichen Verhaltens. Dieses Unbewußte ist jedoch nur eine Erklärung oder etwas aus angeblichen Beobachtungen Erschlossenes. Der wichtigste Vertreter der Lehre vom unbewußten Seelenleben Siegmund Freud ließ sich von den irrationalen Strömungen seiner Zeit tragen, war auch noch durch zeitgebundene Denkschwierigkeiten belastet. Die damalige empirische Psychologie war eine einseitige Bewußtseinspsychologie und verengte dadurch den Beobachtungsbereich auf die Vorgänge des aufmerksamen Denkens. Andererseits hatte man noch recht mangelhafte Vorstellungen von den Steuerungsmöglichkeiten des Organismus. So benötigte Freud ein Zwischenglied, um psychosomatische Zusammenhänge zu erklären und darauf seine Psychotherapie aufzubauen. Das Neue an Freuds Lehre war dabei nicht, daß der Mensch weithin durch Antriebe bestimmt werde, deren er sich selbst nicht bewußt ist. Man hat vielmehr immer gelehrt, daß der Mensch weithin durch Instinkte und Triebe gelenkt werde. Neu war vielmehr nur, daß Freud dieses Unbewußte als "unbewußtes Seelenleben", sogar als "unbewußte Intelligenz" deutete und so unterhalb des Geistes Finalitäten auffinden wollte. Nun hat aber die Erkenntnis der psychologischen Empirie seit Freuds Zeiten außerordentliche Fortschritte gemacht. Die moderne Genetik hat uns gezeigt, daß die organische Struktur Informationen aufnehmen, bewahren und weiterleiten kann und sich selbst kausal steuern kann. Die moderne Kybernetik hat diese Denkmöglichkeit einer solchen sich selbst steuernden mechanischen Regelstruktur einsichtig gemacht. Die "Intelligenzleistungen" eines Computers sind ganz erstaunlich groß. Aber niemand sieht die Ursache dieser Computerleistung in einem unbewußten Seelenleben des Computers. Bedenkt man diese Sachverhalte, so macht es auch keine grundsätzlichen Denkschwierigkeiten anzunehmen, daß die organische Struktur durch Umwelteinflüsse Veränderungen erfahren kann. Ist man sich entgegen der älteren rationalistischen Psychologie darüber klar, daß zum subjektiven Geist auch der erwachende Geist und nicht nur das bestimmt, aufmerksam, aktualisiert Gefühlte, Gewußte, Gewollte, gehört, so besteht keinerlei Bedürfnis nach einem Zwischenreich zwischen geistigem und organischem Leben, so problematisch die Beziehungen dieser Bereiche auch bleiben. Der Hilfsbegriff des "Unbewußten" hilft uns nicht, diese Probleme zu lösen. Nur wenn wir sowohl äußere Beobachtungen als auch introspektive Erfahrung auf die Doppelnatur des Menschen beziehen, gewinnen wir wissen-

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1. Kap.: Aufgabe und Arbeitsweise

schaftliche Sicherheit. über das "Unbewußte" können wir nichts wissen, wir könnten es nur erschließen und darüber spekulieren. Diese Spekulationen sind überaus gefährlich. Freuds Lehre vom Todestrieb samt ihrem Nebenprodukt der allgemeinen Aggressionslehre haben den Blick von der empirischen Beobachtung auf fragwürdige Erklärungen abgelenkt. Freud postulierte einen Destruktionstrieb als Trieb des organischen Lebens, sich wieder in Anorganisches aufzulösen. Nun sterben die mehrzelligen Organismen in der Tat ab, aber nicht weil sie einem Destruktionstrieb folgen, sondern aufgrund des simplen Sachverhaltes, daß der Organismus nicht vollkommener ist als die mechanische Regelstruktur. Es gibt keine Regelstruktur, welche den Verschleiß der Substanz auf die Dauer ausgleichen kann. Daher wird jede Maschine allmählich unbrauchbar, jeder Organismus, auch der Mensch erleidet den Tod. Mit einem Trieb zum Tode hat das aber nichts zu tun, der Tod wird erlitten. Allerdings bleibt der Tod ein philosophisch religiöses Problem. Durch die seltsame Annahme, der Mensch besitze einen Todestrieb, wird aber auch das philosophische Problem nicht gelöst.

Inwieweit einzelne Erkenntnisse, welche mit Hilfe der Hilfskonstruktion erzielt worden sind, von Bestand bleiben, ist eine ganz andere Frage. Dies

gilt namentlich für die Sexuallehre Freuds, welche seinen Thesen eine so außerordentliche massenpsychologische Durchschlagskraft verschafft hat. Therapeutische Erfolge, auf welche sich die Psychoanalyse zu berufen pflegt, genügen als naturwissenschaftliche Beweise nicht. Viele Jahrhunderte lang hat die ärztliche Kunst mit den falschen Hilfsvorstellungen der Humoralpathologie erfolgreiche Therapie betrieben. IV. Wir begnügen uns in unseren nachfolgenden Untersuchungen mit einer Inventur der einzelnen sozial bedeutsamen Strukturelemente und Teilstrukturen des Menschen. Wir gehen also von der Hypothese aus, daß sich solche einzelnen Teilstrukturen und Strukturelemente unterscheiden lassen. Gegen unser Unternehmen könnte eingewandt werden, daß der Mensch in dem Grade eine Ganzheit darstelle, daß jede Analyse und Unterscheidung von Strukturelementen willkürlich sei. Dieser Einwand kann endgültig nur durch den Erfolg des Unternehmens widerlegt werden. Indem wir eine Inventur anstreben, verzichten wir auf den Ehrgeiz, ein sogenanntes "Menschenbild" zu entwerfen. Ein solches Unterfangen bleibt der Philosophie nicht erspart, ist aber gerade dem Kriminologen nicht aufgebürdet. Er darf und soll in den Niederungen der Empirie, d. h. der Summe der einzelnen tatsächlichen Feststellungen bleiben und kann froh sein, wenn er dabei leidlich zuverlässige Ergebnisse vorweisen kann. Diese dürften allerdings sowohl für die allgemeine Anthropologie wie für die Philosophie nicht ohne Interesse sein.

1. Inventur der Strukturelemente und Ganzheit Der Mensch kann insofern in einem sehr vorläufigen Sinn als Ganzheit bezeichnet werden, als bei ihm, vermöge durchgehender Wechselwirkungen, alles mit allem zusammenhängt, und sich daher auch bis zu einem gewissen Grade wechselseitig beeinflußt. Dennoch lassen sich die verschiedenen Strebungen und Verhaltensweisen recht deutlich herausarbeiten, wie dies Alfred

§ 2. Methodische Vorbemerkungen

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Vierkandt in seiner Gesellschaftslehre erfolgreich dargetan hat. In einer Inventur der Elemente ist dann schließlich nur das geistige Selbst der entscheidende Koordinationsfaktor. Nur dieser schließt die Strebungen und Kräfte zu einer gewissen Einheit zusammen, die aber doch wesentliche Lükken zeigt. Schließlich lebt jeder Mensch mit seinem Widerspruch. Gehlen, der hier für viele andere stehen kann, lehnt eine "Trieblehre" und damit auch eine Unterscheidung von Strukturelementen ab, da die Setzungen aller Trieblehren willkürlich seien. So habe man nacheinander den Egoismus, den Machttrieb, den Geschlechtstrieb und so fort für das "eigentliche" des Menschen erklärt. MacDougall habe auf der anderen Seite 18 Grundtriebe anerkannt, andere amerikanische Autoren seien auf viele Hunderte von "activities" gekommen, die dann alle als Instinkte gelten sollten. Der Mensch sei aber ein "Ganzes" und entwickele jeweils als Ganzer verschiedene Eigenschaften, die sich in zeitlicher Folge ablösen. Dazu ist folgendes zu sagen: Der Begriff des "Ganzen", der "Ganzheit" besagt nicht mehr, als daß ein Gegenstand, z. B. ein Organismus logisch vor seinen Gliedern da ist. Denn man kann von einem Glied, etwa einem Bein, eigentlich nur reden, wenn man es als Teil des lebenden Organismus denkt. Mit der Herauslösung eines Gliedes aus seinem Verbund verliert es seine eigentliche Qualität, ebenso wie das Ganze nicht mehr da ist, wenn man es seiner wesentlichen Glieder beraubt. In diesem Sinn können aber auch Artefakte als Ganzheiten betrachtet werden. Ein Tischbein wird zu einem bloßen Knüppel, wenn es bei einer Wirtshausrauferei abgebrochen wird, um damit zuzuschlagen. Der Tisch ohne Beine ist eine bloße Platte. Der Begriff der Ganzheit leistet also nicht so viel wie meist angenommen wird. Gehlen meint mit Ganzheit in Wahrheit die Entelechie, also die innere spontane Einheit des Lebewesens, das sich selbst erhält, sich selbst bis zu einem gewissen Grade regeneriert und seine Kräfte von einem Zentrum aus ordnet und einsetzt. Inwieweit der Organismus aber naturwissenschaftlich als Entelechie bezeichnet werden kann, ist höchst fragwürdig. Denn bisher sind alle vitalistisch finalistischen Versuche gescheitert, wie das Kant vorausgesagt hat. Das mechanisch kausale Denkmodell hat sich immer wieder durchgesetzt, z. B. in der Darwinschen Selektionstheorie. Sicherlich versteht der Mensch sich in seinem Bewußtsein als Entelechie, aber das bedeutet doch nicht mehr als den Versuch, im Bewußtsein eine Vielheit von Gegebenheiten zu integrieren. Entelechie stiftet Einheit in der Vielheit und setzt also eine vorausgehende Vielheit von Strukturelementen geradezu voraus. Berechtigt bleibt Gehlens Warnung vor der Willkürlichkeit der Setzungen. In der Tat können nur Willkürlichkeiten herauskommen, wenn man die Fülle der Strukturelemente auf einen oder mehrere Grundtriebe zurückführen will. Alle diese Ableitungen lassen sich nicht verifizieren, wie an den verschiedenen Schulen der Psychoanalyse deutlich zu sehen ist. Natürlich könnten auch die Unterscheidungen von Teilstrukturen und Strukturelementen willkürlich sein, sie müssen es aber nicht. Es kommt hier eben darauf an, daß man Arbeitshypothesen durch Beobachtungen und Analysen nachprüft, daß man zu ermitteln sucht, was angeboren, was erlernt ist, was nur im Verbund mit anderem vorkommt und was verhältnismäßig selbständig gegeben ist. Wenn Gehlen schließlich meint, der Mensch zeige im zeitlichen Nacheinander sich von jeweils verschiedenen Einstellungen und Trieben beherrscht, zeige einmal diese einmal jene Eigenschaften und Verhaltensweisen, so möchte der Mensch sich gerade insofern keineswegs vom Tier unterscheiden. Dieses ist nämlich im zeitlichen Nacheinander auf verschiedene Grundverhaltensrichtungen eingestimmt. Der Mensch kann dagegen seine Lebensauf-

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1. Kap.: Aufgabe und Arbeitsweise

gabe nur lösen, indem er verschiedene Eigenschaften, Verhaltensrichtungen und Strebungen kombiniert.

2. Der Jurist

Der Jurist als Gesetzgeber oder als den Gesetzeswillen nachvollziehender Denker oder Praktiker bedarf freilich eines Menschen-Bildes. Rechtswissenschaft als normative Wissenschaft ist insofern praktische Philosophie und von ihrem Auftrag her gerechtfertigt. Jurisprudentia est vera non ficta philosophia. Es ist die Aufgabe des Rechts, die Beziehungen der Menschen normativ zu ordnen, zeitgerecht und vernünftig immer neu zu ordnen. Ohne ein vorgegebenes Bild vom Menschen sind vernünftige Grundentscheidungen nicht denkbar. Es war also durchaus berechtigt, wenn in den Jahren des Kampfes um die Strafrechtsreform um das wahre Bild vom Menschen gestritten wurde. Der Jurist verfährt als Gesetzgeber immer "naturrechtlich" oder modern ausgedrückt, nach seinen Vorstellungen von materialer Gerechtigkeit. Diese vom Gesetz gebilligten Vorstellungen sind dann auch in der Auslegung verbindlich. Dies ist der Grund, aus dem der radikale Urtheologe Luther die Juristen als böse Christen, d. h. als vermessene Leute angesehen hat. Er hatte nämlich zunächst weltliche Juristerei studiert, während des Theologiestudiums kanonisches Recht; er verstand daher etwas von der Sache. Aber leider ist der Jurist zu dieser Vermessenheit verurteilt, denn er muß als Mensch entscheiden und kann die ihm vorgelegte Frage nicht Gott anheimstellen. Der Kriminologe dagegen hat nichts zu entscheiden, er hat nur empirische Beobachtungen anzustellen, die Befunde zu ordnen und vorzutragen.

V. Gegenstand unserer Betrachtung ist der recente Mensch (homo sapiens), wie wir ihn aus Ethnologie, Vorgeschichte und Geschichte kennen. Alle paläo-anthropologischen Überlegungen haben dagegen heute nur hypothetischen Wert. Die soziale Veranlagung der recenten Menschheit dürfte im wesentlichen als gleichartig angesehen werden können. Zwar finden wir bei ethnologischen Beobachtungen sehr große Unterschiede in den Sozialstrukturen und damit auch in den sozialen Verhaltensweisen. Es ist bisher aber nirgends gelungen, diese Unterschiede aus Rassenunterschieden abzuleiten, während sie sich ziemlich mühelos historisch-soziologisch erklären lassen. Einmal historisch entstandene Unterschiede mögen dann ihrerseits züchtend wirken. Wir dürfen also alles, was wir über das Verhalten des recenten Menschen in den verschiedenen Zeiten und Zonen in Erfahrung bringen,. in unsere Inventur einbeziehen, die Unterschiede als zumeist reversible Variationen behandeln. Selbst wenn wir gewisse Populationen als rassisch einheitlich bestimmt betrachten, so sind doch die Unterschiede zwischen den Individuen einer Population immer viel größer als die Unterschiede zwischen den rassisch bestimmten Populationen. Damit soll nicht geleugnet werden, daß es anlagemäßige Unterschiede sowohl zwischen Einzelmenschen als auch zwischen Fortpflanzungsgruppen gibt, seien diese nun als Populationen, als Züchtungsgruppen innerhalb einer Population oder als einigermaßen stabile Rassen aufzu-

§ 2. Methodische Vorbemerkungen

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fassen. Das Dogma von der empirischen Gleichheit aller Menschen und Populationsgruppen widerspricht der Vielgestaltigkeit des Lebendigen, die wir überall beobachten können. Ebenso widerspricht der Rassenmythos dem ständigen biologischen Wandel. Es sei übrigens betont, daß die Rassenmythen in Deutschland weder entstanden sind noch besonders gepflegt wurden. Die schreckliche Unvernunft der geistigen Entwicklung seit 1919 erklärt sich aus dem Erlebnis der Niederlage der nationalen Zerstörung und der einzigartigen internationalen Mißhandlung des deutschen Volkes. Die ältere Kriminalanthropologie (Lombroso) lehrte, die sogenannten niederen Rassen seien nicht nur kulturell, sondern auch evolutionsbedingt-anlagemäßig von der zivilisierten Menschheit verschieden. In der Tat sind in Italien große ethnische Unterschiede zwischen Nord- und Süditalienern vorhanden, welche auch in der italienischen Immigration in den USA erhalten geblieben sind. Gleichartige Unterschiede innerhalb der nationalen Länder sind sonst in Europa kaum vorhanden. Es ist nur aus dem seinerzeitigen Hochmut der europäischen Kolonialherren zu verstehen, wenn noch der Sozialist Ferri schreibt, daß "der Verbrecher" in der heutigen zivilisierten Gesellschaft ... "die niederen Rassen vertrete" (zufolge Abstammung oder Atavismus). Etwas versöhnlicher wirkt es, wenn Lombroso die "Wilden" mit Kindern vergleicht, wonach also auch unsere Kinder kleine Wilde wären. "Wild" heißt im Französischen sauvage, im Englischen savage, also eigentlich Waldmensch von silva. Aber der westeuropäische Sprachgebrauch versteht darunter etwas Grausames und Blutdürstiges. Deutsch: "im Wald, da leben Räuber und machen jeden kalt". Wir wissen heute aber, daß es in diesem Sinn keine Wilden gab und gibt, daß gerade die primitiven Naturvölker, nämlich die sog. Wildbeuter sich durch relative Friedlichkeit auszeichnen. Wir wissen auch, daß frühe arme Feldbauern wie z. B. die Bantus im Usambaragebirge noch in jüngster Vergangenheit dieselbe Ehrlichkeit bewiesen, wie man sie den Bauern im schwedischen Darlekarlien nachsagt. Dieselben Washambas verhalten sich dann leider anders, wenn sie nach Daressalam an die Küste umziehen. Rassen sind besondere Menschengruppen, welche in bestimmten Lebensräumen in längeren Zeiten herausgezüchtet worden sind. Diese können ihre herausgezüchtete Veranlagung auch in andere Lebensräume mitnehmen, wie etwa die versklavten Afrikaner nach Amerika. Daß solche Rassen morphologische Sonderart haben, beweist der Augenschein. Daß diese Afrikaner schon vor den angeblichen Wohltaten der kolonialen Zivilisation zu einem hochentwickelten Sozialleben fähig waren, haben sie namentlich in Westafrika bewiesen. Etwaige Besonderheiten lassen sich kaum anthropologisch erklären. Sie sind ohnedies kaum auffällig, wenn man die großen kulturellen Unterschiede ins Auge faßt. Praktisch reine Negergemeinden, wie es sie in den Südstaaten der USA gab, wiesen nur eine sehr geringe Kriminalität auf, die besondere kriminelle Belastung der in die industrielle Welt verschlagenen Sklavenabkömmlinge erklärt sich zwanglos aus ihrem sozialen Schicksal. In der Zeit des allgemeinen Interesses an Rassenfragen (wiederum nicht nur und nicht zuerst in Deutschland) wurde die Kriminalität der Juden besprochen. Sie erwies sich als im ganzen gering, in besonderen Verbrechensgruppen überdurchschnittlich groß. Auch in diesem Fall lagen kulturell-soziale Erklärungen viel näher als rassische. Solche Fragen zu stellen ist keineswegs "rassistisch". Aber jede sorgfältige Betrachtung lehrt, daß die Ein-

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1. Kap.: Aufgabe und Arbeitsweise

heitlichkeit der Menschheit viel tiefer begründet ist als die Rassenmythen zugeben wollten. Eine wirkliche Verschiedenheit der Rassen wäre stammesgeschichtlich nur dann zu erwarten, wenn der recente homo sapiens nicht aus einheitlichem Stamm hervorgegangen wäre. Das Gegenteil ist in der Anthropologie durchaus vorherrschende Lehre, wenn auch nicht verschwiegen werden soll, daß gelegentlich behauptet wird, ältere Menschenformen seien in den Homo sapiens durch Kreuzung mit eingegangen. Viel wichtiger ist, daß auch in historischer Zeit gruppenmäßige Typenverschiedenheiten herausgezii.chtet worden sind. Zweifellos gab und gibt es Völker, die kriegstüchtiger sind als andere. Daß hier unbewußte Züchtung (Selektion) kausal wirksam ist, dürfte nicht leicht jemand bestreiten. Allerdings gilt Kriegstüchtigkeit zur Zeit als kein besonderer Vorzug. Wie sehr man aber im einzelnen bei so einfachen sozialen Begabungen wie der Kriegstüchtigkeit irren kann, zeigen die Israelis, welche sich als ausnehmend kriegstüchtig erweisen, obgleich man den Juden in Europa meist mangelnde Tapferkeit zur Last legte. In solchen Dingen ist es offenbar sehr schwer, nüchtern zu bleiben. Kriminologisch besonders wichtig ist es, daß der moderne europäische Arbeitsmensch sicherlich eine verhältnismäßig junge Züchtung darstellt. Zwar hat die Bauernmythologie der NS-Zeit bestreiten wollen, daß die Germanen zu beiden Ufern des Rheins lagen und immer noch "eins" tranken. Tatsächlich erforderte erst der Aufstieg der Landwirtschaft nach der fränkischen Rodungsperiode, nach Intensivierung des Getreidebaues, nach Einführung der Stallviehhaltung intensive Arbeit während des ganzen Jahres. Es ist für jeden Biologen selbstverständlich, daß die Fähigkeit zu solcher Arbeitsintensität erst allmählich herausgezüchtet werden konnte. Dasselbe gilt für die Erziehung zu noch gleichmäßigerer Arbeit in den städtischen Gewerben. Die Industrialisierung im 18. und 19. Jahrhundert verlangte noch härteren Arbeitsfleiß. - Wer versagte, blieb auf dem Lande Knecht, wurde in den Gewerken nicht einmal Geselle und konnte sozial gesehen nicht heiraten. Dieser soziale Zwang wurde sogar rechtlich verfestigt und entfiel erst wieder um 1800, als die Masse der Bevölkerung zu Arbeitsmenschen erzogen war und die neue Industrie Massen von Lohnarbeitern benötigte. Im Gegensatz zum europäischen Arbeitsmenschen stehen die sog. Nichtseßhaften, unter ihnen die Zigeuner. Bei letzteren könnte es sich um soziale Züchtung durch traditionelle Wahl der Lebensweise und des Berufs handeln. Eine besondere Frage ist es, ob nicht der geschlechtliche Puritanismus, wie er sich seit Reformation und Gegenreformation zunächst im höheren Bürgertum, dann bis zu einem gewissen Grade auch in breiteren Schichten, am schärfsten in Neu-England durchgesetzt hat, seinerzeit züchtend gewirkt hat. Wie mir meine fränkischen Unterstandskameraden 1914/15 versicherten, durfte nur die Bauerntochter wirklich nicht, der Tagelöhnerstochter wurde das uneheliche Kind nachgesehen. Man soll solche Beobachtungen nicht überschätzen, es scheint mir aber gewiß, daß die Heiratssitten vornehmlich im höheren Bürgertum, dann aber auch in der Handwerkerschaft, eine Selektionsprämie auf sexuelle Zurückhaltung der Jugend und damit praktisch auf Veranlagung zur Spätreife gesetzt haben. Die im vorigen Jahrhundert von Ärzten vielfach beschriebene und in den genannten Sozialschichten weit verbreitete Frigidität der Frau könnte damit zusammenhängen. Wir wissen über die Sexualsitten des vorigen Jahrhunderts Bestimmtes nur aus dem Bürgertum, die Jugendpsychologie der Jahrhundertwende war sogar nur eine Psy-

§ 2. Methodische Vorbemerkungen

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chologie der Professorenkinder. Die vielbesprochene Akzeleration könnte teilweise auch mit dem Verfall der Heiratskreise des Altbürgertums bzw. mit dem Ausbluten desselben in den beiden Weltkriegen zusammenhängen. Im ersten Weltkrieg haben nämlich die Bildungsschichten etwa die Hälfte der Abiturjahrgänge von 1906 bis 1914, im zweiten Weltkrieg mindestens 70 Ofo von 10 Abitur-Jahrgängen verloren. Dies kann anthropologisch nicht ohne Auswirkung geblieben sein. VI. Mit der Redensart, 'Kriminologie sei multidisziplinär zu bearbeiten, ist noch nicht viel gewonnen. In Wahrheit muß jede Einzelwissenschaft in den Gesamtzusammenhang empirischer wissenschaftlicher Erkenntnis hineingestellt werden. Das Problem ist in allen Fällen die Koordination. Verfasser hat noch vor dem zweiten Weltkrieg einen Vortrag "Kriminologie als Geisteswissenschaft" gehalten, der vielfach mißverstanden worden ist. Er ist allerdings nach wie vor der Ansicht, daß Kriminologie nur im geisteswissenschaftlichem Rahmen richtig gesehen werden kann, denn sowohl die Normsetzung als auch das kriminelle Geschehen wie schließlich auch die Steuerungsvorgänge sind geschichtliche Vorgänge. Man könnte über Anlageunterschiede von Gruppen, Populationen und Teilpopulationen, über sozialhistorische Züchtungsvorgänge noch vieles bedenken und schreiben. Man muß immer darauf hinweisen, daß es sich hier um feinere Differenzen handelt, daß die grundsätzliche Anlageverfassung aber dennoch einheitlich dargestellt werden kann. Ein einseitiger Geisteswissenschaftler wäre zur Koordination ebenso ungeeignet wie ein einseitiger Biologe, auch letzterer darf das historische Geschehen nicht aus der Tiefe seines Gemütes schöpfen. Vorbildlich in der historischen Kritik war der Psychiater Konrad Rieger, der als Familienfreund das wissenschaftliche Denken des Verfassers beeinflußt hat. Vielfachen Dank schuldet Verf. auch seinem Lehrer in Mathematik und Physik Lengauer. Er unterwies ihn in der klassischen Physik und veranstaltete praktische übungen in 2 wahlfreien Wochenstunden und erzog so den Schüler zu gründlichem mathematischen Beweis. Eine Lücke ließ das damalige bayerische Gymnasium in der Biologie. Verf. hat von seinem 12. bis zu seinem 17. Lebensjahr diese Lücke zum Selbststudium genutzt. Erst dann entschied er sich für Geschichte und Rechtsgeschichte. Die Faszination, welche später die Jugend durch die Rassenlehre erfuhr, nötigte zu gründlichem Studium der Anthropologie. Fachmann auf diesem Gebiet ist Verf. natürlich niemals geworden. Wohin es kommt, wenn man die geschichtlich-geisteswissenschaftliche Dimension vergißt, zeigt sich gerade bei Serienuntersuchungen. Natürlich hat man sehr bald eingesehen, daß Untersuchungen an Kriminellen nur dann etwas aussagen, wenn sie mit Vergleichsuntersuchungen am Durchschnittsmenschen in Beziehung gesetzt werden. Aber welche Menschengruppen als Repräsentanten des Durchschnittsmenschen, welche Handlungen als empirisch abnorm oder normal zu gelten haben, das kann man eben erst wissen, wenn man das normale soziale Verhalten des Menschen zuvor im geschichtlichen Zusammenhang untersucht hat. Selbst eine multidisziplinär so breit angelegte Untersuchung wie die der beiden Gluecks über Jugendkriminalität scheitert daran, daß das Vergleichsmaterial schlecht ausgewählt ist. Sowohl die normalen wie die delinquenten Jugendlichen leiden unter der 2 Mayer

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1. Kap.: Aufgabe und Arbeitsweise

gleichen Belastung des criminal area und der Zugehörigkeit zu ungünstigem nationalem background. Letzteres haben die Gluecks übersehen. Als Ergebnis muß herauskommen, daß gerade die kräftigen Jungen sich gegen die Heuchelei der puritanischen Gesellschaft auflehnen.

Zweites Kapitel

Der Mensch im Licht der vergleichenden Verhaltenslehre § 3. Das Verhalten der Lebewesen

I. Sinn und Abgrenzung der Fragestellung 1. Als Verhalten bezeichnen wir die tätige und leidende Auseinandersetzung der Lebewesen mit der Außenwelt, genauer der belebten und unbelebten Umwelt. Die inneren physiologischen Abläufe im Organismus, wie etwa Herzschlag und Kreislauf, Atmung, nervöse und muskuläre Vorgänge, Verläufe im endokrinen System usw. sind die Voraussetzungen für das äußere Verhalten des Organismus als einer Gesamtstruktur. Eine starre Grenze zwischen diesen beiden Bereichen läßt sich nicht ziehen. Von Zusammenhängen und Wechselwirkungen wird gelegentlich zu reden sein. Nach uralter Vorstellung ist das Tier ganz, der Mensch wenigstens teilweise von Instinkten gelenkt. Der Begründer der allgemeinen vergleichenden Verhaltenslehre, Tinbergen, bezeichnet das Forschungsgebiet noch als "Instinktlehre" . Diese Bezeichnung ist aber insofern ungenau, als mindestens beim höheren Tier zu fragen ist, ob sein Verhalten nicht teilweise in Lernen und Nachahmung, ja sogar in einsichtigem Tun besteht. Außerdem ist die Bezeichnung Instinkt mit vitalistischen Vorstellungen belastet. Allerdings ist die Bezeichnung Verhalten auch nicht ideal und erinnert an den Irrtum des Behaviourismus, daß nur das bloß äußere Verhalten wissenschaftlich erforschbar sei. Nun sind aber beim Tier seelische Regungen zu vermuten, beim Menschen zum Verständnis seines äußeren Verhaltens unentbehrlich.

2. Unser Versuch, die Verhaltensstruktur des Menschen mit den Mitteln der allgemeinen vergleichenden Verhaltenslehre zu erhellen, bleibt immer ein Wagnis. Der Mensch, der sich seiner Sonderart bewußt ist, neigt zum Vorurteil, er könne aus dem Verhaltensvergleich nichts oder doch nur wenig für die Erkenntnis seiner selbst oder seiner Lebensmöglichkeiten gewinnen. Pseudo-soziologische Ideologen fühlen sich durch harte und nüchterne naturwissenschaftliche Einsichten im Spiel ihrer Spekulationen behindert. Andererseits hat die vergleichende Verhaltenslehre in den beiden letzten Jahrzehnten eine verhängnisvolle Popularität gewonnen, so daß übereilte übertragungen ungesicherter verhaltenswissenschaftlicher Lehren auf das menschliche Sozialleben großen Schaden stiften.

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2. Kap.: Der Mensch im Licht der vergleichenden Verhaltenslehre

Wir wollen daher hier zunächst die wesentlichen Strukturen animalischen Verhaltens aufzeigen, ohne die gewonnenen Einsichten voreilig auf den Menschen anzuwenden. Dabei müssen wir den Gesamtbereich

tierischen Verhaltens ins Auge fassen und dürfen uns nicht auf das Verhalten der Primaten beschränken. Nicht nur die lebendigen Gestalten, sondern auch deren Verhaltensweisen sind im Wege der Evolution entstanden, sind als Ergebnisse der Selektion zu verstehen und bilden insofern eine innere Einheit. Die Selektionstheorie kann sicher-

lich nicht alles erklären, aber sie liefert den entscheidenden Maßstab für den biologischen Erfolg einer Art oder einer bestimmten Verhaltensweise.

Der einseitige Vergleich der Menschen mit den Primaten ist schon deshalb unerlaubt, weil die Stammesgeschichte im Einzelnen keineswegs feststeht. Im Menschen sind daher möglicherweise ältere Verhaltensanlagen erhalten geblieben, welche den Primaten fehlen. Jedenfalls haben sich die Verhaltensweisen von Menschen und Primaten seit der Homination selbständig weiterentwickelt. Zwar zweifelt heute noch kaum jemand daran, daß Hominiden und Primaten aus irgendeiner gemeinsamen Grundform hervorgegangen sind. Ob diese gemeinsame Grundform heute schon sicher zu bestimmen ist, bleibt zweifelhaft, von ihrem Verhalten wissen wir praktisch nichts. Die neuere Forschung datiert schon die urmenschliche Grundform, entsprechend den neueren Funden auf eine immer weiter zurückliegende Vergangenheit zurück. Sicherlich hatte die noch weiter zurückliegende gemeinsame Grundform die Möglichkeit, zum Menschen zu werden, wie der Erfolg der Menschwerdung beweist. Diese Möglichkeit haben offenbar die recenten Primaten nicht mehr. Begrifflich läßt sich dieser unbestreitbare Sachverhalt immer noch am leichtesten mit der antiken Vorstellung ausdrücken, daß die Primaten von einer Vorform des Menschen abstammen, als mit der heute geläufigen, daß der Mensch vom Affen abstammt. Die Verhaltensweisen der gemeinsamen Urform könnten durchaus menschlicher gewesen sein als die Verhaltensweisen der heutigen Primaten. So dürfen wir uns nicht verwundern, wenn wir beim Menschen Lebensformen vorfinden, wie die für die Brutpflege nötige Paarbindung, welche wir in erster Linie in älteren Entwicklungsstufen, am besten bei den Vögeln, nachweisen können. 3. Für jede Art läßt sich ein Verhaltensinventar (Ethogramm) aufstellen. Dies Inventar besteht aus mehr oder weniger starren Verhaltensformen, die sich allerdings durch Reflexe auf Außenreize modifizieren lassen (Reflexologie). Beim Menschen wird das Verhalten weitgehend von inneren Erlebnissen bestimmt, die wir nur introspektiv und im Wege wechselseitiger Mitteilung erfahren. Wir dürfen mindestens bei höheren Tieren etwas Ähnliches vermuten. Untersuchungen dieser höchsten Stufe tierischer Möglichkeiten lassen sich nur im experimentellen Vergleich tierischen und menschlichen Verhaltens durchführen.

II. Instinkt und -Verhalten 1. Eine ältere naturphilosophische Auffassung preist die großartige, unbewußte und dennoch weise Zielstrebigkeit (Finalität) des Instink-

§ 3. Das Verhalten der Lebewesen

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tes. Diese Vorstellung erfreut sich auch heute noch größter Popularität, sie spielt in der Lebensphilosophie etwa Nietzsches eine bedeutende Rolle und auch in der Naturwissenschaft wird gelegentlich noch der Vitalismus vertreten. Der Vitalismus sieht im Instinkt nicht nur ein finales, sondern geradezu ein schöpferisches Vermögen der Natur, welches den Menschen anleitet, in der jeweiligen Situation das jeweils zweckmäßige, d. h. selbst- und arterhaltungsgemäße Verhalten auszuwählen und auch tatsächlich anzuwenden. Dabei spricht man oft genug vom "untrüglichen" Instinkt. Aber wie schon Kant mit Recht dargelegt hat, kann die Naturwissenschaft die teleologische Betrachtungsweise nicht konstitutiv, sondern nur zu heuristischen Zwecken und zur sinnvollen Ordnung und Darstellung der Ergebnisse benutzen. Die Vorstellung vom schöpferischen Instinkt ist mystische Naturreligion und das Gegenteil von N aturwissenschaft. Der Begriff der Entelechie, wie ihn Aristoteles formuliert, ist allerdings naturphilosophisch korrekt und insofern unentbehrlich. Nur trägt er nichts zur kausalen Erklärung der Erscheinungen bei, denn er erklärt ebenso wie die Vorstellung vom Schöpfergott alles und damit gar nichts. 2. Sogenanntes Instinktverhalten ist immer angeborenes, in Form und Inhalt vorgeschriebenes Verhalten. Bei Auslösung und Durchführung findet ein Zusammenspiel von endogenen Antrieben und exogenen Reizen statt. In manchen Fällen liegen Form und Inhalt des Verhaltens in einer starren Formel fest. Dann können Außenreize nur die Auslösung oder auch die Auswirkung in Gang setzen. Manche Verhaltensformein sind modifizierbar, durch Reflexe auf Außenreize kann sich die Formel also verändern. Am meisten imponieren uns natürlich jene ganz formstreng vorgeschriebenen Handlungsketten, welche einmal ausgelöst sinnleer weiterlaufen, auch wenn die Veränderung der Außenbedingungen den Erfolg ausschließt. So arbeitet die Spinne an ihrem Netz weiter, auch wenn die Anfänge des Netzes zerstört werden, so daß sie im Ergebnis ein völlig unbrauchbares Netz herstellt. Etwas ähnliches finden wir, wenn der Schwellenwert des Auslösereizes immer niedriger wird. Das Kesselventil der Antriebe kann in objektlose Abreaktionen überlaufen, wenn der Außenreiz zu lange ausbleibt. Das Tier darf also nicht als einfacher Reflexapparat beschrieben werden, die Spontaneität des Verhaltens kann sich sogar selbstherrlich durchsetzen. 3. Das Instinktgefüge muß als kausaler Mechanismus begriffen werden, wie bereits die unter 1. angeführten Beispiele zeigen. Es ist die große m. E. epochale Leistung der modernen Tierverhaltenslehre, diesen Kausalmechanismus aufgezeigt und in breitem Umfang nachgewiesen zu haben. Verbunden werden dabei bekannte endogene physiologische Reize und Außenreize einerseits mit dem beobachtbaren Verhal-

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2. Kap.: Der Mensch im Licht der vergleichenden Verhaltenslehre

ten andererseits. Auf Reizsituation a folgt Verhalten b. Man kann dabei auch den selektiven Wert eines Verhaltens erörtern. Zur eigentlichen Tierpsychologie kommt es dabei freilich kaum, denn die Wege welche die Kausalverknüpfung nimmt, insbesondere die etwa in Betracht kommenden Zusammenhänge sind bisher nur wenig bekannt. Der Laie, namentlich der Tierfreund, sträubt sich gegen die Erkenntnis, daß das Tierverhalten kausalmechanisch determiniert sei, namentlich wenn es um das Verhalten höherer Tiere geht. Er mag sich damit trösten, daß das höhere Tier wahrscheinlich über den Kausalmechanismus hinaus nachahmend, lernend, ja einsichtig wählend sich verhält. Aber die instinktive Grundlage ist ein Kausalmechanismus, so zweckmäßig das Ergebnis ist. Freilich sind die Vorgänge manchmal sehr kompliziert, die Zusammenhänge so komplex, daß sich der Kausalmechanismus geradezu versteckt. Doch läßt sich am Vergleich des höheren Einzelorganismus als eines Zellenstaates und des Insektenstaates leicht begreifen, daß wirklich nur ein Kausalmechanismus vorliegt. Der aus unendlich viel Einzelzellen bestehende Zellenstaat versteht es, bei Verletzung der Außenhaut oder auch innerer Gewebe Abwehr- und Heilstoffe an die betreffende Stelle zu transportieren. Allmächtig ist der Zellenstaat freilich nicht. Gegen wuchernde Krebszellen bleibt er ziemlich hilflos und das Altern vermag er schon gar nicht zu ver· hindern. Aber soweit seine Macht reicht, hat er eben die Macht eines Kausalmechanismus. Wo wir die Kausalzusammenhänge kennen, vermögen wir Menschen helfend und heilend dem Zellenstaat final beizustehen, aber eben nur vermöge unserer Kausalkenntnisse. Nun kann man den Insektenstaat sehr genau mit dem Zellenstaat vergleichen, wobei die einzelnen Insekten (obgleich Vielzeller) gewissermaßen wie freifliegende Zellen operieren. Dabei können sinnreiche Mechanismen diese "Zellen" einigermaßen auf die jeweilige Situation einstellen. Bekanntlich durchlaufen auch die geschlüpften Bienen verschiedene Entwicklungszustände, sind aber seltsamerweise zu Vorgriffen oder Rückbildungen fähig. Fehlt es an Baubienen, so können ältere Bienen sich zu Wachsbaubienen zurückbilden, Jungbienen können vorzeitig die Fähigkeit erlangen zu füttern. Auf den Menschen angewandt, müßten ältere Frauen stillfähige Brüste bekommen, wenn sie hungernde Säuglinge schreien hörten. Niemand sollte ernstlich daran zweifeln, daß sowohl die Vorgänge im Zellenstaat als auch im Insektenstaat kausal determiniert sind. Beide Vorgänge sind aber bestimmt nicht weniger kompliziert als das äußere Verhalten höherer Tiere. 4. Wir haben demnach mindestens zunächst den Organismus als eine kausal mechanische Regelstruktur zu behandeln. Ihr Programm empfängt diese Struktur durch Erbinformation, sowohl hinsichtlich der inneren physiologischen Abläufe wie auch des Verhaltens nach außen. Durch exogene Einflüsse mögen später Abwandlungen entstehen. Ursprüngliche Erbinformationen und spätere Abwandlungen lassen sich gleichermaßen als kausalmechanische Vorgänge begreifen, wenn auch ein wirklicher Nachweis der Kausalzusammenhänge noch großenteils fehlt.

§ 3. Das Verhalten der Lebewesen

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Für die physiologischen Vorgänge bedeutet der Zwang des Kausalmechanismus eine unentbehrliche Sicherung. Wieviel todbringende Fehler könnten im physiologischen Ablauf eintreten, wenn überhaupt ein Raum für wählende finale überlegungen bestünde. Immerhin ist das Ergebnis unvollkommen. Die Regelstruktur kann ihren Zweck, das Leben des Organismus zu erhalten, jedenfalls bei Mehrzellern nicht wirklich erreichen. Der Tod der Mehrzeller ist schließlich unvermeidlich. Ob die kausalmechanische Erklärung für das Verhalten wirklich ausreicht bleibt zweifelhaft, da bei höh~ren Tieren Nachahmung, Lernvorgänge, Einsicht in Zweck und Sinn des Verhaltens nicht auszuschließen sind. Wir können aber von dieser Schwierigkeit absehen, da wir zunächst nur die durch Erbinformation gegebene Anlagestruktur zu betrachten haben. 5. In den nachfolgenden Ausführungen gebrauchen wir die Ausdrücke Instinkt und Instinktgefüge. Dazu zwingt uns einfach der landläufige Sprachgebrauch. Eine leicht benutzbare den Einsichten der modernen Verhaltenslehre entsprechende Terminologie besitzen wir noch nicht. Daß wir unter dem Instinktgefüge eine Regelstruktur verstehen, haben wir ausführlich dargelegt. Die teleologische Betrachtungsweise behält ihr gutes naturphilosophisches Recht. Es ist und bleibt ein ungelöstes Problem, wie es durch den sinnleeren Kausalmechanismus zu sinnvoll aufgebauten Organismen und zu sinnvollem Verhalten kommt. Auch die Selektionstheorie liefert keine letztlich befriedigende Erklärung des Geschehens. - Genauere sprachliche überlegung lehrt, daß der Ausdruck Instinkt mehrdeutig ist. Das lateinische Verbum instinquere hat neben den relativ einfachen Bedeutungen Anreizen und Anfeuern auch die Bedeutung "Begeistern", "Eingeben". Dann wird allerdings "instinctus" als Anruf oder Eingebung einer höheren Macht verstanden. Man denke z. B. an instinctu divino, z. B. musarum oder daemonum. Dann bedeutet Instinkt teleologische Führung durch irgendein numen. Wenn wir also in der Darstellung der modernen Verhaltenslehre dem Ausdruck Instinkt den korrekten kausalmechanischen Sinn verleihen, so verwandeln wir nur den überlieferten Sprachgebrauch in gleicher Weise, wie die Naturwissenschaft das teleologische Weltbild in ein kausales verwandelt hat.

II!. Das Instinktgefüge als Regelsystem besteht aus einzelnen Strukturelementen und Teilstrukturen. Der einzelne Antriebsmechanismus eines einzelnen Strukturelementes oder di~ Antriebskombination einer Teilstruktur sind im nervösen System, vornehmlich im Zentralnervensystem zu suchen. Inwieweit sie sich dort lokalisieren lassen, braucht uns hier nicht zu beschäftigen. Das Wort Instinkt bedeutet jeweils den bestimmt~n Antrieb samt seinem Wirksamwerden, das Wort Instinkthandlung das ausgelöste äußere Verhalten. Von Trieben kann hier noch nicht die Rede sein. Triebe sind nämlich erlebte Instinkte. Da wir aber von subjektiven Erlebnissen der Tiere nichts Sicheres wissen können,

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da wir jedenfalls gar nichts darüber wissen, welche Bedeutung für das Instinktverhalten der Tiere ihre subjektiven Erlebnisse haben könnten, können wir auch nichts über Triebe der Tiere sagen.

1. Es würde zu weit führen, wollten wir die einzelnen Mechanismen in ihrer Fülle darzustellen versuchen. Um das Wesen der Sache und die hauptsächlichen Möglichkeiten zu erkennen, genügen Beispiele. a) Auf unterster Stufe steht das einfache Rejlexverhalten, welches jederzeit durch den entsprechenden Außenreiz ausgelöst werden kann. Da es vordringlichen Lebensbedürfnissen, insbesondere der schnellen Gefahrenabwehr dient, finden sich solche Reflexe bei Tier und Mensch. Ein wirkliches oder vermeintliches Krabbeln an der Hand löst automatisch eine Abschleuderbewegung aus, bevor noch ein stechendes Insekt wahrgenommen werden konnte, leider auch wenn gar kein solches vorhanden war. Fluchtverhalten wird bei vielen Tieren reflektorisch ausgelöst. Fliegt eine Dohle in bestimmter Weise auf, so folgt allmählich der ganze Schwarm. An echte Nachahmung ist in diesem Fall wohl nicht zu denken. Beim Menschen spielen solche Reflexe keine sozial bedeutsame Rolle, wie die forensische Erfahrung lehrt. Seit alter Zeit lehren die Strafjuristen, daß der Mensch für reflektorische Akte nur dann verantwortlich ist, wenn er sie hätte beherrschen können. Es gibt aber praktisch kaum Beispiele, daß Reflexe strafrechtlich relevante Erfolge verursachen. Erst mit dem modernen Kraftfahrzeugverkehr hat wenigstens die passive Schrecklähmung größere forensische Bedeutung erlangt. Im ersten Weltkrieg sprachen die deutschen Kriegsgerichte vom Vorwurf der Feigheit frei, wenn ein Soldat unter dem Einfluß übergewaltiger feindlicher Waffeneinwirkung vorübergehend einem Fluchtreflex nachgab. b) Die sogenannten Endinstinkte zeigen ihren Automatismus besonders auffällig. Die genau vorprogrammierte Instinkthandlung wird nicht durch die "gemeinte" wahre Auslösesituation ausgelöst, sondern durch einen Schlüsselreiz. Der Schlüsselreiz besteht immer nur aus ganz wenigen Merkmalen, die allerdings in der freien Natur gewöhnlich nur in der gemeinten Situation wirklich vorkommen. Kennt aber der Mensch die Form des Schlüsselreizes, so läßt sich der angeblich untrügliche Instinkt sehr leicht betrügen. Es kommen aber auch in der freien Natur Fälle vor, in denen der bestimmte Schlüsselreiz Fehlhandlungen auslöst. Beispiele: Gewisse Zeckenarten legen ihre Eier in die Haut von Säugetieren, z. B. in die Haut des Wildschweins ab. Wie kommt die Zecke zum Wildschwein? Der Schlüsselreiz besteht aus drei Merkmalen: Geruch der Fettsäure, ein größerer Gegenstand, der sich am Strauch reibt, auf dem die Zecke sitzt, Säugetierwärme von 37 Grad Celsius. Normalerweise wird das wirklich ein Wildschwein sein. Ersetzt man dies freundliche Tier aber im Attrappenversuch durch einen hinreichend großen harten Kieselstein, erhitzt auf 37 Grad und eingerieben mit Fettsäure, so läßt sich die Zecke auf den Kieselstein nieder und es geht ihr nicht gut. - Diese Kenntnis des Schlüsselreizes

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läßt sich für wichtige praktische Zwecke ausnützen. Schädliche Insektenarten werden dadurch bekämpft, daß man Insektenfallen mit dem verstärkten Sexualgeruch des Weibchens versieht und so die ganzen Männchen im Umkreis ausrottet. Witterungsverhältnisse können Vogelschwärme zu vorzeitigem oder verspätetem Aufbruch verführen. - Das Gelege des Vogelpärchens, in dessen Nest ein Kuckucksweibchen sein Ei abgelegt hat, geht zugrunde. Die Vögel können ihre Eier in der Regel nämlich nicht erkennen, sie kennen nur ihr Nest. Das Kuckucksjunge ist größer und sperrt seinen Schnabel weiter auf als die echten Jungen. Das "Sperren" ist ein Schlüsselreiz und zwingt die Vogeleltern zum Füttern. Der verstärkte Reiz des Kuckucksjungen zwingt die Vogeleltern praktisch dazu, dieses allein zu füttern, denn überall wirkt der überdimensionierte Schlüsselreiz verstärkend. Die Fehlleitung eines Endinstinktes wird hier zur Erhaltung einer fremden Art benutzt. Auf diese Weise wird auch sonst manches parasitäre Verhalten ermöglicht. e) Den meisten Endinstinkten - auch eonsummatory aetions genannt - geht ein Appetenzverhalten vorher. Es kann in der bloßen "Einstimmung" auf etwa auftretende Schlüsselreize bestehen, so etwa auf Nahrungsreize aber auch auf Reize im Fortpflanzungsbereich. Daß es sich insofern um einen bloßen Automatismus handelt, ergibt sich von selbst, besonders dadurch, daß es zu einer Leerlaufhandlung kommt, wenn die geeigneten Reize ausbleiben. Die Einstimmung kann sich auch zu einem aktiven "Aufsuchen" der Reizsituation steigern. Nur auf diesen Fall paßt eigentlich der Name Appetenzverhalten. Wenn der Raubvogel seine Kreise zieht, so sieht das für uns Menschen nach bewußtem Suchen aus. Es könnte aber auch ein bloßer Mechanismus sein. Von einem inneren Reiz getrieben begibt sich der Vogel auf den Flug. Dabei müssen normalerweise Beutetiere in sein Blickfeld kommen. Von diesem Augenblick an, in dem der Raubvogel sieht und niederstößt dürfte alles automatisch ablaufen. Daß auch die Suche keine bewußte Suche ist, dürfte bei der geringen Hirnentwicklung der Vögel anzunehmen sein. Bei Säugetieren wäre es denkbar, daß sie manchmal ähnlich wirklich bewußt suchen wie Menschen. Aber darüber sind sich die Zoologen nicht einig. d) Zwischen Appetenzverhalten und Endinstinkten entwickeln sich

Handlungsketten, die manchmal eindeutig festgelegt sind, besonders bei

Insekten. So ist der schon erwähnte Netzbau der Spinnen sowohl der Bau der Fangnetze als der Kokonbau zur Eiablage im Erbgefüge starr programmiert. "Stört man (die Spinne) beim Kokonbau, nachdem sie die Basalplatte angefertigt hat, dann spinnt sie beim eine halbe Stunde vorher begonnenen Ersatzbau keine Basalplatte mehr, sondern nur einige Fäden und widmet sich ganz der Randzone, so daß der Konkonbau in der Mitte offenbleibt. Zählt man zusammen, wieviele Spinnbewegungen sie für die alte Basalplatte und für den neuen Ersatzkokon ausführte, erhält man insgesamt etwa so viele, wie sie normalerweise für einen einzigen Kokon brauchen würde. Im Ergebnis fallen dann die abgelegten Eier auf den Boden." (Eibl. S. 31).

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Auch bei höheren Tieren stellt die Handlungskette ein einheitliches Gefüge mit einer festen Handlungsfolge dar. Der auf Fortpflanzung eingestellte Vogel paart sich, sofern das Pärchen nicht schon gepaart ist, vielleicht sogar lebenslänglich. Darauf folgt der Nestbau, dann die Begattung, die Revierverteidigung und die Brutpflege, bei der überwiegend Männchen und Weibchen zusammenwirken. Inwieweit für jedes folgende Glied der Reihe Zwischenreize erforderlich sind, muß natürlich für jede Art und jede Verhaltensrichtung besonders untersucht werden. Soweit Zwischenreize erforderlich sind, wird der Vorgang gestört, bzw. die Reihe abgebrochen, wenn der jeweilig erforderliche Reiz ausbleibt. Findet der Vogel kein Nistmaterial, so baut er kein Nest, wird er vom Gelege vergrämt, so hört er mit der Brutpflege auf. Jedenfalls habe ich in der Literatur kein Beispiel dafür finden können, daß höhere Tiere eine begonnene Handlungskette so sinnlos fortsetzen, wie wir dies bei der Spinne gesehen haben. Aber auch dies braucht man nicht aus zielstrebigem Handeln zu erklären. Der Mechanismus läuft nur nicht weiter, wenn der Zwischenantrieb fehlt. Vielleicht müssen dann die angestauten speziellen Handlungsenergien irgendwie in Leerlauf- oder Übersprunghandlungen abreagiert werden, notwendig ist das aber nicht. 2. Als Antrieb ist eine allgemeine physiologische Energie zu denken. Die Vorgänge können nur dann so automatisch verlaufen, wie sie es tatsächlich tun, wenn jeweils für jedes besondere Instinktverhalten auch ein besonderer Reizmechanismus zur Verfügung steht. Jede spezielle Reizapparatur verlangt dann ihre Versorgung aus dem allgemeinen Energiestrom, leitet den empfangenen Strom auf die besondere Apparatur und steuert so ein bestimmtes Instinktverhalten an. In dem speziellen Instinktverhalten wird dann die Energie verbraucht (consumiert). Wenn diese Vermutung zutrifft, so gleicht das Reglersystem des Organismus einer Maschine, welche durch verschiedene Transmissionsriemen die allgemeine Triebkraft auf die einzelnen Apparaturen in angeforderter Stärke verteilt. Einzelne dieser Teilapparaturen können dann in bestimmter Folge gekoppelt sein, wie z. B. die auf Fortpflanzung bezogenen Instinkte mit der Paarung begonnen, mit der Begattung, dem Nestbau usw. fortgeführt werden. In keinem Fall bedarf es zur Erklärung der Vorgänge der Annahme es sei ein unbewußt teleologisch verfahrender Instinkt oder auch Trieb im eigentlichen Sinn am Werk gewesen. Diese Reizapparatur ist natürlich völlig unbewußt, aber dies Unbewußte ist nicht etwa ein Analogon zum Tagesbewußtsein, sondern ganz schlicht ein physiologischer Apparat. Dieser Apparat wird wie jede Maschine durch eine einheitliche Kraftquelle in Betrieb gehalten, welche jeweils von den einzelnen Reizapparaturen angefordert wird.

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3. Nun ergibt sich freilich ein Problem der Koordination, weil jedes Tier mindestens zeitlich nacheinander oder sogar gleichzeitig verschiedene Verhaltensweisen anwenden muß. Man könnte an dieser Stelle einen Unterschlupf für einen teleologischen Instinkt oder das schöpferische Unbewußte suchen. Jedoch liegen auch insofern die Dinge noch ziemlich einfach. Sind mehrere Akte in einer Handlungskette oder Reihe vorzunehmen, so hilft die vorgegebene hierarchische Ordnung dieser Reihen. Am Anfang steht die Einstimmung auf die allgemeinere Instinktrichtung, das Appetenzverhalten, also etwa auf Fortpflanzungsverhalten oder auf Jagdverhalten. Die hierarchische Ordnung sorgt dafür, daß jedes zu seiner Zeit geschieht, die Zwischenreize nur genutzt werden, wenn es für den folgenden Akt an der Zeit ist. Die ursprüngliche Einstimmung geschieht, wie wir wissen, im Zusammenwirken mit einem Außenreiz, etwa der für Fortpflanzung geeigneten Frühsommerwärme. In manchen Beziehungen mag auch die innere spontane Ausreifung des Appetenzverhaltens entscheiden. In anderen Fällen sind die Reizapparaturen der verschiedenen Appetenzverhalten vor- und nachgeordnet, die nachgeordnete Apparatur wird nur dann mit Energie versehen, wenn die vorgeordnete einen überschuß läßt. So sorgt die Einrichtung des nervösen Apparates beim Menschen offenbar dafür, daß die Sexualtriebe nur bedient werden, wenn noch Energie über das Wehr läuft, welches die Versorgung des Nahrungstriebes sichert. In zahlreichen Gefangenenlagern nach dem 2. Weltkrieg litten die deutschen Soldaten so schrecklichen Hunger, daß das Gesprächsthema Nr. 1, der Geschlechtsverkehr, kaum noch berührt wurde. Wer Jahre im Unterstand zugebracht hat, weiß, wie bei auch unverträglicher Ernährung dieses Thema die Soldaten beherrscht, die unter Umständen monatelang keine Frauen sehen. In Männergefängnissen ist es nicht anders. Die hungernden Landser wurden aber nur durch Thema 2, das Essen, bewegt. Der Hunger verlangte wenigstens Phantasiebefriedigung. Es gab Lager, in denen Kochrezepte ausgetauscht, Kochbücher zur begehrten Lektüre wurden. Man könnte also den Satz primum vivere deinde philosophari durch den viel zutreffenderen ersetzen: primum vivere deinde negotia genitalia agere. Philosophari kann man nämlich gerade im Hunger recht gut, wie die Fastengebräuche aller Religionen zeigen. In den ersten Nachkriegsjahren war es leicht, die hungernden Menschen für kulturelle Veranstaltungen zu interessieren. Später galt der Satz: Plenus venter non studet libenter. In gewissen Fällen scheint nicht vorgesorgt zu sein, und es kommt zum intra-organismischen KonjliktverhaUen. Möglicherweise löst sich der Konflikt beim Tier durch Unterdrückung des schwächeren Reizes, sehr häufig durch ein Pendeln zwischen beiden Reizen oder durch einen Kompromiß sog. übersprunghandlungen. Gebremste oder unterdrückte Reize können sich in Leerlaufhandlungen Luft machen.

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Eine Lösung nach dem Prinzip des größeren Lustgewinnes dürfte kaum in Betracht gezogen werden. Inwieweit Tiere im Verbrauch der Endinstinkte Lust gewinnen, wissen wir nicht. Nicht immer können wir aus Ausdrucksbewegungen schließen, daß sie wohltätige Stimmungen empfinden. Diese Stimmung dürfte sich aber jeweils nach der Art des betreffenden verbrauchten Antriebes richten, wie dies auch beim Menschen der Fall ist. Ein vollgefressenes Löwenpärchen im Ngogorokrater bietet das Bild des Behagens, ein Hund, der eben von der Hündin läßt, sieht aber gar nicht behaglich aus. Es ist also sehr unwahrscheinlich, daß sich die Gefühle des Antriebsverbrauches auf den gemeinsamen Nenner eines allgemeinen Lustempfindens bringen lassen. Völlig ausgeschlossen ist es aber, daß das Streben nach dem größten Lustgewinn gewissermaßen zum Akteur der Aktion wird. Dazu fehlt auch den höheren Tieren einfach der erforderliche Grad des Bewußtseins. Man kann sich auch kaum vorstellen, daß die nervöse Apparatur nach einem solchen Prinzip funktioniert. Wenn also vielfach behauptet wird - vor allem seit dem 18. Jahrhundert bis zu Siegmund Freud - daß sich der Mensch nach diesem Prinzip richte, so kann eine solche Behauptung jedenfalls nicht vom tierischen Unterbau des Menschen her begründet werden.

4. Gesamtergebnis. Alle diese Beobachtungen führen beim Tier nicht über das Modell eines komplizierten Regelsystems hinaus. Es versteht sich von selbst, daß dieses Regelsystem nur so lange dem Selbst- und Arterhaltungsbedürfnis genügen kann, als die Umwelt die Voraussetzungen und Reize für dieses Regelsystem zur Verfügung stellt. Man drückt das häufig so aus, daß das Tier instinkt- und umweltgebunden sei, ja daß es in seine Umwelt eingesperrt sei. Demgegenüber sei der Mensch infolge Instinktreduzierung umweltoffen und zu freiem geistigen Handeln befähigt. In der Tat sind die angeborenen Auslösemechanismen für die Endinstinkte jeweils der Umwelt genau angepaßt, auch das allgemeinere Appetenzverhalten kann nur unter bestimmten Umweltbedingungen funktionieren, die nur in Grenzen variabel sind. IV. Variabilität und Lenkbarkeit des Verhaltenssystems 1. Das in II!. beschriebene Regelsystem ist wie alles Lebendige nicht absolut starr.

a) In der Stammesgeschichte sind ältere Regelsysteme in die recenten Systeme umgewandelt worden. In der Gegenwart und historischen Vergangenheit hat der Mensch Wildtiere zu Haustieren umgezüchtet, deren Verhaltenssystem sich von demjenigen der Wildtiere unterscheidet. Die durchaus vorherrschende Lehre der Naturwissenschaft erklärt diese Wandlungen aus mehreren kleinen, zufälligen Mutationsschritten, von denen jeder Schritt zufällig Selektionswert gehabt habe. Das Prinzip der nicht tele-

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ologischen Kausalität bleibt also auch hier gewahrt. Diese Mutationen sind natürlich nur bei Einzelexemplaren eingetreten. Die Masse der weniger den Umweltveränderungen angepaßten Exemplare hat keine Nachkommen hinterlassen. über diesen Artenwandel hinaus ist anzunehmen, daß ganze Tiergattungen ohne heute fortlebende Nachkommenschaft untergegangen sind. Die Domestizierung hat die Umwelt und die Lebensbedingungen der betroffenen Arten so grundlegend verändert, daß Verhaltens änderungen in verhältnismäßig kurzen Zeiträumen eingetreten sind und noch eintreten. Leider läßt sich bei Rind und Pferd kein exakter Verhaltensvergleich anstellen, weil die Wildrassen unwiderbringlich ausgestorben sind, sich auch nicht mehr zurückzüchten lassen. Die meisten Hundearten enthalten aber das Blut mehrerer Wildrassen, darunter vielleicht auch ausgestorbener. Wo exakter Vergleich möglich ist, da ist er für unsere Fragestellung nicht besonders interessant. Wir müssen uns schon an Rind und Pferd halten. b) Stammesgeschichtliche Veränderungen wären nicht möglich, wäre nicht auch das jeweils lebende Verhaltenssystem in gewissen Grenzen variabel. Es wäre denkbar, daß das in dem nervösen Apparat programmierte Verhaltenssystem als solches auch anpassungsfähig wäre, oder jedenfalls auf verändernde Außenreize eingehen könnte, ohne daß die Funktionsfähigkeit gestört würde. Wie diese "unbewußte" Lernfähigkeit zu denken wäre, ist hier nicht zu erörtern. Der Streit zwischen Anlage- und Umwelttheoretikern ist auf diesem Gebiet noch keineswegs ausgetragen. Wir müssen diese Möglichkeit um der nachfolgenden Betrachtungen wegen im Auge behalten. 2. Jedenfalls besitzen alle höheren Tiere die Disposition zu Nachahmungs-Lernhandlungen. Es finden sich sogar Beispiele angelernter Handlungen, wenn auch von verstandener Tradition kaum die Rede sein kann. Endlich kommen auch einsichtige, insbesondere einsichtige Lernhandlungen vor. Allerdings ist der Radius, in welchem sich die Tiere außerhalb des vorprogrammierten Regelsystems bewegen können, doch recht klein. Die berühmten Labyrinthversuche mit Ratten, auch die Experimente mit Schimpansen beweisen dies sehr deutlich. Aber daß diese Möglichkeit beim Tier überhaupt besteht, zeigt, daß es außer dem vorprogrammierten Verhaltenssystem auch Dispositionen zu Nachahmungs- und Lernhandlungen gibt und daß einsichtige Handlungen vorkommen. Die Existenz eines solchen Oberbaues zeigt grundsätzlich, daß es dem Prinzip eines Regelsystems nicht widerspricht, daß es von übergeordneten Zentren aus gelenkt werden kann. Anders ausgedrückt, ein Regelsystem kann darauf eingerichtet sein, gelenkt zu werden. Durch lenkende Eingriffe werden dann die vorgegebenen Instinkte nicht etwa "frustriert". Diese Erkenntnis ist für den Vergleich von Tier- und Menschenverhalten wichtig. 3. Dabei können wir sowohl den Fall der Innenlenkung wie den der Außenlenkung beobachten.

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a) Zu den festesten Endinstinkten gehört der Stoß des Stieres nach dem roten Tuch, wie der Stierkampf zeigt. Zu erklären ist dieses Spiel mit dem roten Tuch wohl daraus, daß sich das ausgestorbene Wildrind, wie verwandte Arten, im Igel gegen Raubzeug verteidigte, wobei der Leitstier außerhalb blieb. Sollte er anspringende Wölfe usw. abtun, so mußte er blitzschnell und zielsicher gegen die lechzende rote Zunge oder den roten Rachen stoßen. Garantieren ließ sich ein solches Verhalten angesichts der eigenen Gefährdung des Leitstieres nur durch einen sofort fast bedingungslos wirkenden Endinstinkt. Diesen nutzt der Matador aus, indem er den Stier solange sinnlos gegen das rote Tuch anrennen läßt, bis er ihn abtun kann. Der angeborene Auslösemechanismus ist hier auf zwei Merkmale: rote Farbe an einem Tier (Mensch) verengt. Die Übergröße des Signalreizes macht diesen, wie in anderen Fällen auch, besonders wirksam. Der Stier muß allerdings vorher in kämpferische Erregung geraten. Bei einem Stierkampf in Madrid sah ich einen wunderschönen Stier in die Arena springen, der natürlich auch draußen schon aufgeregt worden war. Aber dieser Stier sah sich um, erkannte, daß gar kein Raubzeug da war, und stellte sich beruhigt mit der Miene hin: "Kein Grund zur Aufregung." Die Menge äußerte ihr Mißfallen über den "feigen" Stier, die Pikadores brachten ihn allmählich doch in die gehobene Stimmung und es kam zum bitteren Ende. Aber offenbar können die Stiere hier lernen. In Portugal werden sie nicht getötet. Eine wiederholte Verwendung zum Stierkampf soll aber sehr gefährlich sein, denn spätestens beim dritten Mal merken Stiere angeblich, daß nicht das rote Tuch, sondern der Mann sie ärgert. Beide geschilderte Verhaltensweisen sind Beispiele von Selbstlenkung. b) Der FZuchtinstinkt des Pferdes kann vom Reiter beherrscht und genutzt werden (Außenlenkung). Genutzt wurde er offenbar in der Kavallerieattacke. Da der Verfasser nicht Kavallerist war, kann er den Vorgang nicht selber analysieren. Zu beherrschen war der Fluchtinstinkt bei der bespannten Artillerie. Man konnte daran denken, daß der Fluchtinstinkt dem Tiere weggezüchtet worden ist. Dies scheint mir nicht der Fall zu sein. Zu meinen peinlichen militärischen Erinnerungen zählt das eindrucksvolle Schauspiel der etwa 800 durchgehenden Pferde unserer Artillerieabteilung. Beim Vormarsch durch Waldgelände im Polenfeldzug mußten wir in einer Waldlichtung einen Igel bilden, dessen Aufstellung ich zu leiten hatte. Leider setzte ich mich nicht gegen den gutmütigen Kommandeur durch, welcher den Stangenreitern erlaubte, abzusitzen. Nachts gingen plötzlich die Kanonen los, sei es gegen wirkliche, sei es gegen eingebildete polnische Infantrie. Ich erwachte und stoppte zusammen mit anderen Offizieren sofort das Feuer. Aber die Pferde brausten ab. Leider wurden allein in meiner Batterie neun Stangenreiter schwer verletzt, welche mit Zügeln im Arm geschlafen und

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versucht hatten, die Tiere zu halten. Der Fluchtinstinkt der Pferde ist also nicht weggezüchtet. übrigens kamen die Tiere alle im Lauf des Vormittags teils von selbst, teils von Unteroffizieren aufgespürt wieder. Diese Fluchtreaktion wäre zu beherrschen gewesen, denn es gilt doch wohl als sichere Erfahrung, daß der Stangenreiter das Sechsgespann halten kann. Ähnliches lehrt der Friedensdienst, der gewöhnlich schwieriger gemacht wird als der Kriegsdienst. Beim bespannten Exerzieren einer Batterie pflegen die Tiere zu wiehern, was ein Ausdruck ihrer Erregung ist. Die Tiere im Gespann bleiben natürlich zusammen, aber auch die Reitpferde kleben an der Herde. - Dennoch ist es auch einem mäßigen Reiter, sogar dem Anfänger, möglich, durch Schenkel- und Zügelhilfen im Einzelreiten von der Batterie etwa zur Ausführung eines Aufklärungsauftrages wegzureiten. Dies ist zwar kein Vergnügen, aber man kann es mit Energie schaffen, obwohl Herdentrieb und Fluchtinstinkt solchem Vorhaben entgegenwirken. Man kann auch ein Pferd trotz seines Fluchtdranges in einer Batterie beim übungsfeuern festhalten. Der Verfasser ist sicherlich nur ein mäßiger Gebrauchsreiter geworden. 1938 führte er während einer übung eine aktive Batterie, als die Abteilung auserlesen wurde, auf dem Nürnberger Parteitag einen törichten Türken vorzuführen. Plötzlich mußte er vormittags während des Dienstes von seinem braven Reserveoffizierspferd auf einen jungen nervösen Fuchs, übrigens ein wunderschönes Tier, umsteigen. Wenn ein mäßiger Reiter es vermag, ein solches Tier in der mit Kartuschen feuernden Batterie mit der linken Zügelhand festzuhalten, dabei mit dem Degen in der Rechten die Feuerkommandos zu geben, so kann er dies freilich nur, weil seine Angst sich zu blamieren eben doch noch größer ist, als sein begreifliches Unbehagen.

Der Reiter beherrscht die Fluchtinstinkte durch reiterliche "Hilfen", welche in jahrtausendealter Erfahrung ausprobiert sind. Einen körperlichen "Zwang" kann er aber nicht ausüben. Offenbar hat das gezähmte Tier durch die Umzüchtung eine Vertrauenseinstellung zum Reiter gewonnen. Es fühlt sich beim Menschen in sicherer Obhut. Die Reize der Hilfen wirken doch wohl unmittelbar auf das Nervensystem des Pferdes. Man sagt ja, daß Reiter und Pferd zusammenwachsen sollten, wie die Kentauren der Sage. Man kann gewissermaßen das Regelsystem des Tieres ausschalten und durch das in der menschlichen Vernunft gegründete Lenkungssystem des Menschen ersetzen. Ebenso kann und muß der Mensch in sich selbst seine eigenen Instinkte beherrschen. V. Sozialverhalten. Nur wenige Tiere leben solitär, begnügen sich also mit vorübergehender geschlechtlicher Begegnung. Die meisten Tiere leben sozial, wobei recht erhebliche Sozialleistungen zustandekommen. Die Staatsbildungen mancher Insektenarten sind oft zu Musterbildern für Utopien geworden. In Wahrheit sind sie für den Vergleich von Tierverhalten und menschlichem Verhalten deshalb am wenigsten interessant, weil der das Menschenleben beherrschende Antagonismus von Individuum und Gruppe bzw. Allgemeinheit fehlt. Wir betrachten daher im folgenden das Sozialleben der höheren Tiere. 1. Der Funktions- und Selektionswert der Gruppenbildung ist leicht einzusehen. Schwarm und Herde finden leichter die gemeinsame

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Weide, weil viele Tiere suchen. Gefahrenabwehr, sowohl Flucht wie Verteidigung ist in der Gruppe wirksamer. Ein einzelnes Tier fällt Raubfeinden allzu leicht zum Opfer. Nicht einmal Löwen greifen gerne eine Zebraherde an, obwohl das Zebra doch recht wehrlos ist. Der Angriff der Raubkatzen wendet sich in erster Linie gegen Einzelgänger, welche zudem meist alt oder krank sind, da die hochbegehrten Jungtiere in die schützende Mitte der Herde hineingenommen werden. Vogelschwärme können Raubfeinde verdrängen, ja sogar zum Absturz bringen, indem sie den Feind einkreisen. Der flüchtenden Herde von Büffeln oder Wildpferden, vielleicht auch von Antilopen, geht jeder Löwe gern aus dem Weg. Manche Tierarten verteidigen sich aktiv, indem sie sich zu einem Igel zusammenscharen und sich nach außen mit Gehörn oder Hinterhufen verteidigen, wobei möglicherweise dem Leittier die heroische Rolle der Außenverteidigung zufällt. Man darf also die Gruppe nicht als erweiterte Familiengemeinschaft ansehen. Als Kleinfamilie, als Pärchen mit Jungen leben vor allem sehr starke Tiere zusammen, wie die großen Raubkatzen oder Bären, die keine Feinde zu fürchten haben. Wohl aber ist ein umgekehrter Zusammenhang gegeben. Schwarm und Herde geben Gelegenheit zur Paarung. Schwimmt im Vorfrühling der Entenschwarm noch durcheinander, so bilden sich doch bald die Pärchen, welche ständig zusammen bald nebeneinander, bald hintereinander schwimmen, mit kleinerem oder größeren Abstand, wie durch ein Gummiband verbunden. Der Selektionswert der von den Soziologen schlecht so genannten Primärgruppe der Kleinfamilie und des Paares bedarf keiner Erläuterung. Nur auf die besondere Wichtigkeit gemeinsamer Brutpflege sei hier schon hingewiesen.

2. Sozialformen a) Wir finden im Tierreich eine Fülle verschiedenartiger Sozialformen. Ein Teil der Tiergesellschaften hat familiären Charakter und hat somit Geschlechtsbindung und Abstammung zur Grundlage. Bei den allermeisten Vogel arten lebt das Pärchen mindestens während der Zeit des Nestbaues und der Brutpflege zusammen. Bei nicht wenigen Arten dauert diese Ehe lebenslang. Bei Säugetieren überwiegt vielleicht die Bindung an die Herde, so daß Familienbindung vielfach nur zwischen dem Muttertier und seinen Jungen vorkommt. Bei Schimpansen, die nicht in größeren Herden leben, soll dauernde Einehe überwiegen. Manche Tierhorden werden von einem besonders kräftigen Männchen geführt, wie z. B. der Hirsch seinen Harem von der Brunft bis in den folgenden Sommer spazierenführt. Bei solchen polygamen Tierhorden werden die schwächeren oder jüngeren Männchen meist in der Fortpflanzung nur hintangestellt, von der-

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selben aber nicht gänzlich ausgeschlossen. Bei manchen Arten allerdings werden die schwächeren oder jungen Tiere aus der Horde vertrieben und finden sich dann in Junggesellenrudeln zusammen. Diese besitzen meistens nur lockere Bindung und fallen oft dem Raubzeug zum Opfer. Daneben finden wir aber auch Verbände, welche ganz offensichtlich nicht auf Geschlechtsbeziehungen beruhen, wenn auch eine in weitem Rahmen gemeinsame Abstammung wahrscheinlich ist. Wir finden dabei anonyme Großverbände, seien es Herden oder Schwärme, in welchen die Einzeltiere beliebig auswechselbar sind, sich auch nicht als Angehörige z. B. eines Vogelschwarmes erkennen. Innerhalb solcher Schwärme können sich dann kleinere mehr oder weniger individualisierte Gruppen bilden, deren Angehörige sich als Gruppenmitglieder vielleicht sogar als Individuen kennen. b) Innere Organisation

Setzen wir einmal voraus, daß eine Gruppe durch noch zu erörternde Triebbindungen zusammengekommen ist, so steht diese Gruppe vor fol"; genden Aufgaben: Sie muß die Existenz des Einzeltieres durch Distanzierungsverhalten, einen geordneten Verlauf des Gruppenlebens durch Rangordnung sicherstellen. Möglicherweise muß die Gruppe geführt und zur Gefahrenabwehr nach außen zusammengeschlossen werden. Das Distanzierungsverhalten ist in der Säugetierhorde im allgemeinen nicht schwierig. Zebras und andere Pflanzenfresser halten ganz von selbst den erforderlichen Abstand, damit jedes Tier genügende Weide findet. Ebenso schwimmt das Entenpärchen gewöhnlich doch mit hinreichendem Abstand, so daß die beiden nur selten den aussichtslosen Versuch machen, denselben Fisch zugleich zu verzehren. Andere Arten verteilen sich auf Reviere, für jedes Paar oder jedes Einzeltier. Die Abgrenzung der Reviere erfolgt durch eine gegenseitige Abstoßung, die manchmal auch zu Revierkämpfen führt. Im allgemeinen genügt die Bezeichnung des Reviers durch Duftmarken, vielleicht aber bedarf es auch der Bestätigung durch Drohgebärden. Das Revier entwickelt sich auf diese Weise zum Heimbezirk. Revier und Heimbezirk begründen auch beim höheren Säugetier ein recht mechanisches schematisches Verhalten. Vermöge des Heimbezirksschemas fühlt sich das Tier in seinem Heimbezirk sicher und vertreibt leicht auch das stärkere Tier aus seinem Revier. Der Automatismus des Heimbezirksschemas kann in Einzelfällen auch schädlich wirken. So flüchten etwa Pferde in ihrer panischen Angst in den brennenden Stall oder sind nicht aus ihm herauszubringen. Eine Ratte kann man am leichtesten erschlagen, indem man sich im Keller vor das Fluchtloch stellt. In ihrer Angst muß sie auf diesem schnellsten, aber in concreto unzweckmäßigsten Weg in ihren Heimbezirk flüchten. Revierverteilung und Heimbezirk können auch Gruppen auflösen oder erst gar nicht zustandekommen lassen. Wölfe leben sommers meist in Revieren. S Mayer

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Erst im Winter schließen sie sich im Rudel zu gemeinsamer Jagd zusammen. Der Tierforscher experimentiert gern mit Fischen, von denen wir hier im Ganzen absehen wollen. Aber es muß doch gesagt werden, daß die einzeln und in Paaren lebenden Stichlinge einmal doch aus einer Jungfischherde stammen müssen. Diese löst sich in gänzlich unverträgliche Einzeltiere oder Paare auf.

Der arterhaltende Wert des Distanzierungsverhaltens besteht offenbar darin, daß die Art doch nur durch das Einzeltier erhalten werden kann, dessen Fortleben eben durch Distanzierungsverhalten verbürgt wird. Diese Einsicht macht das Phänomen der Rangordnung verständlich. Die ältesten Untersuchungen beziehen sich auf die Hackordnung der Hühner, welche garantiert, daß die Hühner in geregelter Reihenfolge das Futter nehmen, die "Vornehmen" zuerst. Für die Masse bedeutet dies, daß alle geregelt fressen können, nur in Notzeiten werden allerdings einige Schwache vom Futter verdrängt. Die "Vornehmheit" besteht aber auch darin, daß die führenden Tiere in der Gefahrenabwehr voranstehen. An dieser Stelle kann die Organisation der Herde oder des Schwarmes mit den Lebensformen der Geschlechtsbindung koordiniert werden. So übernimmt in Dohlenschwärmen das Dohlenweibchen von der Eheschließung an den Rang des Gatten, sie ist also noch nicht emanzipiert. Auf diese Weise fügt das Paar sich in die Rangordnung des Schwarmes ein. Inwieweit dies Prinzip, das so außerordentlich menschenähnlich oder auch "antiquiert" scheint, auch allgemeine Bedeutung hat, ist noch nicht hinreichend geprüft. Herdentiere haben vielfach die Neigung, ein Leittier als Führungstier anzuerkennen, sog. "Führerejjekt". Darin steckt zunächst ein einfacher Mechanismus, den der Mensch z. B. bei der Zähmung des Hundes ausgenutzt hat. Die Tiere erkennen einander nur in beschränktem Sinn als Artgenossen, wie gleich zu erörtern ist. Ebenso erkennen sie den Führer nicht eigentlich, das Verhältnis zwischen Führer und Herdentier muß "geprägt" werden. Mit der Prägung überträgt der Hund dann die ihm von Natur mitgegebene Treue-Anhänglichkeit und Unterwürfigkeit auf den Menschen, dieselbe, die er sonst dem Leitwolf darbringt. An dieser Stelle dürfte dann der bloße Mechanismus aufhören. Es kann nämlich keinen Zweifel daran geben, daß die Säugetierherden oder Rudel geführt und zwar durch einsichtige Führerhandlungen geführt werden, während die "Königin" ihren Bienenschwarm in keiner Weise "regiert", sondern nur Objekt automatischer kollektiver Pflege und nur insofern das Zentrum ist. Führung ist eben nur mit verständigen Befehlen möglich, welche der konkreten Situation angepaßt sind. Bei manchen Arten werden dabei die Leittiere durch erfahrene ältere Tiere unterstützt, die vielleicht in Rangkämpfen unterliegen würden. In solchen Fällen ist eine Art von Gerusia auch beim Tierrudel vorgebildet.

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3. Das Verhalten der Lebewesen

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3. Wir haben bisher nur das äußere Verhalten besprochen. Wollen wir diese Erkenntnisse für den Vergleich humanen und tierischen Verhaltens nutzen, so müssen wir versuchen, auch das Antriebssystem zu analysieren und die Befunde zu interpretieren. a) Voraussetzung jeder Sozialbindung, sei es der herdenmäßigen, sei es der geschlechtlichen oder familiären, ist, daß die Tiere in irgendeiner Weise sich als Artgenossen oder als Funktionsträger erkennen: Soweit intraspezifische Aggression innerhalb der Gruppe ausgeschlossen ist, müssen sie sich auch als Gruppenangehörige erkennen. Am einfachsten machen das manche Insekten durch gemeinsamen Nestgeruch. Ameisen, welche alles auffressen, was ihnen in den Weg kommt, schonen die Insassen des gleichen Ameisenhaufens infolge des Nestgeruchs. Zerstört man diesen, so steht der gegenseitigen Auffresserei nichts mehr im Wege. Bei Säugetieren ist das wohl nicht so einfach. Soweit der Verfasser sehen kann, sind Untersuchungen und Befunde auf diesem Gebiet noch unvollständig. Die Bindung an die Gruppe, den Führer, den Geschlechtspartner, scheint aber immer mechanisch durch äußere Prägung hergestellt zu werden. Ein Beispiel haben wir bereits bei der Dressur des Hundes auf sein Herrchen oder Frauchen erörtert. Die Untersuchungen sind deshalb so schwierig, weil wohl bei allen Tieren der Geruchssinn eine größere Rolle spielt als bei uns, wir können diese tierischen Erfahrungen also nicht unmittelbar nachvollziehen. Beim Menschen ist das Erkennen des Artgenossen, des Gruppenzugehörign, des Partners eine höhere geistige Leistung, welche wir allerdings intuitiv vollbringen. So kann es beim Tier jedenfalls nicht sein. Aber zweifellos erkennen die Tiere in gewissem Umfang auch die Artgenossen als solche, sonst müßte intraspezifische Aggression viel häufiger und destruktiver sein als sie ist. Revierkämpfe setzen voraus, daß die Artgenossen sich erkennen. b) Sozialbindende Antriebe. Das soziale Verhaltensinventar ist zu reich gegliedert, als daß es von einem einzigen Strukturelement ausgelöst und gesteuert werden könnte. Ein solcher Antriebsmechanismus müßte teleologische Fähigkeiten haben, was nur Vitalisten glauben können. Entsprechend ist auch das Ausdrucksverhalten der Säugetiere vielgestaltig und weist auf eine Mehrheit innerer Triebrichtungen hin. Ob und inwieweit sich diese Mehrheit von Strukturelementen innerhalb der Gesamtstruktur zu einer Teilstruktur zusammenschließt, ist heute eine offene Frage. Vom Menschen aus gesehen, haben alle also namentlich auch die höheren Tierarten gemeinsam die Besonderheit, daß der Geschlechtstrieb nur gelegentlich, d. h. periodisch und meist nur kurzfristig zu Gast kommt. Demgemäß bringt der Geschlechtsakt als solcher keine soziale

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Bindung mit sich. Dies läßt sich durch die ganze Tierreihe hindurch beobachten. Wenn die Spinnenmännchen nach der Kopulation von den Weibchen aufgefressen, die Drohnen nach Erfüllung ihrer sexuellen Aufgabe abgeschlachtet werden, so ist dies offenbar das Gegenteil einer sozialen Bindung. Zudem gibt es solitär lebende Wirbeltiere, bei denen die Weibchen allein die Brutpflege übernehmen. Es fehlt dann an einer Bindung zwischen den Elterntieren. Die einfachste Form aller Sozialbindungen finden wir in der Brutpflege. Sie verbindet die Elterntiere oder das Weibchen allein in einer länger andauernden Sozietät. Mehrere Instinkte wirken dabei zusammen, die wir nur teilweise genauer kennen. Die Brutpflege wird jedenfalls ausgelöst durch das Kindchenschema, welches auch den Menschen noch stark beherrscht. Sogar der Anblick eines unversorgten Kleintieres einer anderen Art kann säugende Weibchen veranlassen, solche Kleintiere mitzusäugen. Schiebt man der Henne Enteneier unter, so führt sie auch die geschlüpften Entenkücken. Eine speziellere Ausprägung dieses die Pflege auslösenden Reizes ist das Sperren der Jungvögel, welches die Elterntiere zwingt, bis zur Erschöpfung Futter einzubringen und in den sperrenden Schnabel hineinzustopfen. Die gemeinsame Brutpflege verbindet zugleich die Elterntiere zum Paar und mit den Jungtieren zu einer Art Familie, die Jungtiere selber bilden vielfach eine besondere Kontaktgruppe. Bei all dem mag ein allgemeineres Kontaktstreben mitwirken. Zur gemeinsamen Brutpflege finden sich die Elternpaare möglicherweise schon vor, vielleicht längere Zeit vor der Begattung zusammen. Lorenz hat die eheähnlichen Beziehungen bei Graugänsen sehr reizvoll beschrieben. Solche "Ehen" dauern bei Vögeln nicht selten lebenslange, jedenfalls sind sie keinesfalls auf die kurze Zeit der Begattung begrenzt. Sofern diese Bindungen nur kurzzeitig dauern, könnten sie als allein durch die Brutpflege motiviert angesehen werden. Aber bei manchen Vögeln liegt die Paarungszeit so lange vor Kopulation und Brutpflege, daß nichts anderes übrig bleibt als eine zunächst rein "erotische" asexuelle Bindung anzunehmen. Die Bildung größerer Verbände kann schließlich nur aus einem allgemeinen Kontaktstreben erklärt werden. Herdenkontakt bringt mancherlei wechselseitige Hilfshandlungen, wie wechselseitige Hautpflege oder reine Zärtlichkeitsakte mit sich. Jeder Reiter weiß, wie erfreut das Pferd auf Abklatschen oder Streicheln reagiert. Auch das Ausdrucksverhalten des Pferdes läßt auf wohltätige Empfindungen schließen. Das Bild einer ruhenden Rinderherde strahlt nicht nur auf uns Behagen aus, die Tiere zeigen auch den Ausdruck der Gelöstheit, des Vertrauens und Behagens, wenn sie in der Herde beisammen sind. Spranger hat in seiner Jugendpsychologie für den Menschen überzeugend nachgewiesen, daß Erotik und Sexualtrieb zwei verschiedene

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Antriebe sind, welche sich gar nicht so leicht aufeinander abstimmen lassen. Dies ist um so merkwürdiger als der Mensch im Vergleich mit dem Tier hypersexualisiert ist. Betrachten wir das Tierverhalten mit Hilfe des Sprangerschen Gedankens, so läßt sich sagen, daß die Erotik sowohl im allgemeinen Kontaktverhalten als auch in der Paarbindung eine ganz große Rolle im Tierleben spielt, während der eigentliche Sexualtrieb nur kurzfristig auftritt und kaum als Ursache von Sozialbindungen angesehen werden kann. Für die Befruchtung genügt eben die bloße sexuelle Begegnung. Dagegen ist gemeinsame Brutpflege ohne Sozialbindung undenkbar, nur langzeitig erotische Paarbindung bietet größere Vorteile für die Brutpflege, so daß der Selektionswert derselben unmittelbar einleuchtet. e) Distanzierungsverhalten. Das Distanzierungsverhalten könnte vielleicht auf einen einigermaßen einheitlichen Selbstbehauptungstrieb zurückgeführt werden, wenn es nicht doch recht verschiedene Ausprägungen aufwiese. Die Schule von Konrad Lorenz setzt das Distanzierungsverhalten mehr oder weniger mit Aggressionsverhalten gleich. Das zugrunde liegende Denkschema legt einen einheitlichen Aggressionstrieb zugrunde, der nur durch besondere Mechanismen zugunsten der Art- oder Herdengenossen in Grenzen gehalten wird. Wir sind der Ansicht, daß intraspezifische Aggression im Verhältnis zum Selbstbehauptungstrieb nur sekundär zustande kommt, sofern die betreffende Gattung überhaupt sozial lebt. Die These von Lorenz beruht auf der Gleichstellung von Kampfverhalten und Aggression. Aber nur der wirklich destruktive Kampf ist echte Aggression. Die für uns interessanten sozial lebenden höheren Tiere bilden alle eine gewisse Individualität aus. Nach ihrer körperlichen äußeren Ausrüstung wären sie alle mehr oder minder befähigt, auch solitär zu leben. Sie besitzen also auch die Antriebe sich selbst zu behaupten. Wir erinnern nur an den Nahrungstrieb, die Gefahrenabwehrinstinkte, den Trieb allein oder paarweise sich eine Behausung, sei es für die Brut, sei es für den Winterschlaf einzurichten. Dieser Selbstbehauptungstrieb wendet sich besonders in Tiersozietäten auch gegen oder besser an den Artgenossen. Alle Weidetiere müssen Distanz halten und weichen sich normalerweise gegenseitig aus. Bei vielen Tierarten mögen sich die Individuen das Futter gegenseitig abjagen. Bekannt ist der Futterneid der Hunde. Das schwächere Tier, namentlich das schwache jüngere, weicht dabei vor dem stärkeren aus. Aber auch wenn sich die stärkere Imponier- oder Drohgebärde durchsetzt, sollte man noch nicht von Aggression reden. Menschlich ausgedrückt bedeutet solches Verhalten doch nur: "Dies ist mein Platz, hier fresse ich und du bleibst, wohin du gehörst." In den Termini der Verhaltenslehre heißt das, daß sich hier im Kleinen ein Heimbezirksschema durchsetzt. Andere Probleme werden

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durch das Rangordnungsverhalten gelöst. Es ist aber auch keine Aggression, wenn auf diese Weise jedem Individuum genau wie beim Menschen sein Platz in der wartenden Schlange zugewiesen wird. Nun gibt es aber zweifellos wirkliches innerartliches Kampfverhalten. Es ist von der außerartlichen Aggression der Raubtiere gegen ihre Beutetiere zu unterscheiden. Bei außerartlichem Angriff kommt es übrigens gewöhnlich nicht zum Kampf, denn auch das Raubtier weicht entschlossenem Widerstand gerne aus, wenn nicht der Hunger z. B. das Wolfsrudel zum Verzweiflungsangriff zwingt. Der Löwe, der das wehrlose Gnu schlägt und verzehrt, zeigt dabei ebenso wenig Zeichen von Zorn oder kämpferischer Erregung wie der Mensch, der seinen Schweinebraten genießt. Dagegen zeigen die Tiere beim innerartlichen Kampf echte Kampferregung. Das innerartliehe Kampfverhalten wird mit dem Ausdruck Aggression zu einseitig gedeutet. Sicherlich gibt es nicht nur reaktives, sondern auch spontanes Kampfverhalten. Auch innerhalb der Arten herrscht im Tierreich nicht der Frieden des Paradieses. Die Signalreize, welche spontanes Kampfverhalten auslösen, lassen sich aber doch wohl meist als Aufruf zur vorbeugenden Verteidigung deuten, wobei einzuräumen ist, daß es auch Vorteile haben kann, Präventivkriege zu unterlassen. Auch spontanes Kampfverhalten sollte nur dann als Aggression aufgefaßt werden, wenn der Kampf auf Beschädigung oder Vernichtung des Gegners geht. Kampfverhalten kommt vor als Kampfspiel, namentlich unter Jungtieren, als Rangordnungskampf, als Revierkampf, als Paarungskampf. Unter natürlichen Bedingungen nehmen diese Kämpfe nur selten destruktiven Charakter an. "Friedliche" Käfigvögel bringen sich allerdings manchmal auf scheußliche Weise um, weil sie sich nicht ausweichen können. Bei einigen Arten könnte der Paarungskampf wirklich als Kampf ums Dasein eingeplant sein. Schlüpfen im Hühnerhof 12 Kükken, hälftig Hähnchen und Hühnchen, so findet man am Schluß vielleicht wirklich nur ein Hähnchen. Aber ob sich die schwächeren Hähnchen nicht in freier Wildbahn doch rechtzeitig davonmachen, ist eben die Frage. Die meisten Tiere führen aber alle diese Kämpfe als Kommentkämpfe. Bei Kampfspielen gehen die süßen jungen Kätzchen zwar keineswegs zart miteinander um, aber es kommt doch nicht zu ernsten Beschädigungen. Revierkämpfe zielen nur auf Vertreibung des Eindringlings, der meist dem Heimbezirksschema folgend ausweicht. Ein lustiges Beispiel solchen Kommentkampfes liefern die Hunde in benachbarten Gärten. Zwischen unserem und dem Nachbargarten stand ein Zaun, der an einzelnen Stellen beschädigt war. Der unterhaltspflichtige Nachbar unterließ viele Jahre lang die Ausbesserung, weil kein Bedürfnis bestand. Diesen Zaun pflegten einige Male am Tage die Nachbarshunde mit

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fürchterlichem Bellen entlang zu toben, wie wenn sie wütend kämpferisch ihren Garten (Heimbezirk) verteidigen wollten. Jedesmal aber wenn sie an den Lücken entlang rasten, wo sie sich hätten an den Hals kommen können, hörte das Bellen auf, das sofort wieder hinter dem schützenden Zaun erklang. Außerhalb des Gartens waren beide Hunde überhaupt gutfreund. Paarungskämpfe können bei manchen Arten gefährlich werden. Immerhin fechten die geweihbewehrten Arten nur Kommentkämpfe durch. Sie könnten ihre Rivalen ohne Mühe durch seitlichen Stoß in den Leib schwer verletzen, tun dies aber praktisch niemals. Raubtiere könnten sich in allen innerartlichen Kampfarten besonders gefährlich werden, denn sie müssen bei innerartlichem Kampf die gleichen Waffen verwenden, mit welchen sie die Beute tödlich schlagen. Aus diesem Grunde mußte die Natur für Raubtiere einen besonderen Hemmungsmechanismus ausbilden, das sogenannte Demutsschema. Es ist durch die ganze Tierreihe dort beobachtet worden, wo innerartliches Kampfverhalten besonders gefährlich werden könnte. Besonders gut beschrieben ist der Vorgang für die Hundeartigen. Der unterlegene Wolf nimmt die Demutshaltung an, wobei er Hals und Nacken dem tödlichen Biß darbietet. Merkwürdigerweise kann der Sieger den Besiegten dann gar nicht abtun und muß seine Erregung durch Abschüttelbewegung in die Luft abreagieren. Nur wenn der Besiegte die Demutshaltung zu früh aufgibt, so kann es zu Unglücksfällen kommen. Aber schließlich könnte auch der Förster schießen, wenn der Wilderer das weggeworfene Gewehr wieder aufnimmt, auch nur, um damit fortzulaufen. Lorenz hat möglicherweise in seinen älteren Arbeiten dem Demutsschema eine allzu sichere Wirkung und eine zu weite Verbreitung zugeschrieben. Die dargelegten Befunde decken m. E. nicht völlig die Interpretation. Natürlich könnten neben dem Demutsschema auch andere Tötungshemmungen vorliegen, wie gerade der Kommentkampf der Geweihtiere zeigt. Dagegen sollen Löwen sich gelegentlich wechselseitig anfallen. Dann hätte die Natur bei den großen Raubkatzen kein Demutsschema entwickelt, vermutlich weil es bei der Lebensweise dieser Tiere nicht leicht zu feindlichen Begegnungen kommt. Pflanzenfresser benötigen im allgemeinen deshalb kein Demutsschema, weil die meisten sich in freier Wildbahn ohnedies nichts antun können. 4. Alles in allem ist dem Tier durch sein Instinktgefüge ein sozialer Handlungsplan vorgegeben. Dieser Plan schreibt der Art ihre Sozietätsformen, ihr Sozialverhalten vor und rüstet sie mit den entsprechenden Antrieben und Auslöseschemata aus. Der Handlungsplan ist nicht völlig starr und läßt sich in Grenzen den jeweiligen Gegebenheiten anpassen. Aber Antriebe und Reaktionen garantieren eben doch das richtige Verhalten. Freilich sind diese Verhaltensformen einer bestimmten Umwelt angepaßt. Da sich aber die Natur gewöhnlich nur langsam wandelt, ist der Fortbestand der Art gesichert. Erst wenn der Mensch in das Ge-

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schehen eingreift, kann die relative Starrheit der Instinktstruktur einer Art zum Verhängnis werden. § 4. Die Sonderstellung des Menschen

I. In unserer empirischen Untersuchung betrachten wir den Menschen zunächst als Naturwesen. Die Natur ist jedoch keine gleichförmige Einheit. In ihr zeigen sich Daseinstufen, welche sich deutlich voneinander abheben, mögen sie auch durch unmerkliche Übergänge allmählich erreicht werden. Die anorganische Natur stellt an Stoffen und Energien alles bereit, was zur Bildung der organischen Substanz benötigt ist. Sie ist zudem in vielen Bereichen in geistvollster Weise geformt. Dennoch sprießt schließlich das Leben als etwas Neues. Minder deutlich ist innerhalb des Reichs der organischen Wesen der Unterschied von Pflanze und Tier, hier sind der Zwischenstufen unendlich viele. Das voll "entbundene" Leben kommt nur den entwickelteren Formen der Tierwelt zu. Zu den vielen ausgezeichneten menschlichen Eigenheiten finden sich überall Ansätze im Tierreich, mindestens die höheren Tiere werden sogar schon durch den erwachenden, gewissermaßen kindlichen, subjektiven Geist regiert. Die menschlichen Besonderheiten summieren sich aber zuletzt derart, daß diese Summe der Quantitätsunterschiede in einen großen Qualitätsunterschied umschlägt, der nur als einzigartige Sonderstellung begriffen werden kann. Diese Sonderstellung ermöglicht und bestimmt auch die Eigenart des menschlichen Individualund Sozialverhaltens. Sie legt zugleich dem Gelehrten die vielleicht bereits naturphilosphische Frage nah, ob die mechanistische Betrachtung, der wir im vorhergehenden Abschnitt treu gefolgt sind und die wir auch ferner beibehalten werden, soweit wir nur irgend können, schließlich der Weisheit letzter Schluß sein kann.

1. Die morphologische Sonderart des Menschen Die morphologischen Besonderheiten sind im Wege der Entwicklung und Selektion alle mehr oder weniger auf die einmalige Daseinsform "Mensch" abgestimmt. Von einem Gesamtentwurf der Natur zu sprechen, hieße jedoch, finalistische und vitalistische Gedankengänge anzuerkennen. Jedenfalls sind wir hier berechtigt, aus dieser problematischen Ganzheit der menschlichen Gestalt die einzelnen Züge herauszuheben, welche für unsere sozialanthropologischen Überlegungen besonders wichtig sind. An erster Stelle sei genannt der aufrechte Gang, der dem Menschen den regelmäßigen und ausdauernden Zweitakt-Schritt schenkt. Mit diesem Schritt holt der Jäger seit Urzeiten das schnellste Großwild ein, wie heute noch der Buschmann die Giraffe. Der Formationsmarsch der römischen Legionen hat das dauerhafteste Weltreich zusammengefügt,

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dessen letzte Reste im Osten erst 1452, im Westen erst 1918 mit dem Untergang der kaiserlichen Mittelmächte ausgelöscht wurden. Reitervölker konnten zwar sehr viel schneller erobern, haben aber kaum dauernde Reiche gegründet. Der Formationsmarsch ist überdies als Mittel des Gefühlszusammenschlusses der Marschierenden bis zur Möglichkeit verführerischer Massenberauschung sowohl der Formation als auch der symphatisierenden Zuschauer geeignet. Der aufrechte Gang gewährt dem menschlichen Auge Weltübersicht und schafft zugleich das deutliche Gegenüber von sehendem Einzelsubjekt und gesehenem Nebenmenschen. Die Werkzeughand befähigt den homo faber sich die Welt untertan zu machen. Gen 1 v. 28. Diesen Merkmalen der Macht steht eine teilweise aber auffällige morphologische Ohnmacht entgegen. Dem Menschen fehlen nämlich sowohl natürliche Waffen als auch die Organe zu schneller Flucht. Dieser auffällige Befund zwingt nicht zu der Annahme der orthodoxen Darwinisten, der Mensch habe sich vom hochspezialisierten Baumaffen zur Altform des noch nicht spezialisierten Vormenschen zurückgebildet. Wäre diese Annahme richtig, so hätte der Mensch nämlich nicht nur eine Sonderstellung, sondern wäre geradezu ein Wundertier. Möglicherweise war der Mensch durch seinen Geruch für Raubkatzen, Bären und Wölfe ungenießbar, möglicherweise lebte er eine hinreichend lange Daseinsperiode in ungefährdeter Umgebung. Als entwickeltes Gruppenwesen war er dann sehr schnell jedem Raubtier überlegen (vgl. unten 59 ff.). Entscheidend ist die Zerebralisation, welche in der Schädelbildung sichtbar wird. Sie macht den Menschen zum Gehirntier. Die hochdifferenzierte Ausbildung des Gehirns ermöglicht die sprachliche Verständigung der Menschen untereinander, damit auch einen intensiven Ausbau der Vormenschenherde und eine verabredete Verteidigung. Wir nehmen diesen Gesichtspunkt vorweg, weil er den entwicklungsgeschichtlichen Erfolg des Menschen erklärt. Das Menschenhirn ist dem Säugetierhirn ähnlich, insbesondere dem Primatenhirn, aber nicht nur diesem. Im Verhältnis zum Körpergewicht ist es wesentlich größer und schwerer und auch qualitativ viel reicher und differenzierter ausgestaltet. Seine unerhörte Leistungsfähigkeit wird besonders daraus ersichtlich, daß es sogar in Sonderfällen auftretende schwere morphologische Mängel weitgehend kompensieren kann. Der Gelähmte, der Krüppel, der Blinde - nicht allerdings der Gehörlose - haben, sofern ihr Hirn gesund ist, durch ihren subjektiven Geist und die Teilhabe an der geistigen Kommunikation die großartige spezifische Macht menschlichen Handeins, mag ihnen die Hand auch gänzlich fehlen. Das absolute Hirngewicht übertrifft das der Großaffen um ein mehrfaches. Es beträgt beim Orang etwa 350 g, beim Menschen 1400 bis 1500 g. Dasselbe gilt für den relativen Gewichtsanteil der Großhirnrinde am Gesamtgewicht des Gehirns. Außerdem sind die Windungen und Furchen, in welche sich die Großhirnrinde zerlegt und damit praktisch vergrößert, viel zahlreicher und

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viel stärker differenziert. Auch die Zahl der histologisch unterscheidbaren Rindenfelder, insbesondere derjenigen, in welchen assoziative und steuernde Prozesse ablaufen dürften, sind an Zahl vermehrt. Im Hirnstamm, der allen Wirbeltieren im wesentlichen gemeinsam ist, ist der Thalamus verstärkt. Hier wird die Wurzelregion der Gefühle und Leidenschaften vermutet. Es leuchtet ein, daß eine derartige Apparatur viel mehr leisten kann als das Tierhirn, wie denn auch unter technisch sonst gleichen Bedingungen die Leistungsmöglichkeiten eines Computers von seiner Größe abhängen. Im Unterschied zu allen mechanischen Reglersystemen ist allerdings das Hirn im Verhältnis zu seinen Leistungen erstaunlich klein. 2. Die Arbeitsweise des Gehirns ist uns auch heute noch insofern unbekannt, als wir die entscheidende Frage nicht beantworten können, wie sich die physiologischen Abläufe in subjektiv erlebte Emotionen, Denkleistungen und Entschlüsse umsetzen, wie denn überhaupt die Fülle der geistigen Vorgänge mit den Vorgängen im Gehirn zusammenhängen. Bevor diese Grundfrage im orgiastischen Taumel des psychoanalytischen Überschwanges verdrängt wurde, fand die nüchterne Psychologie noch keine bessere Antwort als die Lehre vom psychophysischen Parallelismus. Im Grunde kennen wir nur eine Anzahl Korrelationen. Es ist daher immer wieder die Frage aufgetaucht, ob nicht an dieser Stelle eine prinzipielle Grenze für unser Erkenntnisvermögen liege. Aber wir sind in der Hirnforschung eben doch auf Vorstufen solcher Erkenntnisse gelangt, sind aber zugleich noch so sehr in den Anfängen, daß wir nicht ahnen können, wie weit uns einmal der menschliche Erkenntnisdrang führt. Im Bereich der Molekularbiologie lösen sich vorerst noch die Hypothesen über die beteiligten Verbindungen ab, ganz zu schweigen davon, daß über der Wirkungsweise dieser Verbindungen noch tiefes Dunkel liegt. Die Erfahrung eines auf die Gedankenentwicklung stets aufmerksamen 82jährigen Mannes rät zu Vorsicht und Hoffnung, aber nicht zu grundsätzlicher Resignation. So können und müssen wir uns hier mit einigen wichtigen praktischen Hinweisen begnügen. Das Gehirn ist bildsam, während das mechanische sog. Elektronenhirn dies nicht ist. Im Verlauf des menschlichen Lebens kann unendlich viel in das Hirn hineinprogrammiert werden, ohne daß die älteren Programme gelöscht werden. Jedermann erlebt dies im Erlernen einer Sprache. Zuerst muß der Lernende jede Vokabel bewußt bedenken, jedes Wortgefüge syntaktisch bewußt gliedern. Nach einiger Übung ersetzt das Gehirn diese schwierige Denkarbeit unterbewußt ganz von selbst. Nach diesem Lernerfolg kann der Mensch nun auch in der fremden Sprache denken. Ein einfacheres Beispiel! Jedermann weiß, daß er sich auf das unwillkürliche Schreiben konzentrieren muß, wenn ihm Zweifel an der Rechtschreibung kommen. Er hat dann die orthogra-

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phische Regel aus dem aktuellen Bewußtsein verloren, aber das erlernte Können wirkt unterbewußt weit€r. Natürlich hinkt der Vergleich zwischen Hirn und Computer, aber er gestattet uns eine unbestreitbare Erfahrung einigermaßen auszudrükken: Es kommt für das praktische Leben nicht nur auf di€ angeborene Hirnverfassung an, sondern auch auf den erworbenen Schaltungszustand des Gehirns, der übrig€ns weitgehend irreversibel ist. Die Psychoanalyse bemüht sich allerdings mit einigem Erfolg, Fehlschaltungen wieder aufzulösen. Wir sind hier genötigt, uns einer Bildersprache zu bedienen. Unser Wissen über die Wirkungsweise des Gehirns ist noch so unvollkommen, daß wir an sich durchaus rationale Denkmöglichkeiten nur in Bildern ausdrücken können. So erklärt sich wohl auch die Gestaltung und Begrenzung der sich entwikkeinden Persönlichkeit. Auch hier gilt ja die alte Volksweisheit: "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr." Ebenso wird verständlich, weshalb wir im Aufbau unseres Charakters eine gewisse Freiheit haben, welche wir mit Verfestigung der Persönlichkeit immer mehr einbüßen, sowohl im Guten wie im Bösen. Leider wird in das Gehirn nicht nur Gutes, sondern auch sehr viel Unnützes hinein programmiert. Eine besondere Frage ist es, ob Erlebnisse früherer Generationen in das Erbgefüge des Gehirns hineinprogrammiert werden können, wie dies die Individualpsychologie Jungs mit der Lehre von den Archetypen behauptet. Die ethnologische Forschung hat bisher allerdings keine Beweise für diese Lehre erbracht. Es liegt wohl näher daran zu denken, daß im Wege der Evolution gewisse Verhaltensweisen erworben werden, welche dann immer wieder die gleichen Situationen schaffen, auf welche das Bewußtsein in entsprechender Weise reagiert. Die Kriminologie macht immer wieder die erschütternde Erfahrung, daß Rezidivisten (in Deutschland namentlich Sicherungsverwahrte), denen man in der Haft echte Einsicht und ehrlichen guten Willen einfach nicht absprechen kann, den alten Zwängen nach der Entlassung wieder verfallen. Steht man vor solchen Leuten, so vergeht einem die Neigung, sie einfach als Heuchler abzuwerten, sehr schnell. Man kann diesen Widerspruch des Verhaltens mit erhöhter Umweltabhängigkeit (so Hellmer) oder ungünstigen Umweltbedingungen nicht ausreichend erklären. Um in unserer Bildersprache zu bleiben, wird eben der in der Haft, im Umgang mit ernsten Strafvollzugsbeamten erworbene Schaltungszustand des Gehirns, der wohl an die Kindheit der Rezidivisten, anknüpft, zurückgeschaltet auf den in der kriminellen Phase ungünstigen Schaltungszustand. Es können eben auch psychische Insulte die Programmierung des Schaltungszustandes höchst negativ beeinflussen und dies nicht nur in den besonders sensiblen Entwicklungsperioden, sondern auch bei Gelegenheit dauernder stark verbildender Erlebnisse. Gerade für den Rezidivisten gilt der Satz des Mephisto: "Das erste steht uns frei, beim zweiten sind wir Knechte" (Faust I v. 1412).

3. Ontogenetische Besonderheiten. Wir heben aus dem reichen Stoff nur einige für unsere Zwecke besonders wichtige Punkte hervor. a) Der Mensch kommt als physiologische Frühgeburt, als extremer Nesthocker zur Welt, und diese Unfertigkeit wird zudem nur sehr lang-

sam ausgeglichen. Derartige Nesthocker gibt es sonst nicht. Das Kind

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ist sehr lange mindestens auf die Mutter, aber doch wohl auch auf das Elternpaar (vgl. unten S. 223, 228, 231 f.) angewiesen. Das gilt bei uns etwa bis zur Schulreife in extremer Einseitigkeit. Der Mensch ist aber auch später seelisch an Vater und Mutter gebunden. Diese Elternrolle läßt sich nur schwer übertragen. Dies liegt nicht an der Festlegung des Kindes, sondern an der ungeheuren Last, welche mit der Aufzucht von Kindern auferlegt ist. Diese Last wird dadurch noch größer, daß wirkliche Erziehung nur im Verbund mit einigen wenigen Kindern möglich ist. Daher nimmt kaum jemand die Mühe der natürlichen Mutter oder auch des Vaters auf sich. Etwa mit Beginn des europäischen Schul alters läßt sich zwar die Erziehung ganz oder teilweise auf kulturelle Institutionen übertragen, die Initiationsriten der Naturvölker finden überhaupt erst um das zwölfte Jahr statt. An die Stelle der extremen Abhängigkeit von den Eltern tritt dann aber doch nur die Abhängigkeit von der älteren Generation überhaupt. Darin steckt eines der großen soziologischen Grundprobleme, welches individualistische Aufklärer immer übersehen haben. Die Schwierigkeiten der Elternrolle auch nur teilweise zu übertragen, werden in der Lehrerpsychologie besonders deutlich. Die Strafgerichte haben sich immer wieder mit Unfällen beim Schulwandern usw. zu befassen. Die Lehrer, welchen Vernachlässigung der Aufsichtspflicht zur Last gelegt wird, stehen zweifellos intellektuell und charakterlich über dem Durchschnitt der Bevölkerung. Aber es läßt sich ihnen auch in der Hauptverhandlung nicht klar machen, daß ihre Aufsichtspflicht 24 Stunden am Tage dauert, wenn man schon das Risiko einer Wanderung von nur 10 Knaben zu verantworten hat. Gleichwertigen Eltern ist das selbstverständlich. Speziell kann gesagt werden, daß der Neugeborene nur ein sehr unentwickeltes Gehirn besitzt. Bolck hat in seiner viel erörterten Foetalhypothese behauptet, die Tragezeit des Weibes müßte etwa 21 Monate dauern, sollte der menschliche Säugling so ausgereift zur Welt kommen, wie andere Säugetierjunge. Zwingend erscheint mir eine andere überlegung, nämlich daß infolge der durch aufrechten Gang bedingten Beckenbildung des Weibes "das Hirn auch bei der normalsten Geburt, besonders einer Primiparen so gewaltige Zusammenpressungen erleidet, daß wenn solche es später träfen, wenn es keine tabula rasa mehr ist, dasselbe Hirn, dem dies bei der Geburt gar nichts tut, die allerschwersten Schäden davontragen müßte" (Konrad Rieger, die Castration 1900, S. XX f.). Der Ausdruck tabula rasa ist wohl überspitzt. Gänzlich unausgereift kann das Gehirn des Neugeborenen wohl nicht sein. Aber es ist eben nur teilweise ausgereift, der Mensch besitzt schlagwortartig ausgedrückt daher nur eine haZbfertige Instinktstruktur. Dies gilt gerade auch für das SoziaZverhalten. Während das Tier mit der Geburt fertige und bestimmte Sozialinstinkte mitbringt, entbehrt der Mensch eines ihm eingeborenen und angeborenen Sozialplanes.

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Eine tabula rasa im strengen Sinn kann das Menschenhirn schon deshalb nicht sein, weil es ohne Zweifel deut.liche angeborene Unterschiede gibt. Es hat an dieser Stelle wenig Zweck, auf den alten Streit zwischen Anlageund Umwelttheorie einzugehen. Aber die Alltagserfahrung der Menschheit darf in Erinnerung gebracht werden. Wer als Achtzigjähriger die übersicht über drei ihm wohlvertraute Geschwistergenerationen hat, die eigene, die der eigenen Kinder, die der eigenen Enkel, hat deutlich vor Augen, wie sehr sich die Kinder in einer Geschwisterreihe unterscheiden, wie deutlich sich jeweils auch die Geschwisterreihen der neu gekreuzten folgenden Generationen voneinander unterscheiden. Diese Unterschiede lassen sich unmöglich mit dem Stellenplatz in den Geschwisterreihen oder den verschiedenen Erziehungsmethoden der drei beteiligten Generationen erklären. Es ist eben nur die Frage, wie weit die Anlage, wie weit der Erziehungseinfluß reicht. Dies ist aber an anderer Stelle zu erörtern. Die Unfertigkeit der Instinktstruktur des Neugeborenen hat dort eine deutliche Grenze, wo schon der Säugling gebrauchsfertiger Instinkte bedarf, wie etwa der instinktiven Suche nach der Mutterbrust und des Sauginstinktes. Darüber hinaus zeigen gerade die Versuche im Verhaltensvergleich, beim Menschen angeborenes Instinktverhalten nachzuweisen, daß vom eigentlichen menschlichen dabei noch kaum die Rede sein kann. Die gründliche Aufzählung bei Eibl-Eibesfeld läßt das deutlich erkennen. Die zweifellose Ähnlichkeit vitaler Äußerungsformen des Lächelns, des Weinens, müßten ihre Ursache ja gar nicht im Gehirn haben. Die Unfertigkeit könnte behoben werden durch Ausreifung im Rahmen der angeborenen Wachstumstendenz, durch exogene Neuprogrammierung in den Grenzen der halbfertigen Instinkte, durch Lernen im Sinn einer bloßen Lerngewohnheit. Diese Fragen sind noch nicht so klar gestellt worden, daß wir darüber viel wüßten. Die beiden ersterwähnten Möglichkeiten lassen sich in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Situation kaum belegen. So erscheint uns der Mensch mindestens vorerst als das Lernwesen schlechthin. Im übrigen ist bezüglich der Anwendung der angeborenen Handlungsstruktur zu bedenken, daß diese nicht absolut starr gedacht werden darf, wie namentlich die Erfahrungen bei Tierdressuren oder bei der Haustierzüchtung erweisen. Das Bedürfnis, die Unfertigkeit unserer Instinktstruktur zu beheben, darf also nicht überschätzt werden. Tiere mit völlig starrer Verhaltensstruktur könnten nicht einmal geringe Umweltänderungen überstehen. b) Als typisches Lernwesen ist der Mensch zugleich Experimentierwesen. Unter Lernen verstehen wir die Aufnahme tradierbarer, verstehbarer Inhalte, die bloß technische Einübung von Techniken interessiert hier nicht. Tradition in diesem Sinn bietet sich nur an und zwingt nicht, läßt also andere Lösungen zu. Die aus diesem Sachverhalt resultierende Wahlmöglichkeit, welche zuerst wohl mehr zufällig genutzt wird, hat die frühe Menschheit zu erstaunlichen sozialen Experimenten veranlaßt. Gerade die Welt der Primitivkulturen ist in ihren Ausgestaltungen überaus bunt und vielfältig, da die unfertige Instinkt-

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struktur gewisse Verhaltensweisen eben nur nahelegt. Demgegenüber ist die moderne Zivilisation vergleichsweise einheitlich und einförmig, obgleich sie um die Machbarkeit sozialer Gestaltungen weiß, dies eben doch wohl deshalb, weil sie weiß, daß verschiedenes Machbare sich nicht bewährt hat. Überschreitet der Mensch die Grenzen, welche ihm seine unfertige Instinktstruktur eben doch setzt, so werden manche "gemachte" Lebensformen scheitern. Dies besagt, daß jede vorhandene Sozialordnung aus der Tradition und zugleich aus der Erfahrung des ursprünglich ungezielten Experiments lebt. Daß die Menschheit ohne die Anwendung erlernter Tradition nicht leben kann, erweist schon das Ernährungsproblem. Der Mensch hat nämlich in seinem Instinkt eine nur sehr unvollkommene Anleitung zur richtigen Ernährung. Jede auf der Welt vorhandene Ernährungsweise ist in Wahrheit erlerntes Traditionsgut. Populationen sterben aus, wenn sie die unter den gegebenen Bedingungen mögliche und richtige Art und Weise sich zu ernähren nicht lernen, mindestens ergeben sich ernste Schäden. Wir können hier nicht auf alle Streitfragen der Ernährungswissenschaft eingehen, das Problem aber an zwei Beispielen verdeutlichen. Die bei Niederkulturvölkern auftretenden Ernährungsschäden beruhen großenteils auf Fehlernährung und nicht auf Mangelernährung. Viele Bantustämme Ostafrikas zeigen bei ihren Kleinkindern ganz auffälliges Untergewicht. Die Kinder, welche diese Mangelperiode überstehen, gleichen dann das Gewicht etwa vom 7. Lebensjahr an aus. Die Bantufrau stillt nämlich ihr Kind etwa zwei Jahre lang, also viel zu lange, um es dann plötzlich vor die Aufgabe zu stellen, sich selbst mit Maisbrei - das ist noch die beste Lösung - zu füttern. Die fehlenden Vitamine könnten jedenfalls vielerorts in den regenreichen Gebirgen gefunden und gebraucht werden. Dies beweisen einzelne fortgeschrittene Stämme. Auch die Eiweißernährung, welche die Hirtenvölker, z. B. die Massai vorwiegend zu sich nehmen, läßt derart schwere Fehlernährung nicht aufkommen. Im Zusammenhang damit muß noch gesagt werden, daß auch die Mangelernährung in den dünnbesiedelten Gebieten durch bessere landwirtschaftliche Technik, welche eben auch erlernt und tradiert werden muß, zu beheben wäre. An den mittelalterlichen Ritterrüstungen fällt befremdend auf, daß diese Ritter sehr klein gewesen sein müssen, sehr viel kleiner als ihre germanischen Vorfahren und auch als ihre heutigen Nachkommen. Die Ursache ist noch unklar. Dem Rechtshistoriker fällt auf, daß die frühen Quellen das Zeidlerrecht sehr ernst nehmen. Nun ist im Mittelalter der Honig die einzige wichtige Zuckerquelle. Auch im alten Testament ist das gelobte Land das Land, wo Milch und "Honig" fließen. Hätte man im Mittelalter wirklich gewußt, wie wichtig der Zucker ist, so hätte man dem Mangel auch damals durch die Zuckerrübe abhelfen können. Die Imkerei lieferte aber nach der Periode der großen fränkischen Rodungen für die zunehmende Bevölkerung keine hinreichende Zuckermenge. Das Problem des Experiments läßt sich leider nur an solchen Beispielen wirklich verdeutlichen, welche höchst umstritten bleiben müssen. Man kann vielleicht sagen, daß die halbfertige Instinktstruktur dem Menschen eine maßvolle patriarchalische Ordnung vorschlägt. Aber man kann sicherlich die Emancipation des Weibes ausprobieren und in einer emancipierten Ordnung auch leben, soweit die moderne Technik eine Überflußgesellschaft ermöglicht. Nur haben in der Vergangenheit alle Zivilisationen, welche dies Experiment

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gemacht haben, es mit dem Aussterben des größten Teils der Bevölkerung bezahlt. Der deutsche Geburtenrückgang nähert sich heute der Grenze, von der es nach historischer Erfahrung keine Rückkehr mehr gibt. Aber möglicherweise haben sich eben doch inzwischen die Bedingungen geändert.

4. Führung durch Tradition war in früheren Zeiten der Menschheit nur möglich, weil die im Verhältnis zu anderen Arten lange Lebensdauer eine hinreichende Zahl erfahrener Männer zur Verfügung stellte. Seine lange Lebensdauer ist dem Menschen schon sehr früh bewußt geworden, wie viele Fabeln und Erzählungen beweisen. Seit der weiten Verbreitung der modernen Kulturtechniken des Lesens und Schreibens, des Buch- und Zeitungsdruckes glaubt die Mehrheit der Menschen des Rates der Alten nicht mehr zu bedürfen. Der Erfolg des Experiments bleibt abzuwarten. 5. Weisen alle bisher besprochenen Eigenheiten des Menschen eben doch auf die alte Meinung hin, daß der Leib als Werkzeug, Gefäß und Kraftquelle der geistigen Existenz anzusehen sei, so übt die nur dem Menschen eigene chronische Sexualität einen gegenläufigen Zwang auf sein Verhalten aus. Die Sexualität ist in erster Linie eine physiologische und nicht eine psychische Angelegenheit. Wer wie Freud und seine Schule hier von der Psyche ausgeht, steht außerhalb des Sachzusammenhanges. Zu unterscheiden sind Sexualinstinkt einerseits und erlebter Geschlechtstrieb andererseits. Triebe unterscheiden sich von Instinkten dadurch, daß sie erlebt werden, die tragende Kraft bleibt gerade im Sexualbereich aber der Instinkt. Das instinktive Sexualverhalten ist bei Mann und Weib in verschiedenen Organen, in verschiedener Verhaltensweise angelegt und darum bei Mann und Weib durchaus verschieden. "Der männliche Instinkt ist zu allererst Detumeszenzdrang, d. h. daß es sich beim Mann vor allem um eine Excretion handelt, die einerseits spontan nur selten erfolgt, und wenn sie häufiger erfolgen soll, äußerer Reize bedarf, deren Nichterfolgen andererseits dem Mann je nachdem analoge Beschwerden verursachen kann, wie das Nicht-Erfolgen der Darmexcretion. Von dieser Hauptsache der männlichen Sexualität ist bei der weiblichen durchaus nichts vorhanden. Das Ovulum wird geradeso excerniert, ob Reizungen stattfinden oder nicht. Die durchaus nebensächliche, vaginale Schleimhaut-Excretion ist nicht vergleichbar mit der wesentlichen und hauptsächlichen testikularen Drüsen-Excretion." Diese Sätze Riegers (a.a.O., S. XIII) sind ganz unbestreitbar richtig, soweit der Sexualinstinkt in Betracht kommt. Inwieweit sie für den Sexualtrieb Geltung haben, wird später zu erörtern sein. Immerhin mag gesagt werden, daß der junge Mann sehr oft den Trieb wesentlich als Detumescenctrieb erlebt. "Ich kann es mir doch nicht durch die Rippen schwitzen."

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In unserem Zusammenhang sind die Konsequenzen und Möglichkeiten des Instinktes, nicht des Triebes, wesentlich. Jeder Instinkt bildet und bleibt bei Bestand doch nur, weil er zu etwas "gut" ist, d. h. einen für die Arterhaltung nützlichen Effekt hat. "Gut" ist der chronische Instinkt, weil er den Mann zum Zweck der gemeinsamen Brutpflege an das Weib bindet, er kann schlechterdings keinen anderen Nutzen haben. Zu fragen ist nur, ob dadurch auch die Monogamie nahegelegt ist. So ist anzunehmen, daß die Entwicklung der chronischen Sexualität vom Mann ausgeht. Ziel des weiblichen Sexualinstinktes und Triebes ist die Contrectation, sie genügt dem Fortpflanzungs- und Brutpflegezweck. Im Einzelnen ist über die Fragen der Geschlechtlichkeit erst später zu berichten (vgl. unten §§ 18, 19). 11. Die entscheidende Besonderheit des Menschen besteht endlich darin, daß er Träger des subjektiven Geistes und damit Schöpfer des objektiven Geistes ist. Der Terminus "Geist" soll wie ein Reizwort dazu nötigen, die entscheidende Frage nach dem eigentlich Menschlichen wieder unverhüllt zu stellen. Es gibt auch keine andere Bezeichnung, welche als Sammelname für die Fülle der hierher gehörigen Sachverhalte dienen könnte. Welche Verwirrung und Realitätsferne auf diesem Gebiet herrscht, zeigt der Vorschlag eines so vorzüglichen Forschers wie Portmanns den Geist als "Innerlichkeit" zu bezeichnen. Nun wird allerdings der subjektive Geist innerlich erlebt, aber er ist in allen seinen Phänomenen als Kraft wirksam, welche die äußere Welt gestaltet. So ist der historische Materialismus in der Gestalt, die ihm Karl Marx gegeben hat, und der die äußere Welt seit 100 Jahren grundlegend verändert hat, eine "innere" Idee. Ob nun diese Idee im Hirn von Kar! Marx sich mit kausaler Notwendigkeit entwickelt hat, ist eine müßige Frage, da wir darüber garnichts wissen können. Wir betrachten die Phänomene des Geistes als empirische Gegebenheiten, sie bilden eine Struktur von Strukturelementen. Sie treten in der Evolution allmählich hervor, sobald das Leben ihrer bedarf. Umgekehrt können bei geistigen Erkrankungen Leistungen entfallen. Man darf sich aber den Vorgang nicht als Überwölbung der tierischen Grundstruktur durch eine obere Schicht vorstellen. Vielmehr hängt hier immer alles mit allem zusammen. Manchmal verdankt der Mensch das Beste, was er hat, seiner sogenannten Tiefenschicht. Ein kortikal Schwergeschädigter kann beglückende moralische Leistungen erbringen. Wenn wir also hier nacheinander das Bewußtsein, die Intelligenz, die personale Vernunft als Teilstrukturen der Struktur des Geistes erörtern, so ist zu betonen, daß schon mit dem Beginn des Bewußtseins auch die anderen Teilstrukturen anklingen. Aber die wesentlichen Bereiche lassen sich eben doch unterscheiden. Der Versuch, die Phänomene des Geistes als Auswirkungen einer Struktur darzustellen, ist nicht neu, man denke nur an die uralten Lehren von den

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verschiedenen Seelenvermögen. Hegel wandte gegen diese Lehren ein, sie suchten gewissermaßen im Seelensack herum, was dort zu finden sei. Aber es sind damit doch nur die Notwendigkeiten jeder empirischen Forschung auf allen Gebieten bezeichnet. Man sucht herum, findet und ordnet. Bei dieser Verfahrensweise erscheint die Kraft des subjektiven Geistes als ein Ausbruch aus der Welt des Natürlich-lebendigen. Das Leben des Menschen bedarf zu seiner Erhaltung und Betätigung dieses Ausbruchs in etwas Neues. Wenn Portmann (a.a.O., S. 11) diese Betrachtungsweise ablehnt, so verkennt er, daß die Evolution in ein neues Reich eintritt, sobald der subjektive Geist beginnt. 1. Grundstufe ist das menschliche Bewußtsein. Man darf auch beim höheren Tier Bewußtsein vermuten. Das menschliche Bewußtsein ist aber sehr viel reicher entwickelt als das tierische und befähigt zu bewußtem Willensentschluß, welcher beim Tier kaum vorkommt.

a) Das theoretische Bewußtsein umfaßt alle von außen empfangenen Eindrücke und alle wichtigen inneren physiologischen Abläufe. Seine Beteiligung an allen höheren geistigen Leistungen ist so selbstverständlich, daß wir diesen Punkt nicht zu erörtern brauchen. Aber die Bedeutung des Bewußtseins ist schon in den Anfängen des bewußten Seins sichtbar. Es verwandelt den bloßen Instinkt in den bewußten Trieb, es erhebt den bloßen Gefühlseindruck zum Erlebnis und verfestigt so das Gefühl. Es erhebt den bloßen Sinneseindruck zur Wahrnehmung, unterscheidet die Wahrnehmungen voneinander, benennt sie gewissermaßen und macht so Erfahrung möglich. Es verwandelt die unbewußte Äußerung und Information, wie wir sie irgendwie bei allen Tieren finden zur bewußten Sprache. Alle Sprache beginnt nämlich damit, daß der Mensch Namen "nomina" bildet, also Namen für die verschiedenen Phänomene. Das Leben der Vormenschenherde steigert sich, sobald die Mitglieder sich bewußt erkennen können und sich durch die Sprache verständigen. Wir wollen diese Phänomenologie der geistigen Erscheinungen hier nicht fortsetzen. Es kam hier nur darauf an, zu zeigen, daß das unbewußte Leben, sofern es sich steigern soll, bereits zu seiner Entfaltung des Bewußtseins bedarf. Der Irrationalismus, der in der Lehre Freuds vom Unbewußten gipfelt, meint, der wesentliche Teil des Seelenlebens vollziehe sich im Zwischenreich des Unbewußten zwischen dem organischen Leben und dem Bewußtsein. Die bewußten Lebensäußerungen seien nur kümmerliche Ausschnitte aus dem Seelenleben überhaupt. Nun gibt es sicherlich im menschlichen Leben, Erleben und bewußten Erleben viele "Anfänge ohne Fortsetzungen" und "Fortsetzungen ohne Anfänge" (Adalbert Stifter). Aber es wäre unangebrachter Optimismus zu hoffen, das Stückwerk unseres Erlebens vollende sich im Unbewußten, wenn es sich 4 Mayer

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nicht im Bewußtsein vollendet. In Wahrheit stoßen wir nur an den neuralen Apparat, wo die Arbeit unseres Bewußtseins aufhört. Dem Irrationalismus korrespondiert die zur gleichen Zeit vorherrschende Definition des Bewußtseins, wie wir sie in dem repräsentativen Lehrbuch von Elsenhans (3. Aufl., § 31 § 481) finden: "Man pflegt mit Bewußtsein den Gesamtinhalt des aktuellen Seelenlebens, der das Bewußtsein wissentlich erfüllt, zu bezeichnen." Inwieweit diese Definition für die Arbeit des Psychologen hilfreich ist, sei dahingestellt. Für den qualitativen Unterschied zwischen Mensch und höherem Tier, der für den Entwicklungsvergleich entscheidend ist, läßt sie unberücksichtigt, daß beim Menschen jedes Erlebnis sich ins Bewußtsein drängt, daß ferner das menschliche Erinnerungsvermögen grundsätzlich alles aufbewahrt, was einmal bewußt erlebt wurde. Diesen Schatz von Inhalten, sowohl derjenigen, die sich neu anbieten als auch der früher erlebten, kann der Mensch gewöhnlich auch aktualisieren. Das Bewußtsein ist also als spontane Tätigkeit zu begreifen, welche noch undeutlich Bewußtes und Erinnertes aktualisiert. Es nimmt dabei beides neu auf, verarbeitet es und entläßt es anschließend wiederum in die Reserve des Aktualisierbaren. Ist der neue Inhalt undeutlich, so vermag er immerhin einen Reiz zu besserer Wahrnehmung auszulösen. Mißlingt die spontane Erinnerung, so pflegt der Mensch Erinnerungshilfen zu gebrauchen. Die Psychoanalyse hat besondere Methoden entwickelt. Vergessenes oder gar Verdrängtes wieder ans Licht zu ziehen. Ist aber die Erinnerung im neuralen Apparat gänzlich ausgelöscht, so helfen keine detektivischen Bemühungen. War der neue Eindruck zu undeutlich, so vermag auch gesteigerte Aufmerksamkeit nichts mit dem Reiz anzufangen. Der neurale Apparat mag dann immer noch durch unvollständige Eindrücke oder vergessene Erlebnisse irgendwie programmiert sein, so daß er bestimmte Assoziationen oder Gedankenvollzüge erleichtert oder versperrt. Man mag auch in der psychologischen Exploration vorgebildete Möglichkeiten oder Sperrungen feststellen. Es ist aber ebenso gefährlich wie überflüssig, aus der beobachtbaren Vorprogrammierung auf den Inhalt der programmierenden Erlebnisse zu schließen. Im übrigen vervollständigen sich die psychischen Reihen meist im aktualisierbaren Bereich. Wo dieser Bereich aufhört, beginnt nicht etwa ein unbewußtes Seelenleben, sondern das rein physiologisch-neurale Geschehen. Diese neurale Seite der Bewußtseinsvorgänge ist aber bis heute so wenig geklärt, daß wir uns mit Bildern und Vergleichen aus der Funktionswelt der kybernetischen Regelsysteme begnügen müssen, die jedenfalls gerade das leisten, was das unbewußte Seelenleben angeblich leisten soll, obgleich diese Regelsysteme nur intelligent ersonnene Mechanismen sind.

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BeispieZ: Bekanntlich sind Waren im Selbstbedienungsladen dann verkaufswirksam aufgestellt, wenn sie zur Wegnahme verlocken. Tritt nun dieser Anblick ins Bewußtsein, so kommt es darauf an, wie der neurale Apparat vorprogrammiert ist. Ist die Reaktion "Stehlen" gar nicht vorgebildet, so wird der Anblick überhaupt nicht zum Anreiz werden. Kommt aber der Anreiz an, so wird zunächst entschieden, ob unbedingte Ehrlichkeit vorprogammiert ist, ob also der Gedankengang "Stehlen" leicht bereitgestellt wird oder mehr oder weniger versperrt ist. Erst wenn der Reiz als solcher deutlich ins Bewußtsein tritt, kommt es zur bewußten Auseinandersetzung. In diesem weiten Sinn ist das Bewußtsein eine Beziehungseinheit. Freilich pflegen sich die Inhalte weithin zu widersprechen und der Mensch ist sich dieser seiner Widersprüchlichkeit auch immer bewußt gewesen. Der Integrationsprozeß vollzieht sich aber meist von selbst, so daß wir ihm gewissermaßen nur "zusehen" (Hegei). Nur aus besonderem Anlaß ist eine Reflexion auf das Ich erforderlich. Die Psychiatrie setzt diese Integrationseinheit beim Menschen als selbstverständlich voraus und beschreibt gewöhnlich nur die Phänomene, welche beim Zerfall des Bewußtseins auftreten.

b) Das praktische Bewußtsein oder der Wille. Der Wille ist die Entscheidung des Bewußtseins als eines Ganzen. Jedes verantwortliche menschliche Handeln wird von einer solchen Entscheidung getragen. Dabei mögen die verschiedensten Strebungen oder Antriebe, auch aus dem neuralen Apparat, auf den Menschen einwirken. Zum Handeln gelangt der Mensch erst, wenn er sich bewußt entscheidet. Der Gesetzgeber macht den bewußtlosen Täter von jeher nicht verantwortlich. Die forensische Praxis zeigt zudem, daß es ohne Bewußtsein meist nicht einmal zu äußerer Tätigkeit kommt. Die Strafrechtslehre kann ihrem Grundsatz, daß unbewußte Tätigkeit keine verantwortliche Handlung sei, nur am Beispiel der Reflexhandlung und der unbewußten Untätigkeit erläutern. Bereits die sogenannte Kurzschlußhandlung ist schon wieder bewußte Handlung, wenn der Täter auch nur sehr unvollkommen auf den Wert seiner Motive reflektiert. Sobald die Psychologie, wie es ihre Aufgabe ist, die einzelnen seelischen Akte analysiert, so findet sie nur Strebungen, Antriebe, Motivationszusammenhänge, bestenfalls "Wollungen". Sie muß daher mit Wilhelm Wundt zugeben, daß der Willensakt nicht ein psychischer Akt neben anderen ist, sondern "schöpferische Synthese", welche über alle Vorstufen der Motivation hinweg nicht nur das Bewußtsein, sondern auch die Person im Entschluß integriert. Insofern ist unsere obige Definition unvollständig, was weiter unten noch zu erörtern ist. Sobald man diesen Integrationszusammenhang durch Analyse auflöst, verschwindet der Wille. In der Lebenspraxis verliert der Mensch die Fähigkeit zu handeln, solange er auf seine Motive und Bedingungen reflektiert. Dies ist der wahre Kern des Goetheschen Satzes, daß der Handelnde immer gewissenlos sei. Der Mensch kann sich im Zustand unentschlossener Reflexion nur treiben lassen, er weiß aber immerhin was er tut. Ob dieser psychologische Sachverhalt für eine Verurteilung wegen Vorsatzes ausreicht, ist eine Frage des positiven

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Rechtes. Unterlassung, z. B. unterlassene Hilfeleistung (vgl. § 330 c Liebesparagraph) kann durch Entschlußlosigkeit zustande kommen. Bewußtes Tun ist nicht gleichzusetzen mit wissentlichem Tun. Zu allen Zeiten sind die Menschen nicht nur für wissentliches Handeln im Sinn des aktualisiert Bewußten verantwortlich gemacht worden, sondern auch für halbbewußte, ja fahrlässige Tat bis hin zum Grenzfall der sogenannten unbewußten Fahrlässigkeit. Da das Gesetz den Täter aber nur für schuldhaftes Handeln bestraft wissen will, ist diese Ausdehnung des strafbaren Bereichs nur möglich, weil man davon ausgeht, daß Vorbewußtes und Erinnertes bei gehöriger Anstrengung aktualisiert werden kann. Die Psychologie sollte diese jahrtausendealte Rechtserfahrung berücksichtigen und nicht vorschnell korrigieren. Beispiele: Im Fall des sog. dolus eventualis erkennt der Täter deutlich oder undeutlich, daß seine Handlung möglicherweise einen Nebenerfolg hat bzw. daß der äußere Sachverhalt eine besondere Qualifikation aufweist. Letzteres spielt eine große Rolle beim Mißbrauch von Kindern. Würde der Täter "wissentlich" auf das Alter des Mädchens reflektieren, so würde er sich möglicherweise hüten, sich selbst in die Gefahr sozial entwertender Strafe zu bringen. Für die Strafbarkeit genügt aber die wenn auch dunkle, also nur unvollkommen aktualisierte Vorstellung, das Kind möchte das Schutzalter überschritten haben, so jedenfalls die faktische Praxis. - Wie kompliziert diese Fragen sind, mag aus der früher viel vertretenen Lehre ersehen werden, es könne gar keinen fahrlässigen Falscheid geben, denn entweder wisse der Täter wirklich gar nichts, dann könne er nicht schuldhaft falsch schwören, oder aber er habe eine undeutliche Vorstellung, dann schwöre er einen vorsätzlichen Meineid. Es ist bezeichnend, daß weder die Gesetzgebung noch die höchstrichterliche Rechtsprechung sich auf dies Sophisma eingelassen haben. Wer ehrlich um Wahrheit bemüht ist, dem fiele vieles von selbst wieder ein, und auch willentliche Anstrengungen können von Erfolg gekrönt werden. Der Mensch kann willentlich aktualisieren. Ist ihm dies gelungen, so schwört er einen Meineid, wenn er seinem eigenen aktualisierten Bewußtsein widerspricht. Strengt er sich nur nicht hinreichend an, so handelt er fahrlässig. In foro ist die Beweisführung schwierig, wie denn auch die hier angerührten Rechtsfragen höchst umstritten sind. Man hat auch den Versuch gemacht (Welzel), die fahrlässige Handlung in konträren Gegensatz zur vorsätzlichen zu stellen. 2. Die Phänomene der Intelligenz. Als Intelligenz bezeichnen wir das tätige Bewußtsein. Wir beabsichtigen hier nicht die einzelnen dabei in Betracht kommenden seelischen Akte zu analysieren. Wir wollen nur zu schildern versuchen, wie sich die für unser Verhalten entscheidenden Intelligenzleistungen in möglichen Entwicklungsstufen aufeinander aufbauen. Unser Versuch mag als solcher recht unvollkommen sein. Da wir aber im Verhaltensvergleich das menschliche Verhalten als evolutionsbedingt betrachten müssen, so bleibt uns kein anderes Mittel, um das Zusammenwirken der Triebe und Dränge mit Bewußtsein und Intelligenz einigermaßen befriedigend darzustellen. a) Die Entwicklungsstufen der Intelligenz. Wir können hier nur die wichtigsten Gesichtspunkte hervorheben.

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aa) Ausgangsbasis ist das rezeptive Bewußtsein. Es verarbeitet spontan die sinnlichen Wahrnehmungen, indem es sie deutlich oder verdeutlicht denkt und ordnet, und damit die Unterscheidung verschiedener Wahrnehmungen ermöglicht. Auf dieser untersten Stufe der Intelligenz sind immerhin einsichtige Nachahmungshandlungen möglich, welche letztere von Reflextätigkeiten zu unterscheiden sind, die nur wie Nachahmung aussehen. Zu letzteren ist keine Spontaneität des Bewußtseins erforderlich. Nachahmungshandlungen spielen in unserem sozialen Verhaltenssystem eine bedeutende Rolle, sowohl im Guten wie im Bösen. Sinnliches Wahrnehmungsvermögen braucht jedes Tier, um sich zu erhalten. Inwieweit höhere Tiere diese bloß sinnlichen Wahrnehmungen verarbeiten, ist höchst umstritten, da wir in die Psyche des Tieres nicht unmittelbar hineinsehen können. Sowohl beim Tier wie beim Menschen ist anzumerken, daß bereits die neurale Apparatur synthetische Wahrnehmungsleistungen zustandebringt, die an das Wunderbare grenzen. Eine ältere Vorstellung meinte, die Sinne vermöchten nur ein Chaos von Eindrücken zu vermitteln, das erst durch das Bewußtsein geordnet werden könnte. In Wahrheit stellt bereits z. B. der optische Apparat ein geordnetes perspektivisches Bild der Außenwelt zur Verfügung, das für den homo faber et venator brauchbarer ist als die Photographie. Die Leistungen kybernetischer Systeme sind eben wunderbar. Inwieweit dies durch den optischen Apparat gelieferte Bild durch Erfahrung korrigiert wird, die dann allmählich ins Unterbewußte absinkt, ist hier nicht zu untersuchen. Nur muß man davor warnen, aus dem hohen Leistungsgrad auf die Mitwirkung des Bewußtseins zu schließen. Wir bleiben noch auf der Stufe des rezeptiven Bewußtseins, wenn wir feststellen, daß der Mensch sich auch seiner seelischen und körperlichen Eigentätigkeit bewußt ist, indem er seine Gefühle, Strebungen und sein Körperempfinden jederzeit ins Bewußtsein erheben kann, indem er auf die inneren Wahrnehmungen reflektiert. Ein eigentlich wählendes Handeln ist aber auf der Stufe des rezeptiven Bewußtseins noch nicht möglich, da die Maßstäbe für die Auswahl sich erst auf einer höheren Stufe der Intelligenz bilden. Es siegt zuerst ganz einfach der im Augenblick zufälligerweise stärkste Aktionsreiz. bb) Die nächste Stufe ist das produktive Bewußtsein. Es beginnt mit dem hochentwickelten menschlichen Erinnerungsvermögen, welches den Großteil der wichtigen Erlebnisse für lange Zeit aufzeichnet, und diesen Erfahrungsschatz zur Aktualisierung bereit hält. Die Spontaneität der Intelligenz kann so die gegenwärtige Wirklichkeit einer früheren gegenüberstellen. Daraus entwickelt die Phantasie eine dritte mögliche Welt. Aus all dem erbaut das Bewußtsein eine Erfahrungswelt. Aus seiner Handlungserfahrung weiß das Bewußtsein, daß diese Erfahrungswelt durch Handlungen verändert werden kann. Damit wird dem Menschen auch möglich, final, d. h. zwecksetzend, zu handeln, indem er aus den verschiedenen denkbaren Handlungen

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im Sinne psychologischer (nicht metaphysischer) Wahlfreiheit wählt. Finales Handeln beginnt mit der Anwendung der Werkzeugintelligenz, von der selbst bei den höchstentwickelten Primaten nur geringe Anfänge vorhanden sind. Beim Menschen entwickelt sich die Werkzeugintelligenz bis zur kausalen Beherrschung der Naturkräfte und sogar zur Manipulierung des Menschen selbst, sei es in Herrschaftssystemen, sei es in individueller Selbstbemeisterung. Erst mit dem menschlichen Handeln kommt Finalität in die Welt. b) Die Leistungen der Intelligenz

aal Als Rüstzeug im Lebenskampf verleiht die Intelligenz dem Einzelmenschen, aber auch vor allem dem Menschengeschlecht als solchem eine überragende Macht, wie sie anderen Lebewesen nicht gegeben ist, so groß deren Stärke oder Schnelligkeit, so furchtbar deren natürliche Waffen sein mögen. Es ist schon deshalb schief, vom Menschen als einem Instinktmangelwesen zu reden, denn der Mensch ist für den Lebenskampf vermöge seiner Intelligenz viel besser ausgestattet, als er dies durch ein mehr oder minder starres Instinktsystem wäre. Diese Macht der Intelligenz ist oft geschildert worden, nur sie befähigt den Menschen in jeder denkbaren Umwelt zu leben. Neuerdings beklagt der Irrationalismus, daß der Mensch Gefahr laufe, zugleich mit der "natürlichen" Umwelt die eigenen Lebensgrundlagen zu zerstören. Dieses mögliche Schicksal erleidet das instinktgebundene Tier aber immer sehr viel früher als der Mensch. Auch dieses zerstört seine lebensspendende Umwelt, wenn der ökologische Ausgleich durch natürliche Feinde entfällt, wie dies immer wieder geschieht. Vermehrt sich die Nonne kraft Naturzwang im Übermaß, weil es an Feinden fehlt, so vernichtet der Nonnenfraß mit den Nadelwäldern auch den Lebensraum der Nonnenraupe. Können sich Elefanten ungehemmt vermehren, so fressen sie den ganzen Graswuchs der Steppe auf. Der tierische Instinkt ist also zwar weit weniger mächtig, aber gewiß nicht klüger als die menschliche ratio. Dazu hat der Mensch die Möglichkeit durch Einsicht und Umweltpflege den tödlichen Auswirkungen seiner Macht vorzubeugen. bb) Die Intelligenz als solche ist inhaltsleer. Nihil est in intellectu, quod non antea fuerit in sensu. Sie empfängt ihr Material entweder aus Sinneswahrnehmung und Gefühl oder aus der Tradition. Ob und inwieweit die Intelligenz reine Form im Sinne Kants ist, bedarf hier keiner Erörterung. Im tatsächlichen geschichtlichen Verhalten hat sich die Intelligenz zweifellos als kritische Instanz bewährt. Vor ihrem Richterstuhl kann keine vorgegebene Verhaltensweise als schlechthin gültig bestehen. Sie hat so den Menschen von biologischen oder traditionellen Zwängen befreit und immer wieder den Weg zum zivilisatorischen Fortschritt eröffnet. Sie vermag als mögliches Ziel menschlichen Verhaltens aber nur die Selbsterhaltung anzugeben. Sie bezieht nach aller geschichtlichen Erfahrung alle Bewußtseinsinhalte zunächst auf das Einzel-Ich und erklärt daher das Sozialleben seit den Tagen der griechischen Sophisten zu-

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nächst aus dem Egoismus des Einzelnen. Nun kann freilich der Mensch nur in der Gesellschaft überleben. Das Kollektivinteresse d. h. der Summe aller Einzelnen steht aber leider notwendigerweise in einem unauflösbaren Widerspruch zu dem Einzel-Ich. Dabei unterstellt die Intelligenz leider, daß der Einzelmensch und die Gesellschaft Interessen habe, welche nicht nur erkennbar seien, sondern auch tatsächlich nicht verkannt werden können, was aller Erfahrung widerspricht. Die neuere Entwicklung gipfelt in einem Humanitätsideal, das aus der bloßen Intelligenz aber gar nicht begründet werden kann, wie Nietzsche für alle Zeiten erwiesen hat. Die bitterste Parodie auf die Grenzen der Intelligenz hat der Schopenhauer-Jünger Wilhelm Busch geliefert. Wie dunkel ist der Lebensweg, Den wir zu gehen pflegen. Wie gut ist da ein Apparat Zum Denken und Erwägen. Der Menschenkopf ist voller List Und voll der schönsten Schliche. Er weiß, wo was zu kriegen ist Und weiß die besten Griffe. Und weil er sich so nützlich macht, Behält ihn jeder gerne. Wer stehlen will und zwar bei Nacht Braucht eine Diebslaterne. Der vor einigen Jahren verstorbene Soziologe Theodor Geiger, dessen denkerische Energie und Konsequenz bewundernswert war, will die menschlichen Katastrophen nur aus der bisher unterentwickelten Intelligenz des Menschen erklären. Gereifte Intelligenz müßte jedermann die soziale Interdependenz begreiflich machen, auch in seinem egoistischen Interesse. Geiger erörtert dabei leider nicht, daß sowohl freiheitliche Gesellschaftssysteme wie totalitäre Herrschaftssysteme gleichermaßen nach dem formalen Prinzip der sozialen Interdependenz verfahren. Im übrigen kann man auf die Ideologie der rationalen Interdependenz nur mit Trasymachos oder populärer mit einem abgewandelten Schillervers antworten. Einstweilen bis den Bau der Welt Soziologie zusammenhält Erhält sie (die Natur) das Getriebe Durch Hunger und durch Liebe. Dabei meint Schiller in ironischer Trivialität viel mehr als den nackten Hunger oder die nackte Geschlechtslust. 3. Die personale Vernunft stellt sich die Aufgabe, die Fülle der individuellen Veranlagungen und Strebungen, also die gesamte Struktur in der Einheit der Person zusammenzufassen und die Menschen als verantwortliche Personen in geistig-seelischer Gemeinschaft zu verbinden. Wir sind anmaßend genug, damit eine empirische Beobachtung und nicht eine philosophische Spekulation aussprechen zu wollen. Das Streben der Menschen nach Personalisation und Sozialisation ist nämlich sowohl empirisch zu beobachten als auch unentbehrlich für die biologische Erhaltung der Einzelmenschen und der Menschheit.

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Das philosophische Problem der Unterscheidung zwischen Vernunft und Verstand soll hier nur angedeutet werden. Im Rahmen unserer pragmati-

schen Erörterungen kommt es nur auf die Leistungsfähigkeit der Unterscheidung an. Seit der Antike wird zwischen niederen und höheren geistigen Vermögen unterschieden. In der klassischen deutschen Philosophie bestimmt die Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft den Systemaufbau. Dazu mag beigetragen haben, daß die deutsche Sprache die Worte Verstand und Vernunft besitzt, welche sich zum sprachlichen Ausdruck des Gemeinten gut eignen. In der westlichen Philosophie spielt die Unterscheidung nur dort eine große Rolle, wo sie an die deutsche Philosophie anknüpft. Es handelt sich aber jedenfalls um verschiedene Sachbereiche, die zu unterscheiden sind, daher auch besser mit verschiedenen Namen zu bezeichnen sind. a) Die Einheit der Person ist im Ichbewußtsein nur vorbereitet. Zwar durchlaufen alle Erlebnisse das Ichbewußtsein. Insofern begründet das Ichbewußtsein aber nur eine formale Identität. So kann Freud das "Ich" als bloße Zensurinstanz für die Strebungen des "Es" bezeichnen, der Existenzialismus Paul Sartres jede Verantwortlichkeit der Person leugnen, da das bloße "Ich" eben wirklich nur Durchgangsstation für Erlebnisse, Gefühle und Handlungsentschlüsse ist. Die Person muß also mehr sein als das bloße Ichbewußtsein und Intelligenz, um den Lebensnotwendigkeiten sowohl des Einzelmenschen als auch der menschlichen Gemeinschaft zu genügen. Das Bewußtsein seiner selbst als Person ist nämlich die unentbehrliche Voraussetzung des Selbsterhaltungsverlangens. Es gibt Kranke, welche den Verlust ihrer personalen Einheit und Identität erleben. Dies Erlebnis wird von den Kranken als Qual empfunden. Das "Selbst" des Einzelmenschen ist zugleich die Voraussetzung der sozialen Verbindung zum anderen Menschen. Zwar nötigt das bewußte Icherlebnis bereits zur Annahme des Du, einfach deshalb, weil ein schlechthin einzelnes Ich nicht vorgestellt und eigentlich auch nicht gedacht werden kann. Der Solipsismus war darum immer nur eine leere Spekulation, aber im bloßen Ich ist das Bewußtsein der Einheit der Person in der Fülle ihrer Kräfte noch nicht vorhanden. Darum ist auch die Möglichkeit einer personalen Bindung und einer Verantwortung hier noch nicht gegeben. Diese Problematik wird in der Psychologie besonders deutlich, wenn man vom Schichtenmodell der Persönlichkeit ausgeht. Dann erscheint nämlich die personale Vernunft nur als ein Oberbau. Dieser bloße Oberbau würde aber dem Menschen die Gewißheit seiner selbst niemals vermitteln können, er würde auch eine personale Verbindung zum anderen Du ausschließen. Lersch hat zu seiner Lehre von der Persönlichkeit, die doch ein in sich geschlossenes Ganzes sein will, noch eine Lehre vom Menschen als Sozialwesen gesetzt. Nach unserer Ansicht kann allerdings der Mensch von vornherein nur als soziales Wesen begriffen werden, es ist dies ein Wesensbestandteil seiner Persönlichkeit. Aber selbst in dieser Lehre vom Menschen als sozialem Wesen gelingt es Lersch nicht, von der sozialen Verantwortlichkeit zu handeln.

§ 4.

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Wir können diesen Zustand der Lehre nur feststellen und die Lücke nicht beheben. Wir können nur versuchen, unsere Ansicht in der nachfolgenden Einzelschilderung d~r Struktur des Menschen zur Geltung zu bringen. b) Die Einheit der Person ist allerdings niemals einfach gegeben, sie ist immer nur im Werden, ja vielleicht überhaupt nur im Versuch vorhanden. Wir weisen auf die wesentlichen Schwi~rigkeiten hin. aa) Diese Schwierigkeiten drücken sich in der älteren Unterscheidung zwischen Seele und Geist aus. Dabei ist die Seele vornehmlich der Sitz des Gefühls, damit wird das Gefühl praktisch als etwas im Grunde Ungültiges abgew~rtet. Diese Auffassung tritt besonders in der antiken Philosophie sowohl der Stoiker wie der Epikureer besonders deutlich hervor. Denn ihnen ist die Fühllosigkeit, sei es nun die Ataraxia oder Apathia, die einzige Garantie für die Freiheit des vernünftigen Menschen. Manche Stellen bei Epiktet lesen sich wie Anweisungen zu grandioser Lieblosigkeit. Die Abwertung des Gefühls hat noch die andere Seite, daß damit die Möglichkeit gültiger Werte verneint wird. Nun ist freilich richtig, daß Werte sich nicht einfach beweisen lassen, es ist aber eben so sicher, daß Wertungen biologisch unentbehrlich sind. bb) Die andere prinzipielle Schwierigkeit besteht darin, daß die im Bereich der Leiblichkeit angesiedelten neuralen Anstöße sich nicht gleich und glatt in die Sphäre des Bewußtseins umsetzen. Die Psychoanalyse Freuds glaubt die Einheit der Person durch das intelligente Unbewußte ersetzen zu können. Es zeigt sich aber gerade in der Regellosigkeit und Buntheit von Traumerlebnissen wie sie etwa dem Buch von Ernst Jünger "Das abenteuerliche Herz" zugrunde liegen, daß damit keine Einheit hergestellt werden kann. cc) Die größte Erschwerung liegt schließlich darin, daß der Mensch im Wandel der Zeiten sich ständig umbilden und erneuern muß. 4. Über all dem stellt die personale Vernunft den Menschen vor die Existenzfrage, ob sein Dasein in der Welt überhaupt einen Sinn hat. Die Sinnfrage muß bejaht werden können, denn sonst ist das Suizid die unvermeidliche Konsequenz. Die Sinnfrage kann übrigens vom Einzelnen nicht gelöst werden, sondern nur in der Gemeinschaft, sie führt also hinüber in das Reich des objektiven Geistes.

IH. Schlußbemerkungen Wir sind einen seltsamen Weg gegangen. Wir haben mit der Evolutionstheorie den subjektiven Geist als ein Rüstzeug des Menschen beschrieben. Das entspricht der Anschauung des Naturglaubens, daß die

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Natur sich durch ihre Totalität selbst rechtfertigt und den Menschen total beherrscht. Nur geht es dann der Natur so, wie allen totalen Mächten, welche Universitäten einrichten, weil der totale Staat das seinem innersten Wesen nach freie Denken als Rüstzeug braucht. Weder die Natur noch ein totaler Staat können aber verhindern, daß das Denken, der subjektive Geist einmal eingeführt und zugelassen, ihren eigenen Gesetzen folgen. § 5. Der Aufbau des menschlichen Verhaltens I. übersicht. Wir beschreiben die menschliche Verhaltensveranlagung nicht als Entelechie, sondern als Struktur von Strukturelementen, die sich in Teilstrukturen zusammenfassen lassen. Wir verzichten also vorerst auf alle Versuche, die einzelnen Antriebe teilweise auseinander oder gar aus einem Grundtrieb abzuleiten. Es ist zwar zuzugeben, daß einzelne Antriebe offensichtlich derart zusammenwirken, daß sie eine Teilstruktur bilden, ohne daß wir als Grundtriebe solcher Teilstrukturen einheitliche Appetenzverhalten postulieren wollen. Die innere Einheit der Person, welche immer nur im Werden da ist, ist hier noch nicht unser Gegenstand. Antriebe und deren Befriedigung erlebt immer der Einzelmensch in seinem formal einheitlichen "Ich". Es ist aber unzulässig, aus dem formal einheitlichen Bezugspunkt auf Inhalt und Richtung der Antriebe schließen zu wollen, und so Mutterliebe, das freiwillige Opfer, oder den Ernährungs- und Sexualtrieb als Auswirkungen eines einheitlichen Selbst- bzw. Arterhaltungstriebes zu erklären, Antriebe, welche der Mensch selbst gar nicht erlebt. Er erlebt vielmehr immer nur einzelne Antriebe und seelische Strebungen oder Gefühle.

1. Auf den Menschen wirkt eine Vielzahl von Antrieben, Strebungen und Gefühlen. Wir versuchen sie in fünf große Gruppen zusammenzufassen, die sich als Teilstrukturen deuten lassen. Wir beginnen mit einer Doppelaussage: Die Menschheit ist ohne Zweifel eine primär - nicht etwa sekundär - gesellig lebende Species. Die sozialen Antriebe ergeben insgesamt einen sehr starken Sozial drang, der sich nicht selten bis zur Aufopferung des Einzelnen steigert. Insbesondere kann keine Rede davon sein, daß die Menschen sich untereinander feindlich oder gar aggressiv gegenüberstünden. Dem Menschen eignet aber zugleich ein individueller Selbstbehauptungswille, wie ihn vielleicht in dieser Stärke keine andere gesellig lebende Art besitzt. Im Miteinander und Gegeneinander dieser beiden hauptsächlichen Teilstrukturen entfaltet sich das menschliche Sozialleben. Der Selbstbehauptungsdrang verneint sich gewissermaßen selbst in dem Leiden an der Individuation, welche merkwürdigerweise häufig genug als Fessel und Schranke der eigenen Lebendigkeit empfunden

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wird. Der Mensch sucht daher diese Eingrenzung immer wieder durch verbindende Ekstase zu überwinden. Dabei kann er Höchstleistungen erbringen, sich aber auch in schreckliche Katastrophen stürzen. Da der Mensch immer nur als Mann oder Weib vorkommt, spielen die geschlechtlichen Dränge in seinem Verhalten sicherlich eine sehr große Rolle. Sie werden zudem vielfach als besonders zwingend erlebt. Sigmund Freud hat deshalb aus der libido als dem positiven Grundtrieb und dem Destruktionstrieb als Gegenspieler alles menschliche Verhalten ableiten wollen. Ganz abgesehen von der spekulativen Natur solcher Konstruktionen müssen wir uns bereits der Grundauffassung widersetzen. Die Menschheit hat von jeher die geschlechtlichen Dränge als etwas gegenüber allen anderen Antrieben Neues empfunden. Wenn wir also überhaupt eine Konstruktion wagen wollten, so konnten wir vielleicht das Gewebe menschlichen Verhaltens am besten so beschreiben, daß die geschlechtlichen Dränge und die vor- bzw. außergeschlechtlichen Antriebe sich durchkreuzen wie Kette und Schuß. Um dies näher darzulegen, schildern wir zunächst das menschliche Verhalten ohne Rücksicht auf die geschlechtlichen Dränge (§ 20 - 22), um dann die Modifizierung des Ganzen durch Geschlechtlichkeit gesondert darzustellen (vgl. § 23). 2. Der Antriebskonjlikt. Indem wir die Vielfalt der Strukturelemente zunächst in ihrer Selbständigkeit belassen und nicht aus einem einheitlichen Grunde ableiten, stellen wir uns dem Problem des Antriebskonfliktes, der im Menschenleben eine sehr viel größere Bedeutung hat als beim Tier. 11. Der Sozialdrang. - Geselligkeitstrieb ist ein viel zu schwacher Ausdruck - ist dem Menschen sowohl in seiner vitalen Grundstruktur mitgegeben als auch in seinem geistigen Wesen angelegt.

1. Der vitale Sozial drang wirkt schon vor jeder Reflexion. Vielfach ist sich der Mensch dieses seines Dranges gar nicht bewußt, wenn er ihn sich natürlich auch bewußt machen kann. Die stammesgeschichtliche Herkunft erweist den Menschen wie auch die Primaten als soziales Tier. Man hat wohl mit Recht gesagt, ein einzelner Schimpanse sei gar kein rechter Schimpanse. Der Sozialdrang ist die Voraussetzung der Homination. Wären nicht bereits die Prähominiden von diesem Drang erfüllt gewesen, wäre er nicht durch Selektion gesteigert worden, so hätte es niemals den Menschen, homo sapiens geben können. Als Einzelexemplar wäre der Mensch ein sehr schwaches und hilfloses Geschöpf, von der Natur weder zu wehrhaftem Kampf gerüstet noch zu schneller Flucht befähigt. Hätte er erst auf seine Bedürftigkeit reflektieren müssen, um sich sekundär zu Gruppen zusammenzuschließen, so wäre er längst ausgerottet worden, bevor ihm Gruppenbildung hätte

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gelingen können. Denn die Natur hat den Menschen zum gefährlichen Leben in der Steppe gedrängt, wo er sich Raubtieren, namentlich Raubkatzen gegenüber behaupten mußte. Weil der gesellige Mensch von Haus aus in der Gruppe wohl versorgt und mächtig war, so mußte die Selektion ihm keine natürlichen Waffen und keinen panikartigen Fluchtinstinkt anzüchten, welche beide den Weg zum homo versperrt hätten. Eine nur morphologisch verfahrende Stammesgeschichte kann leider den Menschen nur als Einzelexemplar beschreiben. Die Versuchung, dabei stehen zu bleiben, liegt nahe, denn die spärlichen paläontologischen Reste sagen über sein Sozialleben wenig aus. Aber unsere oben angestellte Überlegung zeigt, daß man praehomo und homo von vornherein als Gruppenwesen denken muß. Wenn man dies tut, so drängt sich sofort die Erkenntnis auf, daß homo zum Daseinskampf vortrefflich gerüstet war. Baumaffen haben es verhältnismäßig bequem. Gefährliches Raubzeug kann ihnen kaum nachklettern. Sie können sich also mit einem sehr primitiven Sozialleben begnügen. Bei den Pavianen ist dies bereits etwas anders. Aber nur der Frühmensch mußte sogleich die komplizierte Lebensform des Kleinstammes entwickeln. Wir heben einige Grundelemente vorläufig hervor, wie sie sich in befriedigenden Hypothesen darstellen, welche durch Beobachtungen an Wildbeutern und anderen Primitiven wahrscheinlich gemacht werden. Der Stamm muß immerhin so menschenreich sein, daß er eine hinlängliche Anzahl von Männern zum Kampf gegen Raubwild und zur Jagd auf Großtiere herausstellen kann. Nur das Großwild liefert eine für den Stamm genügende Menge Fleisch. Die Mammutjagd ist denn auch schon für sehr frühe Zeiten durch Funde erwiesen und der rezente Buschmann jagt heute noch die Giraffe. Solche Jäger müssen unter sich in fester Kameradschaft zusammenstehen, also in einem Männerbund, in welchem jeder grundsätzlich den gleichen Rang des Kriegers und Jägers besitzt, unbeschadet der Autorität des möglicherweise charismatisch vorgestellten Vorkämpfers. Nur unter dieser Voraussetzung genügt eine etwas gesteigerte Schimpansenintelligenz dazu, den Kampf mit dem Raubwild aufzunehmen und Großtiere zu jagen. Der Massaijüngling von heute erlegt zwar als Einzelkämpfer den Löwen, aber eben mit dem eisenbeschlagenen Speer. Der Frühmensch konnte nur in der Gruppe abwehren und jagen. Hatte er aber erst einmal gelernt, mit Feuer die Spitze der Holzstangen zu härten, so konnte er dem Raubzeug so schrecklich werden, daß auch heute noch die Raubkatzen auf freier Strecke den aufrecht gehenden Mann fürchten. Der Stamm kann übrigens nur leben, wenn die Frauen eine intensive Sammeltätigkeit aufnehmen. So bereitet sich sehr früh eine strenge Arbeitsteilung der Geschlechter vor, weil sie auch den Bedürfnissen der tragenden, gebärenden und stillenden Frau entspricht. Die frühzeitig einsetzende Hypersexualisierung nötigt zum dauernden paarweisen Zusammenleben. Die le-

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benswichtige Kampfkameradschaft der Männer läßt keinen Boß aufkommen, der alle Weibchen für sich reklamiert. Der Mensch ist nicht durch "Domestikation" entstanden. Diesen Begriff sollte man auf die Zähmung von Wild tieren zu Haustieren beschränken. Durch die Zähmung verändert der Mensch nicht nur künstlich die Umwelt des Tieres, er enthebt es auch weitgehend des eigenen Lebenskampfes und züchtet so nicht selten ihm Eigenschaften an, welche für die Selbsterhaltung aus eigener Kraft sogar nachteilig sein können. Hochgezüchtete Milchkühe sind kaum marschfähig. Allerdings verändert der Mensch auch seine eigene Umwelt, aber im Ganzen, indem er sich steigert. Dies beweisen die außerordentlichen Kampfleistungen der Infanterie gerade der modernen Industriestaaten, sowohl im Gruppen- als namentlich auch im Einzelkampf, auch in der Ausdauer bei Strapazen. Das Lebensspiel des Frühmenschen, wie wir es oben hypothetisch auszumalen versuchten, könnte jedenfalls der Mensch um 1900 noch nach einiger Eingewöhnung gespielt haben. Man müßte einmal eine AntiRobinsonade schreiben, in der eine in ihrer Zusammensetzung geeignete Reisegesellschaft einen Kleinstamm unter den Lebensbedingungen des Frühmenschen bilden müßte. Erst seit der jüngsten Vergangenheit könnten Lebenserleichterungen und die Manipulation der natürlichen Auslese die Vitalität geschwächt haben. Dabei darf aber nicht vergessen werden, daß die letzten Menschenalter immer höhere Ansprüche an Intelligenz und Wachheit der breiten Massen gestellt haben. Gesund ist nun aber, wer ein gesundes und leistungsfähiges Zentralnervensystem besitzt. Wer Intelligenz arbeitend benutzen muß, hat ein gesundes Hirn. Die Stärke des vitalen Sozialdranges läßt sich am besten an Extrembeispielen belegen. Jedermann kennt den Drang mitzuspielen bei Kindern. Man zeige einem Kleinkind, das zu sprechen beginnt, das Photo eines Babys. Es ruft sofort entzückt: Baby, Baby und kann sich gar nicht satt sehen. Dabei können Kleinkinder noch gar nicht richtig miteinander spielen, sie spielen nebeneinander her. Dennoch drängen sie zueinander. Am besten sieht man dies, wenn der Drang behindert wird, wenn also z. B. ein irgendwie auffälliges, etwa geschädigtes Kind vom gemeinsamen Spiel ausgeschlossen wird. Es wird dennoch unermüdlich die Aufnahme in die Kinderschar zu erreichen suchen, wenn es überhaupt lebenskräftig ist. Beispiel: Ein postenzephalitisches Kind, das glücklicherweise im Willensund Gefühlsbereich intakt geblieben ist, wird vom gemeinsamen Spiel auf der Straße vertrieben, Kinder können da sehr roh und grausam sein, bewerfen etwa das geschädigte Kind mit Sand und Steinen und treiben es so hinter die schützende Haustür. Sobald aber die Bande von der Haustür abrückt, kommt der Verfolgte wieder hervor und will wieder mitspielen. Nach einiger Zeit zieht eine befreundete Familie in die Nachbarschaft. Deren große Jungen beherrschen die Straße und nehmen den Kleinen in ihren Schutz. Nun darf er mitspielen und er empfindet dies als ein tiefes Glück. Ruft ihn die Mutter zum Abendbrot, so gibt es fast eine Katastrophe: "Es war doch sooo schön!" Solche Menschen werden zeitlebens ein überdurchschnittliches Geselligkeitsbedürfnis haben.

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Dieser kindliche Trieb "mitzuspielen" begleitet alle Menschen durch das ganze Leben und steigert sich noch in der Gefahr der Altersvereinsamung. So suchen und pflegen namentlich Witwen gesellschaftliche Verbindungen. Im Kriege ist es gerade das instinktive Verlangen, beim Haufen zu bleiben, was entscheidend zum Zusammenhalt beiträgt. Zwar hat sich dies Verlangen wohl daraus entwickelt, daß im Regelfall der Mensch in der Gruppe sicherer ist, wie dies die Erfahrung, namentlich bei Rückzügen, bestätigt, so etwa beim Rückzug der grande armee aus Rußland 1812 und beim deutschen Rückzug aus Rußland im 2. Weltkrieg. Wer da vom Haufen abkam, war verloren. Dieser Drang zum Haufen setzt sich auch dann durch, wenn Selbsterhaltungstrieb und Fluchtinstinkt den Einzelnen verführen müßten sich als Deserteur von der Truppe zu lösen. Wir wollen hier nicht den Krieg verklären, sondern Verhaltensweisen analysieren und vielleicht erklären, weshalb der Krieg möglich ist. Das Kampfverfahren der deutschen Infanterie im 2. Weltkrieg ist bekannt. Zugführer (Leutnant) oder Gruppenführer gingen gewissermaßen als Zielscheiben voran, die anderen im Gänsemarsch hinterher, um dem Feind so nur eine kleine Zielfläche zu bieten. Dieses überaus erfolgreiche Verfahren kostete uns ganze Jahrgänge junger Intelligenz. Verhaltenstheoretisch wichtig ist daran, daß normalerweise auch der letzte Mann noch zum Einbruch in die feindliche Stellung nach vorne kam. Will man diesen Vorgang analysieren, so muß man annehmen, daß gerade in der Gefahr der Mann beim Haufen bleiben will. Nur dort fühlt er sich wohl. Man darf die moralische Seite der Sache freilich auch nicht allzu klein schreiben. Der Drang gilt nur der innerlich bejahten Gruppe, der man sich eben auch in moralischer Pflicht verbunden fühlt. Wer wie der "arme Mann aus dem Toggenburg" zur Truppe gepreßt war, konnte denken: Was gehen mich eure Kriege an? Er konnte mitten in der Schlacht desertieren. Daher war die Desertion für die gepreßten Söldnerheere des ancien regime eine ständige Gefahr. Dagegen ist es auffällig, daß in den Armeen der allgemeinen Wehrpflicht in beiden Weltkriegen Desertion erst nach völliger Erschöpfung häufiger vorkam. Grund war sicherlich nicht die Furcht vor Strafe. Jeder Soldat wußte im ersten Weltkrieg, daß die Todesstrafe nicht verhängt (für militärische Delikte nur 4 Todesurteile im deutschen Heer), daß etwa ausgesprochene Zuchthausstrafen zur Bewährung ausgesetzt wurden und zwar bis zur Demobilmachung. Wirksamer war die Scheu vor Ehrverlust, die mit der Verurteilung gleichsam automatisch verbunden war. Nur die Selbstbeobachtung erlaubt für solche Situationen zuverlässige Analyse. Der Verfasser hatte einmal im 1. Weltkrieg den Befehl, von der 2 km entfernten seitlichen B-Stelle in die Stellung zurückzukehren, wenn in der Nacht keine Telefonverbindung mehr herzustellen wäre. Die "Waldwanderung" durch die im Feuer rundum niederstürzenden Bäume zwang der Orientierung wegen auf eine etwas rückwärtige, friedlich im Mondschein liegende Lichtung auszuweichen. Es kostete wirklich keine seelische Anstrengung von dort auf den 300 m vorwärts beginnenden Feuervorhang loszumarschieren und durch ihn hindurchzugehen. Auch die Stellung lag inzwischen unter sehr schwerem Beschuß. Dennoch fühlte sich Verfasser jetzt

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unter den Kameraden wohl wie zu Hause. Man mag auch hier von der Zwangswirkung des Heimbezirksschemas sprechen. 2. Auch die geistige Verfassung des Menschen ist auf soziale Verbindung ausgerichtet, wie auch Hugo Grotius den appetitus societatis nicht als Instinkt, sondern als geistige Bestimmung der Menschheit denkt. a) Der menschliche Geist ist auf Kommunikation schlechthin angewiesen. Denn er hat sich nur vermöge der Kommunikation an und mit der Sprache entwickelt. Sogar der einsame Denker ist in Wahrheit mit den großen Geistern der Vergangenheit im Gespräch und will die empfangene geistige Gabe anderen mitteilen. Ebenso aber äußert sich der naive Sozialdrang im gewöhnlichen Gespräch. Der griechische Name für Geist und Begriff ist denn auch das Wort Logos. b) Der Mensch fühlt sich von Haus aus dem anderen zu sozialem Handeln verpflichtet. Gewöhnlich fühlt er sich seiner Familie, irgendeiner sonstigen Spezialgruppe, bis zur Nation hin derart verbunden, daß er die Sache dieser Gruppe zu seiner eigenen macht. Das führt in der Praxis des Lebens allerdings oft genug dazu, daß er seine Sache für die der anderen ausgibt. Aber auch in letzterem Fall ist sein Handeln für sein Bewußtsein sozial mitbestimmt. Diese moralische Sozialität wird in allen Religionen verkündet und in allen wirklich populär gewordenen philosophischen Systemen bestätigt. Auch die rigorose Kantische Pflichtethik lebt im Volke noch fort. Man lese doch nur deutsche Todesanzeigen und Grabinschriften. Der häufige Vers: "Nur für die Deinen Streben, sahst Du als Deine Pflicht." Gerade die Naivität und Geschmacklosigkeit bezeugt die Gültigkeit der Pflichtethik im Volke, natürlich nicht die Wahrheit solcher Nachrufe im Einzelfall. Freilich fehlt es nicht an Stimmen, welche den Egoismus als die wahre Lebensweisheit ausgeben. Wenn diese Meinung in der antiken Aufklärung wirksamer gewesen ist als in der europäischen, so liegt dies einfach daran, daß die antike Gesellschaft als soziales Anschauungsmaterial die Sklavenwirtschaft vor sich sah. Arbeit und unangenehme Pflichten konnte wenigstens der Einzelne der Oberschicht auf die Sklaven abschieben. Wer aber heute die Masse freier Arbeiter beobachtet, wie sie frühmorgens zu mühevoller Tagesarbeit ausziehen, der sieht mit Augen, daß alle diese schlichten Menschen sich freiwillig mühen zunächst um ihrer Familie willen, aber doch zugleich der größeren Gemeinschaft wegen, also doch mehr oder weniger aus naivem Pflichtgefühl. c) Endlich richtet sich auch die Reflexion des Menschen auf diesen seinen vitalen Sozialdrang oder appetitus societatis. Dabei kommen freilich sehr verschiedene Lösungen vom Nein bis zum Ja vor. Aber gewöhnlich wird die naive Verbundenheit doch auch klar gedacht und

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bejaht. Sentimentales, vernünftiges und auch intellektuelles Verhalten steigern sich also wechselseitig. Die egoistische Reflexion auf die soziale Interdependenz ist eine geschichtlich späte Erscheinung. 3. Sowohl der vitale Sozialdrang wie auch der geistige appetitus societatis beziehen sich zunächst auf die Gruppe, genauer den Socialverband, wenn wir hier vom besonderen Fall der individuellen erotischen Bindung absehen. Erst auf sehr viel höherer geistiger Stufe wird der Gruppenfremde zum Nebenmenschen. Jesus von Nazareth sagte seinen judäischen Zeitgenossen mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter wirklich etwas Neues. Vorher ist in allen ursprünglichen Rechten der Fremde rechtlos. Die Beschränkung des Sozialdranges auf die Gruppe entlarvt den Menschen dennoch nicht als aggressiven Bösewicht. Der naive Sozialdrang kann sich nämlich naturgemäß nur soweit durchsetzen, als soziales Zusammenleben überschaubar ist. Der Primitive denkt und fühlt über den Kleinstamm zunächst nicht hinaus, wenn auch der Wildbeuter sich auch fremden Stämmen gegenüber relativ friedlich verhält. Sozietät setzt sprachliche Verständigung voraus. Die Sprache verbindet nicht nur, sie trennt auch den Griechen vom "Barbaren", der vermeintlich keine Sprache hat. Natürlich mitgegeben ist dem Menschen eben nur der Kleinstamm als die ursprünglichste Lebensform. Bilden sich größere Gruppen, so können sich jederzeit, wie die Frühgeschichte der Germanen zeigt, Teilgruppen abspalten, die nun wiederum nach Fremdenrecht miteinander verkehren oder gegeneinander kämpfen. IH. Was wir bisher ausgeführt haben, ist freilich nur eine Teilwahrheit. Der Mensch ist zugleich Einzelwesen mit einem sehr starken individuellen Selbstbehauptungsdrang. Der Selbstbehauptungsdrang nimmt die vitalen, der Selbsterhaltung dienenden Triebe in seinen Dienst, geht aber über deren Ziele weit hinaus und macht daher die Erscheinung des menschlichen Egoismus möglich. In jeder sozial lebenden höheren Tierart bleibt immer das Einzeltier das spontane Aktionszentrum, denn die Art lebt immer nur vermittelst der Einzelwesen. Der Mensch kann auch der Gruppe, der Horde, dem Kleinstamm oder der modernen Zivilisationsgesellschaft nicht so leicht einen größeren Dienst erweisen als den, sich selbst zu erhalten. Sonst fällt er der Gruppe zur Last, wie es in Großfamilien nicht selten ist, so z. B. ebenso in der afrikanischen wie der älteren chinesischen Gesellschaft. Auch zur Verteidigung nützt die Gruppe, namentlich der Kleinstamm, die Kraft des zusammengefaßten Selbstbehauptungswillens aller einzelner Genossen. Nur scheint es so, als ob beim Menschen der Ausgleich zwischen den Lebensinteressen der Gruppe und dem Selbstbehauptungsdrang der Einzelnen schwieriger zu finden sei als in der Tierherde. Angesichts

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der allgemeinen Anklage gegen die egoistische Natur des Menschen bedarf es keines Nachweises, daß jedenfalls der Selbstbehauptungsdrang des Einzelnen im Menschengeschlecht sehr stark entwickelt ist. Wir haben aber zu fragen, inwieweit dieser so oft verteufelte Drang bereits in der vitalen Grundstruktur mitgegeben ist. Entscheidend ist nämlich, daß nur der Mensch als Intelligenz sich seines Einzel-Ichs bewußt wird. Nur er vermag auf seine Lust, seinen Nutzen, seinen Ruhm zu reflektieren, nur er ist daher eines rationalen Egoismus fähig. Daraus entstehen in der Tat Gefahren, welche der Menschheit seit den Anfängen ihres Denkens bekannt sind. Als Heilmittel sind seit alten Zeiten sowohl der Kollektivismus wie der Personalismus angepriesen worden. Gerade der Kriminologe neigt dazu, die Lösung in der Entwicklung der verantwortlichen Persönlichkeit zu sehen, denn der Kollektivismus zerstört das individuelle Gewissen und damit die einzige Kraft, welche in den Widersprüchen des Lebens sicher führen kann. Der Streit zwischen Personalismus und Kollektivismus kann aber erst auf der Ebene des objektiven Geistes ausgetragen werden und ist einer der hauptsächlichen Inhalte des gesellschaftlichen Lebens. IV. Das Verlangen nach Ekstase. Die Einzelexemplare auch der höheren Tiergattungen kann man einigermaßen gegeneinander auswechseln, wenngleich der Tierfreund Ansätze zur Individualisierung nicht verkennt. Die Verfestigung der Einzelcharaktere beim Menschen ist eine stammesgeschichtlich späte Errungenschaft, die sich bis in die historische Zeit hinein fortsetzt. Keinesfalls ist die Individuation vor der vollen Zerebralisation denkbar. Nimmt man mit uns an, daß der gemeinsame Abwehrkampf der Männer gegen Raubzeug, die gemeinsame Jagd auf Großwild für die Entwicklung zum homo sapiens konstituierend waren, so ist es kein Wunder, wenn der Individualcharakter auch des recenten Menschen instabil ist. Nimmt man hinzu, daß die Integration der menschlichen Struktur zur Person sehr anstrengend ist, so ist es verständlich, daß der Mensch unter den Grenzen und Schranken der Individuation auch leidet, so ist es begreiflich, daß ekstatische Durchbrüche ins Chaotische dem Menschen unentbehrlich sind und daß er ein starkes Bedürfnis nach verbindender Ekstase hat. Es klingt harmlos, wenn Hölderlin schreibt: "Eines zu sein mit allem, das ist das Leben der Gottheit, das ist der Himmel des Menschen." Diese ekstatische Neigung, welche sich im Rauschtrank primitiver Opferfeste und im Kriegs- oder Revolutionsrausch in gleicher Weise erfüllt, verunsichert die Individualität, enthebt den Menschen der intellektuellen Zucht und entbindet ihn vom individuellen Gewissen. Trotz dieser Gefahren ist die Ekstase im psychischen Haushalt des Menschen nicht zu entbehren, denn man kann das menschliche Leben nicht securisieren ohne seine Lebendigkeit abzutöten. 5 Mayer

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V. Eine selbständige Grundkraft stellen Eros und Sexualität dar. Diese dem heute landläufigen Freudianismus widersprechende Aussage wird weiter unten noch näher zu erhärten sein. Gewiß ist, daß die geschlechtlichen Antriebe das normale Durchschnittsverhalten für Zeit außer Kraft setzen. Auch die unerotische Bindung zwischen zwei Personen ist immer wieder geeignet, das allgemeine Sozialleben zu stören. Die geschlechtliche Liebe kennt in sich kein Gesetz. Ein großer Teil der Kriminalität hat in dieser Sphäre seinen Ursprung. Der alte Polizeigrundsatz "Cherchez la femme" sucht nach der Frau, um derentwillen das Verbrechen begangen wurde. Er hat sich häufig als erfolgreich erwiesen. VI. Der Ausgleich der widersprüchlichen Grundtriebe ist für den Menschen eine sehr schwierige Aufgabe. Daher ist namentlich in entwickelten Gesellschaften, welche der Individualität größeren Spielraum lassen, massenhafte Kriminalität ganz unvermeidlich, verwunderlich ist nur, daß gewöhnlich doch noch eine erträgliche Ordnung im Menschenleben hergestellt werden kann. Der Ausgleich zwischen Sozialdrang und Selbstbehauptung geht immerhin kontinuierlich vor sich. Daß dieser Antagonismus nicht bereits in der Vitalsphäre ausgeglichen werden kann, liegt an der Schwierigkeit der Aufgabe. Man vergleiche nur das Sozialleben des Menschen mit dem Leben einer Zebraherde. Dort reduziert sich die soziale Aufgabe zunächst auf ein richtiges Verhältnis zwischen Herden- und Distanzverhalten. Die Tiere müssen zusammenbleiben, um die Jungtiere gegen Raubkatzen zu sichern, andererseits bedarf jedes Tier der Futtersuche wegen einer gewissen Distanz. Aber beide Verhaltensweisen sind in der Steppe mühelos zu verbinden, denn die Steppe hat hinreichend Raum, auch dafür, daß die Jungtiere in die Mitte genommen werden, damit die Raubkatze die Witterung des Jungtieres nicht so leicht bekommt. Erst unter den künstlichen Bedingungen der Stallhaltung gilt bei den Equiden der Satz: "Wenn de Kripp leer is, biten sich de Pier." Sogar für die sozialen Aufgaben einer Schimpansenherde, die nicht allzu kompliziert sind, kann die Natur feste Verhaltensweisen und Signalreize zur Verfügung stellen. Für die schwierigen sozialen Aufgaben des Menschen muß aber ein angeborener Sozialplan fehlen, denn er würde die Verhaltensmöglichkeiten allzusehr einengen. Kein angeborener Plan könnte der Vielfalt und historischen Wandelbarkeit menschlichen Soziallebens genügen, sogar das einfache Leben von Kleinstämmen und Sippendörfern bedarf der intellektuellen Durchdringung. Diese gemeinsame soziale Leistung erfordert geistige Verbundenheit der Gruppengenossen. So erklärt und löst sich der Streit zwischen den moralischen Optimisten wie Hugo Grotius und Pessimi-

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sten wie Thomas Hobbes. Es steckt eine tiefe Weisheit im Satz des Optimisten Sokrates, daß Tugend lehrbar sei. Es ist schon viel gewonnen, wenn der Mensch weiß und versteht, wie und warum er sein soziales Verhalten so und nicht anders einzurichten hat. Die natürlichen Antriebe lassen ihm meist die Freiheit, sich entsprechend zu verhalten. Die Theorie Sutherlands, daß kriminelles Verhalten wie jedes andere Verhalten erlernt werde, gilt nur bedingt. Allgemein aber gilt, daß soziales Verhalten erlernt werden muß und aus vielen Gründen oftmals nicht hinreichend erlernt wird. Aber freilich gehört zum richtigen Verhalten auch geistige Selbstbeherrschung, insbesondere gegenüber den störenden Eingriffen von Ekstaseverlangen, Eros und Sexus. Nun gibt es sehr verschiedenartige Menschen, einige sind Einzelgänger, die meisten neigen mehr oder minder zu geselligem Leben. Kriminelle finden sich unter beiden Typen. Die Schilderungen aus dem Leben der Gauner, Diebe und Einbrecher, wie wir sie für die Zeit von 1900 bis 1930 besitzen, lassen eher auf ein geselliges Wesen dieser Leute schließen. Jugendkriminalität ist überhaupt weitgehend Bandenkriminalität im engeren oder weiteren Sinn. Sie entsteht vielfach aus sozialer Ansteckung. Harte Individualisten könnten für white collar criminality prädestiniert sein. Rezidivisten werden wohl erst in häufiger Haft zu Kunstprodukten verbildet, die auch untereinander in der Verwahrung schlecht miteinander auskommen. Sich ungeordnet, insbesondere kriminell zu verhalten, ist gerade auch für den Durchschnittsmenschen eine beständige Gefahr. Nur wer sich dieser allgemeinen Gefährdung menschlichen Verhaltens bewußt ist, wird besonders schädliche Einflüsse richtig einordnen und werten.

Drittes Kapitel

Strukturgefüge des Sozialdranges § 6. Vom Kleinstamm zur Großgesellschaft

I. Der Mensch ist ein Herden-, Stammes- und Gemeinschaftswesen, er hat niemals als solitäres Einzelwesen gelebt, wie antike Sophistik und abendländische Aufklärung sich das vorgestellt haben, er war auch niemals ein "ungeselliger Wilder", der erst aus den "Gefilden" der Natur in die "heilige Ordnung" hereingerufen werden mußte (Schiller, Lied von der Glocke). Er war vielmehr bereits vor der Homination eingebunden in die Vormenschenherde, aus welcher der sapiens zunächst den Kleinstamm schuf. Wir haben oben in § 5 die vitale Stärke des Sozialdrangs aufgezeigt, wie er vom Verlangen des Kindes mitzuspielen an die ganze Lebensdauer begleitet. Wir sind aber nicht in der Lage, die einzelnen besonderen Strukturelemente aus diesem unbestimmten allgemeinen Drang psychologisch oder genetisch abzuleiten. Wir vermögen nur ein Gefüge sehr verschiedenartiger Antriebe, Strebungen, Gefühle, seelischer Haltungen und Bereitschaften zu erkennen, wie es irgend wie im evolutionären Geschehen in vielfachen Mutationsexperimenten zufällig erprobt und durch den Selektionserfolg so zusammengekommen ist, wie wir es beim rezenten Menschen beobachten können. Es ist sogar sehr problematisch, ob wir überhaupt aus dem viel verschlungenen Nebeneinander, Zueinander und Ineinander der Teilstrukturen die sozial bezogenen Strukturelemente herauslösen können. Ist es doch z. B. kaum zu leugnen, daß die Kraft der Sozietät aus der Summe der Lebenskräfte der Einzelnen stammt. Wir versuchen also nur diejenigen Strukturelemente zusammenzustellen, welche unmittelbar der Sozietät dienen. Wir definieren den Sozialdrang als Teilstruktur, d. h. als Summe der Strukturelemente, welche den Menschen veranlassen, Sozietäten aufzubauen, in bestimmten Sozietäten zu leben, als Glied derselben zu handeln und mit anderen Mitgliedern der Sozietät genossenschaftlich zusammenzustehen. Alles Sozialverhalten des Menschen ist ursprünglich intragentiles Verhalten. Extragentiles Verhalten zu Stammesfremden ist nicht prinzipiell feindselig oder gar aggressiv, sofern der Mensch den Menschen überhaupt als Artgenossen erkennt; aber es ist gekenn-

§ 6. Vom Kleinstamm zur Großgesellschaft

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zeichnet durch seelische Fremdheit, aus welcher sich Feindseligkeit entwickeln kann. Sicher scheint zu sein, daß die Härten, welche wir im intragentilen Verhalten beobachten können, vielfach aus dem extragentilen Verhalten übernommen sind. Auch andere Arten verhalten sich gegenüber Artgenossen überwiegend friedlich, nicht aber aus allgemeiner tierischer Brüderlichkeit, sondern weil der Kampf mit Artgenossen zumeist unpraktisch und zwecklos ist. Ir. Der dem Menschen angeborene Drang, Sozietäten zu gründen, zielt von Hause aus nicht auf inhaltlich bestimmte Sozietätsformen, wenn auch gewisse übereinstimmende Tendenzen - genauer potentielle Möglichkeiten und Grenzen - nicht zu leugnen sind. Die sozialen Lebensformen des Menschen befinden sich zudem in einem beständigen Umbildungsprozeß. 1. Herde-Kleinstamm-civitas. Wir gehen von der oben vorläufig begründeten Hypothese aus, daß der Kleinstamm, welcher etwa 15 bis 20 waffenfähige Männer umfaßt, die ursprüngliche soziale Lebensform des Menschen ist, sobald er einmal die Stufe des sapiens erreicht hat. Wie es dem Menschen gelungen ist, diese Stufe zu erklimmen, wissen wir heute noch nicht. Wir können darüber nur Vermutungen anstellen. Sicher erscheint uns, daß der Kleinstamm aus einer Vormenschenherde hervorgegangen ist. Diese tierische Urform hat sich der werdende homo sapiens bewußt - final - zu eigen gemacht und zugleich historischwillentlich gestaltet. Damit wird der Kleinstamm aus der bloßen Herde zur civitas, wie denn auch die römischen Schriftsteller den Kleinstamm sowohl als gens wie als civitas bezeichnen.

a) Unsere Hypothese wird nahegelegt durch Beobachtungen an den sozialen Lebensformen der Tierwelt, insbesondere an den Säugetieren. Die meisten höheren Tiere, aber auch viele Insekten leben in irgendwelchen, auf eine gewisse Dauer abzielenden Lebensgemeinschaften. Solitär lebende Tiere müssen sich mindestens zum Zweck der Fortpflanzung vorübergehend geschlechtlich begegnen. Der Musterfall solch solitären Lebens kommt eigentlich nur bei Insekten vor, unter denen sich viele Arten finden, deren Männchen und Weibchen sich nur einmal zum Zweck: der Kopulation vereinigen, worauf dann das Weibchen die Eier ablegt, ohne daß sich Männchen oder Weibchen um die Brut kümmern. Aber gerade bei den Insekten finden sich auch Arten, welche "Staaten" hohen Ranges - Bienen- und Ameisenstaaten - gründen. Vollkommen solitär lebende Wirbeltierarten sind nur wenige bekannt. Das Beispiel der Insektenstaaten zeigt, daß die Neigung zur Gründung von Sozietäten nichts mit der Entwicklungsstufe oder der Einreihung in die zoologischen Ordnungen zu tun hat. Die Schwärme, Gruppen, Horden, Rudel oder Herden der Vögel und Säugetiere, die uns in erster Linie interessieren, weisen sehr verschie-

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3. Kap.: Strukturgefüge des Sozialdranges

denartige Baustile auf. Dies gilt auch für Arten, die sich nach somatischen und sonstigen zoologischen Ordnungsmerkmalen nahestehen. Bei vielen Vogelarten finden sich Massenanhäufungen in Brutkolonien oder auch Massenschwarmbildungen, welche z. B. die Fähigkeit besitzen,durch gemeinsames "Anhassen" Raubvögel abzudrängen oder zum Absturz zu bringen. Solche "Massen" sind allen Artgenossen offen, setzen also höchstens wechselseitiges Erkennen und Anerkennen der Artgenossen untereinander voraus. Den übergang bilden offene Schwärme, welche sich auf eine bestimmte Zahl nur teilweise individuell bekannter Artgenossen beschränken, innerhalb des offenen Schwarmes aber doch eine Rangordnung herstellen. Es gibt aber auch geschlossene Kleinschwärme, deren Flugformationen gewöhnlich von einer bestimmten Zahl wechselseitig bekannter Mitglieder gebildet werden. Viele Schwärme besetzen Großreviere, die sich dann in Kleinreviere für nistende Paare aufteilen. Paarbindungen sind bei niedrigen Tieren z. B. bei manchen Fischarten sehr fest, sie kommen aber auch bei Vögeln vor, bei denen eine solche Bindung möglicherweise lebenslang dauert. Der sozialbindende Antrieb zum Schwarm kann also kaum im SexuaIinstinkt gesehen werden. überall wo die Aufteilung in Paare vorherrscht, muß der Zusammenhalt des Schwarmes, der immer bestehen bleibt, vorher auf andere Weise garantiert sein. Hühnervölker sammeln sich allerdings um den Hahn, der in harten Rivalenkämpfen als einziger übriggeblieben ist. Immerhin bleibt aber auch das Hühnervolk außerhalb der Fortpflanzungsperiode, also bei uns im Winter, zusammen. Der Hahn ist außerhalb der Sexualperiode zwar minder galant, aber er verteidigt auch im Winter seine Hennen. Einschlägige Untersuchungen bei Säugern, insbesondere bei Simiae und allen Großsäugern sind in freier Wildbahn sehr schwierig, daher noch keineswegs abgeschlossen. In allen Fällen ist aber die Säugetier herde eine auf gewisse Dauer ausgerichtete kooperative Einheit. Ihre Größe ist meist begrenzt auf die Möglichkeit wechselseitiger individueller Bekanntschaft. Das einheitsstiftende Band kann auch hier nicht allein die Sexualität sein: Bei Huftieren und Elefanten finden wir Herden, die wesentlich aus Muttertieren bestehen und nur jahreszeitlich Männchen zur Begattung in die Herde einlassen. Andere behalten ein Männchen als Boss, während die verdrängten Männchen sich zu Sekundärherden zusammenfinden. Die Rinder behalten meist alle Männchen bei sich, geben aber dem Leitstier sexuelle Vorrechte. Letzteres System erklärt sich wahrscheinlich daraus, daß nicht nur der Leitstier, sondern auch seine potentiellen Nachfolger zur Verteidigung der Herde bereit sein müssen. In der freien Wildbahn dürften nämlich zahlreiche Leitstiere bei der Abwehr von Raubzeug verbraucht werden. Bedenkt man, daß gerade Huftiere doch nur sehr kurzfristig in Brunftperioden se-

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xuell aktiv sind, so kann man die Herdenbildung unmöglich allein vom Sexualinstinkt herleiten. Paarbindungen, welche sich aus dem Sexualinstinkt ableiten lassen könnten, scheinen bei Raubkatzen vorzukommen, namentlich bei Löwen, welche aber zusätzlich in kleinen Rudeln kooperativ jagen. über das Verhalten der Simiae wissen wir noch wenig Sicheres. Nur die Kleinaffen lassen sich in Instituten genau untersuchen. In der freien Wildbahn kann man die Pavianherden einigermaßen zuverlässig beobachten. Diese Herden sind gut organisiert, haben aber nur eine geringe Paarbindung. Die alten Männchen bewahren ihren sozialen Rang durch ihre Erfahrung, mit deren Hilfe sie die Herde vor Feinden warnen können. Sie bilden eine Art Seniorenrat, die Herrschaft führt eine Art Häuptling, welcher bei Versagen von der Herde vertrieben oder getötet wird (?). Von Schimpansen und Gorillas wissen wir eigentlich nur, daß sie als Waldtiere verhältnismäßig sicher auf den Bäumen Zuflucht finden können. Die Vormenschenherde können wir nur rekonstruieren. Eine solche Rekonstruktion liefert immerhin eine befriedigende Hypothese. Die neueren Befunde führen zur Annahme, daß sich der Menschenstamm vor sehr langer Zeit vielleicht schon vor Millionen Jahren vom Anthropoidenstamm getrennt hat. Von den heutigen Primaten unterscheiden sich die Menschen grundsätzlich durch ihre Lebensweise. Der Mensch ist außerhalb des Waldes in sehr früher Zeit groß geworden. Er hat sich dort zum Abwehrjänger und in der Folge auch zum Großtierjäger umgeschaffen. Solche Art gefährlicher Jagd verlangt nach zuverlässiger Männerkameradschaft, Frauen können an ihr aus physiologischen Gründen kaum teilnehmen. Die Arbeitsteilung der Geschlechter muß also schon im Stadium der Vormenschenherde entstanden sein und hat sich seitdem ständig gesteigert. Mit der Ausbildung der Sprache gewann der Mensch die Fähigkeit, die Herdengenossen als einzelne zu benennen und damit eine große Zahl von Genossen individuell zu unterscheiden und diese Bekanntschaft festzuhalten. Damit konnte er auf dem Wege von der Vormenschenherde zum Kleinstamm die Stammesmitgliedschaft zahlenmäßig ausdehnen. Noch heute erhalten die Pferde vom Menschen Namen, damit z. B. ein Einheitsführer seine 150 pferde einigermaßen unterscheiden kann, was ohne Namengebung ganz ausgeschlossen wäre. Damit entsteht zugleich eine verstärkte individuelle Bindung der Herdenmitglieder untereinander, welche auf der anderen Seite eine starke Abschließung gegenüber Artgenossen herbeiführt, welche nicht zur Herde gehören. Damit ist der grundsätzliche Unterschied zwischen intragentilem und extragentilem Verhalten vorgezeichnet. Zwar behandeln auch die meisten in Gruppen lebenden Affen gruppenfremde Artgenossen anders als die gruppeneigenen, der Ver-

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3. Kap.: Strukturgefüge des Sozialdranges

haltensunterschied ist aber nicht so deutlich ausgebildet wie beim Menschen. b) Sicheren historischen Boden betreten wir mit der Feststellung, daß der Kleinstamm die älteste und auch die allgemein verbreitetste Sozialform des Menschen ist. In Randgebieten menschlicher Existenz, so an der Grenze der Kältewüste, in der Arktis, in ariden Steppen oder in der unwegsamen Wildnis des tropischen Regenwaldes bringen es manche Horden nur zu Bruchstücken des Stammeslebens. Diese Defektgebilde sind nicht als Urformen sondern als Ergebnis der Verdrängung zu erklären. Unter besonderen historischen und klimatischen Bedingungen kann ein Kleinstamm auch sekundär verfallen. Die semitischen überlieferungen über den Völkervater Abraham berichten, daß dieser mit seinen Anhängern aus einer Großsiedlung in einer religiös motivierten Hedschra nach Kanaan kam und als Hirtennomade zwischen Agrarstädten lebte, mit denen er Güter austauschte. Es liegt weder ethnologisches noch prähistorisches Material vor, welches uns nahelegen würde, die Kleinstämme als fortgebildete Familienhorden aufzufassen. Der qualitative Sprung von der Vormenschenherde zum Kleinstamm ereignete sich, als der subjektive Geist sich die Lebensform der Vormenschenherde nicht nur bewußt machte, sondern sie auch fortan mit einer gewissen Freiheit gestaltete und umgestaltete. Dies war für die Besiedlung so verschiedenartiger Lebensräume und die komplizierte Ausbildung verschiedener Formen der Nahrungsgewinnung und der damit erforderlichen Sozialformen auch notwendig. Der Kleinstamm ist in allen Fällen auch ein historisch geistiges Gebilde und lebt nicht in unbewußter Gewohnheit. Er versichert sich seiner Einheit durch Ausbildung und Pflege der Stammessprache, deren Formen- und Benennungsreichtum nicht allein praktischen Bedürfnissen, sondern auch zusätzlich der Spielfreude am gemeinsamen Reichtum der Sprache dient. Dies Spiel könnte allerdings auf eine Oberschicht beschränkt sein. Alle Stämme versichern sich ständig ihrer Lebensordnung durch unendliche Palaver auf dem Gerichtsrasen oder durch Vorträge der Gesetzessprecher. Sicherlich übertreiben die antiken Gründungssagen poetisch die planerische Kunst der heroischen Städtegründer. DennoCh ist der planende Anteil der ratio am Gründungsvorgang viel größer als der modische Irrationalismus meint. Der möglichen Lösungen gibt es sehr viele. In primitiven und archaischen Zeiten spielt der menschliche Geist in der bunten Fülle der verschiedenen Sozialformen gewissermaßen mit sich selbst. Dies wirkt später noch in den Utopien, z. B. Platos nach. Immerhin weisen wohl alle Kleinstämme vermöge der weitgehenden Einheitlichkeit der menschlichen Natur auch gewisse einheitliche Grundzüge auf. Die älteren Versuche der Rassenanthropologen die verschiedenartigen Gestaltungen, wie wir sie in Sozialformen und im Sozialverhalten bei Naturund Niederkulturvölkern vorfinden, aus Rassenunterschieden abzuleiten, überzeugen nicht. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Sozialformen wirken

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6. Vom Kleinstamm zur Großgesellschaft

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ihrerseits züchtend und bringen verschiedenartige Typen von Menschen hervor. Hirtenkrieger (Massai) und Feldbauern (Bantu) sehen heute zweifellos verschieden aus aber die verschiedenen Typen sind das Züchtungsergebnis verschiedener Lebensweisen. Dabei spielt die Selektion die Hauptrolle. 2. Der Mensch der Gegenwart lebt in der Großgesellschaft, welche die prinzipiell als gleichartig gedachten Individuen zusammenschließt. Die Großgesellschaft umfaßt nicht nur ideell, sondern auch potentiell die ganze Menschheit. Alle historischen Weltreiche der früheren Zeit verstanden sich als Universalreiche, welche die gesamte Ökumene sozial ordnen sollten, so wenig bisher dieser Anspruch verwirklicht werden konnte. Die Vereinten Nationen sind der gegenwärtige Versuch eines föderativen Universalreiches der gesamten Menschheit. Die Ethik der großen Religionen, ebenso die rationale Ethik der Philosophen, wendet sich allgemein an die gesamte Menschheit und an alle Menschen, sie verpflichtet wechselseitig alle Individuen. Die allgemeine Geschichte, insbesondere die Geistesgeschichte, belehrt uns aber, daß auch heute noch die Menschheit tatsächlich in Staaten und Nationen zerfällt, welche Träger sich vielfach begrenzender oder sogar ausschließender Ideologien sind. 3. Für die Kriminologen ist es entscheidend, daß allen diesen Gruppierungen die menschliche Nähe fehlt, daß sie anonyme Großgesellschaften ohne nachbarschaftliche Wärme sind. Von den ursprünglichen kleineren und überschaubaren Lebensverbänden hat nur die Familie überlebt und auch diese muß um ihre Existenz kämpfen. Der Wandel vom Kleinstamm zur Großgesellschaft ist daher für das deviante, insbesondere das kriminelle Verhalten von größter Wichtigkeit. So bunt die Sozialformen der ursprünglichen Kleinstämme auch sein mögen, sie haben dies eine gemein, daß sie das Verhalten des Menschen ausgeformt haben, so daß die gesamte Verhaltensstruktur ursprünglich auf das Sozialmodell des Kleinstammes bezogen ist. Das gilt übrigens nicht nur für die unmittelbar sozialgerichteten Strukturelemente, sondern auch für die anders ausgerichteten Teilstrukturen, insbesondere den Selbstbehauptungsdrang. Bisher ist es nicht gelungen, die ursprünglichen Verhaltensstrukturen den Bedingungen der Großgesellschaft mit hinreichendem Erfolg anzupassen. Die Menschheit hat eben seit der Homination mehrere hunderttausend Jahre in Kleinstämmen gelebt, während die Entwicklung zur Großgesellschaft trotz vieler älterer Ansätze erst seit etwa 100 Jahren die breiten Massen wirklich ergreift. Wird heute ein Mensch aus einem noch einigermaßen funktionierenden Stammesleben in eine anonyme Großgesellschaft versetzt, so schwindet die subjektive Sicherheit des Verhaltens ebenso wie die gesellschaftliche Verhaltenskontrolle. Dies erlebt man besonders deutlich in der Umwandlung der afrikanischen Gesellschaft. Die Washamba

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3. Kap.: Strukturgefüge des Sozialdranges

in den Usambarabergen zeichneten sich noch bis 1970 durch größe Ehrlichkeit bei extremer Armut aus. Dieselben Menschen ändern ihr Verhalten bereits in den Sisalplantagen unterhalb des Gebirges an der Straße von Tanga nach Mombo. In den Hafenstraßen von Daressalam wird man an die Verhältnisse von Chicago erinnert. In diesen neuwuchernden Großstädten läßt sich natürlich kaum feststellen, aus welchen der vielen Stammesgebiete die Diebe herkamen. Die Industrialisierung der europäischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts traf bereits auf die Anfänge der Großgesellschaft, aber die nachbarschaftlichen Kräfte waren noch sehr stark. In der Kriminalstatistik des europäischen 19. Jahrhunderts zeigt sich überall in der ersten Hälfte noch eine sehr geringe Kriminalität in den nachbarschaftsgebundenen Dörfern, eine viel größere in den Städten, insbesondere den Großstädten. Allmählich gleicht sich dann der Unterschied aus. Man muß dabei bedenken, daß die Organisation nach Kleinstämmen auch in späteren Lebensformen lange nachwirkt. Die griechische Polis war nichts anderes als ein etwas erweiterter und fortentwickelter Kleinstamm, der die Hauptsiedlung der Stadt zum Mittelpunkt hatte. Die athenische Bürgerschaft war noch keine anonyme Masse. Die älteren Großreiche sind meist nur eine mehr oder minder freiwillige oder erzwungene Verbindung mehrerer Stadtstaaten. Der Athenische Seebund mag unter seinem aristokratischen Begründer Kimon eine einigermaßen freiwillige Föderation gewesen sein, wenn vielleicht für die Schwachen auch eine societas leonina. Unter dem demokratischen Regime des Demagogen Perikles entartete er zu einer harten Herrschaft Athens über die Bundesgenossen, welche dann auch im peloponnesischen Krieg Athen schließlich im Stiche ließen. Auch das römische Großreich war eine Föderation von alten Stadtstaaten und neu gegründeten Municipien. Das Rechtsvolk der Römer achtete aber das Recht der italischen Bundesgenossen so hoch, daß diese in den schweren Stürmen des zweiten punischen Krieges der führenden Stadt die Treue hielten. Spätere Entartungen riefen dann den Widerstand der Bundesgenossen hervor. In den mittelalterlichen Reichen vorab im fränkischen Großreich, von dem die Staatsund Gesellschaftsentwicklung des Abendlandes ausgeht, wurde die Reichseinheit zunächst nur dadurch hergestellt, daß derselbe König bzw. dieselbe Königssippe mit dem Königsamt in zahlreichen Kleinstämmen betraut wurde. Dieser gemeinsame König regierte dann das Ganze und die Teile durch das Personal seiner trustis. Noch das Staatsrecht des 18. Jahrhunderts redet von den österreichischen, den brandenburgisch-preußischen, den kurpfalzbayrischen "Staaten" bis hin zum Dörchleuchting Fritz Reuters, der seine "Staaten" an einem Tag in der Kutsche von Schlagbaum zu Schlagbaum bereist. Man vergleiche dazu auch die englische Grafschaftsverfassung oder die kantonale Selbstverwaltung. So bewahrt unter dem Großreich noch überall die nachbarschaftlich verbundene Gemeinde ihre Führungsmacht über den einzelnen. überall liegt noch die territoriale Gebundenheit des Menschen an kleinere Einheiten zugrunde, welche sich auch im Heimatbewußtsein äußert. Größere Städte sind in Europa bis zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert noch sehr selten. Aber auch in größeren Städten kann die nachbarschaftliche Bindung noch dadurch erhalten werden, daß ihre Bürger im Rechtssinn gewöhnlich eine kleine bevorrechtigte Minderheit bilden, welche in sich keineswegs anonym ist und welche jeweils ihre Klientelen unter Kontrolle halten

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kann. Auf dem Wege vom Kleinstamm zum Großreich werden alte Formen zerbrochen, gehen an sich schöne und liebgewordene Gestaltungen unter. Daher trauern romantische Gemüter im deutschen Raum den "organischen" Lebensformen der Vergangenheit nach. Nachfolger Nietzsches beklagen den Untergang der antiken Polis und deren Einordnung in das makedonische oder römische Weltreich. Praktisch wollte wohl keiner dieser Hellasanbeter im Athen des Perikles leben, noch weniger würden es die Deutschtümler im mittelalterlichen Nürnberg oder auf der Burg des Sickingen aushalten. Als der norwegische König die zahlreichen fylki unter seine relativ milde Einheitsherrschaft zwang, hatten die kleinen Häuptlinge keine Kulturleistungen aufzuweisen, welche sich mit denen der athenischen Polis auch nur entfernt vergleichen ließen. Aber auch sie kämpften um ihre Unabhängigkeit oder flüchteten nach Island, wo sie dann ihre Raufereien nach Herzenslust als blutige Fehden austragen konnten. Es ist also offenbar eine allgemein menschliche Neigung, historische Wandlungen mit einem pessimistischen Vorzeichen zu versehen. Diese Neigung ist gewiß irrational, aber der Fortschrittsglaube ist nicht weniger irratiohal. Gewiß ist nur, daß jede Veränderung die Menschheit vor neue und schwierige ethische Aufgaben stellt. Den Aufgaben der Großgesellschaft hat sich die Menschhheit bisher nicht gewachsen gezeigt. Insofern ist m. E. Theodor Geiger zuzustimmen, wenn er meint, daß unsere Intelligenz mit den neuen Verhältnissen noch nicht fertig geworden sei. Die gewöhnliche Auffassung, daß unsere Moral hinter unseren Fortschritten zurückgeblieben sei, trifft nicht den entscheidenden Punkt.

§ 7. Die innere Struktur

Die innere Struktur der menschlichen Sozietäten vom Kleinstamm bis zur Großgesellschaft ist durch keinen angeborenen Sozialplan inhaltlich bestimmt festgelegt. Immerhin dürften der menschlichen Art gewisse VerhaZtenstendenzen mitgegeben sein, deren Beachtung und Vollzug die ursprünglichen Stämme und die moderne Großgesellschaft gleichermaßen stärkt, deren Vernachlässigung sich rächt. Wir finden zwar in der bunten Welt der Primitiv- und Niederkulturstämme erstaunliche Varianten. Sie drängen zum bereits erwähnten Schluß, daß der subjektive Geist in den Anfängen seiner Bewußtwerdung mit seiner Freiheit und seinen Möglichkeiten gespielt habe und zwar weit über die Bedingungen hinaus, welche durch die Verschiedenheiten der Räume und der Ernährungsweisen wirklich gegeben waren. Das hatte die noch seltsamere Folge, daß bizarre Varianten schließlich erstarrt sind. Die Freiheit zu variieren erlaubte dem Menschen auszuprobieren, wie er sich unter den verschiedenartigsten klimatischen und ökologischen Bedingungen einrichten könne. Um so überraschender ist dann das verhältnismäßig einförmige Endergebnis in der modernen Zivilisation. I. Die natürliche Gliederung der menschlichen Gesellschaft. 1. Grundvoraussetzung aller beobachteten menschlichen Sozialformen ist die Gleichgewichtigkeit der Geschlechter, die allerdings in

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3. Kap.: Strukturgefüge des Sozialdranges

wechselnden Gestaltungen genutzt wird und das dauernde Zusammenbleiben aller Lebensalter. Die Natur stellt von der Vormenschenherde bis zur Gegenwart Männer und Weiber in gleicher Anzahl zur Verfügung, gleicht auch die größere Kindersterblichkeit der Knaben durch eine im Verhältnis 105 zu 100 größere Zahl von Knabengeburten vorsorglich aus. Damit würde sich freilich der Mensch von anderen Arten noch nicht so sehr unterscheiden. Wichtiger ist, daß die Männchen keinen wechselseitigen Verdrängungskampf führen, wie er bei den meisten anderen Säugern stattfindet. Bei vielen Arten werden die schwächeren Männchen mindestens zeitweise aus der Herde verdrängt, bei anderen etwa den simiae werden sie doch wenigstens bis zum Ausscheiden des "Boss" geduckt. Beim Menschen bilden reife Männer und Frauen innerhalb des Stammes Paare, was sonst noch höchstens bei freilebenden simiae denkbar ist. Die Aufzuchts- und Adoleszenzperiode des Nachwuchses dauert sehr lange. Dem Stamm gehören daher verschiedene Altersstufen an, die alle sozial aktiv sind, und soziale Geltung beanspruchen. Auch ein erheblicher Teil der alten Leute bleibt im Stamm tätig. Um diese natürlichen Unterschiede zu verarbeiten, muß der Stamm eine reiche Gliederung ausbilden. 2. Auf dieser Grundlage entwickelt die Menschheit zwei Grundformen der Vergesellung, den überfamiliären öffentlichen Verband (die Volksgemeinde) und die familiären Vergesellungsformen. Innerhalb dieser beiden Hauptgliederungen sind noch Altersränge und Altersklassen zu berücksichtigen. Keine der beiden Grundformen läßt sich aus der anderen ableiten. Die Familie ist nicht die "Keimzelle des Staates", wenn sie auch im Laufe der Entwicklung zur Keimzelle des Fürstenhofes und damit der Königsherrschaft werde'n kann, die sich auf die persönlichen Bande der Gefolgschaft (Vasallität) stützt. Andererseits kann der öffentliche Verband, der spätere Staat nicht einfach über die Familie verfügen. Beide Vergesellungsformen sind auch, soweit wir in der vergleichenden Rechtsgeschichte sehen können, gleichermaßen ursprünglich. Der grundsätzlich überfamiliäre Kleinstamm kann ebenso wie seine Vorstufe, die Herde, auf alle einzelnen als solche durchgreifen, auf alle Altersstufen, auf Männer und Frauen, sogar auf die Unfreien. Nur in seltenen Ausnahmefällen haben in Sippen gegliederte Stämme die übergeordnete Einheit eingebüßt und auch dies meist nur für eine kürzere historische Periode, vgl. z. B. die vorislamischen Araber. Dies wäre unmöglich, wenn nicht ganz ursprüngliche, noch aus der Zeit der Vormenschenherde stammende Bindungen des Einzelnen an den Stamm vorgegeben wären, Bindungen, die nach Art und Zusammensetzung der Personenverbände nicht sexueller Natur sein können.

§ 7. Die innere Struktur

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Das Spannungsverhältnis zwischen autonomer Familie und überfamiliärer öffentlicher Gemeinde bewegt seit Urzeiten die Menschheitsgeschichte bis zur jüngsten Gegenwart. Ob es dem etatistischen Liberalismus (verantwortlich z. B. für das absurde und unmenschliche bussing von Schulkindern) und dem kollektivistischen Sozialismus auf die Dauer gelingen wird, die Macht der Familie zurückzudrängen, bleibt abzuwarten. Die geschichtlichen Beispiele des Spannungsverhältnisses zwischen dem fürstlichen Hof und dem öffentlich-rechtlichen Staat waren auch in Europa noch im 19.120. Jahrhundert wichtig und werden von den etatistischen "liberalen" Historikern meist nicht verstanden. Der Hof ist seiner Herkunft nach eine Erweiterung der Familie. Er diente in der Zeit der christlichen Erbmonarchie als Herrschaftsinstitution für die öffentliche Volksgemeinde. Zeitweise vermochte er in der absoluten Monarchie eine einseitige Herrschaft zu gewinnen. Doch blieb der König an das "Privatfürstenrecht" gebunden, welches in dieser Periode das Fundament des Verfassungslebens war. Auch in der konstitutionellen Monarchie blieb nach der herrschenden Theorie der König souveräner Träger der Staatsgewalt. Sein Verhältnis zum Privatfürstenrecht war zwielichtig. War er nicht bloßes Staatsorgan, sondern wirklich souverän, so setzte er sich mit dem Privatfürstenrecht in Widerspruch, wenn er versuchte, seinen Nachfolger zu binden. Dies war die rechtliche Quelle für die Erbfolgekriege des 18. Jahrhunderts. Noch im 19. Jahrhundert beanspruchte der König von Hannover im Konflikt mit den Göttinger Sieben das souveräne Recht, die von seinem Vorgänger erlassene Verfassung zurückzunehmen. Noch wichtiger war ein Problem des 20. Jahrhunderts. An den Ausgleich mit Ungarn genauer an den Ausgleich mit der magyarischen Aristokratie fühlte sich nur Kaiser Franz Josef gebunden. Kein Thronfolger konnte sich an die Einzelbestimmungen halten. Jeder hätte in Ungarn das allgemeine Wahlrecht oktroyiert und damit die chauvinistische Politik der ungarischen Minderheit zum Erliegen gebracht, welche die andersnationale Mehrheit bedrängte und so die Doppelmonarchie in unlösbare Konflikte mit den Südslaven verstrickte. Auf der anderen Seite beanspruchten gerade die "Koburgischen Höfe" das Privatfürstenrecht in sehr seltsamer Weise, indem sie die Hofgesellschaft mitreden ließen, namentlich die Frauen, wie dies der Briefwechsel der Kaiserin Friedrich in entwaffnender Naivität aufzeigt. Das Ergebnis dieses im Hof entspringenden Konfliktes war die dramatische Entlassung Bismarcks. Die Rechtsstellung des Monarchen war zu diesen Übergangszeiten immer doppeldeutig. Er galt dem etatistischen Denken als bloßes Verfassungsorgan des Staates. Er konnte sich aber niemals den Einflüssen der Familie, des Hofes, des Privatfürstenrechtes entziehen. Praktisch kam niemals eine Königin vor, welche - treu der etatistischen Theorie - sich nur als Untertanin ihres Mannes fühlte, entsprechend der alten Bemerkung Martin Luthers, daß nach der Bibel die Ehefrau zwar gehorsamspflichtig sei, er aber niemals eine gehorsame Ehefrau gesehen habe. Bis in diese Zeit wirkt also die uranfängliche Zweigesichtigkeit der menschlichen Gesellungsformen. 3. Der Einzelmensch ist in der Zeit der Vormenschenherde das Einzelwesen, in dem sich eine gewisse individuelle Lebendigkeit geltend macht. Im Kleinstamm wird er sich seiner selbst bewußt, gerade weil der Stamm auf jeden einzelnen als solchen zurückgreift. So tritt neben

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3. Kap.: Strukturgefüge des Sozialdranges

das Spannungsverhältnis Familie-Volksgemeinde das Spannungsverhältnis Einzelmensch und Sozietät in ihren heiden Gestaltungen, wobei der Einzelne sich auch der Familie oder Volksgemeinde gegenüber durch seinen Selbsterhaltungsdrang erhält. Mit der weiteren Entfaltung des Bewußtseins erwacht dann der bewußte Individualismus. So sehr der Mensch als Naturwesen im Stamm lebt, so kann der subjektive Geist anfänglich nur sich selbst als Ausgangspunkt denken. Dabei wird der Einzelne zum Ziel des Menschendaseins überhaupt, die Sozietät wird zur Lebenshilfe für den Einzelnen degradiert. Der soziale Ausweg des Individualismus ist dann die soziale Verpflichtung des Einzelnen gegenüber allen anderen Einzelnen. Im kollektivistischen Denken wiegt dann aber die multitudo omnium schwerer als der einzelne. In der Realität unterwirft der Kollektivismus die Sozietät als die multitudo omnium der eigensüchtigen Tyrannis starker Machthaber. Diese überlegungen klingen arg philosophie-geschichtlich, sollen aber die Entwicklung zum Totalitarismus erklären. Kriminologisch ist dazu folgendes zu sagen: der absolute Individualismus vernichtet wenigstens theoretisch jede dem Individuum übergeordnete objektive Wertordnung, welche geeignet wäre, den einzelnen zu verpflichten und ihm Wege zu weisen. Die Folgen erleben wir heute in der ungeheuerlichen Steigerung der Massenkriminalität, insbesondere der Jugendkriminalität. Die jungen Menschen sind nicht eigensüchtiger und bösartiger geworden, sie entbehren aber einer verbindlichen Wertordnung und damit einer hilfreichen Anleitung zum Leben. Die in sich nichtigen Gedankenspiele eines anarchischen Individualismus verstieben zwar vor den Zwängen der Wirklichkeit, aber leider nicht so schön wie der Nebel vor der Sonne. Sie haben in der Gegenwart die grauenhafte Macht des totalitären Kollektivismus auf den Thron gesetzt. Dagegen hat sich die fruchtbare Spannung zwischen der öffentlichen Gewalt einerseits der Freiheit der Einzelperson und der Autonomie des erotisch familiären Daseinsbereiches immer wieder als der Nährboden für kulturelle Höchstleistungen erwiesen. 4. Der Individualismus sprengt so schließlich den Rahmen intragentilen Verhaltens, macht den Einzelmenschen zum Kosmopoliten, der allen Menschen auf aller Welt in gleicher Weise verpflichtet ist. Sowohl die philosophische Ethik, so etwa Kants kategorischer Imperativ wie die großen Weltreligionen, wenden sich an den Einzelnen, wenn sie von der Forderung der allgemeinen Personachtung oder der allgemeinen Menschenliebe aus ihr System entwickeln. Gehlen meint, die Moral der allgemeinen Menschenliebe sei eine fragwürdige Erweiterung (Elargierung) der Familienmoral und versuche vergeblich, familiäre Verhaltensweisen auf die anonyme Massengesellschaft anzuwenden. Die Fragestellung Gehlens mag unser Problem beleuchten, beruht aber auf Annahmen, denen wir nicht beipflichten können. Bereits innerhalb des Kleinstammes (intragentil) sind überfamiliäre zwischenmenschliche Beziehungen ebenso natürlich und ursprünglich wie fami-

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liäre. Nun kann man allerdings nicht Menschen in abstractio lieben, aber jeder Einzelne kann uns "Nächster" werden, sobald er unsere Hilfe braucht. Diese Hilfe ihm zu gewähren bedarf es nur des Hilfswillens, nicht eigentlicher Liebe. Die Anwendung des intragentilen Hilfswillens auf größere Gesellschaften bringt freilich Schwierigkeiten mit sich, sie entstammen aber nicht den Problemen einer Elargierung der Familienmoral. Ir. Kooperation Ungleicher. Bereits die Vormenschenherde dürfte Männer und Weiber aller Lebensalter, also Menschen höchst verschiedenartiger Lebensweise auf Dauer vereinigt haben. Seit der Zeit des Kleinstammes mußte der homo sapiens dies Zusammenleben Ungleicher bewußt regeln. Diese Kooperation Ungleicher ist vielleicht die großartigste artspezifische SozialZeistung des Menschen. Im Kleinstamm gilt für alle Glieder zwar der Grundsatz idem cuique, insoweit alle als Glieder anerkannt werden. Es gilt aber zugleich der konträre Grundsatz suum cuique, insofern die nach Altersreife, Arbeitsart, Funktion Ungleichen auch nach Rang, Belohnung und Freiheitsrechten verschieden eingestuft und behandelt werden. 1. Wir betrachten zunächst die Ursprünge der Kooperation Ungleicher im Stammesleben. Die homogenen Stämme sind auf dauerndes Zusammenleben von Männern und Frauen jeden Alters in Paaren und Kleinfamilien, in Altersgruppen, Altersklassen und Altersrängen angelegt, welche in Arbeitsteilung das Stammesleben bewältigen. Männer und Frauen führen ein jeweils verschiedenartiges Leben. Sobald und solange die Frau gebären kann, wird sie immer wieder schwanger, die Aufzucht der Kinder beansprucht ihre Lebenskraft und ihren Arbeitstag bis zum Altersbeginn. So ist sie räumlich mehr oder weniger an Rastplatz und Standplatz, später an Zelt und Haus gebunden, von wo aus sie die Sammeltätigkeit der Wildbeuter, den primitiven Feldbau der Feldbauern ausüben kann. Das Bedürfnis nach tierischem Eiweiß, welches wohl die weitere Evolution weitgehend in Gang gesetzt hat, treibt die Männer zur weiträumigen Großjagd oder zum Fischfang auf die See. Diese Arbeitsteilung folgt nicht starren Normen, sondern richtet sich nach natürlichen Unterschieden. Männer helfen den Frauen auch in deren Bereich, soweit ihre größere Körperkraft gelegentlich gebraucht wird. Fallen Männer aus, so wissen auch die Frauen sich zu helfen. Wie diese großen Grundunterschiede, so werden auch individuell hervorgehobene Begabungen, insbesondere charismatischer Art, unbedenklich anerkannt; der erfolgreiche Jäger leitet die größeren Jagdunternehmungen, der stärkste Krieger hat seinen besonderen Rang, der Medizinmann wird verehrt und gefürchtet, der weise Gesetzessprecher wird gehört, seine Weisungen gelten. Insofern tritt der Grundsatz idem cuique hinter dem Prinzip verschiedener Funktions- und Arbeitsteilung

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3. Kap.: Strukturgefüge des Sozialdranges

zurück. Die verschiedenen Funktionsleistungen werden nach dem Prinzip suum cuique belohnt. Dies gilt für alle homogenen Stämme auf den verschiedenen Entwicklungsstufen vom Wildbeuter bis zum Feldbauern oder Großviehzüchter auch für alle Varianten der Nahrungsbeschaffung, also für Jäger, Fischer und Feldbauern. Vogelschwärmen und Säugetierherden ist eine solche Aufgabe nicht gestellt. Die Natur beschränkt ihre Tätigkeit auf ganz bestimmte Formen des Nahrungsgewinnes, was Arbeitsteilung nahezu ausschließt. Gelegentlich muß dem brütenden Weibchen Futter zugetragen werden, die spätere Fütterung der Jungen leistet das Paar gewöhnlich gemeinsam. Nach kurzer Brutpflege sind die Jungen den Alten gleichartig. Sieht man seine heimatlichen Störche in der äquatorialen Sumpfsteppe Afrikas wieder, so leben sie dort nicht als Familien in Horsten, sondern als lockere Schwärme gleichartiger Vögel. Bei den Säugetieren ist das Bild mannigfaltiger, im Prinzip aber ebenso einheitlich. Da bereits der homogene Kleinstamm an die Duldung von Unterschieden gewöhnt ist, so bringt die Oberschichtung homogener Stämme durch Stämme anderer Kulturen und Lebensformen mehr eine Steigerung des bisherigen Lebens als eine grundsätzliche Veränderung. Als ethnologisches Beispiel wird vor allem die Überschichtung von Feldbauern durch Hirtenkrieger genannt, wobei den Hirtenkriegern meist die öffentliche Herrschaft, seltener die kulturelle Führung zufällt. Es ist nämlich nicht l!nbedenklich, wenn die Ethnologen vielfach die Keramik als Leitform des Kulturbesitzes bestimmter Stämme werten. Kriegerfäuste sind nun einmal weniger geeignet, Töpfe herzustellen als solche zu zerschlagen. Überschichtung kann also auch durch gewaltsame Unterwerfung vor sich gehen. Dies ist aber nicht die Regel. Häufiger ziehen nachbarschaftlich siedelnde Feldbauern und Hirtenkrieger zusammen, weil sie sich wechselseitig ergänzen, wobei dann der Hirtenkrieger den höheren Jäger mitbringt. Auch die Nachkommen der Hirtenvölker der Zeit Abrahams zogen schließlich in die kanaanischen Ackerbauer-Städte ein. Lot tat dies sogar sogleich, hatte leider Pech, denn er geriet in das fluchbeladene Sodom. Ein neueres Beispiel liefert die Entstehung des Gemeinwesens der Washamba. Diese Gebirgsbauern wohnen im Usambaragebirge im ehemaligen Deutsch-Ostafrika, sie hatten zur Zeit der deutschen Kolonialgründung einen von den arabischen Oberherren als Sultan respektierten Häuptling aus dem Kilindi-Adel, heute nach der Uhurru (Befreiung) werden sie von den Funktionären einer Einheitspartei, der Tanu, beglückt. Die KiIindi stellten auch jeweils den Sumwe, den Häuptling der Ortschaft oder Talschaft. Der erste Kilindi, der Mbega der Überlieferung soll ein friedloser Mann gewesen sein, der aus einem Kriegerstamm vertrieben war. Er wurde von den Washamba als Jäger geschätzt und verjagte die Wildschweine aus den Pflanzungen. Die dabei erforderliche Eberjagd ist ohne Feuerwaffen sehr gefährlich, also von einfachen Feldbauern kaum zu leisten, wie auch die hellenische Sage bezeugt. So wurde der Mbega Großhäuptling über zahlreiche Dörfer und Talschaften. Die Kilindi sammelten den Stamm auch gegen die arabischen Sklavenräuber und gegen die Räubereien der Massai. Davon, daß die kleine

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Zahl der Kilindi die Washamba unterworfen hätte, weiß die überlieferung nichts, welche den Beginn der Symbiose auf etwa 1600 n. ehr. datiert. Die Geschichte wäre also ähnlich gewesen wie bei den Russen, welche angeblich "die Waräger gebeten haben: "Kommt und regiert uns". Den Ortshäuptling von Bumbuli habe ich selbst noch kennengelernt. Von der Hautfarbe abgesehen sah er so aus wie ein ostelbischer Aristokrat und wahrte auch nach seiner Absetzung seine höchst würdige Haltung. Aber nicht alle Kilindi sind hochgewachsene Leute. Solange geschichtete Stämme noch in einem überschaubaren nachbarschaftlichen Zusammenhang leben, werden die mit der überschichtung verbundenen sozialen Unterschiede verhältnismäßig leicht ertragen. Gefährlicher ist die Sache, wenn die überschichtung aus Eroberung und Unterwerfung entstanden ist. Dennoch fanden Klassenkämpfe im Sinne der marxistischen Theorie selbst in diesen Fällen kaum statt. Das Leben war noch viel zu hart, die Selbstbehauptung der Stämme gegen die Gefahren, die von der übermächtigen Natur oder auch von feindlichen Stämmen drohen, erfordert gemeinsame große Anstrengung, so daß man darauf verzichtet, sich das Leben durch Klassenkämpfe noch schwieriger zu machen als es ohnehin schon ist. 2. Weiterentwicklung der Kooperative a) Auch die Sklaverei ist sozialgeschichtlich als Kooperation zu verstehen, mag sie auch durch Kriegsgefangenschaft begründet und im Einzelfall grausam gehandhabt worden sein. Starke Vermehrung der Bevölkerung zwingt zu intensiver Arbeit. Der Mensch hat aber keine ursprüngliche Veranlagung zur Arbeitsstetigkeit. Man muß also die Arbeit Sklaven auferlegen, welche man zwingen kann zu arbeiten. Mit dem Arbeitsbedürfnis beginnt aber auch die Umzüchtung der freien Bevölkerung zum Arbeitsmenschen in West- und Mitteleuropa seit dem späten Mittelalter zu bäuerlicher und handwerklicher Arbeit. Ist diese Umzüchtung gelungen, so verwandelt sich die Sklaverei in Schollengebundenheit und Hörigkeit, in der Spätantike in das Kolonat oder in relativ freie Klientelverhältnisse. Hat nämlich die freie Bevölkerung gelernt, beständig zu arbeiten, so wird die Sklaverei wirtschaftlich unrentabel. Wenn das römische Recht den Sklaven der Sache, genauer dem Tier gleichstellte, so war dies nur eine überschneidige Folgerung aus der rechtlichen Wahrheit, daß der Sklave außerhalb der freien Bevölkerung stand und deshalb des "zivil"-rechtlichen Schutzes entbehren mußte. In Wahrheit ging das Gefühl für die grundsätzliche Rechtsstellung des Menschen niemals völlig verloren, wie dies sakraler Sklavenschutz und die Möglichkeit der Freilassung neben vielen anderen Rechtseinrichtungen beweisen. Auf dieser Grundlage konnte die frühchristliche Kirche um die zivilrechtliche Abschaffung der Sklaverei ringen. Die äußerste Ungeheuerlichkeit auf diesem Gebiet war, daß in den Südstaaten der USA die Sklaverei neu eingeführt und noch im 19. Jahrhundert 6 Mayer

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3. Kap.: Strukturgefüge des Sozialdranges

festgehalten wurde, als im sonstigen europäischen Lebensbereich es seit Jahrhunderten keine Sklaverei mehr gab. Sein Gewissen beschwichtigte der Amerikaner mit Genesis Kap. 9 Vers 25. Nicht besser steht es übrigens mit den Begründungen welche die USA zu ihrem Eingriff in den ersten Weltkrieg vorbrachte. Hier handelte es sich geradezu um den Bilderbuchfall eines frivolen Angriffskrieges, der noch verwerflicher war, weil er aus moralischer überheblichkeit geschah. Die USA haben damit den Weltbürgerkrieg und das Unglück der Gegenwart eingeleitet. b) In der rezenten Menschheit beobachten wir Kooperation zwischen Hochleistungsjähigen und Leistungsschwachen, Gesunden und Kranken. Dies kommt bei Tierherden kaum vor. Mögen viele Natur-"Gläubige" auch die durchschnittliche Gesundheit der in freier Wildbahn lebenden Tiere überschätzen, so bleibt doch gewiß, daß schwache und kranke Herdentiere verhältnismäßig schnell aus der Herde ausscheiden und nicht das Fortpflanzungsalter erreichen. Wir können die von der Natur angewandten Eliminierungsmethoden nicht im einzelnen erörtern, teilweise handelt es sich um brutale Mittel, wie z. B. die Hackordnung oder den unerbittlichen Rivalenkampf bei Hühnervölkern. Gewöhnlich genügt es, daß die schwachen Exemplare keine Pflege finden können. Dagegen gelangen beim Menschen auch schwächere Individuen vielfach zur Fortpflanzung, so daß jede Population große Unterschiede in der Leistungskraft aufweist. Namentlich zeigt die Skala der Intelligenzquotienten eine sehr große Bandbreite. Sie reicht bis zum leichteren Schwachsinn, um diese fragwürdige Bezeichnung der bequemen Verständigung wegen vorerst beizubehalten. Diese Reichweite der menschlichen Veranlagung bedeutet nicht nur eine Last. Die menschliche Gesellschaft bedarf solcher Begabungsunterschiede. Wichtige Funktionen können nur von einfacheren Menschen ausgeführt werden, weil differenziertere Begabungen solche Rollen mißachten. Gegenwärtig fehlen in Westeuropa einheimische Hilfsarbeiter für wichtige Arbeiten. Unsere Straßenreinigung funktioniert nicht mehr, die Müllabfuhr ist in süddeutschen Großstädten fest in türkischer Hand. Das ist für die einheimische Bevölkerung nicht ungefährlich. Die sogenannten leicht Schwachsinnigen waren in früheren Zeiten sehr nützlich, z. B. als Tierpfleger. Um es sehr zynisch zu sagen: solche Menschen leisten immerhin viel mehr als Roboter und Automaten, ~ie sind auch billig zu produzieren, weil dies mit sexuellem Vergnügen verbunden ist. Intellektuelle Wachheit verbindet sich gar nicht so leicht und selbstverständlich mit moralischen Qualitäten, wie Ehrfurcht, Bereitschaft zum Gehorsam, Treue und Hingabe. Der Betrüger, namentlich der Hochstapler, bedarf sicherlich eines Mindestmaßes wacher Intelligenz. Der gutartige leicht Schwachsinnige ist anlehnungsbedürftig und treu, er wird auch seltener kriminell als der Durchschnitt. Anlehnung findet er glücklicherweise doch leichter bei selbstlosen Menschen als bei

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Verführern. Ganz allgemein gesagt: der "Schnelldenker"-Intellekt hat seine großen sozialen Schattenseiten. Man verzeihe dem alten Soldaten einen Rückfall in seine militärischen Erfahrungen. Artilleristische Richtgeräte zu bedienen verlangt ein gewisses Maß präsenter Intelligenz, die Ausbildung erfordert eine gewisse Zeit. Im Herbst 1914 hätten aus den zwei Millionen Kriegsfreiwilligen nicht so viele Divisionen mit Artilleristen versehen werden können, wenn nicht die vielen Schüler höherer Schulen ohne weiteres an diese Apparaturen hätten gesetzt werden können. Es empfahl sich aber diese "Intellektuellen" möglichst bald durch inzwischen ausgebildete handwerklich zuverlässige Gemüter abzulösen. Denn die Intellektuellen vermochten ihren spontan arbeitenden Intellekt nicht abzustellen, und die Schüsse gingen beim "Denken" der Richtkanoniere in die Gräben der eigenen Infanterie. c) Die Schonung des Leistungsschwachen ist nicht etwa erst das Ergebnis moderner Humanitätsduselei. Zwar haben wir gewisse rechtshistorische Anhaltspunkte für Altentötung in primitiven Kulturen. Aber die Altentötung ist durch dringende Not motiviert, weil man den Alten nicht pflegen und nicht versorgen kann. Auch kranke Herdentiere werden zwar nicht getötet, aber sie entfernen sich spontan in die einsame Wildnis. Der primitive Kranke oder alte Mensch kann heute sein Versagen nicht mehr ertragen und flüchtet in den Selbstmord. Andererseits gibt es massenhafte Nachweise für Kindestötung und Abtreibung zum Zweck der Bevölkerungskontrolle. Dies steigert sich bis zu dem viel verbreiteten Brauch der Anerkennung der Neugeborenen durch Vater oder Sippenhaupt, welche praktisch erst die Erlaubnis zur Aufzucht gibt. Die spätere sophistische Erklärung, dieser Brauch habe der Eliminierung schwacher und kranker Kinder gedient, widerlegt sich selbst durch den physiologischen, bzw. medizinischen Unsinn, den er enthält. Primitive Menschen können ein solches Urteil gar nicht abgeben. Der Schwarzafrikaner in einfachen Stammesverhältnissen pflegt das kranke Kind mit rührender Hingabe. Nun ist aber Mutter-, allgemeiner Elternliebe die unerläßliche Voraussetzung für das Gedeihen des Stammes. Der Nationalsozialismus wollte eine angebliche Rückwendung zum vermeintlich natürlichen Verhalten herbeiführen. Die seltsamen und schrecklichen Gedankengänge, auf welchen dieser Versuch beruhte, sind hier nicht darzulegen. Im intragentilen Bereich ist das Vorhaben schnell gescheitert. Selbst unter Bedingungen des Ausnahmezustandes im Kriege, in welchem der Mensch viel erträgt und duldet, mußte die Eliminierung der Geisteskranken aufgegeben werden, sobald die Öffentlichkeit von den Vorgängen erfuhr. Anders im extragentilen oder pseudoextragentilen Bereich. Zwar hatte der Nationalsozialismus teilweisen Erfolg, wenn er die Juden schlechthin als extragentil erklärte. Dennoch mußte er den Liquidierungsversuch, den er nur im Kriege unternehmen konnte, sorgfältig geheimhalten. Diese Geheimhaltung vor der breiten Öffentlichkeit gelang allerdings nur durch die teuflische Geschicklichkeit, mit der Hitler und seine Genossen Einzelmenschen um Einzelmenschen, auch Gruppen um Gruppen immer weiter in

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Mitschuld verstrickte, so daß die Verstrickten zu Verblendeten und schließlich zu Gefangenen ihrer Verstrickung wurden. Es mag sein, daß die Lebens- und Informationsformen der modernen industriellen Technik auf aller Welt ähnliche Schrecklichkeiten ermöglichen. II!. Der Weg von der Stammeskultur zu größeren gesellschaftlichen und staatlichen Zusammenhängen harrt, was die anthropologisch erfaßbaren Triebkräfte angeht, noch einer befriedigenden Erklärung. Wir dürfen uns dem Wagnis einer solchen Untersuchung nicht entziehen. Die vorläufigen Aussagen, welche sich dabei ergeben können, dürften den Weg der pragmatischen Kriminologie immerhin besser erhellen, als die Fackel einer nur spekulativen Vernunft bzw. Unvernunft. Wir haben dabei vom Denkmodell einer integrierten Stammeskultur auszugehen, welche sich aus eigenen Kräften entfaltet und fremde Einflüsse sich aneignet. Dies Denkmodell wird im Leben nirgendwo rein vorkommen. Doch stehen die sozialen Verhältnisse im Bereich der deutschen Altstämme unserem Modell recht nahe. Sicherlich lebten die von Tacitus beschriebenen Rheingermanen in geschichteten Stämmen, aber es fällt den Römern die innere Einheitlichkeit dieser Stämme auf. Dies Denkmodell wählen wir, weil wir nicht die Meinung teilen, daß der Krieg schlechthin der Vater aller Dinge sei. Krieg, Eroberung und Unterwerfung sind vielmehr etwas Besonderes, dessen Folgen wir erst am Schluß dieses Kapitels als extragentiles Verhalten betrachten wollen. Die Germanen gerieten erst sehr viel später als Italiker oder Hellenen in Bewegung (Kinbern und Teutonen um 120 v. ehr.). Es mag zwar sein, daß ihre nördliche Heimat etwa um 900 v. ehr. durch Einbrüche von Reitervölkern verändert worden ist. Prähistorische Funde für einen solchen Vorgang fehlen, Roßäpfel lösen sich ohne Spuren auf. In einigen Jahrhunderten war aber eine hochgradige Geschlossenheit zurückgewonnen worden. Dagegen sind die Mittelmeerländer um 2000 v. ehr. durch eine belegte und bedeutungsschwere Geschichte hindurchgegangen. Gallien hat seit der keltischen Eroberung niemals eine integrierte Stammeskultur besessen, denn die Kelten hielten ihre Gemeinfreien wie andere Völker ihre Sklaven. Dann kamen Römer und Franken. Aus diesem Gebiet kriegerischer Eroberungen überrannten die Normannen 1066 die angelsächsischen Stämme. Von solchen Vorgängen hebt sich die Sozialwelt der deutschen Altstämme deutlich ab. Auch die einheitliche Stammeskultur wird durch zwei gegenläufige Tendenzen fortbewegt, die soziale Differenzierung einerseits, das Gleichheitsstreben andererseits, wobei das erstere dem naturrechtlichen Postulat suum cuique, das letztere der konträren Gegenforderung cuique idem entspricht. Soziale Differenzierung kommt zustande, wenn spezifische Leistungen durch besonderen sozialen Status anerkannt und entlohnt werden. Anders könnten solche Leistungen nicht auf Dauer erbracht werden. Bereits der homogene Stamm belohnt das Charisma des Einzelnen, in-

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dem er zum Beispiel dem Medizinmann eine hervorgehobene Stellung einräumt. In der w~iteren Entwicklung kommt es zur institutionellen Verfestigung. Der Schamane gibt zugleich sein besonderes Wissen und seinen sozialen Status an Söhne und Schüler weiter. Im geschichteten Stamm bringen die Feldbauern mit ihrer Feldbaukultur ihre Lebensweise, die Hirtenkrieger ihre Großviehzucht, die Handwerker, z. B. die Schmiede, ihr Sonderkönnen und ihre Sonderart ein. Die Hirtenkrieger ordnen die Feldbaukultur und sichern sie, tragen also vorzugsweise die Last der Verteidigung. Dafür empfangen sie Weide und Jagdrecht auf der gesamten Flur und das Recht in der Volksversammlung, Fürsten und Volk zu beraten. Nach der germanischen Heeresverfassung wird das Gesamtvolk nur ausnahmsweise aufgeboten. Eine Oberschicht ist mit einer zeitlich begrenzten jährlichen Auszugspflicht belastet, muß sich außerdem ständig bereit halten. Berittene Krieger sind praktisch ständig mobil. In der Folge bilden sich zahlreiche Berufsgruppen mit verschiedenen Lebensweisen, Stände mit besonderer Standes- und Berufsehre. Stände sind meist, B~rufe wenigstens vielfach erblich. Doch fehlt es zu keiner Zeit gänzlich an sozialer Mobilität. Der Bedarf nach ausgezeichneten Kriegern kann in unruhigen Zeiten kaum gedeckt werden. Daher steigt schon in der Zeit des Tacitus, später zur Zeit der Hohenstaufen zur Ehre des vornehmen Gefolgsmannes der bewährte Vasall bei nobiles und principes auf. Einfacher Leute Kinder können schon im Mittelalter zu geistlichen Reichsfürsten werden, wenn nur ihre Intelligenz und Willenskraft in Kloster- oder Domschulen rechtzeitig erkannt wird. Der Reichserzkanzler und Primas von Mainz führt das Mühlrad des Mühlknappen Williges im Wappen. In der Neuzeit werden diese Wege verbreitert, rationalisiert und institutionalisiert durch genormte Berufsausbildung und Berufsprufung. Trotz solcher Differenzierung wird entsprechend christlicher Lehre die allgemeine Menschenwürde behauptet, die wechselseitige geistig~ Kommunikation, ein einheitliches Lebensgefühl bleiben erhalten. Störende Dissoziationen gehören der Neuzeit an. Auf der einen Seit~ entfremdet die humanistische Bildung den "Gebildeten" dem gemeinen Mann. Diese Bildungsschicht, welche den "Lehr- und Wehrstand" auch das akademische Beamtentum einschli~ßlich der Richterschaft umfaßte, war sicherlich nicht durch Wohlstand und Wohlleben ausgezeichnet, hob sich sicher nicht durch ökonomische Vorzüge, aber durch eine besondere geistige Verfassung von der Masse des Volkes ab. Auf der anderen Seite entstand infolge der Industrialisierung aus den nach- od~r richtiger vorgeborenen Söhnen der Bauern, aus den nicht zur Meisterschaft gelangten Handwerkersöhnen die industrielle Arbeiterschaft. Diese "Enterbten" hatten bis dahin meist unverehelicht als Knechte oder Gesellen gelebt, waren durch ihren Bauern oder Meister in der Gemeinde repräsentiert, in die religiöse Gemeinde nur vom Hausvater mitgenommen. In ihrer proletarischen Selbständigkeit, welche ihnen

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auch die Ehe erlaubte, nahmen sie nur die Grundsubstanz der Volkskultur mit. Erst nach mehr als 1000 Jahren sozialer Differenzierung kam es zu ernsten bäuerlichen oder quasi-bäuerlichen Unruhen, jedoch keineswegs überall, z. B. nicht im bajuwarischen Stammesgebiet. Die Kämpfe in den Städten zwischen Geschlechtern und Zünften, zwischen Meistern und Gesellen begannen schon etwas früher. Alle diese Streitigkeiten galten aber mehr dem Anteil an der politischen Macht als der Gegenwehr gegen ökonomische Ausbeutung. Erst die moderne Arbeiterbewegung hatte vornehmlich ökonomische Ziele, Marx gab ihr die Parole "Proletarier aller Länder vereinigt euch". Aber auch diese Parole zerbrach 1914 an der Urgewalt der nationalen Leidenschaft. Es ist einfach unwahr, wenn Marx behauptet, daß der Inhalt der Geschichte aus Klassenkämpfen bestehe. In der bäuerlichen Gesellschaft waren die eigentlichen Bauern keineswegs benachteiligt, dafür zeugen die sieben Artikel der Bauernschaft von 1525. Ökonomisch erledigt waren damals die Ritter auf ihren Burgen, wo Schmalhans Küchenmeister war. Schwer benachteiligt waren die "Enterbten", welche entweder weichen oder Knechte werden mußten. Man bedenke, daß ein Dorf von 200 Seelen doch höchstens 12 Bauernstellen hatte, daneben einige Anwesen für Tagelöhner. Die Revolte von 1525 zerstörte mit den Klöstern die einzige menschenwürdige Versorgung der Nach- bzw. Vorgeborenen. Die Gründe der bäuerlichen Erhebung sind jedenfalls komplex und umstritten. Mögen die Vorkämpfer des Klassenstreites Luther auch als Fürstenknecht anklagen, sie sollten nicht bestreiten, daß er der nüchternste Beobachter gewesen ist. Er glaubte, daß wirkliche Bauern in der Revolte nur gezwungen mitwirkten. Das stimmt sicherlich nicht für die wenigen Leibeigenschaftsgebiete, in denen die erreichte ökonomische Stellung mit dem längst unwirklich gewordenen Minderrecht im Widerspruch stand. Die erfolgreichen bäuerlichen Erhebungen in der Schweiz und in den Marschen haben die politische Macht entsprechend der sozialen Wirklichkeit neu geordnet. In der ständisch differenzierten Welt gibt es auch einige Privilegien, genauer spezielle Bevorzugungen, welche der Anerkennung des Charisma insbesondere in der Stammeskultur entsprechen. Das wichtigste Beispiel bietet die alte sog. Ordinarien-Universität. Der Ordniarius der alten Universität war in dem hier gemeinten soziologischen Sinn privilegiert. Der Verleihung des Privilegs ging ein gefährliches Risiko voraus. Der Bewerber mußte neben ausgezeichneten Berufsexamina, einer guten Doktorarbeit schließlich noch eine Habilitationsschrift vorlegen, außerdem eine weitere größere Arbeit, zu der ihm der Habilitationsvater praktisch kaum helfen konnte. Diese Arbeiten mußten gedruckt vorliegen und in der wissenschaftlichen Diskussion anerkannt worden sein. Der Bewerber mußte also jedenfalls einen großen Aufwand an Mühe und vor allem an Zeit geleistet haben. Mißglückte die Sache, so hatte er etwa 5 bis 10 Lebensjahre ersatzlos verloren. Hatte er Glück, so gelangte er relativ früh in eine Stellung, in der er von keinem Vorgesetzten überwacht, keinem "Team" von Mediokritäten beengt war. Er war schlechthin frei und ohne Vorgesetzten. Nieten, welche nach diesem Anfangserfolg verstummten, kamen natürlich vor, aber doch nur selten. Dies Privilegiensystem hat Deutschland zur führenden wissenschaftlichen Nation gemacht, wenn auch zugegeben werden soll, daß

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das Arbeitspotential der elitären jüdischen Intelligenz eine nicht unbedeutende Rolle dabei mitspielte. Mit der revolutionären Einführung der Altersgrenze wurde diesem System bereits nach 1918 die Lebenskraft entzogen. Dabei kam es weniger darauf an, daß einige hochbedeutende Geister erfahrungsgemäß eine ständige Verjüngung erleben und bis in das höchste Alter produktiv bleiben. Kant z. B. hat wichtige neue Anfänge nach dem heutigen Emeritierungsalter gesetzt. Viele blieben doch wenigstens befähigt, die von ihnen früher eingebrachten Anfänge zu vollenden, was auch eben nur sie allein konnten. Alle aber waren erst im Alter wirklich befähigt, den Nachwachsenden das Maß zu setzen. Das männliche Geschlecht zeichnet sich überhaupt dadurch aus, daß es erst im Alter wird, was es eigentlich ist (Fontane). So beruhte der Glanz der alten Universität eben wirklich auf den großen alten Leuten. Allgemein wird man sagen können, daß Privilegien unentbehrlich sind, will man gewisse Höchstleistungen erzielen. Das sowjetische System hat dies nach kurzer übergangszeit sehr bald eingesehen und in versteckter aber wirksamer Weise dem Bedürfnis Rechnung getragen. Den Inhabern der Privilegien wird es immer sehr schwer fallen, die dringend erforderliche Bescheidenheit zu gewinnen und zu bewahren. Die in Deutschland den Ordinarien eingeräumten Privilegien hielten sich in Grenzen. überheblichkeit konnte kaum unerträglichen Schaden anrichten. Vom politischen Standort des Privilegierten sind solche Fehlhaltungen übrigens unabhängig. Schleich berichtet von seinem angebeteten Lehrer Virchow, der doch ein linksliberaler Oppositionsmann war, ein besonders charakteristisches Beispiel überheblichen Fehlgreifens. Der spezifische Fluch aller Privilegien- und Ständeordnungen ist weniger der menschliche, allzu menschliche und gelegentlich unmenschliche Mißbrauch als vielmehr die Verkrustung, welche das Leben hemmt. Soziale Differenzierungen werden durch historische Bedürfnisse hervorgebracht. Sie sind also immer nur für die Zeit berechtigt, in denen die entsprechenden Umstände vorliegen. Es liegt aber leider in der menschlichen Natur, daß die Begünstigten ihre Stellungen nicht zu räumen pflegen, wenn ihre Zeit abgelaufen ist. Dafür ist das Musterbeispiel die französische Revolution in dem sehr künstlich konstruierten Staat Richelieus, welche Revolution weder auf England noch auf Deutschland übergriff. Dies ist auch der Kerngedanke H. Taines in seinen Origines de la France contemporaine. Dort schildert er zunächst das großartige historische Verdienst der alten Mächte, streitet auch gegen die Legende, daß die Stände des ancien regime so überaus lasterhaft und unbrauchbar geworden seien. Aber er belegt sehr gründlich, daß die alte Ordnung überlebt war, daß sie sich verkrustet hatte. Im übrigen ist zu bedenken, daß die französische Gesellschaft nicht intragentil konstruiert werden kann. Voltaire hat gerügt, daß der französische Adel sich gegenüber dem gemeinen Volk auf seine fränkische bzw. gotische Abstammung berief, welche er den einfachen Leuten absprach. In dieser Anmaßung steckte ein richtiger historischer Kern. Auch in Populationen, deren Differenzierung ausschließlich intragentil verstanden werden kann, geben Vorrechte und Privilegien viel-

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fachen Anlaß zu Mißbrauch, der von den Betroffenen als ungerecht empfunden und mit ungerechten Reaktionen beantwortet wird. Die Natur hat nur ein sehr bedingtes Interesse daran, Konflikte zu vermeiden, finden doch vielleicht die schlimmsten Mißbräuche im engsten familiären Bereich statt, wenn z. B. bäuerliche Eltern die vor- oder nachgeborenen Kinder dazu verurteilen, schlecht entlohnte Knechte des einzigen Erben zu bleiben. Diese Sachverhalte finden ihre klassische Schilderung im Bauernspiegel, dem Schulmeister und anderen Romanen von J eremias Gotthelf, und in dem Märchenspiel, in welchem Shakespeare zu Beginn den Konflikt im König Lear exponiert. Derartiges Fehlverhalten ist aber im allgemeinen mehr der Gebrechlichkeit der menschlichen Natur als eigentlicher Bosheit oder spezieller Aggressionslust zuzuschreiben. Das Lebewesen macht sich Raum, der Mensch gebraucht seine Ellenbogen mehr oder weniger, ohne dabei die ethisch erwünschten Rücksichten zu nehmen. Daraus entstehende Konflikte neigen zur Eskalation, zumal sie meist nicht vorausbedacht werden. Im gegenwärtigen Stand der Zivilisation sind die elitären Phantasien oder der Treitschke zugeschriebene Ausspruch, eine einzige Statue des Phidias rechtfertige das ganze Sklavenelend der Antike, doch nur als Schreibtischphantasien tatenarmer Theoretiker zu werten. Alle diese Denker stammen von den Florentinern Machiavelli und Dante ab, welch letzterer für seinen politischen Zorn die Höllenstrafen als Weltrichter verhängt. Das hochbegabte Florenz ist aber zusammengefügt ursprünglich aus Etruskern und Römern, später aus römischen Municipalen und Langobarden und reicht in Konflikte zwischen Ghibellinen und Guelfen. Der blutige Terror des Hitlerregimes stammt aus dem Nationalitätenkampf des verfallenden Habsburgerreiches, in welchem die Juden keine eindeutige nationale Haltung einnehmen konnten, so daß sie von den Massen der kämpfenden Nationalitäten als Verräter abgestempelt wurden. Im übrigen stammt diese innere Haltung aus der Meuterei der Unterschicht genau so wie die Septembermorde. Eine anthropologische Erklärung der Differenzierungsvorgänge in der menschlichen Gesellschaft fehlt. Die Selektionstheorie kann nur die Mutationszufälle als Grund angeben, welche dann durch die Selektion geordnet werden. Man kann natürlich auch den gesteigerten individuellen Selbstbehauptungsdrang der einzelnen Menschen für die soziale Differenzierung verantwortlich machen. Es bleibt dann allerdings eine Lücke im Gedankengang, weil die Zusammenfassung individueller Vorgänge in soziales Gruppengeschehen der Erklärung bedarf. Im ganzen ist die soziale Differenzierung des ursprünglichen Stammeslebens aber eben nur ein Sonderfall des unendlichen Formenreichtums, der Gestaltenfülle, welche wir in der lebendigen Natur bewundern. Diesem unendlichen Reichtum gegenüber bleibt die Selektion gewissermaßen auf eine polizeiliche Kontrollfunktion beschränkt. Seit 1789 ist in Europa das Gleichheitsprinzip (Egalite, cuique idem) als Sieger auf den Plan getreten. Für dieses Gleichheitsprinzip gibt es eine einfache anthropologische Erklärung, denn der machtvollste Motor

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der Gleichheitsbewegung ist der Neid. Neid ist als primitiver und gerade deshalb so wirksamer Regulator anzusehen, der seine Stelle hat in der Evolutionsgeschichte, wo die einfache Säugetierherde zur Vormenschenherde wird. Kennzeichen und Lebensbedingungen bereits der Vormenschenherde ist aber die dauernde Kooperation Ungleicher. Die Natur bedurfte des Neides, um den solidarischen Zusammenhalt der Vormenschenherde, später des Stammeslebens zu garantieren. Bei allen anderen Säugetierherden scheitert die Solidarität immer wieder an der Ungleichheit der einzelnen Exemplare. Bei den meisten Arten werden die schwächeren Männchen in Sekundärherden verdrängt, welche gegenüber Freßfeinden mehr oder weniger wehrlos sind. Bei manchen Simiae bleiben zwar alle Männchen in der Herde, werden aber von einem Boß sexuell benachteiligt. Es kam also zunächst in der Vormenschenherde darauf an zu verhindern, daß sich einige allzu sehr hervortun und auf diese Weise die Kooperation Ungleicher und den intragentilen Friedenszustand stören. Damit wurden zwei entscheidende Vorteile erreicht, einerseits die Ausbildung einer leistungsfähigen Männerkameradschaft, andererseits der gesellschaftliche Raum für eine langdauernde Aufzuchtsperiode. Man verzeihe mir die an sich unzulässige, aber der Kürze wegen bequeme finale Ausdrucksweise. Tiefere oder wenn man will höhere Gründe für das Gleichheitsstreben wären nicht so wirksam gewesen. Der Neid ist als Trieb, d. h. erlebter Instinkt - und zwar auf die Vormenschenherde bezogen primordialer Instinkt ein für die höhere Entwicklung der Menschheit sehr unzulänglicher Regulator. Als primordialer Trieb ist er starr und durch psychische Einwirkung kaum zu modifizieren, wenn auch durch Gegenkräfte zu überwinden. Als primordialer Instinkt ist der Neid wesentlich Rangneid, denn ökonomisch motivierter Neid ist in der Zeit, als die Vormenschenherde sich bildete, nicht wohl vorstellbar. Signalschema ist also die wahrgenommene soziale höhere Geltung (Rang) des Beneideten, das Verlangen geht auf Beseitigung dieses sozialen Vorzuges, ziemlich gleichgültig, ob dies dem Stamm oder auch nur dem Neider im Einzelfall irgendwie förderlich ist. Nur derart einfach konstruierte Instinkte und Triebe wirken hinreichend sicher, um die große Verwandlung der allgemeinen Struktur der Säugetierherde in die auf Kooperation Ungleicher eingestellte Vormenschenherde hervorzubringen. Man beachte genau: Wenn der Bedürftige in der Hand eines anderen ein Gut erblickt, welches er "auch haben" will, so ist dies noch kein Neid. Regelmäßig erlischt das "auch haben wollen", wenn das Bedürfnis der Sache nach befriedigt ist. Das Neidverlangen wird jedoch erst durch die Degradierung des Beneideten konsumiert. Ohne die Forschungen Helmut Schoecks über den Neid hätten diese Zeilen nicht geschrieben werden können. Hier ist nur aus der Verhaltenslehre nach-

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zutragen, aus welchen biologischen Gründen das gewissermaßen erratische Phänomen - Neid liegt gewissermaßen wie ein Granitfindling aus den norwegischen Bergen einzeln in der diluvianischen norddeutschen Flur - weder psychologisch noch soziologisch in den Griff zu bekommen ist. Die nackte Faktizität eines einzelnen Instinktes läßt dies nicht zu. Der Neid ist auch heute in den Erscheinungen des primitiven Neidsozialismus immer noch am Werke. Die ältere Arbeiterbewegung hatte für diese Gefahr ein feineres Gespür als die Gegenwart. Man kann auch keine Sozialsysteme aufbauen, in denen der Neid vermieden werden könnte. Dennoch ist zu sagen, daß der Fortgang der Evolution selber diesem Drachen einen Zaum angelegt hat. Der Neid steht unter einem spontanen natürlichen also nicht konventionellen Tabuverbot, er gilt bei allen Menschen als verächtlich. Sonst kann sich der Mensch zu allen seinen Lastern bekennen. Männer können mit ihrer sexuellen Zügellosigkeit renommieren. Horaz konnte besingen, daß er als Militärtribun (mindestens Oberst) aus der Schlachtreihe von Pharsalus aus Feigheit in ungefährlichere Gegenden fortgeritten sei. Jedermann kann sich mit frechem Eigenlob rühmen: "ich lüge nur selten". Zu ihrem Neid bekennen sich aber nicht einmal die zahlreichen Nachsänger des seligen Thersites. Das ist ein sehr merkwürdiges Phänomen. Offenbar hatte die Natur seit der Bildung der Vormenschenherde hinreichende Zeit um zu erkennen, was sie mit der Erfindung des Neides angerichtet hatte. Wir wollen diesen Gedankengang zunächst an Beispielen erörtern. Der Kulturzustand der rezenten Menschheit ist überaus verschieden. In ihrer Jugendsünden Maienblüte hat die junge Wissenschaft der Genetik im Seitenzweig der Rassenlehre diese Kulturunterschiede rassenpsychologisch erklären wollen. Heute ist Mode, die Möglichkeit von Rassenunterschieden prinzipiell zu leugnen. Naturwissenschaftlich ist dies ebenso töricht, wie der vormalige Hochmut der Europäer, welche historisches Glück mit ihrer angeblich so vorzüglichen Rasse fehlerklärten. Die Menschen sind nun einmal nicht gleich, weil es Gleichheit in der lebendigen Natur nicht geben kann. Aber nüchterne Beobachtungen belehren uns darüber, daß diese problematischen Unterschiede nicht ausreichen, um die wirklich vorhandenen Kulturunterschiede zu erklären, so daß man von einer relativen Gleichheit der Menschen ausgehen kann. Alle Rassen sind auf allen Gebieten lernfähig, die Lernfähigkeit ist allerdings teilweise bedingt durch die von Generation zu Generation gesteigerten Traditionsvorteile. Ebenso wenig wie Rassenverschiedenheiten vermögen klimatische Unterschiede den verschiedenen Kulturzustand der Völker aus aller Welt erklären. Wir gehen daher von der Arbeitshypothese aus, daß sich die Verschiedenheit der Kulturleistungen wesentlich aus den historisch verschiedenartigen Möglichkeiten und Zufällen ergibt, die beim Ausbau

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der sozialen Systeme der Neidüberwindung auftreten. Wir wählen als Beispiel Schwarzafrika. Der Schwarzafrikaner ist von großer natürlicher Intelligenz. Die Befähigung junger Jurastudenten auf afrikanischen Hochschulen mit den Denkmitteln der englischen Präjudizienjurisprudenz umzugehen, kann einen deutschen Professor mit Neid erfüllen. Der Afrikaner ist auch körperlich kräftig, er konnte immer arbeiten und er kann fleißig arbeiten, wenn er wie der Europäer zum Fleiß erzogen wird. Aus diesem Grund haben ihn Spanier und Portugiesen über den Atlantik geholt. Wenn er in Afrika nicht erreicht hat, was er seiner Anlage nach hätte erreichen können, so eben deshalb, weil die Tendenz zum afrikanischen Sozialismus eine Tendenz zu einer lähmenden Neidordnung ist. Niemand darf eine größere Hufe haben als der andere, niemand darf reicher sein. Damit soll nicht gesagt werden, daß der Afrikaner ein neidischer Mensch ist, sondern, daß die sozialen Institutionen zufälligerweise einem allgemeinen menschlichen Instinkt so große Möglichkeiten bieten. Der große klimatische Unterschied zwischen dem östlichen und westlichen Äquatorialafrika macht dabei nichts aus. Ostafrika, wo auch der Europäer sehr gut körperlich arbeiten kann, ist viel weiter zurück als Westafrika mit seinem recht unangenehmen Klima. Die afrikanische Neidordnung verbietet dem tatkräftigen Einzelnen, seine Arbeitskraft voll auszuwerten. Mehrere Grundstücke kann er nur erwerben, wenn er mehrere Frauen heiratet, welche jeweils die einzelne Shamba bearbeiten. Dann zeigt sich die historische Zufälligkeit der Neidordnung, welche sich bei der Ausbildung von Medical-Assistents ergab. Da die Großfamilie Anspruch auf den Mehrverdient des Ausgebildeten erhob, ergab sich eben früher immer diese Schwierigkeit. Damit entstehen soziale Probleme, die sehr schwer zu lösen sind. Ganz allgemein ist auch in der heutigen Gesellschaftspolitik einschließlich der Kriminalpolitik von größter Bedeutung, daß der Neid wesentlich Rangneid ist. Wir müssen zunächst aber diese Aussage noch genauer betrachten. Das alte Testament berichtet, daß Kain den Abel erschlagen habe, weil nur Abels Opfer dem Herrn gefiel. Es ging also gar nicht um Geld und Gut. Der Neid richtet sich in besonderer Schärfe auf sittliche und geistige Vorstellungen. Die protestantische Seite redet ungern davon, daß der Pöbel zu Beginn der Reformation vorzugsweise solche Männer- und Frauenklöster stürmte, welche die Regel streng einhielten. Umgekehrt ermordete der Pariser Pöbel die Reformierten deshalb, weil sie tatsächlich eine überaus ernste und strenge Lebenshaltung zur Schau trugen. Gottfried Keller schreibt darüber, daß dem fröhlichen Seldwyler der beständige Rechttuer unerträglich sei, auch wenn er echt und kein gerechter Kammacher sei, über den man wenigstens behaglich lachen kann. Konflikte können namentlich durch eine gesteigerte Berufs- oder Standesehre ausgelöst

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werden, gerade wenn die betreffende Gruppe ihre elitären Pflichten ernstlich erfüllt. Als ich in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg einem Disziplinarhof als Richter angehörte, erlebte ich die Erregung eines Laienbeisitzers darüber, daß die Beamtenschaft sich herausnimmt, den auffälligen Ehebruch eines Beamten als Disziplinarvergehen zu behandeln. Jeder Kaufmann dürfe doch sein Geschäft behalten, wenn er sich eines Eheskandals schuldig mache. Was den Kleinbürger so entsetzlich aufregte, war nur, daß eine elitäre Gruppe eine strengere Lebensführung für sich beanspruchte und im ganzen auch durchhielt. Daß auch die Allgemeinheit an dieser strengen Lebensführung Interesse haben könnte, weil eben jeder Amtsträger erpressbar ist, sofern er ein Lüderjahn ist, bedachte der gute Mann nicht. Aus der gleichen Konfliktlage entstand die befremdende Offiziershetze in der ersten Zeit nach dem ersten Weltkrieg. Die Mißstände, welche namentlich in der Etappe auftraten, spielten kaum eine erhebliche Rolle. Der wirkliche Ärger war, daß die Offiziere auch noch am Schluß ihre Pflicht erfüllten und sich den ungeheuren Blutopfern aussetzten, welche die modernen deutschen Kampfmethoden gerade ihnen auferlegten. Die Mannschaften waren in einer Panikstimmung der Propaganda von Meuterern erlegen. Sie schämten sich ganz fürchterlich, es kam zur Offiziershetze, welche aber plötzlich sich auflöste, leider war die Endreaktion die Wahl Hitlers zum Diktator. Die Natur muß das Signalschema gerade so und nicht anders gestalten. Soll es wirklich die Funktion haben, den Zusammenhalt der Vormenschenherde oder des Kleinstammes gegen zentrifugale Dissoziation zu schützen, so darf es gar nicht auf ökonomische Unterschiede und dergleichen abgestellt werden. Dann müßte nämlich dem Neider ein Urteil darüber möglich sein, wo der materielle Vorteil beginnt und wo er aufhört. Ein solches Urteil kann er regelmäßig aber gar nicht fällen. In der Lebenspraxis klammert sich natürlich der Neid immer an irgendwelche sachlichen Wertunterschiede an, er macht sich niemals als bloßer Rangneid deutlich erkennbar. Gerade durch diese Verklammerung von Rangneid und Sachinteresse sind aber die Sachkonflikte kaum lösbar. Das Gegenmittel zur Neidüberwindung nennt Goethe, wenn er sagt, daß es gegen große Vorzüge eines anderen kein anderes Rettungsmittel gäbe als die Liebe. Nirgends sind die materiellen Unterschiede größer als in der Familie zwischen Eltern und Kinder, zwischen Mann und Frau. Auch der natürliche Rangunterschied steht eindeutig fest, aber die natürliche Eltern- und Kindesliebe finden gerade in diesen Unterschieden ein Feld stärkster Betätigung. Nachgebildet diesem Modell sind die erfolgreichen Über- und Unterordnungsbeziehungen, welche den Nachgeordneten am Glanz des Herrn teilnehmen lassen. Sie werden am besten als beiderseitige Vasallitätshaltung bezeichnet, weil dieser Fall das historische Musterbild darstellt. Herr und Vasall können beide sehr glücklich sein. Noch um 1900 würden die meisten sog. besseren

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Hausmädchen es abgelehnt haben, in die Fabrik zu gehen, weil sie damit ihren sozialen Rang eingebüßt hätten. Es ist nicht die Absicht des Verfassers, das Gleichheitsstreben als solches herabzusetzen. In der Gleichheitsforderung machen sich auch eine ganze Anzahl von sachlich begründeten Anliegen geltend. Entscheidend ist dabei die reale Anerkennung der Menschenwürde die jedem gebührt, der Menschenantlitz trägt. Aber es ist zu bezweifeln, ob dieser sittliche Wert sich so wirksam durchgesetzt hätte wie der triviale Neid. Wir können hier nur Hinweise auf manche Problemzusammenhänge geben. Der Rechtsgrundsatz, daß Gleiches gleich zu behandeln sei, gilt in allen Kulturen, auch den extrem herrschaftlichen als ein recht äußerliches Ordnungsprinzip. Es müßte hoffnungsloses Durcheinander entstehen, wenn Gleiches verschieden behandelt würde. Darum sucht der Bürokrat immer nach dem Simile, um auch ähnliche Fälle ähnlich oder gleich zu entscheiden. Unsere Frage ist jedoch, inwieweit die Menschen in ihrer Art wirklich gleich sind, also auch gleich zu behandeln sind. Die sog. formale Rechtsgleichheit drückt sich seit dem Mittelalter in der Forderung aus, daß die Justiz ohne Ansehen der Person zu entscheiden habe. Dahinter steckt der Gedanke der allgemeinen Menschenwürde. Die Rechte des Armen wie des Reichen gelten gleichermaßen. Aus dem Prinzip der allgemeinen Menschenwürde können Folgerungen für faktische soziale Gleichstellungen insofern gezogen werden, als eben jedem Menschen die Mindestvoraussetzungen zustehen, welche ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Die gegenwärtige Gleichheitsideologie geht aber weit über diese Forderung hinaus. Die christliche Ethik enthält verschiedene Ansätze. Sie betrachtet die Verschiedenheit sogar als ein Gottesgeschenk, denn sie garantiert wechselseitigen Liebesdienst in der religiösen Liebesgemeinschaft. Darin steckt auch eine säkulare Wahrheit. Wie arm wären wir in der Ehe und nicht nur in der Ehe, wenn wir alle gleich wären, als Lebensform nur das einseitige Nebeneinander der Gleichen hätten. Auf der anderen Seite sind die Menschen in der Berufung zur Gotteskindschaft gleich. Hier ist nicht Grieche oder Jude, nicht Mann oder Weib, nicht Freier oder Sklave. Daneben besteht wieder ein großes Mißtrauen gegen den Reichtum überhaupt, aber nicht nur den Reichtum, sondern gegen die ökonomische Lebensvorsorge überhaupt. Reichtum wird nicht für begehrenswert angesehen, was namentlich Luther sehr scharf festhält: "Reichtum gibt Gott gemeinhin den groben Eseln, denen er sonst nicht Gutes gönnet." Eine solche Einstellung schließt unsere sozialpolitischen Fragestellungen überhaupt aus, welche sich auch durch die sozialhistorische Wirklichkeit verboten. Es fehlte auch an der Vorstellung, daß Sozialverhältnisse "machbar" seien. Ganz allgemein sei in final-anthropomorpher Ausdrucksweise zum Schluß gesagt: die Natur erreicht ihre Zwecke durch grobe, aber sichere Mittel. Dabei ist es ihr ganz gleichgültig, welchen Schmerz und welches Leid den einzelnen Lebewesen angetan werde, wenn nur die Fortbildung der Gattung funktioniert. Um dies noch schärfer zu sagen: Schiller meinte, noch die Welt sei überall vollkommen, wo der Mensch mit seiner Qual nicht hinkomme. Wir meinen, daß die Natur allerdings vollkommen sei, aber eben nur durch ihre vollkommene Herzlosigkeit, welche auf den Schmerz der einzelnen keine Rücksicht nimmt.

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IV. Die Führungssysteme sind unter anthropologischen Gesichtspunkten nicht unter soziologischen hier zu besprechen. Für die älteste Zeit haben wir dann nur die Möglichkeit der Rekonstruktion. Wir müssen nämlich bei unseren hypothetischen Überlegungen uns in die Zeit zurückwagen, in der bereits eine ausreichende sprachliche Verständigung wenigstens innerhalb einer Stammeskultur möglich war. Unter dieser Voraussetzung dürfen wir für alle Völker annehmen, daß die Versammlung der Volksgemeinde die älteste und ursprünglichste Autorität darstellte. Diese Autorität wirkte aber immer nur in Verbindung mit anderen Führungskräften. Dabei kommen drei verschiedene Führungsmodelle in Betracht. Max Weber hat seine geistvolle Übersicht über die verschiedenen Herrschaftstypen mit Hilfe seiner umfassenden Kenntnisse der universalen Rechtshistorie ausgebildet. Seine Darstellung beruht aber auf dem Stand der damaligen rechtshistorischen Betrachtungen. Ohne an Webers Aufstellungen hier Kritik üben zu wollen, werfen wir hier die anthropologische Fragestellung auf, auf welche Weber wirklich gar nicht eingehen wollte. 1. Das älteste Führungsmodell ist die charismatische Führung durch eine starke Persönlichkeit. Nach dem charismatischen Führer ruft in einem Zeitalter der Rebarbarisierung immer wieder die moderne Menschheit. Dies Modell hat als Vorstufe im Tierverhalten den sogenannten Führereffekt. Der Gehorsam, welche die Menge dem Führer erweist, garantiert zunächst Zusammenhalt und Aktionsfähigkeit der Herde. In Herde oder Rudel unterwirft sich das schwächere Tier, namentlich das Jungtier, der überlegenen Kraft, sobald es diese einmal verspürt hat. Der Boß einer Affenherde bleibt vielleicht überlange in seiner Rangstellung. Diese Verfestigung der Führerstellung ist nützlich, weil beständiger Rangstreit schädlich wäre. Aber endlich kommt doch der Zeitpunkt, in dem ein kräftiges Jungtier wagt, den alten Popanz zu verdrängen, weil er eben nicht mehr der stärkste ist. Die den Führereffekt auslösenden Signale sind große Kraft, schneller Entschluß und Unbeirrbarkeit. Dabei können sich seltsame Fehlleistungen ergeben, denn gerade die Weisheit oder auch nur vorausschauende Klugheit gehören nicht zu den Merkmalen des Signalschemas. Darum haben in der Geschichte sich so viele Führer "als Verführer" erwiesen. Dies zeigt ein Experiment an Fischen besonders deutlich. Die großen Fischschwärme suchen ihren Weg zu den Laichgründen gewissermaßen durch demokratischen Mehrheitsbeschluß. Dabei benützen sie die große Zahl der Sinnesorgane aller Schwarmfische. Das sind mindestens hunderte, vielleicht tausende. Es leuchtet ein, daß auf diese Weise die geringfügigen Reize doch zutreffend ausgewertet werden können. Der entscheidende Vorgang ist aber die Einigung aller auf die vorwiegend als richtig erfühlte Richtung. Beraubt man aber einen Fisch der Kontaktfähigkeit durch einen operativen Eingriff in das Hirn und schwimmt dieser verstümmelte Fisch "unbeirrbar" in einer zufällig eingeschlagenen Richtung weiter, so folgt der Schwarm diesem Füh-

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rer. Der Verf. ist der Ansicht, daß Hitler gerade durch seine Ausfallerscheinungen insbesondere durch den mangelhaften Gefühlskontakt, so ungeheuer gewirkt hat. Bei Robespierre muß dies ähnlich gewesen sein, sonst hätte er nicht so blindlings in die gegen ihn gerichtete Verschwörung hineintappen können. Der charismatische Führer muß ständig bereit sein, seine persönliche Kraft gegen etwaige Meuterer einzusetzen, die ihn sonst allzu leicht verdrängen könnten. Dafür ist die Geschichte vom Kruge von Soissons besonders lehrreich. Chlodwig war vom Haupt eines Kleinstammes zum gemeinsamen König zahlreicher Stämme und damit zugleich zum Heerkönig eines großen fränkischen Heerbannes aufgestiegen. Nach der Schlacht bei Soissons hatte er einem gallo-romanischen Bischof versprochen, einen sakralen "Krug" dem heiligen Remigius zurückzugeben. Als er bei der Beuteverteilung dies der alleinzuständigen Heeresversammlung vorschlug, weil das Heer der Hilfe des heiligen Remigius dringend bedürftig sei, bat er den Krug vom Erbeuter zurück. Dieser, ein "besonders frecher Mensch", achtete den heiligen Remigius gar nicht so hoch, warf aber immerhin dem Heerkönig den Krug zerbrochen vor die Füße, was dieser zunächst hinnehmen mußte. Aber bei der nächsten Heeresversammlung und Waffenschau - modern gesprochen beim großen Waffenappell - prüfte Chlodwig den Zustand der Waffen seines Beleidigers und warf sie zu Boden. Als der Gerügte sich niederbückte, um die Waffen wieder aufzunehmen, erschlug ihn Chlodwig mit der Streitaxt mit den Worten "so tue ich Dir wie Du dem Krug von Soissons getan hast". Man erinnert sich an den Streit zwischen Agamernon und Achilleus über die Beute, nämlich die schöne Briseis, über die dann auch Streit im Olymp entstand. Hermes mahnte dann im zweiten Gesang der !lias die versammelten Götter, sie möchten doch Zeus sich fügen, der eben Hera gedroht hatte, sie auszupeitschen. Zeus sei nämlich stark genug, sie alle vom Olymp herunterzufegen. Es wäre jedoch falsch, wollte man Chlodwig als individuellen Erfinder einer neuen Position betrachten. Die soziale Stellung des Heerkönigs ist in der Vorstellungswelt der Völkerwanderungsstämme ganz allgemein bereitgestellt und möglichen Bewerbern angeboten. Wir nennen als Beispiele Ariovist und Arminius. Bewerber finden sich immer nur wenige, besonders wenn ein so Gewaltiger wie Chlodwig schon hervorgetreten ist. Gegenkönige treten noch seltener auf den Plan, nicht nur, weil niemand große Lust hat, mit der Streitaxt Chlodwigs nähere Bekanntschaft zu machen, sondern weil eben die erfolgreiche Gewalttat das Charisma des Führers überzeugend beweist. Dieser Erweis befähigte Chlodwig auch zur Neuordnung der weströmischen Welt. Chlodwig hat durch die fränkische Gesetzgebung ein friedliches Zusammenleben der Franken und der Galloromanen ermöglicht. Die katholische Kirche hat mit Recht dem Mann eine sakrale Weihe gegeben, denn sie war die Kirche der Unterworfenen, die nun wieder leben konnten. In archaischen Zeiten, in welchen der charismatische Führer zugleich Befehlshaber, Anführer und Richter seines Stammes ist, setzte er zugleich die nunmehr gültige Wert- und Verhal-

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3. Kap.: Strukturgefüge des Sozialdranges

tensordnung. Hinter den teilweise mythischen überlieferungen über solche Männer wie Abraham und Moses oder wie Lykurg stehen echte historische Gestalten. Solo von Athen wirkte bereits im hellen Lichte der Geschichte und Chlodwig ist eine Figur in dieser Reihe. Es ist eben doch ein Unterschied zwischen dem instinkt-getragenen und instinkt-begrenzten Rudelführer und dem Menschen, der die Kooperation Ungleicher stiftet. 2. Jedes Führungssystem stützt sich in der für uns überschaubaren historischen Zeit auf vorausgegangene und fortwirkende traditionelle Ordnungen, in denen zuerst der Mensch seine alten Stammesformen ausgesprochen und später fortgebildet hat. Auf dieser Grundlage gewinnen immer wieder traditionelle Führungsmodelle überwiegenden Einfluß. Tacitus berichtet, daß die Germanen ihre reges, also ihre Häuptlinge auf Dauer ex nobilitate wählten. Diese Könige hatten in erster Linie ordnende und richterliche Funktion. König bedeutet sprachlich wohl den Mann aus guter Familie, der also durch seine Familienerziehung bestimmt und von seiner Familie kontrolliert war. Er war der Mann der geeignet war, die guten Sitten des Stammes zu pflegen. Nur die duces, d. h. praktisch die Anführer in den kleinen Grenzkriegen wählte man ex virtute, d. h. auf Grund ihrer individuellen Eignung. Was Tacitus an dieser Stelle unter virtus verstand, läßt sich sprachlich nicht sicher beurteilen. Keinesfalls dachte er an das Herzogsamt späterer Zeiten, sondern eben nur an einen militärischen Anführer. Bei den reges glaubte man wohl auch an das sakrale Heil der Herrscherfamilie. Dies ist aber nur die äußere Form, in welcher die damalige Zeit das rationale Argument ausspricht, welches die traditionelle Führung als die vernünftige betrachtet. Das christliche Erbkönigtum der germanisch-romanischen Völker, welches das europäische Jahrtausend ermöglicht hat, muß unter diesem Gesichtspunkt gesehen werden. Voltaire, der Gescheiteste aller Franzosen, hat einmal geschrieben, er wolle lieber von einem Löwen aus gutem Haus regiert werden als von hundert Ratten seinesgleichen. Die Monarchie war namentlich ein Schutzwall gegen den "Tyrannen", d. h. gegen den charismatischen Führer, der im Zuge einer Rebarbarisierung in die geordnete Welt einbricht. Erst als der Ausgang des Weltkrieges die Monarchien in Deutschland beseitigt, in Italien geschwächt hatte, konnten sog. Diktatoren wie Mussolini und Hitler an die Macht gelangen. 3. Als geplante Führung bezeichnen wir den Versuch das Gemeinwesen nach einem irgendwie naturrechtlichen rationalen Plan zu ordnen. Ein Element der Planung ist freilich in jedem Gesellschaftssystem enthalten. Gerade archaisches Recht ist niemals unbewußte Gewohnheit, sondern bewußter Ordnungswille. Der Unterschied zwischen geplanter und traditioneller Führung ist immer nur ein Gradunterschied. In archaischen Gesellschaften stiften Propheten oder Priesterkönige

§ 8. Die Verhaltensordnung

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gelegentlich umfassende geplante Ordnungen. Seit der Aufklärung versucht immer wieder der Rationalismus nach naturrechtlichen Vorstellungen das "richtige" Führungssystem einzurichten. Dabei läßt man meist die älteste Führungsgrundlage, die Volksgemeinde, bestehen. Immerhin ist es bemerkenswert, daß der "charismatische" - man sträubt sich hier den Ausdruck zu gebrauchen - Hitler es unternahm, Staat und Gesellschaft auf allen Stufen mittels eines durchgehenden "Führerprinzips" zu regieren. Die seit dem 18. Jahrhundert unternommenen naturrechtlichen Planungen oder Verbesserungen sind von den bewahrenden Kräften vielfach mit prinzipiellen irrationalen Argumenten bekämpft worden. Jedoch ist jeder Romantizismus fehl am Platze. Das 18. Jahrhundert irrte vielmehr insofern, als es sich die intellektuelle Aufgabe viel zu leicht machte, sich mit den ersten Schritten zufrieden gab und eine umfassende gedankliche Bewältigung der Wirklichkeit unterließ.

4. Die verschiedenen FührungsmodelZe sprechen den Einzelnen in verschiedenartiger Weise an, soziale, insbesondere kriminelle Konflikte können nur bewältigt werden, wenn die sachlich richtige Lösung in sozial psychologisch wirksamer Weise angeboten wird. Wie das am besten geschieht, welche Methoden der Menschenführung Aussicht haben, läßt sich nicht ein für allemal sagen, weil es von der jeweiligen historischen Situation abhängt. Dabei sind immer die moralischen Unkosten zu bedenken, Führung ist immer Fremdbestimmung, möglicherweise fehlsame Fremdbestimmung. Die Unkosten sind durchschnittlich am kleinsten im Falle der traditionellen Führung, weil die Möglichkeiten ausprobiert sind und der einzelne sich an das Führungsangebot gewöhnt hat. § 8. Die Verhaltensordnung Als Verhaltensordnung bezeichnen wir - im Unterschied zur Verhaltensstruktur - die bewußte Lebensordnung einer Sozietät, die sich als Willensmacht an den oder die einzelnen Einzelmenschen wendet, sie anleitet und anweist, auch diese Instruktionen durch Sanktionen irgendwelcher Art durchzusetzen sich bemüht. Der Ausdruck Verhaltensordnung umfaßt insbesondere sämtliche (religiöse, sittliche, rechtliche und konventionelle) Möglichkeiten der Verhaltenssteuerung. Solche Verhaltenssteuerung beginnt in der Zeit des übergangs von der instinktiven Herdenordnung zu den Anfängen erwachenden Bewußtseins, gewinnt Gestalt in den "einfältigen" Formen bewußten Stammeslebens bis zu den hochgegliederten "vielfältigen" Ordnungen der modernen Menschheit. Wir können hier nur eine Vorschau liefern. I. Der biologische Rang der Verhaltensordnung. Betrachtet man mit der älteren Lehre den Instinkt als zielgerichteten und anpassungsfähi7 Mayer

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gen Antrieb zu zweckmäßigem Verhalten, so könnte man annehmen, daß der gesunde Mensch bereits durch seine natürliche Veranlagung hinreichend angeleitet wird. Dies hat die Kriminologie von Lombroso bis Aschaffenburg auch tatsächlich geglaubt. Träfe dieser unkritische Glaube die Wahrheit, so verlöre jede bewußte Verhaltensordnung ihre eigentlich konstitutive Bedeutung, denn sie könnte am natürlichen Verlauf grundsätzlich nichts ändern. Sie würde nur deklaratorisch sichtbar machen, was die Instinktstruktur des Menschen von sich aus, "von Natur aus" faktisch leistet. Folgerichtig haben denn auch die Lombrosianer die generalpräventive Wirksamkeit des Strafrechts geleugnet, weniger folgerichtig Spezialprävention dagegen für möglich gehalten. Dabei übersehen sie außerdem, daß doch auch das Verhalten der Menschen, welche die Verhaltensordnung setzen - von der Volksgemeinde des Stammes über Hammurabi, Moses, Justinian bis zu Napoleon (Code p€mal) bzw. Feuerbach und der modernen Strafrechtsreform - eine Instinktleistung sein müßte. Leider weisen die geschichtlichen Verhaltensordnungen recht große Unterschiede auf. So erlauben die altgermanischen Rechte zwar nur im intragentilen Bereich die Tötung aus Sippenrache, im extragentilen Bereich wenden sie aber gegen die Tötung überhaupt nichts ein. Ein seltsam variabler Instinkt! Betrachten wir das Beispiel der Tötung genauer: In der Schrift Többens über die "Untersuchungsergebnisse an Totschlägern" 1932 finden wir folgende Sätze: "Die Vernichtung des Lebens ist für einen zur Vernunft gelangten und mit Besonnenheit begabten Menschen eine so ungeheuerliche Tat, daß er abgesehen von den Fällen der Verteidigung des Vaterlandes oder auch der Notwehr von Natur aus davor zurückschreckt. Aber dennoch gibt es eine Reihe von Persönlichkeiten, die sich über derartige berechtigte Hemmungen hinwegsetzen sind aus gesetzwidrigen Gründen einen Nebenmenschen töten." Nach Többen wüßte die Natur, der Instinkt, also sogar über Inhalt und Umfang der strafrechtlichen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe Bescheid. Heute würde niemand mehr so etwas schreiben, aber nicht etwa deshalb, weil heute besser vertretbare Vorstellungen über die biologische Bedeutung bewußter Verhaltenssteuerung bestünden, sondern nur deshalb, weil im Gegensatz zu Többen wieder einmal die Aggressionslust des Menschen zum Glaubenssatz geworden ist (der Mensch als Brudermörder). Dieser Pessimismus ist ebenso irrtümlich wie Többens Optimismus, nur sehr viel gefährlicher. Der Mensch müßte nämlich seine natürliche Art ausschalten, um sozial leben zu können. Wer soll dies eigentlich aus Instinkt bzw. von Natur aus vollbringen? In Wahrheit bedarf das menschliche Verhalten der Steuerung durch eine objektive dem Einzelmenschen vorgegebene gewußte Verhaltensordnung. Sie ist im Gegensatz zur bloßen Verhaltensstruktur ein Gebilde des objektiven Geistes. Wir gebrauchen absichtlich diesen provozierenden Ausdruck, damit die empirischen Realitäten nicht durch unkritischen Materialismus verdeckt, verdrängt oder verschleiert werden. Auch zaghafte Hilfsbegriffe, wie Innerlichkeit und Tradition

§ 8. Die Verhaltensordnung

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weichen der entscheidenden Frage aus. Sicherlich ist es Aufgabe der Menschen, sich innerlich den Inhalt solcher Ordnung anzueignen. Ebenso drängt eine solche Ordnung dazu, tradiert zu werden. Aber das Wesen der Sache ist der objektive gedankliche Inhalt der Regelung, so wie sie im jeweiligen historischen Augenblick gilt. Dies wird besonders deutlich, wenn solche objektiven Geistgebilde wiederbelebt und rezipiert werden. Das Musterbeispiel bildet die Rezeption des corpus juris im ausgehenden Mittelalter. Eine normenhungrige Zeit, deren geschichtlich gewachsene LebensverhäItnisse im Bereiche des individuellen Rechtsverkehrs nach Regelungen drängten, welche dem spätantiken Recht ähnlich waren, ergriff dieses Rechtsbuch und seine Normenordnung, obwohl Buch und Normen Jahrhunderte hindurch geschlummert hatten und nur von wenigen gepflegt worden waren. Damit nahmen die Menschen ihr Maß an diesen Normen, richteten sich und ihre gesellschaftlichen und staatlichen Verhältnisse nach dem neu gefundenen Gedankengehalt. Mit der Anerkennung des objektiven Geistes wollen wir uns nicht aus den biologischen Zusammenhängen lösen. Die Führung der Menschheit durch eine bewußte Ordnung ist in der biologischen Struktur vorbereitet, und die biologische Evolution findet in den Gestaltungen des objektiven Geistes ihre Erfüllung. Die Anpassung an alle denkbaren klimatischen und ökologischen Lebensverhältnisse kann nur durch schnelle Variationen geschehen, diese liefert nur der bewegliche objektive Geist. Kein Einzelmensch besäße hinreichende Erfahrungen, hinreichendes Wissen, ausreichende Kraft, um sein individuelles Verhalten im Sinne einer möglichen biologischen Tendenz zu steuern, wenn auch jeder Mensch in Auslegung, Anwendung und Fortbildung immer wieder am Werden der objektiven Ordnung beteiligt ist. Auch der Inhalt jeder Ordnung ist biologisch bedingt, und der Freiheit menschlichen Planens sind Grenzen gesteckt. Mißachtet der Mensch die durch die biologischen Verhaltens tendenzen mitgegebenen Fingerzeige, so wird der betroffene Stamm, das betroffene Volk mit Aussterben bestraft. Wir wollen also keinen Gegensatz zwischen unbewußter und bewußter Ordnung aufreißen, welche doch sicherlich in einer höheren Einheit verbunden sind. Dabei sind wir uns bewußt, daß wir das angesprochene philosophische Problem durch diese Hinweise noch nicht gelöst haben, aber wir können doch wohl die objektiven empirischen Sachverhalte sorgfältig und geduldig erforschen, sowohl die unmittelbar biologischen als auch die objektiv geistigen und können ihre Wechselwirkung darlegen. Das naturphilosophische Problem des Verhältnisses von Geist und Natur wird immerhin auf eine neue Stufe gehoben. Dies wird deutlich, wenn man Erbinformation und Verhaltensordnung vergleicht. Die Erbinformationen bestimmen sowohl die morphologische Form der lebendigen Gebilde wie auch deren organisches Funktionieren und äußeres Verhalten. Aber die Chiffren dieser Informationen sind doch jedenfalls in der molekularen und atomaren Struktur des Erbgefüges enthalten. Die bewußte Verhaltensordnung entbehrt aber eines solchen spezifischen materiellen Substrates. Ihre Chiffren werden 7'

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durch "Tradition" in irgendwelchen "sinnlichen" Zeichen mündlich oder schriftlich vermittelt. Die Tabula, auf der sie geschrieben sind, ist zunächst gewissermaßen fiktiver Art, nämlich die allgemeine mündliche überlieferung, gesteigert etwa im mündlichen Rechtsvortrag des Gesetzessprechers oder in den Gesängen der homerischen Überlieferung. Erst später wird die Unsicherheit und Fülle der Erinnerung durch festes Material mit Schriftzeichen gesichert und begrenzt. Das Material der Tabula ist gleichgültig, wesentlich ist nur der Inhalt des Traditionsgutes. Um 1900 hatte man das Problem in der Psychologie nur unvollständig gesehen, weil man sich mit Beobachtungen an Einzelindividuen begnügte. So konnte man sich der grundsätzlichen naturphilosophischen Frage noch durch die Hilfsvorstellung vom psychophysischen Paralellismus entziehen. Schon 1936 hatte ich darauf aufmerksam gemacht, daß diese Möglichkeit nur dann besteht, wenn man das Verhalten des Einzelmenschen so betrachtet als spiele es sich in einem Reagenzglas abgeschirmt vom Zuspruch anderer Menschen ab. In Wahrheit handelt der Mensch aber immer unmittelbar oder mittelbar in sozial geistigem Austausch mit anderen. Dazu ein dramatisches Beispiel: Wenn der Galan von der ehebrecherischen Geliebten aufgefordert wird, den Gatten zu ermorden, und dies auch tut, so kommt es nur auf den objektiven Inhalt der Aufforderung an, nicht darauf, ob diese brieflich, mündlich oder fernmündlich mitgeteilt wird. Etwas weniger dramatisch: Wenn in der letzten Tagesschau oder der letzten Radiosendung mitgeteilt würde, morgen früh sei die Butter rationiert, so stellen sich alle Hörer auf den Gedankeninhalt dieser Mitteilung ein, die einen indem sie hamstern, die anderen indem sie mit Sparsamkeit planen, alle aber werden sich darauf einrichten, die Bezugsscheine rechtzeitig in die Hand zu bekommen. Solche Vorgänge lassen sich nicht mit den Hilfsbegriffen des psycho-physischen Parallelismus beschreiben. Vielmehr steuern mitgeteilte geistige Inhalte das biologische Geschehen, wie seinerzeit der rezipierte Inhalt des corpus juris das Verhalten der spätmittelalterlichen Völker und Menschen steuerte, freilich neben anderen historischen Direktiven. 11. Der Mensch ist in Evolution und Historie immer im Werden, das Leben kennt keinen Stillstand, es sei denn im Tode. Das Ziel dieses Werdens kennt weder der Biologe noch der Historiker, immerhin darf man biologisch-historische Abläufe unter den Gesichtspunkten progredient und stagnierend ordnen. Auch darin steckt natürlich eine Bewertung der Vorgänge, welche aber doch die Naturvorgänge nicht vergewaltigt. Progredient ist die Entfaltung und Differenzierung im ganzen, die auch zur Entfaltung aller differenten Kräfte des Einzelnen führen sollte. Unter diesen Gesichtspunkten kann man jeweils progrediente und stagnierende Primitiv-Nieder-Hochkulturen unterscheiden. Als archaische Kulturen sollte man nur progrediente Niederkulturen bezeichnen. Die nachfolgende geschichtliche Gesamtüberschau will die anthropologisch wesentlichen Momente der Entwicklung sichtbar machen. Die gewählte Einteilung der Epochen soll nicht mehr bedeuten als ein vorläufiges hypothetisches Schema. In der geschichtlichen Wirklichkeit verzahnen sich die Kulturinhalte, sind die Abläufe verschiedenartig verzögert oder beschleunigt.

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1. Die übergangszeit vom Herdenleben zum bewußten Stammesleben ist mit einem Schleier bedeckt, den wir nur mit einer Rekonstruktion durchsichtig machen können. Die Zeit möchte mehr als 500000 Jahre betragen haben, sie fällt jedenfalls zusammen mit der Entwicklung der menschlichen Sprache und den erwachenden für die menschliche Lebensweise grundlegenden kulturellen Techniken. Bereits die Vormenschenherde konnte und mußte sich in ihrem Verhalten wechselnden Umweltverhältnissen in reicheren Variationen anpassen als andere Herden, sonst hätte der Weg zum homo sapiens nicht offengestanden. Von irgendeinem Zeitpunkt an haben sich die Zufallsfunde des Mutationsgeschehens allmählich in Erfindungen von Einzelindividuen verwandelt. Diese Erfindungen werden vom werdenden Stamm angenommen und mit den Mitteln der entstehenden Sprache verfestigt und tradiert. So ist die bloße Verhaltensstruktur durch eine bewußte Verhaltensordnung ergänzt und überformt worden. Die für diesen Vorgang unentbehrliche Sprachgemeinschaft erfaßte nur einen kleinen Menschenkreis, der aber immerhin etwa 20 - 25 waffenfähige Männer eingeschlossen haben muß. Das entstehende Stammesleben kann zunächst nur intragentile Geltung beanspruchen, der Fremde wird nicht dazugerechnet. über die vom Menschen erfundenen Kulturtechniken geben uns Grabungsfunde zwar verhältnismäßig reiche, aber eben doch jeweils nur bruchstückhafte Funde. Am Anfang steht der Erwerb und die Beherrschung des Feuers, die primitive Nahrungssuche wandelt sich in einfachen Feldbau. Die Entwicklung der Kleidung hängt von den klimabedingten Bedürfnissen ab. Von den Behausungen wissen wir am wenigsten. Höhlen sind wohl nur dort gesucht und benutzt worden, wo sonst keine Zuflucht vor Raubwild zu finden war. Irgendwelche Hütten aus leichtester Bauart müssen schon sehr früh vorhanden gewesen sein. Der wichtigste Entwicklungsschritt war der übergang zur Abwehrjagd gegen größeres Raubwild, dem die Jagd auf Großwild bald gefolgt sein dürfte. Es mag sein, daß manche Herden-Kleinstämme diesen Weg nicht gefunden haben. Als progredient, daher auch für die Zukunft beständig, können nur die von einer Jagdkameradschaft der Männer getragenen Stämme gewesen sein, wie wir sie oben S. 71 ff. geschildert haben.

2. Aus den Nachrichten (Sagen) über die Zeit des bewußten Stammeslebens wollen wir folgende für unsere Betrachtung wichtige Hauptpunkte nennen. Das Stammesleben verbleibt gewöhnlich im eigenen intragentilen Bereich. Wildbeuter, erst recht primitive Feldbauern sind noch territorial gebunden, sie können klimatischen und ökologischen Veränderungen nur langsam folgen. Erst der hochentwickelte Hirtenkrieger ist

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fähig, größere Entfernungen mit einer gewissen Schnelligkeit zu überwinden. Auch hat die Erde noch weiten Raum, Berührungen mit anderen Stämmen sind also nicht alltäglich. Immerhin erfahren alle Menschen, daß es fremde Lebewesen gibt, die wie Menschen aussehen. Sie begreifen sich damit noch nicht als Einheit, geben fremden Stämmen gegenüber die Haltung des Abwehrjägers nicht auf. Alles Lebendige ist bedrohlich, man muß darauf Jagd machen und Kriege zwischen den Stämmen führen. Alle mythischen Überlieferungen über die Entstehung der Menschheit setzen den Stammvater des eigenen Stammes (bzw. einer nahverwandten Stammesgruppe) als ersten Menschen schlechthin, Adam, Mannus, Bantu. In diesem Schema haben fremdstämmige Menschen keinen Platz. Treten solche auf, so kann die Vermischung mit ihnen sogar als der Urfrevel betrachtet werden. Dies intragentile Denken schimmert nicht nur durch die in Gen. 6, Vers 1 - 4 enthaltenen Auslegungsschwierigkeiten durch. Auch am relativ späten Beispiel der römischen Rechtsgeschichte läßt sich zeigen, daß das ius conubii dem Fremden erst sehr viel später gewährt wurde, nachdem der Handelsverkehr das ius commercii schon längst erzwungen hatte. Auffällig ist der Reichtum an sehr verschiedenartigen Sozialjormen, von denen uns manche bizarr erscheinen. Aber man sollte Totemismus, Matriarchat, übersteigertes Vaterrecht, extreme Vielweiberei des Mannes, komplizierte Heiratssysteme oder gar Kanibalismus nicht als allgemeine Durchgangsstufen der Menschheit auffassen. Alle diese Extremformen sind doch nur für stagnierende Niederkulturen bezeugt. Was wir in der geschichtlichen Völkerwelt davon noch beobachten können, läßt diese Übersteigerungen als Relikte einer Experimentierperiode erscheinen. Hätten diese Sonder- und Extremformen in der Entwicklungstendenz der Menschheit gelegen, so wären sie von der Selektion nicht durchgestrichen worden. Einfache Wildbeuter, höhere Jäger, vor allem die Hirtenkrieger scheinen einen unmittelbaren Weg zur Lebensform der geschichtlichen Völker gefunden zu haben. Auf diesem Wege mögen sie stagnierende Niederkulturen angestoßen, aufgelöst und mit sich gezogen haben. 3. Aus der Inhaltjülle des geschichtlichen Völkerlebens können wir nur einige markante Züge hervorheben, die von besonderer sozialanthropologischer Bedeutung sind. Bevölkerungsvermehrung und gesteigerte Lokomotionsfähigkeit der Menschen füllen die Freiräume aus, welche die Stämme voneinander trennen. Der Mensch muß nun endgültig anerkennen, daß es außer seinem Stamm noch andere Stämme und Völker gibt, welche wesentlich gleichartig sind. Dies ermöglicht, daß Stämme mit verschiedenartiger Ernährung und Lebensweise in überschichteten Gemeinschaften

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zusammenarbeiten und sich auch in Stammesbünden zusammenschließen. Damit ist ein gewaltiger Kulturfortschritt getan. Allerdings rücken die beiden Organisationsformen des Menschen die Familie und die überfamiliäre Volksgemeinde auseinander. Die engere Kernfamilie bleibt dabei im großen und ganzen erhalten, da sie durch natürliche Bande zusammengeschlossen ist. Es bilden sich zwar Erweiterungen wie Sippen- und Großfamilien, die sich später wieder auflösen bzw. auf die bloße Pflege der Verwandtschaft beschränken. Der überfamiliäre Verband geht in einer sehr wechselvollen Geschichte in Großgebilden, Staaten und Großreichen auf. Darunter mag die engere Volksgemeinde als Heimatbereich bestehen bleiben, sie verliert aber zunehmend an Bedeutung und damit auch die innere Kraft, die Einzelmenschen gefühlsmäßig aneinander zu binden, was der größere Verband ohnedies nicht kann. Der Mensch kann daher auch im inneren Friedensbereich in der Konsequenz bis in die Familie hinein zwischen Feind- und Freundhaltung wählen. Eine schwierige Wahl, denn die schwächliche Preisgabe eigener Rechte wäre auch sozial nicht erträglich. Noch schwieriger, weil die aus dem extragentilen Streit herstammende Härte das ganze Sozialleben durchdringen und gefährden könnte. In der Regel wählt der Mensch ein erträgliches Mittelmaß des Friedens wie im ursprünglich engeren so jetzt auch im weiteren Friedensbereich; dies wäre nicht möglich, wenn der Mensch von einem allgemeinen Aggressionstrieb besessen wäre. Auch der Abwehrjäger und Krieger der Vorzeit hat immer seine Gründe, ausreichende oder fragwürdige zur Gegenwehr. Der Friede unter den Menschen bleibt daher unvollkommen und unsicher, eigentliche Feindseligkeit im inneren Zusammenleben wird als kriminelles Verhalten von der Allgemeinheit bekämpft. Der Krieg zwischen Völkern und Staaten ist bisher noch nicht beseitigt, neuerdings wird der Bürgerkrieg unter schönklingenden Losungen angepriesen. In der allgemeinen Lockerung der Bindungen gewinnt der Selbstbehauptungsdrang des einzelnen Raum und zunehmende Kraft, so daß sich der Anschein aufdrängt, als ob schlechthin Männer die Geschichte machten. Von dieser Seite des menschlichen Daseins wird in dem folgenden Abschnitt über den Selbstbehauptungsdrang die Rede sein. Im Austausch der Menschen ist eine relativ einheitliche Zivilisation entstanden, welche gegenüber den Natur- und Niederkulturvölkern eine erstaunliche Durchsetzungskraft besitzt. Vermöge dieser Zivilisation und ihrer Technik ist der Mensch scheinbar zum Herrn des Erdreichs geworden. Mit ihrer steigenden Macht ist die Menschheit zugleich an ihre Grenzen gelangt. Von den vielbesprochenen Fragen der künftigen Menschheit wollen wir nur einige erwähnen. Im Vordergrund steht,

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daß die ganze Menschheit in Raumnot gerät. Sie wird sich zwar mit verbesserter Technik noch ziemlich lange ernähren lassen, aber sie vermag nicht in Raumenge gewissermaßen käfigartig zu leben. Das vielgescholtene Buch von Hans Grimm "Volk ohne Raum" sollte mit dem Titel "Menschheit ohne Raum" als Beispiel für die infolge der Raumenge entstehenden Nöte, Irrwege und Schrecknisse des Menschen gelesen werden. Der Mensch ist ein raumgreifendes, raumüberwindendes Wesen. Es ist also sicher, daß die Fortpflanzung der Menschheit heute bedacht werden muß, sonst würden die Menschenmassen ihre Heimaterde ebenso zerstören wie der Nonnenfraß die Fichtenwälder. Ebenso gewiß ist aber, daß die Familienplanung in der Form gleichmäßiger Geburtenbeschränkung die menschliche Rasse auf die Dauer gesehen vernichten muß. Mechanische Gleichheit würde das Grundprinzip menschlichen Zusammenlebens, nämlich die Kooperation Ungleicher aufheben. Die Schwächeren leiden dabei am meisten, weil sie vor dem gleichmäßigen Leistungsanspruch, der für sie als unerträglicher Leistungsdruck wirkt, nicht geschützt werden können. Reichtum und Schönheit des Menschenlebens beruhen aber auf dem alten Grundsatz, daß einer des anderen Last tragen müsse. In allen diesen Schwierigkeiten des menschlichen Lebens ist eine weise Herrschaft nicht zu entbehren. Was soll denn herauskommen, wenn jeder einzelne nur sein empirisches Selbst verwirklicht? Die nächstliegende Frage ist natürlich, ob es gelingt, einen technischen Krieg zu vermeiden, der die Menschheit mehr oder minder auslöschen oder ihr doch einen ganz schrecklichen neuen Anfang setzen würde. Man verlange von dieser kurzen Übersicht nicht zu viel. Der Kriminologe wollte nur seine Ansicht begreiflich machen, daß die Menschheit vor einer neuen Experimentierperiode, wie schon früher einmal in ihrer Entwicklung steht, ja daß diese neue Zeit der völligen Unsicherheit bereits begonnen hat. Dies ist die Ursache der gegenwärtigen massenhaften Kriminalität. III. Die VerhaZtensregeln für den einzelnen leiten sich grundsätzlich aus der Verhaltensordnung ab. Sie entspringen im Stammesleben der naiven Stammesordnung, in der zwischen religiösen, sittlichen, rechtlichen und bloß konventionellen Vorschriften nicht eigentlich unterschieden wird. Erst die moderne Gesellschaft unterscheidet genau zwischen diesen Motivationsbereichen. Die Inhalte sind historischer Natur. Wir haben hier die Geschichte dieser Inhalte nicht darzustellen. Die anthropologische Frage, inwieweit die jeweiligen historischen Inhalte durch anthropologische Veränderungen des Menschen bedingt sein könnten, läßt sich nicht klären. Die Frage ist für den Kriminologen, inwieweit der einzelne nach seinen Anlagen befähigt ist, den Ansprü-

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chen der jeweils geltenden Regelung zu genügen. Mißlingt dem einzelnen die Einordnung, so ist die unvermeidliche Folge, daß er über kurz oder lang aus dem gesellschaftlichen Leben ausscheidet oder mindestens stark benachteiligt wird. 1. Im allgemeinen gesellschaftlichen Bereich machen sich die geschichtlichen Wandlungen besonders deutlich bemerkbar. Es ist ein weiter Weg von dem oben geschilderten Leben des Kleinstammes bis zu der heutigen arbeitsteiligen Gesellschaft, die im wesentlichen auf Arbeit und Leistung und zwar auf regelmäßige stetige Arbeit abstellt. Der einzelne muß sich in die jeweilige Gesellschaft einfügen und an gesellschaftlichen Leistungen mitwirken. Im Kleinstamm muß der Mann sich als tüchtiger Jäger und tapferer Krieger bewähren, die Frau hat neben der Sammeltätigkeit in erster Linie die Kinder zu pflegen. In der gegenwärtigen arbeitsteiligen Gesellschaft hat der einzelne seinen beruflichen und öffentlichen Pflichten zu genügen. Für diese Leistung empfängt der einzelne in irgendeiner Form seinen Lohn. Die Möglichkeiten der individuellen Lebensgestaltung sind ebenfalls geschichtlichem Wandel unterworfen. Jede geschichtliche Gesellschaft gewährt dem einzelnen einen mehr oder minder großen freien Raum zur Lebensgestaltung. Die Gesellschaft der Neuzeit erschien dem Denken der Aufklärung als ein gesellschaftliches Miteinander primär freier Einzelner. In Wahrheit hatte auch damals der einzelne vorgegebene gesellschaftliche Positionen auszufüllen. Die bäuerliche Bevölkerung, also die große Masse, lebte nach traditionellem Verhaltensmuster. Freier mußte sich die bürgerliche Bevölkerung Lebensaufgabe und Lebensstil gestalten. Am höchsten gesteigert war diese Freiheit in den Kolonistenstaaten Amerikas. In dieser historischen Gesellschaft hat sich der Einzelne der Allgemeinheit unterzuordnen. Ob nun diese Unterordnung die Form persönlichen Dienstes (Vasallität) annimmt oder nicht, die heutigen Formen abstrakter Unterordnung unter den Staat oder die Gesellschaft garantieren echte persönliche, echte Freiheit an sich nicht. Die Gefahr totalitärer Beherrschung des Einzelmenschen bis in das intime Privatleben hinein ist heute größer als jemals vorher.

2. Der familiäre Lebensbereich wird im großen und ganzen zu jeder Zeit von wechselseitigen Gefühlsbindungen bestimmt. Die Freiheit des einzelnen gründet sich immer auf seine familiäre Heimat. 3. Die zwischenmenschlichen Beziehungen der Einzelnen untereinander füllen das allgemeine Feld menschlicher Handlungen aus, welches nicht durch die Beziehung zur Sozietät oder zur Familie bestimmt ist. Gleichzeitig bleiben natürlich alle Menschen in Sozietät und Familie

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auch Einzelne, aber in Sozietät und Familie sind die Verhaltensregeln durch die Regeln der Sozietät und des Familienlebens überformt. Der Musterfall zwischenmenschlichen HandeIns der Einzelnen vollzieht sich von Anfang an nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit. Wir sehen die Urform im Stammesleben. Hier findet zwischen den Einzelnen untereinander und miteinander ein Austausch von Werten und Leistungen nach dem Prinzip gleich auf gleich statt. Wer gibt, muß auch bekommen. Damit wird die vorausgesetzte Gleichheit der Stammesglieder erhalten. Im primitiven Rechtsdenken ist das einseitige Geschenk unbekannt, es stellt bereits eine höhere Entwicklungsstufe dar, wenn die Gegengabe nur Symbolwert hat. Austausch im Verhältnis der Gegenseitigkeit ist eine spezifisch menschliche Möglichkeit. Es hätte ja gar keinen Sinn, schlechthin gleich und gleich zu tauschen. Der Tausch hat nur Sinn, wenn gleichgewertete Austauschobjekte, die jeweils für jeden der Tauschenden ein individuelles Interesse haben, gegeben und empfangen werden. Dies Prinzip der Gegenseitigkeit beherrscht das ganze Rechtsleben und erklärt auch uns befremdende Austauschverhältnisse, wie z. B. den Brautkauf. In einer Gesellschaft, in welcher Sippe oder Familie die eigentlichen Handlungssubjekte sind, läßt sich aber gar nicht leugnen, daß die Hingabe eines gebär- und arbeitsfähigen Mädchens für den Geber ein Verlust ist. Die Annahme jeder Gabe bedeutet eben den Zwang sich zu revanchieren. Eine Gabe anzunehmen ohne mit einer Gegengabe zu antworten, kann als schweres Unrecht gelten. Schon mancher Europäer hat es mit dem Leben gebüßt, daß er diese Haltung nicht verstand und mit der Annahme einer Gabe als Rechtsbrecher und Feind erschien. Nun macht dies Prinzip Schwierigkeiten bei der Verteilung der Jagdbeute. Der erfolgreiche Jäger muß die Jagdbeute austeilen, die er allein nicht verzehren kann. Die Gegenseitigkeit erweist sich dann darin, daß ein anderer Jäger oder eine andere Jägergruppe in gleicher Weise verfährt. Ein Unrecht verändert den Gleichheitsstatus unter den Genossen. Es muß daher gebüßt werden, dafür gibt es dann Bußtaxen. Nur wenn die Buße nicht geleistet wird, kommt es im Notfall zur Rache, die nur eine andere Form des Ausgleichs ist. Unser modernes Wirtschafts- und Rechtsleben ist im Grunde nur eine Fortbildung, Differenzierung und Verfeinerung dieses HandeIns auf Gegenseitigkeit. Das Austauschhandeln ist von Anfang bis heute eingeordnet in das gesamte soziale Leben, d. h. über den Beziehungen der einzelnen zueinander steht darüber das Prinzip der genossenschaftlichen Hilfe, heute die Prinzipien der sozialen Verpflichtung des Stärkeren gegenüber dem Schwächeren und der allgemeinen Solidarität.

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IV. Die Verhaltensordnung als Summe der an den Stamm sowie an die einzelnen gerichteten Verhaltensvorschriften ist immer eine positive SoZlensordnung, die gewußt von den einzelnen, diese auch verpflichtet. So etwas gibt es nur beim Menschen. Der Gegenstand läßt sich also im Rahmen einer basalen Anthropologie nicht eigentlich behandeln, er gehört in die Lehre von der VergeseZlung (Sozialisation) des Menschen. Der deutsche Ausdruck Vergesellung ist vorzuziehen, da er die Verbundenheit der Glieder untereinander hervorhebt. Wir können an dieser Stelle nur die wesentlichen Momente hervorheben. Jede Verhaltensordnung enthält das Moment der Entscheidung unter verschiedenen historischen Möglichkeiten, wie jede einzelne menschliche Handlung zugleich eine Entscheidung enthält. Daher setzt der Mensch mit jeder Entscheidung zugleich ein Richtmaß für andere. Diese Entscheidungsordnung spricht eine Wertordnung aus, aus welcher die Einzelentscheidungen wiederum abgeleitet werden können. Es handelt sich also dabei um eine Normenordnung, nicht um die bloße Nachahmung von Mustern, obgleich natürlich die Entwicklung mit der Nachahmung von Mustern beginnt. Man kann aber bei diesem primitiven Verfahren nicht stehenbleiben. Noch heute lernt das Kind am Rechenbeispiel, "wie es gemacht wird". Wenn das Kind aber nicht versteht, warum es so gemacht wird, kann es nur die vorliegenden Muster anwenden. Der Mensch unterwirft sich der von Kindheit an erlernten Entscheidungsordnung mit naturhafter Sicherheit und erlebt seltsamerweise eine gewissensmäßige Bindung, die sich in Sitte, Sittlichkeit (Moral) und Recht äußert. Gerade weil die Bindung gewissermaßen eine naturhafte ist, so gilt Zuwiderhandlung auch als Frevel, der Inhalt dieser durchweg historischen Satzungen wird als göttliches Gebot vorgestellt. Wir haben damit nur die Fülle der Probleme benannt, ohne das Ganze näher ausführen zu können. Das Strafrecht spielt seit dem Ende der archaischen Zeit bei der Setzung dieser Ordnungen eine bedeutende Rolle. Es kann nur im System der gesamten sozialen und rechtlichen Sicherungen verstanden werden. Gerade das Strafrecht hat eine überaus große sittenbildende Kraft, weil es durch die Strafe die Zuwiderhandlung als Frevel ausweist. Dies gilt allerdings nur für das eigentliche Strafrecht im Sinne des früheren "peinlichen" (poena) Rechts, nicht für das sog. Privatstrafrecht, d. h. für die geregelte Vergeltung im Stammesstaat und auch nicht für die heutige Bagatelljustiz.

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3. Kap.: Strukturgefüge des Sozialdranges

§ 9. Die Einbindung des Einzelnen in die Sozietät I. Die Bindung an die Sozietät äußert sich primär im Gemeinschaftsgefühl, einem unreflektierten und irrationalen GrundgefühL Das ausgebildete gesellige Verhalten ist entwicklungsgeschichtlich jünger; in ihm wirken Gemeinschaftsgefühl und Selbstbehauptungsdränge in einer Symbiose, welche vom subjektiven Geist gestaltet wird. Daneben tritt aber das unreflektierte Grundgefühl immer wieder besonders in Augenblicken der Erregung elementar hervor. Das Gemeinschaftsgefühl gilt ursprünglich dem Kleinstamm, später dem jeweiligen als Gemeinschaft akzeptierten historischen Sozialgebilde, zugleich aber auch den Genossen einschließlich Weib und Kind, die als Glieder der Gemeinschaft vorgestellt werden. Dies kommt bereits in dem Pronomen "unser", in unsere Heimat, unser Volk, unser Land zum Ausdruck, stärker noch tritt dies im emotionalen Gebrauch des Pronomen "Wir" hervor, wir Emmenthaler (Gotthelf), wir Tiroler, wir Bayern, wir Deutsche. Das emotionale "wir" drückt ein "Wirgefühl" aus, das sich in rationalen Zusammenfassungen mehr und mehr abschwächt: wir Bundesdeutschen, wir Kraftfahrer, wir Steuerzahler. Das allgemeine Gemeinschaftsgefühl steht in Konkurrenz zu den besonderen, geschlechtlich oder familiär begründeten Gemeinschaftsgefühlen. Bei letzteren steht die Personalbeziehung im Vordergrund, sie besitzen aber auch eine besondere emotionale Färbung. Das irrationale Gemeinschaftsgefühl kann wie andere irrationale Gefühle oder Strebungen, z. B. der Geschlechtstrieb, vom "freien" Menschen gelenkt und dabei auch fehlgeleitet werden. Aber auch der natürliche Instinkt des Tieres kann in der Natur durch Fehlprägungen betrogen werden. Diese Möglichkeit darf dem Beobachter nicht den Blick verstellen für die primär vorliegende biologische Funktion des Gemeinschaftsgefühls, das wir zunächst einmal nüchtern beschreiben müssen. Ob und wie der Mensch diese Gefühle intellektuell besser steuern könnte, ist dann eine weitere Frage. Wir versuchen auf dem Boden der vergleichenden Verhaltenslehre eine anthropologische Analyse. Wir gehen von folgenden Beobachtungen aus: Wölfe jagen im Winter gemeinsam im RudeL Dabei müssen die ersten Angreifer sich vielfach opfern, besonders, wenn eine Rinderherde sich im Igel verteidigt. Umgekehrt läßt der Leitstier vielfach sein Leben, wenn er außerhalb des Igels den anspringenden Wolf oder die Raubkatze durch den Stoß auf die lechzende Zunge abtun will. Vogelweibchen schützen u. U. ihre Brut dadurch, daß sie sichtbar vom Nest flüchten und sich so selbst dem Angriff preisgeben. Die Beispiele ließen sich vermehren. Solches Verhalten kann doch nur daraus erklärt werden, daß diese Tiere irgendwie von Gefühlen geleitet werden. Denn wir dürfen ja annehmen, daß Wir-

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beltiere der Gefühle fähig sind. Das Gefühl zielt an sich auf die Herde. Der junge Canis wird aber doch wohl nur durch das Leittier zunächst auf den Führereffekt geprägt und so mittelbar in die vom Leittier geführte Herde gefühlsmäßig einbezogen. Dieser Prägungsvorgang erfüllt freilich nur im Regelfall seinen "Zweck". Der junge Hund kann auch den Menschen als Leittier annehmen, damit erwirbt er gleichzeitig auch die Gefühlsgemeinschaft mit der Familie des Herrn. Alle wirksamen Zähmungen beruhen wohl auf der Fähigkeit der gezähmten Art, den Menschen anstelle des Leittieres vermöge des Führereffekts zu akzeptieren. Kommt das junge Paar mit dem neugeborenen Enkel zu Besuch ins elterliche Haus, so gebärdet sich der Hund zuerst äußerst eifersüchtig gegenüber dem Säugling. Bald aber empfindet er das Neugeborene als derzeitigen Mittelpunkt der Familie. Stellt man etwa den Babykorb in den Garten, so bewacht er Korb und Kind und wehe dem Besucher, der sich unvorsichtig dem Emotionszentrum nähert. Naturanbeter müßten eigentlich den Hund als Verräter an seines gleichen beurteilen, wenn er zusammen mit dem Menschen gegen die freien Wölfe kämpft, ähnlich wie das Wildererdorf dem Burschen feind wird, der als Jäger in den Dienst des Jagdherrn tritt. Das menschliche Gemeinschaftsgefühl kann nur als Weiterbildung der tierischen Gefühlsbindung an Rudel, Schwarm oder Herde verstanden werden. Jedoch werden die Dinge beim Menschen undurchsichtig, weil die menschliche Sozietät von der Zeit des Kleinstammes an Erweiterungen und Umgestaltungen erfährt, die beim Tier nicht vorkommen. Immerhin wird man festhalten dürfen, daß die Bindung an die Sozietät auch beim Menschen nur durch Prägung geschehen kann. Diese Prägung dürfte sich in erster Linie in der Familie ereignen, da im Kleinstamm die Familie in das Stammesleben eng verflochten ist. Die große Komplikation der späteren menschlichen Sozialbildungen macht dann Fehlprägungen, in denen der einzelne sich vom Stamm löst, leichter möglich als dies beim Tier der Fall ist. 11. Wir gehen vom Grundfall aus, in welchem der einzelne wirklich auf seinen Stamm bzw. auf die fortgebildeten Sozietäten geprägt ist. Die entscheidende menschliche Sozietät ist in der gegenwärtigen historischen Stunde sicherlich noch die Sprachgemeinschaft. Auf diese wird das Kind im Elternhaus geprägt, wo es die Muttersprache erlernt. Auf die vielen Fragen über das Verhältnis von Staat und Nation oder über die Möglichkeit außersprachlicher Sozialbindungen brauchen wir nicht einzugehen. Es kommt uns ja nur darauf an, am einfachsten Beispiel das Funktionieren des Gemeinschaftsgefühls zu studieren. 1. Früher war es allgemein selbstverständlich, die Begeisterung für den (Eingeborenen-)Stamm, für das Vaterland, für Volk und Nation hochzupreisen. Das Zeitalter der Weltkriege ist gegenüber solcher

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Schwärmerei kritisch geworden. Ganz so neu, wie es scheint, ist diese Kritik sicherlich nicht. Auch Augustinus dürfte die vaterländische Begeisterung zu den splendida vitia der Heiden gezählt haben. In der jüngsten Vergangenheit hat Theodor Geiger die Kritik am Gemeinschaftsgefühl theoretisch sorgfältig durchdacht, ja diese Kritik ist zu seinem persönlichen Schicksal geworden. Es lohnt sich, seine Gedankengänge zu prüfen (vgl. u. a. Demokratie ohne Dogma, München 1950, insbes. S. 148 ff.). Geiger meint, das Nationalgefühl sei nur Pathos für die Sache der Nation, knüpfe aber kein Band der Sympathie, welches die Landsleute als Personen miteinander vereint. Dagegen sei die Familie, wohl auch der Kleinstamm wirklich eine Gefühlsgemeinschaft. Bei kleineren und engeren Gruppen lasse nämlich das ZUl>ammenleben im face to face Verhältnis Gefühlsbeziehungen entstehen. Hier beginnt der Irrtum Geigers, den er mit dem aus dem Nominalismus entstandenen Positivismus teilt. Der Positivismus begreift die Gruppe als sekundären Zusammenschluß, primär solitär vorzustellender "Einer". In Wahrheit sind Familie und Vormenschenherde-Kleinstamm keine nachträglichen Zusammenfügungen solitärer Einer, sondern vorgegebene Naturgebilde. Die Menschheit hat wahrscheinlich hunterttausende von Jahren in Kleinstämmen gelebt. In dieser langen Zeit ist die Gefühlsgemeinschaft des Stammeslebens so verfestigt worden, daß sie das angeborene menschliche Verhalten noch lange beherrscht, auch wenn die ursprüngliche Einheit des Kleinstammes sich allmählich auflöst. Geiger überschreibt einen seiner Abschnitte "Gefühlsgemeinschaft auf Irrwegen". Wäre der Verfall der grundlegenden Einheit heute wirklich bereits eingetreten, so müßte die Überschrift lauten: "Heimatlose Gefühlsgemeinschaft sucht Anschluß an neue Heimat." Der Grundirrtum Geigers liegt darin, daß er den sachlichen Inhalt der Gefühlsgemeinschaft, Stamm, Staat, Nation mißdeutet. Es kommt hier nicht auf eine seelische Verbindung mehrerer Individuen in wechselseitigen Fremdwertgefühlen an, wie die unklare Bezeichnung der Sympathie zu verdeutlichen wäre, sondern auf eine Vertrauensgemeinschaft. Der Einzelne weiß sich in der Gemeinschaft aufgenommen, von ihr gestützt und getragen. Er ist auch dazu veranlagt, diese Vertrauensgemeinschaft grundsätzlich zu erwidern und sie durch Taten seinerseits zu üben. Wir wagen die Behauptung, daß auch heute noch das in der Sprachgemeinschaft wurzelnde Nationalgefühl die Kraft hat, das aus dem Stammesleben bezogene Gemeinschaftsgefühl zu tragen. Die im Gemeinschaftsgefühl enthaltene Vertrauensgemeinschaft ist also vorgegeben. Der Mensch freut sich, wenn er in der Fremde die Sprache des Vaterlandes hört. Er gehorcht nicht nur seiner "affektiven Hingegebenheit an die Nation", er fühlt sich vielmehr als Person bestätigt

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und aufgenommen, er weiß wo er Hilfe findet. Mit Recht schreibt Remane: "welche gemeinschafts bildende Kraft sie (die Sprache) besitzt, erfährt jeder, der in der Fremde Menschen seiner Muttersprache antrifft". (Remane, Die biologischen Grundlagen des HandeIns, Mainz, Ak. Math.-Nw. Kl. Nr. 18.) Ein Einwand Geigers bestätigt, recht besehen, unsere Auffassung. "Stößt A während einer Auslandsreise durch Zufall auf den ihm bisher unbekannten Landsmann B, wallen möglicherweise nationale Gefühle in ihm auf, und er ist dem B gegenüber gesellig zugänglich. Die Sympathie gilt aber nicht der Person des B, sondern dem Landsmann in der Fremde - mit dem X, Y oder Z wäre es ebenso gegangen." (S. 148). (Von der möglichen Abstoßung im Massentourismus der Gegenwart sehen wir mit Geiger hier ab.) In Wahrheit bestätigt Geiger Remanes Gedanken, daß ein solches Zufallstreffen den Anfang einer Vertrauensgemeinschaft stiftet, sofern man wechselseitigen Vertrauens bedarf. Im gewöhnlichen Leben setzen wir gerade vermöge der Sprachgemeinschaft einen gewissen Vertrauenszusammenhang voraus. Daß man sich dieser Gemeinschaft nur im Ausnahmefall besonders bewußt wird, ändert an der Sache nichts. Im Kampf vertraut der Krieger in erster Linie dem nationalverbundenen Kampfgenossen. Jeder Reichsdeutsche, der nur wenige Wochen im engeren Verband einer Division der habsburgischen Vielvölkerarmee mitgekämpft hat, fand sofort ein enges positives Kameradschaftsverhältnis zu den österreichischen Kameraden der deutschen Sprachgemeinschaft, ob der fremdsprachige Offizier, etwa der Kroate, der Pole, der Ungar - von den "unzuverlässigen" Nationen gar nicht zu reden - ein zuverlässiger Kamerad sei, mußte erst erprobt werden. Diese heute noch gültige Eignung der Sprachgemeinschaft zur Vertrauensgemeinschaft wird nicht durch den von Geiger geführten Nachweis berührt, daß die Staatengeschichte den Umfang der Sprachgemeinschaft wesentlich mitgestaltet hat, daß zwischen Sprachgemeinschaft, Nation und Staat vielfache Spannungen bestehen. Es ist auch durchaus möglich, daß künftig die Sprachgemeinschaft ihre heute schon bedrohte sozialbindende Kraft einbüßen könnte, aber auch heute noch erlebt jedes Kind, jeder heranwachsende junge Mensch die Sprache als entscheidende Prägung auf die Lebensgemeinschaft seiner Umwelt, sofern er im inneren Raum der Nation lebt. Normalerweise wird ihm eben die große Sprachgemeinschaft durch den engeren Kreis seiner Umgebung repräsentiert. Wo dies nicht der Fall ist, wenn er etwa in ~inem Einwanderungsland wie in den USA lebt oder in einem Grenzgebiet, so entstehen unvermeidliche menschliche Unsicherheiten. In den USA versucht man die naiv gelebte und empfundene Einheit durch eine zum Teil groteske Messiasrolle der künstlichen Nation zu ersetzen. Flaggenhissung in den Schulen und andere Mittel der "Massenbeeinflussung" sollen die Einheit herstellen, die ursprünglich fehlt. Die besondere Entwicklung der Kriminalität in

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den USA hat gewiß viele Gründe, an erster Stelle ist aber doch wohl hervorzuheben, daß es nur schwer gelingen konnte, die naive Gefühls~ einheit durch Neubildung zu ersetzen. Das amerikanische Beispiel beweist aber zugleich, daß das Bedürfnis, in einer Gefühlseinheit zu leben, welche den engeren Lebensumkreis in eine größere öffentliche Welt einordnet, überaus groß ist. Es ist also durchaus möglich, daß Neubildungen, das aus aus der Zeit des Stammeslebens herkommende Bedürfnis einigermaßen befriedigen können. Im Mittelalter lebte mindestens der deutsche Mensch im allgemeinen corpus christianum, in welchem die christliche Ethik als öffentliche Moral galt. Er erlebte diese christliche Welt zunächst in seiner engeren Heimat, dann auch in seiner Landesherrschaft und so höher hinauf. Der Einzelne war also mit dem Ganzen durch ein "Schachtelsystem" verbunden (so richtig Geiger). Er lebte zwar gewöhnlich in seiner kleinen Schachtel, in welcher irgendeine deutsche Mundart gesprochen wurde. Diese Schachtel schwamm aber im Kulturstrom des heiligen römischen Reiches deutscher Nation. Der Deutsche, auch etwa ein Dichter wie Walter von der Vogelweide, nahm an dieser Kultureinheit durch die deutsche Sprachgemeinschaft teil. Besondere Probleme entstehen bei Grenzbevölkerungen. Nach dem zweiten Weltkrieg machte sich in Schleswig das sogenannte Speckdänentum breit. Dahinter stand die natürliche Tatsache, daß beiderseits der Grenze die Bevölkerung durch vielfache Verwandtschaftsbande verknüpft war, auch bis 1866 sich gemeinsam der plattdeutschen Sprache bedienen konnte. Die aus Ostpreußen stammenden Flüchtlinge erschienen weithin menschlich viel fremder als die dänischen Nachbarn. Dennoch wurde diese "Befremdung" am Deutschen aus fernen Gauen schnell überwunden. 2. Theodor Geiger meint, das Nationalgefühl lebe überwiegend vom "Pathos" der Feindschaft zu anderen Nationen. Daran ist nur richtig, daß im 19. Jahrhundert durch die Auseinandersetzung mit der französischen Revolution das Nationalgefühl vorübergehend einen feindseligen Charakter annahm. Grundsätzlich ist das Nationalgefühl als spätere historische Form des Gemeinschaftsgefühls der Nährboden sowohl für den Aufbau der eigenen Persönlichkeit als auch des Gemeinschaftslebens. Das Gemeinschaftsgefühl bedarf ja der Aussprache, wird sich also seiner selbst in der Sprachgemeinschaft bewußt. Seit Beginn der Neuzeit lebt der europäische Mensch in seinem Vaterland und seiner Nation, die dem einzelnen durch die Heimat vermittelt werden. Der ältere Begriff "Vaterland" verdeutlicht übrigens den positiven Wert der konkreten historischen Gemeinschaft besser als der Begriff Nation. Der Mensch ist bei allen seinen Tätigkeiten immer auf die Einordnung in den Bereich des "Vaterlandes" angewiesen. Nicht mit Unrecht begegnen daher heute in den sozialen Konflikten die sog. multinationalen Erwerbsgesellschaften öffentlichem Mißtrauen. Daher ist denn auch die Sprachgemeinschaft Voraussetzung der individuellen personalen Identität. Geiger kommt zur Folgerung, bei Grenzveränderungen sollten um des Friedens willen die nationalen

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Minderheiten die Sprache des erobernden Staates annehmen. In Konsequenz dieses Gedankens haben bekanntlich italienische Faschisten die deutsche Sprache auf den Grabsteinen der Tiroler Friedhöfe ausgemerzt. Daß die deutschen Südtiroler diese Aktion als Negation ihrer personalen Identität verstanden, ist eine historisch unleugbare Tatsache. Daß die Sprache für jeden Einzelnen personbegründende Bedeutung hat, beweist endlich das Emigrantenelend aller Zeiten. Der weltberühmte, in Wien geborene jüdische Schauspieler Fritz Kortner befand sich bereits in England, als die Machtergreifung Hitlers vor sich ging. Dennoch kehrte er nach Deutschland zurück. Er schreibt in seinen Erinnerungen: "Warum sind sie nicht in London geblieben?" fragte mich damals Leonhard Frank in Berlin, den ich in dem Lokal traf, in dem ich ihn vermutete." "Weil dort unabänderlich Englisch gesprochen wird. Weil es kein Kaffeehaus gibt, kein Lokal wie dieses, in dem wir jetzt sitzen. Weil ich Sie und andere unverabredet hier treffen kann, dort drüben niemanden. Weil mein Gaumen, mein Mund, meine Zunge von der deutschen Sprache geformt wurden, mein Kopf von deutschen Büchern, darunter auch Ihre, verehrter Freund. Weil es dort kein Nachtleben gibt! Nur ein steifes Clubleben." 3. Der Hauptschaden des Gemeinschaftsgefühls ist im Sinne Geigers die Irrationalität, welche ihm auch unleugbar innewohnt. Nüchternes Denken müsse deshalb das soziale Verhalten nach dem Grundsatz der sozialen Interdependenz ausrichten. Diese viel verbreitete Vorstellung ist lebensfremd. Auch bei höchster Steigerung der Intelligenz kann sich der einzelne in seinem Sozialverhalten nicht daran orientieren, was er vom anderen zu erwarten hat. Niemand wird bestreiten, daß man keinem einfachen Menschen klarmachen könne, was er in kritischer Tatsituation nach dem Grundsatz der sozialen Interdependenz zu tun habe. Die Sache ist aber noch viel schlimmer. Die Lehre von der sozialen Interdependenz predigt die Sozialmoral eines extremen und überaus törichten Eudämonismus. Jede Gesellschaft und damit jeder einzelne lebt von den nichtgelohnten Opfern, welche die einzelnen erbringen. Der große Durchschnitt der Menschen ist zwar nur bis zu einem gewissen Grade des Opfers fähig, nur in gewissen Situationen und in gewissen Funktionen. Das Defizit an Pflichterfüllung und Opferleistung muß ausgeglichen werden durch eine Minderheit von Menschen, welche zu ständiger Hingabe bereit sind. Das Gemeinschaftsgefühl befähigt also die Menschen, ihre Pflicht gegenüber der Gemeinschaft zu erfüllen, gleichgültig ob diese Pflichterfüllung ihren Lohn findet oder nicht. Diese Kantische Einstellung ist übrigens viel populärer als man gewöhnlich annimmt. Ich zitiere einige Sätze, die ich 1914/15 im Mannschaftsunterstand als Ausdruck skeptischer Volksmoral aus dem Munde pfälzischer und fränkischer Bauernbuben immer wieder gehört habe. Im gleichen Umkreis muß das auch Geiger erlebt haben. Diese Aussprüche lauten fast 8 Mayer

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zynisch: "Ehrlich währt am längsten, wer nicht stiehlt, der kommt zu nichts." Man denke dabei an die Duldung des sogenannten "Besorgens". "Der Gaul, der den Hafer verdient, der kriegt ihn nicht." Verdienste waren damals nur in Todesgefahr zu erbringen. Dennoch habe ich keinen Bauernbuben damals kennengelernt, der zu den Gäulen gerechnet werden wollte, die ihren Hafer nicht verdienten. Die kriminologische Bedeutung dieses Sachverhalts ergibt sich daraus, daß auch die Achtung vor fremdem Eigentum für den Armen und Bedürftigen ein Opfer ist. Darum ist es mir unverständlich, wie Geiger die kriminalpolitische Forderung aufstellen kann, eine intellektuelle Erziehung müsse die jungen Menschen darauf hinweisen, daß der Diebstahl dem Bestohlenen weh tue, also gefährliche Reaktionen hervorrufe. Das haben die jungen Menschen immer vor jeder intellektuellen Belehrung gewußt, sie müssen jedoch befähigt werden, die Entbehrung zu ertragen, weil sie auch mit den Vermögenden in Gefühlsgemeinschaft verbunden sind. Dies ist freilich nur möglich, wenn auch die Vermögenden die Gefühlseinheit achten. 4. Gefühlsgemeinschaft in gesellschaftlichem Konflikt kann in Bezug auf die Allgemeinheit kaum hergestellt werden. Daher ist die Gefühlsgemeinschaft einer Partei, insbesondere einer klassenkämpferischen Partei, natürlich polemisch aufgeladen. Dies hätte Geiger nicht zu beweisen brauchen. Interessant ist nur, daß die Beziehungen zum Volk mindestens in schweren Zeiten für die meisten Menschen viel wichtiger sind als diese Gegensätze. III. Sofern wirklich das Gemeinschaftsgefühl erlöschen sollte, der Mensch wirklich sich nach dem Grundsatz der sozialen Interdependenz richten würde, bliebe als Mittel, das Leben eines Volkes und damit des Einzelnen und auch der Menschheit zu retten nur die Religion, welche den Menschen lehrt, vom eigenen Nutzen, vom eigenen Leben gänzlich abzusehen, wenn es das Wohl der Gemeinschaft erfordert. Es ist an sich ein Satz der Vernunft, wenn Jesus von Nazareth lehrt: "Wer sein Leben behalten will, der wird es verlieren, wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es behalten zum ewigen Leben." Dies ist keine übernatürliche Wahrheit, denn es erweist sich schon im Bereich des Stammeslebens, daß die Menschheit vom Opfer der Opferbereiten lebt. Aber so vernünftig und erfahrungsgerecht dieser Grundsatz auch ist, gelebt kann er nur werden aus den Kräften der Religion. IV. Der Nachahmungstrieb leitet den Menschen an, vorgefundene Verhaltensmuster zu übernehmen und nachzuvollziehen. 1. Eine Vorstufe der Nachahmung ist die bloße Auslösung gleichgerichteter vorgebildeter Verhaltensweisen. Diese Pseudonachahmung

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spielt im Schwarm- und Herdenverhalten eine große Rolle. Wenn ein Dohlenschwarm auffliegt, weil eine einzelne Dohle auffliegt und für menschliche Betrachtung ein Zeichen zur Flucht gibt, so löst sie nur mechanisch den Effekt aus, daß der ganze Schwarm auffliegen muß. Der Auslösungsvorgang geht in Nachahmung über, wenn der Schwarm dem voranfliegenden Vogel in der angezeigten Richtung folgt. Derartige Vorgänge kommen beim Menschen zwar auch vor, haben aber nur bei Unfällen und Ansammlungen eine meist unerwünschte Wir" kung. Die Neugierigen, welche bei Hilfsarbeiten stören, sammeln sich meist nur, weil die Mehrzahl den ersten Neugierigen folgt. Dabei brauchen die Nachfolger gar nicht selbst von Neugierde beseelt zu sein. Panikartige Flucht bei Massenerregungen ist ein mehr oder weniger zwanghafter Vorgang, wenn auch energische Einzelne diesem Zwang entgegentreten können. Die Mechanik panikartiger Flucht läßt sich am besten bei Kriegsbeginn im Verhalten unerprobter Truppen beobachten. Derartige Panikreaktionen sind nur schwer zu korrigieren, weil sie nicht einmal aus eigentlicher Angst oder Feigheit hervorgehen. Wer als Offizier versucht, mit der Waffe in der Hand sich einer solchen Panik etwa fremder Einheiten entgegenzustellen, wird sehr bald erkennen, daß hier keine einsichtige Nachahmung vorliegt. 2. Die echte Nachahmung ist ein spezifisch menschliches Verhalten, weil sie Einsicht in das Vorbildverhalten in sich schließt. Sie ist in der Verhaltensforschnug nicht hinreichend analysiert. Doch mögen nachfolgende vorläufige Bemerkungen unserem Zwecke genügen. Der Wert der Nachahmung liegt in der Entlastung des Einzelnen, der überfordert wäre, müßte er alle sozial relevanten Handlungen wirklich überdenken. Die ursprünglich naive Erziehungsgemeinschaft der freigebildeten Spielschar der Kinder bedient sich hauptsächlich der Anstöße zur Nachahmung. Aber auch im späteren Leben spielt die Nachahmung sozialen Verhaltens eine sehr große Rolle, wie sich vor allem in der Mode zeigt. Die triebhafte Kraft der Nachahmung zeigt sich darin, daß sie andere starke Triebe möglicherweise ausschalten kann, wie z. B. Todesfurcht oder auch den Geschlechtstrieb. Der zeitweilig sehr große Erfolg puritanischer Lebenshaltung wäre ohne Nachahmungstrieb ganz undenkbar, Verbote oder auch äußerer Zwang hätten solche Wirkungen nicht haben können. Der Nachahmungstrieb sichert aber keineswegs ein sozialgerechtes Verhalten, weil der Mensch vielfach sozialgerechte Muster nicht in ausreichendem Maße vorfindet. Bereits im Kleinstamm gelten für die verschiedenen Sozialgruppen, Männer, Frauen, Greise, Krieger und Jungmänner, Jugendliche und Kinder, bei überschichteten Kleinstämmen für die verschiedenen Produktions- und Lebensweisen verschiedene Verhaltensmuster. Es kann also immer nur das Verhalten der Teilgruppe nachgeahmt werden, welcher der Handelnde sich anschließt.

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Daher kann in der modernen Großgesellschaft ebenso sozialgemäßes Verhalten wie sozialwidriges nachgeahmt werden. Unbedingte Ehrlichkeit bringen auch die meisten Erwachsenen im Leben nur schwer auf, so sehr sie jeden anderen verurteilen, der sich gehen läßt. Aber nur unbedingte Ehrlichkeit der Eltern könnte die Kinder zu sozial~ gerechter Nachahmung veranlassen. Kriminologisch bedeutsam ist die stereotype Selbstnachahmung des Täters in der "Handschrift" seines kriminellen Verhaltens. Diese Hand~ schrift ist für die kriminalistische Täterermittlung besonders aufschlußreich. Aber obwohl jeder halbwegs erfahrene Täter weiß, daß er sich durch seine Handschrift verrät, vermag er sich dem Zwang zur Selbstnachahmung gewöhnlich nicht entziehen. Es fällt ihm einfach zu schwer, einen neuen Trick zu erfinden. Das Entlastungsbedürfnis der handelnden Menschen überhaupt erklärt den großen Anwendungsbereich der Nachahmung. V. Der soziale Lerntrieb. Der Nachahmungstrieb kann dem Menschen nur helfen, vorgefundene Handlungsmuster naiv zu übernehmen. Menschliches Zusammenleben ist aber bereits im Kleinstamm nur denkbar, wenn der Einzelne eine tradierte Wert- und Handlungsordnung erlernt. Dies kann er nur mit Hilfe von Verstand und Urteilskraft, er muß wissen und unterscheiden können, was dem Mann und dem Weib, dem Knaben oder Jüngling, dem Alten zunächst für sich selbst, dann aber auch im Verhältnis zu anderen ziemt. Das bedeutet zugleich eine Abgrenzung gegenüber anderen möglichen, aber unziem~ lichen Verhaltensweisen. Auch die einfachsten Völker stellen zu diesem Zweck ihre Sittenlehren auf und geben diese Lehren in Familie und Sippe, aber auch in der Volksgemeinde institutionell z. B. in den Initiationsriten weiter. Dabei ist es gerade in den einfachen, aber häufig notvollen Lebenssituationen der einfachsten Völker gar nicht leicht, immer geziemend zu handeln. Im Zeitalter der Aufklärung fiel dennoch den europäischen Beobachtern die beherrschte Lebenshaltung der einfachen Naturvölker besonders auf. Wer sich geziemend verhält, handelt gut, wer die Sitte mißachtet, handelt böse. Derartiges menschliches Verhalten kennen auch die höchstentwickelten Tiere nur in den allerersten Anfängen. Der Einzelne hat eine triebartige Neigung zum sozialen Lernen. Im ungestörten Familienleben wollen Kinder die Moral möglichst dick aufgestrichen haben, denn sie verlangen nach sicheren Lebensanweisungen. Daß sie diesen Anweisungen dann häufig doch nicht folgen, verarbeiten sie in gesunder liebevoller Erziehung sehr leicht. Sie verlangen aber, daß die Autorität ihnen mit Kraft und Liebe Wege zeigt, die wenigstens zunächst wirklich gangbar sind. Zur eigentlichen Kritik sind Kinder noch nicht befähigt.

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Der Lerntrieb hat seine trieb artige Grundlage in einer Fortbildung des Nachahmungstriebs, hängt aber auch mit dem Trieb zur Unterordnung (Führereffekt) zusammen. Der Mensch ist offenbar dazu veranlagt, die jeweilig ihm tradierte historische Ordnung naturhaft zu übernehmen. Der Lernvorgang selbst ist aber doch eine Leistung der höheren Persönlichkeit, weil schon die zu erlernende Ordnung ein Gebilde des objektiven Geistes ist. Eine genauere Analyse des Vorgangs kann hier noch nicht gegeben werden. VI. Der GeZtungstrieb ist zunächst ein Strukturelement des Selbstbehauptungsdranges. Vermöge einer List der Natur zwingt aber gerade dieser so sehr ichbezogene Trieb den Menschen in die gesellschaftlichen Ordnungen hinein, denn der Mensch will eben unter Menschen, in der Familie, im Stamm, in der Gesellschaft gelten. Als Trieb ist er zunächst ein recht primitiver, irrationaler Antrieb, der auf mechanisch äußerliche daher wirksame Weise den Menschen in die Gesellschaft einbindet. Bereits der Säugling erwartet sehr früh mütterlichen Beifall für alle seine Lebensäußerungen, von den Ausscheidungsgeschäften angefangen über die Nahrungsaufnahme, über das Ausdrucksverhalten bis zum Erlernen der Motorik. Er akzeptiert aber auch Hilfspersonen wie etwa den Vater oder den weißharigen Großvater. Bemüht sich der weißhaarige Großvater um den Säugling, so wird für diesen weißes Haar zum Vertrauenssignal. Entsprechend antwortet die Mutter instinktiv mit beständigem zärtlichem Loben, das inhaltlich rationaler Betrachtung läppisch erscheint, aber unentbehrlich ist. Dieser Hunger nach Anerkennung setzt sich bei Kleinkindern fort, er bleibt auch bei Erwachsenen bestehen, welche ohne die Anerkennung durch Mitlebende, namentlich Familienangehörige, Kameraden, Kollegen, Vorgesetzte, überhaupt Repräsentanten der Gesellschaft, verkümmern oder verbittern. Die geforderten Anerkennungsformen sind bald feiner, bald gröber. Wer eitel ist, neigt in seinem übermäßigen und unkritischen Bedürfnis nach Beifall dazu, dem Schmeichler sein Ohr zu leihen. Aber niemand ist ganz unabhängig von seiner Geltung. Dabei kommt es für den Einzelnen wesentlich darauf an, daß er überhaupt als Gleicher unter Gleichen, eben als Stammesgenosse unter Stammesgenossen mitzählt. Dies grundsätzliche Bedürfnis steht vor Rangstreben und Ehrgeiz, deren Bedeutung für das soziale Rollenspiel nicht einseitig übertrieben werden darf. Ehrgeiz erweckt sogar vielfach Ablehnung. Auch der an der Sache interessierte Schüler, auch der nur wirklich pflichtgetreue Schüler, wird gewöhnlich als Streber verdächtigt. Der Geltungsmechanismus, in welchem angeborener Drang und historisch gegebene Inhalte aufeinander bezogen sind, wirkt nahezu nach

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Art eines angeborenen Auslöseschemas. Führt der Mechanismus zum Erfolg, so erlangt der einzelne äußeres Ansehen. Die äußere Ehre, als äußeres Ansehen, auctoritas, Ruhm usw. entsteht als gesellschaftliches Produkt des Geltungsmechanismus. Naive Zeitalter und Menschen sind von ihr dermaßen abhängig, daß Homer sich nicht scheut, den gewaltigen Achilleus in heulender Verzweiflung darzustellen. Achilleus heult nicht etwa deshalb, weil ihm das geliebte Mädchen entrissen wurde - das könnten wir "Modernen" vielleicht noch nachfühlen - sondern weil ihm das ehrende Beutestück genommen wurde. Diese Wertschätzung der äußeren Ehre des einzelnen oder auch der Nation hat einen sehr praktischen Lebenssinn. Wer nicht auf Ehre hält, steht in Gefahr, auch Gut und Leben zu verlieren. Die äußere Anerkennung ist auch die Grundvoraussetzung dafür, daß man im Leben mit den anderen mitspielen darf. Das geltende Recht schützt den Spitzbuben ebenso wie den vollendeten Ehrenmann gegen Beleidigung, § 185 StGB, und zwar mit Recht, weil eben jedem Menschen um der allgemeinen Menschenwürde willen eine Chance gegeben werden muß. In diesem edleren Sinn ist äußere Ehre vorgeschenktes Vertrauen, welches der Einzelne nie verdienen könnte, dürfte er nicht von Anfang an ohne sein Verdienst aus diesem Vertrauen leben. Der Geltungsdrang wirkt zugleich in hohem Maße sozialstörend, wenn der Hunger nach Anerkennung nicht befriedigt wird. Der Schüler, dem die geforderte Leistung mißlingt, sucht wenigstens in Ungezogenheiten zu exzellieren. Vielfach entsteht auch das crimen, namentlich die Rückfalltat aus versagter oder nicht wiedergewonnener Anerkennung, sozialer Entmutigung und verlorener Ehre. Nur darf man nicht das Ganze des kriminellen Geschehens einseitig aus dieser Sicht betrachten. In Sondergruppen (Subkulturen) gelten möglicherweise die Antiwerte der Sondergruppe. Alle diese Erscheinungen bleiben durchaus im normalpsychologischem Rahmen. Aber es gibt natürlich auch den geltungssüchtigen Psychopathen, wie ihn Kurt Schneider geschildert hat. Nur ist oft schwer zu unterscheiden, was angeborene abnorme Geltungssucht ist oder was sich aus normalem Geltungsstreben erklärt, das nur unter ungünstigen Lebensbedingungen nicht zu seinem Recht kommt. Solche Lebensdemütigung mag dann eine angeborene Psychopathie nur vortäuschen. Vielfach werden Vermögensverbrechen nicht aus äußerer Not oder anderen ökonomischen Gründen, sondern nur aus Geltungssucht begangen: Ein Angestellter greift in die Kasse, weil er sich durch äußeren Aufwand, kostspielige Vereinsmeierei, in deren Betätigung er vielleicht Positives leistet, Geltung verschaffen will. Der Dieb, der seine Beute in St. Pauli verjubelt, will wenigstens in dieser Nacht den Großen Herrn spielen. - Ein fleißiger Arbeiter liefert nach seiner Heirat, wie üblich, die unversehrte Lohntüte an die Frau ab, das übliche Taschengeld erlaubt ihm aber nicht wie bisher die Rolle des maitre de plaisir unter Kollegen zu spielen. Nun begeht er Ein-

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brüche in Tankstellenkassen usw., lediglich um wie früher seine "Runden schmeißen" zu können. Diesen etwas drolligen Täter und ähnliche Typen sieht der Verfasser gewissermaßen noch vor sich. Die Antiwerte der Sondergruppen werden für junge Menschen besonders verhängnisvoll, wenn sie vom angehimmelten "Führer" der Bande vertreten werden. Das Mädchen aus guter Familie beweist seinen revolutionären Mut durch Warenhausdiebstähle. Leider bleibt es heute nicht bei so verhältnismäßig harmlosem Beginnen. So weit, wenn nicht so gut, so doch wenigstens einfach. Bei genauerer Betrachtung erkennt man, daß der Geltungsmechanismus den Menschen vor ein Dilemma stellt. Der Mensch bedarf zwar der äußeren Ehre, er kann aber auf dieser Stufe unmöglich verharren, will er nicht auf die Eigenständigkeit seiner Person verzichten. Die überlieferten gesellschaftlichen Urteile sind nicht selten sehr oberflächlich, mitunter sogar verkehrt, jedenfalls hinken sie immer hinterher hinter der geistigen Entwicklung. Der Mensch sucht in dieser Dialektik notwendigerweise eine höhere Instanz. Im Zweifel über Recht und Unrecht holen sich Naturvölker Rat und Weisung bei den Wissenden, in einer Gerontokratie bei den weisen Alten, noch in der von Gotthelf geschilderten Bauerngemeinde bei den "Mannen". Schließlich wendet man sich an die Gottheit, ihre Priester und Prediger, in einer laisierten Welt an die vernünftige Einsicht. So will der Mensch zu sich selbst gelangen und beruft sich auf das Gewissen, also eine Instanz, welche ihn zu wahrhaft richtigem Verhalten befähigen soll. Nach Kant ist der Mensch wesentlich "Gewissen". Es klingt auch sehr verheißungsvoll in der sozialen Auseinandersetzung, wenn man sagt, "meine Ehre kann mir niemand nehmen". In Wahrheit ist das ein höchst fragwürdiger Optimismus. Religiöse Betrachtung hält das Streben nach äußerer Ehre für unvereinbar mit Gottesverehrung: "Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre untereinander nehmet, aber die Ehre, die vom alleinigen Gott ist, suchet ihr nicht." Ev. Joh. Kap. 5 Vers 44, vgl. auch Kap. 12 Vers 43, 44. Die Johannestradition steht darin nicht allein, vgl. Ev. Matth. cap. 6 Vers 1. Deutlicher noch Paulus in Ga!. cap. 5 vers 26, 1. Thess. cap. 2 vers 6. Nach der Genesis besteht die Erbsünde darin, daß der Mensch in seiner superbia an die Stelle des amor dei den amor sui, d. h. humani setzt, vgl. die Auslegung Luthers. Erst der Rationalismus hat den Begriff der Erbsünde auf den Egoismus gegenüber dem Mitmenschen verengt. Damit wird der Begriff widersinnig, denn humanitäre Haltung, auch Gewaltlosigkeit, sind dem Menschen grundsätzlich möglich, Verzicht auf eigene Geltung dagegen kaum. Wirkliche Hingabe an Gott istmindestens nach Meinung Luthers - unerreichbar. Dies ist jedenfalls mit Erbsünde gemeint. Es mußte dies hier gesagt werden, weil die Polemik gegen den Begriff der Erbsünde in den überlegungen der Verhaltensforschung z. B. bei Eibl-Eibesfeldt eine nicht unwichtige Rolle spielt. Damit wird die Verhaltensforschung blind für eine Grunderfahrung der Menschheit, nämlich daß der Mensch unzulänglich ist, das ihm gesetzte Ziel zu erreichen. An der Ausbildung des Gewissens ist neben dem Geltungswillen, der nach einem Ausweg sucht, auch der Selbstbehauptungswille und

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schließlich noch das noch zu besprechende transzendente Verlangen des Menschen beteiligt. Hier kam es nur darauf an, an diesem besonders wichtigen Beispiel zu zeigen, wie vitale Triebe in der höheren Persönlichkeit umstrukturiert werden. Das Gewissen setzt zwar an in der Unterwerfung unter ein Kollektivurteil (über-Ich) an, aber es wird erst zum echten Gewissen in der Reflexion über die Unzulänglichkeiten des über-Ich. Diese Reflexion stellt an den Menschen immer wieder die überaus harte Forderung, sein eigenes selbstverantwortliches Urteil zu finden und schließlich über das Urteil der Allgemeinheit zu setzen. Damit erwächst die Gefahr schwerer Konflikte bis hin zur Anarchie. In der kriminologischen Praxis treffen wir daher nicht nur auf das Gewissens- oder überzeugungsverbrechen, sondern auch auf das primitiv anarchisch motivierte Verbrechen. Dies letztere ist sowohl in der Kriminalität einer fehlgeleiteten Elite, als auch in der Massenkriminalität recht erheblich beteiligt. VII. Die Zuwendung zum Nebenmenschen. Der Mensch, als soziales Tier, ist ein Freund des Nebenmenschen schlechthin. Wäre dies nicht seine primäre Triebrichtung, hätte er in seiner gefährdeten Lage niemals überleben können. Diese allgemeine Triebrichtung ist die Voraussetzung der Stammesbildung, welche eine erhebliche Zeit gedauert haben muß. Dies erweist sich auch in der von Anfang an bestehenden Möglichkeit das Zuwendungsverhalten über den intragentilen Bereich auszudehnen. Allerdings ist dieses Zuwendungsverhalten, nachdem sich aus der Vormenschenherde der Kleinstamm gebildet hat, zunächst auf den intragentilen Kreis beschränkt, hat sich aber immer fähig und bereit erwiesen, sich zur allgemeinen Mitmenschlichkeit - sogenannte allgemeine Menschenliebe zu erweitern. 1. Die verschiedenen Fremdwertgefühle gehen ineinander über wie die Farben des Regenbogens, lassen sich aber auch wie diese in ihren Zentralbereichen deutlich unterscheiden. Sie sind jeweils mit bestimmten Gegengefühlen verschwistert. Dabei entstehen solche Gegengefühle erst sekundär, namentlich dann, wenn Selbstbehauptungstriebe mit Sozialtrieben konkurrieren. Solche Konflikte werden dann mit besonderer Schärfe durchgefochten, wenn primäre Fremdwertgefühle enttäuscht werden. Jedes Fremdwertverhalten ist nämlich auf Gegenseitigkeit angewiesen. a) Das grundlegende und entwicklungsgeschichtliche älteste Fremdwertgefühl ist die Achtung, welche den anderen zunächst als HerdenStammes-Genossen anerkennt. Diese Achtung wird auch im Distanzund Rangordnungsverhalten sichtbar, denn wenn ich ein Rangverhältnis anerkenne und fordere, so muß ich auch den Rangniederen doch als Herdengenossen anerkennen. Das Haustier, der Jagdhund, ist

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in diesem Sinn kein geachteter Genosse. Das Verhältnis zum Unfreien ist ambivalent, es überwiegt aber doch die Achtungsbeziehung, wie die überall belegte Freilassungsmöglichkeit beweist. Als bloß äußeres Geltenlassen ermöglicht die Achtung ein äußerlich friedliches Zusammenleben. "Leben und Lebenlassen" ist immerhin ein recht brauchbares soziales Prinzip. Innerhalb der intragentilen Beziehung begründet die Achtung die Erwartung auf genossenschaftliche Hilfe. Indem der Mensch geistig und seelisch reift, also geistig erwacht, erkennt er im anderen die der eigenen gleichwertigen Person. Damit wird die bloße Distanzachtung zur Personachtung, zur Achtung vor der "Heiligkeit" fremden Lebens und vor der Menschenwürde des anderen. Kant hat die Personachtung zum Grundprinzip der Sozialethik erhoben und zum kategorischen Imperativ des menschlichen Verhaltens gemacht. Kant hat seine Ethik mit der christlichen Ethik der allgemeinen Menschenliebe gleichgesetzt. Mindestens steht er dabei der Wahrheit näher als diejenigen, welche einen echten Gegensatz zwischen der sog. christlichen Nächstenliebe und der kantischen Auffassung behaupten wollen. Die allgemeine Menschenliebe wird ebenso wie die Gottesliebe im neuen Testament als Agape bezeichnet. Agapan heißt aber nichts anderes als zunächst geltenlassen und achten. Unsere übersetzung mit amare oder lieben bringt das Agapan in die Nähe erotischer Gefühlserregung. Dies ist sicherlich nicht gemeint. Im Gegensatz zur bloß erotischen Beziehung schließt Agapan aber auch die unbedingte Dienst- und Hilfsbereitschaft ein. Liebesgefühle kann man in der Tat nicht befehlen, unbedingte Achtung des Mitmenschen einschließlich unbedingter Dienstbereitschaft kann man aber zum ethischen Prinzip machen. Achtung schlägt in Mißachtung um, wenn die in der Achtung enthaltene Erwartung auf achtenswertes Verhalten und auf Gegenseitigkeit enttäuscht wird. Merkwürdigerweise kann man dem Nebenmenschen gegenüber niemals ganz gleichgültig bleiben, sofern dieser in unseren Erlebnisbereich tritt. Die enttäuschte Achtung macht aus dem bloßen Nebeneinander des Distanzverhaltens ein Gegeneinander und zwar um so schärfer, je tiefer das Achtungsverhältnis gründete. Die Achtung ist beim Aufbau komplexerer Fremdwertgefühle beteiligt, wir können hier nur das Beispiel des Vertrauens kurz besprechen. Vertrauen erwächst entwicklungspsychologisch in der umhüteten Brutpflegesituation, also Vertrauen der Kinder zu den Eltern: "Vati hilft schon, Mutti hilft schon!" Dies Vertrauen ist grenzenlos, also irrational. Im Verhältnis Erwachsener ist Vertrauen grundsätzlich irrational. Wer etwa mit Wahrscheinlichkeiten rechnet vertraut überhaupt nicht (vgl. Kar! Hein, Glaubensgewißheit 13, 1923, S. 17 ff.). Wird aber Vertrauen enttäuscht, so kann dies fürchterliche Folgen haben. Läuft eine Mutter von ihren Kindern weg, so sind habituelles Mißtrauen und Lebensunsicherheit die gewöhnliche Folge. Es sind dann auch feindselige Haltungen und Handlungen als Angstreaktion zu befürchten. Es mag sehr ungerecht sein, wenn in früherer Zeit Regimentskommandeure keine Fahnenjunker annahmen, die aus geschiedenen Ehen stammten, aber man glaubte, die Kameradschaft der Offiziere untereinander bedürfe dieser Sicherung.

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b) Das Mitgefühl (Sympathie im allgemeinsten Sinn) kann sehr verschieden getönt sein. Biologischer Ausgangspunkt dürfte das Mitleid sein. Der Buddhismus räumt dem Mitleid eine zentrale Stellung in seiner Ethik ein, Schopenhauer und Richard Wagner wollten dieser Ansicht folgen. Auch in der "Ehrfurcht vor dem Leben", wie sie Albert Schweitzer postuliert, steckt das Mitleid. Im Tierverhalten finden wir Ansatzpunkte: Die Hilflosigkeit des Jungtieres erwirkt vermöge des sog. Kindchenschemas Schonung, manchmal über die Artgrenzen hinaus und sogar Hilfshandlungen. Der Mensch fürchtet sich zweifellos von Haus aus, die Verletzung oder Zerstörung eines Lebewesens mit anzusehen. Das Ausdrucksverhalten von Mensch und Tier ist nämlich beim körperlichen Schmerz ähnlich. Ausdrucksverhalten ist aber nur erfolgreich, wenn es auf Verständnis trifft. Das Mitleid hat also wirklich seinen ursprünglichen Sitz im Nervensystem, daher der sarkastische Aphorismus der Ebner-Eschenbach: "Mancher glaubt ein gutes Herz zu haben, und hat nur schwache Nerven." Wir wissen aber nur zu gut, daß es auch Schadenfreude, sogar in der Gestalt der Freude an fremdem Schmerz, daß es Grausamkeit gegenüber fremdem Schmerz gibt. Soweit diese Haltungen nicht aus erst später zu besprechendem primär feindseligem Verhalten zu erklären sind, wirkt bei dieser Negation des Mitleids folgender Mechanismus: Im Mitleid steckt immer eigene Furcht. Man kann also auch sehr befriedigt darüber sein, daß man selbst davon gekommen ist. Das bedrängende Gefühl des Mitleids stellt starke Ansprüche an unser Handeln. Wehren wir diese Ansprüche um der Selbsterhaltung willen ab, so kommt es mindestens zu einer Gleichgültigkeit, welche in Wahrheit unterdrücktes Mitleid ist. Mitunter kommt es aber auch zum Haß gegen das Opfer. Beispiele: Der zum Mitmachen gezwungene Gehilfe beim Mord kann in seiner Erregung seine Tatbeteiligung übertreiben. Dies gilt auch für den schrecklichen Fall zusätzlicher und sinnloser Grausamkeiten in Konzentrationslagern. Als die "abgehärteten" Wachmannschaften zum Felddienst versetzt und daher der Bestand durch eingezogene Wachmannschaften ergänzt werden mußte, haben gerade diese manchmal besondere Ausschreitungen begangen. Darunter befanden sich Leute, welche gar nicht der Partei anhingen, aber mit Erfolg durch diese Aktion "umgedreht" wurden. Lombroso glaubte, der "geborene" Verbrecher z. B. der Mörder entbehre des normalen Mitleidsgefühles. Das kann nur in Einzelfällen zutreffen. In der Regel entsteht Grausamkeit aus Unterdrückung des an sich vorhandenen Mitgefühls, das seelische Trauma wird dann etwa in Tierliebe abreagiert. Berühmt ist der Mordfall Sternickel, der nach einem grausamen Mord an den Tatort zurückkehrte, um einen Kanarienvogel vor Verhungern und Verdursten zu retten. Im grausamen Nationalsozialismus war Tierliebe ganz besonders groß geschrieben.

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Viel seltener als Mitleid ist Mitfreude. Sie ist wohl als Umstruktu· rierung des im Mitleid angelegten Gefühls anzusehen. Dieser Vorgang ist leider nicht im Nervensystem angelegt, sondern geht erst in der höheren Person vor sich. Aus dem Bereich der Selbsterhaltungstriebe stellt sich der Mitfreude sehr schnell der Neid entgegen. Von den Mahnungen des Apostels mit den Traurigen zu weinen, sich mit den Fröhlichen zu freuen, ist sicherlich die letztere sehr viel schwerer zu erfüllen. c) Das letzte Paar bilden Liebe und Haß. Liebe bindet das Fremdwertgefühl des Menschen an den konkreten Nebenmenschen und macht ihn geneigt, dem anderen Gutes zu tun, möglicherweise bis zur Aufopferung seiner selbst. Liebe hat ihren entwicklungsgeschichtlichen Ursprung in der Brutpflegegemeinschaft, beim Menschen also in der wechselseitigen Liebe von Eltern und Kindern sowie der Geschwister untereinander. Diese Beziehungen sind regelmäßig frei von libidinösen Empfindungen (vgl. unten 214, 229). Auch im weiteren Kreis der Kameradschaft und Freundschaft empfindet der Mensch Dasein und Gegenwart des anderen als lebenserhöhend. Liebe, auch im Sinn echter Personliebe, wirkt aber nicht nur sozialbindend, sondern auch sozialstörend. Menschliche Liebe ist immer eine irdische Angelegenheit, sie will in Gegenliebe geborgen sein, sucht also immer zugleich das "Ihre". Bismarck meint einmal, es läge nicht in der Natur des Menschen, auf die Dauer einseitig zu lieben. Verschmähte Liebe schlägt daher leicht in Feindseligkeit oder Haß um, der den Gegner schädigen oder vernichten will. Die Geschlechtsliebe ist ein Sonderfall der allgemeinen Personliebe. In ihr verschmilzt die Personliebe mit der Libido zu eigentümlicher Süße und Glut, in der glücklichen Ehe vertieft sich allmählich die erotische Bindung zur Gattenliebe. Liebe bindet immer nur konkrete Menschen aneinander, wenn sie vielleicht auch zwischen dem Helfer und dem fremden N otleidenden sich sekundär ausbildet. Damit schließt die Liebe fremde Menschen aus ihrem Bereich aus. Auch die Familienliebe, die nicht libidinös ist, gerät daher leicht in Konflikt mit den Gemeinschaftsgefühlen. Die Geschlechtsliebe schließt mit zunehmender Erotisierung das liebende Paar so eng zusammen, daß die Beziehung zum Stamm, zur Gemeinschaft zeitweise zurücktreten. Für den Liebespartner kann auch der Durchschnittsmensch schwere Verbrechen begehen. Liebe von der libido bis zur echten Personliebe verbindet also nicht nur, sie verbesondert auch. Wenn wir so - gegen die heute herrschende Meinung - die echte Personliebe als selbständige und originäre Triebrichtung von Libido und Eros abgrenzen, so stützen wir uns nicht nur auf ein jahrtausendealtes Selbstverständnis des Menschen, das zur Verblüffung der Zeitgenossen von Nietzsche

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(einem erotischen Versager) und Freud (im Privatleben ein braver Bürger) umgestoßen wurde. Wir stützen uns vor allem auf stammesgeschichtliche Erwägungen. Während die Geschlechtlichkeit als solche keine Partnerbildung stiftet, wie der Tiervergleich beweist, steht beim Menschen und allen sozial lebenden Tieren am Anfang der Drang zur Herde bzw. zur Gruppe. Er äußert sich beim Tier ganz allgemein im Kontaktverhalten, insbesondere im Zärtlichkeitsverhalten, man denke an die wechselseitige Hautpflege. Der Kleinstamm besteht anders als die Tierherden aus wechselseitig als Personen bekannten Individuen. So führt notwendigerweise der Sozialdrang weiter zur Personliebe, welche wir auf dieser Stufe Gemeinschaftsliebe nennen können. Wie sich beim Tier Partnerbindungen nicht aus der Geschlechtlichkeit als solcher, sondern im Umkreis der Brutpflege bilden, so reift beim Menschen die Personliebe in der Familie aus, wie wir das noch darzulegen haben. Diese FamiIienliebe ist sowohl in der wechselseitigen Liebe von Eltern und Kindern, als auch von Geschwistern libidofrei. Dies Gefühl kann dann auf einen weiteren Kreis ausgedehnt, elargiert werden und verstärkt dann die in der Stammesgemeinschaft angelegte Liebe. In der religiösen Sprache nennt man alle Menschen Brüder, Gott selbst wird im Sohn der Menschen Bruder. Dies ist der allgemeine Fall der sog. christlichen Nächstenliebe. Zwar wird die Gottesliebe in besonderen Zeiträumen mystischer Religiosität dann auch erotisiert, wie z. B. in gewissen Formen des Pietismus. Auch in der älteren noch stark gefühlsgeladenen profanen Sprache heißt der Nebenmensch Bruder. Der Student des 18. Jahrhunderts spricht seinen Kommilitonen als "Herr Bruder" an. Diese Redeweise hat sich auch bei Logen und ähnlichen Körperschaften erhalten. Die Gefühlsbindungen sind dabei von sehr verschiedener Stärke. Der engere Kreis, z. B. die Familie, kann die Gefühlskraft weithin für sich verbrauchen. "Wenn das schmale Bächlein der Nächstenliebe erst den Familienteich angefüllt hat, bleibt für die Gemeinde wenig übrig." Ein altes Argument für das Zölibat der Priester. Die Geschlechtsbeziehung entwickelt sich zweifellos von der libido, nicht von der Personbeziehung her. Erst als die Personliebe in der Familienliebe ausgereift war, konnte sie sich als Eros mit der Libido verbinden. Dabei bleibt die Geschlechtsliebe immer sehr stark durch das Begehren bestimmt. Die älteste Dichtung kennt praktisch nur libidinöse Beziehungen, Achilleus grollt nur, weil er das ehrende Beutestück, nicht weil er das geliebte Mädchen verloren hat. Die durch Ehevertrag gestifteten Ehen der primitiven Völker und noch bis in die Gegenwart herein die Ehen der Bauern sind Vernunftehen. Das Bedürfnis nach der Liebesehe setzt sich erst sehr spät in der sozialen Wirklichkeit durch. Die älteste abendländische Liebesdichtung, das Tagelied, besingt die ehebrecherische Liebe. Der vorzugsweise libidinöse Charakter der Liebe wird noch bei Boccaccio festgehalten. Erst in der späteren glücklichen Liebesehe beruhigt sich die stürmische Erotik zur beständigen Gattenliebe und gewinnt allerdings so den höchsten Grad echter Personliebe.

2. Der Hilfstrieb. Die Fremdwertgefühle setzen sich triebhaft in Betätigung um, am leichtesten in engeren Lebensgemeinschaften. Aber auch im weiteren intragentilen Bereich wird tatsächlich wechselseitige Hilfe gewährt, seltener in extragentilen Beziehungen. Der Hilfstrieb und die Hilfeleistung werden vielfach gehemmt durch Mangel an Entschlußkraft oder auch durch Furcht. Natürlicherweise

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gerät der Hilfstrieb leicht in Konflikt mit dem Selbsterhaltungstrieb. Levit und Priester im Gleichnis vom barmherzigen Samariter fürchten die Rache der Zeloten, und scheuen dem niedergeschlagenen Menschen zu helfen. Möglicherweise stehen Gruppeninteressen gegen Gruppeninteressen. Die Frage wer denn nun mein Nächster sei, kann im konkreten Fall berechtigt sein, nämlich wenn die Hilfe in einer Richtung die Hilfe in anderer Richtung ausschließt. Verweigerung der Hilfe für den Genossen wird im archaischen Recht streng gerügt. Im geltenden Recht haben wir immerhin die Strafvorschrift des § 330 a. Um sich die stärke des allgemeinen Hilfstriebs vergegenwärtigen zu können, muß man in die Gesellschaft der Naturvölker zurückgehen. Der moderne Mensch lebt seit den Zeiten der geo.rdneten Armenpflege (scho.n der mittelalterlichen Städte) in wachsendem Maße in einem öffentlichen Wo.hlfahrtssystem, welches keine aso.zialen Bettler züchten will. Gelegenheiten zu sinnvo.ller individueller Hilfeleistung finden sich so. leicht nicht mehr. Immerhin muß man bedenken, daß die institutio.nalisierte wechselseitige Hilfe des Wo.hlfahrtssystems schließlich auf dem allgemeinen Hilfstrieb des Menschen aufbaut. Es möchte freilich sein, daß der Mensch mehr und mehr die Fähigkeit verliert, individuell zu helfen, zumal in unserer technischen Welt der Entschluß zur Hilfe, z. B. im Straßenverkehr sehr schnell gefaßt werden müßte. Was als Fühllo.sigkeit auffällt, ist vielfach nur Mangel an Geistesgegenwart.

3. Kriminologische Bemerkungen. Unsere ganzen bisherigen Ausführungen sind insofern einseitig, als wir die Auswirkungen der Selbstbehauptungstriebe noch nicht miteinbezogen haben. Wir müssen also. vorerst nur ganz einfach feststellen, daß Fremdwertgefühle vielfach durch Gegengefühle mattgesetzt werden können. Aber auch davon abgesehen, garantieren starke und siegreiche Fremdwertgefühle keineswegs rechtmäßiges Verhalten. Mit zunehmender Gefühlsintensität der intimeren Bindungen lockert sich vielfach die Bindung an die Allgemeinheit. Viele Straftaten werden begangen, um Nahestehenden zu helfen. Viele Vermögensdelikte, z. B. Entwendungen in Selbstbedienungsläden, werden im Familieninteresse begangen. Widerstand gegen die Staatsgewalt kann ihre Ursache in falscher Kameraderie finden. Mancher Meineid wird geschworen, um die "Ehre" einer Frau zu decken. Manche bösartige Gewalttat mag von einem "guten Hasser" begangen werden, aber vielleicht eben doch nur, weil dieser Hasser ein guter und treuer Freund ist. 4. Diese überlegungen führen zu einer allgemeineren Formulierung. Die Fremdwertgefühle wissen von sich aus nicht um ihr vernünftiges Betätigungsziel, das weiß nicht einmal die echte Personliebe. Das Gebot der Nächstenliebe ist ebenso formal wie der kategorische Imperativ Kants. Nur in sehr einfachen Verhältnissen versteht sich von selbst,

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worin das "Gute" besteht, das man dem anderen erweisen soll. Inhaltliche Bestimmtheit gewinnt die Ethik immer nur durch den Bezug auf kulturelle Wertungen, Ordnungen und Institutionen. Diese Institutionen z. B. das Eigentum sind aber nur sehr ungefähr im natürlichen Verhaltensprogramm vorgebildet. Es kommt also beim rechtstreuen Handeln gerade auf richtige Einsicht und richtige Wertungen an, die freilich in der philosophischen oder theologischen Theorie immer umstritten sein werden. In der Praxis kann sich der handelnde Mensch auf das Gesetz, besonders das Strafgesetz stützen. Die gesellschaftlich gültigen Wertungen nimmt der Einzelne allerdings meist in den Anschauungen der ihn umgebenden Subkultur auf. Dies gilt besonders für die männliche Jugend, die außerdem durch eine große Realitätsferne belastet ist. Die Erfahrung erweist gerade nicht, daß kältere Naturen mehr Straftaten begehen als wärmere. Gefühlskalte Menschen pflegen zu rechnen und rechnen sich meist richtig aus, daß das Verbrechen sich nicht lohnt, es handele sich denn um Fälle der white collar criminality, bei denen man viel gewinnen kann und tatsächlich gewöhnlich nicht erwischt wird. Die kriminellen sog. gefühlskalten Psychopathen im Sinne Kurt Schneiders sind vielfach nur insofern auffällig, als sie schlechte Rechner sind. Dagegen sind ungesetzlich lebende Menschen vielfach gefühlswarm. Inwieweit sie in ihren Gefühlen beständig sind, ist freilich eine andere Frage. Man lese die klassischen Selbstschilderungen bei Jäger und Luz, die Schilderungen von Max Kaufmann. Vergleiche mit der Gefühlsverfassung des Durchschnittsmenschen sind jedenfalls sehr problematisch. VIII. ExtragentiZes Verhalten. Die ursprüngliche Erscheinungsform menschlichen Verhaltens ist das intragentile Verhalten, denn der Mensch ist erst in der Zeit der Lebensgemeinschaft von der Vormenschenherde bis zum Kleinstamm als homo sapiens herangereift. Dabei hat er vielleicht in einer Geschichte von einer halben Million von Jahren sein Verhaltensinventar erworben. Es gab aber daneben wohl immer als Ausnahmeerscheinung die extragentile Begegnung des Stammes oder einzelner Stammesangehöriger mit fremden Stämmen oder einzelnen Fremden. Diese extragentile Begegnung darf aber nicht als der Anfang menschlichen Soziallebens verstanden werden, wie dies das individualistische Denken seit Sophistik und Aufklärung wähnt. Extragentiles Verhalten ist vielmehr ursprünglich ein extremer Sonderfall, der besonders betrachtet werden muß. Erst der Mensch von heute beginnt die Menschheit als solche als Lebensgemeinschaft zu begreifen und sein Verhalten auf diese postulierte Lebensgemeinschaft zu beziehen, dabei versucht er das intragentile Verhalten auf alle extragentilen Beziehungen zu "elargieren". In Wahrheit verhalten wir uns alle noch weithin intragentil, am schlimmsten die Menschheits-

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apostel und Pharisäer, welche besiegte Nationen vor ihren Richterstuhl rufen. Wir gehen bei unserer Betrachtung von der ursprünglichen Ausgangslage aus, und können nur gelegentlich auf die Elargierungs~ tendenzen hinweisen. 1. Der intragentile Mensch steht zu dem Fremden sowohl in der äußeren gesellschaftlichen Wirklichkeit als auch gefühlsmäßig im Verhältnis der Fremdheit. Daraus kann sich Feindseligkeit mit allen denkbaren Härten entwickeln. Dies scheint aber gar nicht die Regel gewesen zu sein. Wahrscheinlich hat friedliches kooperatives, ja sogar mitmenschliches Verhalten von Anfang an überwogen. Der Mensch ist jedenfalls vermöge seiner Gefühls- und Verhaltensstruktur zu Feindschaft oder Friede gleichermaßen fähig, die Entscheidung hängt von wirklichen oder eingebildeten äußeren Gegebenheiten und Zwängen ab. Der Verhaltensvergleich zwischen Tier und Mensch mag die Fragestellung klären. Gewisse Verhaltenssignale sind innerhalb jeweils der Art, d. h. auch über die Schranken des Rudels, der Horde, der Herde hinaus verständlich. Das "Kleinchen" oder Kindchenschema erbittet auch über die Schranken der Tiersozietät, ja sogar der Art hinaus, Schonung für das hilflose Jungtier. Das Ausdrucksgebaren, insbesondere bei Schmerz, ist in der ganzen Säugetierreihe bis zum Menschen hin verständlich. Dennoch scheint es in freier Wildbahn nur äußerst selten vorzukommen, daß Jungtiere von fremden Müttern aufgenommen werden, daß Tiere verschiedener Art sich wechselseitig Hilfe leisten. Sichere Beobachtungen liegen darüber, soweit ich sehe, kaum vor. Die parasitäre Ausbeutung des Vogelpärchens durch den stärkeren Sperreiz des Kuckucksjungen läßt sich nicht als friedliche Kooperation betrachten, sondern nur mit der rohen Ausbeutung durch eine Besatzungsmacht vergleichen. Der Mensch ist dagegen in der Lage, auf das Kleinchenschema der Tiere durch Pflege zu reagieren. Das Ausdrucksverhalten von Vögeln und Säugetieren kann ihn zur Tierpflege und zu einer Lebensgemeinschaft mit den Tieren veranlassen. Auch die an sich ausbeuterische Haltung und Nutzung von Haustieren hat doch jedenfalls auch diese schönere Seite. Solche Lebensgemeinschaft zwischen Mensch und Tier mag dann auch Haustiere verschiedener Art veranlassen, solche Gemeinschaftsbeziehungen ihrerseits einzugehen. Vielfach klagt der Mensch den Menschen an, allein der Mensch unter allen Lebewesen töte seinesgleichen. Sieht man von der Sentimentalität dieser Vorstellung ab, so steckt in diesem Vorwurf der Gedanke, das Tier sei durch seine Instinkte geschützt, Artgenossen zu töten, während der böse aggressive Mensch sich unnatürlich verhalte. Dies ist ein großer Irrtum. Eines Instinktes, den Artgenossen zu schonen, bedarf es für die Erhaltung der Art nicht. Waffenlose Tiere können einander in freier Wildbahn ohnedies nicht töten. Auch Raubtiere, welche sich mit ihren natürlichen Waffen töten könnten, tun dies nicht, nicht etwa aus einem Schonungsinstinkt, sondern einfach deshalb, weil das Raubtier seine Beute dort sucht, wo es den geringsten Widerstand zu erwarten hat. Daß etwa Löwen sich wechselseitig als Freßfeinde begegnen, würde doch voraussetzen, daß zu wenig wehrlose Beutetiere vorhanden wären. Bis es aber zu einem solchen Mangel käme, wären die Löwen längst an Hunger eingegangen. Nur im geschlechtlichen Rivalenkampf kann es zu blutigen und tödlichen Verletzungen, z. B. auch

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bei Geweihtieren usw., kommen. Wenn geweihtragende Tiere die Rivalenkämpfe meist nur als Kommentkämpfe durchführen, so hat dies seinen Grund auch nicht in einem Schonungsinstinkt, sondern einfach darin, daß bei rücksichtslosem Rivalenkampf praktisch kein kopulationsfähiger Partner übrig bliebe. Bei Hühnern finden tödliche Rivalenkämpfe statt, weil eben von den sechs Hähnchen auf sechs Hühnchen nur ein Hähnchen übrig bleiben muß, sofern die Besiegten nicht doch entweichen können. Es gibt aber gewisse Tierarten, die tatsächlich eine Art von Rassen- oder Nationalkriegen bis zur Vernichtung des Gegners führen. Bei Insektenstaaten findet sich das relativ häufig. Die meisten Arten scheinen den Artgenossen nicht anzugreifen, sondern ihm im Notfall auszuweichen. So verhält sich auch der Mensch, der aber zu feindlichen Auseinandersetzungen immerhin fähig ist. Das Zusammenleben bezieht sich zunächst jedoch nur auf den eigenen Stamm. Der Fremde der diesem Stamm nicht angehört, ist notwendigerweise rechtlos, weil alles Recht aus der Stammeszugehörigkeit abgeleitet ist. Jedoch finden wir sehr früh Beispiele der Gastfreundschaft, d. h. der Aufnahme des Fremden in ein besonderes Rechtsverhältnis, dem dann besondere Heiligkeit zugesprochen wird. Für die friedliche Begegnung mit dem Fremden steht sonst dem Menschen nur das innerhalb des Stammes entwickelte Verhaltensinventar zur Verfügung. Verwendbar für den Verkehr mit dem Fremden ist von den Gefühlshaltungen nur das Verhältnis der Achtung. Es fehlt aber das Band der Gefühlsgemeinschaft, welches die übersteigerung von Rivalenkämpfen und dergl. innerhalb des Stammes verhindert. Die heute herrschende Vorstellung einer allgemeinen humanitären Verpflichtung bildet sich sehr spät jeweils in historischer Zeit. 2. Die wichtigsten Fälle der Kooperation sind der Handel und die Kombination verschiedener Stämme. a) Der Handel. Die Betrachtungen der Odyssee über freundliches oder feindliches Verhalten gegenüber Fremden weisen auf uralte Erinnerungen zurück. Homer unterscheidet zwischen Völkern, welche Götter ehren und daher die Fremden gastlich aufnehmen und anderen welche die Fremden töten. Dabei muß man bedenken, daß die griechischen Seefahrer als Seeräuber eigentlich an keinem Gestade Schonung verdient hatten, ebenso wenig wie die Wikinger. Wenn dennoch aus dieser Zeit von fremden, freundlichen Völkern geredet wird, so muß doch eine sehr starke Neigung des Menschen vorhanden gewesen sein, dem reisenden Fremden friedlich zu begegnen. Dazu mag die Bedürftigkeit des Menschen und der Handelsbedarf beigetragen haben. über die Vorgänge im einzelnen wissen wir noch sehr wenig, weil Ethnologie und Prähistorie die Frage noch nicht umfassend untersucht haben. Es gibt aber mindestens zwei Handelswaren, welche die Menschen der Urzeit niemals entbehren konnten, nämlich Salz und Feuerstein. Beide sind

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keineswegs allgemein verbreitet, und selbst wenn man sie nur auf eine Entfernung von 100 km holen müßte, so ginge notwendigerweise der Handelsweg durch mehrere Stämme. Wir wissen, daß im Norden der Heringshandel viel älter ist als jede zivilisatorische Gemeinschaft. Der Handel mit Zinn (Bronzezeit) ist ebenfalls älter als jede gemeinsame Zivilisation. Dasselbe gilt für das primordiale Schmuckbedürfnis der Frau. b) Stammeskombinationen kommen in verschiedener Weise vor, so etwa Feldbauern- bzw. Wildbeuter-Jäger, Handwerker, Fischer, vor allem aber die bekannte Überschichtung der Feldbauern durch Hirtenkrieger. Auch diese letztere Kombination vollzieht sich überwiegend auf friedliche Weise, weil man sich gegenseitig braucht. Aber jede Kombination von Stämmen überwindet eine historisch früher vorhanden gewesene kriegerische Feindschaft. Mit der Stammeskombination zieht darum die Möglichkeit harter Auseinandersetzungen in das gesamte menschliche Leben ein, denn jede weitere Steigerung des gesellschaftlichen Lebens fußt auf der Kombination von Stämmen. 3. Daneben finden zwischen Stämmen überall auch Kriege statt. Die gefühlsmäßige Bereitschaft des Menschen zum Krieg müssen wir an anderer Stelle behandeln vgl. unten S. 184 ff. Es ist aber hervorzuheben, daß man von Krieg zwischen Menschen nur dann reden kann, wenn die Beteiligten sich wechselseitig auch als Menschen erkennen. Es dürfte aber ganz ausgeschlossen sein, daß z. B. Menschen des Typus Cromagnon die Neandertaler wirklich als Menschen erkannt hätten. Der angebliche Massenkannibalismus der in paläontologischen Funden bezeugt sein soll, beweist also für die kriegerische oder aggressive Natur des Menschen gar nichts. Höchstwahrscheinlich haben die Sieger die Besiegten nur als besonders gefährliche Tiere angesehen. Das geht in abgeschwächter Form in rezenten Rassen-Stammesauseinandersetzungen weiter. Bei letzteren kann aber die menschliche Gemeinsamkeit doch schnell erkannt werden und behindert dann weitere feindselige Haltung. Die viel erzählte Anekdote daß ein Indianerkind plötzlich weint, weil es das Leiden des am Marterpfahl gepeinigten Gefangenen als Leiden eines Mitmenschen erkennt und nun sagt, der Mensch weint ja, es tut ihm weh, mag sich wirklich ereignet haben. Die Folge soll dann Aufnahme in den Stamm gewesen sein. § 10. Einbindung durch Zwang

1. Die Einbindung des Einzelnen in das Gemeinschaftsleben geschieht im Zusammenleben der Einzelnen miteinander im sozialen Verband. Der Einzelne wäre von sich aus niemals in der Lage, den Weg in das Sozialleben zu finden, er muß sich einführen lassen und sich dann in der 9 Mayer

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sozialen Eingliederung erhalten. Dies geschieht im gegenseitigen Ausgleich und in wechselseitigem Druck und Gegendruck. Den Anfang macht dabei das Leben in der Familie, welches mit der Vorstellung von der Familien"erziehung" nicht richtig erfaßt wird. Davon wird später noch die Rede sein. Die Einordnung des einzelnen wird aber nicht selten mißlingen, weil die Vielfalt der auf den einzelnen wirkenden Antriebe schwer auszugleichen ist, weil außerdem schon das Stammesleben vielfach widersprechende Anforderungen stellt, in denen der einzelne seinen Weg nicht so leicht findet. Zwangsweise Einbindung ist also unentbehrlich. Dieser pädagogische oder gesellschaftliche Vorgang ist ein Spezifikum des Menschen im Zusammenleben. Im Tierverhalten finden sich nur wenige Ansatzpunkte. Anthropologisch ist hervorzuheben, daß schon der Kleinstamm bereit und gerüstet ist, den erforderlichen Zwang auszuüben, daß der einzelne auch gewöhnlich bereit ist, diesen Zwang zu dulden. Erst in der neuesten Geschichte des Menschen stellt sich der einzelne oder auch eine kleinere Gruppe bewußt gegen den gesellschaftlichen und rechtlichen Zwang. Der Einzelne bedarf zu dieser revolutionären Haltung einer ideologischen Begründung. Der individuelle Anarchismus des schlechthin Einzelnen gibt dem Menschen kaum die Kraft zum Widerstand. Wie relativ neu diese Erscheinung ist, beweist die Verlegenheit der Sozietät gegenüber dem Anarchisten. Die überlieferte Strafprozeßgesetzgebung und der überlieferte Strafprozeß versagen oft genug im Kampf gegen den Anarchisten. In der Regel kommt man aber mit den bisher entwickelten Möglichkeiten des Zwanges aus. 11. Die Bereinigung von Konflikten geschieht zunächst durch Ausgleich. Das Ausgleichsdenken beherrscht ohnedies das Sozialleben der primitiven Völker. Im Tausch wird gleich gegen gleich getauscht, wobei die Gleichheit natürlich nur eine Gleichheit der getauschten Werte ist, wobei die Wertgleichheit durch mehr oder weniger traditionelle Wertgleichungen festgelegt wird. Dieser Ausgleichsgedanke wird auch angewendet auf den Konflikt. Der durch den Konflikt entstandene Schaden oder die zugefügte Kränkung werden in Bußtaten eingeschätzt und durch Bußleistung entgolten. Ein solcher Ausgleich wird in primitiven Zeiten in weitestem Umfang geübt. Bei vielen Völkern, insbesondere bei den Germanen kann jede offene Gewalttat, vor allem auch die vorsätzliche Tötung, durch Bußleistungen gesühnt werden, sofern die verletzte Sippe diese Bußleistung anzunehmen bereit ist. III. Es bleiben indes Fälle übrig, in welchen die Person des Täters für die Missetat haftet.

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1. Im Tierverhalten finden wir das Ausstoßungsschema, welches durch bestimmte Signale ausgelöst wird. Als Signale kommen vor besondere Eigenarten des Individuums oder bestimmte Handlungen des Individuums. Bei Zugvögeln soll es vorkommen, daß ein abweichend gefärbter Vogel nicht in eine Flugformation aufgenommen, sondern getötet wird. Man denke an das mehr oder weniger legendäre Storchengericht. Inwieweit Fehlverhalten im Einzelfall zur Ausstoßung führen kann, ist m. E. noch nicht hinreichend untersucht. Bei den Simiae wird der Führer der Pavianherde angeblich zerrissen, wenn er die Herde in die Nähe von Raubtieren gebracht hat. Es kommt hier nicht auf die Einzelheiten, sondern nur auf die grundsätzliche Möglichkeit an.

2. Beim Menschen könnte die Eliminierung nur durch Ausstoßung aus dem Stamm oder durch Tötung vollzogen werden. Die Ausstoßung aus der Sippe oder Familie mag vorkommen, ausreichende Belege für einen solchen Brauch finden sich aber kaum, weil das Leben der Frühzeit weitgehend durch bedingungslose Sippensolidarität gekennzeichnet ist. Dagegen ist die Tötung durch gesamthänderisches Speeren hinreichend belegt. Eine mildere Form der Eliminierung ist die soziale Mißachtung. Der Mensch kann zwar notfalls ohne Liebe, niemals aber ohne Achtung durch die anderen leben. Er wird durch Mißachtung aus Vormenschenherde und Kleinstamm praktisch vertrieben und im Elend der Heimatlosigkeit umkommen. Man denke auch an die Ausschließung von religiösen Bräuchen, Verbot an der Opfermahlzeit teilzunehmen bis zur kirchlichen Exkommunikation bzw. bis zum protestantischen Chorgericht. Das System der öffentlichen Strafen bildet sich erst allmählich heraus, es verbindet den Gedanken des Ausgleichs mit der eliminierenden Strafe. Die Eliminierung kann durch Bußleistung vermieden werden (Halslösung). Die moderne Entwicklung kehrt seltsamerweise mehr oder weniger zur Eliminierung des Andersartigen zurück. Dies beginnt in erster Linie bei Lombroso, welcher den Straftäter als einen Menschen anderer Art betrachtet, sogar als geborenen Verbrecher. In milderer humanerer Form äußert sich derselbe Gedanke darin, daß man den Straftäter als grundsätzlich resozialisierungsbedürftig deklariert. Mit der anthropologischen oder sozialen Wirklichkeit hat diese Vorstellung wenig zu tun. Die meisten Straftäter unterscheiden sich kaum vom Durchschnitt, wohl aber erleiden sie durch das Erlebnis ihrer Straffälligkeit und das Stigma der öffentlichen Strafe eine mehr oder weniger schwere psychische Schädigung. Jedenfalls büßen sie meist mit der Bestrafung ihren sozialen Rangplatz ein. Die Vorstellung der grundsätzlichen Besserungsbedürftigkeit des Bestraften erschwert heutzutage ihre gesellschaftliche Einordnung. Der Bürger betrachtet den Strafentlassenen und prüft ihn, ob er resozialisiert sei. Das Prüfungs9·

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3. Kap.: Strukturgefüge des Sozialdranges

ergebnis ist meist negativ. Das Schema Schuld und Sühne machte es dem Bürger leichter, dem Mann, der seine Tat gesühnt hatte, eine neue Chance zu geben. Von äußerster Grausamkeit ist es, das künftige Verhalten des Täters vorausberechnen zu wollen und im Fall einer negativen Prognose ihn durch Dauerverwahrung zu eliminieren.

Viertes Kapitel

Selbstbehauptungsdrang, Strukturgefüge und soziale Leistungen § 11. Die menschliche Individuation

Wenn wir hi~r diejenigen Strukturelemente einer gesonderten Betrachtung unterziehen, welche vornehmlich der Betätigung und Behauptung des individuellen "Selbst" dienen, so begegnen wir wiederum der uns bekannten Schwierigkeit, daß in der menschlichen Gesamtstruktur alles mit allem zusammenhängt, daß also unseren Abgrenzungs- und Ordnungsversuch~n eine gewisse Künstlichkeit anhaftet. Schon deshalb kann bei diesem Unterthema nicht etwa der Versuch unternommen werden, den Ausbau der menschlichen Persönlichkeit nachzuzeichnen, welche eben nur aus der Gesamtstruktur des Menschen zu verstehen ist. I. Das Phänomen der Individuation stellt lution dar.

ein~

neue Stufe der Evo-

1. Der Vorgang der Individuation beginnt in der Evolution der Organismen überhaupt. Es liegt unserem Denken nahe, dahinter ein gestaltendes Prinzip anzunehmen. Es ist der Naturwissenschaft aber noch nicht gelungen, den Vorgang abzuleiten und überzeugend zu erklären. In Auswirkung ~iner heuristisch unterstellten Tendenz gelingt im Tierreich die Bildung relativ selbständiger Einzelwesen. Der Mensch gelangt darüber hinaus zu seinem "Selbst". Damit ist eine neue Stufe der Evolution erreicht. Die Individuation verarbeitet dabei die Gesamtstruktur des Menschen. Insbesondere ~ntstammen die großen geistigen Leistungen des Menschen dem subjektiven Geist, alles was am Menschen liebenswert ist, entstammt jedoch der gefühlsmäßigen Bestimmung und Verbundenheit des Stammeswesens. Dem naiven Denken erscheint die Außenwelt als eine Anhäufung von "tastbaren" Einzeldingen, denn auch das Sehen ist doch nur eine Steigerung des Tastsinnes. Die Erfahrung korrigiert das naive Bild indem sie die Teilbarkeit, Divisibilität der meisten Dinge nachweist. Damit zerfällt die Einheit der Welt. Schon das antike Denken will diese Einheit wieder herstellen, in dem sie hinter diesen im Wortsinn individuellen Dingen das "substantielle", zugrunde liegende "Sein" aufspürt. Die christliche Philosophie des Mittelalters knüpft an diese Fragestellung an. Im sog. Universalienstreit haben

134 4. Kap.: Selbstbehauptungsdrang, Strukturgefüge und soziale Leistungen die Realisten - vereinfacht gesagt - den allgemeinen Begriffen richtiger der durch Allgemeinbegriffe erfaßten Wirklichkeit, z. B. der Gattung, das wahre Sein zugesprochen. Die Nominalisten wollten aber nur den Einzeldingen Realität, Sein zubilligen, betrachteten dagegen die Allgemeinbegriffe als bloß Nomina, Benennungen. Der moderne Positivismus auch der NeoPositivismus setzen die nominalistische Denkrichtung fort. Nun hat freilich die moderne Physik außer Zweifel gestellt, daß es in der anorganischen Natur keine Einzeldinge gibt, daß alle den Menschen als diskret erscheinenden Dinge doch nur Kraftfelder von stärkerer oder geringerer Dichte sind. Jeder Röntgenstrahl, wenn er nur denken und reden könnte, würde uns schnell darüber belehren. Daher muß der Nominalismus sich zum Begriff der Existenz flüchten. Sprachlich ist die Existenz das, was aus dem Meer der Substanz auftaucht und bald wieder vergeht. Dies mag zur kritischen Frage führen, ob nicht der Existenzialismus der Existenz und zwar zweifellos gerade der im Hegeischen Sinn schlechten Existenz einen befremdenden Rang zuspricht. Dagegen ereignet sich in der organischen Natur eine fortschreitende Individuation. Sie beginnt auf niederer Stufe bei den Einzellern, deren Bestandteile in einer echten Aktionseinheit fest verbunden und durchgängig aufeinander bezogen und nicht wie Sandkörner im Sandhaufen bloß angehäuft sind. Die Individuation steigert sich bei den Pflanzen. Zwar können alle Pflanzenarten sich noch gewissermaßen in Ablegern vermehren, ohne daß ein geschlechtlicher Fortpflanzungsakt dazwischentreten muß. Selbst aus dem Strunk der Eiche, sei sie im Urwald niedergebrochen, oder im Forst von Menschenhand gefällt, sprossen noch neue Zweige und Wurzeln, setzen also das organische Leben unmittelbar fort. Aber die Bedeutung der geschlechtlichen Fortpflanzung, welche neue Individuen entstehen läßt, wächst doch auch im Pflanzenreich. Wir wollen diese Entwicklung nicht im einzelnen verfolgen, sondern nur das Endergebnis feststellen. Die höheren Säugetiere sind jedenfalls selbständige, abgeschlossene, unwiederholbare Aktionszentren, also im biologischen Sinn echte Individuen, die sich auch nicht mehr teilen lassen wie etwa der Regenwurm. Es darf freilich nicht übersehen werden, daß zugleich das höhere Tier wie jedes andere organische Gebilde doch nur Ausformung der allgemeinen organischen Substanz ist. Seine Gestalt erlangt das höhere Tier durch die gattungsmäßig festgelegten Erbinformationen. Die Gattung ist also nicht nur eine logische Kategorie, sondern sie hat wie die mittelalterlichen Realisten richtig sahen, ein höchst reelles Dasein. 2. Im Menschen verbindet sich die animalische Individualität mit dem Selbst. Dieses Selbst ist keineswegs gänzlich neu. Der erwachende Geist ist bereits im höheren Tier am Werke und wird in der Lebensgemeinschaft der Haustiere mit den Menschen besonders deutlich gemacht. Zwischen Kind und Hund als Spielgefährten, zwischen Reiter und Pferd ist eine Kommunikation des Gefühls zu beobachten, um nur einige Beispiele anzuführen. Das Selbst ist als etwas Gewordenes im Zusammenhang der Evolution zu denken. Es bleibt auch fernerhin den Gesetzen der Evolution unterworfen. Das unbewußte Leben der Menschen, welches die Basis seines Daseins ist, ist also nur im Vergleich mit dem unbewußten Leben der höheren Tiere zu verstehen. Es darf nicht abgelöst vom Evolutionszusammenhang aus dem späteren psychischen Zustand des zum Selbst

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erwachten Menschen rückwärts gedeutet werden. Insbesondere kann der Mensch nicht menschlich träumen, bevor er zum bewußten Selbst erwacht ist. Dem Erwachen des Selbst können wir beim Säugling gewissermaßen zusehen. Erst mit dem wirklichen Erwachen des Selbst ist aber die neue Stufe der Evolution endgültig erreicht. Verstehen wir so das Selbst im Zusammenhang des evolution ären Werdens, so wird sofort klar, daß die spezifische Individuation des Menschen ständig bedroht ist, eine für den Kriminologen entscheidende Einsicht. 3. Eine ausgeführte systematische Lehre vom Selbst kann nur die Philosophie geben. Nur sie kann die Frage stellen und beantworten, inwieweit das Selbst zugleich im organischen Zusammenhang und im Reich der Freiheit lebt. Der Verfasser will der Ehrlichkeit halber bekennen, daß er heute noch die Antwort Kants auf diese Frage für prinzipiell richtig hält. Indes genügt dem pragmatisch verfahrenden Krimino logen (Sozialanthropologen) zu beobachten, wie das Selbst sich erlebt und wie es sich äußert, insbesondere in der für die Sozialanthropologie wesentlichen Richtung. Wir verzichten also bewußt auf eine umfassende Darlegung über das Selbst und geben nur nur einzelne Hinweise. Das Selbst ist zunächst Bewußtsein, es erlebt sich als besondere Entelechie. Es bedarf aber der ständigen Selbstbestätigung, um sich nach außen als besonderes Ich abgrenzen zu können. Das theoretische Bewußtsein verbindet zugleich mit den anderen Menschen, damit verändert es die Gefühlserlebnisse durch gedankliche Abgrenzung und Bestimmung und zwar mit Hilfe der Urteile, die sich in der gesellschaftlichen Kommunikation bilden. Das praktische Bewußtsein, der Wille, ist nicht etwa bloße Wollung, dies wäre ein bloßes GefühL Es ist vielmehr das zum Entschluß gekommene Bewußtsein als Ganzes. Der Wille setzt sich Zwecke und gelangt so zum zwecktätigen Handeln. Das Selbst ist außerdem Intelligenz. Diese ist freilich den verschiedenen Menschen in sehr verschiedenen Graden zugeteilt, wie die außerordentlichen Unterschiede in den Intelligenztests beweisen. Normwidriges Handeln kann in mangelnder Intelligenz seine Ursache haben. Sokrates hat nicht ganz unrecht, wenn er sagt, daß Tugend lehrbar sei. Das Selbst ist schließlich personale Vernunft, in welcher der Mensch die Verantwortung für sein Tun übernimmt. Diese Fähigkeit sich zu verantworten, ist für das Zusammenleben der Menschen ganz allgemein unentbehrlich und nicht nur etwa die Voraussetzung für die straf~ rechtliche Zurechnungsfähigkeit. Die menschliche Person ist schließlich Individuum, d. h. unverwechselbare Individualität. Der Begriff der Individualität gewinnt damit einen neuen, der ursprünglichen Bedeutung gegenläufigen Sinn.

136 4. Kap.: Selbstbehauptungsdrang, Strukturgefüge und soziale Leistungen H. Individuation enthält in sich das negative Moment der Absonderung von Vormenschenherde, Stamm und späterer Gesellschaft, welche der Abschirmung nach außen bedarf. Die Individuation beginnt mit dem Distanzverhalten welches wir schon bei Herdentieren beobachten können. Doch stehen diese Beobachtungen gerade bei den höheren in Herden lebenden Säugetieren noch sehr am Anfang. Insbesondere ist die Loslösung des Jungtieres von der Brutpflegegemeinschaft noch unerforscht. Sicher wissen wir, daß das todkranke Tier oder auch der nur geschwächte Boß die Herde zu verlassen pflegen und jedenfalls zuletzt allein sterben. Aber diese Beobachtungen gelten einer Grenzsituation, welche für das allgemeine Prinzip der Individuation nicht so sehr viel besagt. Pascal hat den Satz formuliert "je mourrai seul", aber dies weist bereits auf ein religiöses Problem hin. Der Tiervergleich könnte immerhin Beobachtungen über die Loslösung des Jungtieres aus der Brutpflegegemeinschaft beibringen. Allerdings geht wohl selbst bei den höheren Säugetieren der Zusammenhang zwischen älteren Tieren und Jungtieren bald gänzlich verloren. Es gibt aber immerhin Beobachtungen darüber, daß auch im späteren Lebensalter der Jungtiere möglicherweise der Inzest zwischen Elterntieren und Jungtieren vermieden wird. übrigens fallen auch Vögel nicht einfach aus dem Nest. Die Individuation des Menschen erfordert eine echte Verselbständigung gegenüber der Brutpflegegemeinschaft-Familie. Sie beginnt, wenn das Kind gelernt hat, Ich zu sagen, sich also auch im bewußten sprachlichen Ausdruck als individuelle Person Eltern und Geschwistern gegenüberstellt. Diese Verselbständigung zielt aber mindestens zunächst nicht auf Loslösung. In der heutigen Diskussion ist es üblich geworden, den Lebensabschnitt zwischen dem 2. und dem 4. Lebensjahr als Trotzalter zu bezeichnen. Damit wird aber das Phänomen zu einseitig, sachlich zu begrenzt und zeitlich zu eng gesehen. Es ist bedeutsam, daß William Stern in seiner großartigen Kinderpsychologie den Ausdruck Trotzalter noch gar nicht verwendet. Die Neigung zum Neinsagen beruht doch zunächst nur darauf, daß das Kind die Fähigkeit Nein zu sagen als Fähigkeit zur Unterscheidung erlebt. Hätten Vater und Mutter die allerdings übermenschliche Fähigkeit, die Zeichen der Selbständigkeit befriedigt aufzunehmen, so käme es vielleicht gar nicht zum Trotz, welcher eben aus der Reaktion entsteht. Sicher ist, daß die kriminologisch wichtigen Erscheinungen der Loslösung später viel deutlicher hervortreten, so im Weglaufen der Kinder, welches ja oft genug beschrieben und besungen worden ist. "Hänschen klein, ging allein, in die weite Welt hinein." Die mittelalterliche Rückständigkeit der angelsächsischen Justiz, welche auch Kinder dem Strafrichter unterwirft, hatte doch den Vorteil, daß die Jugendverfehlung - run away - kri-

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minologisch oft untersucht worden ist. Die Psychoanalyse Freuds beschreibt die Vorgänge unter dem Schlagwort der ödipalen Phase. Die Schutzwehr der humanen Individuation ist die Scham. "Die ersten Entwicklungsstadien der Scham haben beim normalen Kinde in keiner Weise - weder direkt noch indirekt - mit der Sexualsphäre etwas zu tun, wie die Psychoanalytiker um Freud behaupten, sondern beziehen sich auf völlig andere Gebiete." Dieser Feststellung William Sterns ist zuzustimmen. Die Scham ist voll und stark ausgebildet, bevor sie die zusätzliche Aufgabe übernehmen kann, die geschlechtliche Intimsphäre, in welcher Stürme der Triebhaftigkeit toben können, nach außen so weit abzuschirmen, daß die Individuation erhalten bleibt. Dies belegt auch die ethnologische Beobachtung, welche aufzeigt, daß die Scham in den verschiedensten Lebensbereichen mehr oder weniger willkürlich nach den jeweiligen sozialen Anschauungen verwendet wird. Die Scham verbirgt alles das, dessen der Mensch sich zu schämen hat; alles was er anderen nicht preisgeben will. Die Neigung schamhafter Abschließung ist bei Völkern und Rassen verschiedenartig. Aber man wird doch annehmen dürfen, daß die seltsame Lust an schamlosen Schuldbekenntnissen, wie wir sie bei gewissen angelsächsischen Sekten, aber auch bei slavischen Völkern finden, mehr sozial anerzogen als angeboren ist. Gewiß scheint mir, daß diese Lust zur Selbstentblößung die Individualität gefährdet, jedenfalls ihre Verteidigung nach außen unmöglich macht. Der Krieger schämt sich der Anwandlung der Feigheit, daher kommt die Prahlsucht des miles gloriosus. Eine Steigerung der Scham ist das Verlangen nach Einsamkeit, welches als Verlangen nach zeitweiliger Einsamkeit wohl keinem Menschen ganz fremd ist und in der Pubertätsentwicklung des jungen Mannes eine große Rolle spielt. Wird die jeweils gewünschte Distanz eingeengt, dringen Fremde in den seelischen Distanzraum ein, so können chronische oder akute Reizzustände die Folge sein. Abwehrakte dürfen dann nicht als Entladungen von Aggressionszuständen mißdeutet wer"' den. Das Recht hat zu allen Zeiten das Distanzbedürfnis des Menschen anerkannt und schützt den Distanzbereich als einen Freibereich, namentlich durch den Schutz der Wohnung und des Privatgeheimnisses. In Intimbeziehungen namentlich im Familienleben müssen die Menschen sich sehr nahe kommen. Dies ist nur solange erträglich, als die Beziehungen hinreichend emotional erfüllt und getragen sind. Erkaltet das Gefühl, so wird die nunmehr unerwünschte Nähe als beklemmend empfunden. Daraus erklären sich viele sonst unverständliche Haßreaktionen - Tacitus berichtet als Merkwürdigkeit, die Germanen ertrügen es schlecht, in Städten oder auch nur in größeren geschlossenen Siedlungen zu wohnen, was die im Mittelmeerbereich wohnenden Zeitgenossen des Tacitus offenbar gut ertrugen. Sicherlich sind hier rassische, aber auch historische Unterschiede vorhanden. Es scheint so, als ob auch der langobardische Eroberer sich ein städtisches Leben nur schwer vorstellen konnte. Die mittelalterlichen Geschlechterfehden

138 4. Kap.: Selbstbehauptungsdrang, Strukturgefüge und soziale Leistungen in den italienischen Städten, die ungeheuerliche Kriminalität der Renaissance in Italien können so eine seelische Begründung finden. Aus der Selbstbeobachtung möchte ich immerhin zum gesamten Themenkreis folgendes mitteilen. Zur Volksschule ging ich mit meinem Vater den größten Teil des Weges gemeinsam. Kurz vor der Schule bog er dann zur Universität ab. Wir hatten ein sehr zärtliches und ungetrübtes Verhältnis, um so mehr als meine Mutter zwei Jahre vor meiner Schulzeit an schwerer allgemeiner Sepsis erkrankt war und einige Jahre sich sehr passiv verhielt. Diesen Weg habe ich geradezu gefürchtet, denn mein Vater neigte dazu, mir beim Abschied den Kopf zu streicheln und zu sagen: "Gott behüt' dich, Büble." Diese Profanation des Gefühls war dem Siebenjährigen unerträglich, obwohl kaum jemand diese Abschiedsszene beobachten konnte. Das Streicheln habe ich meinem Vater auch abgewöhnt. Die Scham des Kriegers, seine Schwächen zu offenbaren, hat Tolstoi zu dem Satz veranlaßt: "Es ist schwer, vom Krieg zu erzählen, ohne zu lügen." Die Scham bezieht sich ja auch auf die Schwächen der Kameraden und der eigenen Einheit. Diesen Satz fand ich wieder, als ich nach dem Polenfeldzug an der Demarkationslinie am Narew stand und mir durch einen Versorgungswagen von Allenstein aus "gute" Literatur besorgen ließ; die Bemerkung Tolstois erfreute nicht nur mich alten Hasen, sondern auch meine drei jungen Leutnants. Als wir dann einmal mit den Offizieren des Regiments zusammenkamen, erregte mein Zitat allgemeinen Jubel, allerdings auch die skeptische Antwort: "Wer angibt, hat mehr vom Leben." Es ist übrigens schwer vorstellbar, daß der Krieger im Bewegungskrieg schnell vorwärts käme oder in der Materialschlacht ausharren könnte, würde er ständig auf seine eigene Schwäche reflektieren. Das Bedürfnis nach Einsamkeit hat seine eigentümliche Dialektik, die ich im Wandervogel der Vorkriegszeit gut beobachten konnte. Hat sich der "Baccalaureus" Goethes glorreich in seiner titanischen Einsamkeit verselbständigt, so ist er in der neu gewonnenen absoluten Leere seines Geistes zu ekstatischer Vereinigung mit anderen Auserwählten jederzeit bereit. III. Die Individuation im Selektionsgeschehen. Wird der Mensch sich seines Selbst bewußt, so reflektiert er in seiner ersten naiven "Aufklärung" naturgemäß auf sein höchst subjektives Ich. Zu Beginn des menschlichen Denkens liegt der Irrtum nahe, daß der Mensch im Grunde ein Einzelwesen sei, das man aus seiner Ursituation verstehen müsse. Diese Ursituation sei durch den Kampf der Einzelwesen ums Dasein primär bestimmt. Aus dieser Einstellung heraus hat ein unaufgeklärter Sozialdarwinismus großes Unheil gestiftet und die Inhumanität gepredigt. Was fallen wolle, solle man auch noch stoßen. Ob dieser Satz Nietzsches richtig oder falsch gedeutet wurde, mag dahingestellt bleiben. Die wahre Ursituation des Menschen ist, daß er sein Dasein nur im Lebensverbund mit seiner gens (Vormenschenherde, Kleinstamm, spätere Ersatzformen) hat. Vom Widerstand gegen die Naturrnächte über den einfachen Feldbau bis zu Jagd und Fischfang einschließlich ihrer gesteigerten gefährlichen Formen bis zur Abwehrjagd gegen Raubtiere und schließlich bis zum extragentilen Widerstreit gegen andere Men-

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schengruppen ist die ursprüngliche gens auf zuverlässige Solidarität der Stammesgenossen angewiesen, ob Mann oder Weib, ob groß oder klein, ob stark oder schwach. Jene gens, welche intragentil am besten zusammenhält, überlebt im Lebenskampf. Die basale Triebstruktur des Menschen ist daher auf friedliches Zusammenleben in der gens angelegt. Damit scheint jede intragentile Auslese problematisch, aber die gens bedarf in der gefährdeten Lage in Urzeiten gerade auch starker Individuen. Es ist zwar eine alte Lebensweisheit, daß Einigkeit stark macht, nur kann man bloße Nullen schlecht zur wirkenden Zahl addieren. Die Selektion erzeugt starke Individuen auf doppeltem Wege. Der Königsweg ist zunächst die extragentile Auslese. Jene gens, welche im Zufallsspiel der Mutation eine hinreichende Zahl starker Individuen herausgebildet hat, überlebt natürlich besser. Daneben mögen, ja müssen, die schwächeren erhalten bleiben. Sie bilden nicht nur den unentbehrlichen Mörtel zwischen den groben Feldsteinen der starken Individuen. Der Satz des Dichters: Daß sich ein großes Werk vollende, genügt ein Geist für tausend Hände, lehrt abgesehen von der Übertreibung, daß der "große Geist" sich im allgemeinen der schmutzigen Handarbeit nicht so gerne annimmt. Schwieriger ist die Frage der intragentilen Auslese zu beantworten. Sie tritt in archaischen Zeiten jedenfalls hinter dem Zusammenhang des Stammes zurück. Später gilt normalerweise das Prinzip des Wettstreits, nicht des eigentlichen Widerstreites. Dieser Wettstreit ist allerdings nur dann selektionswirksam, wenn der durch den Wettstreit erreichte bessere Rang die Fortpflanzungschancen des stärkeren erhöht. Dieser genetische Vorteil tritt in ursprünglichen Zeiten sehr schnell ein, wenn der jeweilige Lebensraum ausgefüllt ist. Im Deutschland des Tacitus konnten unter den damals bekannten Produktionsverhältnissen nur sehr wenig Menschen leben, insofern war der Raum vollkommen ausgefüllt. Das germanische Sippendorf kannte nur eine kleine Zahl von Ansiedlungsstellen. Wer nicht in die kleine Zahl der Bauern einrückte, konnte nicht heiraten. Dem entspricht wohl die Tatsache, daß in ursprünglichen harten Lebensverhältnissen der Schwächling Last und Verantwortung für eine Frau und für Kinderaufzucht gar nicht übernehmen kann und will. In zivilisierten Zeiten erscheint die Begrenzung von Ansiedlungsstellen (Kein Hüsung) als unmenschliche soziale Härte. Aber die Enge des Raumes erzwingt zu allen Zeiten eine Begrenzung. Niemals ist für alle Platz, welche geboren werden könnten. Die gegenwärtige glückliche Lösung, daß alle heiraten dürfen, aber möglichst nur zwei Kinder in die Welt setzen sollen, ist auch in der Spätantike ausprobiert worden, wenn auch nicht in unserer Deutlichkeit. Gute Fortpflanzungsmöglichkeiten bietet aber nur die Ehe, die

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besten die Einehe, denn nicht die Unzucht, sondern nur die Ehe bevölkert die Erde (Bernard Shaw). Paarungskämpfe nach Art der Hühnervölker gibt es beim Menschen nur in sehr dürftigen Ansätzen. Die natürliche Zuchtwahl kann sich beim Menschen nur indirekt über die besseren Wettbewerbschancen der tüchtigeren Eltern auswirken. In gesunden Sozialverhältnissen haben eben tüchtigere Eltern mehr Nachwuchs. Das Gleichheitsprinzip wird auch in diesem Punkt bald zum letalen Ende führen. IV. Die Individuation fordert vom Menschen eine Anstrengung, wie sie sonst keinem Lebewesen zugemutet wird. Das Herdentier soll sich aus der Herde heraus zu einem relativ selbständigen Dasein erheben. Der Mensch soll dies sogar bewußt tun und soll diesen bewußten Willen durch das ganze Leben bis zur Agonie des Sterbens festhalten. Dies macht nicht unbedingt Spaß. Nur das Kind, welches in der Trotzphase das Geschenk der Individuation überschätzt und mit dieser Gabe spielt, findet daran ungebrochene Freude. Der Erwachsene, noch mehr der Heranwachsende, kann der Anstrengung durch ekstatisches Verhalten, ausweichen, vgl. unten Kapitel VI. In vielen Fällen flüchtet er in die Selbsttötung oder in den Verzicht auf Fortpflanzung. Verhältnismäßig leicht unterwirft er sich totalitären Mächten, welche die Freiheit der Individuation austilgen. The peoples vote away their liberty, möglicherweise in freien demokratischen Wahlen. Auch die Vorbereitung, oder mangelnde Vorbereitung auf den eigenen Tod, muß unter diesem Gesichtspunkt gesehen werden. Die damit angesprochenen Lebensprobleme nehmen in der historischen Entwicklung sehr verschiedenartige Gestalten an und finden auch historisch verschiedene Lösungen. Wir können hier nur die grundsätzlichen Möglichkeiten besprechen. 1. Der vitale Lebenswille reicht nur unter zusätzlichen Bedingungen aus, um die Desertion aus dem Leben zu verhindern. Wir können nur einige Gesichtspunkte hier nennen; Not, wenn sie überhaupt zu überwinden ist, stärkt die Kraft des Lebenswillens. In der furchtbaren Notzeit Deutschlands nach dem zweiten Weltkrieg rafften sich die meisten Menschen zusammen, um diese Not für sich, für ihre Kinder, vielleicht auch für ihre Nachbarn und das ganze Volk zu beseitigen. Nur eine kleine Minderheit wählte den Ausweg der Selbsttötung. Theodor Geiger meint zwar, auf das Leben wolle niemand verzichten, wobei seine Kriegserfahrung mitspricht, daß feiges Ausweichen vor dem Heldentod doch sehr naheliegen kann. Geiger vergißt aber, daß gerade der Kampf alle Lebenskräfte steigert, das Leben auf einmal besonders wertvoll erscheinen läßt und so den Menschen vor die Entscheidung stellt, ob er mutig oder feige sein will.

§ 11.

Die menschliche Individuation

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2. Die Desertion aus dem Leben, sei es als Selbsttötung, sei es als Verzicht auf die Fortpflanzung, ist ein Kennzeichen später Hochkulturen, welche den Stand gesteigerter Intellektualisierung erreicht haben. Die antike Philosophie hat die Selbsttötung als Freiheitsgarantie gepriesen. In der Bildungsschicht sowohl der Stoiker wie der Hedonisten spielte die Selbsttötung eine große Rolle. In der Gegenwart soll der Literat Hemingway sein Selbstmordvorhaben damit begründet haben, daß er eben auf seinen Spaß im Bett und auf seine sonstigen Freuden nicht verzichten wollte und aus dem Leben scheide, wenn er sie nicht mehr haben könne. Inwieweit in der Antike diese Desertionshaltung der Oberschicht auf die breiten Massen übergriff, ist nicht geklärt. Sicherlich spielte die Lebensmüdigkeit vieler Menschen beim Untergang des weströmischen Reiches eine gewisse Rolle, denn die Bevölkerung verzichtete weitgehend auf Fortpflanzung, obwohl ihr die Empfängnisverhütung durch Pillen nicht bekannt war. Entscheidend ist bei diesen Vorgängen immer die intellektuelle Erkenntnis, daß man irgendwie die Empfängnis verhüten und das Vergnügen behalten kann, daß man sich also nicht fortpflanzen muß. 3. Um die Desertion aus dem Leben zu verhüten, muß das Leben als Wert erscheinen. Dies reicht aus, um den vitalen Willen hinreichend zu verstärken. Für die breite Masse wird dabei die religiöse Anleitung entscheidend sein. In der Antike überlebten zuletzt die Anhänger des Christentums, welche das Schöpfungsgebot der Fruchtbarkeit als elementare Pflicht erlebten. Albert Schweitzer hat gemeint, daß das menschliche Denken zu einer pessimistischen Lebenshaltung neige. Dieser Neigung hat vor allem die Hochkultur Indiens im Buddhismus nachgegeben, hat diesen aber später wieder ausgerottet. Der bloße Lebensoptimismus hilft nicht so leicht weiter, weil er den Menschen unkritisch macht, dadurch in spätere Enttäuschungen drängt und so wiederum Pessimismus hervorruft. Am erfolgreichsten erwies sich die christliche Religion, welche das zeitliche Leben als Bewährungsprobe für die Ewigkeit auffaßt und dadurch sowohl kritischen Pessimismus gegenüber der jeweiligen Lebensform ermöglicht als auch dem so kritisch betrachteten Leben doch einen gottgesetzten Wert zuspricht. In der gegenwärtigen nachchristlichen Periode spricht die Jugend vielfach dem Leben allen Wert ab und flüchtet weithin in den Genuß, in Rausch und Drogen. Weist man auf die lebensverkürzenden Wirkungen der Drogen hin, so können junge Menschen antworten, ich will ja gar nicht über 30 Jahre alt werden. Die Desertion aus dem Leben als Ergebnis des Wertverlustes schwächt ganz allgemein die soziale Leistungsfähigkeit. Selbsttötung im Gefühl allgemeinen Wertverlustes ist zu allen Zeiten vorgekommen. So berichtet v. Eickstädt von einem Indianerstarnm,

142 4. Kap.: Selbstbehauptungsdrang, Strukturgefüge und soziale Leistungen der kollektiven Selbstmord begangen hat. Bei Kriegsende gingen 1945 im Deutschen Osten ganze Bevölkerungsgruppen in einen See, weil sie das Leben für sinnlos hielten. Ein Fall dieser Art in Mecklenburg ist dem Verfasser bekannt. Aber es war doch nur eine Minderheit, welche vor dem Leben floh. Die meisten nahmen die Not als Ansporn und wollten sie durch harte Anstrengung überwinden.

4. Kriminologisch ist zu bemerken, daß jeder potentielle Selbstmörder auch ein potentieller Mörder ist, nicht deshalb, weil Selbstmord und Mord gleichermaßen eine Äußerung des Aggressionstriebs wären, sondern weil der Selbstmörder nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch das Leben der Anderen geringschätzt. So sind wohl manche Taximorde zu erklären, welche zeitweise wie eine Seuche auftraten. § 12. Selbstbehauptung im Dasein und Wohlsein

Der Mensch strebt nicht nur danach, sein "Dasein" äußerlich zu erhalten, er verlangt auch nach "Wohlsein", er will endlich Auswirkung und Betätigung seines Selbst, von letzterem im nächsten Paragraphen. Wie alle organischen Wesen erhält sich der Mensch großenteils durch Verhaltensweisen, deren er sich gewöhnlich gar nicht bewußt wird, wie Atmung, Stoffwechsel, Wundheilung usw. In allem diesem unbewußten Tun hilft sich der Organismus, der Zellenstaat allein, ohne den subjektiven Geist zu bemühen. Nur in begrenztem Umfang kann sich das Bewußtsein dieser Vorgänge bemächtigen. In Indien sind in dieser Beziehung durch die Yoga-Praxis erstaunliche Resultate erzielt worden. Überwiegend wirkt allerdings die Einmischung des Bewußtseins in die Selbstregulierungsvorgänge des Organismus nur störend, was gegen Übertreibungen psychosomatischer Medizin spricht. Alle der Selbstbehauptung innerhalb der Sozietät dienenden Verhaltensweisen werden dagegen bewußt erlebt als Gedanken, Strebungen, Gefühle, Triebe. Triebe sind bewußte Instinkte. Wir betrachten diese Verhaltensweisen zunächst als physiologische Strukturelemente, begleiten sie bis in ihre höheren Stufen und Ableitungen, in denen sie durch den subjektiven Geist geformt, gezähmt und durchgestaltet werden. Diese bewußte Ausformung der physiologischen Strukturelemente kann eine doppelte Wirkung haben. Sie ermöglicht dem Menschen harten, bewußten und planenden Egoismus, sie ermöglicht aber auch Triebbeherrschung und Triebverzicht. Beides ist dem Tier nicht mög~ lich. Jedes menschliche Zusammenleben, jede personale Selbstgestaltung arbeitet auch mit den Mitteln des Triebverzichtes. Auf Dasein und Wohlsein zielen die sog. unteren vitalen Dränge, Nahrungs- und Genußtrieb, Geschlechtstrieb und Gefahrabwehrtrieb,

§ 12. Selbstbehauptung im Dasein und Wohlsein

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wobei wir auch ihre sekundären Ableger betrachten. Alle diese Dränge richten sich beim Menschen primär nur auf die Erhaltung des eigenen Ich und des eigenen Wohlseins bzw. der sympathieverbundenen Menschen, sind also frei von aggressiven Tendenzen. Erst sekundär werden sie möglicherweise aggressiv gegen andere Menschen, sofern dies zur Triebbefriedigung oder zur Abwehr erforderlich wird. 1. An erster Stelle steht der Hunger, der erlebte Ernährungsinstinkt. Er gilt mit Recht als einer unserer Grundtriebe. Der Säugling ernährt sich wohl einfach vermöge eines Saugreflexes, das Kind, erst recht der Erwachsene essen und trinken zur Befriedigung von Hunger und Durst. So mächtig diese Triebe auch sind, so sind sie doch durchaus sozial" unschuldig", wie dies Tolstoi immer wieder hervorhebt.

1. a) Das einfache Ernährungsverhalten des Menschen gleicht dem der pflanzenfressenden Huftiere, welche in Herden zusammen weiden. Finden Rinder und Equiden beim Weidegang genügend Raum und Distanz, so weiden sie friedlich nebeneinander. Nur im künstlichen Stall, den der Mensch erbaut hat, gilt der Satz: "Wenn de Kripp leer ist, bieten sich de Pier." Auf freier Weide ist ein Verdrängungskampf innerhalb der Herde, der um die Nahrung geführt würde, kaum denkbar. Dies ist nicht bei allen Tieren so. Vögel bemächtigen sich der Nahrung vermöge eines Beutebemächtigungs- und Beuteverzehr-Reflexes. Daher jagen sie sich auch die Beute gegenseitig ab. Man sieht das am besten, wenn man Möven füttert, aber es ist im Grunde bei allen Wasservögeln und auch bei Hühnern nicht anders. Daher herrscht bei den Hühnern die vielbesprochene Hackordnung, obwohl die Hühner kaum Hunger empfinden, daher auch des Futterneides wahrscheinlich nicht fähig sind. Der angebliche Futterneid des Hundes, der das Futter in seiner Schüssel oder den zugeworfenen oder erjagten Knochen verteidigt, sollte richtiger als Fortbildung des Heiminstinkts verstanden werden.

b) Der Mensch kann seinen erlebten Hunger bezähmen, sogar seine Hungerration mit anderen teilen. Das Ausmaß dieser Fähigkeit hängt vom Grad des erlernten Triebverzichts und überhaupt von der geistigen Selbstbeherrschung ab. Hunger des einzelnen erregt auch an sich noch keine Aggressionslust gegen den Satten. Nur in Extremsituationen kommt es zu Hungerrevolten und Plünderungen, in Hungerlagern gelegentlich sogar zum Kannibalismus. In solchen Fällen dürfte aber Lebensangst, also Gefahrabwehrverhalten mit im Spiele sein. Andererseits sind aus dem ersten Weltkrieg, als England sich bemühte, die Bevölkerung der Mittelmächte auszuhungern, ja sogar von Teilerfolgen in der Presse genüßlich berichtete, in Deutschland zahlreiche Fälle belegt,

144 4. Kap.: Selbstbehauptungsdrang, Strukturgefüge und soziale Leistungen daß Menschen in treulicher Befolgung der Rationierungsvorschriften allmählich verhungert sind. Gegen diese unsere Auffassung, daß der Hunger zunächst sozial unschuldig ist, scheinen einige Beobachtungen zu sprechen. Bekannt ist das Tellergucken der Geschwister oder gemeinsam essender Kinder überhaupt. Diese Verhaltensweise ist aber vom Hunger oder auch Genußbedürfnis weitgehend unabhängig. Sie funktioniert auch, wenn die Kinder gesättigt sind. Maßgebend ist dabei vielmehr das im Kinder~ verhalten sich stark auswirkende Verlangen nach Gerechtigkeit, vor allem nach gleicher Liebe. Dieses Verlangen wirkt auch umgekehrt. Mindestens gutartige Kinder erbitten auch für ihre Geschwister oder Spielgenossen "Für X auch, für Y auch, für Z auch" usw. die ganze Reihe hindurch. Im frühen Mittelalter mußte der Truchseß (Trustis, druht, drott = Gefolge - und seß) genau auf die rangrichtige Sitzordnung beim Mahl des Gefolgsherrn achten. Dabei bekamen die Vornehmen zuerst und damit vielleicht die besten Stücke, aber die "Milde" des Fürsten mußte auch die unteren Ränge reichlich versorgen. Wer zuerst bekam, war also damals "vornehm", denn er nahm wirklich zuerst. Heute gilt ein solches Verhalten gar nicht als vornehm, dennoch hat Nietzsche dies seltsame Wort besonders kultiviert. Bezeichnend ist aber, daß bereits in den lateinischen leges barbarorum der Sinn des Amtes gar nicht mehr begriffen wird. In diesen wird Truchseß als dapifer, also gewissermaßen Oberkellner oder bestenfalls Verpflegungsoffizier übersetzt. Die Sitzrangordnung ist also Ehrenvorrecht, aber freilich erzwingt die Ehre äußerlich denselben Erfolg, wie die Hackordnung. Hungerkriege, d. h. Kriege um Weideplätze und Jagdgründe führt der Stamm. Sie sind also im extragentilen Bereiche eine normale Erscheinung. Hungermotivierte Klassenkämpfe sind viel seltener als man denkt, weil sie den intragentilen Zusammenhang aufheben würden. Es ist geradezu erstaunlich, mit welcher Duldsamkeit, ja Fatalismus hungernde Gruppen in primitiven Verhältnissen ihr Los tragen. Dies hat freilich auch praktische Gründe. Revolutionen können nämlich nur von relativ gut ernährten Menschen durchgeführt werden. Zwei schlechte Ernten vor der französischen Revolution mögen die an sich vorhandene Neigung zum Aufruhr angeheizt haben, aber Mißernten führen nur selten akuten Hunger herbei. Jedenfalls könnten Hungerskelette keine Bastille stürmen und keine Schweizer Garden abschlachten. Ein hartes Regime wird immer erst dann angreifbar, wenn es sich mäßigt. Der Hunger ist freilich ein außerordentlich wirksames Argument in revolutionärer Agitation, wenn die Einheit einer Bevölkerung bereits aus anderen Gründen zerstört ist. Im Weltkrieg I hörte man mit zunehmender Kriegsmüdigkeit, welche sicherlich mit Verschlechterung der Truppenverpflegung zusammenhing, im-

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mer häufiger den Landservers: "Gleiche Löhnung, gleiches Essen, wär der Krieg schon längst vergessen." Aber dieser Spruch denunziert doch nur den Durchhaltewillen der Offiziere als verdienstlose Konsequenz ihrer angeblich besseren Versorgung. Der Vers drückt nicht einmal echten Neid aus, auch wußte die Mannschaft, daß die kleine Zahl der Offiziere in den wenigen Tagen getrennter Verpflegung - Kasinos gab es doch an der Front gar nicht - die Mannschaftsverpflegung gar nicht ernstlich beeinträchtigen konnte. Das Schlagwort vom "Diebstahl an der Mannschaftsverpflegung" hat erst in der nachträglichen Literatenhetze gegen die Offiziere größere Bedeutung gewonnen. Ursächlich war hier weniger der Futterneid als vielmehr der Neid des Literaten gegenüber Rang und Ruhm des vorkämpfenden Kriegers. Tucholski wollte sogar die unverhältnismäßig hohen Blutopfer der Offiziere zum Berufsrisiko herunterspielen, obgleich er wissen mußte, daß die Masse der Offiziere Wehrpflichtsoldaten waren wie alle anderen. Diese Agitation erreichte 1919 ihren Höhepunkt, verblaßte aber von 1920 an überaus schnell, weil die Masse der einfachen Soldaten sich der Vorgänge von 1918 schrecklich schämte. Diese Scham führte sie leider in die Hände Hitlers. Im Weltkrieg II war gesonderte Offiziersverpflegung verboten. Dies Verbot war zwar nützlich, große Bedeutung für den Geist der Truppe hatte es nicht. 2. Gefährlicher und konfliktträchtiger ist das Verlangen nach Genußmitteln. Die Abgrenzung von Nahrungs- und Genußmittel ist nicht

leicht. Für Kinder zählt Zucker zu den Genußmitteln. Im Verlangen nach Genußmitteln äußert sich im besonderen Maße der Drang zum Wohlsein. Dieser Drang kann sich leicht zur Genußsucht verselbständigen, die dann über den Bereich der Genußmittel hinausgreift. Genußsucht ist prinzipiell unmäßig und niemals sicher zu befriedigen. Auch stehen Genußmittel nicht unbeschränkt zur Verfügung, viele erzeugen eine pathologische Sucht, welche erneuten Reiz und erneuten Genuß erzwingt. Dies gilt für alle typischen Genußmittel wie Nikotinerzeugnisse und Alkohol. Am schlimmsten ist die Sache bei Drogen. Genußsucht ist in hohem Grade kriminogen, wobei wir die Frage des Persönlichkeitszerfalls nicht an dieser Stelle behandeln können. Das Verlangen nach Wohlsein regt den Vergleich der Lage des Entbehrenden und des Genießenden ganz allgemein an. Aber es kommt beim gesunden Menschen gewöhnlich nicht weiter als zum bloßen Wunsch "Auch haben". Es ist erstaunlich, mit welcher Gelassenheit bis zur Mitfreude das Volk Fürsten und Königen, auch Reichen und Mächtigen deren besonderes Wohlsein gönnt, solange eine ständische Ordnung funktioniert und die Masse wenigstens das Nötige bekommt. Alte Volksmärchen und moderne Traumfabriken, Groschenromane und Filme träumen doch ursprünglich nur davon, wie schön das Menschenleben sein kann, ohne daß auf die soziale Lage oder individuelle Mangellage anderer reflektiert wird. Erst wenn aus zusätzlichen Gründen der individuelle oder soziale Neid erweckt ist, verwandelt sich der Traum in soziale Anklage. Anders liegt der Fall bei der individuellen Genußsucht. Genußsucht ist meist sekundäre Gewöhnung. Natürlich naschen Kinder vor allem Süßigkeiten als Genußmittel. Den wirksameren Traubenzucker werden sie kaum jemals naschen. Im allgemeinen läßt sich aber die Fähigkeit zum Triebverzicht gerade an Süßigkeiten leicht erlernen, ohne daß eine sog. Frustration ein10 Mayer

146 4. Kap.: Selbstbehauptungsdrang, Strukturgefüge und soziale Leistungen tritt. Beginnt hier die Verwöhnung, so "müssen" die verwöhnten Kinder mit 10 bis 12 Jahren Zigaretten rauchen und "müssen" frühen Geschlechtsverkehr ausüben. Die unvermeidliche Enttäuschung führt dann hinüber zur modernen Drogensucht, welche Freud mit seiner törichten überschätzung des Geschlechtsgenusses auf dem Gewissen hat. Der Diebstahl in Selbstbedienungsläden beginnt immer mit Genußmitteln, die man sich nicht leisten könnte. 3. Noch gefährlicher sind Trieb komplexe, in denen der Nahrungstrieb nur mit enthalten ist. Zielen sie primär auch nur auf Eigenbefriedigung, so erwecken sie verhältnismäßig schnell "Eigensucht", welche in Feindseligkeit übergeht. II. Alle Formen der Daseinsvorsorge wurzeln in der Furcht vor Wiederkehr erlebten Hungers, wenn auch schließlich die Daseinsvorsorge sich verselbständigt. Man kann auch sagen, daß der Mensch nicht nur einen Drang zum Dasein und Wohlsein, sondern auch einen Drang zu gesichertem Dasein hat. Aber dieser Drang ist kein einfacher Antrieb, er lebt aus dem Zusammenspiel verschiedenster Kräfte, insbesondere stellt er die aus dem Spieltrieb abzuleitenden Triebe der Selbstbetätigung und der Werk-Gestaltung in seinen Dienst. Daseinsvorsorge des Einzelnen ist nur im Rahmen der von Sexus und Eros geschaffenen Familienformen denkbar. Endlich muß die Daseinsvorsorge immer vorbedacht werden, ist also immer ein Werk des subjektiven Geistes. Dies erklärt die Historizität und Wandelbarkeit der Wirtschaftsformen und der auf Daseinsvorsorge zielenden Rechtsein~ richtungen. Auch im Tierverhalten finden wir Daseinsvorsorge wenigstens in gewissem Umfang. Derartige Beobachtungen liefern aber nur Analogien und können niemals als Grundlage menschlichen Verhaltens gelten. Sammeltätigkeit mancher Insekten und auch höherer Tiere, Beuteinstinkt, Nestbau, Heimbezirksschema, bleiben doch etwas grundsätzlich anderes als die primitive Sammeltätigkeit der Menschen, als die Versorgungsjagd, als Eigentum und menschliche Sozialordnung. Hervorzuheben ist außerdem ein Doppeltes: Daseinsvorsorge wirkt zunächst sozialverbindend, denn sie kann namentlich auf primitiver Stufe nur gemeinsam erlernt und tradiert, nur gemeinsam, ausgeübt werden. Robinson Crusoe lebte nur scheinbar als Einzelner, in Wahrheit brachte er die Kenntnis der Techniken der Daseinsvorsorge aus dem geselligen Leben in seine Einsamkeit mit. Jede Daseinsvorsorge wirkt aber auch sozialdifferenzierend, da das Maß der Begabung des Einzelnen verschieden, und der Vorsorgeerfolg demnach sehr verschieden ausfällt. Daseinsvorsorge setzt zeitweiligen Konsumverzicht voraus. So werden soziale Unterschiede unvermeidlich. Jeder wirtschaftliche und technische Fortschritt vermehrt die Leistungs- und Unterordnungs-

§ 12. Selbstbehauptung im Dasein und Wohlsein

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verhältnisse. Dies begründet primär Rangunterschiede, sekundär aber auch ökonomische Privilegierungen und Benachteiligungen. Solche Unterschiede können kriminogenen Neid erwecken. Die Daseinsvorsorge kultiviert auch die Angst vor dem Mangel. Diese Angst liegt unterschwellig dem Geiz der wirtschaftlich sinnlosen Anhäufung von Reichtümern zugrunde. Die magische Anziehungskraft des Goldes ist eine weitere Verengung und Vereinseitigung des Verlangens nach Daseinssicherung. Wenn die Predigt Jesu von Nazareth im besonderem Maße den Mammonsdienst verwirft, so hat das in seiner historischen Stunde keinen eigentlich sozialen Sinn, sondern enthält die religiöse Aussage, daß der Mammonsdienst den Blick auf Gott noch mehr verstellt als das Verlangen nach Sexualgenuß. IH. Der Geschlechtstrieb in seinen beiden Hauptrichtungen, dem sexuellen Begehren und dem erotischen Verlangen nach Besitz an oder Gemeinschaft mit der geliebten Person gehört insofern in den Bereich der Selbstbehauptung, als er auch zur Befriedigung der eigenen individuellen Lust, der eigenen erotischen Freude dient. Objektiv stellt die Natur dies Verlangen in den Dienst der Arterhaltung. Dabei überrennt der Gattungszwang das Individuum, bis dieses seinerseits erlernt, die Natur um ihr Ziel zu betrügen und die Lust von der Fortpflanzung zu trennen. Zugleich erwächst aus dem Trieb zur Lust doch auch das Verlangen nach Beglückung des Partners, auch wird der Trieb als Tendenz zur Hingabe der eigenen Person erlebt. So ist eine Fülle von Widersprüchen in Sexualität und Erotik angelegt, um deren überwindung sich der menschliche Geist von jeher bemüht hat. Auf diese Fragen wird später ausführlich einzugehen sein, hier war nur festzustellen, daß dieser Triebbereich auch unter dem Gesichtspunkt der Selbstbehauptung zu sehen ist. IV. Das Gefahrabwehrverhalten ist zweistufig. 1. Die älteren Stufen bilden die Flucht und Gefahrmeidungsinstinkte. Der Mensch hat sie mit vielen höheren Säugern, insbesondere den Huftieren und auch den Simiae gemein. Die Flucht mag auf früheren Stufen den Menschen häufig gerettet haben. Auffälligerweise greifen die Raubkatzen den Menschen nicht auf freier Fläche an, gewöhnlich wird der Löwe erst gefährlich, wenn er im unübersichtlichem Buschland plötzlich des Menschen gewahr wird. Insoweit dies Verhalten der Raubkatzen auf Erfahrungen mit dem rezenten Menschen beruht, inwieweit etwa der primitive Mensch natürlichen Schutz vielleicht aus seinem Geruch zieht, darüber wissen wir noch nichts. Inwieweit andererseits subjektive Angst von den Säugern einigermaßen erlebt wird, ist recht zweifelhaft. Beim Menschen ist sicherlich das Fluchtverhalten weit10·

148 4. Kap.: Selbstbehauptungsdrang, Strukturgefüge und soziale Leistungen gehend durch Angst motiviert, nicht eigentlich gesteuert, denn Angst macht planlos. Angst ist nur insofern nützlich, als sie schnell warnt und rechtzeitig den Fluchttrieb auslöst. Es erscheint mir daher höchst fragwürdig, die Angst als Grund der Psyche, als Grundbefindlichkeit des Menschen zu betrachten (Kierkegaard, Heidegger). 2. Der rezente Mensch hat aber schon in früher Zeit eine Neigung zu mutiger Gefahrenabwehr erworben. Die große Verschiedenheit der

Menschen in dieser Beziehung erweist, daß es sich um eine spätere Neubildung handelt. Wahrscheinlich hat der Mensch seine Wehrhaftigkeit erst in und seit der Homination erworben. Die Menschheit hätte aber niemals ihre unerhörte Macht angesammelt, hätte sie nicht die primitive Angst durch den Mut überspielt. Jeder Soldat weiß, daß Mut - wenn er nicht bloße Dummheit ist - großenteils überwundene Angst ist. Dies schließt aber nicht aus, daß überwindung der Angst als beglückende Steigerung des Lebensgefühles empfunden und erfahren wird. Niemals wäre sonst die Umzüchtung des Menschen zum Jäger auf gefährlicher Großjagd oder zum Krieger gelungen. Mut verbindet die Mutigen sogar mit den Kämpfern der Gegenseite und bestärkt den seelischen Zusammenhang des Stammes in der gemeinsamen Verteidigung von Frau und Kindern. Die jüngere - im Verhaltensvergleich erstaunliche - Stufe des Mutverhaltens bedarf der entwicklungsgeschichtlichen Interpretation, obgleich solche Interpretationen immer hypothetisch bleiben müssen. Vermöge des subjektiven Geistes weiß der Mensch - im Gegensatz zum Tier - um den unausweichlich auf ihn zukommenden Tod. Der religiöse Mensch erfuhr seit alten Zeiten dieses Wissen als Weisheit. "Herr lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, damit wir klug werden." Aus dieser dem Menschen auferlegten Auseinandersetzung mit dem Tod erwuchs ihm der Mut als eine spezifisch menschliche Eigenschaft. V. Bei allen Herdentieren besteht ein Widerspruch zwischen Herdendrang und Selbstbehauptungsdrang des Einzeltieres. Beim Menschen

steigert sich dieser Widerspruch zu vielfachen Konflikten, aber nicht deshalb, weil die vitale Stärke des Selbstbehauptungsdranges besonders zu fürchten wäre, sondern weil dem Menschen mit dem Verstand auch die Befähigung zu planendem Egoismus gegeben ist. Die gegenteilige populäre Meinung hat Brecht in dem Vers formuliert, "Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral." Verfeinert ausgedrückt hieße dies, die Masse der Kriminalität ist Notkriminalität, die Not ruft die vitalen Selbsterhaltungsinstinkte auf. Als wissenschaftliche Lehre finden wir diese Auffassung in der sozialistischen Kriminologie vertreten.

§

12. Selbstbehauptung im Dasein und Wohlsein

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Seltsamerweise lehrt aber die historische Erfahrung, daß die Kriminalität in den Zeiten der Armut und Bedürftigkeit verhältnismäßig selten war, während sie gerade heute in der Zeit des besonderen Wohlstandes der westlichen Industriestaaten sich außerordentlich gesteigert hat. Namentlich die Diebstahlskriminalität hat sich geradezu vervielfacht. Es muß also die anthropologische Frage untersucht werden, ob es die unteren vitalen Dränge sind, welche den einzelnen in Konflikt mit der Gesellschaft bringen oder ob dies eine Leistung oder Fehlleistung des menschlichen Bewußtseins ist.

1. Triebhafte und emotionale Taten bemühen den Verstand allerdings nur wenig. Es kann gar kein Zweifel sein, daß sexuelles Verlangen, sexuell erotische Erregung geeignet sind, den normalen Verlauf des Einzel- und des Stammes- bzw. gesellschaftlichen Lebens zu stören. Dies wird im nächsten Kapitel noch ausführlicher zu besprechen sein. Bezüglich der Gefahrmeidungsinstinkte fällt auf, daß das äußerst sparsame öffentliche Strafrecht der Germanen von jeher mit Todesstrafe gegen Verrat und Feigheit vorgegangen ist. Der öffentlichen Todesstrafe verfallen nach Tacitus proditores, transfugae, ignavi, imbelles. Alle diese Feigheitsdelikte entstammen dem Instinkt der Gefahrenmeidung. Viel schwieriger ist die Frage der Kriminalität aus wirtschaftlicher Not zu beurteilen. In den ursprünglichen Verhältnissen der Wildbeuter sind intragentil nur Eingriffe in die von anderen erjagte Jagdbeute oder in die von anderen gesammelten Früchte usw. denkbar. Aber gerade in diesen Gesellschaften ist es meist üblich, Jagdbeute und Sammeiertrag gemeinsam zu verzehren (Kjökkenmöddinger-Kulturen) oder doch wenigstens aufzuteilen. Dabei mag es nicht immer besonders gerecht zugehen, es mag daher auch Streitigkeiten geben, soziale Konflikte jedoch kaum. Doch ist es möglich, daß ein einzelner sich an den gemeinsamen Mühen nicht beteiligt und als Parasit lebt. Ein Beispiel liefert die Eskimosage. Ein Mann ging niemals auf die Jagd, sondern wenn er einen anderen traf, der einen Seehund erbeutet hatte, tötete er den Mann und brachte den Seehund als seine Beute nach Hause. Seine Landsleute wagten nicht, sich gegen ihn zu erheben, weil er sehr stark war. So geschah es, daß er jahrelang von Mord und Raub lebte. Eines Tages aber beschlossen sie, sich mit List an ihm zu rächen. Man lud ihn zu einer gemeinsamen Jagd ein, und als man sich des Abends in einer Schneehütte hinlegte, speerten sie ihn. Die Zustände in Feldbau- und Hirtenkultur bringen keine grundsätzlich neuen Gesichtspunkte. Die Sache wird aber sehr interessant bei den geschichteten Stämmen, von denen wir die Germanen herausgreifen. Bei diesen gibt es entwickeltes Privateigentum an Fahrnis, es ist also Diebstahl denkbar. Praktisch sind drei Formen von Eigentumsdelikten zu berücksichtigen, der Raub, der Diebstahl und die Weg-

150 4. Kap.: Selbstbehauptungsdrang, Strukturgefüge und soziale Leistungen nahme innerhalb des Hausbereiches. Der Raub wird als eine Fehdehandlung aufgefaßt, welche durch Komposition aus der Welt geschafft werden kann. Die Rechtsgemeinde mischt sich dabei zunächst nicht ein. Der Diebstahl ist Einbruch in fremde Gewere oder Viehdiebstahl auf der Weide. Die gewöhnliche Reaktion ist das Handhaftverfahren: der nächtliche Dieb wird gefaßt und in einem tumultuarischen Verfahren abgetan, sofern er nicht als Volksgenosse erkannt und seiner Sippe zur Halslösung angeboten wird. Es läßt sich schwer vorstellen, daß dabei der Diebstahl aus Hunger eine große Rolle spielt. Es gibt aber einen gewissermaßen sozialen Zwang zu solchen Taten. Haben auch die Gemeinfreien das volle Weiderecht erreicht, so verkümmert nicht nur bei den Germanen, sondern auf aller Welt das Vieh. Dennoch bleiben vermöge der Zähigkeit der Rangvorstellungen die in Vieh zu zahlenden Preise für den Brautkauf usw. bestehen. Wie soll nun der Angehörige einer armen Sippe seine Braut kaufen. Es bleibt ihm wohl nichts anderes übrig, als in einem etwas entfernter liegenden Dorf sich der erforderlichen Viehhäupter zu bemächtigen. Das ist sehr gefährlich, kann auch von der Sippe nicht offen gebilligt werden, aber es geschieht jedenfalls nicht aus vitalem Ernährungsinstinkt. Anders ist es mit den Bagatellfällen, Lebensmittelentwendungen innerhalb des Hausbereichs. Hier greift das öffentliche Strafrecht überhaupt nicht ein. Endlich kommt noch Wegnahme durch schädliche Leute in Betracht, die in einem Verwaltungsverfahren liquidiert oder in die Knechtschaft gezwungen werden. In der Neuzeit scheinen wir gegenläufige Nachrichten zu haben. Bekannt ist die große Ehrlichkeit armer Gebirgsdörfer. Die Schweizer Schriftstellerin Johanna Spyri schildert das Leben einfacher Bergbauern in ihrem berühmtesten Buch, Heidi, nicht romantisch, sondern mit großer Nüchternheit. Würde der moderne Leser diese Schilderung ebenso nüchtern lesen, so müßte ihm die Dürftigkeit dieses Lebens auffallen. Dennoch preist die Schriftstellerin dieses Leben gesunder Einfachheit, in der denn auch die Tochter eines reichen Frankfurter Kaufherrn gesundet. Auch Gotthelf verschweigt besonders im Bauernspiegel die Not der armen Bevölkerung nicht, wenn er sie auch in den Rahmen des reichen Berner Bauernlebens hineinstellt. Aber auch Gotthelf betrachtet die Not nicht eigentlich als kriminogen. Vom Mittelalter an ist dies natürlich in den Städten anders gewesen, aber auch dort wird der kleine Diebstahl armer Leute strafrechtlich kaum erfaßt, sofern sie ansässig sind. Der eigentliche Notdiebstahl, die Entwendung von Lebensmitteln in echtem Hunger blieb weithin straflos. Nach heutigem Recht ist der Notdiebstahl immer noch privilegiert, erst recht der sog. Mundraub, d. h. die Entwendung von Lebens- und Genußmittel in geringem Umfang zum sofortigen Verzehr.

§ 12. Selbstbehauptung im Dasein und Wohlsein

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Wäre echte kriminogene Not ein soziales Problem, so hätte sie rechtspolitisch im Strafrecht einen ganz anderen Niederschlag finden müssen. 2. In der Kriminalstatistik wurde die Frage zunächst an der Korrelation zwischen Getreidepreisen und Diebstahlshäufigkeit erörtert. Georg von Mayr hat in einer überaus gründlichen Untersuchung nachgewiesen, daß in Bayern von 1835 bis 1861 eine feste Korrelation zwischen Roggenpreisen und Diebstahlshäufigkeit bestand, etwa nach dem Prinzip, steigt der Roggenpreis um 1 Pfennig, so klettert die Diebstahlshäufigkeit um einige Punkte. Betrachtet man aber die Dinge genauer, so läßt sich aus dieser Statistik eben nicht ableiten, daß individuelle Notsituationen, Hunger von Weib und Kind, damals die Diebstahlshäufigkeit beeinflußten. Es handelte sich um ein kleines Gebiet, in dem die Lebensverhältnisse verhältnismäßig einheitlich und auch gleichmäßig waren. In Bayern waren damals wirklich die Roggenpreise für die Ernährungskosten der breiten Massen repräsentativ, echter Hunger war aber von 1835 -1861 sicherlich sehr selten. Der Grundgedanke v. Mayr ist dann später in der sozialistischen Kriminologie breit erörtert worden. In Familienerinnerungen - man hat gar keine andere Quelle - erscheint der eigentliche Hunger seit 1815 überwunden. Die letzten lokalen Hungersnöte liegen einige Jahre vor 1815, damals tanzte ein Ururgroßvater mütterlicherseits von mir, Dorfschulmeister in Franken, mit seinen 7 Kindern um den Brunnen, hieß sie dann kräftig Wasser trinken und anschließend zu essen. Liest man glaubwürdige Volks erzähler, etwa den Pfarrer Stöber von der Altmühl, so wird zwar vielfach von großer Dürftigkeit, kaum aber von eigentlichem Hunger berichtet. Stiegen in der von v. Mayr statistisch untersuchten Zeit die Ernährungskosten, so verminderte sich natürlich der für andere Ausgaben im "Korb" der Lebenshaltungskosten verfügbare Betrag. Dabei handelt es sich nicht um ein Stück Kuchen, wie manche Kritiker der Untersuchung von v. Mayr gemeint haben, sondern um ganz andere Dinge. Besonders gefährlich war die Verteuerung der Genußmittel, des Alkohols und des Tabaks, überhaupt die Verteuerung des gehobenen Massenbedarfs. Die unrechtmäßige Befriedigung mindestens dieses letztgenannten Bedarfs ist aber nicht dem vitalen Hunger, sondern dem planenden Egoismus zur Last zu legen. Diese Deutung bestätigt sich durch die Beobachtungen der letzten Nachkriegszeit. Hier sind zunächst die unbequemen Tatsachen hervorzuheben, welche Richard Lange (Das Rätsel der Kriminalität § 9 ff.) ausführlich zusammengestellt hat. An besonderer Not bis zur echten Hungersnot litten in den Nachkriegsjahren die Flüchtlinge. Dennoch war die Kriminalität der Flüchtlinge unterdurchschnittlich gering, dasselbe gilt für die ältere Bevölkerung, obgleich doch viele alte Leute in besonderem Maße unter der Not der Nachkriegsjahre

152 4. Kap.: Selbstbehauptungsdrang, Strukturgefüge und soziale Leistungen

litten, auch die Kriminalität der Gastarbeiter war mindestens zunächst überraschend niedrig. Dagegen hat sich mit dem sog. deutschen Wirtschaftswunder eine ganz erstaunliche sog. Wohlstandskriminalität herausgebildet. Nun kann der Wohlstand als solcher nicht unmittelbar krimonogen sein, man kann sagen, daß wenigstens der Jugend eine gewisse übermutsund Protestkriminalität naheliegt, wenn es ihr zu gut geht. Im ganzen ist aber die Wohlstandskriminalität auf ein falsches Anspruchsdenken, auf die Mißachtung fremden Eigentums und auf die Atomisierung der Gesellschaft zurückzuführen. Der kommunistische Grundsatz, la propriete c'est le vol hat zwar lange Jahrzehnte nur geringen Einfluß auf Anspruchsdenken und Verhalten der Massen gehabt. Jetzt läßt sich aber kaum leugnen, daß die ideologische Mißachtung fremden Eigentums auch die Verhaltensmuster namentlich der jungen Menschen verfärbt. Damit stimmen die alten Korrelationen zwischen Diebstahl und Roggenpreisen und die modernen Beobachtungen über die Wohlstandskriminalität doch wieder im Endergebnis überein. Gewöhnlich ist es nicht der vitale Hunger, der die kriminelle Energie schürt, sondern unbefriedigtes Anspruchsverhalten, welches überall in einigermaßen gehobenen Kulturverhältnissen entsteht und weder in Dürftigkeit noch im Wohlstand das rechte Maß findet. Dabei haben eben noch erträgliche Notverhältnisse sogar den Vorteil, daß sie die Menschen, die Nachbarschaften, die Dörfer, auch die gesamte städtische Bevölkerung, einigermaßen in gemeinsamer Bemühung zusammenschließen. VI. Ziehen wir die Summe. Wir dürfen unsere optimistische Bewertung der geselligen Natur des Menschen nicht übertreiben. Auch der intragentile Konflikt als solcher ruft beim Menschen größere Härten hervor als der in jeder Säugetierherde vorhandene Widerspruch zwischen Herde und Einzeltier. Dies liegt aber nicht daran, daß die Triebe des Menschen bösartiger wären als die Triebe anderer Säuger. Es liegt vielmehr immer daran, daß Bewußtsein und Wille des Menschen den naiven Konflikt verschärfen können. Beim bloßen Ernährungstrieb geschieht das seltener, wohl aber beim Verlangen nach Genußmitteln, welche eben nur der Mensch künstlich bereiten kann. Große Gegensätze erwachsen aus dem intensiven Streben nach Daseinsvorsorge, welche bei Tieren ohnedies kaum stattfindet. Aus Angst und Rücksichtslosigkeit erwächst Feindseligkeit auch innerhalb der gens. Man darf dabei aber nicht vergessen, daß dem Menschen auch die bewußte Hingabe an gens und Gentilgenossen möglich ist. Anders erklären sich die Härten und Grausamkeiten extragentilen Verhaltens. Hier fehlt von vornherein eine hinreichende wechselseitige Bindung. Im Zusammenleben der gentes untereinander, in der Durchmischung der gentes in geschichteten Stämmen dringt extragentile

§ 13. Selbstbehauptung der Individualität

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Härte auch in das intragentile Leben ein. In der Moderne kann in der Großgesellschaft die Gentilbindung überhaupt ausgelöscht werden und ist nur sehr schwer zu ersetzen. § 13. Selbstbehauptung der Individualität Die grundlegende Eigentümlichkeit des Menschen, welche ihn zum Feind des Menschen machen kann, ist seine durch hochgesteigerte Individuation besondersartige Individualität. Diese Individualität festzuhalten, auch gegen jedermann zu verteidigen, ist die unentbehrliche Voraussetzung der großen menschlichen Leistungen. Die andere Seite der Sache ist die freie hingebende Einordnung dieser Individualität in die Gemeinschaft. In diesem Widerspruch sich zu bewähren, ist die schwere schicksalhafte Aufgabe der Menschheit und des einzelnen Menschen. Man sollte sich nicht wundern, wenn diese Aufgabe häufig nicht gelöst wird. I. Wir geben im Folgenden Beispiele der sog. höheren wesentlich geistgeformten VerhaLtensweisen. Auch sie wurzeln irgendwo im Triebhaften, was im einzelnen kaum nachzuweisen ist. Sie schaffen die höheren Kulturformen und damit zugleich die großen Widersprüche im sozialen Leben. Psychologische Unterscheidungen lassen sich in der relativen Einheit bewußten Lebens kaum aufstellen. Glücklicherweise ist es nicht unsere Aufgabe, die großen "Themen" des Menschenlebens zu behandeln. Wir haben hier nur an Beispielen zu zeigen, welche soziale Bedeutung diese Strebungen im Rahmen der Individuation und Selbstgestaltung haben, welche Probleme sie durch den Aufbau der Kulturwelt schaffen.

1. Der bereits erwähnte Geltungsdrang des Einzelnen ist ein Urtrieb des Menschen, führt aber in den Bereich der geistigen Ordnung hinüber. Je vielschichtiger die Sozialverhältnisse werden, desto leichter entsteht ein unauflösbarer Konflikt zwischen dem Geltungsbedürfnis des Einzelnen und seinen realen Geltungsmöglichkeiten. In einer archaischen oder "mittelalterlichen", ständisch geordneten Gesellschaft kommen die Menschen mit den jeweils verschiedenen Anforderungen noch zurecht. Sobald aber die traditionelle Sicherheit schwindet, steht der Einzelne differenzierten Lebensanforderungen ziemlich hilflos gegenüber. Er kann nicht ohne weiteres wissen, welche Geltung er beanspruchen darf. Wer gemessen an seinen Fähigkeiten und Leistungen zuviel Geltung verlangt, gilt als geltungssüchtig. Auch wer in seinen Forderungen zu bescheiden ist, nützt der Gesellschaft viel weniger als er ihr nützen könnte. Gewiß gibt es geltungssüchtige Psychopathen, Hoch-

154 4. Kap.: Selbstbehauptungsdrang, Strukturgefüge und soziale Leistungen stapler und von ihrer primitiven Schlauheit getriebene Betrüger, aber sie stellen nicht das Hauptproblem dar. Von der Steigerung des Geltungsdranges zum Machtstreben wird unten § 14 die Rede sein. 2. Positiv gestaltet sich der Mensch in erster Linie durch spontane Tätigkeit, also dadurch, daß er sich durch ausgreifende spontane Eigentätigkeit der Außenwelt, einschließlich der vom Menschen geschaffenen Lebensformen und Kulturinhalte, bemächtigt. Dabei ist der aktive Gestaltungswille auf die umgebende soziale Welt bezogen, von dort her stammen auch die inhaltlich bestimmten Impulse, aber vermöge der Individuation ist doch diese Bemächtigung der Außenwelt prinzipiell ichbezogen. Dennoch ist der Mensch an sich nicht aggressiv, aber er wehrt alle Eingrenzungen und Hemmungen möglichst ab. Sobald der Mensch sich aus der Gemeinsamkeit der Herde oder des Stammes herauslöst und sich verselbständigt, folgt er zunächst dem Ziel der Ichgestaltung und der Gestaltung einer ichbezogenen Welt. Es ist eine heilende Leistung des Geistes, wenn er nun dies zunächst ichbezogene Tun in das Gemeinschaftsleben einzuordnen lernt. Wie im Walde die Bäume um einen möglichst großen Bereich für ihre Entfaltung ringen, nur am Waldrand sich voll entfalten können, im Waldesinneren sich aber gegenseitig beschränken, so verhält sich auch der Mensch. Das Verlangen nach spontaner Eigentätigkeit zeigt sich bereits in Motorik, Neugierverhalten und Experimentierfreude des Kindes, auch in Spiel und Wettstreit. Kein gesundes Kind läßt sich gerne dauernd an der Hand führen, es will seinen Körper und den umgebenden Raum selbst beherrschen. Der natürliche freie Raum des Kindes ist auch bei Natur- und Niederkulturvölkern außerordentlich groß. Auch in der bäuerlich-bürgerlichen Kultur des vorigen Jahrhunderts waren die Bewegungsmöglichkeiten viel größer als heute. Man lese nur die Schilderungen des Kinder- und Jugendlebens in den sehr realistischen Romanen von Wilhelm Raabe. Auch in der Großstadt gehörte um 1900 die Straße noch den Kindern und der freien Spielgemeinschaft. Als aber der Verf. 1937 ein Einfamilienhaus mit Garten mietete, drängte sich ihm die Beobachtung auf, daß er damals seinen Kindern nicht dasselbe bieten konnte, was das ärmste Katenkind auf dem Gutsbezirk umsonst genoß. Sicherlich hat bürgerliche Ängstlichkeit den Kindern die Benutzung dieser Freiräume oft allzusehr eingeschränkt. Auf diesem Gebiet ereignen sich die schweren Frustrationen, welche viele Menschen verklemmten. Die Selbstgestaltung wirkt sich aus in der Schaffung einer gegenständlichen Welt, welche dem Einzelnen gehört, in Eigentum, Betrieb und Unternehmen. Sobald der Gestaltungswille sich in dieser Weise im äußeren Werk objektiviert, setzt er notwendigerweise dem Neben-

§ 13. Selbstbehauptung der Individualität

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menschen Grenzen. Dieser Trieb zur Werkgestaltung kann sehr einseitige Formen annehmen, die schlimmste Entartung war wohl die aus Lebensangst hervorgehende triebhafte Anhäufung von Reichtümern wie sie Moliere im L'avare schildert, aber auch sonst kann die Werkbesessenheit des Mannes geradezu asoziale Verhaltensweisen hervorbringen. Im allgemeinen sind zwar die Ergebnisse dieses individuellen Gestaltungsdranges auch sozial nützlich, jedoch ist der Betätigungsdrang zunächst am eigenen Ich orientiert. Zum Arbeits-, Leistungsund Gestaltungswillen muß ein soziales Arbeitsethos hinzukommen, das aus dem Job den Beruf macht. Es war eine verhängnisvolle Illusion der älteren Gefängnisreformer, wenn sie meinten, daß bloße Arbeitsgewöhnung den Menschen sozialisiere, d. h. zum Sozialverhalten dressiere. Arbeit hilft nur, wenn sie als Erfüllung der Persönlichkeit erlebt wird. Beispiel: Der Bauer der letzten Jahrhunderte arbeitete vielfach nicht mehr für die Seinen, sondern für Glanz und Größe des Hofes. Weichende Kinder wurden vielfach aus jedem Erbanteil verdrängt, sogar um ihren Lohn betrogen, vgl. das grausige Beispiel im Bauernspiegel von Jeremias Gotthelf. In den Ehen kamen nicht die Menschen, sondern die Äcker zusammen. Die white-collar-criminality wurzelt weniger in privatem Egoismus oder gar in Genußsucht. Größe und Bedeutung des Unternehmens der Firma gelten als überpersönlicher Wert. Die Täter haben dabei vielfach subjektiv ein gutes Gewissen, weil sie sich selbst dem Unternehmen "opfern". - Ähnliches gilt aber für jede Tätigkeitsart. Als der König von Schweden der Witwe eines berühmten Forschers mündlich sein Beileid aussprach mit der Bemerkung, es sei doch ein erhebender Trost, mit einem so bedeutenden Geist zusammengelebt zu haben, antwortete die ehrliche Dame: "Majestät, er war ein Ekel." Ihre gefährlichste Form nimmt die Werkbesessenheit des Mannes in den Personen staatlicher Gründer, Stifter oder gar Verwalter religiöser Systeme oder ideologischer Systeme an. In der Neuzeit haben vornehmlich ideologische Politiker unzählige Menschenleben dem persönlichen Spiel mit ihrer Ideologie geopfert. Dabei waren Robespierre und Lenin vielleicht nicht einmal subjektiv grausam. Ritler und Stalin mögen dies wohl gewesen sein. 3. Der Drang zur Selbstbildung ist ein wesentlich geistiges Verlangen, gehört also zu dem besonders zu behandelnden Thema, inwieweit der subjektive Geist als Teilstruktur innerhalb der gesamten Verhaltensstruktur des Menschen betrachtet werden kann. Die vitalen Wurzeln sind im Neugier- und Lernverhalten, im Geltungsbedürfnis, im Verlangen, geliebten Vorbildern zu gleichen, zu finden. Aber dem Drang zur Selbstbildung fehlt die psychische Macht des Verlangens nach spontaner Eigentätigkeit. Die Sozietät ist daher bestrebt, dieser Schwäche durch irgendwelche Schulungsveranstaltungen nachzuhelfen. Dieser Widerspruch zwischen der Schwäche eigenen Strebens und dem Formungswillen der Gesellschaft läßt sich durch keine Päda-

156 4. Kap.: Selbstbehauptungsdrang, Strukturgefüge und soziale Leistungen gogik beseitigen. Natürlich hat man zu allen Zeiten gewußt, daß es darauf ankommt, die individuelle Eigentätigkeit anzuregen. Im Zeitalter des Humanismus konnte die Universität die Lehrinhalte dem Studenten vortragen und es ihm überlassen, wie er sich dieser Inhalte bemächtigen wolle. Die humanistische Schule entwickelte aus den vorgetragenen Inhalten immerhin schriftliche Aufgaben, welche der Schüler für sich allein zu lösen hatte. Die Schule kontrollierte danach nur Fleiß und Erfolg. Das war ein sehr aristokratisches System. Die moderne Verschulung will die Inhalte "beibringen". Ganz allgemein läßt sich aber sagen, daß man einen Menschen durch nichts nachhaltiger ruinieren kann, als dadurch, daß man ihn zu lange auf der Schulbank festhält. Es ist vornehmlich dieser Widerspruch zwischen Eigenstreben, begrenzter Aufnahmefähigkeit und gesellschaftlichem Schulungswillen, der zu den bekannten Korrelationen zwischen Schulmißerfolg und Kriminalität führt. Das Ziel der Selbstbildung ist immer historisch-sozial formuliert. Eine Kriegergesellschaft verlangt sicheren Anstand, Ehrerbietung, Treue und Tapferkeit, dazu Waffentüchtigkeit. Eine wesentlich religiös bestimmte oder mitbestimmte Gesellschaft stellt dem Menschen das Ziel der Heiligung durch Askese, Gebetsübung usw. Die individualistische Gesellschaft will aus den Menschen "Persönlichkeiten" machen. Die gegenwärtige AufgabensteIlung, der Mensch habe sich selbst zu verwirklichen, geht an der Realität des Lebens vorbei. In der angeborenen Anlagenstruktur sind noch keine Inhalte mitgegeben, sondern bloße Potenzen. Die Selbstbildung kann immer nur dadurch geschehen, daß der Einzelne sich die gegebene geistige Traditionswelt spontan aneignet und zu einem kleinen Teil fortbildet.

11. Personalisation. Nur die unterscheidungsfähige verantwortliche Person vermag der Verschiedenartigkeit der kulturellen Aufgaben zu genügen. Es muß aber die Einheit der Person erst hergestellt werden. Von Natur aus ist die Gesamtstruktur des Menschen keine wirkliche Einheit, sondern eine Fülle von Widersprüchen, welche in der kollektiven Einheit der Herde nicht wirklich handeln, sondern eben nur mitlaufen kann. Die Einheit der Person erfordert echte Eigenständigkeit der Person, welche gewissensmäßiges Handeln erst möglich macht. Kein crimen geschieht ohne zureichenden Grund. Diesen drängenden Gründen standzuhalten, ist nicht immer leicht. Das crimen geschieht individualpsychologisch dadurch, daß das Gewissen versagt. Diese gewordene Person muß ihre Identität bewahren, sonst wäre Verantwortlichkeit nicht denkbar. Dies hat die materialistische Existenzphilosophie Sartres dargetan, nur besteht eben kein Grund, die Identität der Person zu leugnen, wie dies Sartre will. Allerdings hat die Menschheit diese Identität immer nur religiös sichern können oder

§ 14. Selbstbehauptung in Kooperation

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genauer in der Unvergänglichkeit der Person im Geiste Gottes. So ist schon der Ahnenkult zu verstehen. Goethe hat ein seltsames Spottgedicht geschrieben: Du hast Unsterblichkeit im Sinn; Kannst Du uns Deine Gründe nennen? Gar wohl! Der Hauptgrund liegt darin, Daß wir sie nicht entbehren können. Goethe denkt dabei sicherlich auch daran, daß der einzelne seinen Tod nicht wirklich denken, auf seine individuelle Fortdauer nicht verzichten kann. Er denkt aber viel viel mehr daran, daß "wir" auf die Fortdauer des anderen nicht verzichten können, weil wir auf Verantwortlichkeit des anderen praktisch nicht verzichten können. "Als ob" oder Wahrheit? Die empirische Kriminologie hat diese letzte Frage nicht zu beantworten. § 14. Selbstbehauptung in Kooperation I. Leistung, Kooperation, Wettstreit.

1. Der Mensch muß sowohl seine äußeren Lebenszwecke als auch seine Individualität durch eigene Leistung erreichen.

a) Die eigene Leistung wird in immobilen Gesellschaften am deutlichsten sichtbar in der Einzelleistung. Bei den Washamba erhält jede verheiratete Frau ihre Shamba, welche so bemessen ist, daß eine einzelne Frau dieses Stück Land mit Mais, Bananen usw. bepflanzen kann. Diese Leistung vollbringt sie für ihren Mann, für ihre Kinder. Übrigens hilft ihr meist bei schweren Arbeiten der Mann. In der bäuerlichen Gesellschaft bestellt die bäuerliche Familie in gemeinsamer Arbeit das Land und besorgt gemeinsam die Viehwirtschaft. In Handel und Handwerk der Städte ist es ähnlich. Die Leitung des öffentlichen Lebens ist überall gesellschaftlich organisiert. Alle diese Leistungen sollen so gut als möglich erbracht werden, wobei es auf den Vergleich der Leistung des einen mit der Leistung des anderen nicht so sehr ankommt. Der Einzelne oder die einzelne Familie scheint auf sich selbst zu stehen. b) Der Aufbau der Individualität beginnt allerdings in der Familienerziehung, später muß der Einzelne aber selber lernen, selbst in seiner Ausbildung sich die nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten verschaffen. 2. Der berühmte Graf Schlieffen forderte vom Generalstabsoffizier, daß es diesem nur auf das Sein und nicht auf den Schein ankommen dürfe. Nimmt man dieses Schlagwort ernst, so möchte man sagen, in der ursprünglichen Gesellschaft kommt es auf das Sein des Einzelnen an. Dies wäre ein Irrtum. Tatsächlich ist die eigene Leistung nur in Kooperation zu erzielen. In der einfachsten Arbeit des Menschen steckt

158 4. Kap.: Selbstbehauptungsdrang, Strukturgefüge und soziale Leistungen schon sehr früh Kooperation, Anleitung und Tradition. Dies gilt auch für die geistige Leistung. Kein Mensch kann als absolutes Individuum leben und wirken, sei er Gründer oder König, sei er Verkünder oder Hörer, sei er wirtschaftlicher Organisator oder schlichter Arbeiter. Selbst der Eremit harrt auf den Pilger, der seine Lehre entgegennimmt. 3. Ist also Leistung nur in Kooperation in der gens zusammen mit den Gentilgenossen möglich, so bedarf der Einzelne immer der Geltung in der Lebensgemeinschaft, mindestens als anerkanntes Glied derselben. Je höher und differenzierter das gesellschaftliche Leben sich entwickelt, je mobiler die Gesellschaft ist, um so mehr bedarf der Einzelne der besonderen Einordnung in eine Rangstelle. Wie jede Tiersozietät ihre Rangordnung hat, so lebt auch der Mensch in einer höchst komplizierten Rangordnung. Geltungsstreben ist also grundsätzlich Rangordnungsstreben. Der Einzelne bewirbt sich um die Stelle, um den Platz innerhalb der Rangordnung, welcher ihm seine Tätigkeit, seine Funktion, seine Lebensstellung sichert. Die Einweisung des Einzelnen in seine Rangstellung kann nur im Wettstreit erfolgen. Der Wettstreit hatte immer etwas Spielerisches an sich, das ist beim Menschen nicht anders als beim spielerischen Wettstreit eines Wurfes kleiner Kätzchen. Wettstreit ist gesellschaftliche Kooperation, an welcher jeder als Mitbewerber teilnimmt. Es wäre wünschenswert, ginge dieser Wettstreit in völliger Ehrlichkeit vor sich, so daß jeder das Lebensrecht auch des Genossen immer dabei bedenken würde, jeder gerade den Platz erstreben und verlangen würde, der ihm nach seinen Fähigkeiten zukommt. übrigens findet dieser Wettstreit, wenigstens verdeckt, auch in bäuerlichen Gesellschaften statt. In vielen Dörfern sind die reichen Bauern die Abkömmlinge der Tagelöhnerfamilien von früher, die Tagelöhner von heute die Abkömmlinge der früheren Reichen, wenn wir die Verhältnisse um 1900 zugrunde legen. Das Ideal des fairen Wettstreites wird selten in die Wirklichkeit übersetzt, vieles bewirkt das wandelbare Glück, der Schein gilt oft mehr als das Sein. übers Niederträchtige niemand sich beklage, denn es bleibt das Mächtige, was man dir auch sage. (Goethe) Dennoch bleibt der Wettstreit das einzige Mittel, dem Einzelnen seinen Platz im Leben zuzuteilen. Friedliche Kooperation findet nicht in einem idealen Friedenszustand statt, sondern immer nur im Rahmen der noch erträglichen vereinbarten Lebensverhältnisse, also der pax im Verstande lateinischer Nüchternheit. Damit ist zugleich gesagt, daß der Wettstreit immer in der Gefahr steht, zum Widerstreit zu entarten. Beide, Wettstreit und intragentiler Widerstreit, wurzeln im Geltungsverlangen, nicht etwa in einem Aggressionsbedürjnis.

§ 14. Selbstbehauptung in Kooperation

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Ir. Die Aufgabe, das Zusammenleben der Menschen im Wettstreit zu ordnen, fällt bereits dem Kleinstamm nicht leicht. Je verwickelter die gesellschaftlichen Verhältnisse mit zunehmender Arbeitsteilung und zunehmender intellektualisierter Zivilisation werden, desto leichter entstehen Konflikte. Die Aufgabe ist eine doppelte: 1. Der Einzelne erhält seine soziale Rangstelle durch Bewerbung bei und durch Anerkennung der Gruppe zugeteilt. Die soziale Rangstelle wird in der modernen Soziologie heute allgemein als Rolle bezeichnet. Dieser Ausdruck hat gegenüber dem von uns gewählten den Vorzug, daß er auf die mit der Rangstelle verbundene Funktion hinweist. Dennoch ist der Ausdruck Rolle allzu verfänglich, das wirkliche Leben ist eben keine Theateraufführung. Der Ausdruck Rolle verführt auch zu dem Irrtum, als sei die Rolle ein Einzelauftrag. Im Kleinstamm ist die Verschiedenheit der Rangstellen noch recht selbstverständlich, jeder sieht im engeren Kreis die verschiedenen Funktionsmöglichkeiten und natürlichen Pflichten der Geschlechter und Altersklassen. Man überläßt verhältnismäßig leicht dem umsichtigeren Jäger, dem kräftigeren Krieger die Rolle des Anführers, dem erfahrenen Alten die Funktion des Gesetzesweisen oder auch des Ratgebers (Gerusia). Der Wettstreit, in welchem der Einzelne seinen Rangstellenanspruch anmeldet, bewegt sich also gewöhnlich innerhalb leicht einsehbarer Grenzen. Da besondere Fähigkeiten als charisma gedeutet werden, so verbindet sich die Anerkennung des charisma leicht mit der Vorstellung der Vererbung, also der Anerkennung eines Erbcharismas, des besonderen "Heils" eines bestimmten Geschlechtes. Dennoch bedarf der Rangstellenanspruch des Einzelnen der Anerkennung durch die Gemeinde. Wir sehen dies am Beispiel der germanischen Königswahl, wo Designation eines geeigneten Erben des Heils und die Bestätigung des Einzelnen durch Wahl grundsätzlich zusammenwirken. Aber es kommt immer wieder vor, daß der kraftvolle Einzelne aus dem königlichen Geschlecht sich gegen den anerkannten Bewerber durchsetzt oder daß ein Außenseiter das erbliche Heil des bisherigen Geschlechts als erloschen ausruft. Je mehr die Gesellschaft sich aber individualisiert, je mobiler sie wird, desto aktueller wird die Bedeutung des Wettstreits, so etwa in der Form des zum Teil grausamen modernen geschäftlichen Wettbewerbs. Man sollte diese "Grausamkeit" nicht schelten, sofern sie die bessere Erfüllung des sozialen Auftrages sicherstellt, aber jedenfalls ist die richtige Rangstellung in der modernen Gesellschaft nur noch schwer zu finden. Gerade die scheinbar so humane Forderung, alle müßten die gleiche Chance haben, zwingt den Schwächeren in einen Wettstreit hinein, in welchen er nur Demütigungen erwarten kann.

2. Der soziale Verkehr unter Menschen vollzieht sich von Urzeiten an gewöhnlich als Austausch von Leistungen nach dem Prinzip Gleich

160 4. Kap.: Selbstbehauptungsdrang, Strukturgefüge und soziale Leistungen

und Gleich. Dies Prinzip ist biologisch tief begründet, wird bei den Naturvölkern sehr schematisch angewendet, steht aber auch noch hinter dem modernen Rechts- und Wirtschaftsverkehr der Industrievölker. Wird die Gleichheit verfehlt, so büßt der Geschädigte an seiner Rangstellung etwas ein. Ein Austausch des schlechthin Gleichen mit den schlechthin Gleichen wäre sinnlos, denn der Tausch soll jedem der Tauschenden Vorteil bringen. Die Gleichwertigkeit unter dem Gesichtspunkt sinnvollen Tausches läßt sich nur durch wechselseitige Konvention finden. Der Tausch oder angebotene Tausch der Naturvölker knüpft teilweise an gängige Traditionen an, teils wird nach dem geeigneten Gegenwert gesucht. Bekanntlich sind im primitiven Recht einseitige Geschenke nicht üblich. Wer das Gastgeschenk ohne geeignete Erwiderung annimmt, handelt unrecht. In den früheren Zeiten erster Berührungen von Angehörigen entwickelter Handelsvölker mit Naturvölkern haben die Fremden unter Umständen mit dem Leben büßen müssen, wenn sie das Tauschangebot als Geschenk verstanden haben. In den Verhältnissen der Industrievölker wird vor allem nach dem justum pretium für geleistete Arbeit gesucht. Notfalls muß irgendwie eine Schlichtung gefunden werden. Dieser Leistungsaustausch betrifft heute natürlich zuerst irgendwelche wirtschaftlichen Leistungen und Gegenleistungen, findet aber auch in persönlichen Beziehungen statt. Muster ist der sog. Brautkauf. Auch in Vasallitäts- und Klientelverhältnissen geben und nehmen beide Teile. Im modernen Arbeitsrecht wird dies Ergebnis nur mit anderen - im historischen Vergleich nicht unbedingt besseren - Mitteln erreicht. Noch im 19. Jahrhundert empfing der königliche Beamte nicht nur sein sicheres, aber recht karges Gehalt, dafür zum Ausgleich eine soziale Ehrenstellung, welche ihm eine feste Stütze auch in seinem wirtschaftlichen Leben gab. Dieses Spiel des angemessenen Tausches, welches die soziale Rangstellung der Tauschenden im Prinzip erhalten soll, ist also in besonderem Maße auf Treu und Glauben angelegt. Nach der Natur der Menschen wird der Glaube, namentlich des Schwächeren, häufig genug enttäuscht. Daher kommen viele soziale Konflikte, die auch zu strafrechtlich verbotenen Gegenreaktionen gegen angebliche oder wirkliche Verstöße beim Rangstreit Anlaß geben. Enttäuschung im Rangspiel ist eine wesentliche Ursache der Kriminalität der Schwächeren. Motor des Wettstreites ist das individuelle Geltungsstreben. Dieses ist nicht ungemessen, sondern zielt regelmäßig "nur" mindestens auf Vollgeltung als Gruppenmitglied überhaupt, darüber hinaus auf die nach der eigenen Meinung richtige Rangstelle, endlich auf richtige Bewährung derselben im sozialen Verkehr. Die eigene Einschätzung stimmt dabei mit der Schätzung der anderen sehr oft nicht überein.

§ 14. Selbstbehauptung in Kooperation

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Der aus diesem Widerspruch erwachsende Konflikt löst sich im allgemeinen leichter als man denkt. Das individuelle Maß des Geltungsstrebens ist an sich sehr verschieden. Die Neigung stark hervorzutreten ist jedenfalls nicht häufiger als die Neigung, bescheiden zurückzutreten, mindestens sofern eben nur die Existenz nicht bedroht wird. Als Ehrgeiz bezeichnet man das noch sozial erträgliche Verlangen, sich hervorzutun, Ehrsucht macht die eigene Geltung übermäßig vom Urteil anderer abhängig. Eigentliches Machtstreben ist sicherlich nicht der Grundtrieb aller Menschen. Unter dem Gesichtspunkt der sozialen Geltung ist wesentlich auch der ökonomische Wettstreit zu sehen. Man will durch seine Leistung beweisen, daß man mehr vermag als andere. Der Rat des Apostels, sich mehr zu den Niederen als zu den Hohen zu halten, enthält nicht nur eine uralte Lebensweisheit. Man sitzt eben bequemer auf einer Rangstelle oder einer ökonomischen Position, die nicht so leicht beneidet wird. Der Neid ist eine negative Ehrsucht, sofern er über das naive "Auch Haben" hinausgeht. Der Neid wird in allen Gesellschaften negativ beurteilt, so schwer sich der einzelne auch der Versuchung vom Neid entziehen kann. Neid hat die positive soziale Funktion, übermäßige Geltungsansprüche anderer abzuwehren, so daß eine gewisse Gleichheit gewahrt bleibt. Aber Neid ist eine höchst gefährliche Gefühlsrichtung, welche sehr leicht zum feindseligen Widerstreit verführt. Wird der Einzelne in seinem Geltungsbedürfnis allzusehr gekränkt, so wird er das daraus resultierende Minderwertigkeitsgefühl nicht so leicht ertragen können. Er setzt daher sein Minderwertigkeitsgefühl in sozial störende Ausgleichshandlungen um. Im Grunde ist es falsch, in solchem Fall von Aggressionen zu reden, denn der enttäuschte Geltungssüchtige will doch wesentlich nur seine eigene Geltung wiederherstellen. Er tut dies meist gar nicht mit eigentlichen Angriffshandlungen, wenn man diesen Begriff nicht überdehnen will. Jedenfalls ist enttäuschtes Geltungsbedürfnis in der Form der Geltungssucht eine der wichtigsten Ursachen der Kriminalität. Selbst wenn wir den Begriff der Psychopathie in dem heute beliebten weiten Verständnis nehmen, so ist geltungssüchtiger Psychopath doch nur, wer Geltung ohne Rücksicht auf seine Leistung erstrebt. Der gewöhnliche Fall ist aber, daß ein Schwächerer eben einfach die geforderte soziale Leistung nicht erbringen kann, obgleich er dies gerne möchte. Die individuellen Haltungen im Geltungsstreben sind sehr stark sozialhistorisch oder durch den individuellen Entwicklungsgang mitbestimmt. Ich erinnere mich genau, daß im ersten Kurs über antike Geschichte unseres Gymnasiums der Ausspruch Cäsars, er wäre lieber der Erste in einer kleineren Stadt als der Zweite in Rom, unserer Klasse (Quarta) 11 Mayer

162 4. Kap.: Selbstbehauptungsdrang, Strukturgefüge und soziale Leistungen historisch verständlich gemacht werden mußte. Nun mag dies damit zusammenhängen, daß der Praeceptor Bavariae der Kantianer Thiersch den bayerischen Gymnasien jeden Apell an den Ehrgeiz im Sinn der kantischen Methodenlehre streng verboten hatte. Die Caesar zugeschriebene Haltung erklärt sich daraus, daß die Antike den Tod durch den Ruhm überwinden wollte. Die Einübung auf den Wettstreit, der Abgleich der wechselseitigen Rangstellenansprüche, wird in der größeren Geschwisterschar spielend eingeübt. Die erhöhte Kriminalität der Einzelkinder hängt m. E. weniger mit der Verwöhnung derselben, als damit zusammen, daß sie des Spielfeldes für diese unentbehrliche Einübung entbehren. Man gestatte mir eine persönliche Beobachtung, die zugleich als Totenehrung gelten darf. Mein drei Jahre älterer Bruder war mein Held, Vorbild und Führer. Es war mir ganz natürlich, daß er das Erste war und ich als drittes von vier Kindern, als zweiter von zwei Buben, der Zweite war. Das war für den Zweiten nicht immer leicht. Damals spielten die Kinder Deutscher und Franzose. übrigens schoß man sich nicht tot, sondern man nahm gefangen, d. h. in unserem Fall, der Gefangene wurde in die Holzlege gesperrt, wo er geloben mußte, fortan ein guter Deutscher zu sein. Meine Bereitwilligkeit dazu half freilich wenig, denn das Spiel mußte ja weitergehen. Mein Bruder war ritterlich genug, gelegentlich auch die Rolle des Franzosen zu spielen und sich überwältigen zu lassen, denn der deutsche Sieg stand außer Zweifel. Dies war aber doch kein genügender Ausgleich. Meine Mutter erzählte, daß ich als Fünfjähriger den Kopf in ihren Schoß legte mit den Worten: "Gelt ich bin dein lieber Franzos." Mag man über Nationalismus wettern, jedenfalls haben wir einerseits humanen Krieg, andererseits unseren eigenen Heldentod vorgeübt, aber nicht privaten Gangstermord, wie die Kinder von heute. Augenfällig war, daß mein Bruder mich immer schützte und überallhin mitnahm. Wir bildeten einen engen Freundeskreis von vieren, in dem ich der Jüngste war, ich puttelte so mit und wurde auch geistig weit über meine Jahre gefördert. Von den vieren lebte 1918 nur noch ich. Es fiel mir im ganzen Leben nicht schwer, die zweite Rolle zu spielen, wenn auch mein Geltungsanspruch absolut genommen sehr weit ging. IU. Konflikte werden meist vermieden oder geschlichtet. Der Mensch ist weniger das konflikt-trächtige als das zur Schlichtung von Konflikten fähige Wesen. Die nach der Reife erlangten Rangpositionen werden selbst in den modernen mobilen Gesellschaften meist im Grundsatz beibehalten und nur abgewandelt, die soziale Mobilität meist nur in den Vorbereitungsjahren der Jugend genutzt. Wer die so erlangte Position nach oben hin verlassen will, muß Leistungen vorweisen, die oft nur schwer zu erbringen sind. Die zur Bewahrung der Rangstelle geschlossenen Verträge und Verabredungen werden gewöhnlich freiwillig eingehalten. Millionen von Arbeitern leisten gerne und pünktlich die vereinbarte Arbeit, rühmen sich dabei der Güte ihrer Leistungen. Kommt es zu Störungen im System der Arbeitsverteilung und Entlohnung, so werden sie gewöhnlich durch neue Konventionen bereinigt.

§ 14. Selbstbehauptung in Kooperation

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Noch viel einfacher ist dies alles in den älteren mehr oder weniger immobilen Gesellschaften. Finden die Beteiligten in Störungsfällen keine Lösung, so greifen sie zur Schlichtung. Alle ursprünglichen Gerichtsverfahren sind Schlichtungsverfahren, ebenso auf dem germanisch€n Thing, wie auf dem afrikanischen Gerichtsrasen. Der moderne Zivilproz€ß ist als kooperative Schlichtung, als Klarstellung zweifelhaften und umstrittenen Rechtes gedacht. An diesem Schlichtungsverfahren sollen die Parteien kooperativ mitwirken. Es war ein groteskes darwinistisches Mißverständnis Iherings, wenn er den Prozeß als Kampf ums R€cht beschrieb. Der Prozeß um begangenes Unrecht kann als Schadensersatzprozeß, als Privatstrafprozeß und als eigentliches Strafverfahren geführt werden. Alle diese Verfahrensmöglichkeiten leiten hinüber zur Selbstbehauptung im Widerstreit. Der Schadensersatzanspruch will in der Hauptsache die an sich bestehende Rangstellenverteilung im Leben wieder herstellen. Entgegen einer viel verbreiteten Meinung muß dabei auch das primitive Recht den Ersatzanspruch auf einen grobschlächtig formulierten Schuldvorwurf stützen. Daher hat zu allen Zeiten die Androhung der Schadensersatzpflicht eine sehr erhebliche generalpräventive Wirkung. Das Ausgleichsprinzip gilt auch noch für das Privatstrafrecht und damit für den regelmäßigen Prozeß vor der archaischen Gerichtsgemeinde. Die Bußen, welche hier für Unrechtstaten gefordert und auferlegt werden, waren seit alten Zeiten standardisierte Bußtaxen, welche Tausende von Jahren alt sein können. Die Auferlegung echter Kriminalstrafen läßt sich nur schwer noch unmittelbar aus dem Ausgleichsprinzip ableiten, obwohl der Gedanke des Ausgleiches auch hier am Anfang steht. Im archaischen öffentlichen Strafrecht wird von solchen Strafen nur selten Gebrauch gemacht, so bei Verstößen gegen die Allgemeinheit, Verrat und Verweigerung des Heeresdienstes und bei Verstößen gegen Tabus. Hier gilt die öffentliche, vielfach zugleich als Menschenopfer fungierende, Todesstrafe. Aber sie wird in primitiven Gemeinschaften doch nur sehr selten angewandt, einfach deshalb, weil der Bedarf an kampfkräftigen Männern, an gebärtüchtigen Frauen und Mädchen viel zu groß ist, als daß man leichtherzig auf ein Stammesglied verzichten könnte. Die Möglichkeit der Todesstrafe wurzelt biologisch im Ausstoßungsschema, das der Mensch mit vielen Tierarten gemein hat. Von diesem Punkt aus kann dann auch analoge Härte in das privatrechtliche Verfahren eindringen, namentlich auf dem Wege über das Verfahren bei handhafter Tat, das eine Art von stilisierter Rache und Selbsthilfe darstellt. Alle vor d€r Gemeinde sich abspielenden Verfahren bleiben aber immer noch im Rahmen der Kooperation innerhalb der gens. IV. Das Thema Wettstreit in Kooperation und kooperative Konfliktlösung ist so unendlich, daß wir es nicht nach allen Richtungen ver-

folgen können. So mag eine Reihe sozialhistorischer Beispiele die in Betracht kommenden Möglichkeiten immerhin verd€utlichen. 11·

164 4. Kap.: Selbstbehauptungsdrang, Strukturgefüge und soziale Leistungen 1. Das Kleinkind erprobt seinen Willen am Widerstand der Eltern, um seinen sozialen Platz zu finden. Fehlt es an diesem Widerstand, so entbehrt das Kind des erforderlichen übungsfeldes. Der Knabe mißt sich am Vater, sobald seine sozialaktive Neigung wach wird. Innerhalb der Geschwisterschar setzt der Knabe seine körperliche Kraft ein, das Mädchen mehr die List, überredungsgabe, Koketterie. So wird zwischen den Geschlechtern und den Geschwistern überhaupt das natürliche Verhältnis der Achtung vor der Kraft, der Ritterlichkeit gegenüber dem Schwächeren erreicht. Trotz aller internen Balgereien hält die Geschwisterschar meist nach außen hin zusammen. Sie bewahrt eine grundsätzliche Gleichheit. Zwar würden viele ältere Schwestern und Vizemütter es nur zu gerne sehen, wenn im vierten Gebot zu lesen wäre: "Du sollst Deine ältere Schwester ehren!" Leider finden sie bei den Jüngeren meist wenig Neigung, auf solche Velleitäten einzugehen. Libidinöser Beziehungen bedarf es nicht, um diese Verhaltensweisen zu erklären. Verletzungen des Gleichheitsgefühls und damit auch des Selbstgefühls können bei besseren Schulleistungen der begabteren Geschwister im Schwächeren entstehen und sogar seelische Traumen hervorrufen. Noch durchsichtiger sind die Verhältnisse in der Spielgemeinschaft, wie man sie am besten früher auf dem Lande, in der Stadt, auf der autofreien Straße beobachten konnte. Hier sind alle Altersgenossen gleich, die Jüngeren ordnen sich ohne Widerspruch unter. Der Stärkere wird zwar als Anführer anerkannt, darf aber die grundsätzliche Gleichheit der Spielkameraden nicht antasten. Bei vielen Spielen wählen die Besten als die berufenen Mannschaftskapitäne ihre Mannschaft aus, aber dabei kommen alle dran.

2. In primitiven homogenen Gesellschaften etwa der Wildbeuter wird der Rangstreit verhältnismäßig leicht durch das Gleichheitsprinzip abgefangen, Güter und institutionelle Rechte gleichmäßig zugewiesen. Die Erträge der weiblichen Sammeltätigkeit können ohnedies nicht viel voneinander abweichen, der einzelnen Frau kann auch zum Feldbau nicht mehr Land zugewiesen werden, als sie selbst bearbeiten kann (ein Motiv für die Polygamie der Männer). Unter den Männern genießt der besonders erfolgreiche Jäger zwar Vorteile bei der Verteilung der Jagdbeute, aber er kann schließlich auch nicht mehr essen als die anderen, und das Jagdglück ist bald diesem, bald jenem hold. Größeren Rangvorteil genießt natürlich der Kriegsanführer, aber begreiflicherweise drängen sich nicht allzu viele nach diesem gefährlichen Amt. Auch heute noch gilt der Landserspruch: "Was macht der gute Soldat, wenn es heißt, Freiwillige vor? Er macht Platz, damit die Freiwilligen vortreten können." Der Anführer wird bei der Beuteverteilung begünstigt, aber noch die fränkische Heeresversammlung achtete genau darauf, daß sich der Heerkönig nicht allzu viel heraus nahm. Vgl. die Geschichte vom Krug von Soissons (oben S. 95). 3. In den geschichteten Gesellschaften muß das Prinzip der Gleichheit mit dem Prinzip suum cuique verbunden werden. Solange dabei der Lebensbereich der kriegerischen Hirten und Großviehzüchter einerseits, der überschichteten Feldbauern usw. andererseits noch klar getrennt ist, macht das gewöhnlich keine Schwierigkeit. Der gehärtete Krieger, der langbeinige Großviehzüchter ist eben ein anderer und schließlich muß man dem Mann, der sehr viel gefährlicher lebt, auch einiges zubilligen. Werden die Ursprungsgruppen in eine Einheitsgesellschaft integriert, so werden Konflikte unvermeidlich. Das überaus harte indogermanische Diebstahlsrecht, welches in höchst irrationaler Weise bis in die Gegenwart nachwirkt, war ursprüng-

§ 14. Selbstbehauptung in Kooperation

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lich ein Standrecht zum Schutz des Großviehbesitzes der kriegerischen Oberschicht. In den späteren traditionellen und ständischen Gesellschaften waren Gegensätze im Gedanken der Ständeordnung einigermaßen ausgeglichen. Innerhalb der einzelnen ständischen Ebenen galt Gleichheit und nur wenige wollten ihre gewohnte soziale Ebene wechseln. Bauer und Handwerksmeister waren jeweils mit ihrem Stand zufrieden und stolz, wie heute vielfach der verbürgerlichte Arbeiter. Innerhalb der Ebenen wurden nur begrenzte Rangvorteile beansprucht und geduldet. Bismarck berichtet, daß seine Standesgenossen ihm zwar noch die übliche Erhöhung zum Grafen, nicht aber die Erhöhung zum Fürsten verziehen. An den alten Ordinarienuniversitäten war es weder üblich noch ratsam, sich um ein anschließendes zweites Rektorat zu bewerben. Dabei hätte eine Republik von Gelehrten vielleicht doch bedenken können, daß eine Selbstverwaltung mit der linken Hand sich gerade noch ihr eigenes Grab schaufeln kann. 4. In der heutigen mobilen Industriegesellschaft machen sich widersprechende Tendenzen bemerkbar. Einerseits tritt der Gleichheitsanspruch in voller Stärke hervor, insofern ständische Unterscheidungen grundsätzlich nicht mehr akzeptiert werden. Die in unserer Zeit relevanten ökonomischen Unterscheidungen sind aber andererseits faktisch sehr groß. Geordnet wird nämlich die Gesellschaft heute durch ein extremes Leistungsprinzip, das wir nicht schelten wollen, weil allein die Leistung den Hunger aus Mitteleuropa vertrieben hat. Die Leistungsfähigkeit wird zum kleineren Teil an Bildungsmerkmalen, z. B. an Zeugnissen der Schulen und Hochschulen gemessen. In immer steigendem Maße wird die Leistung dem finanziellen Erfolg gleichgesetzt, am höheren Lohn oder Einkommen, an der Größe des Vermögens abgelesen. Die Leistungsfähigkeit der Menschen ist aber sehr verschieden. Daher überfordert das Leistungsprinzip den Schwächeren und stiftet sozialen Unfrieden. Die Neigung der schlechter Weggekommenen, höhere Leistungen oder bestimmte Berufsgruppen anzuerkennen, ist nicht allzu groß. Es herrscht sogar eine allgemeine Abneigung gegen Elitebildung, auch dort wo Eliten unentbehrlich sind. Das Gleichheitsbedürfnis hat sich insbesondere als sog. Chancengleichheit durchgesetzt. Leider hilft die Chancengleichheit nur den wenigen, welche überdurchschnittliche Fähigkeiten besitzen und daher überdurchschnittlichen Erfolg haben. Für die Schwächeren bringt die Überforderung im Wettstreit nur herbe Enttäuschungen. Aber man unterschätze die elementare Kraft des Gleichheitsdranges nicht. Dem mitteleuropäischen Kapitalismus ist es trotz aller Kriegszerstörungen gelungen, die armen Leute im früheren Sinne abzuschaffen. Wer heute noch arm und elend ist, ist gewöhnlich nicht ganz gesund. Dieser Erfolg entschuldigt den Kapitalismus aber im Bewußtsein der Egalitären nicht. Daß er die reichen Leute nicht abgeschafft hat, bleibt seine unverzeihliche Sünde. So übertrieben auch die Meinung der sozialistischen Kriminologen war, die Kriminalität sei eine Folge der Klassenunterschiede, so wahr ist es, daß im Widerspruch zwischen Gleichheitsbedürfnis und faktischen sozialen Unterschieden eine der Hauptursachen für soziale und kriminelle Konflikte zu sehen ist. 5. Machtstreben. Die Machtergreifung Hitlers und die NS-Revolution die kälteste aber entschiedenste aller europäischen Revolutionen - setzte alle Eliten bis hin zu den Gewerkschaftsfunktionären, ja sogar zunächst bis hin zu den Volksschullehrern, außer Gefecht und machte so die Bahn für den

166 4. Kap.: Selbstbehauptungsdrang, Strukturgefüge und soziale Leistungen charismatischen Führer frei. Dabei hatte interessanterweise Hitler keinen ernsthaften Konkurrenten beim Kampf um die Macht, weil eben im traditionellen Staat nur sehr wenige Menschen um die Macht als solche kämpften. Auch der wichtigste Gegenspieler, Brüning, kämpfte für den Staat, vielleicht für die Wiedereinsetzung der Monarchie, aber nicht für seine persönliche Macht. Die vielen kleinen Gernegroße fielen schnell um, als ernsthaft um die Macht zu kämpfen war. Das deutsche Volk wartete damals auf den Führer und Erretter. Der einzige ernsthafte Bewerber um diese Planstelle war Hitler. - Wer "im Purpur geboren" ist, denkt besonders skeptisch von den Vorzügen der Macht. Die deutschen Fürsten, insbesondere die kleineren deutschen Fürsten, hielten ihre ihnen im Wiener Kongreß von Alexander I. aufgedrängte Stellung bis 1918 aus Pflichtgefühl und gaben 1918 schnell auf. Sie wußten, daß der ständische Staat am Ende war. - Wahlen sind Kämpfe um die Macht. Als zugkräftig haben sich dabei skrupellose charismatische Führer wie Kennedy oder auch große Vaterfiguren erwiesen. Kriminologisch bedeutet dies, daß im gewöhnlichen Sozialbereich der Kampf um die Macht nur in besonderen Verhältnissen, etwa bei den Kämpfen der Gangs, eine Rolle spielt. Immerhin kann das bloße Rangstreben als solches gelegentlich kriminelle Formen annehmen. Man denke an den skurrilen Fall des österreichischen Hauptmanns Hofrichter, der einige Vormänner der Abschlußprüfung der Kriegsakademie vergiften wollte, um dann mit seinem Zeugnis selber in den Generalstab einberufen zu werden. Einer der Vormänner schluckte auch wirklich das tödliche Medikament, welches angeblich seine Manneskraft festigen sollte. Urkundenfälschungen an Zeugnissen kommen in harmloserer Weise häufiger vor.

§ 15. Selbstbehauptung im intragentilen Widerstreit

1. Extragentiler und intragentiler Widerstreit. Die Verhaltenslehre, namentlich Lorenz im Buch "Das sogenannte Böse" scheidet scharf zwischen dem extraspezifischen Lebenskampf (struggle of life) und dem intraspezifischen Streitverhalten. Lorenz meint, der Löwe verzehre das geschlagene Gnu ebenso behaglich und emotionsfrei wie der Mensch seinen Sonntagsbraten. Dagegen sieht er sowohl im extragentilen und intragentilen Streitverhalten nur Abwandlungen eines wesentlich einheitlichen Aggressionsverhaltens. Für uns ist die Unterscheidung zwischen extragentilem und intragentilem Streit von grundsätzlicher Bedeutung. Extragentiles blutiges Streitverhalten ist für den in gentes (Vormenschenherde, Kleinstamm, Fortbildungen) lebenden Menschen ganz unvermeidlich, daher natürlich. Der Drang zu diesem höchst emotionalen Kampfverhalten unterliegt allerdings zeitlichen Schwankungen. Zwar hat der Mensch seit Urzeiten von einem vergangenen goldenen Zeitalter geträumt, in dem es keine Kriege gab. Es gab und gibt auch überall religiöse Zukunftshoffnungen von einer Endzeit, in welcher Gott der Herr alle Waffen zerbricht. In der historischen und prähistorischen Wirklichkeit ist uns aber keine Daseinsform des Menschen bekannt, welche ohne Kriege gelebt hätte. Zwar verhalten sich die heutigen Wildbeutervölker überwiegend auch nach außen hin

§ 15. Selbstbehauptung im intragentilen Widerstreit

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friedlich, aber ganz ohne Kriege kommen auch sie nicht aus. Auch besaß der l\1ensch schon längst Jagdwaffen aus Holz oder Knochen, bevor der Faustkeil in Gebrauch kam. Dieser verlangt nämlich abschlagstaugliches Material, das nicht überall vorhanden ist und dessen Bearbeitung gar nicht so leicht ist. Er setzt also eine längere Entwicklung voraus. Dagegen herrscht im intragentilen Bereich ganz überwiegend Frieden. Der blutige intragentile Streit ist dem Menschen immer befremdlich gewesen, bis es in der Moderne zum Kult der blutigen Revolution kam. Intragentiles Streitverhalten zielt primär auf Selbstbehauptung, nur sekundär auf Schädigung, Laesion, Destruktion des Gegners. Daher wird in der überzahl der Fälle der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel gewahrt. Dennoch geht der Streit unter Menschen nicht selten schlimm aus, viel schlimmer jedenfalls als das Gerangel unter Schimpansen. Es kann sogar der vernünftige Zusammenhang zwischen Anlaß, Ziel und Mitteln gänzlich verlorengehen. Diese besondere Vbersteigerung des StreitverhaLtens hat aber jeweils besondere Ursachen, mit denen wir uns noch zu befassen haben. Eine ganz große Merkwürdigkeit ist aber schon zu Beginn hervorzuheben. Die meisten Naturund Niederkulturvölker leben nicht in homogenen, sondern in geschichteten Stämmen, deren Schichten sich früher einmal im potentiellen Feind- und Kampfverhältnis gegenübergestanden haben müssen. Dennoch gelingt es der Stammesintegration ganz überwiegend, einen sicheren Friedenszustand herzustellen. Dabei soll nicht verschwiegen werden, daß Härten des Stammeslebens als Anleihen aus älterem extragentilen Verhalten gedeutet werden können. Es ist auch gewiß, daß in der Erregung des Streites Primitivreaktionen freigesetzt werden. Dies ist aber dann der übergang vom bloßen Streitverhalten in ein anderes Verhaltensmuster. Diese relative Milde und Vernünftigkeit hängt sicherlich zum Teil damit zusammen, daß alles bewußte Tun des Menschen finales Handeln ist, sofern der Mensch nicht seinen Verstand zu Hause läßt oder ihn unterwegs verliert, was ihm freilich nur allzu oft widerfährt. Aber es ist doch zweifelhaft, ob sich die vernünftige Natur des Menschen so weitgehend durchsetzen könnte, wenn wirklich ein schematisches Aggressionsverhalten zu bändigen wäre. Auch das Streitverhalten höherer Tiere zeigt manchmal einen gewissen finalen Anstrich. Der schöne und kräftige "feige" Stier, der in wilder Erregung in die Madrider Arena hineinstürmte, um dann verständig festzustellen, "kein Grund für Aufregung", bleibt dem Verfasser unvergeßlich. Es ist eben doch daran zu denken, daß das Herdenleben allen höheren Tieren Bindungen anerzogen hat, welche in flexibler Weise die Auseinandersetzungen zwischen den Herdentieren im Zaum halten. Ganz anders die Aggressionstheorie. Sie ist zuerst von der Psychoanalyse ausgebildet worden. Eine Auseinandersetzung mit deren verschiedenen

168 4. Kap.: Selbstbehauptungsdrang, Strukturgefüge und soziale Leistungen Schulen ist schwierig, zumal die Vertreter aller Schulen jedem Einwand mit der Behauptung entgegentreten, sie hätten es ganz anders gemeint. Doch darf man vielleicht der Psychoanalyse insgesamt folgendes Schema unterstellen: Der Mensch wird in der Auseinandersetzung mit seinesgleichen wesentlich durch libidinöses Luststreben bewegt. In der Realität des Lebens kann dies Verlangen aber niemals voll befriedigt werden. Daher kommt es zur Frustration und damit zu einem Aggressionsstau. Im Aggressionstrieb verwandelt sich die Libido zum Destruktionstrieb, der bis zum bitteren Ende der Vernichtung, sei es des Gegners, sei es des Aggressors selbst anhält. Allerdings kann vielleicht die Antriebskraft schon vorher verbraucht sein. Inwieweit dies schlimme Ergebnis durch Sublimierung des Triebs oder Abreaktion vermieden werden kann, braucht hier nicht erörtert zu werden. Jedenfalls steht nach diesem Schema die Aggression in keinem sinnvollen Verhältnis zum denkbaren Zweck der Verteidigung, sie lebt vielmehr nur den inneren Aggressionsstau aus. Die Verhaltenslehre hat ursprünglich weder die Antriebe des Streitverhaltens noch die verschiedenen Möglichkeiten des Kampfverhaltens selbst untersucht. Sie hat sich in der Hauptsache nur mit den Möglichkeiten befaßt, welche eine vorhandene Aggressionstendenz abbremsen könnten und hat dabei das überaus wichtige Demutsschema entdeckt. Erst mit dem Buch über das Böse hat sich dann Lorenz mit der allgemeinen Aggressionslehre, wie sie in der Psychoanalyse vorgetragen wird, auseinandergesetzt. Er hat dabei alle in Betracht kommenden Erscheinungsformen wie Hackordnung der Hühnervölker, Futterplatzverteidigung der einzelnen Fische im Korallenriff bis zum zwischenmenschlichen Streit unter ein einheitliches Schema gebracht, das etwa folgendermaßen aussieht: Jede der Selbstbehauptung dienende Aktivität ist Aggression, zielt also auf Schädigung eines anderen. Lorenz schwächt diese These immerhin dadurch ab, daß er die "Aggression" sprachlich ableitet aus dem seltener gebrauchten Activum aggredere und nicht aus dem Medium aggredi, welch letzteres unzweifelhaft "angreifen" bedeutet. Damit wird die Sache aber nur unklar, denn im "Latein" der modernen "Spät-Humanisten" heißt eben Aggression Angriff. Die Zähmung der aggressiven Aktivität geschieht erst nachträglich durch Gegeninstinkte, wobei im Parlament der Triebe auf diese Weise doch noch ein vernünftiges Kommando herauskommen "kann". Das von Lorenz dargestellte Spiel der Instinkte und Gegeninstinkte ist geistreich gedacht und auch sachlich lehrreich. Aber es erscheint dem Verfasser zweifelhaft, ob wir wirklich so weit sind, in dieser Weise alles Tun der Menschen zu erklären. Ohne auf diese Frage näher einzugehen, versuchen wir im folgenden das Streitverhalten der Menschen schlicht zu beschreiben.

11. Beim gewöhnlichen intragentilen Streitverhalten verbleiben die Streitenden wechselseitig im Achtungsverhältnis, welches die Angehörigen der gens verbindet. Dabei erweist sich die Achtung als die entscheidende, die Genossen der gens verbindende seelische Haltung. Dies hat der große "Realist" 1mmanuel Kant richtig gesehen. Daher ist dem Menschen von der Natur ein relativ schonendes Streitverhalten eigen. Der Mensch ist eben kein "Brudermörder". Die Geschichte von Kain und Abel will das auch nicht sagen. Kain und Abel sind vielmehr Repräsentanten zweier verschiedener Kulturbereiche, nämlich der Feldbauund der Hirtenkultur. Der Redaktor des Textes wußte genau, daß es

§ 15. Selbstbehauptung im intragentilen Widerstreit

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sich um Kulturen handelt, die in feindselige Konflikte zu geraten pflegen. Er wußte dies aus der vorhergehenden mindestens zweitausendjährigen Diskussion und Meditation über dies Thema und kommt dann neu zur prophetischen Aussage: "Auch diese Repräsentanten zweier Kulturbereiche haben sich als Brüder zu achten." Man kann im kindlichen Spiel sehr deutlich sehen, wie die Kinder in ihren Balgereien nicht nur die Kräfte im Wettstreit messen, sondern auch ihre sozialen Positionen klären bzw. die eigene Position festigen und verteidigen. Sie "raufen sich zusammen", wie der Volksmund sagt. überschreitet später der Schwächere seinen festgestellten Rang nicht, so kann er sogar auf Ritterlichkeit rechnen. Auch sehr rauflustige Kinder vermeiden gewöhnlich härtere Auseinandersetzungen, sofern sie nicht im Sonderfall das Ausstoßungsschema anwenden. Höhere sozial lebende Tiere verhalten sich ähnlich, nur wenige sozial lebende Arten führen Paarungskämpfe in voller Härte. Sonst würde nämlich die Art sich selbst ausrotten, bevor Selektionsvorteile erzielt werden könnten. Bei den Tieren kann man allerdings die verschiedenen Mittel erkennen, mit denen der intraspezifische Kampf gehemmt wird. Von diesen Mitteln ist das wichtigste das Demutsschema. Beim final handelnden Menschen sind diese Mittel in besonderer Weise fortgebildet, aber sie sind beim Menschen niemals zwingend. Das unter Menschen gültige Achtungsverhältnis lehrt den Menschen die vernünftige Einsicht, daß mindestens der Genosse der gens dem Nebenmenschen persönlich verbunden ist. Natürliche Mäßigung und vernünftige Einsicht wirken schon in den primitivsten Gesellschaften zusammen. Gerade die Wildbeuter leben mindestens in ihrer gens friedlich. Es ist nicht so, daß der sog. Wilde erst in die Zivilisation gerufen werden mußte, um sich durch den Gesellschaftsvertrag zum wechselseitigen Frieden zu verpflichten. So wild war nämlich der Frühmensch gerade nicht, vielmehr hat sich die zivilisierte Gesellschaft mit ihrem Friedensapparat ganz allmählich aus den Voraussetzungen des natürlichen Menschendaseins entwickelt. Dazu bedurfte sie nicht irgendwelcher emotionalen Liebe, sondern der wechselseitigen Achtung. Allerdings kommt auch innerhalb der gens echtes Streitverhalten vor. Solcher Widerstreit erklärt sich daraus, daß Selbsthilfe unvermeidlich ist, sie beginnt immer dort, wo Kooperation aufhört. Die gewöhnliche Rede, Selbsthilfe sei überhaupt verboten, bedarf übrigens genauerer Präzisierung. Im zivilisierten Recht betrachtet der Staat nur die unmittelbare Gewaltübung als sein Monopol, wobei er private Gewalt zur rechtmäßigen Verteidigung des bestehenden Zustandes erlaubt. Bloße Druckmittel sozialer, personeller Art fallen überhaupt nicht unter den Begriff der verbotenen Gewalt, und die Strafbestimmungen gegen Täuschung und Drohung (§§ 240, 253, 263 StGB) greifen erst nachträglich ein. Es bleibt also hinreichend Raum für unverbotenes Streitverhalten, wobei allerdings dann doch häufig irgendwelche Strafbestimmungen verletzt werden.

170 4. Kap.: Selbstbehauptungsdrang, Strukturgefüge und soziale Leistungen Zwischen Abwehr und Angriff ist in praxi oft nur schwer zu unterscheiden. Nur moderne Siegermächte pflegen genau zu wissen, daß der

besiegte Gegner als Angreifer zu bestrafen sei. Jede Rechtsordnung muß um des äußeren Friedens willen zunächst den· beatus possidens schützen, aber nicht jede soziale Position verkörpert sich in einer sichtbaren possessio und nicht jede possessio ist fehlerfrei und geschützt. Kooperativer Wettstreit kann daher in rücksichtslose oder unlautere Konkurrenz übergehen. Was äußerlich als Vertrag und vernünftiger Kompromiß gepriesen werden kann, mag in Wahrheit nur Unterwerfung des Schwächeren unter den rücksichtslosen Machtwillen des Stärkeren sein. Es kommt auch immer wieder vor, daß die zugestandene soziale Position das menschliche Gleichheitsstreben allzu sehr verletzt. Aus allen diesen Gründen greift der Schwächere möglicherweise zur heimlichen Eigenmacht, etwa zum Diebstahl oder zum versteckten Betrug. Auch derartige Vorgänge sind Streitverhältnisse, sie werden aber vielfach nicht als Friedensbruch gewertet. Möglicherweise wird die erfolgreiche List im gesellschaftlichen Spiel sogar gepriesen, man vgl. etwa die Spiele von Jakob und Laban um den Nachwuchs der Kleinviehherden. Vergegenwärtigen wir uns die wichtigsten Beispiele. Die meisten Streitigkeiten zielen wesentlich auf Selbstbehauptung und Bereicherung und erst sekundär auf Schädigung des Gegners, wenn sie auch immer eine gewisse Tendenz zur Übersteigerung enthalten. Am gefährlichsten sind immer irrationale Konflikte wie die rein personal begründeten Reibereien zwischen nahestehenden Menschen, namentlich zwischen Ehegatten oder Partnern eines Liebesverhältnisses. Wir werden auf diese Konflikte bei der Behandlung des menschlichen Fortpflanzungsverhaltens noch einmal eingehen müssen, betonen aber schon hier, daß Gattenoder Geliebtenmorde doch unendlich viel seltener sind als man annehmen könnte. Meist verzehren sich die Beteiligten nur selbst in Haßliebe. Immerhin macht diese Art von Morden einen nicht unerheblichen Anteil an der insgesamt kleinen Gesamtzahl der Morde aus. Der Kampf um das überleben nach dem Motto "er oder ich" kommt innerhalb der gens nur ausnahmsweise vor. Vom Kleinstamm bis zum modernen Staat muß die Gemeinschaft alles daransetzen, um solchen Situationen vorzubeugen. Im klassischen Fall des Schiffbruches kann es freilich vorkommen, daß die Insassen eines Rettungsbootes den außenbords Schwimmenden die Hände abhacken, damit dieser das Boot nicht zum kentern bringen kann. Aber Schiffbrüchige werden doch geordnet ausgeschifft nach der alten Seemansregel Frauen, Kinder, Jüngere zuerst. Reichen die Boote nicht aus, so erzwingt der todgeweihte Rest die Einhaltung der Regel, allerdings unter der hierarchischen Befehlsgewalt der Schiffsoffiziere und des Kapitäns, der als letzter das Schiff verläßt. Bei Massenpaniken, z. B. Theaterbränden trampeln die eingekeilten Einzelnen als Masse möglicherweise sich wechselseitig tot, aber eben doch nur, weil sie hilflos dem Fluchtimpuls gehorchen. Ruft ein energischer Mann zur Selbstbeherrschung auf, so mag sogar in solch extremen Fällen die Rettung ganz oder teilweise gelingen, eben dadurch, daß je-

§ 15. Selbstbehauptung im intragentilen Widerstreit

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der Einzelne den anderen geordnet vorangehen läßt. Es kann also der erforderliche Befehlshaber in der Not neu gefunden werden. Ubermäßiger Hunger hat in Gefangenenlagern gelegentlich Kannibalismus erzeugt. Es ist dies aber selten, weil die Masse gewöhnlich duldet. Notkannibalismus kam bei Völkern, die an der arktischen Hungergrenze leben, gelegentlich vor dem Kolonialzeitalter vor. Auch die bei vielen Völkern überlieferte Altentötung wird durch Hunger motiviert gewesen sein. In allen diesen Fällen galten soziale Regeln. Sofern in äußerster Gefahr und Not Flucht- und Nahrungsinstinkte sich in Primitivreaktionen durchsetzen, kann man eigentlich nicht mehr von Streitverhalten sprechen. Das überlieferte Recht hat Todesnot doch nur sehr bedingt als Strafausschließungsgrund anerkannt. Berühmt ist der Fall der untergegangenen Bark lIß:ignonette, der übrigens für eine Mehrzahl bekanntgewordener Fälle steht. Damals töteten zwei Matrosen einen Schiffsjungen und retteten sich mit dessen Blut vor dem Verdursten in der tropischen Salzwasserwüste der karibischen See, als ihnen im Rettungsboot das Wasser ausgegangen war. Der englische Richter hat diese Männer wegen Tötung verurteilt. Das kontinentale Strafrecht erlaubt allerdings, den Notstandstheorien des individualistischen Naturrechts des 18. Jahrhunderts folgend auch die Tötung Unschuldiger. Die ursprünglichen Rechte des Sippenstaates dagegen verzichteten nicht einmal bei Notwehr auf das Wergeld. In akuter Hungersnot erlauben praktisch alle Rechte den eigenmächtigen Eingriff in fremdes Eigentum, der dann auch zu dulden ist. Niemand darf aber sich in allgemeiner Not rechtswidrige Vorteile verschaffen. Sicherlich haben in beiden Weltkriegen die meisten Deutschen gehamstert, aber es sind im ersten Weltkrieg doch nicht wenige, namentlich ältere Leute, nach dem Kohlrübenwinter 1916/17 umgekommen, weil sie sich streng an die Rationierungsvorschriften hielten. In jeder sozialen Ordnung werden sich viele Menschen unbefriedigt fühlen und geraten daher in Versuchung zu verbotener, d. h. strafbarer Selbsthilfe. Aber es kommt nur selten zu offener Gewalt.

!Ir. In jedem Streitverhalten steckt die Gefahr zur Obersteigerung zu rücksichtslosem Schädigungs- oder Vernichtungskampf. Hier "sprudelt" die Hauptquelle der schweren Kriminalität, sie sprudelt aber nicht allzu reichlich. 1. übersteigertes Streitverhalten ist wie gesagt Selbsthilfe. Nun ist jede Selbsthilfe begrifflich "unrechtlich" (Kant), weil der Selbsthelfer sich zum Richter in eigener Sache macht, auch wenn er von Haus aus nichts Unrechtmäßiges oder Unbilliges will. Der Selbsthelfer will aber leider sehr häufig Unbilliges, weil der Mensch der folgerichtigen Reflexion auf seinen Vorteil und damit des bewußten Egoismus fähig ist. Der Gegner kann also kaum bereit sein, die Entscheidung des Selbsthelfers hinzunehmen. 2. Es werden daher bei jeder übersteigerung des Streitverhaltens Ängste erweckt und Leidenschaften entfesselt. Man kann diese Emotionen nicht einmal anklagen, denn es ist schwer einzusehen, wie ein Mensch zur Selbstbehauptung fähig wäre, würden ihm nicht Emotionen die erforderliche Kraft verleihen. So kommt es zur Eskalation. Diese

172 4. Kap.: Selbstbehauptungsdrang, Strukturgefüge und soziale Leistungen banalen Erwägungen sollen nur zeigen, daß die Übersteigerung meist sekundär €intritt und keinen primären Aggressionstrieb voraussetzt. Aber sicherlich hat die Psychoanalyse damit recht, daß angesammelte Frustrationen Reizungszustände hervorrufen, in welchen der Mensch zu Fehlentscheidungen geneigt ist. Aber leider sind im Leben so viel Konfliktmöglichkeiten enthalten, daß es solcher aggressionsträchtiger Zuständ€ gar nicht bedarf. 3. In der Übersteigerung des Streitverhaltens kann der Mensch zum Feind des Menschen werden, so gewiß er von Haus aus der Freund mindestens der Gentilgenossen ist, diese Freundschaft auch leicht auf alle Menschen ausdehnen kann. Eigentlich€ Feindschaft ist ein spezifisch menschliches Problem, sie setzt intellektuell Refl€xion voraus, mag diese Reflexion auch noch so dürftig oder auch gänzlich falsch sein. Bei Tieren könnte etwas Ähnliches nur durch Prägung entstehen, doch wissen wir darüber zu wenig. Feindschaft ist primär ein reaktives Gefühls- und Handlungsverhalten. Die zugrundeliegende Tri€bkraft ist die Feindfurcht. Sie ist deshalb so gefährlich, weil der Mensch um seinen möglichen Tod weiß und weil sein Selbstbehauptungsdrang sich zu bewußtem Egoismus verfestigt. Außerdem hat der Mensch in ursprünglichen Verhältnissen nur selten die freie Wahl zwischen Flucht oder Kampf, denn s€ine Fluchtfähigkeit ist sehr gering. NiCht einmal Hektor kann dem Achilleus entlaufen. Ist das Feindverhalten einmal entstanden, so kann der Mensch es frei benutzen, wie er alle erworbenen Verhalt€nsweisen mehr oder weniger frei benutzen kann. Die innere Feindseligkeit und das Feindverhalten können sich daher selbständig machen. Der Mensch kann einen anderen verteufeln und zum F€ind erklären. Wie man das in großem Maßstab machen kann, haben Hitler und Göbbels am Beispiel der Judenhetze und Judenverfolgung gezeigt. Nur ist der Ruf des aristocrats a la lanterne im Prinzip nicht besser. Weder das reaktive noch das spontane Feindverhalt€n besitzen natürliche Grenzen. Der Feind gehört nämlich nicht dazu, er ist nicht Gentilgenosse. Erklärt man einen Menschen zum gefährlichen Feind, so ist der Weg zur Tötung frei, außerdem macht Angst grausam. Feindangst studiert man am besten an den gro'aen literarisch bezeugten historischen Beispielen. Das große Sitten gedicht der Edda beginnt mit dem Vers Nach allen Türen, eh ein man tritt, Soll scharf man sehen. Nicht weißt du gewiß, Ob nicht weilt ein Feind auf der Diele vor Dir. So tapfer die alten Isländer waren, sie lebten in einer Zeit ständiger wechselseitiger Fehden in Feindangst. Die alte Jungfer der Münchener Fliegenden

§ 16. Die Tötung

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Blätter dagegen, welche allabendlich unter dem Bett angstvoll nach dem Einbrecher suchte, war unter ihren Lebensbedingungen nur eine zweideutige Einzel- und Spottfigur. Die Isländer stehen nicht allein, auch in den alttestamentlichen Psalmen klagt der Fromme über die Feindesnot als die wichtigste Lebensnot. Dabei gehen private gentile und Gruppenfeindschaft ineinander über. Sehr verbreitet ist Feindangst bei Natur- und Niederkulturvölkern, sofern ständige Stammeskriege herrschen. Aber es gibt heute noch gebildete Afrikaner, welche zum Koch nur einen Stammesfremden wählen, weil dieser als einzelner wehrlos und daher relativ ungefährlich ist. Feindangst ist sicherlich ein Abkömmling der Gefahrabwehrinstinkte, nimmt aber beim Menschen doch ganz besondere Züge an, weil der Mensch das Wissen um die Gefahr als echte subjektive Angst erlebt. Sie wird verstärkt dadurch, daß der Mensch um seinen Tod weiß. Nun ist der Naturmensch schon rein objektiv ständig von Gefahren umgeben, die wir uns kaum noch vorstellen können. Das Kind muß sich ständig vor Raubtieren fürchten, in unseren deutschen Märchen vom Wolf klingt dies nur noch schwächlich nach. Im afrikanischen Savannengürtel müssen sich aber Kinder wirklich vor Raubtieren hüten. Diese weichen zwar dem Menschen auf freier Fläche gewöhnlich aus, werden aber im Busch oder in halboffener Savanne äußerst gefährlich, wenn sie überraschend dem Menschen begegnen. Ungewöhnlich starke Tierangst, auch vor kleinen Hunden, ist Kindern, die in Afrika geboren sind, auch später in Europa kaum abzugewöhnen. Leider kann der Mensch aber dem Menschen viel gefährlicher werden als jedes Tier. Angst vor Zauber und Gift ist ein Grundmotiv im Verhalten sehr vieler primitiver Völker. Der primitive Mensch betrachtet alle Mächte der Welt als ziemlich einheitlich, er unterscheidet auch nicht in unserer Weise zwischen belebter und unbelebter Natur und personifiziert beides. Die belebte Natur wird dadurch ebenso gefährlich wie der bösartige Mensch, nur langsam schwindet diese Angst mit zunehmender Rationalisierung. Der Mensch erträgt die Gefahren des modernen Straßenverkehrs mit bedenklichem Gleichmut. Es geht daher offenbar zu weit, wenn manche Menschen meinen, die "Grundbefindlichkeit" des Menschen sei Angst. Angst ist Reaktion. Im gesunden Familienleben ist Angst selten. Es gibt allerdings auch Gesellschaften, in denen sich Angstreaktionen häufen. Doch schützt sich der Mensch auch in solchen Fällen vielfach durch wohltätige Leichtfertigkeit vor übermäßiger Angst.

IV. Die Mittel des intragentilen Widerstreits liegen regelmäßig unterhalb der gefährlichen Gewalt. In sozial integrierten Dorfgemeinden lebt man auch heute noch überwiegend friedlich. Allerdings kann gelegentlich auch im friedlichen Dorf die Menge einen einzelnen so sehr einengen, daß er zugrunde geht. Doch können die einzelnen Mitglieder der Menge die Folgen ihres kollektiven Verhaltens kaum bedenken und beherrschen. § 16. Die Tötung Im extragentilen Widerstreit sind Kampf und Tötung unvermeidliche Mittel der Aus€inandersetzung. Im extragentilen Widerstreit sind sich die Menschen auch fremd, so daß die extragentile Tötung nicht als Beleg für die Aggressivität des Menschen verwendet werden kann.

174 4. Kap.: Selbstbehauptungsdrang, Strukturgefüge und soziale Leistungen

Signifikant für Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein könnte nur die private Tötung sein, welche das gentilizische Band wechselseitiger Achtung zerreißt. I. Die private Tötung kommt nur selten vor. Dies ist um so merkwürdiger, als der im Streit unterlegene Mensch seinen Gegner nicht dadurch zwingen kann, den Kampf zu beenden, daß er selbst eine Demutshaltung einnimmt. Im Kampf unterlegene Raubtiere zwingen dagegen den Sieger durch die Einnahme der Demutshaltung als Signalschema zum Abbruch des Kampfes. Der Gentilgenosse ist aber nur durch gefühlsmäßige Tötungshemmungen, in sehr flexibler Weise, wenn auch sehr umfassend gegen Tötung geschützt. Dieser Schutz kann im Stammesleben und geschichtlichen Völkerleben dadurch entfallen, daß sich z. B. der Stammesverband in Blutracheverbände mehr oder weniger auflöst. Blutracheverbände sind aber kein ursprünglicher Bestandteil des Stammeslebens, es handelt sich vielmehr um ideologische Zwänge, vermöge deren die Blutrache als heilige Pflicht gilt. In der modernen Großgesellschaft erstreckt sich der flexible gefühlsmäßige Schutz, mehr oder weniger auf alle Menschen. Diese Gefühlsbindung ist aber nicht sehr fest, sie kann namentlich in einem ungeordneten Großstadtleben sich heute sehr leicht auflösen. In Einwanderungsländern können die verschiedenen nationalen Immigrationsgruppen einander feindselig gegenübertreten. Schlimmer noch ist es, daß der moderne Kult der Revolution auch intragentile Massenmorde ermöglicht, die der unaufgeklärte "Wilde" nicht kannte. Der Mensch ist niemals so schlecht wie es seine Ideologien sind, denn Ideologien sind übertriebene Vereinseitigungen. Inwieweit anläßlich der Tötung sekundäre Mordlust sich dem Tötungswillen beigesellt, inwieweit im Einzelfall Tötung durch primäre Mordlust motiviert sein kann, ist noch viel zu wenig untersucht. Die Seltenheit der privaten Tötung belegt nachstehende Tabelle Wegen Mordes und Totschlags jährlich Verurteilte (zusammengestellt aus der amtlichen Statistik)

1882 - 85 86 - 95 96 - 05 05 -14

300 279 273 296

1921 22 23

24

25 26 27 28 29 30 31 32 33

626 530 419 602 570 574 509 407 417 435 502 653 670

1961 62 63 64 65

295 310 295 316 339

§ 16. Die Tötung

175

Die Zahlen beziehen sich bis 1933 auf das Reichsgebiet in den jeweiligen Grenzen. Es genügen die absoluten Zahlen, die Verhältniszahlen (Kriminalitätsziffern wären für den Leser nicht deutlich genug, der Fehler ist aber geringfügig). Infolge der starken Bevölkerungszunahme von 1882 bis 1914 hat die relative Tötungshäufigkeit natürlich abgenommen. Die seit 1921 erhöhten Zahlen erklären sich aus politischen Unruhen der Zeit. Darauf weisen auch die Schwankungen der Ziffern hin, welche mit den Schwankungen der politischen Ruhe oder Unruhe gut übereinstimmen. Leider ist es unmöglich, die Zahl der echten privaten Tötungen von politischen Akten zu scheiden. übrigens sind nach 1918 die Opfer der bürgerkriegsähnlichen Verhältnisse statistisch überhaupt nur sehr teilweise erfaßt. Wichtig ist, daß die Zahlen der ruhigen Jahre von 1961 bis 1965 wieder mit den Zahlen vor dem ersten W el tkrieg übereinstimmen. Natürlich sind die angegebenen Zahlen Mindestziffern, welche um die Dunkelziffer erhöht werden müssen. Die Schätzungen der Dunkelziffer schwanken zwischen 1 : 2 und 1 ; 5. Selbst wenn wir die höhere Schätzung zugrunde legen, bleibt die Tötung dennoch selten. Verborgene Tötungen betreffen auch ganz überwiegend besondere Fallgruppen, wie Kindstötung und illegitime (meist erbschleicherische] Sterbehilfe. Der Großteil der Leichenfunde, welche zu keinen Ermittlungsverfahren führten, betrifft Kindsleichen.

Ir. Die anthropologische Frage, inwieweit hinter den Tötungen angeborene Mordlust steht, wird sowohl von Anthropologen als auch von Medizinern unterschiedlich beantwortet. 1. Einige Anthropologen beschuldigen den Menschen eines von den anthropoiden Ahnen (von welchen?) ererbten gefährlichen Aggressionstriebes. Diese Meinung scheitert an der einfachen Tatsache, daß die private Tötung in den meisten Gesellschaften, nicht nur in der zivilisierten Gesellschaft von heute, immer sehr selten war und ist. Es gibt freilich auch Sondergruppen, bei welchen seltsame Bräuche zu sinnlosen Tötungen verführen. Die Seltenheit der Tötung kann auch nicht etwa mit der domestizierenden Kraft der zivilisatorischen Zwänge erklärt werden. Der Verfasser zählt zu den Autoren, welche die tabuierende Wirkung der generalpräventiven Strafe verhältnismäßig hoch einschätzen. Aber gegen verbreitete Mordlust oder verbreitete gefährliche Aggressionstriebe käme doch die zivilisierte und humanisierte Strafe nicht aus. Darüber ist praktisch kein Wort mehr zu verlieren.

2. Umgekehrt behaupten manche Psychiater, wer einen anderen Menschen töte, sei entweder überhaupt geistig abnorm oder habe sich doch zur Zeit der Tat in einem abnormen Zustand befunden, d. h. in einem Zustand, der durch die Tatsituation normal-psychologisch nicht zu erklären sei. Wäre dies richtig, so könnte von einer gefährlichen Aggressionsneigung des Menschen überhaupt nicht die Rede sein. Aber auch diese Behauptung scheitert an folgenden einfachen Tatsachen. Es gibt nur sehr wenige anstaltsbedürftige geisteskranke Mörder oder

176 4. Kap.: Selbstbehauptungsdrang, Strukturgefüge und soziale Leistungen

Totschläger, obgleich die Angeklagten dieser Taten immer sehr gründlich untersucht werden. Auch unter den verurteilten Tätern werden nur ganz wenige nachträglich geisteskrank. Zu denken wäre an Erklärungen wie Psychopathie oder Neurose. Dagegen spricht daß verurteilte Mörder und Totschläger sich mindestens nicht in ungünstiger Weise von anderen Häftlingen unterscheiden. Sie ertragen die langjährige Haft viel besser als man erwarten sollte, sie führen sich auch mindestens nicht schlechter. Dies ist um so merkwürdiger, als der Täter kaum jemals wirklich einleuchtende Gründe für eine so folgenschwere Tat, auch für ihn selbst so existenzvernichtende Tat, geltend machen kann. Dabei ist die langzeitige, sog. lebenslängliche Haft natürlich auch für einen gesunden Menschen sehr schädlich. Doch sei die Frage geistiger Erkrankung oder psychopathischer Besonderheiten noch ausführlicher behandelt. Einen Anhaltspunkt bietet natürlich die Verurteilungsstatistik selbst. Geisteskranke durften zu keiner Zeit zur Strafe verurteilt werden, soweit die Krankheit die normale Willensbestimmbarkeit aufhob. Dies galt sogar für das Mittelalter. Seit 1933 der Schuldminderungsgrund der beschränkten Zurechnungsfähigkeit eingeführt wurde, waren auch geringfügigere Erkrankungen, auch Psychopathie und Neurose zu berücksichtigen. Man hat vor 1933 vielfach geglaubt, die Neuerung würde für die Rechtsprechung große Veränderungen bewirken. Dies war aber nicht der Fall gewesen. Die entscheidende Frage ist, wieviele Täter von Tötungen sind unter den anstaltsbedürftigen manifest Geisteskranken zu finden. Diese Frage wird kaum gestellt, wäre beim gegenwärtigen Stand der Medizinalstatistik auch kaum zu beantworten. Nach einer Untersuchung von Andreas Schmidt für Schleswig-Holstein (Kriminolog. Forschungen Bd. 8) sind die Geisteskranken mit Tötungskriminalität nicht mehr belastet als die Durchschnittsbevölkerung. Die Zahlen sind aber noch zu klein, um die Frage endgültig zu beantworten. Gefährlich scheinen jugendliche Schizophrene in der Latenzzeit des ersten Schubes zu sein. Im übrigen kommen nur Reihenuntersuchungen an Verurteilten in Betracht. Echte auslesefreie Reihen lassen sich für unser Problem leider nicht finden. Untersucht wurden bisher nahezu ausschließlich diejenigen Mörder, welche als lebenslänglich Verurteilte auffallen und sich der Untersuchung gewissermaßen von selbst darbieten. Die kontinentale Unterscheidung zwischen Mord und Totschlag ist zwar dem angelsächsischen Mordbegriff vorzuziehen. Früher stellte man auch in Deutschland auf das Merkmal der überlegung ab. Das veranlaßte bis 1923 die Geschworenen zu gefühlsmäßigen Entscheidungen, die Berufsrichter zu Entscheidungen nach ihrem Eindruck von der Person, den sie meist überbewerteten. Die 1941 in Deutschland neu eingeführte Unter-

§

16. Die Tötung

177

scheidung nach Motiv und Ausführung hilft jedenfalls nicht zur Beantwortung der Frage, ob der Täter größere oder geringe Tötungshemmungen zu überwinden hatte. Solange die Todesstrafe galt, erwirkte jeder medizinische Verdacht auf geistige Erkrankung die Begnadigung. Wer hingerichtet wurde, galt als gesund. Unter diesen Vorbehalten, darf man folgendes sagen. Ältere Arbeiten von Rüdin und Többen glaubten eine große Zahl von Geisteskranken unter den Lebenslänglichen zu finden. Beide Autoren bildeten aber keine einigermaßen auslesefreien Reihen. Többen selbst fand in einer methodisch erträglich angelegten Arbeit von 1927 nur drei psychiatrische Grenzfälle unter 70 beobachteten Lebenslänglichen, allerdings eine größere Zahl angeblicher Psychopathen. Er verwendet aber den Begriff ungenau, berücksichtigt auch die Frage der Haftneurose zu wenig. Lempp fand gleichzeitig unter 50 Bruchsaler Häftlingen nur zwei Geisteskranke. Folgerichtig hat auch Aschaffenburg nichts über Geisteskrankheit oder Psychopathie der Mörder oder Totschläger mitgeteilt, ebensowenig Exner. Lebenslängliche erbringen in der Haft erfahrungsmäßig gewisse geistig-sittliche Leistungen (Ohm, Röhl). Sie führen sich mindestens nicht schlechter als andere Häftlinge, vielfach wird ihre Führung als überwiegend gut beurteilt. Sie nehmen nicht selten Vertrauensstellungen ein. Dies ist erstaunlich angesichts des kaum erträglichen Schicksals, welches auf ihnen lastet. Ein ähnliches Schicksal erleiden freilich auch die Sicherungsverwahrten, über deren Haltungs- und Führungsschwierigkeiten gibt es ja wohl nur eine Stimme. Die Lebenslänglichen heben sich mindestens von dieser Gruppe wohltätig ab, was in den Beschwerden der Verwahrten über angebliche Bevorzugung der Mörder sichtbar wird.

ur. Der Mensch besitzt eine Mehrzahl von Tötungshemmungen. 1. Der Mensch scheut den Anblick der Verletzung und Tötung von Lebewesen. Jedes Kind erschrickt, wenn es zusehen muß, wie Geflügel abgeschlachtet wird. Auch die meisten Erwachsenen sehen Blut nur sehr ungern, ja sie reißen sogar aus, wenn es nur gilt, blutende Wunden zu verbinden. Man kann da selbst auf Theologenkongressen ganz erstaunliche Erfahrungen machen. Gewisse Berufe wie Schlachter, Melker und Jäger büßen diese primitive Hemmung ein. Auch der Mensch kennt Demutsgebärden wie das Tier. Sie sind auf aller Welt ziemlich gleich, müssen wohl auch eine gewisse Wirkung haben. Gerade dem Krieger fällt es nicht leicht, den wehrlosen Schutzflehenden zu töten. Der Angehörige der gens wird in der Regel geschont, wie auch beim innerartlichen Kampf mancher Tierarten z. B. der Ratten offenbar die Herdenzugehörigkeit Schutz verleiht. Umge12 Mayer

178 4. Kap.: Selbstbehauptungsdrang, Strukturgefüge und soziale Leistungen kehrt ist entscheidend gefährdet, wem die Gruppenzugehörigkeit verweigert oder abgesprochen wird, wie dies beim ideologisch motivierten Massenmord der Fall ist. In der Bergpredigt heißt es: Ihr wißt, daß zu den Alten gesagt ist, Du sollst nicht töten! Wer aber tötet, soll dem Hochgericht über Blutfälle verfallen sein. Ich dagegen sage Euch: Bereits jeder, der seinem Bruder zürnt, gehört vor das Hochgericht. Wer zu seinem Bruder sagt, "Dummkopf", gehört schon vor den Hohen Rat, wer aber sagt "Du halbe Portion" soll der Feuerhölle verfallen sein. Dies ist eine zweifache umgekehrte Klimax. Jesus von Nazareth bleibt dabei im Stil orientalischer Weisheitsrede, welche etwas sehr Einfaches und Natürliches sagen will. Es sei nämlich gar kein so großer Unterschied, ob man einen Menschen tötet oder ihn gar nicht als echten Menschen mitzählt. Diese Aussage entspricht der geschichtlichen Erfahrung: Ist ein Mensch einmal abgeschrieben, so entfällt die hauptsächliche Tötungshemmung. Ob das Opfer dann wirklich getötet wird, hängt mehr vom Zufall als von dem besonderen Willensentschluß des Täters ab. Die großen Massenmorde der Geschichte waren immer nur möglich, weil jede menschliche Bindung insbesondere jede gentile Bindung mit den Gemordeten geleugnet und wirklich mit Erfolg verdrängt werden konnte. Der Urheber der Judenmorde, Adolf Hitler, könnte persönlich mordlustig gewesen sein, ganz sicher ist das aber nicht. Die ausführenden Organe waren es sicherlich nur in den seltensten Fällen. Die Erkenntnis, daß Morden doch nicht so einfach ist, veranlaßte Hilter zu dem scheinmedizinisch begründbaren Irrentötungen, in denen taugliche Tötungshelfer zum Morden eingewöhnt werden sollten. Es ist nämlich etwas anderes, Theorien über sog. Euthanasie aufzustellen, etwas anderes, die lebendigen Opfer dieser Theorie wirklich selber zu töten. Als dieser Gewöhnungszweck erreicht war, konnte Hilter die Aktion auch abbrechen. Dazu kam dann die theoretische Indoktrinierung. Aus den Erinnerungen des Kommandanten von Auschwitz, die m. E. als ernst und ehrlich anzusehen sind, ergibt sich, daß dieser schreckliche Mensch der natürlichen Tötungshemmungen an sich nicht entbehrte, aber zuerst durch Verbitterung, später durch Verbildung und Indoktrinierung seelisch taub geworden war. Er war sich aber soweit über die Schrecklichkeit seines Tuns klar, daß er versuchte, die Sache in eine Art Kriegshandlung umzufälschen, auch sich bemühte, den Opfern unnötige Todesqualen zu ersparen. Im übrigen ist diese schreckliche Sache nicht ohne Vorbilder, die schauerlichen Indianermorde in Nordamerika waren nur möglich, weil man ideologisch den Indianern die Menschenqualität absprach. Neuerdings sind die Amerikaner mit humanitären Gründen zur Kriegsbeendigung in Indochina überredet worden. Anschließend sollen in Kambodscha sehr viele Menschen, man spricht von einer Million, ermordet worden sein. Ich kann nicht finden, daß sich das Weltgewissen über diese Massenmorde besonders erregt hat. 2. Zu der allgemeinen natürlichen Hemmung treten besondere kulturelle Tötungsverbote hinzu, welche religiös, sittlich, rechtlich und zivi-

lisatorisch begründet werden. Diese Verbote erfahren in besonderen historischen Situationen gelegentlich seltsame Wucherungen im Sinne einer absurden "Ehrfurcht vor dem Leben". Dabei läßt sich die Heiligkeit der Kühe gefühlsmäßig noch gut nachempfinden, die Heiligkeit des Ungeziefers befremdet uns. Als die Mönche den ermordeten Erzbischof Thomas Beckett auszogen und seine Leiche wuschen, erstaun-

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ten sie über das Maß seiner Heiligkeit, er hatte offenbar die Läuse überhaupt nicht abgewehrt. Dies ist um so seltsamer, als die christliche Lehre kaum Ansatzpunkte für eine solche Übertreibung liefert. Aber auch alle diese Ausuferungen haben ihre biologische Grundlage und sind natürliche Verhaltensweisen, denn alles was geschieht, geschieht vermöge natürlicher Ursachen. Andererseits erschien in älteren Zeiten vielfach das Verbot den Feind zu töten als so unverständlich, daß das allgemeine noachitische Tötungsverbot als besonderen Grund die Gottesebenbildlichkeit des Menschen anführen mußte (Gen. cap. 9 V. 6). Das Mordverbot im Zehngebot hat an sich einen sehr viel engeren Sinn, denn das Zehngebot ist ursprünglich nur ein religiös begründetes Landfriedensgesetz. Dicht daneben steht das Banngebot, welches einen überaus harten Ausrottungskrieg gegen die Ungläubigen anbefiehlt. Betrachtet man diese möglichen historischen Varianten, so ist doch als Ergebnis hervorzuheben, daß es dem kulturellen Tötungsverbot gelungen ist, die Tötung überaus wirksam zu tabuieren und zwar in dem Maße, daß heute die meisten Menschen (einsch!. mancher Gerichtsmedizier) den Mörder für einen besonderen Menschentypus halten. Diese Vorstellung fand denn auch in der Strafrechtsnovelle von 1941 ihren Niederschlag. In der Rechtsprechung stellte sich dann allerdings sehr schnell heraus, daß es keinen Typus des Mörders gibt. Eine persönliche Beobachtung: Im Jahre 1930 besuchte ich das Zuchthaus in Bützow. An Eingang zum Treppenhaus arbeitete ein sehr gut aussehender Sträfling mit straffer Haltung, der auch gar nicht unangenehm dienerte. Der Leiter des Zuchthauses fragte mich, was der Mann wohl getan haben könnte. Ich erwiderte, wenn er mich so frage, könnte die Antwort doch wohl nur lauten, dies sei ein Mörder. Der Beamte fragte mich nach dem Motiv der Tat. Ich tippte auf Mord aus Eifersucht, worauf der Beamte lächelnd sagte, nun sei ich doch hereingefallen. Es handele sich um einen schlimmen Raubmord. IV. Es bedarf wohl keiner längeren Begründung dafür, daß das kulturelle Tötungsverbot durch starke Leidenschaften, durch Notlagen und durch besondere unglückselige Verstrickungen ausgeschaltet werden kann. Eine solche Verstrickung lag auch im eben berichteten Fall vor. Namentlich innerhalb des engsten Lebenskreises können sich Haß, tödliche Abneigung oder gefährliche Gleichgültigkeit entwickeln. Nahezu die Hälfte der Mordopfer sind denn auch Personen, die dem Täter nahestehen. Den größten Anteil stellen Ehegatten und Geliebte. Die zahlreichen Raubmorde sind teilweise durch Existenzangst motiviert, teilweise waren die Täter schon vorher zu Outlaws, also zu Nichtgenos~ sen, Nichtgentilen geworden. Jede einzelne Tötung hat zunächst in der besonderen Tatsituation dann aber auch in der besonderen Veranlagung des Täters, in seinem Entwicklungsgang ihre psychologische Voraussetzung und ihre beson-

lllo 4. Kap.: Selbstbehauptungsdrang, Strukturgefüge und soziale Leistungen dere Vorgeschichte. Diese spezielle Psychologie der Tötungen ist aber nicht an dieser Stelle zu behandeln. Wir müssen nur festhalten, daß es zwar mächtige Gründe geben kann privat zu töten, daß aber eben im allgemeinen der Mensch die private Tötung vermeidet. Daneben gibt es freilich andere Fälle, in denen uns die Tat völlig willkürlich und unmotiviert erscheint. Dabei dürfte es sich aber doch wahrscheinlich nur um Fälle handeln, in denen der Schein der Willkürlichkeit besteht, weil wir die Gründe nicht kennen. über Mordopfer und Mordmotive unterrichtet die nachstehende Tabelle

Mordmotive und Mordopfer nach der Reichskriminalstatistik für 1931 (für unsere Zwecke besonders angeordnet) Motive a) Personale Konflikte Streit, Eifersucht, Rache, Haß Abneigung und überdruß väterliche Fürsorge um das Opfer zu beerben um eine Lebensversicherung zu erhalten zusammen um sich außerehelicher Verpflichtungen zu entziehen Wesentliche personale Konflikte und Belange b) um das Opfer zu berauben c) aus Furcht vor Anzeige um sich Strafhaft oder Festnahme zu entziehen d) vollgeschlechtliche Begierde (außer dem Hause) e) weil von anderen angestiftet

15 23 1 5 4 48 11 59 36 21 4 25

Opfer Beziehung des Opfers zum Täter a) Verwandte und Familienangehörige, Vater oder Mutter 4 (30) Ehegatten 18 eheliche Kinder 10 uneheliche Kinder 5 Schwester 2 Schwager oder Schwägerin 4 andere 3 b) Braut oder Geliebte zusammen c) Dritte Personen davon: dem Täter bekannt 49 unbekannt 25

46

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Dieser Nachweis beruht auf der wohl sorgfältigsten Untersuchung. Andere Zählungen insbesondere bei Häftlingsmaterial brachten ähnliche Ergebnisse. Eine Motivstatistik kann natürlich nur Vordergründiges erfassen, läßt aber doch wohl die Grundlinien erkennen. Beide Reihen zeigen, daß personale Konflikte den meisten Tötungen zugrunde liegen. Die meisten Mordopfer stehen in nahen Beziehungen zum Täter. Zwar spielen auch finanzielle Motive mit, aber niemand ermordet seine Frau, um sich eine Lebensversicherung auszahlen zu lassen, wenn sie ihm nicht schon vorher unerträglich geworden ist. Das geschwängerte Mädchen, die uneheliche Mutter stehen der Existenz des Täters im Wege. Eine große Rolle spielen auch andere Existenzängste, wie die 25 Deckungsmorde (im weiteren Sinne), zeigen. Demgegenüber treten die reinen Gewinnmorde, Raubmorde, 36 an der Zahl zurück. Auch beim Raubmord war aber die Mehrzahl der Opfer dem Täter bekannt. Es könnten also personale Konflikte mitgespielt haben. Reine Sexualmorde sind außerordentlich selten, nur 4, auch die den Unzuchtdelikten zugehörigen Deckungsmorde betragen nur 8 Fälle. Diese übersicht beweist doch wohl die Richtigkeit unserer Behauptung, daß der Mensch nur sehr selten zu privaten Tötungen schreitet, daß er dies

§ 17. Das Kampfverhalten

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regelmäßig nur tut, wenn er mit Recht oder aus Angst sich durch einen zwingenden Grund genötigt fühlt. V. Die Gefühlseinstellung zur Tötung ist ambivalent. Jeder normale Mensch wird durch alles Schreckliche zugleich erschreckt und fasziniert. Diese Faszination könnte bei der Tötung libidinöse Gründe haben. Bei der Tötung dominiert beim normalen Menschen der abschreckende Effekt. Andererseits ist sicher, daß Hinrichtungen zu allen Zeiten eine mehr oder weniger libidinöse Neugier erregt haben. Dennoch dürfte primäre Mordlust sehr selten sein, wie die Erfahrungen der Straf~ rechtsnovelle von 1941 bewiesen haben. Dagegen entsteht Mordlust gelegentlich sekundär durch das erste eigene Tötungserlebnis. Dabei dürfte der Sexualtrieb beteiligt sein. Es ist aber umgekehrt sehr häufig, daß der Mörder erst nachträglich über seine Tat erschrickt, so etwa beim Anblick des blutenden Opfers. Ein anderes Antlitz, ehe sie geschehn, Ein anderes zeigt die vollbrachte Tat. (Shakespeare - Macbeth) Das mittelalterliche Bahrrecht dürfte nicht nur auf Aberglaube, sondern auch auf praktischer Erfahrung beruhen. In unserem heutigen rationalen Zeitalter gelangen nur wenige Täter nachträglich zur echten Reue, es ist aber immerhin bemerkenswert, daß alle Welt vom Mörder Reue erwartet, so daß das Ausbleiben der Reue in den Strafzumessungsgründen eine große wenn auch fragwürdige Rolle spielt. Diese allgemeine Einstellung beweist sicherlich keine höhere irrationale Weisheit, aber eben doch die originäre Unmittelbarkeit, mit welcher der Mensch die Tötung ablehnt. Das anthropologische Problem hat aber noch die andere Seite des Blutrausches, welche unten § 17 III angesprochen ist. Erst dort kann die Frage erörtert werden, zu was derartige Seltsamkeiten "gut" sein können. § 17. Das Kampfverhalten

Das Kampfverhalten dient grundsätzlich der (= ist gut für die) Selbstverteidigung, sei es des Individuums, sei es der gens. Jedoch hat sich der Kampftrieb gegenüber dem möglichen finalen Zweck sehr verselbständigt. Das entwicklungsgeschichtliche Verhältnis zwischen finalem Streitverhalten und Kampfverhalten ist noch unklar. I. Das naive Kampfverhalten könnte in Verbindung zum postulierten Aggressionstrieb gebracht werden. Diese Verbindung ist jedoch problematisch. 1. Der Kampf trieb ist ein sehr selbständiges, spezifisch menschliches Phänomen, Ist das Streitverl:l~lten, min,