Werner Hartmann: Wegbereiter der Mikroelektronik in der DDR [1 ed.] 9783428584468, 9783428184460

Der am 30. Januar 1912 in Berlin geborene Physiker Werner Hartmann wirkte als Abteilungsleiter der Fernseh AG während de

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German Pages 272 Year 2022

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Werner Hartmann: Wegbereiter der Mikroelektronik in der DDR [1 ed.]
 9783428584468, 9783428184460

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Zeitgeschichtliche Forschungen 60

Werner Hartmann Wegbereiter der Mikroelektronik in der DDR Von Gerhard Barkleit

Duncker & Humblot · Berlin

GERHARD BARKLEIT

Werner Hartmann

Zeitgeschichtliche Forschungen Band 60

Werner Hartmann Wegbereiter der Mikroelektronik in der DDR

Von

Gerhard Barkleit

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlag: Werner Hartmann (Museen der Stadt Dresden – Technische Sammlungen Dresden) Alle Rechte vorbehalten

© 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Lektorat: Diplom-Kulturwissenschaftlerin Annett Zingler Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 1438-2326 ISBN 978-3-428-18446-0 (Print) ISBN 978-3-428-58446-8 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Im Herbst 2006 erschien als Nummer 30 der Reihe „Zeitgeschichtliche Forschungen“ dieses Verlages unter dem Titel „Manfred von Ardenne. Selbstverwirklichung im Zeitalter der Diktaturen“ die erste Auflage meiner Biografie dieser Ausnahmeerscheinung in der deutschen Wissenschaftsgeschichte. Das Interesse an diesem anlässlich seines bevorstehenden 100. Geburtstags herausgegebenen Bandes war so groß, dass bereits 2008 eine erweiterte zweite Auflage erscheinen konnte. Es freut mich sehr, 15 Jahre später in dieser renommierten Reihe von Duncker & Humblot die Biografie des Physikers Werner Hartmann vorlegen zu können, dessen Leben und Wirken über Jahrzehnte hinweg eng mit Ardenne verbunden war und dessen tragisches Schicksal bis zum Ende der DDR ein Tabuthema blieb. Hartmann, dessen 110. Geburtstag bevorsteht, studierte Physik in Berlin. Auf der Suche nach einer Stelle, die eine selbstbestimmte wissenschaftliche Tätigkeit ermöglichte und seinen hohen Ansprüchen an das Berufsethos eines Physikers genügte, sprach er auch bei dem erfolgreichen Autodidakten Manfred von Ardenne vor. Beide fanden nicht zueinander, sodass Hartmann schließlich als Leiter der Hochvakuumabteilung zur Entwicklung von Bildaufnahmeröhren bei der in Berlin ansässigen Fernseh-AG einstieg. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges engagierten sich Hartmann und Ardenne ein Jahrzehnt lang im Atombombenprojekt Stalins – Hartmann freiwillig, Ardenne gezwungenermaßen. Hartmann arbeitete in Agudseri unter der Leitung des Nobelpreisträgers Gustav Hertz, Ardenne leitete in Suchumi ein von ihm begründetes kernphysikalisches Institut. Für die nur wenige Kilometer voneinander entfernten Institute wurden Sanatorien in landschaftlich reizvoller Lage am Schwarzen Meer umgewidmet. Beide wählten nach dem Ende ihrer Internierung die DDR als Lebensmittelpunkt. Manfred von Ardenne wurde in der Ulbricht-Ära geradezu hofiert und konnte sich auch unter Honecker behaupten, sich der Verstaatlichung seines Instituts erfolgreich widersetzen. Hartmann gründete in der UlbrichtÄra, zusammen mit Ardenne, den VEB Vakutronik, einen wissenschaftlichen Industriebetrieb zur Entwicklung und Produktion von kernphysikalischen Messgeräten, sowie 1961 die „Arbeitsstelle für Molekularelektronik“. Bis auf kurze Unterbrechungen ermittelte das Ministerium für Staatssicherheit von 1955 bis 1976 wiederholt gegen ihn wegen des Verdachts der Spionage und Verbindung zum amerikanischen Geheimdienst.

6 Vorwort

Als Mitte der 1970er Jahre die Partei- und Staatsführung die Bedeutung der Mikroelektronik als „künftigen Rationalisierungsfaktor“ erkannte, sahen ehrgeizige leitende Mitarbeiter mit SED-Parteibuch endlich ihre Stunde gekommen. Den unübersehbaren Rückstand der DDR in dieser zukunftsträchtigen Technologie nahmen sie zum Anlass, Vorwürfe gegen ihren Chef „nach oben“ zu tragen: Hartmann habe diesen Rückstand bewusst herbeigeführt. Das erfüllte den Tatbestand der Sabotage. Hartmanns Stasi-Akte umfasst mehr als 40 Aktenordner. Noch vor dem „Beschluss zur Beschleunigung der Entwicklung, Produktion und Anwendung der Mikroelektronik in der DDR“ vom Juni 1977 wurde er als Direktor abgesetzt und zum einfachen wissenschaftlichen Mitarbeiter degradiert. Als gebrochener Mann verstarb er am 8. März 1988 nach einer Operation in der Nacht vor seiner geplanten Entlassung im Krankenhaus. Hartmanns Privatleben verlief nur phasenweise harmonisch. Zwei Ehen scheiterten. Renée, die dritte Ehefrau, die seinen Absturz erlebte und ihn aufzufangen versuchte, leidet bis heute an schweren traumatischen Störungen. Die Biografie dieser äußerst selbstbewussten Frau wäre eine eigene Darstellung wert und wurde deshalb mit der ihres Gatten verflochten. Renée studierte in Leipzig Journalistik, verließ die DDR fluchtartig, kehrte nach wenigen Jahren „der Liebe wegen“ zurück und reiste nach dem Tode Werner Hartmanns in die Bundesrepublik aus. Nach der Wiedervereinigung kam sie nach Dresden zurück und kämpfte für die Rehabilitierung ihres Gatten. Im Hinblick auf das trotz gelegentlicher existenzieller Bedrohungen letzten Endes erfolgreiche Leben und Schaffen Ardennes stellt sich die Frage, warum Hartmann seine berufliche Laufbahn als Spitzenmanager in der DDR nicht „in Ehren“ beenden konnte. Welche persönlichen und/oder systemischen Gründe lassen sich identifizieren? Das ist die leitende Fragestellung dieses biografischen Projekts. In einer Vielzahl von Studien und fachhistorischen Aufsätzen über die Frühphase des Aufbaus einer autarken mikroelektronischen Industrie in der DDR, deren Leistungsspektrum in den 1980er Jahren vom Schaltkreisentwurf bis hin zur Lieferung kompletter Chipfabriken reichte, wurde auch die Rolle Hartmanns hervorgehoben. Darüber hinaus liegen bereits biografische Skizzen von Prof. Dolores L. Augustine, St. John’s University New York, und von Prof. Günter Dörfel, einem von Hartmanns ersten Mitarbeitern bei Vakutronik, aus dem Jahre 2003 vor. Außerdem gibt es eine Veröffentlichung von Dr. Hans Werner Becker, einem der ersten Mitarbeiter in der Arbeitsstelle für Molekularelektronik, aus dem Jahre 2012. Bei Wikipedia ist eine Kurzbiografie aufzurufen1, ebenso unter „Physik für alle“ in der Rubrik 1  Vgl.

https://de.wikipedia.org/wiki/Werner_Hartmann_(Physiker).

Vorwort7

„Lexikon“.2 Das Berufsleben des zunächst erfolgreichen Managers in der DDR, die Jahre zwischen seiner Rückkehr aus der sowjetischen Internierung und dem demütigen Ende als wissenschaftlicher Mitarbeiter im VEB Spurenmetalle Freiberg, hat Reinhard Buthmann in seinem 2020 erschienenen Buch „Versagtes Vertrauen. Wissenschaftler der DDR im Visier der Staatssicherheit“ in einem diachronen Bericht akribisch beschrieben. Es wäre absolut überflüssig, das auch nur ansatzweise wiederholen zu wollen. Jedem am Detail interessierten Leser kann nur empfohlen werden, dort nachzuschlagen. Buthmanns Publikation wiederum gab mir die Möglichkeit, Hartmanns Leben und Wirken systematisch im Sinne der o. g. leitenden Fragestellung zu strukturieren. Eine Biografie, selbst wenn sie mit dem Anspruch geschrieben wird, wissenschaftlichen Standards zu genügen, dringt immer auch in Bereiche vor, die der Wissenschaft nicht zugänglich sind. Mit dieser Einsicht lassen sich Stilfragen der Darstellung begründen, wie z. B. gelegentlich anzutreffende Anflüge von Ironie, auch wenn deren Verständnis unserer Gesellschaft zunehmend abhandenkommt. Darüber hinaus werden Ähnlichkeiten zwischen National- und Realsozialismus nicht besonders hervorgehoben, wohl wissend, dass diese dem kritischen Leser „von selbst“ ins Auge springen und dieser in der Lage ist, nicht leichtfertig Attribut und Realität gleichzusetzen. Die handschriftlichen Memoiren Werner Hartmanns, in den Technischen Sammlungen Dresden jedermann zugänglich, bieten die Chance, den Protagonisten immer wieder selbst zu Wort kommen zu lassen. Bei der Abwägung zwischen Authentizität und Erzählfluss erhielt die Erstere in der Regel die höhere Priorität. Zu guter Letzt sei noch eine Bemerkung zu den Rahmenbedingungen für das Entstehen dieses Buches erlaubt. Einerseits behinderten die pandemiebedingten und Monate währenden Schließungen relevanter Archive sowie der Technischen Sammlungen Dresden, wo der Nachlass aufbewahrt wird, die Arbeit nicht unerheblich. Andererseits sollte diese Biografie im Jahr des 110. Geburtstages Werner Hartmanns erscheinen. Ersteres führte dazu, dass anstelle originärer Quellen stellenweise häufiger als üblich bereits Publiziertes zitiert wird. In der Mehrzahl handelt es sich dabei um Veröffentlichungen persönlich bekannter und geschätzter Kolleginnen und Kollegen. Neben Renée Hartmann unterstützte mich auch Sylvelie Schopplich, die jüngere der beiden Töchter, wo immer möglich. Ihr danke ich darüber hinaus für den souveränen Umgang mit der Biografie ihres Vaters.

2  Vgl. ker).

https://physik.cosmos-indirekt.de/Physik-Schule/Werner_Hartmann_(Physi

8 Vorwort

Zu Dank verpflichtet bin ich auch meiner Frau Gabriele, die das Wachsen des Manuskripts in allen Arbeitsphasen kritisch begleitete, die Abbildungen und Tabellen bearbeitet sowie die Kurzbiografien erstellt hat. Dr. Reinhard Buthmann schickte mir noch vor der Veröffentlichung seines gewichtigen Werkes als Auskopplung das 250-seitige Unterkapitel zur Mikroelektronik als Word-Datei, was mir eine große Hilfe war. Prof. Dr. Günter Dörfel, 1957 einer der ersten Mitarbeiter Hartmanns, begleitete dieses biografische Projekt von Beginn an mit konstruktiver Kritik. Meinen ehemaligen Kollegen am Hannah-Arendt-Institut, Prof. Dr. Lothar Fritze, Dipl.-Ing. Walter Heidenreich und Prof. Dr. Mike Schmeitzner, danke ich für konstruktive Gespräche inhaltlicher wie auch formaler Natur. Mein Dank gilt auch Prof. Dr. Thomas Hänseroth, in dessen Forschungskolloquium am Lehrstuhl für Technikgeschichte der TU Dresden ich das Konzept dieser Biografie im Oktober 2019 vorstellen konnte. Frau Katharina Müller, verantwortlich für die Schriftgutund Plakatsammlung in den Technischen Sammlungen Dresden, erleichterte mir, soweit es die bereits beschriebenen Beschränkungen erlaubten, den Zugang zum Nachlass Hartmanns und stellte Kopien von Fotos und Dokumenten bereit. Nicht unerwähnt möchte ich die zahlreichen Gespräche lassen, die ich im Verlauf von mehr als zwei Jahrzehnten mit ehemaligen Mitarbeitern Hartmanns führen konnte. Es waren dies sowohl Täter als auch Opfer. Dr. Konrad Iffarth, eine Schlüsselfigur im Fall Hartmann, verkörperte beide in einer Person. Dresden im Herbst 2021

Gerhard Barkleit

Inhalt A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 I. Ein Leben im Jahrhundert der Diktaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 II. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 B. Kindheit und Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 I. Das Elternhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 II. Die Schulzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 C. Studium, Berufseinstieg und kriegswichtige Forschung . . . . . . . . . . . . . . . I. Der steinige Weg zu akademischen Würden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Physiker in der Industrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Siemens & Halske – nur eine Episode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die „Fese“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ehe und Familie im Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Persönliche Chronik des Zweiten Weltkriegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erfolge der deutschen Wehrmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Auszug aus dem Original der Chronik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Stalingrad und die Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Der Krieg ist aus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27 27 31 31 34 43 46 46 51 55 59

D. Stalins Bombe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Kernwaffen der ersten Generation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorgeschichte des Atomzeitalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Physik und Konstruktionsprinzipien von Kernwaffen . . . . . . . . . . . . . 3. Das „Manhattan Project“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Stalins Projekt „Atomnaja Bomba“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Siegermächte und die deutschen Spezialisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Jagd auf deutsche Gehirne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aus Sanatorien werden Forschungsinstitute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Beginn der wissenschaftlichen Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Messtechnische Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Messtechnik für die Urananreicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der gefürchtete Marschall Berija . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der Alltag im „goldenen Käfig“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die privilegierten Internierten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Leben mit Frau und Töchtern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vorbereitung auf die Rückkehr ins geteilte Deutschland . . . . . . . . . .

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10 Inhalt V. Später Rückblick und atomares Patt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 1. Das atomare Patt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 2. Persönliche Bilanz und (In-)Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 E. Der wissenschaftlich-technische Industriebetrieb VEB Vakutronik . . . . . I. Als Netzwerker und Unternehmensgründer in Dresden . . . . . . . . . . . . . . 1. Gelungener Start in Dresden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Ringen um Namen und Profil des neuen Unternehmens . . . . . . . II. Die ersten Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die „Abnabelung“ von Manfred von Ardenne . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Eine parteifeindliche Plattform  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das Unternehmen zwischen Gründung und Mauerbau . . . . . . . . . . . . . . . 1. Personal- und Produktentwicklung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Isotopentechnik in der DDR-Industrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der Chef: Alltag, Anerkennung und Ehrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Trennung von Liselotte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Netzwerker und gefragter Experte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Nebenamtlicher Professor an der TH Dresden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Chruschtschow lädt ein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Reise ans Ende der Welt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Erster Nationalpreis und öffentliche Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . 7. Aufbruch in ein neues Forschungsfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Der Chef: Im Visier der Staatssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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F. Vater der Mikroelektronik in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Transistor öffnet das Tor ins Kommunikationszeitalter . . . . . . . . . . . 1. Planwirtschaft und Innovationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Halbleitertechnik in der DDR in den 1950er Jahren . . . . . . . . . . . . . . II. Die Arbeitsstelle für Molekularelektronik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ein Konzept wird Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konkurrierende Technologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vom Schaltungsentwurf zum fertigen Chip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Taschenrechner „minirex 73“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Strategie des Nachempfindens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Chef: Alltag, Anerkennung und Ehrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eigeninitiative versus Linientreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Eigenbau von Technologischen Spezialausrüstungen . . . . . . . . . . . . . 3. Konkurrenz im eigenen Hause . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Prinzipien geraten ins Wanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der Chef: Absturz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Staatssicherheit im Bereich der Hochtechnologien . . . . . . . . . . . 2. Der Operative Vorgang „Molekül“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Fall Dr. Konrad Iffarth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Hartmanns Abberufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt11 5. Ein Doppelschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Das Nachspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Iffarths Entlohnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Hartmann in Muldenhütten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Stirb und werde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Tod im Krankenhaus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

187 191 196 197 201 204

G. Würdigung ja, Rehabilitation nein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Renée, die dritte Ehefrau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kindheit und Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Übers „Rote Kloster“ in den Westen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zurück in den Osten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das Leben mit Werner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Ausreise aus der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Rückkehr nach Dresden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Hartmann in den Augen der anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wider das Vergessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Öffentlicher Tabu-Bruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mediale Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vernichtet oder gescheitert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die privilegierten Spezialisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einsichten und Bekenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwei in einem Boot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Weltanschauung und Wissenschaftsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Innere Emigration und später Ruhm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

206 206 206 206 209 210 211 213 215 217 217 218 220 223 223 225 226 229 230

Kurzbiografien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 I. Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 II. Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

Abbildungsverzeichnis Abb. 1:

Straße und Moschee in Kairo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

Abb. 2:

Der zweijährige Werner 1914, umgeben von Eltern und Großeltern   23

Abb. 3:

Nr. 190, die linke Doppelhaushälfte auf dem Quermatenweg in Berlin-Zehlendorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

Abb. 4:

Austrittsgesuch aus dem SA-Sturm 12/7 vom 7. Oktober 1935 . . . . 32

Abb. 5:

Von Hartmann durch rote Unterstreichungen markierte Ereignisse. . 47

Abb. 6:

Die beiden Typen der ersten Generation von Kernwaffen . . . . . . . . 64

Abb. 7:

Standorte des „Manhattan Projects“ in den USA . . . . . . . . . . . . . . . 65

Abb. 8:

Standorte des Projekts „Atomnaja Bomba“ in der Sowjetunion . . . . 68

Abb. 9:

Agudseri an der Ostküste des Schwarzen Meeres . . . . . . . . . . . . . . . 73

Abb. 10: Das Sanatorium in Agudseri . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Abb. 11: Grüße aus Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Abb. 12: Rückseite des Fotos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Abb. 13: Lageplan des Instituts in Agudseri . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Abb. 14: Sommer 1947 am Strand (1. v. l. Liselotte Hartmann, 2. v. l. Achim Höhne) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Abb. 15: Lilo und die Töchter warten auf das Ende der Internierung . . . . . . . 92 Abb. 16: Tochter Sylvelie und der Moskwitsch vor dem Finnenhaus . . . . . . . 94 Abb. 17: Das Wiedersehen in Leipzig im April 1955, Sylvelie (2. v. l.) . . . . 95 Abb. 18: Unterzeichner der Glückwunschkarte zum 44. Geburtstag des Chefs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Abb. 19: Grüße Erich Apels aus Marienbad vom 13. Januar 1960 . . . . . . . . . 114 Abb. 20: Messtechnik von Vakutronik auf der Leipziger Messe . . . . . . . . . . . 116 Abb. 21: Besuch von Prof. Jemeljanow (zwischen von Ardenne und Hartmann) im August 1955 in Dresden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Abb. 22: Chruschtschow am Messestand von Vakutronik . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Abb. 23: Briefmarken als eigentlicher Zweck der Sendung . . . . . . . . . . . . . . . 131 Abb. 24: Die Einladung nach Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Abb. 25: Taschenrechner „minirex 73“ vom VEB Röhrenwerk Mühlhausen  . 151 Abb. 26: Der Chef in der Versuchsfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

Abbildungsverzeichnis13 Abb. 27: Nationalpreis 1970: Hartmann mit Minister Steger und Parteichef Ulbricht im Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Abb. 28: Hartmanns Haus auf der Klengelstraße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Abb. 29: Das Wohnzimmer Anfang der 1970er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Abb. 30: Das sowjetische Patent von 1962 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Abb. 31: Der Mikroprozessor U 808 aus dem VEB Mikroelektronik „Karl Marx“ Erfurt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Abb. 32: Der 75. Geburtstag – Gratulation oder Verabschiedung? . . . . . . . . . 203 Abb. 33: Herbst 2017: Renée Hartmann im Gespräch mit dem Autor . . . . . . 207 Abb. 34: Renée 1971  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Abb. 35: Die Wandzeitung von 1986 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Abb. 36: Der Hartmann-Bau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

Rechte: Dr. Gabriele Barkleit: Nr. 5, 6, 7, 8, 9, 33. Renée Hartmann: Nr. 28, 29, 34. Sylvelie Schopplich: Nr. 2, 3, 14, 15, 16, 17. Dr. Harald Schubärth: Nr. 36. Technische Sammlungen Dresden: Nr. 1, 4, 11, 12, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 26, 27, 30, 32, 35. Internet: Nr. 10, 25, 31.

Abkürzungsverzeichnis ABF Arbeiter- und Bauernfakultät AdW Akademie der Wissenschaften der DDR AG Aktiengesellschaft AKK Amt für Kernforschung und Kerntechnik AMD Arbeitsstelle für Molekularelektronik Dresden AME Arbeitsstelle für Molekularelektronik BND Bundesnachrichtendienst BuV Bauelemente und Vakuumtechnik BV Bezirksverwaltung ČSSR Tschechoslowakische Sozialistische Republik DAW Deutsche Akademie der Wissenschaften DDR Deutsche Demokratische Republik EDV Elektronische Datenverarbeitung FDJ Freie Deutsche Jugend F/E Forschung und Entwicklung FKS Festkörperschaltkreis GHD Geheimdienst GM Gesellschaftlicher Mitarbeiter des MfS GmbH Gesellschaft mit beschränkter Haftung GULAG Glawnoje uprawlenije lagerej NKWD/MWD SSSR (Hauptverwaltung der Lager des NKWD/MWD der UdSSR) HA Hauptabteilung HFO Halbleiterwerk Frankfurt an der Oder Hptm. Hauptmann HWA Heereswaffenamt IC Integrated circuit (Integrierter Schaltkreis) IM Inoffizieller Mitarbeiter des MfS IMF Inoffizieller Mitarbeiter des MfS mit Feindberührung IMS Inoffizieller Mitarbeiter des MfS für Sicherheit KG Kommanditgesellschaft KGB Komitet Gosudarstwennoi Besopasnosti (Komitee für Staatssicherheit) KPD Kommunistische Partei Deutschlands

Abkürzungsverzeichnis15 KPdSU Kommunistische Partei der Sowjetunion KWI Kaiser-Wilhelm-Institut KZ Konzentrationslager LPG Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Ltr. Leiter M Mark MEE Ministerium für Elektrotechnik und Elektronik MfS Ministerium für Staatssicherheit Mill. Millionen MNOS Metal-Nitrid-Oxid-Semiconductor MOS Metal-Oxid-Semiconductor MPI Max-Planck-Institut NKWD Narodnyi Kommissariat Wnutrennich Del (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) NÖSPL Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft NPT Nationalpreisträger NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSW Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet OibE Offizier im besonderen Einsatz des MfS OPK Operative Personenkontrolle des MfS OSL Oberstleutnant OV Operativer Vorgang des MfS PB Politbüro Pkw Personenkraftwagen pSGT p-channel Silicon Gate Technology PTI Polytechnisches Institut RFT Rundfunk- und Fernmeldetechnik RM Reichsmark SA Sturmabteilung SDAG Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft SED Sozialistische Partei Deutschlands SEV Sekundärelektronenvervielfacher SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands SPK Staatliche Plankommission SS Schutzstaffel SSI Small Scale Integration StGB Strafgesetzbuch StPO Strafprozessordnung

16 Abkürzungsverzeichnis SU Sowjetunion TH Technische Hochschule TM Tausend Mark TSA Technologische Spezialausrüstung TTL Transistor-Transistor-Logik TU Technische Universität UdSSR Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken UNO Vereinte Nationen USA Vereinigte Staaten von Amerika ÜV Überprüfungsvorgang des MfS UV Untersuchungsvorgang des MfS VAO Vorlauf Operativ des MfS VbE Vollbeschäftigteneinheit VEB Volkseigener Betrieb VMI Volkswirtschaftliche Masseninitiative Vors. Vorsitzender VVB Vereinigung Volkseigener Betriebe WB Westberlin WIB Wissenschaftlicher Industriebetrieb ZfK Zentralinstitut für Kernforschung ZK Zentralkomitee

A. Einleitung I. Ein Leben im Jahrhundert der Diktaturen Jeder ernsthafte Versuch, das Leben einer Persönlichkeit nachzuzeichnen, welches zu Anfang des zweiten Dezenniums des 20. Jahrhunderts begann und bis fast an das letzte Jahrzehnt heranreichte, sollte in einer die Periodisierung und Etikettierung liebenden Community auf beides nicht verzichten. Mit guten Argumenten ist für zahlreiche Historiker das 20. ein Jahrhundert der Diktaturen. Im Hinblick auf die Ausübung der politischen Herrschaft ist der Rückgriff Zentraleuropas auf barbarische Methoden zweifellos das herausragende Momentum. In krassem Gegensatz dazu stehen spektakuläre Entwicklungen in Wissenschaft, Technik und Technologie, darunter allerdings auch solche, die im wahrsten Sinne des Wortes als explosionsartige und verheerende Erkenntnisgewinne daherkamen. Als bescheidenere hör- und sichtbare Zeichen des Fortschritts diffundierten im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Rundfunkempfänger und Fernsehgeräte in den Alltag der Deutschen hinein, begann die Ära des zivilen Luftverkehrs. „In den Jahren 1900–1933“, schrieb Werner Hartmann in seinen Memoiren, „war Deutschland das Weltzentrum der Physik bezüglich der Weiterentwicklung der grundlegenden Erkenntnisse.“ In der Hauptstadt dieses Weltzentrums wurde im November 1938, um ein zum Klischee mutiertes Bild zu benutzen, die Tür zu einem neuen, dem Atomzeitalter geöffnet. In jenem Jahr 1938 war die auf das Kaiserreich folgende Weimarer Republik, der erste Versuch, ein demokratisch verfasstes Gemeinwesen in dem nach den Verträgen von Versailles territorial geschrumpften Deutschen Reich zu errichten, längst Geschichte. Das Experiment war misslungen, als Deutschland 1933 in das nationalsozialistische Dritte Reich taumelte, eine Diktatur, die vor allem durch die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges und den Holocaust in die Geschichte einging. Im Osten Deutschlands, wo der Protagonist dieser Biografie seit 1955 lebte, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die nationalsozialistische von der kommunistischen Diktatur nach sowjetischem Muster abgelöst. Diese beiden Diktaturen galten für Hannah Arendt als Prototypen totalitärer Herrschaft. Erst mit der Wiedervereinigung im Oktober 1990 kehrte die Demokratie auch in den Osten zurück. Diesen Glücksfall in der deutschen Geschichte sollte Werner Hartmann leider nicht mehr erleben. Wie heftig auch immer dem linken Denken zuzuordnende Historiker die Verwendung des Attributs „totalitär“ im Zusammenhang mit

18

A. Einleitung

der DDR kritisieren mögen, melden sich auch heute noch, oder wieder, Wissenschaftler zu Wort, die „vor den Schrecken des Totalitarismus“ in einer vom linken und rechten Rand des politischen Spektrums bedrängten Gesellschaft warnen, „und vor dem politischen Moralismus, der allzu leicht dessen Wegbereiter werden kann“.1 Der Physiker Werner Hartmann startete 1955, nach der Entlassung der deutschen Spezialisten aus der sowjetischen Internierung, in der DDR zu einem beeindruckenden Höhenflug mit gelegentlichen Turbulenzen. Diese entstanden aufgrund des Anspruchs der SED, die maßgebliche Instanz nicht nur in politischen, sondern auch in personalpolitischen und fachlich-strategischen Entscheidungen in jedem Unternehmen und jeder Institution zu sein. Zehn Jahre nach dem Ende des Krieges hatte die SED-Führung nicht nur ihre eigenen Reihen fest geschlossen, sondern dominierte auch die staatstragenden Institutionen und Instanzen. Die Spitzenfunktionäre der Partei hatten das Dritte Reich im Exil überstanden, vorwiegend in der Sowjetunion, wo sie aber auch um ihr Leben bangen mussten. Denn zwischen 1936 und 1938 wurden Tausende deutsche Exilanten verhaftet und unter absurden Vorwänden erschossen oder in die Lager des GULAG deportiert. „Mehr als 1.700 der in der Sowjetunion lebenden und arbeitenden Deutschen fielen dem Stalin’schen Massenterror zum Opfer.“2 Andere hatten Jahre in deutschen Zuchthäusern oder Konzentrationslagern verbracht, einige von ihnen nach der Ausweisung aus dem sowjetischen Exil als Folge des Hitler-Stalin-Paktes. Als Hartmann 1955 in die Heimat zurückkehrte, war jede der genannten Gruppen von Exilanten im Politbüro der SED vertreten. Ungeschoren davongekommen waren Hermann Matern, Fred Oelßner, Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht und Herbert Warnke. Alfred Neumann gehörte zu den 1938 von Stalin Ausgewiesenen. Er wurde 1942 in Deutschland zu acht Jahren Haft verurteilt. Die in Deutschland Gebliebenen Friedrich Ebert, Otto Grotewohl, Erich Honecker, Erich Mückenberger, Heinrich Rau und Karl Schirdewan mussten mehrjährige Zuchthausstrafen oder Aufenthalte in Konzentra­ tionslagern verbüßen. Sie alle einte die Überzeugung, dass die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, also die Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, diesen „edel, hilfreich und gut“ machen werde. Sie waren bereit, für die praktische Umsetzung ihrer Gesellschafts­ utopie nicht nur zu werben, sondern auch Gewalt auszuüben. Im Aufstieg von Erich Mielke zum Minister für Staatssicherheit, eines Mannes, der am 1  Vgl. Söllner, Fritz: Was ein totalitäres System ausmacht, in: Schweizer Monat 1085, April 2021. 2  Vgl. Schafranek, Hans: Zwischen NKWD und Gestapo. Die Auslieferung deutscher und österreichischer Antifaschisten aus der Sowjetunion an Nazideutschland 1937–1941, Frankfurt am Main 1990, S. 23.



I. Ein Leben im Jahrhundert der Diktaturen19

9. August 1931 einer der beiden Schützen war, die in Berlin zwei Polizisten ermordet hatten, unterstrich die SED ihre Rücksichtslosigkeit beim Aufbau des Sozialismus.3 Allerdings konnten sich die Regierten der Bevormundung und Indoktrination bis zum Mauerbau 1961 noch dadurch entziehen, dass sie der DDR über Westberlin den Rücken kehrten. Als Politbüro der SED agierend, fühlten sich die genannten Männer berufen, den Osten Deutschlands in eine „lichte Zukunft“ zu führen. Über ein Minimum an wirtschaftlichem Sachverstand verfügte allein Fred Oelßner, der zeitweise als Dozent für politische Ökonomie an der Leninschule in Moskau tätig war. Aber nicht er, sondern der gelernte Metallarbeiter Heinrich Rau wurde Vorsitzender der Staatlichen Plankommission. Im Wettstreit der Systeme formulierte Parteichef Ulbricht zwei Jahre nach dem Eintreffen aus sowjetischer Internierung gekommener Physiker und Ingenieure sein Ziel, die Bundesrepublik zu „überholen, ohne einzuholen“. Nicht nur er versprach sich durch deren Exzellenz und Erfahrung einen Innovationsschub sowie eine Erhöhung der Effektivität in der Volkswirtschaft, um die etwa 30 Prozent niedrigere Arbeitsproduktivität auf bundesdeutsches Niveau zu heben. Immerhin hatten diese Spezialisten maßgeblich zur Modernisierung des militärisch-industriellen Komplexes der UdSSR beigetragen, der sich mit der Entwicklung von Atom- und Wasserstoffbomben sowie interkontinentalen Raketen auf Augenhöhe mit dem amerikanischen Konkurrenten fühlen durfte. Das Wettrüsten der beiden Supermächte sollte fortan den Charakter und die Intensität der Systemauseinandersetzung bestimmen. Warum sollte ihnen nicht Vergleichbares im zivilen Sektor gelingen? Als die Welt am Beginn des Atomzeitalters stand, kamen mit Manfred von Ardenne, Heinz Barwich und Werner Hartmann namhafte Spezialisten aus dem sowjetischen Projekt „Atomnaja Bomba“ sowie Klaus Fuchs, der im amerikanischen „Manhattan Project“ mitarbeitete und dort für die Sowjetunion zum wichtigsten Spion geworden war, nach Dresden. Der Flugzeugbauer Brunolf Baade komplettierte ein Kleeblatt, dessen Engagement die Stadt an der Elbe zu einem Zentrum der Hochtechnologien wachsen lassen sollte. Nachdem sich der Aufbau einer eigenen Luftfahrtindustrie als „eine Nummer zu groß“ für die kleine DDR erwiesen hatte, entwickelte sich im wahrsten Sinne des Wortes, wenn auch zu spät, an dessen Stelle die Mikroelektronik zu einer Schlüsselindustrie und Werner Hartmann wurde zum Wegbereiter dieser fortschrittsbestimmenden Technologie in der DDR.

3  Vgl. Otto, Wilfriede: Erich Mielke – Biographie. Aufstieg und Fall eines Tschekisten, Berlin 2000, S. 491 f.

20

A. Einleitung

II. Quellen Folgende Quellen wurden für die vorliegende Arbeit genutzt: –– der Nachlass Hartmanns in den Technischen Sammlungen Dresden mit den handschriftlichen Memoiren; –– die Akten der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik; –– die Bestände der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv; –– die Bestände der Abteilung DDR im Bundesarchiv; –– die Bestände der Abteilung Deutsches Reich im Bundesarchiv; –– die Zeitzeugeninterviews mit Renée Hartmann und Sylvelie Schopplich; –– Sekundärliteratur, wie im Literaturverzeichnis ersichtlich. Für die Kurzbiografien wurden neben Standardlexika folgende Internetquellen benutzt: –– Who’s who the people lexicon, https://whoswho.de; –– Bundesstiftung Aufarbeitung, Biographische Datenbanken „Wer war wer in der DDR?“, https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/ kataloge-datenbanken/biographische-datenbanken; –– LeMO Biografien, https://www.dhm.de/lemo/bestand -> Biografien; –– Wikipedia, https://de.wikipedia.org; –– Istoria Rosatoma, Personalii, http://www.biblioatom.ru/founders/.

B. Kindheit und Jugend I. Das Elternhaus „Ich war oft erstaunt, was Vater alles wusste und in Zusammenhängen verstand und zu erläutern in der Lage war. Er wäre ein hervorragender Lehrer geworden. So aber wurde er Anstreicher.“1 Nicht ohne Bitterkeit, so scheint es, etikettierte der am 30. Januar 1912 in Berlin geborene Werner August Friedrich Hartmann auf diese Weise seinen Vater, den Malermeister Louis Gustav Adolf Hartmann. Dieser Vater, am 28. November 1875 in Nordstemmen bei Hannover geboren, hatte seine Lehre von Oktober 1890 bis April 1894 in Berlin absolviert. Mit dem Gesellenbrief in der Tasche reiste er nach Palästina und Ägypten. Im Jahre 1902 kehrte er als weltmännisch auftretender, selbstbewusster Kosmopolit2 nach Berlin zurück. Für einen „Anstreicher“ zeichnete Gustav Hartmann recht passabel (Abb. 1). Nach knapp zweijähriger Verlobungszeit heiratete er am 1. Juni 1909 Hedwig Adelheid Wilhelmine Wellnitz. Die Braut hatte nach Abschluss der siebenstufigen Gemeinde-Mädchenschule in Schöneberg einen hauswirtschaftlichen Kurs besucht und wurde, wie der Sohn sich erinnert, „eine sehr eifrige und sicher tüchtige Hausfrau“, die gern und oft an der Nähmaschine gesessen habe. „Ob sie weitere Interessen hatte, ist mir nicht bewusst geworden. Intellektuell hatte ich keinen Kontakt zu ihr“, charakterisiert Werner in seinen Memoiren das Verhältnis zur Mutter.3 Belege für eine intakte Bindung auf emotionaler Ebene, gar Anflüge von Zärtlichkeit, fallen in den Memoiren nicht ins Auge. Hartmanns spätes Urteil steht für ein Frauenbild, an dem erst Renée, seine dritte Ehefrau, zu rütteln vermochte. In Berlin müsse der Vater, wie der Sohn betonte, sehr gut verdient haben. Er kaufte nicht nur Mietshäuser, sondern ließ auch eines neu erbauen, die Nr. 7 auf der Stindestraße in Berlin-Steglitz, vier Stockwerke für zehn Familien. In diesem Haus bezog der Bauherr mit Frau und Sohn im Spätsommer

1  Nachlass,

Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1912–1945, Teil A, Bl. 1. Begriff „Kosmopolit“ bedarf einer Erläuterung. In der DDR wurde er diskreditiert, weil er „der Verschleierung des imperialistischen Vormachtstrebens der Bourgeoisie dient“. Vgl. Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, Band 1, Berlin 1984, S. 681. 3  Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1912–1945, Teil A, Bl. 3. 2  Der

22

B. Kindheit und Jugend

Abb. 1: Straße und Moschee in Kairo.

1914 eine der Wohnungen, nur wenige Wochen nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs.4 Lediglich als berufliches Intermezzo ist wohl die dreijährige Tätigkeit des Vaters als Angestellter in einem Werkstattbüro der Reichsdruckerei in Berlin zu verstehen. Obwohl er alle Aufgaben „zur vollsten Zufriedenheit“ erledigte, 4  Vgl.

ebd., Teil B, Bl. 1.



I. Das Elternhaus23

Abb. 2: Der zweijährige Werner 1914, umgeben von Eltern und Großeltern.

wurde ihm Ende Februar 1924 auf Grundlage der Personalabbau-Verordnung vom 27. Oktober 1923 gekündigt. Am 26. August 1933 wurde ihm durch den Oberbürgermeister die „Befugnis zur Ausbildung von Lehrlingen“ erteilt. Er war inzwischen auf der Stindestraße ein paar Häuser weitergezogen und wohnte mit seiner Familie in der Nummer 22. Tiefere Einblicke in die wohl großen Schwankungen unterworfene finanzielle Lage des Anstreichers und Kosmopoliten Gustav Hartmann sind in den Memoiren des Sohnes nicht zu finden. Vieles spricht dafür, dass die politischen und wirtschaftlichen Turbulenzen in den Jahren der Weimarer Republik auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen sind. Erinnert sei hier nur daran, dass dem „Sturz ins Dritte Reich“, so der Titel eines Sammelbandes des Zentralinstituts für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR,5 die Hyperinflation im Sommer 1922, die Bankenkrise vom Juli 1931 sowie mehr als sechs Millionen Arbeitslose im Februar 1932 vorangingen. Möglicherweise ist der Kauf des Hauses Nr. 190 auf dem Quermatenweg in der Gagfah-Siedlung in Berlin-Zehlendorf durch den Vater im Jahre 1934 ein 5  Bock, Helmut: Sturz ins Dritte Reich, Historische Miniaturen und Porträts 1933/ 35, Leipzig/Jena/Berlin 1983.

24

B. Kindheit und Jugend

Abb. 3: Nr. 190, die linke Doppelhaushälfte auf dem Quermatenweg in Berlin-Zehlendorf.

Zeichen des wiedererwachenden Optimismus auch im Kleinbürgertum. In das direkt am Grunewald und in unmittelbarer Nähe des Sees „Krumme Lanke“ gelegene Anwesen zog der Sohn Anfang Januar 1935 als zunächst alleiniger Bewohner ein.6 Auch Gustavs Eintritt in die NSDAP nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten könnte so gedeutet werden. Der Sohn stellte es allerdings später als einen unumgänglichen Schritt dar. „Nach 1933 hat mein Vater sich gezwungen gesehen, um weiter Aufträge als Malermeister zu erhalten, Mitglied der NSDAP zu werden.“ Er sei aber „nie in irgendeiner Form politisch tätig, sondern ein typischer ‚Mitläufer‘ gewesen, wie man damals sagte. So hatte er auch nach dem Zusammenbruch 1945 keine besonderen Schwierig­ keiten.“7 Nicht nur den Rat seines kosmopolitischen Vaters, sondern auch konkrete Hilfeleistungen sollte der Sohn bis zu dessen Tod immer wieder suchen.

II. Die Schulzeit In seinen Memoiren erwähnt Hartmann nur einige wenige Details aus seiner Schulzeit. Für ein früh erwachtes Interesse an Naturwissenschaften und 6  Vgl. Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1912–1945, Teil C, Bl. 32. 7  Ebd., Teil A, Bl. 5.



II. Die Schulzeit25

Technik spricht der Bau eines Detektorempfängers.8 Ein erster Zeitungsartikel des Schülers Werner Hartmann wurde im „Steglitzer Anzeiger“ veröffentlicht, eine kleine Abhandlung mit dem Titel „Die wunderbaren Eigenschaften des Wassers“. Das Erscheinungsdatum nennt er nicht.9 Aufgrund seiner sehr guten schulischen Leistungen war er von der Zahlung eines Schulgeldes befreit. Oft habe er seinem Vater auf einer der zahlreichen Baustellen geholfen.10 Darüber hinaus verdiente er sich Geld durch die Erteilung von Nachhilfeunterricht sowie als Musiker in einer etwa 1927 gegründeten Tanzkapelle. Letzteres war nur deshalb möglich, weil er „schon sehr früh Klavier spielen lernen musste“, weil „meine Mutter spielte“, wie er betonte. Ihn selbst habe dazu „weder Talent noch Lust“ angetrieben. Außerdem habe er später noch „bei einem alten Herrn in der Mittelstraße Geige gelernt“.11 Das Bild seiner Mutter skizziert der Sohn ausschließlich in dunklen Farben. So auch einen Selbstmordversuch vom 1. Januar 1927. Vor allem der später einmal von ihr darüber geäußerte Satz, dass sie „den Werner hätte mitnehmen sollen“, ging ihm fortan nicht mehr aus dem Sinn. Dieser Satz habe wahrscheinlich „bestimmte Denkkategorien für mein ganzes Leben verändert“, schreibt er.12 Das sollte seine jüngere Tochter Jahrzehnte später bestätigen. Sie sah darin die Ursache für eine die Eltern betreffende ungewöhnliche Asymmetrie in der Wertschätzung und der Zuneigung ihres Vaters.13 Zu dieser Zeit entdeckte Werner auch seine Leidenschaft für das Tennisspiel, das er intensiv betrieb.14 Obwohl nicht nur ein ausgezeichneter Schüler, der auch außerhalb der Schule aktiv und erfolgreich war, plagten ihn wegen seines stark ausgebildeten Hinterkopfes mitunter starke Minderwertigkeitsgefühle, erinnert er sich der Pubertät.15 Sein Selbstvertrauen wuchs durch die Abiturprüfungen vom 10. und 11. März 1930. Als „sehr guter Schüler“ sei er lediglich im Wahlfach Französisch geprüft worden. Das Abitur habe er mit dem Prädikat „mit Auszeichnung“ bestanden.16 Heute würde man von einem Hochbegabten sprechen. Nachdem ihm im Auswärtigen Amt wegen seiner kleinbürgerlichen Herkunft 8  Vgl.

ebd., Teil A, Bl. 6. ebd., Bl. 13. 10  Vgl. ebd., Bl. 14. 11  Ebd., Bl. 15. 12  Ebd., Bl. 17. 13  Gespräch mit Sylvelie Schopplich am 21.4.2021. 14  Vgl. Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1912–1945, Teil A, Bl. 48. 15  Vgl. ebd., Bl. 30. 16  Vgl. ebd., Bl. 34. 9  Vgl.

26

B. Kindheit und Jugend

davon abgeraten worden war, eine Laufbahn im diplomatischen Dienst anzustreben, entschied sich Hartmann für ein Studium der Physik.17 Gegen Ende seines Lebens blickte er durchaus nicht unkritisch auf den Schüler Werner Hartmann zurück: „Da alles so einfach ging, verlor ich schnell das Interesse an einem Gebiet und wechselte zu einem anderen. Besonders der schnelle Wechsel, der mir ja so leichtfiel, hat mein ganzes Leben, in sämtlichen Bereichen, geprägt.“ Man könne „das auch als fehlende Ausdauer oder sogar Oberflächlichkeit bezeichnen“, philosophierte er. Aber er wollte eben „viel kennenlernen, auf vielen Gebieten mitreden können und selbst etwas leis­ ten“.18 Das ist ihm zweifellos gelungen.

17  Vgl.

ebd., Bl. 13. Bl. 37.

18  Ebd.,

C. Studium, Berufseinstieg und kriegswichtige Forschung I. Der steinige Weg zu akademischen Würden Mit seinem glänzenden Abitur in der Tasche begann Werner Hartmann im November 1930 das Studium der Physik an der Technischen Hochschule in Berlin-Charlottenburg und absolvierte gleichzeitig ein Praktikum in der Askania Werke AG. Diese Firma, ein 1921 gegründetes Unternehmen mit Standorten in und um Berlin, hatte sich innerhalb weniger Jahre zum bedeutendsten deutschen Unternehmen für Luftfahrt- und Navigationsinstrumente entwickelt. Bereits am Ende der 1920er Jahre verfügte das Unternehmen neben mehreren Zweigstellen in Deutschland auch über Niederlassungen in Paris, Houston und Chicago. Wegen guter Leistungen konnte sich Hartmann schon nach dem Ende des 1. Semesters über einen Honorarerlass von 50 Prozent freuen. Die Studiengebühren betrugen damals bei einem Professor oder Privatdozenten 2,50 Mark pro Semester. Im Februar 1933 bestand er das Vorexamen als erster Physikstudent der TH Charlottenburg überhaupt „mit Auszeichnung“. Mit Beginn des Sommersemesters 1933 erhielt er nicht nur vollen Honorarerlass, sondern darüber hinaus auch noch ein Stipendium in Höhe von 200 Mark monatlich. „Damit waren alle Geldsorgen beendet“, frohlockte er.1 Seine Euphorie währte allerdings nicht lange. Sehr schnell wurde er auf den Boden der inzwischen nationalsozialistisch daherkommenden Realität zurückgeholt. Als Erpressung bezeichnete Hartmann später die Aussetzung des Stipendiums durch den Führer des NS-Studentenbundes. Voraussetzung für die weitere Zahlung seines Stipendiums sei der Nachweis, etwas „für Deutschland geleistet zu haben“, erklärte ihm dieser. Das Resultat dieses Aktes nationalsozialistischer Willkür bilanzierte Hans W. Becker tabellarisch.2

1  Nachlass,

Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1912–1945, Teil C, Bl. 7. Hans W.: 100. Geburtstag von Werner Hartmann (1912–1988), Begründer der Mikroelektronik im Osten Deutschlands. Mein Dank gilt Dr. Becker für die Überlassung des Manuskripts im September 2012, noch vor der Veröffentlichung. 2  Becker,

28

C. Studium, Berufseinstieg und kriegswichtige Forschung Tabelle 1 Studiengebühren Unterrichtsgebühren Studiengebühr Beitrag für Wohlfahrt

95,00 M 100,00 M 19,00 M

Beitrag für Leibesübungen

3,75 M

Grundgebühr

1,50 M

Gesamt

219,25 M

Teilerlass Unterrichtsgebühren

–87,50 M

Erlass Studiengebühr Rechnungsbetrag

–100,00 M 31,75 M

Hartmann reagierte prompt und umfassend. Er trat am 7. Juli 1933 in die Reserve-SA ein. Darüber hinaus nahm er im August 1933 an einer dreiwöchigen vormilitärischen Ausbildung auf dem Truppenübungsplatz in Wünsdorf teil, an die er einen Einsatz beim Reichsarbeitsdienst in Nikrisch bei Görlitz anschloss.3 Er machte Nägel mit Köpfen, würde des Volkes Mund diesen Eifer kommentieren. All das reichte jedoch nicht aus, das Stipendium wieder gewährt zu bekommen. So musste er im Sommersemester 1933 von seinen „sehr knappen Ersparnissen“ leben.4 „Leider“, so schrieb er in seinen Memoiren, „habe ich alle Fotos von mir in SA-Uniform vernichtet.“5 Im Wintersemester 1933/34 arbeitete er vom 1. November 1933 bis zum 5. Mai 1934 als Werkstudent im Senderöhrenlabor von Osram für 67, später 71 Pfennige pro Stunde – und das bei einer 48-Stunden-Woche. Diese Tätigkeit übte er auch vom 13. August bis zum 3. November 1934 wieder aus. Die geforderten Praktika absolvierte er dennoch und schnitt auch in den anstehenden Prüfungen an der Hochschule sehr gut ab.6 In der Studentenzeit wuchsen zum Teil das ganze Leben währende Freundschaften, so mit Erwin Müller, dem Erfinder des Feld-Ionen-Mikroskops. Bis zu dessen Tod im Jahre 1977 blieben sie in einer „engen brieflichen 3  Vgl. Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1912–1945, Teil C, Bl. 9. 4  Ebd., Bl. 8. 5  Ebd., Bl. 34. 6  Vgl. ebd., Bl. 15.



I. Der steinige Weg zu akademischen Würden29

Verbindung“.7 Zu Freunden wurden auch Erwin und Arthur Schmidt sowie Heinz Wittke.8 Unter den Professoren beeindruckte ihn vor allem Gustav Hertz, der zusammen mit James Franck 1925 den Nobelpreis für Physik erhalten hatte. Des Weiteren hob er Wilhelm Westphal und dessen Assistenten Friedrich Houtermans hervor.9 Houtermans war nicht nur ein glänzender Physiker, sondern auch ein politisch unglaublich naiver Kommunist, in einer russischen Biografie auch als „Internationalist“ etikettiert. Er taucht in den Nachkriegsdebatten um die Entwicklung bzw. Nichtentwicklung einer deutschen Atombombe immer wieder auf. Er habe versucht, so heißt es dort, seine in die USA emigrierten Kollegen vor den deutschen Anstrengungen auf dem Gebiet der Kernphysik zu warnen. Nach der bedingungslosen Kapitulation des Dritten Reiches wollten ihn die Amerikaner offensichtlich nicht. Wenn die Russen seiner habhaft geworden wären, hätten sie ihn sicher aufgehängt, soll der russische Nobelpreisträger Pjotr Kapitza 1945 geäußert haben.10 Hartmanns Diplomarbeit vom 15. April 1935 mit dem etwas sperrigen Titel „Es ist ein zuverlässiges Verfahren zur Herstellung von Sperrschichtzellen auszuarbeiten. Die Eigenschaften dieser Zellen sind zu untersuchen“ wurde von Hertz mit der Note „sehr gut“ bewertet. Die Firma Siemens erwarb die Rechte daran „für die ungeheure Summe von 2.000 RM“. 1936 folgte eine Veröffentlichung in der „Zeitschrift für technische Physik“.11 Ende April/ Anfang Mai 1935 erreichte er im Hauptexamen bzw. in der Hauptprüfung mit Ausnahme der Hochfrequenztechnik in allen Fächern ein „sehr gut“. „Von großem Einfluss auf mein physikalisches Denken und seine Schulung war Herr Dr. Werner Flechsig“, der in seiner ersten Zeit als Laborleiter bei der Braun-KG „fast jedes Wochenende“ in Hartmanns Elternhaus zu Gast war. Flechsig hatte die Angewohnheit, „bei physikalischen Überlegungen vor genauerer Analyse und Berechnung durch Kopfrechnen eine ungefähre zah-

7  Müller konstruierte 1951 das erste Feld-Ionen-Mikroskop der Welt, dessen Auflösung so groß war, dass man einzelne Atome auf der Oberfläche von Kristallen sichtbar machen konnte. Deshalb gilt er als der erste Mensch, der ein Atom „sehen“ konnte. Ab 1952 bis zu seinem Tod im Mai 1977 lehrte und forschte er in den Vereinigten Staaten, an der Pennsylvania State University. 8  Vgl. Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1912–1945, Teil C, Bl. 21. 9  Vgl. ebd., Bl. 22. 10  Vgl. Frenkel, Viktor J.: Professor Friedrich Houtermans – Arbeit, Leben, Schicksal. Biographie eines Physikers des zwanzigsten Jahrhunderts, Max-PlanckInstitut für Wissenschaftsgeschichte, Preprint 414. 11  Vgl. Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1912–1945, Teil C, Bl. 30.

30

C. Studium, Berufseinstieg und kriegswichtige Forschung

lenmäßige Abschätzung vorzunehmen“, was voraussetzte, „eine große Zahl physikalischer Daten im Kopf zu haben“.12 Noch vor Abschluss des Studiums, kurz vor Weihnachten 1934, fragte ihn „der Vierteljude Hertz“, wie Hartmann es in seinen Memoiren formulierte, ob er nach dem Examen mit ihm zu Siemens gehen wolle. Dem Nobelpreisträger des Jahres 1925 stand wegen seiner jüdischen Vorfahren der demütigende Entzug der Prüfungsberechtigung an der TH Charlottenburg bevor. Daraufhin verzichtete Hertz im Jahre 1935 auch auf sein Lehramt und übernahm als Direktor das Siemens & Halske-Forschungslabor II in Berlin. Dort arbeitete er an der Trennung von leichten Isotopen durch Diffusion. Weiterentwickelt für Isotope schwerer Elemente, wurde es später zu einem der drei Standardverfahren zur Gewinnung von bombenfähigem Uran. „Einen besseren Start in das Berufsleben konnte man sich ja auch nicht ausdenken“, begründete Hartmann seine Zusage.13 Aus der am 16. Mai 1935 bei Siemens beginnenden Zusammenarbeit, so stellt es Hartmann dar, sollte ein bis zum Tod von Hertz im Jahre 1975 andauerndes freundschaftliches Verhältnis werden.14 Am 27. Juni 1936 verteidigte Hartmann seine Dissertation „Elektrische Untersuchungen an oxidischen Halbleitern“ mit dem Prädikat „sehr gut“. Vorsitzender der Prüfungskommission war Prof. Max Volmer. Der Kommission gehörten außerdem die beiden Gutachter Prof. Richard Becker und Dr. habil. Hans Kopfermann an. Der Prüfling hatte wohl ein hohes Maß an Förmlichkeit erwartet. Er empfand das Prozedere und die Atmosphäre dieses für ihn bedeutsamen Aktes „ein wenig kurios“.15 Seine Doktorarbeit wurde noch im selben Jahr in der „Zeitschrift für Physik“ veröffentlicht.16 Zu den frühen wissenschaftlichen Publikationen Hartmanns gehört auch der 1936 in der „Zeitschrift für technische Physik“ erschienene Bericht „Über künstliche Sperrschichten an elektronischen Halbleitern von verschiedenem Leitungs­ typus“.17

12  Ebd.,

Bl. 19. Bl. 33. 14  Vgl. ebd., Teil D, Bl. 1. 15  Ebd., Bl. 5. 16  Vgl. Zeitschrift für Physik, Sonderabdruck, 102. Band, 11. und 12. Heft, Berlin 1936, S. 709–733. 17  Hartmann, Werner: Über künstliche Sperrschichten an elektronischen Halbleitern von verschiedenem Leitungstypus, in: Zeitschrift für technische Physik, 17. Jahrgang, Nr. 11, 1936, S. 437–439. 13  Ebd.,



II. Physiker in der Industrie31

II. Physiker in der Industrie 1. Siemens & Halske – nur eine Episode Nachdem Hartmann im Mai 1935 „in Lohn und Brot“ getreten war, gelang ihm auch ein „ehrenvolles Ausscheiden aus der SA“. Das Austrittsgesuch habe er „wahrscheinlich kurz vor Kriegsende vernichtet“, schrieb er in seinen Memoiren.18 Die Bitte um Entlassung begründete er in einem Schreiben an den Führer des SA-Sturmes 12/7, Schallies, vom 7. Oktober 1935 mit erhöhter beruflicher Belastung: 1. „durch häufigere Ausdehnung meiner Tätigkeit nach Betriebsschluss zwecks störungsfreier Messungen, 2. durch Besuch wissenschaftlicher Kolloquien und Vorträge, 3. durch meine vorbereitenden Arbeiten zum Doktorexamen. Weiterhin muss ich in steigendem Maße meinen Vater im Geschäft unterstützen. Aus diesen Gründen ist es mir nicht möglich, am Dienst teilzunehmen, wie es von einem S.A.-Mann erwartet werden muss.“19 Am 30. Januar 1936 wurde das Austrittsgesuch (Abb. 4) genehmigt. Im Forschungslabor von Siemens & Halske begann er unter Führung von Gustav Hertz, sich mit Fotokathoden und Bildwandlern zu beschäftigen. In der von einem Nobelpreisträger geleiteten Forschungsabteilung des größten Elektrokonzerns der Welt an der Entwicklung einer innovativen und zukunftsträchtigen Technologie mitwirken zu dürfen, hätten wohl die meisten Berufsanfänger als besonderen Glücksumstand empfunden. Nicht so Werner Hartmann. Seine Stimmungslage, eine Mischung aus Geltungsbedürfnis und Idealismus, sollte er am Ende seines Lebens so beschreiben: Er selbst wollte „keine kleine Null in einem Großbetrieb“ sein, in dem das Arbeitsethos des Physikers bei vielen seiner Kollegen zu wünschen übriglasse.20 Deshalb bemühte er sich, aus dem Forschungslabor II an einen Arbeitsplatz zu wechseln, der seinen Wünschen entsprach. Wieder war es Dr. Flechsig, der ihm einen Weg wies. Er empfahl Hartmann dem Chef der Fernseh A.G., die einen Leiter für ihre Hochvakuumabteilung zur Entwicklung von Bildaufnahmeröhren suchte.21 Nach einigem Zögern und Vorstellungsgesprächen auch bei anderen Firmen wechselte er dann doch zur „Fese“, wie sie von den Mitarbeitern ge18  Nachlass,

Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1912–1945, Teil D, Bl. 18. R9361 III/567275. 20  Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1912–1945, Teil E, Bl. 1. 21  Vgl. ebd. 19  Bundesarchiv

32

C. Studium, Berufseinstieg und kriegswichtige Forschung

Abb. 4: Austrittsgesuch aus dem SA-Sturm 12/7 vom 7. Oktober 1935.



II. Physiker in der Industrie33

nannt wurde. Siemens & Halske blieb lediglich eine Episode in seiner beruflichen Laufbahn. Diese brachte ihm jedoch eine inspirierende Zusammenarbeit mit dem namhaften Physiker Walter Schottky22 ein, der nach vierjähriger Lehrtätigkeit als Professor für Theoretische Physik an der Universität Rostock wieder zu Siemens & Halske zurückgekehrt war und sich der Grund­ lagenforschung auf den Gebieten der Halbleiterphysik und der Elektronik widmete.23 Sicher hatte er als begeisterter Tennisspieler die Olympischen Spiele 1936 in Berlin nicht nur am Rande zur Kenntnis genommen, sondern, möglicherweise auch vor allem, sich von der Berichterstattung beeindrucken lassen. Erstmals gab es Direktübertragungen der Wettkämpfe im Rundfunk. Auch das Fernsehen hatte Premiere. Aus dem Olympiastadion übertrug eine FarnsworthKamera24 15 Sendungen mit einer Gesamtzeit von 19 Stunden. Im Schwimmstadion war das Ikonoskop25 der Reichspost installiert. Erstmals in der Sportgeschichte wurden die Schwimmer unter Wasser aufgenommen. Der Fernsehsender Paul Nipkow sendete täglich von 10 bis 12 und von 15 bis 19 Uhr. In 138 Stunden wurden so 175 Wettkämpfe übertragen. Die Zahl der privaten Empfänger war allerdings gering, weil kaum jemand einen Fernseher besaß. Stattdessen gab es in Berlin 25 Fernsehstuben, in Leipzig zwei und in Potsdam eine. In diesen zählte man 162.228 zahlende Besucher.26 Hartmann hatte offensichtlich schon zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn ein Gespür für zukunftsträchtige Innovationen. Darüber hinaus verfügte er über die Fähigkeit, schnell Entscheidungen zu treffen, um an ihnen teil­ zuhaben und sie zu befördern. Auf der Suche nach einer seinen Intentionen entsprechenden Anstellung hatte Hartmann auch bei dem fünf Jahre älteren und sehr erfolgreichen Manfred Baron von Ardenne nachgefragt, ob in dessen Privatlabor am Jungfernstieg eine Stelle frei sei. Ardenne war es im 22  Nach Walter Hans Schottky (1886–1976) wurden der Schottky-Effekt (eine Glühemission, wichtig für die Röhrentechnik), die Schottky-Diode, die SchottkyBarriere (eine Sperrschicht), die Schottky-Leerstellen (oder auch Schottky-Defekte), die Schottky-Anomalie (ein Peak der Wärmekapazität) und die Schottky-Gleichung (auch Langmuir-Schottkysches-Raumladungsgesetz) benannt. Vgl. https://de.wikipe dia.org/wiki/Walter_Schottky. 23  Vgl. Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1912–1945, Teil D, Bl.  8 f. 24  Philo Taylor Farnsworth (1906–1971) war ein amerikanischer Erfinder, dem 1927 im Labor die Übertragung eines Bildes auf rein elektronischem Wege gelang. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Philo_Farnsworth. 25  Das von Vladimir Zworykin entwickelte Ikonoskop wies Ähnlichkeiten mit der „Sondenröhre“ von Farnsworth auf, was zu einem längeren Patentstreit führte. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Ikonoskop. 26  Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Olympische_Sommerspiele_1936#Berichter stattung.

34

C. Studium, Berufseinstieg und kriegswichtige Forschung

Frühjahr 1931 gelungen, Kinofilme mit den Spitzenwerten der auf mechanischer Grundlage arbeitenden Fernsehgeräte auf rein elektronischem Wege zu übertragen. Dabei erreichte er die Auflösung von 10.000 Bildpunkten mit einer deutlich besseren Bildhelligkeit. Als „Weltpremiere des elektronischen Fernsehens“ gilt die Vorführung seiner Anlage auf der „8. Großen Deutschen Funkausstellung Berlin 1931“, die vom 21. bis 30. August stattfand. Die Firma Radio AG Loewe präsentierte eine Versuchsanlage mit der Bildzerlegung nach Manfred von Ardenne mit 6.000 Bildpunkten, 100 Zeilen und 20 Bildwechseln pro Sekunde. Mit diesem „Handstreich“ hatte sich der dreiundzwanzigjährige Ardenne an die Spitze der technischen Entwicklung gesetzt. Er hatte das „Stichwort gegeben, Post und Industrie folgten“. Dennoch dominierte auf der Aufnahmeseite noch Jahre hindurch die Nipkow-Scheibe in unterschiedlichsten Ausführungen.27 Es sei deshalb zu keiner Anstellung bei Ardenne gekommen, schrieb Hartmann gegen Ende seines Lebens, weil dieser ihm erklärt habe, dass er als Chef bei sämtlichen Veröffentlichungen aus seinem Hause als Ko-Autor genannt werden wolle.28 Dennoch sollte sich dieses Gespräch als Startpunkt einer Beziehung erweisen, die mit wechselnder Intensität ein Leben lang währte und phasenweise als Freundschaft bezeichnet und wohl auch als solche empfunden wurde. 2. Die „Fese“ Als „Fernseh AG“ wurde das Unternehmen am 11. Juni 1929 von den Firmen Robert Bosch AG Stuttgart, Radio AG D. S. Loewe Berlin, Zeiss Ikon AG Dresden und Baird Television Limited London gegründet. In der Festschrift anlässlich des zehnjährigen Bestehens nannte der Leiter des Unternehmens, Dr.-Ing. Paul Goerz, 100.000 RM als Stammkapital bei der Firmengründung „in drei kleinen Räumen im obersten Stockwerk des Goerzwerkes der Zeiss Ikon A. G. in Berlin-Zehlendorf“. Die Belegschaft sei von ursprünglich drei Mitarbeitern enorm gewachsen, „die Zahl der Arbeiter von 1 auf 180 und der Angestellten von 3 auf 140“.29 Die britische Baird-Gesellschaft wurde bereits 1935 auf Betreiben des Reichspostministeriums herausgedrängt, nicht allein aus nationalistischen, sondern auch aus Geheimhaltungsgründen. Wegen seines jüdischen Eigentü27  Vgl. Barkleit, Gerhard: Manfred von Ardenne. Selbstverwirklichung im Jahrhundert der Diktaturen, 2. Auflage, Berlin 2008, S. 38 f. 28  Vgl. Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1912–1945, Teil D, Bl. 36. 29  Hausmitteilungen aus Forschung und Betrieb der Fernseh Aktiengesellschaft Berlin. 10 Jahre Fernseh A. G. 1929–1939, 1939, 1. Band (Heft 4).



II. Physiker in der Industrie35

mers musste die Loewe AG trotz jahrelangen Widerstrebens 1938 ebenfalls ihre Anteile den beiden verbleibenden Gründungsunternehmen überlassen. Nach der vollständigen Übernahme der Anteile der Fernseh AG durch Bosch wurde am 19. Oktober 1939 die Fernseh GmbH beim Amtsgericht Berlin mit den Geschäftsführern Dr. Paul Goerz, Rudolf Höhne, Dr. Rolf Möller und Dr.-Ing. Georg Schubert eingetragen. „Damit war eine Entwicklung zum Abschluss gekommen, die in einem denkwürdigen Gespräch mit Postminister Ohnesorge ihren Anfang genommen hatte“, wie Joseph Hoppe es formulierte.30 Den Stand der damaligen Fernsehtechnik stellten Rolf Möller und Georg Schubert 1939 in einem Aufsatz dar, der anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Fernseh AG in den Hausmitteilungen des Unternehmens erschien. Die Autoren skizzieren wesentliche Entwicklungsstufen, natürlich unter besonderer Betonung der Leistungen einer erfolgreichen Firma, zu deren Mitarbeitern auch Werner Hartmann gehörte.31 „Die Spirallochscheibe nach Nipkow oder das Weiller’sche Spiegelrad, die Glimmlampe oder Kerrzelle, ein mit Hilfe eines phonischen Rades synchronisierter Motor und die gasgefüllte Photozelle, vereint mit aus der Rundfunktechnik bekannten Verstärkern“, so die Autoren, „waren das Rüstzeug der Fernsehtechnik des Jahres 1929.“32 Im Jahre 1932 stand für die direkte Übertragung von Szenen aufnahmeseitig allein die Lichtstrahlabtastmethode zur Verfügung. Mit Hilfe des sogenannten Zwischenfilmverfahrens konnte jeder Vorgang, der sich überhaupt filmen ließ, auch gesendet werden. Der Zwischenfilm wurde im Anschluss an die Aufnahme in einem kontinuierlichen Verfahren entwickelt, fixiert (später auch getrocknet) und dann der Abtastapparatur zugeführt. Der gesamte Prozess zwischen Aufnahme und Abtastung dauerte nur 15 Sekunden. Fotozellen und Sondenröhren mit einem Sekundärelektronenverstärker gestatteten 1935 erstmalig, Außenszenen ohne Anwendung eines Zwischenfilmes zu übertragen. Bei Fernsehübertragungen von den Olympischen Spielen 1936 in Berlin wurde ein von der Fernseh AG gebauter Zwischenfilmwagen eingesetzt, denn dieses Verfahren habe „bei den Direktübertragungen qualitativ noch an der Spitze“ gelegen.33 „Der Kampf um die bessere Bildauflösung 30  Hoppe, Joseph: Fernsehen als Waffe. Militär und Fernsehen in Deutschland 1935–1950, in: Berliner Beiträge zur Technikgeschichte und Industriekultur. Schriftenreihe des Museums für Verkehr und Technik Berlin, Band 13, S. 53–88. 31  Vgl. Möller, Rolf/Schubert, Georg: Zehn Jahre Fernsehtechnik, in: Hausmitteilungen aus Forschung und Betrieb der Fernseh Aktiengesellschaft, Berlin, Bd. 1, Heft 4, Juli 1939, S. 111–122. 32  Ebd., S. 111. 33  Ebd., S. 116.

36

C. Studium, Berufseinstieg und kriegswichtige Forschung

und das flimmerfreie Bild“ fand 1937 seinen vorläufigen Abschluss in der Festlegung einer neuen Übertragungsnorm mit einer Auflösung von etwa 230.000 Punkten mit Hilfe eines 441-Zeilen-Bildes nach dem Zeilensprungverfahren. Die Kamera mit Sondenröhre „ist aus dem Wettbewerb endgültig ausgeschieden, die Speicherröhre beherrscht endgültig das Feld“.34 Der Standard-Fernsehempfänger der Fernseh AG von 1939 war mit einer Braun’schen Röhre von 40 Zentimeter Schirmdurchmesser ausgestattet. Die Außenabmessungen betrugen 108 Zentimeter Höhe, 67 Zentimeter Breite und 53 Zentimeter Tiefe. Man rühmte sich, den „ersten wirklich brauchbaren Kleinempfänger mit einer Bildgröße von 20 x 23 cm, welcher nur 58 x 36 x 35 cm misst“, den Kunden anbieten zu können. Dieser Empfänger, „der mit einer außergewöhnlich kurzen Braun’schen Röhre arbeitete, sollte auf die gesamte Empfängerentwicklung bahnbrechend wirken“, hofften die Firmenchefs und leitenden Mitarbeiter.35 Wenngleich „die gesamte Fernsehtechnik heute trotz der geleisteten Entwicklungsarbeit noch am Anfang steht“, zeigen sich die Autoren überzeugt, dass „aus einer physikalischen Spielerei eine Technik geworden ist und diese marschiert“.36 Auch die Technik „marschierte“ für die führenden Köpfe des Unternehmens also schon, bevor der Krieg begonnen hatte. Zu diesem Heft der Hausmitteilungen leistete auch Hartmann einen Beitrag, und zwar mit seiner fünfseitigen Übersicht über die Entwicklung von Bildsondenröhren, die wie bereits erwähnt inzwischen überholt, aber bei den Übertragungen von den Olympischen Spielen 1936 in Berlin noch zum Einsatz gekommen waren.37 Am 1. März 1937 war Hartmann als Laborleiter bei der Fernseh AG eingestellt worden.38 Unter Leitung von Dr. H. Wulfheckel beschäftigte er sich mit Sekundärelektronenvervielfachern (SEV) und Bildsenderöhren.39 Nach der Umwandlung in die Fernseh GmbH erhielt Hartmann bei einem „Befehlsempfang bei Dr. Möller“ die Aufgabe, innerhalb von vier Monaten in seinem Zuständigkeitsbereich eine „kleine, möglichst tragbare Reporteraufnahmekamera bis zur Funkausstellung“ zu entwickeln. „Eine umfangreiche Aufgabe, aber sie gelang.“ Mit diesem Erfolg im Rücken wurde Hartmann nach dem Ausscheiden seines wenig kompetenten 34  Ebd.,

S. 117. S. 120. 36  Ebd., S. 121. 37  Vgl. Hartmann, Werner: Die Bildsondenröhre, in: Hausmitteilungen aus Forschung und Betrieb der Fernseh Aktiengesellschaft Berlin. 10 Jahre Fernseh A. G. 1929–1939, 1. Band (Heft 4), 1939, S. 130–134. 38  Vgl. Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1912–1945, Teil D, Bl. 19. 39  Vgl. ebd., Teil E, Bl. 6. 35  Ebd.,



II. Physiker in der Industrie37

Vorgesetzten 1938 zum Abteilungsleiter befördert. Er verantwortete fortan die Arbeiten an Sekundärelektronenvervielfachern, kleinen Ikonoskopen und der Bildsondenröhre (Dissector tube nach Farnsworth).40 Im Dezember 1939 erschien in den Hausmitteilungen der „Fese“ ein Beitrag von Hartmann „Über Photozellen mit Sekundärelektronenvervielfachern “.41 An diese Veröffentlichung sollte er 15 Jahre später auf angenehme Weise noch einmal erinnert werden, denn im Juni 1954 sandte ihm ein sowjetischer Wissenschaftler namens S. F. Rodjonow die Fotokopie einer Veröffentlichung über die Entwicklung eines vergleichbaren Sekundärelektronenvervielfachers aus dem Jahre 1949 im „Journal der technischen Physik“ zu und äußerte den Wunsch, künftig zusammenzuarbeiten und auf Hartmanns Weg weiter voranzuschreiten.42 Der Wiener Fernsehhistoriker Wolfgang Scheida stellte in einem InternetBeitrag mit dem Titel „Wie das Fernsehen nach Deutschland kam“ eine vermutlich nicht vollständige Übersicht über die Unternehmensstruktur und die Mitarbeiter der „Fese“ mit deren Arbeitsgebieten zusammen. Grundlage der im Folgenden wiedergegebenen Liste ist die bereits zitierte Hausmitteilung vom Juli 1939.43 Tabelle 2 Mitarbeiter der „Fese“ 1939 Name

Vorname

Titel

Dienststellung/Aufgaben

Rassbach

E. C.

Dr.

1. Direktor/Bosch

Wild

Karl Matell

2. Direktor/Bosch

Ernemann

Alexander

1. Direktor/Zeiss

Simader

Alfred

2. Direktor/Zeiss

Goerz

Paul

Vorsitz:

Dr. Ing.

Leitung (Fortsetzung nächste Seite)

40  Vgl.

ebd., Bl. 8. Hartmann, Werner: Über Photozellen mit Sekundärelektronenvervielfachern, in: Hausmitteilungen aus Forschung und Betrieb der Fernseh Aktiengesellschaft Berlin, 1. Band (Heft 6), 1939, S. 226–230. 42  Vgl. Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Ordner WH1 (1930–1955). 43  Vgl. http://www.scheida.at/scheida/Televisionen_Normenentwicklung.htm#Die Deutschen Fernsehspezialisten in der UdSSR. 41  Vgl.

38

C. Studium, Berufseinstieg und kriegswichtige Forschung

(Fortsetzung Tabelle 2) Name

Vorname

Titel

Dienststellung/Aufgaben

Möller

Rolf

Dr.

Stellvertretendes Vorstandsmitglied/ verantwortlich für Hausmitteilungen

Schubert

Georg

Dr. Ing.

Stellvertretendes Vorstandsmitglied/ verantwortlich für Hausmitteilungen

Bähring

Herbert

Dipl.-Ing. Kippgeräte, Zeilentransformator

Behne

R.

Speicherröhre

Below

Fritz

Breitbandverstärker

Borries

Bodo von

Brückersteinkuhl

Kurt

Bünger

W.

Dillenburger

Wolfgang

Flechsig

Werner

Günther

Johann

Günzel

Erwin

Hagen

Curt

Dr.

Hartmann

Werner

Dr.

Haß

Walter

Dipl.-Ing. Kleinbildröhren

Hudec

E.

Dr. Ing.

Kosche

E.

Legler

F.

Maly

Rolf

Mulert

Theodor

Paehr

Hans Werner

Rudert

Frithjof

Ruska

Ernst

Mitarbeiter:

Dr.

Breitbandverstärker Prismensystem

Speicherröhre Dipl.-Ing. Kippgeräte Projektionsröhre

Hochvakuumlaboratorium, Bildsondenröhre

Prismensystem, Nipkowscheiben

Fernseh-Sprechtechnik Dr.

Kippgeräte Großbildröhren

Sondenröhre (1935–1936)



II. Physiker in der Industrie39 Name

Vorname

Titel

Dienststellung/Aufgaben

Schmidt

Helmut

Dezimetersender

Schunack

Johannes

Geräte der EIAR Rom (1939)

Schwartz

Erich

Dr.

Bildröhre beim DE 7

Strübig

Heinrich

Dr.

Großbildröhren

Thöm

Kurt

Wellmann

Kurt

Wulfheckel

H.

Zschau

Horst

Sondermayer

Bildsondenröhre Ing.

Kleinbildröhren Sondenröhre (1937–1938)

Werner Hartmann bearbeitete das Kernstück der Bilderzeugung unter Berücksichtigung der Erfinder- und Patentsituation. Er hatte zur Berliner Funkausstellung 1938 ein Fernsehbild mit 1.000 Zeilen vorstellen können. Während des Zweiten Weltkriegs blieb er vom Kriegsdienst freigestellt, weil die Arbeiten zur Bildübertragung der Rüstungsforschung zugerechnet wurden.44 Nicht nur nebenbei sei an dieser Stelle erwähnt, dass zwei der hier genannten „Fese“-Mitarbeiter, nämlich Bodo von Borries und Ernst Ruska, ab Februar 1937 die industrielle Entwicklung der Elektronenmikroskopie bei der Siemens & Halske AG in Berlin leiteten. Für diese neue Mikroskopie erhielt Ruska 1986 den Nobelpreis für Physik. Zwei andere Mitarbeiter, Horst Zschau und F. Legler, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg in die ­Sowjetunion „eingeladen“, um dort das Fernsehen voranzubringen. Ersterer bearbeitete den Komplex Filmabtaster und optische Belange, Letzterer brachte seine Erfahrungen in Kontroll- und Messtechnik ein. Obwohl Hartmann niemals ernsthaft erwog, die „Fese“ zu verlassen, bewarb er sich im November 1941 bei der HASAG in Leipzig, einem Unternehmen, das sich auf die Produktion von Rüstungsgütern spezialisierte und in dieser Sparte zu einem der größten Konzerne Deutschlands gehörte. 1930 hatte die HASAG 1.000 Beschäftigte, von denen viele als besonders systemnah galten. „NS-Funktionäre waren in der Unternehmensführung organisiert, weitere Direktoren in der SS, der Gestapo oder der SA. Beschäftigte in leitenden Positionen waren fast ausschließlich Mitglieder der NSDAP sowie SS 44  Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Werner_Hartmann_(Physiker)#1935–1945:das Forschungsjahrzehnt.

40

C. Studium, Berufseinstieg und kriegswichtige Forschung

oder SA.“45 Während des Krieges wurde an der Weiterentwicklung der Panzerfaust mit halbkugelförmiger Hohlladung gearbeitet. Da der Generaldirektor ihm im Vorstellungsgespräch keine Zusage geben konnte, sofort eine Wohnung bereitzustellen, sei der Wechsel nach Leipzig nicht zustande gekommen. Streng genommen habe er aber nur seinen „Marktwert für die Zeit nach dem gewonnenen Krieg testen wollen“.46 An einer „Besprechung über Fernsehfragen“ am 16. Oktober 1933 im Reichspostministerium nahm die Fernseh AG nicht teil. Dort wurde der auf der Funkausstellung demonstrierte Stand der Technik mit einer Zerlegung der Bilder in 180 Zeilen und einer Übertragung von 25 Bildern pro Sekunde als ermutigend eingeschätzt, die Versuchssendungen zu erweitern. An „bestimmten Tagen sollten 3 Sendungen täglich angeboten werden“.47 Ein Jahr nach Kriegsbeginn, im August 1940, konstatierte Telefunken, wichtigster Konkurrent im Fernsehgeschäft, dass die Fernseh GmbH inzwischen „mit einem erdrückend starken Aufgebot von 300–400 Mitarbeitern“ die Führungsrolle übernommen habe.48 Mag es zunächst ein wenig verwunderlich erscheinen, dass die Fernseh AG auf dem technologischen Niveau von Ende der 1930er/Anfang der 1940er Jahre kriegswichtige Forschungen und Entwicklungen betrieb, so entspricht das doch den Tatsachen. Schon zu Beginn des Krieges, im Jahre 1940, schlug Reichspostminister Dr. Ing. E. H. Wilhelm Ohnesorge in einem Brief an Hitler die Entwicklung von Fernsehwaffen vor.49 Seit 1939 arbeiteten mehrere Firmen, darunter auch die Fernseh GmbH, an der Entwicklung einer Miniatur-Kamera für den Einsatz in Flugzeugen und Gleitbomben. Das Spektrum an Geräten und Methoden reichte von der Auswertung von Fernsehbildern in Flugzeugen bis hin zu ferngesteuerten Gleitbomben, die mit Fernsehkameras ausgestattet werden sollten. Im Oktober 1942 konnte die Fernseh GmbH der Versuchsanstalt in Peenemünde entsprechende Anlagen übergeben, die denen der Konkurrenz deutlich überlegen waren.50 Die komplette Serie von mobilen Kameras für den Einbau in Flugzeugen erhielt den Namen „Tonne“. Das bildgebende System war kompakt genug, um im Bug einer Henschel HS-29D Lenkbombe untergebracht werden zu können. Die Kamera war ca. 17 Zentimeter × 17 Zentimeter × 40 Zentime45  https://de.wikipedia.org/wiki/HASAG. 46  Nachlass,

Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1912–1945, Teil E, Bl. 3. über die Besprechung über Fernsehfragen vom 16. Oktober 1933 im Reichspostministerium, Bundesarchiv, Bestand R 55 – Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, Nr. 21048. 48  Hoppe, Fernsehen als Waffe, S. 78. 49  Vgl. ebd., S. 53–88. 50  Vgl. ebd., S. 72. 47  Niederschrift



II. Physiker in der Industrie41

ter groß. Für den Bombenschützen im Mutterflugzeug gab es zur Lenkung eine Empfangseinheit einschließlich Bildschirm mit einer Auflösung von 224 und später 441 Zeilen mit allen Merkmalen des zivilen Fernsehens.51 Im Jahre 1944 war das ganze System serienreif, kam aber nicht mehr zum Einsatz.52 Als im Jahre 1943 die alliierten Bombenangriffe schwere Schäden an den Gebäuden der Reichspost-Forschungsanstalt verursachten, wurde die Verlegung in eine durch Bombenangriffe weniger gefährdete Gegend beschlossen. Etwa 400 Spezialisten der als kriegswichtig klassifizierten Produktion der Fernseh GmbH wurden nach Morchenstern bei Tannwald verlagert, südöstlich von Zittau im heutigen Dreiländereck Deutschland – Polen – Tschechien gelegen. Dort wurden die Fernsehköpfe für die antriebslosen, aber steuerbaren Gleitbomben produziert.53 Nur einer seiner sieben festen und fünf bis neun befristeten Mitarbeiter bzw. Teilzeitkräfte sei nicht ungern nach Tannwald gegangen, und zwar Ingenieur Richter, der „Angst vor den Luftangriffen auf Berlin“ hatte, erinnert sich Hartmann.54 Trotz aller entlastenden Argumente ehemaliger Mitarbeiter nach dem Krieg sei „spätestens mit der Umsiedlung des Betriebes in den Sudetengau ausschließlich für den Krieg produziert“ worden, bilanziert Hoppe.55 Werner Hartmann, der ohne besonders herauszuragen zu den produktiven Mitarbeitern gehörte, wurde zum amtierenden Leiter des Berliner Restbetriebes ernannt.56 In den „Hausmitteilungen aus Forschung und Betrieb der Fernseh GmbH Berlin“, 2. Band, Heft 4, Juni 1942, sind die Patentanmeldungen summarisch erfasst und die Mitarbeiter in drei Kategorien eingestuft: Die Gruppe 1 bilden Mitarbeiter mit 50 und mehr Patentanmeldungen, die Gruppe 2 solche mit 29 bis 49 Anmeldungen sowie die Gruppe 3 mit 10 bis 24 Anmeldungen. Werner Hartmann gehörte mit seinen Patenten zu Photozellen und Bildsondenröhren zur 2. Gruppe.57 In einer „Aufstellung über Patentanmeldungen“ vom 21. Juli 1948 führte Hartmann für den Zeitraum vom April 1938 bis zum Juli 1944 insgesamt 17 Anmeldungen an. 51  Vgl. https://verschwiegenegeschichtedrittesreich.wordpress.com/2017/01/16/mi niaturfernsehkameras-mit-sender/. 52  Vgl. Johnson, Brian: Streng geheim. Wissenschaft und Technik im Zweiten Weltkrieg, Lizenzausgabe für den Weltbild Verlag GmbH Augsburg, S. 317 f. 53  Vgl. Hoppe, Fernsehen als Waffe, S. 79. 54  Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1912–1945, Teil E, Bl. 20. 55  Hoppe, Fernsehen als Waffe, S. 78. 56  Vgl. Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1912–1945, Teil E, Bl. 8. 57  Vgl. ebd., Ordner WH1, 1930–1955, einzelnes Blatt.

42

C. Studium, Berufseinstieg und kriegswichtige Forschung

Vom Reichspatentamt wurden anerkannt: Tabelle 3 Reichspatente bis 1944 Patent

eingereicht

bekannt gemacht

Nummer

Anordnung zur punktweisen Abtastung eines auf einer Bildelektrode mit elektronischer Halbleiterschicht gespeicherten Ladungsbildes Verfahren zur Erhöhung der Lebensdauer von Photokathoden in Bildzerlegerröhren mit Abtastblende Bildzerlegerröhre mit Photoelektronenabtastung einer einseitigen Mosaikelektrode* Verfahren zum Aufdampfen von Metallen auf mehrere im gleichen Gefäß befindliche, verschieden zu behandelnde Photo- und/oder Sekundäremissionselektroden und Anordnung zu seiner Durchführung

13. März 1938

8. Mai 1941

706872, Klasse 21a, Gruppe 32 22

10. August 1940

21. Oktober 1943

9. Februar 1938

4. November 1943

17. Juli 1938

25. November 1943

742801, Klasse 21a, Gruppe 32 22 743480, Klasse 21a, Gruppe 32 22 744768, Klasse 21g, Gruppe 29 20

* gemeinsam mit Dr. Rolf Möller

Anfang der 1950er Jahre, die Fernseh GmbH hatte ihren Firmensitz inzwischen nach Darmstadt verlegt, wurden die nachfolgend aufgelisteten Patente Hartmanns durch das Deutsche Patentamt der Bundesrepublik erneut bekannt gemacht: Tabelle 4 Anerkennung von Patenten in der Bundesrepublik Patent

eingereicht

bekannt gemacht

Nummer

Entladungsröhre mit photoelektrischer Katode

keine Angabe

11. Dezember 1952

Photozelle mit Sekundärelektronenverstärker

19. Februar 1938*

12. März 1953

Photozelle mit eingebautem Sekundärverstärker

keine Angabe

29. Oktober 1939**

891305, Klasse 21g, Gruppe 29 40 901569, Klasse 21g, Gruppe 29 20 907097, Klasse 21g, Gruppe 29 20

* Vom Reichspatentamt am 3. August 1939 bekannt gemacht, patentiert vom 19. Februar 1938 an.  ** Patentiert im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland vom 29. Oktober 1939 an.



III. Ehe und Familie im Zweiten Weltkrieg43

Wenige Tage vor der bedingungslosen Kapitulation des Dritten Reiches, am Freitag, dem 20. April 1945, stellte die „Fese“ den Betrieb ein.58 Im Arbeitszeugnis des kaufmännischen Leiters Pilling vom 17. Mai 1945 wurden Hartmanns Leistungen gebührend gewürdigt. „Dr. Hartmann erzielte durch Erfindungen und Entwicklung von Verfahren für sein Arbeitsgebiet die in Deutschland hochwertigsten Ergebnisse“, heißt es dort.59

III. Ehe und Familie im Zweiten Weltkrieg Eltern und Großeltern blickten seit Langem voller Stolz auf ihren Werner, was dieser sichtlich genoss. In seinen Memoiren schildert er einen Besuch beim fast völlig erblindeten Großvater Franz Wellnitz im Frühsommer 1937, der seinen schmucken neuen Wagen kaum sehen konnte, sondern ertasten musste, und ihm anschließend sagte: „Junge, Du hast es viel weitergebracht als ich, ich habe alles wieder verloren. Sieh zu, dass Du das Erreichte bewahren kannst. Das ist nicht immer leicht. Ich freue mich sehr, dass ich einen so tüchtigen Enkelsohn habe.“60 Während eines Urlaubs am Chiemsee lernte Hartmann 1937 „seine erste große Liebe“ kennen, Hannelore Schmidt aus Karlsruhe. Heiraten konnten sie einander aber nicht, da sein „Hannele“ ihrer Mutter auf dem Sterbebett versprechen musste, „niemals einen Nichtkatholiken zu heiraten“. Sie müssten sich deshalb trennen, schrieb sie ihm in einem Brief zum Weihnachtsfest.61 Auf einem Kostümfest des Vereins „Alaaf“, das in „allen Räumen“ des Berliner Zoos stattfand, lernte er Anfang März 1938 Lieselotte Vera Maria Brandt kennen, eine Vollwaise, die bei Pflegeeltern namens Polzin lebte. Ein reichliches Jahr später, am 1. April 1939, wurde die Ehe geschlossen. Die standesamtliche Trauung fand, ebenso wie auch die katholische Hochzeit, in Friedenau statt.62 Seinen, wie er selbst schrieb, letzten „Junggesellenurlaub“ hatte er „bei herrlichem Wetter“ mit Herbert Saegebarth und dessen späterer Ehefrau Gerda in Neustadt am Schliersee beim Skilaufen verbracht.63 Durch Vermittlung des Vaters konnten die frisch Vermählten eine 3-Zimmer-Wohnung im obersten Stock des Hinterhauses Landhausstraße 9 in Wilmersdorf mieten. Am 15. Januar 1940 wurde Tochter Annelore geboren. „Da 58  Vgl.

ebd., Ordner 1912–1945, Teil E, Bl. 52. Bl. 59. 60  Ebd., Bl. 37. 61  Vgl. ebd., Bl. 39 f. 62  Vgl. ebd., Bl. 33. 63  Vgl. ebd., Bl. 61. 59  Ebd.,

44

C. Studium, Berufseinstieg und kriegswichtige Forschung

der Winter sehr schneereich und kalt war, blieb Lilo bis etwa April 1940 bei meinen Eltern in Zehlendorf“, erinnert sich Hartmann. Bei Fliegeralarm im Sommer 1940 mussten sie oft mit dem Kinderwagen den Luftschutzkeller des Vorderhauses aufsuchen. Das änderte sich, als er im Herbst ein Einfamilien-Reihenhaus in Zehlendorf, Eggepfad 22, anmieten konnte – „trotz der für mein Gehalt von ca. 550 Mark brutto relativ hohen Miete von 130 Mark, zusätzlich die Nebenkosten“. Es blieb bis zum Kriegsende der offizielle Wohnsitz der kleinen Familie. Dieser Wohnungswechsel erwies sich als die richtige Entscheidung, denn die zur Landhausstraße 9 gehörenden Häuser fielen nahezu komplett den Bomben zum Opfer. Als die Luftangriffe auf die Hauptstadt immer häufiger und heftiger wurden, verließ Lilo mit Annelore am 6. August 1943 Berlin und ging zu ihren Verwandten nach Rokitten,64 einem kleinen Ort südlich von Landsberg an der Warthe, wo der Bruder ihres Ziehvaters als Pfarrer tätig war.65 In dem heute polnischen Ort feierte die Familie 1944 das Weihnachtsfest. Die Front rückte immer näher und Mitte Januar 1945 verließ Lilo mit der Tochter ihren Zufluchtsort. Am 30. Januar trafen beide wohlbehalten in Zehlendorf ein. „Im März 1945 fuhren Lilo und Annelore mit dem Zug nach Wettmar zu den Eltern von Gerda Bode, geb. Hartmann. Werners Onkel Heinrich Hartmann lebte mit seiner Frau Olga in diesem kleinen Ort nordwestlich von Hannover. Cousine Gerda selbst lebte in Hülptingsen bei Burgdorf, ca. 30 Minuten Autofahrt von Wettmar entfernt.“66 Vater Gustav „mit seinen fast 70 Jahren“ habe die Schwiegertochter und das Enkelkind auf dieser Reise begleitet, erwähnte der Sohn an anderer Stelle mit einem gewissen Nachdruck.67 Ihm selbst scheint es offenbar schwergefallen zu sein, in die Rolle eines „treusorgenden“ Familienvaters hineinzuwachsen. Eine Zusammenstellung von Urlaubsreisen in den ersten Jahren des Krieges in seinen Memoiren spricht nicht für das Bemühen um ein inniges Familienleben. Seit dem Sommer 1944 rückte die Ostfront unaufhaltsam auf die Hauptstadt zu. Am 12. Januar 1945 setzte die Winteroffensive der Roten Armee ein. Am 27. Januar befreite diese die Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz bei Krakau in Polen, am 10. Februar wurde Budapest erobert, am 15. Februar der Ring um Breslau geschlossen. 64  Vgl.

ebd., Teil D, Bl. E 35–37. Polzin war von 1936 bis zur Ausweisung durch die polnischen Behörden 1945 Pfarrer in Rokitten. Nach dem Krieg wirkte er im Deutschen Caritasverband. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Polzin. 66  Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1912–1945, Teil E, Bl. 37. 67  Vgl. ebd., Bl. 61. 65  Ludwig



III. Ehe und Familie im Zweiten Weltkrieg45 Tabelle 5 Urlaubsreisen 1940–1943 Zeitraum/Datum

Ort

Kosten

Teilnehmer

August 1940

Brückenberg/ Riesengebirge

295 M

Werner und ein Freund

Juli 1941

Breitenstein

Juli 1942

bei Sitzendorf/ Thüringen

September 1942

Rokitten

August 1943

bei Sitzendorf/ Thüringen

Lilo und Annelore bei ihren Verwandten 150 M

Werner allein Lilo und Annelore bei ihren Verwandten

125 M

Werner allein

Auch Gustav Hartmann konnte angesichts dieser Entwicklung nicht mehr an den „Endsieg“ glauben. „Um spätere Schwierigkeiten zu vermeiden“, übertrug das NSDAP-Mitglied sein Grundstück Grumbacher Weg 19 in Berlin-Zehlendorf am 10. Februar 1945 auf den Sohn Werner als alleinigen Besitzer.68 Wohl weniger seine Parteizugehörigkeit, sondern vielmehr der Wunsch, nach dem Tod von Werners Mutter eine zweite Ehe eingehen zu wollen, führten zu diesem Entschluss. Bereits vier Wochen zuvor hatte er dem Sohn erklärt, die Witwe Else Finkendey, geb. Nitze ehelichen zu wollen. Nachdem Werners Mutter am 17. Dezember 1942 nach langer Leidenszeit einem Krebsleiden erlegen sei, wolle er nun das Alleinsein beenden.69 Bei dem Besitzerwechsel des von ihm weiterhin bewohnten Hauses wurde allerdings im Grundbuch ein Nießbrauch für ihn und auch für seine künftige Gattin eingetragen, der beiden ein Wohnen bis zum Lebensende sicherte. In seiner zweiten Ehe scheint Gustav Hartmann jedoch nicht so recht glücklich geworden zu sein. Jahre später ließ er dem Sohn „persönliche Angaben über mich zur Benutzung für den Redner bei der Totenfeier im Krematorium“ zukommen. In dieser mit einer Schreibmaschine geschriebenen Verfügung nannte er seine erste Frau „ein liebes Mädchen“, das „leider im Winter 1942“ gestorben sei und „mich hier allein zurückließ“. Er könne sie nicht vergessen. Seine zweite Frau Else erwähnte er nicht einmal.70 68  Vgl.

ebd., Bl. 51. ebd., Bl. 38. 70  Vgl. ebd., Anlagen. 69  Vgl.

46

C. Studium, Berufseinstieg und kriegswichtige Forschung

In weiser Voraussicht, so könnte man im Nachhinein feststellen, begann Sohn Werner im März 1945 die russische Sprache zu erlernen, was dem auch sprachlich sehr Begabten wenig Mühe bereitete. „Französisch und Englisch konnte ich ja ganz gut“, begründete er seinen Optimismus, in kurzer Zeit auch die kyrillischen Zeichen beherrschen zu wollen.71

IV. Persönliche Chronik des Zweiten Weltkriegs Ein in mehrfacher Hinsicht aufschlussreiches Zeitdokument ist die von Hartmann vom 13. August 1939 bis zum 3. April 1945 akribisch geführte „Chronik des 2. Weltkriegs“, in der, wie er selbst betont, „auch einige wenige persönliche Bemerkungen enthalten“ seien.72 Zu seinen Stärken gehörte zweifellos die Fähigkeit, einmal Begonnenes unbedingt zu einem „ordentlichen“ Abschluss zu bringen. So erfüllte er die selbst gestellte Aufgabe, eine persönliche Chronik zu verfassen, auch dann noch zuverlässig, als der Euphorie angesichts der anfänglichen Erfolge der deutschen Wehrmacht an allen Fronten die Ernüchterung über eine sich abzeichnende Niederlage folgte. Auf insgesamt 78 kleinkarierten Blättern vom Format A4, die er zweispaltig beschrieb, notierte er in seiner kleinen Handschrift täglich ihm wichtig erscheinende Ereignisse. Ein Vergleich zwischen der Beurteilung solcher ­ Ereignisse in dieser Chronik und in seinen Memoiren fördert gelegentlich unterschiedliche Sichtweisen zutage. Diese können nicht ausschließlich als späte Einsichten, sondern auch als taktischen Erwägungen folgend interpretiert werden. Letzteres liegt besonders deshalb nahe, weil Hartmann die erste Fassung seiner Memoiren für das MfS geschrieben hat. 1. Erfolge der deutschen Wehrmacht Am Freitag, dem 1. September 1939, hörten die Beschäftigten in allen Betrieben und Institutionen die Rede des Führers zum Kriegsbeginn. „Ich saß auf der Ecke der großen Schlagschere und könnte noch heute, nach über 40 Jahren, das Bild dieser Versammlung malen.“ Es habe „sich unerhört genau eingeprägt, wohl weil ich ahnte, dass dieser Tag und diese Rede entscheidendste und weitreichende Bedeutung für die Weltgeschichte, für Deutschland und damit für uns haben würde“.73 Zwei Tage später, am 3. September, hörte er im Sender Warschau eine politische Sendung in ita­ lienischer Sprache, die mit dem Satz endete: „Deutschland wird auch diesen Krieg verlieren.“ Er habe das damals natürlich nicht glauben wollen.74 71  Ebd.,

Teil E, Bl. 50. Chronik des 2. Weltkriegs. 73  Ebd., Bl. 43. 72  Ebd.,



IV. Persönliche Chronik des Zweiten Weltkriegs47

Abb. 5: Von Hartmann durch rote Unterstreichungen markierte Ereignisse.

Bei einer Analyse der durch Hartmann in seiner persönlichen Chronik als besonders beeindruckend hervorgehobenen Einzelereignisse unter rein formalen Gesichtspunkten fällt zweierlei auf: Erstens ist deren Anzahl sehr starken Schwankungen unterworfen, und zweitens gibt es ab Ende des Jahres 1943 überhaupt keine Kriegsereignisse mehr, die Hartmann für besonders wichtig hielt. Und das, obwohl er nach wie vor täglich Eintragungen vornahm. Im ersten Monat des Krieges, dem sogenannten Polenfeldzug, markierte er 30 der insgesamt 33 Einzelereignisse durch eine Unterstreichung mit roter Tinte. Der allerletzte rot markierte Eintrag in dieser Chronik ist auf den Zeitraum „2.–7.11.1943“ datiert und umfasst neun (halbe) Zeilen: Was ihn selbst betrifft, so hält er „Nebel, Regen; Reise nach Stuttgart und Rokitten“ fest. Den Krieg betreffend, unterstreicht er einen „erfolglosen Vorstoß der Russen, die aber nun abgeschnitten“ seien, sowie das Ende der Moskauer Konferenz.75 Darüber hinaus notiert er noch „schwere Luftangriffe“ auf deutsche Städte sowie die „Räumung von Kiew“.76 74  Vgl.

ebd., Bl. 44. diesem Treffen vom 19. Oktober bis 1. November koordinierten die Außenminister der USA, Großbritanniens und der UdSSR die weitere Zusammenarbeit und vereinbarten den Eintritt der UdSSR in den Krieg gegen Japan. 76  Vgl. Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1912–1945, Teil E, Chronik des 2. Weltkriegs. 75  Bei

48

C. Studium, Berufseinstieg und kriegswichtige Forschung

Die formale Analyse des vorausgegangenen Abschnitts soll nun punktuell durch eine inhaltliche ergänzt werden. Zuvor sei aber festgehalten, dass Hartmann in seiner Chronik durchgängig vom „Führer“ spricht, und nirgends die eine gewisse Distanz zumindest vermuten lassende Nennung des Namens Hitler zu finden ist. Ausgesprochene Extremwerte nehmen die hervorzuhebenden Einzelereignisse in den Monaten Mai 1940, April 1941, Januar 1942, August 1942 und Juli 1943 an. Zunächst jedoch zu einigen der wenigen Eintragungen vom Beginn des Krieges im September bis hin zum Dezember 1939. Im Unterschied zu der eingangs dieses Abschnitts zitierten späten Erinnerung an die Rede Hitlers vor den Abgeordneten des Reichtages am 1. September 1939 erlebte Hartmann damals eine „ergreifende Führerrede“. In seiner persönlichen „Chronik des 2. Weltkriegs“ notierte er darüber hinaus noch den kurzen Satz: „Danzig kehrt zum Reich zurück.“ Einen großen Teil seiner Rede zur Rechtfertigung des Überfalls auf Polen widmete Hitler dem sogenannten Korridor, der Ostpreußen vom übrigen Deutschen Reich trennte, sowie den Problemen der freien Hansestadt Danzig: „Seit Monaten leiden wir alle unter der Qual eines Problems, das uns auch der Versailler Vertrag, d. h. das Versailler Diktat, einst beschert hat, eines Problems, das in seiner Ausartung und Entartung für uns unerträglich geworden war. Danzig war und ist eine deutsche Stadt.“ Weiter malte Hitler an einem düsteren Bild vom Leben der dort ansässigen Deutschen: „Danzig wurde von uns getrennt, der Korridor von Polen annektiert neben anderen deutschen Gebieten des Ostens, vor allem aber die dort lebenden deutschen Minderheiten in der qualvollsten Weise misshandelt. Über eine Million Menschen deutschen Blutes mussten in den Jahren 1919–20 schon damals ihre Heimat verlassen.“ An der Aufrichtigkeit seiner Beteuerungen, er habe „wie immer auch hier versucht, auf dem Wege friedlicher Revisionsvorschläge eine Änderung des unerträglichen Zustandes herbeizuführen“, sind Zweifel nur allzu berechtigt. Nachdem er „vier Monate lang dieser Entwicklung ruhig zugesehen“ habe, sei er nun entschlossen, „mit Polen in der gleichen Sprache zu reden, mit der Polen nun seit Monaten mit uns spricht!“ Polen habe „heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten!“ Möglicherweise führte Hitlers markiges Bekenntnis, jetzt „nichts anderes“ sein zu wollen „als der erste Soldat des Deutschen Reiches“, bei Hartmann zu jener selbst attestierten Ergriffenheit, die er in seiner Chronik festgeschrieben hat. Er habe deshalb, fuhr Hitler fort, „wieder jenen Rock angezogen, der mir einst selbst der heiligste und teuerste war“. Mit der auf große



IV. Persönliche Chronik des Zweiten Weltkriegs49

Emotionen zielenden Zuspitzung, er werde diesen Rock „nur ausziehen nach dem Sieg, oder ich werde dieses Ende nicht erleben“, bekundete er den Abgeordneten seine feste Absicht, im Falle des Scheiterns auch als Märtyrer in die Geschichte eingehen zu wollen.77 Damit setzte der „Führer“ schon zu Beginn des Krieges Maßstäbe für alle „Volksgenossen“. Nur wenige Wochen danach, am 6. Oktober, notierte Hartmann: „Rede des Führers im Reichstag mit umfassendem Friedensplan.“ In dieser Rede gab Hitler einen Überblick über die Erfolge in Polen und berichtete, dass er den Westmächten ein Friedensangebot gemacht habe. Diese hätten sein Angebot jedoch „erwartungsgemäß kategorisch abgelehnt“.78 Am 8. November 1939 erschütterte die Explosion einer Bombe im Münchner Bürgerbräukeller das Reich. Hartmann notierte: „Rede des Führers in München, Sprengstoffattentat kurz nach Abfahrt.“ Eine vom Tischlergesellen Georg Elser gebastelte und mit einem Zeitzünder versehene Bombe explodierte zum vorgesehenen Zeitpunkt. Sowohl Hitler als auch der Attentäter hatten den Versammlungsort bereits verlassen. Beide überlebten. Aber acht Unschuldige kamen zu Tode, darunter eine Kellnerin, die Mutter zweier kleiner Kinder. Darüber hinaus gab es 63 Verletzte. Elser wurde schnell gefasst. Am 22. November 1939 vermerkte Hartmann lapidar und emotionslos die „Aufdeckung des Münchner Attentats“. Der Moralphilosoph Lothar Fritze fragte anlässlich des 60. Jahrestages dieses Attentats in einem ganzseitigen Beitrag für die „Frankfurter Rundschau“: „War Elser ein Held, der als Vorbild dienen kann?“ Er löste damit einen neuen Historikerstreit aus. Sein Anliegen, „den Zusammenhang zwischen der Bewertung von Widerstandshandlungen und der Schaffung von Vorbildern zu verdeutlichen“, wurde trotz einer gründlichen und überaus sorgfältigen Argumentation von denjenigen missverstanden, die den deutschen Widerstand gegen Hitler erforschen und leider nur wenig finden.79 Nach dem Abschluss des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes im August 1939 praktizierte Stalin eine äußerst aggressive Außenpolitik gegenüber Finnland und den baltischen Staaten. Im Herbst 1939 konfrontierte er Finnland mit Gebietsforderungen in der Karelischen Landenge, die er mit den Sicherheitsinteressen der Stadt Leningrad begründete. Finnland lehnte das ab, woraufhin die Rote Armee am 30. November zum Angriff überging. Die militärisch unterlegenen finnischen Truppen leisteten zunächst monatelang erfolgreich Widerstand. Am 13. März 1940 unterzeichneten die Kontra77  Vgl.

http://www.georg-elser-arbeitskreis.de/texts/hitler-1939-09-01.htm. Weltbild Verlag, Faksimile Edition Zweiter Weltkrieg, Texte Bilder Dokumente, Folge 2, S. 18. 79  Vgl. Fritze, Lothar: Legitimer Widerstand? Der Fall Elser, Berlin 2009, S. 7 f. 78  Vgl.

50

C. Studium, Berufseinstieg und kriegswichtige Forschung

henten in Moskau einen Friedensvertrag. Finnland konnte seine Unabhängigkeit bewahren, musste aber große Teile Kareliens abtreten.80 Wenige Tage vor dem russischen Einmarsch in Finnland täuschte die Rote Armee unter falscher Flagge einen finnischen Überfall auf den sowjetischen Grenzort Mainila vor. Dabei sollen vier russische Soldaten getötet worden sein. Stalin kündigte daraufhin den Nichtangriffspakt von 1932 und erklärte Finnland den Krieg. „Finnischen Untersuchungen zufolge soll jedoch die sowjetische Artillerie selbst die sieben Granaten auf die Ortschaft Mainila abgefeuert haben.“81 Hartmann notierte unter dem Datum 26. November 1939: „Russisch-finnischer Grenzzwischenfall, Scharfe Worte Molotows.“ Die „scharfen Worte“ deuten darauf hin, dass die sowjetische Darstellung durch die deutschen Medien überzeugend verbreitet wurde. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion recherchierte eine Reihe russischer Forscher auch zum Zwischenfall von Mainila. „Es war nicht möglich“, so ihr Fazit, „die Tatsache der absichtlichen Provokation eindeutig zu bestätigen, aber es wurden Fakten gefunden, die diese Version recht überzeugend machen.“82 Am 30. November 1939, dem Tag des Überfalls der Sowjetunion auf Finnland, notierte Hartmann: „Russen bombardieren Helsinki; Scharfer Brief Stalins an die Prawda über Kriegsschuld Englands.“ Was hatte es mit dem „scharfen Brief Stalins“ auf sich, den die „Prawda“ umgehend veröffentlichte? Die französische Nachrichtenagentur Havas83 hatte am 28. November 1939 eine Rede Stalins veröffentlicht, die dieser angeblich bereits am 19. August im Politbüro gehalten habe. Im engen Zirkel der Parteiführung sei die Idee entwickelt worden, dass der von Frankreich und England zwar erklärte, nicht aber praktizierte Krieg sich so lange wie möglich hinziehen müsse, um die kriegführenden Parteien zu erschöpfen. In einem 2004 in den „Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte“ erschienenen Aufsatz über eine Rede, die nie gehalten worden sei, argumentierte Sergej Slutsch, dass Stalin fürchtete, „der veröffentlichte Text“ könne erstens „die deutschsowjetischen Beziehungen ernsthaft schädigen“ sowie „zweitens in Sonderheit die im August/September 1939 erreichten Vereinbarungen über die Teilung Osteuropas zunichtemachen“. Darüber hinaus habe er den Westmächten genau das vorgeworfen, „wofür eigentlich das nationalsozialistische Deutschland verantwortlich war“, und „England als Kriegsschürer gebrand­

80  Vgl.

https://de.wikipedia.org/wiki/Winterkrieg, aufgerufen am 13.4.2020. aufgerufen am 13.4.2020. 82  https://ru.wikipedia.org/wiki, mainilskij-inzident, aufgerufen am 14.4.2020. 83  Havas entstand aus der ersten französischen Nachrichtenagentur, die im Jahr 1835 von Charles-Louis Havas gegründet wurde und die sich im Ersten Weltkrieg durch geschönte Berichte einen zweifelhaften Ruf erworben hatte. 81  https://de.wikipedia.org/wiki/Mainila-Zwischenfall,



IV. Persönliche Chronik des Zweiten Weltkriegs51

markt“.84 Wie Hartmanns Reaktion zeigt, erzielte die „Prawda“ in Deutschland die beabsichtigte Wirkung. Die Silvesteransprache von Dr. Joseph Goebbels an das deutsche Volk am 31. Dezember 1939 kommentierte und bewertete Hartmann nicht im Einzelnen, hielt sie aber zumindest für geeignet, als „Rückblick“ erinnert zu werden. 2. Auszug aus dem Original der Chronik Der im Folgenden wiedergegebene Auszug aus Hartmanns „Chronik des 2. Weltkriegs“ umfasst den Mai 1940 und bedarf einiger genereller Vorbemerkungen. Bereits erwähnt wurde seine Handschrift, die ausgesprochen klein und in Sütterlin daherkommt. Schon allein das erschwerte die Entzifferung von Ortsnamen. Hinzu kommt, dass Hartmann seine Informationen offenbar zum großen Teil über den Rundfunk bezog, was gelegentlich zu Hörund Schreibfehlern führen konnte. Als dritte Schwierigkeit erwies sich die nach dem Krieg vor allem im Ostblock in großem Stil praktizierte Umbenennung von Ortsnamen, wodurch erfolgreiche Militärs eine besondere Ehrung erfuhren. In der Summe haben diese Umstände dazu geführt, dass nicht für jeden einzelnen Ortsnamen die Garantie gegeben werden kann, dass er auch der richtige ist. Die Aussagekraft dieser authentischen Quelle für Hartmanns politische Verortung wird dadurch, so die Hoffnung des Autors, keineswegs gemindert. In groben Zügen lässt sich die militärische Lage im Mai 1940 dadurch skizzieren, dass am 10. Mai 1940 die deutsche Offensive im Westen begann und Ende des Monats Norwegen, die Niederlande und Belgien Exilregierungen bildeten. Eine 1997 erschienene Chronik stellte diesen Monat unter folgende Schlagzeilen: Deutsche Westoffensive beginnt ohne Kriegserklärungen, Bombardierung verwüstet Rotterdam vor der Kapitulation, Truppen der Alliierten aus Dünkirchen evakuiert, Winston Churchill – neuer Premierminister in London, Staatsoberhäupter fliehen ins Exil, Deutscher Terror in Polen, Rumänien sucht deutschen Schutz.85 84  Vgl. Slutsch, Sergej: Stalins Kriegsszenario 1939: Eine Rede, die es nie gab. Die Geschichte einer Fälschung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ), Jahrgang 52 (2004), Heft 4, S. 597–635. 85  Esser, Brigitte/Venhoff, Michael: Die Chronik des Zweiten Weltkriegs, Augsburg 1997, S. 45–53.

52

C. Studium, Berufseinstieg und kriegswichtige Forschung

Vier Tage im Mai 1940 deklarierte Hartmann durch eine besondere Kennzeichnung als von herausragender Bedeutung, und zwar den 10., 14., 21. und 28. Die Unterscheidung zwischen militärischem und politischem Ereignis in der folgenden Tabelle wurde vom Autor vorgenommen. Tabelle 6 Der Monat Mai 1940 im Weltkriegstagebuch Tag

militärisches Ereignis

1. 2.

politisches Ereignis Tagesbefehl des Führers an Norwegentruppe

15 Uhr: Amsterdam besetzt

3.

Griechenland erwartet englische Besetzung

4.

Flucht der Briten aus Namsos; Bislang verlor Englands Flotte 9.4.40–2.5.40 135 Einheiten (Unterscheidung in „versenkt“ und „getroffen“); Schlachtschiff durch Riesenbombe versenkt vor Namors?; Sondermeldung 19:30 Uhr: Versenkt 1 Schwerer Kreuzer und 1 Transporter

5.

Feindlicher Angriff bei Narvik

7.

deutsche Truppen stoßen auf Narvik vor

Briefwechsel Führer – König Gustav v. Schweden über Neutralität

8.

Engl. Gerücht: deutscher Angriff auf Holland; Italien ist vorkriegführend

9.

Tagesbefehl des Führers betr. Freilassung norwegischer Gefangener



IV. Persönliche Chronik des Zweiten Weltkriegs53 Tag

militärisches Ereignis

politisches Ereignis

10.

Morgens 5:30 Uhr beginnt Angriff an Westfront; Freiburg bombardiert (24 Ziviltote); Vergeltung mit 5facher Zahl angekündigt;86

Veröffentlichungen von Ribbentrop u. Goebbels; Reichsregierung; Bericht des OKW an Innenministerium; Aufforderung an Holland und Belgien, keinen Widerstand zu leisten; Aufruf des Führers an Westfront; Führer an der Front; Belgien ruft Frankreich und England um Hilfe; Holland erklärt Kriegszustand mit Deutschland; Chamberlain tritt abends zurück; Churchill Premierminister

11.

Gestern wurden in Großangriff der Luftwaffe 72 feindliche Flugplätze beschädigt bzw. zerstört und 300–400 feindliche Flugzeuge vernichtet, 23 feindl. Flugzeuge im Luftkampf abgeschossen, 11 eigene abgeschossen, 15 eigene vermisst: Reims, Lyon, Metz bombardiert.

12.

Stärkstes Fort vor Lüttich genommen; ca. 300–400 Flugzeuge am Boden vernichtet; Provinz Groningen besetzt; in Narvik Schlachtschiffe bombardiert, sonst Lage unverändert

13.

320 Flugzeuge vernichtet, 31 eigene Verluste; Zitadelle von Lüttich in deutscher Hand; deutsche Fallschirmjäger werden standrechtlich erschossen, darüber aufklärende Note Ribbentrops an Paris, London, Brüssel und Den Haag, OKW kündigt Repressalien an: für jeden erschossenen Fallschirmjäger werden 10 sich ergebende Franzosen erschossen; Gruppe Narvik verteidigt sich gegen gewaltige Übermacht

Duff Cooper87 in englischer Regierung

(Fortsetzung nächste Seite)

86  Infolge eines Navigationsfehlers wurde die Innenstadt von Freiburg im Breisgau von drei deutschen Flugzeugen angegriffen. 87  Alfred Duff Cooper diente als Informationsminister ein Jahr im Kriegskabinett Winston Churchills.

54

C. Studium, Berufseinstieg und kriegswichtige Forschung

(Fortsetzung Tabelle 6) Tag

militärisches Ereignis

14.

Einbruch in Festung Holland; nordöstlich von Nijmegen Großkampf von Panzern – Feind in Flucht geschlagen

politisches Ereignis

Holland kapituliert heute; Sedan, Givet, Dinant genommen 15.

Maginot-Linie bei Sedan durchbrochen

16.

Den Haag, Amsterdam besetzt; Abwehr in Narvik dauert an

17.

Maginot-Linie 100 km zwischen Sedan und Maubeuge durchbrochen; DyleStellung durchbrochen; Paris und London werden evakuiert; heute 20 Uhr Einmarsch in Brüssel; Hafen von Dünkirchen bombardiert

18.

Antwerpen in deutscher Hand; deutsche Kriegsschiffe legen Minen vor südafrikanischen Häfen; heute Nacht Hamburg und Bremen bombardiert

Kabinett Reynaud umgebildet, Pétain

19.

St. Guentin und Rethel genommen

Eupen und Malmedy durch Erlass des Führers wieder deutsch

20.

Sommeschlachtfeld zwischen Cambrai und Péronne erreicht; Engländer gehen auf Kanalhäfen zurück

Gamelin abgesetzt, dafür Weygand 88

21.

Franz. 9. Armee zwischen Hamm und Lidau vernichtet; Arras [u. a. Städte] mit Sommemündung in unserer Hand

23.

Hauptkämpfe in Flandern, Artois und im Raum von Valmondois; der Ring wird enger

25.

Boulogne, Glut, Cambrai genommen, Calais eingeschlossen; bei Narvik Gebirgsjäger durch Fallschirmabsprung zugeführt

88  Maurice Gamelin wurde angesichts der militärischen Krise durch Maxime Weygand als Oberkommandeur ersetzt.



IV. Persönliche Chronik des Zweiten Weltkriegs55 26.

15 franz. Generale abgesetzt; heute Calais genommen

28.

Heute früh 4 Uhr kapituliert die belgische Armee mit dem König: ca. 500.000 Mann bedingungslos

29.

Brügge, Lille, Ostende genommen, Hemmelbey und Ypern genommen, Dünkirchen brennt; Engländer in Narvik eingedrungen; Heute nachm. griffen 2 Luftkorps die im Kanal befindliche Transportflotte von ca. 60 Schiffen mit Kriegsschiffen und Flugzeugsicherung zum Abtransport der engl. Expeditionsarmee an. Es wurden ca. 55 Schiffe vernichtet, 70 Flugzeuge abgeschossen. Der Hafen von Dünkirchen ist ausgelaufen.

30.

Flandernschlacht geht dem Ende entgegen; Kampf um Narvik unvermindert heftig; Panzerangriffe der Franzosen bei Amiens

3. Stalingrad und die Wende Als Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges wird die Schlacht um Stalingrad angesehen, die Ende Januar 1943 mit der Kapitulation der 6. Armee unter Generalfeldmarschall und Ritterkreuzträger Friedrich Paulus endete. Wenige Monate danach gibt es bis zum Kriegsende für Hartmann keinerlei Ereignisse mehr, die es wert sind, durch eine rote Unterstreichung hervorgehoben zu werden. Es stellt sich die Frage, ob eine Euphorie Hartmanns zu Beginn des Krieges eindeutig zu erkennen ist. Festzuhalten ist, dass er, wie bereits erwähnt, einmal Begonnenes konsequent zu Ende führte. Hartmanns „Chronik des 2. Weltkriegs“ endet am 3. April 1945 mit den Worten: „Reich vor Niederlage. Keine Hoffnung mehr! Hoffentlich kommen wir lebendig heraus!“89 Einige herausragende Ereignisse des Zweiten Weltkriegs reflektierte Hartmann Jahrzehnte später in seinen Memoiren. Dazu gehören der Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, die Ausrufung des totalen Krieges am 18. Februar 1943 sowie das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944. 89  Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1912–1945, Teil E, Chronik des 2. Weltkriegs.

56

C. Studium, Berufseinstieg und kriegswichtige Forschung

Vom Überfall auf die Sowjetunion hörte Hartmann am Morgen des 22. Juni 1941, einem Sonntag. Erstmals seien ihm Zweifel gekommen, ob Deutschland einen Zwei-Fronten-Krieg gewinnen könne. Diese Meinung habe auch der am Nachmittag zum Kaffee eingeladene Schwiegervater Polzin geteilt.90 In seiner Chronik schrieb er: „7:30 Uhr: Goebbels verliest Proklamation des Führers über Beziehungen zu Russland. Erste Verlesung 5:30 Uhr. Ribbentrop verliest Note an Sowjetregierung. Kampfhandlungen an sowjetrussischer Grenze seit heute Morgen. Einflug auf Ostpreußen blutig abgewiesen. Heute Morgen erklärte Italien den Krieg an UdSSR, Slowakei brach Beziehungen ab.“

Die berüchtigte Goebbels-Rede im Sportpalast am 18. Februar 1943, in der dieser die Frage stellte „Wollt ihr den totalen Krieg?“, habe er im verdunkelten häuslichen Arbeitszimmer gehört. „Bei den dauernden zustimmenden Ja-Aufschreien der Menge im Sportpalast lief es mir unangenehm über den Rücken, ich ahnte ein schreckliches Ende für Deutschland“, schrieb er Jahre später in seinen Memoiren.91 In seiner „Chronik des 2. Weltkriegs“ ist dazu Folgendes zu lesen: „Grosse Rede von Goebbels im Sportpalast: Härteste Maßnahmen notwendig. Riesengrosse Gefahr im Verzuge. Führer muss im Frühjahr und Sommer wieder offensiv werden können. 10 Fragen an die Zuhörer: Glaubt ihr an den totalen Sieg? Übernehmt ihr schwerste Belastungen? Wollt ihr den Krieg mit wilder Entschlossenheit durchkämpfen? Wollt ihr 16 Std. arbeiten? Wollt ihr den totalen Krieg? Vertraut ihr dem Führer? Seid ihr bereit, der Ostfront die nötigen Waffen und Menschen zur Verfügung zu stellen? Wollt ihr als Heimat unerschütterlich sein? Wollt ihr, dass Frauen überall eingesetzt werden, um Männer für die Front freizumachen? Billigt ihr radikalste Maßnahmen gegen Drückeberger und Schieber? Todesstrafe dafür gebilligt? Schwerste Belastungen für hoch und niedrig, arm und reich?“ 90  Vgl.

ebd., Teil E, Bl. 44. Bl. 45.

91  Ebd.,



IV. Persönliche Chronik des Zweiten Weltkriegs57

Dieser einspaltige Text ist links durch zwei senkrechte rote Striche noch einmal besonders hervorgehoben. Bei dem Anschlag der Offiziere um Graf Stauffenberg auf das Leben des Führers am 20. Juli 1944 lässt Hartmann keine Emotionen erkennen. Das traf, wie bereits erwähnt, ebenso auf das Attentat Elsers im November 1939 zu. Welche Schlüsse lassen sich aus dieser offensichtlichen Empathielosigkeit ziehen, ohne sich in Spekulationen zu verirren? Wie die große Mehrheit der Deutschen stand wohl auch Werner Hartmann lange Zeit hinter Hitler. Wie er bei den Wahlen 1933 votierte, erschließt sich dem Biografen nicht, da es im Nachlass keinerlei Belege und auch keine belastbaren Aussagen der Angehörigen gibt. Die schwierige Frage „Wer stimmte für Hitler?“ beantwortet der in Oxford lehrende Germanist James Hawes in seiner 2018 auch in deutscher Sprache erschienenen „kürzesten Geschichte Deutschlands“ auf weniger als zehn Seiten. Seine zentrale These, dass „die Zukunft Deutschlands in beträchtlichem Maße davon diktiert [wurde], wo die Grenzlinien römischer Herrschaft letztlich verliefen“, trägt eine in der Tat kurzweilig, wenn auch nicht sonderlich erhellend daherkommende Story.92 Sie bedient die „Sehnsucht nach Einfachheit“, wie Sibylle Anderl noch heute anzutreffende Bemühungen kritisiert, „komplexe Systeme, wie sie in der Welt leider dominieren“, „ordentlich auf überschaubare Teile zu reduzieren“.93 Für Hawes ist Deutschland bis heute zweigeteilt, in den römisch geprägten Westen und das slawischgermanisch durchmischte Ostelbien. Wenn man wissen wolle, „ob ein 1928 zufällig ausgewählter Deutscher in den folgenden Jahren Hitler wählte“, so habe der „bedeutendste deutsche Wahlforscher“ [Jürgen W. Falter, Anm. d. Verf.] gezeigt, dass „die einzige Frage, die Sie wirklich weiterbringt, lautet, ob er Katholik oder Protestant war“.94 Wer sich, wie Hartmann, katholisch trauen ließ, war in der Regel kein Protestant. Auch wenn die NSDAP bei den Wahlen zum Reichstag am 5. März 1933 in Berlin nicht überragend abschnitt, so gilt wohl auch dort, dass sie „sowohl eine Partei des Mittelstandsextremismus als auch der radikalisierten Unpolitischen aller Couleur und sozialen Herkunft, sowohl eine Heils- als auch eine Protestbewegung“ war, ein „Katalysator vieler Hoffnungen, Ängste und Unzufriedenheiten“, wie Jürgen W. Falter feststellt.95

92  Hawes,

James: Die kürzeste Geschichte Deutschlands, Berlin 2018, S. 35. Sibylle: Sehnsucht nach Einfachheit, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 23.5.2021, S. 8. 94  Hawes, Die kürzeste Geschichte Deutschlands, S. 239 ff. 95  Falter, Jürgen W.: Wahlen und Wählerverhalten unter besonderer Berücksichtigung des Aufstiegs der NSDAP nach 1928, in: Bracher, Karl Dietrich/Funke, Man93  Anderl,

58

C. Studium, Berufseinstieg und kriegswichtige Forschung Tabelle 7 Wahlen vom 5. März 1933 Partei

Reich

Berlin

NSDAP

43,91 %

31,2 %

KPD

12,32 %

30,0 %

SPD

18,25 %

22,5 %

Ein Blick auf die Wahlergebnisse vom 5. März 1933 zeigt, dass die Natio­ nalsozialisten in Berlin nur knapp vor der KPD lagen, sich deutschlandweit aber überzeugend durchsetzen konnten. Wer verschaffte Hitler „seine Supermehrheit“? Hawes weiß, dass ihm schon 1930 „die ostelbischen Wähler den Durchbruch verschafften“ und ihn 1933 „im Amt bestätigten“. Auf den Punkt gebracht: „Ohne Ostelbien kein Führer, so einfach ist das.“ Berlin stellte aber „innerhalb Ostelbiens immer eine politische Insel dar“, muss er allerdings einräumen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Hartmann damals für die NSDAP votierte, würde Hawes wohl deutlich höher als 31,2 % ansetzen. Immerhin trat sein der evangelisch-lutherischen Konfession angehörender und von ihm sehr geschätzter Vater nach 1933 in die NSDAP ein.96 Darüber hinaus gehörte wohl ein Mindestmaß an Loyalität gegenüber dem Führer und der nationalsozialistischen Ideologie zu den Voraussetzungen zur Übertragung des Postens eines amtierenden Betriebsleiters des 1943 in Berlin verbliebenen Teiles der Fernseh GmbH, die innovative militärische Produkte und Komponenten entwickelt hatte. Gefragt, ob ihr Vater im Kreis der Familie jemals seine politische Haltung vor 1945 offenbart habe, erinnerte sich Tochter Sylvelie, dass ihr Vater „weder darüber noch über sein Leben vor der Russlandzeit überhaupt“ geredet habe. „Die Geschichte unserer Familie begann mit der Zeit am Schwarzen Meer. Einen Tag bevor er von Berlin aus nach Moskau flog, bin ich in Celle auf die Welt gekommen – kurios, nicht wahr.“97 Wer in Hartmanns Biografie bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs „nach Wurzeln für die spätere ereignis- und auch konfliktreiche Entwicklung suchen“ will, der wird eines sicher nicht finden: „politische Motive“. Davon ist Günter Dörfel, 1957 als Absolfred/Jacobsen, Hans-Adolf (Hrsg.): Die Weimarer Republik 1918–1933, Düsseldorf 1988, S. 504. 96  Vgl. Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1912–1945, Teil A, S. a1. 97  Gespräch mit Sylvelie Schopplich am 2.7.2020.



V. Der Krieg ist aus59

vent von Hartmann persönlich geprüft und eingestellt, auch 2003 noch überzeugt.98

V. Der Krieg ist aus Wenige Wochen nach der bedingungslosen Kapitulation des Dritten Reiches, „als nach einiger Zeit die Verhältnisse einigermaßen ruhig zu sein und auch zu bleiben schienen“, besuchte Hartmann „die Fese“. Zwar waren alle Fensterscheiben kaputt, aber ansonsten gab es kaum Schäden. Zusammen mit einigen ehemaligen Kollegen begann er aufzuräumen und sauber zu machen. Eines Tages erschienen zwei sowjetische Offiziere mit Dolmetschern und erkundigten sich, um was für ein Unternehmen es sich hier handele. Zum Schluss ihres Besuchs forderten sie dazu auf, die Arbeit möglichst bald aufzunehmen und verlangten, Listen des benötigten Materials anzufertigen.99 Wenige Tage später riegelten sowjetische Posten den Zugang zur „Fese“ in der Goerzallee ab. Dadurch um die sinnvolle Möglichkeit einer Betätigung gebracht, fuhr Hartmann weiter auf der Nonnendammallee zu Telefunken, in deren Labors noch viele Bekannte tätig waren. Nachdem er dort ein bis zwei Tage beim Aufräumen geholfen hatte, „wurde auch Telefunken gesperrt“. Daraufhin versuchte er sein Glück bei den Forschungsabteilungen des Reichs­ postzentralamtes, „die in mehreren Flachbauten in Kleinmachnow untergebracht waren“. „Dort traf ich Dr. Heimann, den ich von der Fese gut kannte. Er war außer sich, dass sowjetische Soldaten Drehmaschinen, die wohl zum Abtransport in die SU verladen werden sollten, der Einfachheit halber aus dem Fenster auf die Straße kippten.“ Auch hier half Hartmann mit, Ordnung zu schaffen, bis der Zugang durch eine Absperrung ebenfalls unmöglich wurde. „Was sollte ich nun tun?“ Mit kleinen, ziellosen Fahrradtouren vertrieb er sich die Zeit. Mitte Mai fand er zu Hause einen Brief von Professor Hertz vor, der nicht mit der Post zugestellt worden war, sondern von Privathand in seinen Briefkasten geworfen worden sein musste. Darin bat Hertz, ihn doch möglichst bald einmal zu besuchen.100 „Am nächsten Tag fuhr ich nach Dahlem, wo Hertz in der Nähe des ­ -Bahnhofs Dahlem-Dorf ein Haus in der Fabeckstraße [Nr. 11, Anm. d. U Verf.] bewohnt.“ Zum Mittagessen eingeladen – es gab Bratkartoffeln mit 98  Vgl. Dörfel, Günter: Werner Hartmann. Industriephysiker, Hochschullehrer, Manager, Opfer, in: Hoffmann, Dieter (Hrsg.): Physik im Nachkriegsdeutschland, Frankfurt am Main 2003, S. 223. 99  Vgl. Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1945–1955, Teil F, Bl. 6. 100  Vgl. ebd., Bl. 7.

60

C. Studium, Berufseinstieg und kriegswichtige Forschung

Speck –, informierte ihn Hertz über das Angebot von General Sawenjagin101, „in der SU ein physikalisches Institut aufzubauen und für etwa zwei Jahre zu leiten“. Der 1887 geborene Hertz näherte sich schon dem 60. Lebensjahr, als er diese „Einladung“ erhielt. Kein Physiker in Deutschland ahnte auch nur, dass die USA inzwischen über Atombomben verfügten. Ein deutscher Physiker, Klaus Fuchs, der im amerikanischen „Manhattan Project“ an dieser Bombe mitarbeitete, wusste das nicht nur, sondern hielt auch den sowjetischen Geheimdienst darüber auf dem Laufenden.102 So war Stalin bestens informiert und kannte auch den Zeitpunkt des ersten Tests einer solchen Waffe, der Mitte Juli 1945 stattfinden sollte. Für sein eigenes, während des Krieges nur wenig entwickeltes Projekt brauchte er dringend immaterielle und materielle Unterstützung. Seine Arbeiten zur Isotopentrennung gasförmiger Gemische durch Diffusion ließen Hertz für die Entwicklung industrieller Diffusionsanlagen zur Trennung von Uran als ganz besonders geeignet erscheinen. Es war ihm gelungen, das im natürlichen Neon nur zu etwa zehn Prozent enthaltene Neon22 in fast reiner Form darzustellen. Der General, so Hertz, fragte ihn auch nach guten Mitarbeitern. Daraufhin habe er, nach einigem Zögern, dem General eine Liste übergeben, „die außer Schütze, Barwich, Zühlke, Rottmann, Bumm, Reichmann auch meinen Namen enthielt“. Hertz sollte in den nächsten Tagen mit Prof. Max Volmer, „der ebenfalls eine Liste von Mitarbeitern aufgestellt hatte“, nach Moskau fliegen, um mit Molotow Einzelheiten zu verhandeln und vertraglich festzulegen. Die Umsiedlung in die Sowjetunion sei für den Frühherbst 1945 vorgesehen, habe Hertz gesagt. Bis dahin würden alle wöchentliche Lebensmittelpakete erhalten. Er genoss dieses Privileg schon, wie die Einladung zu Bratkartoffeln mit Speck bewies. „Auf meinen Hinweis, dass Lilo und Annelore bei Hannover seien, meinte Hertz, der General hätte zugesichert, die Familien zusammenzuführen. Ich fuhr nach Hause und überlegte lange, was zu tun sei.“103 Die geplante Reise von Hertz und Volmer fand nicht statt und die Übersiedlung sollte schon Anfang Juni 1945 erfolgen. „Ein sowj. LKW brachte mir eine schöne Kiste, die ich ebenso wie zwei Koffer mit Wäsche, Anzügen und einigen Büchern vollpackte.“ Hartmann bat seinen Nachbarn, Herrn 101  Generalleutnant Awraamij Pawlowitsch Sawenjagin gehörte dem am 20. August 1945 von Stalin gebildeten Spezialkomitee zur Koordinierung der Entwicklung von Atombomben an. Er war von 1941 bis 1950 stellvertretender Innenminister. 102  Vgl. Panitz, Eberhard: Treffpunkt Banbury oder Wie die Atombombe zu den Russen kam, Berlin 2003, S. 178–183. 103  Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1945–1955, Teil F, Bl. 8.



V. Der Krieg ist aus61

Dr. Bayer, während seiner Abwesenheit als Bevollmächtigter für Haus und Grundstück tätig zu sein. „Ich übergab ihm und der Schwiegermutter Bargeld, ebenso Geld für Lilo.“ Seinen Vater setzte er nicht als Bevollmächtigten ein, „da er ja Mitglied der NSDAP gewesen war“. Im Übrigen sah er mit Bangen dem großen Abenteuer entgegen. Als einzigen Garanten für ein Gelingen betrachtete er Prof. Hertz, was „sich auch bestätigen sollte“. „Von Lilo hatte ich, wie verständlich, keine Nachrichten mehr. Ich hinterließ für sie einen Brief bei Vater.“104 „Am 13. Juni 1945“, schrieb Hartmann in seinen Memoiren, erfolgte „der Abflug vom Flughafen Johannisthal mit einer (amerikanischen) zweimotorigen Douglas-Maschine“. Auf eine Zwischenlandung in Strausberg, zum Auftanken, folgten sechs Stunden Flug und die Landung in Moskau­Tuschino. Von dort seien sie für die folgenden zwei Monate zur Datscha „Osjory“ eines ehemaligen Chefs des Staatssicherheitsdienstes, dem 1940 hingerichteten Nikolai Jeschow,105 gebracht worden. Die Ernährung war „sehr abwechslungsreich, vitaminhaltig und kalorienreich“, betonte er später.106 Keiner der Wissenschaftler konnte auch nur ahnen, dass die Teilnahme an Stalins Jagd nach der Atombombe ihn zehn Jahre seines Lebens kosten würde.

104  Ebd.,

Bl. 9. Andrew, Christopher/Mitrochin, Wassili: Das Schwarzbuch des KGB. Moskaus Kampf gegen den Westen, München 1999, S. 37. 106  Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1945–1955, Teil F, Bl. 15. 105  Vgl.

D. Stalins Bombe I. Kernwaffen der ersten Generation Wenngleich Carl Friedrich von Weizsäcker im Sommer 1941 eine Plutoniumbombe zum Patent angemeldet hatte, gab es dennoch im Dritten Reich keinerlei ernsthafte Bemühungen, Kernwaffen zu entwickeln. Gegenteilige Spekulationen von „Verschwörungstheoretikern“ geistern aber bis heute immer wieder einmal durch die Medien. Der Kernphysiker Manfred Popp, von 1991 bis 2006 Vorstandsvorsitzender des Forschungszentrums Karlsruhe, brachte es 2016 in einem Gastbeitrag für die Zeitschrift „Spektrum der Wissenschaft“ auf den Punkt: „Die deutschen Wissenschaftler wussten im Dritten Reich nicht, wie eine Atombombe konstruiert werden muss. Sie haben nicht an der Physik der Bombe gearbeitet und keine Schritte unternommen, sie zu bauen.“1 Dank einer Vielzahl exzellenter Theoretiker und Experimentatoren entwickelte sich die Kernphysik im Dritten Reich jedoch rasch zu einer Dominante der Grundlagenforschung. Immer wieder einmal tauchen auch heute noch Spekulationen auf, nicht nur in den Medien, sondern selbst unter ernst zu nehmenden Historikern, im Dritten Reich sei intensiv an der Entwicklung einer Atombombe gearbeitet worden. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an das im März 2005 mit großem Werbeaufwand durch die Deutsche Verlagsanstalt in Szene gesetzte Buch „Hitlers Bombe“ des Wirtschaftshistorikers Rainer Karlsch. Als „sensationelle Ergebnisse jüngster historischer Forschung“ wurde dem Leser ein „Test deutscher Kernwaffen im März 1945 in Thüringen unter Aufsicht der SS“ offeriert, bei dem „mehrere hundert Kriegsgefangene und Häftlinge ums Leben“ gekommen seien.2 Durchgängig auf dem Niveau von Verschwörungstheorien hingegen sind die Spekulationen von Edgar Mayer und Thomas Mehner über „Thüringen und die deutsche Atombombe“ sowie Veröffentlichungen des Journalisten Andreas Sulzer über „Atomversuche“ in der

1  Popp, Manfred: Warum hatte Hitler keine Atombombe, Spektrum der Wissenschaft, Heft 12/2016, S. 12 ff. 2  Vgl. Barkleit, Gerhard: Rezension von Rainer Karlsch „Hitlers Bombe. Die geheime Geschichte der deutschen Kernwaffenversuche, München 2005 (Deutsche Verlagsanstalt)“, in: Totalitarismus und Demokratie, 3.  Jahrgang 2006, Heft 1, S. 161–163.



I. Kernwaffen der ersten Generation63

Stollenanlage „Bergkristall“ angesiedelt, die zum oberösterreichischen KZKomplex Mauthausen-Gusen gehörte.3 1. Vorgeschichte des Atomzeitalters In den USA im Exil lebende Physiker veranlassten Albert Einstein, am 2. August 1939 einen Brief an den amerikanischen Präsidenten zu schreiben, in dem dieser auf die Gefahr hinwies, die Deutschen könnten eine Atombombe bauen und auch einsetzen. Treibende Kräfte dieser folgenreichen Aktion waren die Physiker Leo Szilard und Edward Teller sowie der Bankier Dr. Alexander Sachs, ein inoffizieller Berater von Präsident Roosevelt. Drei Jahre sollten vergehen, bis im Juni 1942 das Projekt der USA mit dem CodeNamen „Manhattan Project“ startete – eine späte Antwort auf die nationalsozialistische Bedrohung. Schon 1941 hatten übrigens die Briten ihr eigenes Programm mit dem Code-Namen „Tube Alloys“ aufgelegt. 2. Physik und Konstruktionsprinzipien von Kernwaffen Die Freisetzung der in Atomkernen gebundenen Energie ist auf zwei grundsätzlich verschiedenen Wegen möglich: durch Spaltung schwerer Kerne (Uran, Plutonium) oder Verschmelzung leichter Kerne, auch Kernfusion genannt. Beide Prinzipien wurden zuerst militärisch genutzt – die Kernspaltung in den „klassischen“ Atombomben, die Kernfusion hingegen in der einige Jahre später entwickelten sogenannten Wasserstoffbombe. Eine klassische Atombombe enthält eine kritische Masse an Spaltstoff, der bis zum Zeitpunkt der Zündung in mindestens zwei räumlich getrennten Portionen angeordnet ist, sowie die Detonationseinrichtung und die Hülle. Uranbomben konstruierte man nach dem „Geschützprinzip“, wohingegen Plutoniumbomben nach dem „Implosionsprinzip“ funktionieren. Bei Letzteren wird mit einer unterkritischen Gesamtmenge an Plutonium gearbeitet, die im Moment der Zündung so stark komprimiert wird, dass sie den überkritischen Zustand erreicht und als Kernwaffe detoniert. Sowohl die Uran- als auch die Plutoniumbombe besitzen in der Regel eine dickwandige Hülle, die zum einen die kritische Masse herabsetzt, zum anderen den Zeitpunkt der Explosion hinausschiebt. Dadurch wird die verheerende Wirkung der Explosion noch einmal verstärkt. Als Material für die Hülle kommen vor allem Natururan, Stahl und Beryllium zum Einsatz. 3  Vgl. Einladung der Direktorin des Oberösterreichischen Landesarchivs in Linz, Frau Dr. Cornelia Sulzbacher, an den Autor, in einer Historikerkommission zur Prüfung der von Sulzer vorgelegten Quellen, Januar 2017.

64

D. Stalins Bombe

Abb. 6: Die beiden Typen der ersten Generation von Kernwaffen.

Diese stark vereinfachte Darstellung des Aufbaus von Kernspaltungsbomben entstammt einem Lehrbuch, das 1987 in 4. Auflage im Militärverlag der DDR erschien.4 Bombenfähiges Uran-235 kann auf dem Wege der Isotopentrennung hergestellt werden, während das Plutonium-238 in einem Uranreaktor „erbrütet“ werden muss. Die Gewinnung von Uran-235 ist mit verschiedenen Methoden möglich, die aber allesamt technologisch außerordentlich anspruchsvoll sind.

4  Vgl. Hoffmann, Manfred: Kernwaffen und Kernwaffenschutz, Berlin 1987, S. 62.



I. Kernwaffen der ersten Generation65

3. Das „Manhattan Project“ Ein Blick auf das amerikanische „Manhattan Engineer District“ genannte Projekt zeigt, welch ungeheurer Aufwand zur Entwicklung der beiden Bombentypen der ersten Generation erforderlich war. Für General Leslie R. Groves, den verantwortlichen militärischen Leiter dieses Vorhabens der höchsten Geheimhaltungsstufe, gab es drei Kernaufgaben. Erstens galt es zu verhindern, dass „die Deutschen über unsere Anstrengungen oder unsere wissenschaftlichen und technischen Fortschritte auch nur das Geringste erfuhren“. Zweitens musste alles getan werden, „dem Kampfeinsatz der Bombe das Überraschungsmoment zu sichern“, und drittens waren, soweit immer möglich, „die Einzelheiten unserer Entwürfe und Verfahren vor den Russen geheim zu halten“.5 Dieser Sicherheitsphilosophie folgend, wurden die technischen Anlagen und Entwicklungsabteilungen in Orten fernab dicht besiedelter Gegenden errichtet. Forschung und Entwicklung der Bombe fanden in Los Alamos im Bundesstaat New Mexiko statt. Hanford, im Bundesstaat Washington gelegen, entwickelte sich zum Zentrum der Produktion von Plutonium, während in Oak Ridge, Bundesstaat Tennessee, die Urananreicherung betrieben wurde.

Abb. 7: Standorte des „Manhattan Projects“ in den USA.

5  Groves, Leslie R.: Jetzt darf ich sprechen. Die Geschichte der ersten Atombombe, Köln/Berlin 1965, S. 143 f.

66

D. Stalins Bombe

In diesen „geheimen Städten“, „die während des Zweiten Weltkrieges auf keiner Karte erschienen, lebten und arbeiteten 125.000 Menschen“.6 Im Sommer 1945 standen den amerikanischen Militärs drei Bomben zur Verfügung. Eine Testbombe, die mit dem Sprengstoff Plutonium nach dem Implosionsprinzip funktionierte, sowie die im August 1945 auf Hiroshima abgeworfene Uranbombe mit dem Tarnnamen „Little Boy“, die nach dem Geschützprinzip arbeitete, und eine zweite Plutoniumbombe mit dem Tarnnamen „Fat Man“. Letztere explodierte über Nagasaki. Die Gesamtkosten beliefen sich auf zwei Milliarden Dollar. Aus Sicht der Täter waren die Bombardierungen tragisch für die Opfer, aber unvermeidlich und letzten Endes gut. In seinen Rechtfertigungsversuchen argumentierte Präsident Harry Truman, dass dadurch das Leben von etwa 500.000 amerikanischen Soldaten gerettet worden sei. Manchmal sprach er auch „von einer Million geretteter Amerikaner“.7 Aus Sicht der Opfer hingegen begingen die Amerikaner ein Verbrechen an unschuldigen japanischen Zivilisten.8 Die USA und Großbritannien hatten mit dem Einsatz von Atomwaffen aller Welt gezeigt, wozu sie wissenschaftlich-technisch in der Lage waren. Sie bedurften, im Gegensatz zur Sowjetunion, nicht der Hilfe von Spezialisten aus dem besiegten Deutschland. Allerdings internierten sie nach dem Krieg die Crème de la Crème der deutschen Atomforscher im britischen Farm Hall und hörten ihre Gespräche ab. 4. Stalins Projekt „Atomnaja Bomba“ Der Weg Stalins zur Atombombe gleicht einem vierspurigen Highway, von dessen vier Spuren er nach der Tragödie von Hiroshima nur eine einzige selbst bauen musste. Die erste Spur, die Spionage, wurde bereits im September 1941 durch den Geheimdienst angelegt, als dieser Kenntnis vom britischen Projekt „Tube Alloys“ zur Entwicklung von Kernwaffen erlangte.9 Die zweite Spur bildete ein beispielloser Know-how-Transfer durch deutsche Wissenschaftler und Techniker, die nach Kriegsende in die Sowjetunion verbracht wurden. Als dritte Spur beschleunigte schließlich das in Deutschland erbeutete Uran die Aufholjagd. Der Aufbau eines neuen Zweiges der Rüs6  Kelly, Cynthia C. (Hrsg.): The Manhattan Project. The Birth of the Atomic Bomb in the Words of its Creators, Eyewitnesses, and Historians, New York 2007, S. 155. 7  Vgl. Fritze, Lothar: Die Moral des Bombenterrors. Alliierte Flächenbombardements im Zweiten Weltkrieg, München 2007, S. 261 f. 8  Vgl. Coulmas, Florian: Hiroshima. Geschichte und Nachgeschichte, München 2005, S. 101–117. 9  Vgl. Andrew/Mitrochin, Schwarzbuch des KGB, S. 167 ff.



I. Kernwaffen der ersten Generation67

tungsindustrie mit einer breit angelegten Forschung in diesem vom Krieg gezeichneten Land stellt die vierte Spur und zugleich den einzigen originären Beitrag der Sowjetunion zum Bau der Atombombe dar. Für den „exakten“ Nachbau des amerikanischen Prototyps hatte der deutsche Physiker Klaus Fuchs den Sowjets alle notwendigen Unterlagen geliefert. Der vom Glauben an kommunistische Ideale beseelte Sohn des in Kiel und später in Leipzig lehrenden Theologieprofessors Otto Emil Fuchs war bereits im September 1933 nach England emigriert. Nach einer kurzen Tätigkeit im britischen Atomprojekt „Tube Alloys“ gelangte er nach Los Alamos, dem Hauptsitz des amerikanischen „Manhattan Projects“. Zum „gefährlichsten Verräter unserer Zeit“, wie die „Neue Illustrierte“ ihn schon 1952 bezeichnete, wurde er aufgrund seiner Überzeugung, dass die USA und Großbritannien der UdSSR, ihrem Verbündeten im Kampf gegen Hitler, das Know-how einer Atombombe nicht vorenthalten dürften. Als sowjetischer Spion trug Klaus Fuchs maßgeblich zum sogenannten nuklearen Patt bei, das als Gleichgewicht des Schreckens in den Jahrzehnten des Kalten Krieges eine Rüstungsspirale gigantischen Ausmaßes in Gang hielt. Darüber hinaus gilt der glänzende Physiker auch als „Stammvater der britischen, der sowjetischen und der amerikanischen Wasserstoffbombe“.10 Die Sicherheitsregime zur Geheimhaltung im amerikanischen „Manhattan Project“ und dem sowjetischen „Atomnaja Bomba“ waren ähnlich aufgebaut und strukturiert, wiesen aber einen fundamentalen Unterschied auf. In den drei geheimen Städten der USA waren einige zehntausend zivile Mitarbeiter beschäftigt, was eine gewisse Offenheit der verbotenen Objekte zur Folge hatte.11 Die zehn russischen Atomstädte beschreibt Andrej Sacharow, einer der Protagonisten der Wasserstoffbombe, in seinen Memoiren als eine „Symbiose aus einem supermodernen Forschungsinstitut, Versuchsfeldern und einem großen Lager“.12 Der Einsatz von Häftlingen im stalinistischen System war in der Tat ein entscheidender Unterschied zur Rekrutierung von Arbeitskräften in der freiheitlich-demokratisch verfassten Gesellschaftsordnung der USA. Exzellente Physiker und Techniker aus den intellektuellen Hochburgen Moskau und Leningrad (St. Petersburg) steuerten Stalins Jagd nach der Atombombe an den unterschiedlichen Standorten. 10  Fuchs-Kittowski, Klaus: Der humanistische Auftrag der Wissenschaft – unabdingbar für Klaus Fuchs, in: Flach, Günter/Fuchs-Kittowski, Klaus: Ethik in der Wissenschaft – Die Verantwortung der Wissenschaftler, Berlin 2008, S. 85. 11  Vgl. Barkleit, Gerhard: Sonderzonen. Das Sicherheitsregime bei der Wismut, in: Boch, Rudolf/Karlsch, Rainer: Uranbergbau im Kalten Krieg. Die Wismut im sowjetischen Atomkomplex, Berlin 2011, Bd. 1, S. 158–227. 12  Sacharow, Andrej: Mein Leben, München 1991, S. 141.

68

D. Stalins Bombe

Abb. 8: Standorte des Projekts „Atomnaja Bomba“ in der Sowjetunion.

Tabelle 8 Das Produktionsprofil der sowjetischen Standorte Nr. Ort

Oblast/Region

Produktionsprofil

1

Lesnoi

Swerdlowsk

Entwicklung und Produktion von Atomwaffen

2

Nowouralsk Swerdlowsk

Uran-Anreicherung, militärische PlutoniumProduktion, Entwicklung und Produktion von Atomwaffen

3

Osjorsk

Tscheljabinsk

Uran-Anreicherung, militärische PlutoniumProduktion

4

Sarow

NischniNowgorod

Uran-Anreicherung, militärische PlutoniumProduktion

5

Schlesnogorsk

Krasnojarsk

Uran-Anreicherung, militärische PlutoniumProduktion

6

Selenogorsk Krasnojarsk

Uran-Anreicherung

7

Sewersk

Tomsk

Uran-Anreicherung, militärische PlutoniumProduktion

8

Sneschinsk

Tscheljabinsk

Entwicklung, Produktion und Wartung von Atomwaffen



II. Die Siegermächte und die deutschen Spezialisten69

Als die Sowjetunion am 29. August 1949 in Semipalatinsk zur Überraschung der Westmächte ihre erste Atombombe testete, handelte es sich um den exakten Nachbau des amerikanischen Vorbildes einer nach dem Implo­ sionsprinzip arbeitenden Plutoniumbombe.13 Das Plutonium wurde in einem Kernreaktor „erbrütet“, dessen Brennstoff unter Leitung von Nikolaus Riehl hergestellt worden war. Der für die Produktion der notwendigen „kritischen Masse“ von Plutonium benötigte Kernreaktor war vergleichsweise einfach zu bauen und zu betreiben. Auch die Verfahrensentwicklung zur Herstellung des Urans verantwortete Riehl. Mit dem Stalinpreis, dem Leninorden und der Verleihung des Titels „Held der sozialistischen Arbeit“ sowie einer komfortablen „Datscha“ erhielt er die höchsten Ehrungen und Prämien aller bei diesem Vorhaben mitwirkenden deutschen Spezialisten. Die Herstellung von bombenfähigem Uran-235 erwies sich zunächst als zu kompliziert, um damit den Sprengstoff für eine Bombe bereitzustellen. Die bekannten Verfahren zur Isotopentrennung, nämlich das Diffusionsverfahren, die Ultrazentrifuge sowie die elektromagnetische Trennung, allesamt technologisch höchst anspruchsvolle physikalische Methoden, ließen sich so schnell nicht im industriellen Maßstab realisieren. Für jedes der genannten Verfahren gab es deutsche Erfahrungsträger. Gustav Hertz erhielt 1925 den Nobelpreis für Physik. 1934 war ihm die Trennung der Neonisotope 20 und 22 sowie die Reindarstellung schweren Wasserstoffs gelungen. Max Steenbeck, ab 1965 als Nachfolger von Peter Adolf Thiessen zum Vorsitzenden des Forschungsrats der DDR berufen, leitete im Forschungsinstitut Sinop am Schwarzen Meer die Arbeiten zur Entwicklung ­einer im industriellen Maßstab einsetzbaren Ultrazentrifuge.14 Manfred von Ardenne, dessen privates Berliner Forschungsinstitut komplett, also mit sämtlichen Geräten, Anlagen und Ersatzteilen, beschlagnahmt und ans Schwarze Meer verbracht worden war, begründete in dem ehemaligen Sanatorium von Sinop ein kernphysikalisches Institut. Er selbst konzentrierte sich vor allem auf die elektromagnetische Isotopentrennung.

II. Die Siegermächte und die deutschen Spezialisten 1. Jagd auf deutsche Gehirne Die westlichen Alliierten, die zum Zeitpunkt der bedingungslosen Kapitulation Hitlerdeutschlands kurz vor der Erprobung der ersten Atombombe Mitrochin, Schwarzbuch des KGB, S. 192. Helmbold, Bernd: Wissenschaft und Politik im Leben von Max Steenbeck (1904–1981): Betatron, Röntgenblitze, Gasultrazentrifuge und Dynamotheorien, Wiesbaden 2017, S. 271. 13  Vgl. 14  Vgl.

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standen, waren, wie bereits erwähnt, auf die Hilfe von Experten aus dem besiegten Land nicht angewiesen. Allerdings interessierten sich nicht nur die Physiker der USA und Englands, sondern auch die dortigen Politiker dafür, ob in Deutschland überhaupt an der Entwicklung von Kernwaffen gearbeitet wurde, und wenn ja, welcher Entwicklungsstand erreicht worden war. Um diese Frage schnell beantworten zu können, nahmen der amerikanische und der britische Geheimdienst im Rahmen der „Operation Epsilon“ kurz vor Kriegsende zehn deutsche Physiker in Gewahrsam. In den sechs Monaten ihrer Internierung auf dem englischen Landsitz Farm Hall hörte man alle ihre Gespräche ab. Es handelte sich um Erich Bagge (1912–1996), Kurt Diebner (1905–1965), Walter Gerlach (1889–1979), Otto Hahn (1879–1968, Nobelpreis 1944), Paul Harteck (1902–1985), Werner Heisenberg (1901–1976, Nobelpreis 1932), Horst Korsching (1912–1998), Max von Laue (1879–1960, Nobelpreis 1914), Carl Friedrich von Weizsäcker (1912–2007) und Karl Wirtz (1910–1994) – ein „Who’s who“ der deutschen Kernphysik.15 Bagge, Diebner und Harteck wiesen mit als Erste auf die Möglichkeit einer Kernspaltungswaffe mit bisher nicht vorstellbarer Sprengkraft hin und gehörten zu den Vätern der im April 1939 gegründeten „Arbeitsgemeinschaft für Kernphysik“, die unter der Bezeichnung „Uranverein“ in die Geschichte einging. Die Bündelung der weiteren kernphysikalischen Forschungen an der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt in Berlin und der Universität Göttingen nahmen von Weizsäcker und Wirtz zum Anlass, nach Berlin zu wechseln. Leslie R. Groves schrieb in seinen 1962 erschienenen Erinnerungen, dass die in Farm Hall internierten deutschen Kernphysiker um von Laue, Hahn und Heisenberg mit ungläubigem Staunen auf die Meldung des Londoner Rundfunks über den Abwurf der ersten amerikanischen Atombombe reagiert hätten. Weizsäcker bekannte Jahre später, dass es sie in Farm Hall in der Tat „ganz ungeheuer verblüfft“ habe, dass die Amerikaner „es gekonnt haben“.16 Ardenne zitierte immer wieder, wie seine Söhne sich erinnern, ein vernichtendes Urteil Otto Hahns über seine Mitgefangenen, die nur „zweitklassige Wissenschaftler“ seien, weil sie es bis zuletzt nicht für möglich hielten, dass die Amerikaner tatsächlich eine Atombombe bauen konnten.17 Angesichts dieser Faktenlage ist es schwer zu verstehen, dass es, wie bereits erwähnt, noch immer Versuche gibt, Belege für „Hitlers Bombe“ beizubringen. Die

15  Vgl. Hoffmann, Dieter (Hrsg.): Operation Epsilon. Die Farm-Hall-Protokolle erstmals vollständig, ergänzt um zeitgenössische Briefe und weitere Dokumente der 1945 in England internierten deutschen Atomforscher, Diepholz 2020. 16  Weizsäcker, Carl Friedrich von: Große Physiker. Von Aristoteles bis Werner Heisenberg, Wien 1999, S. 326. 17  Gespräch mit Dr. Thomas und Dr. Alexander von Ardenne am 21.1.2005.



II. Die Siegermächte und die deutschen Spezialisten71

meisten Veröffentlichungen auf diesem Terrain kommen allerdings nicht über das Niveau empirisch unbewiesener Vermutungen hinaus. Ganz anders stellte sich übrigens die Situation bei der Entwicklung von Raketenwaffen dar. Hier waren die Deutschen der Konkurrenz weit voraus. Entsprechend groß war das Interesse, Spezialisten nicht nur abzuschöpfen, sondern diese in den USA tätig werden zu lassen. Im Rahmen einer großflächigen Aktion mit dem Code-Namen „Operation Paperclip“ erfassten amerikanische Geheimdienste die in Frage kommenden Erfahrungsträger und sorgten in einem ersten Schritt dafür, dass diese nicht den Sowjets in die Hände fielen. Die Überführung in die USA begann im Frühherbst des Jahres 1945. Wernher von Braun, Leiter des Raketenprogramms in Peenemünde, wurde zusammen mit 16 weiteren Luftfahrtingenieuren und Wissenschaftlern am 18. September in die USA ausgeflogen. Vorher hatte er in zähen Verhandlungen erreicht, dass er ein Team von 350 deutschen Spezialisten dorthin mitnehmen konnte.18 Noch bevor die Amerikaner im August 1945 die Welt mit dem Abwurf der ersten Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki schockierten, lockten ranghohe sowjetische Militärs deutsche Kernphysiker, die in ihrer Besatzungszone lebten, mit der Aussicht auf privilegierte Lebens- und Arbeitsbedingungen in die Sowjetunion. Dank seiner Top-Spione bestens über den Stand der amerikanischen Entwicklung informiert, wollte Stalin die Bombe um jeden Preis und so schnell wie möglich. Sein vom Krieg schwer gezeichnetes Land war nicht nur auf immateriellen, sondern auch auf materiellen Technologietransfer aus Deutschland zwingend angewiesen. Das gestanden allerdings bis in die Mitte der 1990er Jahre weder Politiker noch Wissenschaftler ein, sondern sie nährten die alte Mär aus Sowjetzeiten, dass man die Atombombe aus eigener Kraft entwickelt habe. Die in die DDR zurückgekommenen deutschen Spezialisten widersprachen aus politischen und moralischen Gründen nicht. Wer die Bundesrepublik zum künftigen Lebensmittelpunkt erkoren hatte, war gleichfalls daran interessiert, seine maßgeblichen Beiträge zur Herstellung des atomaren Patts kleinzureden. Für die Sowjets kam es darauf an, schnell eine nachholende Entwicklung und industrielle Produktion von Kernwaffen darzustellen. Um bereits Bekanntes vom Labor in einen großtechnischen Maßstab zu überführen, bedurfte es keiner genialen Physiker und Ingenieure mit großem Namen und außergewöhnlicher Kreativität. Ein hohes Maß an Erfahrung und Flexibilität sollten die Ausgewählten aber durchaus mitbringen.

18  Vgl. Neufeld, Michael J.: Wernher von Braun. Visionär des Weltraums, Inge­ nieur des Krieges, München 2009, S. 252–258.

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D. Stalins Bombe

2. Aus Sanatorien werden Forschungsinstitute Auf der Datscha in Osjory bei Moskau, so Werner Hartmann, hörten die Deutschen im Radio vom Abwurf der Atombombe auf Hiroshima am 6. August 1945. Kurz darauf besuchte General Sawenjagin zusammen mit seinem Stellvertreter Zwerew die Deutschen und erklärte ihnen, dass sie am Schwarzen Meer, in der Nähe von Suchumi, ein Institut aufbauen und „an der Nutzung der Kernenergie mitarbeiten“ sollten. Unmittelbar nach Kriegsende verfügten die sowjetischen Stellen noch nicht über zuverlässige Informationen über die Nichtentwicklung einer deutschen Atombombe. „General Sawenjagin“, so Hartmann, „wollte lange nicht glauben, dass Hertz in Deutschland nicht an der Trennung der Uranisotope gearbeitet hatte. Man glaubte, er wollte seine Kenntnisse nicht preisgeben.“19 Bei der Standortwahl der Institute von Ardenne und Hertz, so die Vermutung, dürfte es durchaus eine Rolle gespielt haben, dass Lawrentij Pawlowitsch Berija, Stalins Geheimdienstchef und wirtschaftspolitischer Leiter des Atomprogramms, in der Nähe von Suchumi geboren wurde.20 Die Fahrt ans Schwarze Meer begann am 18. und dauerte bis zum 27. August. Bis zur Inbetriebnahme des Erholungsheims „Agudseri“ als Kernforschungseinrichtung im April 1946 erfreuten sich die deutschen Spezialisten am Park und am Strand. Sie gingen spazieren, organisierten Ausflüge zum nahe gelegenen Rizasee und arbeiteten „die Physik durch“.21 Besuche von führenden sowjetischen Physikern, wie z. B. Joffe, der als „Vater der sowjetischen Physik“ gilt und fließend deutsch sprach, sowie Kikoin, Arzimowitsch, Sobolew und Migdal erinnerten sie aber immer wieder einmal daran, weshalb sie sich in dieser Idylle aufhielten. Hartmann, der gern mit seinem Talent kokettierte, Fremdsprachen sehr schnell zu erlernen, übersetzte im Oktober 1945, ein halbes Jahr nachdem er erstmals russische Buchstaben zu Gesicht bekam, den Vortrag von Prof. Migdal simultan ins Deutsche. Steenbeck habe ihn noch 30 Jahre danach immer wieder einmal dafür gelobt.22 Im November 1945 referierte mit Georgi Nikolajewitsch Fljorow einer der Entdecker der spontanen Uranspaltung über „Einzelheiten der Kernspaltung“. Auf Fragen seiner deutschen Hörer sei Fljorow allerdings nicht eingegangen, erinnert sich Hartmann.23

19  Nachlass,

Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1945–1955, Teil F, Bl. 21 f. wurde am 29. März 1899 in Mercheul, Kreis Suchumi geboren. 21  Vgl. Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1945–1955, Teil F, Bl. 23. 22  Vgl. ebd., Bl. 35 f. 23  Vgl. ebd., Bl. 43. 20  Berija



II. Die Siegermächte und die deutschen Spezialisten73

Abb. 9: Agudseri an der Ostküste des Schwarzen Meeres.

Bereits im Oktober 1945 beauftragte das von Berija geleitete Spezialkomitee beim Rat der Volkskommissare der UdSSR zwei Mitglieder seines Technischen Rates, Alichanow und Joffe, die „Speziallaboratorien“ von Hertz und Ardenne zu inspizieren. Am 14. Dezember berichteten beide in der 10. Sitzung des Spezialkomitees über den Anlauf der Forschung und erste konkrete Arbeitspläne, die sie mit den Institutsleitern Hertz und Ardenne aufgestellt hatten.24 Im November 1945 erlebte Hartmann hautnah, wie auch deutsche Wissenschaftler von den Reparationsleistungen ihrer Heimat an die Siegermacht profitierten. Es war, so erinnert er sich, „ein Güterzug mit Ausrüstungen von Siemens und dem KWI Dahlem, in dem Thiessen gearbeitet hat, auf dem Bahnhof Kelasuri angekommen“. Bei der Demontage in Berlin sei alles, „was nicht niet- und nagelfest war, willkürlich durcheinander eingepackt worden“. In Agudseri packten sie Kisten aus, „die Drehspäne enthielten, wie sie unter Drehbänken liegen. Zwischen den Spänen fanden wir große Mengen der damals üblichen Ganzmetallröhren wie EF6 und EF12.“25

24  Vgl. Protokoll Nr. 10 der Sitzung des Spezialkomitees beim Rat der Volkskommissare der UdSSR vom 14.12.1945, in: Rjabew, Atomnyi projekt SSSR, Dokumenty i materialy. T. II, Atomnaja bomba. 1945–1954, Kniga 1, Moskwa 1998, S. 53–60. 25  Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1945–1955, Teil F, Bl. 35.

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D. Stalins Bombe

In seinen Memoiren listete Hartmann die Ende 1945 in Agudseri anwesenden Deutschen mit deren Spezialgebieten auf.26 Nicht bei jedem Kollegen konnte sich Hartmann an den Vornamen erinnern. Seine Aufstellung enthält nur 13 Namen. In einem Bericht Sawenjagins vom 8. Januar 1946 werden neben Gustav Hertz auch alle seine 17 MitarbeiTabelle 9 Die Gruppe Hertz Name

Vorname

Titel

Arbeitsgebiet

Hertz

Gustav

Prof.

Direktor

Barwich

Heinz

Dr.

Theorie zur Stabilisierung und Steuerung der Diffusionskaskade

Bumm

Helmut

Dr.

metallurgische Probleme der Diffusionsdiaphragmen

Esche

Paul

Hartmann

Werner

Hoenow

Gerhard

Mühlenpfordt

Justus

Reichmann*

Reinhold

Richter

Gustav

Mechaniker Dr.

Leitung der Werkstatt Dr.

Dr.

Werner

Dr.

27  Vgl.

Stellv. Direktor; Bau eines Massenspektrometers nach Nier, USA elektrische Anlagen des Instituts

Max

Prof.

* Starb im Sommer 1950 an Herzversagen27

26  Vgl.

Herstellung schweren Wassers Konstrukteur

Staudenmeyer Volmer

Isotopentrennung chemisch-metallurgische Probleme

Rottmann Schütze

Messung geringer Verschiebungen der Isotopenverhältnisse in Uran

ebd., Bl. 43. ebd., Bl. 82.

Stellv. Direktor; Herstellung schweren Wassers



II. Die Siegermächte und die deutschen Spezialisten75

ter genannt.28 Warum er die Kollegen Viktor Bayerl, Ludwig Bewilo­gua, Kremer, Max Segel und Karl-Franz Zühlke nicht erwähnte, muss offenbleiben. An dieser Stelle sei ein Hinweis auf die Schwierigkeiten bei der Nutzung der russischen Quellen gestattet. Zum einen sind nicht in allen Fällen neben dem Familiennamen auch die Vornamen angegeben, zum anderen lassen sich die Familiennamen nicht immer eindeutig zurück ins Deutsche übertragen. Mitte Januar 1946 wurde das idyllische Dasein in Agudseri durch die Einführung des Systems der „Begleiter“ empfindlich gestört, denn damit entfiel die Möglichkeit, sich innerhalb der Umgebung des Instituts frei zu bewegen. „Ohne Begleiter“, beklagte sich Hartmann, „war es nur noch erlaubt, den Institutspark und den dazu gehörenden Strand unbeaufsichtigt zu benutzen.“29 „Anfang 1946“, erinnert er sich weiter, „kamen die ersten sowjetischen wissenschaftlichen Mitarbeiter. Diese hatten eine solide physikalische Ausbildung. Die Zusammenarbeit mit ihnen war und blieb immer sehr angenehm und konfliktlos.“30 Trotz des ihnen aufgezwungenen Krieges, so verallgemeinerte er seine Erfahrungen als Privilegierter, begegneten die sowjetischen Menschen den Deutschen nicht mit „Hass und Verachtung“. „In den folgenden 10 Jahren hat keiner von uns jemals unerfreuliche Erfahrungen machen müssen.“31 3. Beginn der wissenschaftlichen Arbeit Im Mai 1946 waren die Räumlichkeiten in den ehemaligen Erholungsheimen „Sinop“ und „Agudseri“ so weit umgerüstet, dass sie als Laboratorien bezeichnet werden konnten. Trotz vielerorts „noch unzureichender Grundlagen“, wie das Spezialkomitee einräumte, begann die wissenschaftliche Arbeit. Die inzwischen zuständige 9. Verwaltung des Ministeriums für innere Angelegenheiten stellte sich das Ziel, den Aufbau der beiden Institute trotz der schwierigen Rahmenbedingungen bis zum Ende des Jahres 1947 im Wesentlichen zu beenden. Dazu gehörte auch eine deutliche Verstärkung des bis dahin 49 deutsche Spezialisten umfassenden Personals, darunter immerhin 28 Wissenschaftler.32 28  Vgl. Sawenjagin, A. P.: Bericht vom 8. Januar 1946 über den Stand der Arbeiten zur Nutzung der Atomenergie in Deutschland mit einer Liste der deutschen Spezialisten, die in der Sowjetunion arbeiten, in: Rjabew: Atomnaja bomba, Kniga 2, MoskwaSarow 2000, S. 374–381. 29  Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1945–1955, Teil F, Bl. 39. 30  Ebd., Bl. 44. 31  Ebd., Bl. 17. 32  Vgl. Rechenschaftsbericht über den Stand der Arbeit der 9. Verwaltung des Ministeriums für innere Angelegenheiten der UdSSR vom 1.9.1947, in: Rjabew, Atomnaja bomba, Kniga 3, Moskwa 2001, Dokument Nr. 345.

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Abb. 10: Das Sanatorium in Agudseri.

Am 20. Juli 1946 schlugen Kruglow, Wannikow, Kurtschatow, Perwuchin und Leipunkskij vor, nicht nur das Institut Ardennes, sondern auch das von Hertz geleitete Institut in Agudseri in die Projektierung von Fabriken zur Isotopentrennung einzubeziehen, was bedeutete, dass Letztere nicht nur für die Entwicklung der Diffusionsanlagen Verantwortung trugen, sondern auch am Aufbau eines kompletten Werkes mitwirken mussten.33 Mit der Verordnung Nr. 9731rs des Ministerrats der UdSSR wurden am 9. August 1946 die Institute „A“ (Ardenne) und „G“ (Hertz) dem sogenannten Laboratorium Nr. 2 unterstellt, dem späteren Kurtschatow-Institut in Moskau.34 Am 15. August 1946 berichteten Wannikow, Kurtschatow, Perwuchin, Malyschew und Kikoin über erste Arbeitsergebnisse der beiden von Deutschen geleiteten Institute, die sich mit der Trennung von Uranisotopen beschäftigten. Dazu zählte die Konstruktion von Pumpen durch Steenbeck und Mühlenpfordt ebenso wie die Entwicklung einer Apparatur zur Erprobung von Diaphragmen für das Diffusionsverfahren, an der Zühlke unter Leitung von Hertz arbeitete. Barwich widmete sich der Isotopentrennung durch Thermodiffusion, einem seit 1911 bekannten Verfahren, das besonders einfach 33  Vgl. 34  Vgl.

Barkleit, Manfred von Ardenne, S. 105. ebd., S. 106.



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und kostengünstig war. Auch die Entwicklung eines Massenspektrometers durch Schütze wurde hervorgehoben.35 Im Herbst 1946 erfolgten Besuche in Lagern deutscher Kriegsgefangener „zur Auswahl von Ingenieuren und Mechanikern sowie anderen Hand­ werkern“.36 Diese Rekrutierungsaktionen gingen auf den Vorschlag zurück, den Ardenne in einem denkwürdigen Gespräch dem Geheimdienstchef Berija unterbreitet hatte. Für fachlich geeignete Gefangene, die sich darauf einließen, war damit der Sprung aus einem harten und entbehrungsreichen Lagerleben in den goldenen Käfig verbunden. Wie aus einem Bericht vom 4. November 1946 an Berija hervorgeht, wurden unter Kriegsgefangenen 208 Spezialisten ausgewählt, von denen 89 zu Ardenne und Hertz sowie in das von Heinz Pose geleitete Labor „V“ geschickt wurden.37 Anfang 1947 wurde auch diesen neuen Mitarbeitern erlaubt, ihre Familien nachkommen zu lassen.38 Gleichfalls im Herbst 1946 informierte Sawenjagin die Leiter und führenden Mitarbeiter der Institute „A“ und „G“ über ein Prämiensystem, das im Beschluss des Ministerrates Nr. 627-258ss „Über wissenschaftliche Entdeckungen und technische Errungenschaften“ auch für die Institute „A“ und „G“ galt. Die Anweisung, neben den Direktoren auch die führenden Mitarbeiter zu informieren, nutzten Ardenne und Hertz dazu, ganz schnell einige ihre Mitarbeiter zu „leitenden Mitarbeitern“ zu ernennen. Es ist anzunehmen, dass darunter auch Hartmann war. Sein Gehalt von 6.000 Rubeln ab März 1948 ist jedenfalls das eines Laborleiters, wie aus einer Gehaltsliste der deutschen Spezialisten vom 1. Januar 1950 hervorgeht.39 In dem Ministerratsbeschluss Nr. 2215-908ss vom 30. September 1946 „Über die Arbeit der Institute A und G der 9. Verwaltung des Ministeriums für innere Angelegenheiten der UdSSR“ wurden die schon im August 1945 formulierten Forschungsschwerpunkte bestätigt, konkrete Leistungen bis zum Jahresende 1946 definiert sowie die verantwortlichen Bearbeiter benannt.40 35  Vgl.

ebd., S. 107. Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1945–1955, Teil F,

36  Nachlass,

Bl.  38 f. 37  Vgl. Schreiben von A. D. Zwerew an V. A. Machnjow mit einem Brief M. G. Perwuchins und A. P. Sawenjagins an L. P. Berija über den Einsatz von kriegsgefangenen Spezialisten vom 4.6.1946, in: Rjabew, Atomnaja bomba, Kniga 3, S. 522 f. 38  Vgl. Ardenne, Manfred von: Ein glückliches Leben für Technik und Forschung, Berlin 1972, S. 169. 39  Für die Überlassung der Gehaltsliste danke ich Prof. Klaus Thießen, der als Laborant auf dieser Liste geführt wird. 40  Vgl. Beschluss des Ministerrates der UdSSR Nr. 2215-908ss „Über die Arbeit der Institute A und G der 9. Verwaltung des Ministeriums für innere Angelegenheiten

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Im Katalog von Aufgaben für das Institut „G“ stand die Isotopentrennung nach der Diffusionsmethode im Mittelpunkt. Aktueller Schwerpunkt war die Entwicklung von Systemen zur Steuerung von Kaskaden, an der Hertz, Barwich und Mirianaschwili arbeiteten. Aber auch die Entwicklung von Diffu­ sionsverfahren zur Trennung der Uran-Isotope mit Hilfe von Kondensationspumpen, mit der sich Hertz und Mühlenpfordt beschäftigten, sowie mit Hilfe von Inertgasen, woran Hertz gemeinsam mit Mirianaschwili arbeitete, gehörte zu den wichtigsten Aufgaben dieses Instituts. Mit der Entwicklung von Verfahren zur Qualitätskontrolle von Diaphragmen beschäftigten sich Zühlke, Bumm und Reichmann. Konstruktion und Bau eines Massenspektrometers, eines Zählrohres für α-Teilchen und einer Ionisationskammer rundeten das Aufgabenspektrum ab. Eine gravierende Schwäche der sowjetischen Industrie, nämlich fehlende Kapazitäten zur Produktion von Messgeräten, finden in der Aufnahme des Komplexes „Mess- und Analysegeräte“ ihren Niederschlag.

III. Messtechnische Herausforderungen 1. Messtechnik für die Urananreicherung Zu Hartmanns ersten Aufgaben gehörte die Entwicklung einer Methode zur Bestimmung kleiner Anreicherungsgrade von Uran-235. Die geringen, mit Laboranlagen erreichten Anreicherungsgrade waren mit einem Massenspektrometer nicht zu erfassen. Ihre Kenntnis war aber wichtig für die Konstruktion der ersten Anreicherungsanlagen. Ein Massenspektrometer gab es ohnehin nicht und der Bau eines solchen hätte viel zu lange gedauert.41 „In meiner Abteilung“, so formulierte Hartmann es in seinen Memoiren nicht sonderlich präzis, „arbeiteten bis zur Abreise: A. G. Kutscherjajew, ein Physiker und mein Stellvertreter, sowie 2 weitere Physiker, 5 Ingenieure, 4 Laboranten sowie eine Diplomandin. Hinzu kamen Diplomanden, Laboranten geringerer Qualifikation.“ Neben den erwähnten namenlosen Nachwuchswissenschaftlern seien aber auch einige wenige etablierte sowjetische Physiker nach Agudseri gekommen. „Dozent Kwarzchawa, den ich aus seinen Veröffentlichungen in sowjetischen Zeitschriften kannte, wurde mir zugeteilt.“ Gwerdziteli, ebenfalls Dozent, wurde Hertz zugeteilt und sei später in Tiflis Minister für Forschung geworden. Auch Barwich sei ein erfahrener Mann namens Gagua zugewiesen worden. Zu Schütze sei Frau Keto Ordschonider UdSSR“ vom 30. September 1946, in: Rjabew, Atomnaja bomba, Kniga 3, S. 22– 24. 41  Vgl. Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1945–1955, Teil F, Bl.  35 f.



III. Messtechnische Herausforderungen79

kidse gekommen, die in den 1970er Jahren, wie er erfahren habe, „immer noch im Institut arbeitete“.42 Sein bereits erwähntes Gehalt von 6.000 Rubeln erreichte Hartmann, wie in der nachfolgenden Tabelle dargestellt ist, innerhalb kurzer Zeit. Jahre später sollte er sein Einkommen in der Sowjetunion mit dem Satz kommentieren: „Wir schwammen geradezu im Geld.“43 Das Direktorengehalt Manfred von Ardennes betrug, wie einer sowjetischen Liste vom 1. Januar 1950 zu entnehmen ist, 10.500 Rubel. Peter Adolf Thießen verdiente 8.000 und der Gruppenleiter Max Steenbeck nur 3.000 Rubel im Monat, wie übrigens auch der Glasbläser Herrmann Füchsel.44 Das Problem der Bestimmung geringer Anreicherungsgrade von U-235 löste Hartmann mittels Messung der Radioaktivität, „genauer der α-Emission“. „Als Detektoren standen auf meiner Liste: Ionisationskammer, Funkenzähler, Zählrohr und Leuchtschirm“, heißt es in seinen Memoiren.45 Er entwickelte ein Verfahren, mit dem er sich gegen vier sowjetische Konkurrenten durchsetzen konnte und den Auftrag erhielt, drei seiner Messgeräte für die 9. Verwaltung zu bauen.46 Erst Jahre später sei ihm bewusst geworden, „dass ich als Erster den später ‚Szintillationszähler‘ genannten Detektor für Teilchen erfunden/erdacht hatte“.47 Tabelle 10 Hartmanns Einkommen Datum

Monatsgehalt in Rubel

Mitte Dezember 1945

2.500

1. Juli 1946

3.000

1. Oktober 1946

3.500

1. Januar 1948

3.500 (neue Rubel*)

1. März 1948

6.000

Prämien 1946

4.800

Prämien 1947

12.000

* Am 15. Dezember 1947 war eine 10:1-Aufwertung des Rubels erfolgt 42  Vgl.

ebd., Bl. 45. Bl.  38 f. 44  Die genannte Liste wurde dem Autor von Klaus Thießen zur Verfügung gestellt. 45  Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1945–1955, Teil F, Bl. 47. 46  Vgl. ebd., Bl. 60. 47  Ebd., Bl. 50. 43  Ebd.,

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Dr. Dieter Garte, ein früherer Mitarbeiter Hartmanns, wies darauf hin, dass sich in dessen Habilitationsschrift aus dem Jahre 1956 „der schriftliche Nachweis seiner Erfindung des später sogenannten Sekundärelektronenoder Everhart-Thornley-Detektors findet, eine Kombination aus Szintillator und Fotovervielfacher zur Teilchen-zu-Teilchen-Verstärkung mittels Photonen“. „Da den deutschen Spezialisten in ihrem ‚Goldenen Käfig‘ in der UdSSR eine Veröffentlichung oder Patentanmeldung strengstens untersagt war“, argumentiert Garte, habe sein Chef erst später aus der Literatur erfahren, dass Everhart und Thornley diesen Detektor 1960 erneut erfunden und veröffentlicht hatten. „Jetzt erst erkannte er den Wert seiner damaligen Erfindung.“48 Ist die wenig präzise Gerätebeschreibung in den Memoiren der Tatsache geschuldet, dass Hartmann deren erste Fassung für das MfS geschrieben hat, als Teil seiner Verteidigungsstrategie? Es spricht einiges dafür, denn ähnlich unpräzise äußerte er sich an anderer Stelle auch zur Physik der Atombombe. Dem Gebiet der kernphysikalischen Grundlagenforschung sind Hartmanns Arbeiten zur Messung der magnetischen Momente von Atomkernen zuzuordnen, die in den „Aufbau einer größeren Anlage zur Messung der paramagnetischen Resonanz mit Atom-/Molekularstrahlen“ mündeten.49 „Im Frühjahr 1949“, so schreibt er, „wurde mir vorgeschlagen, nach Abschluss der Messungen zur Bestimmung des Anreicherungsgrades von Uran eine neue Aufgabe zu beginnen“, die Messung der magnetischen Momente von Atomkernen. Hartmann entschied sich, zunächst das Experiment des Amerikaners Victor W. Cohen zu wiederholen, der bereits 1934 die Ablenkung eines Cäsium-Atomstrahls in einem schwachen inhomogenen Magnetfeld gemessen hatte.50 Dadurch sei es möglich gewesen, sich recht schnell „alle Elemente dieser Atomstrahltechnik anzueignen“. Zugutegekommen seien ihm seine „umfassenden Kenntnisse und Erfahrungen in der Vakuumphysik und -technik sowie in der Handhabung von Cäsium, das bei der Herstellung von Fotokathoden die entscheidende Rolle spielt“. Beim Bau der Ganzmetallapparatur für einen Cäsium-Strahl einer Länge von ca. 1,5 Metern konnte er „viele Ideen investieren und verwirklichen“. Mit seinen Mitarbeitern habe er sehr „systematisch und methodisch“ gearbeitet und sich „durch keinerlei Diskussionen von seiner Linie abbringen lassen“.51 In dieser Zeit gab es in der Sowjetunion weder an einer anderen Stelle vergleichbare Projekte mit Atomstrahlen noch konkrete Pläne, betonte Hart48  Mail

von Dr. Garte am 26.9.2020. Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1945–1955, Teil F, Bl. 66. 50  Vgl. Cohen, Victor W.: The Nuclear Spin of Caesium, in: Phys. Rev. 46, 713, 15 October 1934. 51  Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1945–1955, Teil F, Bl. 64. 49  Nachlass,



III. Messtechnische Herausforderungen81

mann. In der Nacht vom 13. zum 14. Juni 1951 konnte die erste Messung durchgeführt werden. „Sie war ein voller Erfolg.“52 „Die Tatsache, dass mein im März völlig willkürlich genannter Termin so genau eingehalten wurde, trug mir den Ruf eines exzellenten Planers wissenschaftlichen Arbeitens ein.“53 Diese Selbsteinschätzung deutet auf ein Wissenschaftsverständnis hin, das Nacherfinden überhöht und das nicht Planbare ausblendet, nämlich Glück und Zufall auf dem Weg besonders Kreativer ins Unbekannte. Ende 1951 wurden das von Hertz geleitete Institut in Agudseri und das von Ardenne geleitete Institut in Sinop einem gemeinsamen sowjetischen Direktor unterstellt. Diese Lösung fand Hartmann „sehr vernünftig, denn Hertz und M. v. Ardenne waren auch vorher nicht in unserem Sinne Direktoren: auf den gesamten Betriebsablauf hatten sie keinen Einfluss; dies hätte auch weder bei Prof. Hertz noch bei Ardenne geklappt: beide sind für derartige Aufgaben nicht gut geeignet, schon gar nicht im Ausland“. Nicht zuletzt deshalb habe es „auch keinen Widerstand oder Ärger gegen unseren ersten sowjetischen Direktor Prof. Migulin“ gegeben, „einen Hochfrequenzfachmann der Moskauer Universität, mit dem es sich gut auskommen ließ“. Gleiches galt auch für seinen Nachfolger, Prof. Isajew, der sich mit der Dosimetrie ionisierender Strahlung beschäftigte.54 Es mutet schon merkwürdig an, wenn Hartmann rückblickend dem Nobelpreisträger Gustav Hertz und dem überaus erfolgreichen Erfinder und Unternehmer Manfred von Ardenne die Fähigkeit abspricht, ein wissenschaftliches Institut leiten zu können. Als Hartmann dieses Urteil zu Papier brachte, war Hertz bereits verstorben, der u. a. als Direktor dem Physikalischen Institut der TH Berlin vorgestanden und das Siemens-Forschungslaboratorium in Berlin geleitet hatte. Darüber hinaus hatte Hertz, wie bereits erwähnt, den jungen Hartmann gefördert, der jedoch „keine kleine Null in einem Großbetrieb“ wie Siemens sein wollte und deshalb schnell eigene Wege gegangen war. Manfred von Ardenne hatte in Dresden das einzige private Forschungsinstitut des gesamten Ostblocks mit immerhin 500 Beschäftigten aufgebaut und vor allen Eingriffen und Bedrohungen des SED-Staates bewahren können. Darüber hinaus hatte er Hartmann in der DDR die Türen für einen erfolgreichen Start als Wissenschaftler und Manager geöffnet. Bleibt noch der Nebensatz zu bedenken, dass Hartmann beider Führungsqualitäten „schon gar nicht im Ausland“ für ausreichend hielt. Spielt der „exzellente Planer wissenschaftlichen Arbeitens“ damit auf seine unbestreitbare und rasch erworbene Beherrschung der russischen Sprache an? Immerhin sah er sich 52  Ebd.,

Bl. 65. Bl. 66. 54  Vgl. ebd., Bl. 64. 53  Ebd.,

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selbst und genau aus diesem Grunde als „der Bürgermeister“ der Deutschen in Agudseri, wie sich Tochter Sylvelie erinnert.55 Hin und wieder konnte Hartmann es sich nicht verkneifen, in seine Memoiren nicht eben positive Urteile über prominente und führende Köpfe unter den Physikern im Raum Suchumi einzuflechten. Über Max Steenbeck, von 1965 bis 1978 Vorsitzender des Forschungsrates der DDR, heißt es dort: Für diesen sei es „typisch, dass er gute Ideen hat, sie aber nicht verwirk­ lichen kann“. So sei die Isotopentrennung mittels der Ultrazentrifuge erst durch Zippe „zu einem technisch verwertbaren Verfahren geführt“ worden.56 2. Der gefürchtete Marschall Berija Begegnungen mit Lawrentij Pawlowitsch Berija, seit November 1938 Chef des Geheimdienstes und Leiter des „Spezialkomitees“ im sowjetischen Atombombenprogramm sowie Kommandeur der sowjetischen Atomwaffeneinheiten bis zu seiner Hinrichtung nach Stalins Tod im Jahre 1953, gehören zu den Ereignissen, die in den Erinnerungen der deutschen Spezialisten einen herausragenden Platz einnehmen. Nikolaus Riehl traf zwei Mal mit Berija zusammen. Das erste Mal im Sommer 1945, kurz nach seiner Ankunft in Moskau, das zweite Mal „etwa drei Jahre später“, wie er schrieb. Bei dieser zweiten Begegnung, auf die er ausführlich eingeht, stellte er sich als furchtlosen Wissenschaftler dar, der dem Geheimdienstchef kühn die Stirn bot. An Grippe erkrankt, habe er auf die gewohnte Zigarre verzichtet und sei dadurch, wie stets ohne eine solche, „in einen sehr wachen, gespannten, zu Aggressivität neigenden Zustand“ geraten. Durch Berijas beharrliches Bohren, sich „über irgendetwas oder irgendjemand zu beklagen“ genervt, habe er schließlich gesagt: „Ich beklage mich über Sie!“ Auf dessen amüsierte Nachfrage „Über mich?“ habe er das strenge Geheimhaltungs- und Überwachungsregime angesprochen, das dieser befohlen habe und unter dem alle litten. Das Gespräch „verebbte in irgendeiner Weise“ und sei für ihn, Riehl, folgenlos geblieben.57 An zwei kurz aufeinanderfolgende Begegnungen mit diesem gefürchteten Mann Mitte August 1945 erinnert sich auch Manfred von Ardenne. Mit diplomatischem Geschick zog er damals „seinen Kopf aus der Schlinge“. So habe es zumindest Nikita Sergejewitsch Chruschtschow bei einem Regie55  Gespräch 56  Vgl.

mit Sylvelie Schopplich am 2.7.2020. Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1945–1955, Teil F,

Bl.  61 ff. 57  Vgl. Riehl, Nikolaus: Zehn Jahre im goldenen Käfig. Erlebnisse beim Aufbau der sowjetischen Uran-Industrie, Stuttgart 1988, S. 40 ff.



III. Messtechnische Herausforderungen83

rungsempfang im Juli 1955 in Berlin formuliert. Als eine solche habe Ardenne 1945 in der Tat das Angebot Berijas empfunden, die Leitung des sowjetischen Atombombenprogramms zu übernehmen.58 Hartmann erinnert sich an seine Begegnung mit Berija im März 1948 im Kreml. Der Geheimdienstchef habe sich für das Leben der deutschen Spezialisten in Suchumi interessiert. Im Beisein der Generäle Sawenjagin, Zwerew und Kotschlawaschwili sowie von Oberst Kusnezow „forderte er mich auf, Wünsche und Beschwerden vorzutragen“. Es ist nicht auszuschließen, dass der Geheimdienstchef sich darüber nicht mit Hertz, dem Leiter des Instituts, sondern mit dem Abteilungsleiter und „Bürgermeister“ der Deutschen unterhalten wollte, weil das ohne Dolmetscher möglich war. Hartmann räumt ein, große Ängste ausgestanden zu haben. „Aber ich hielt mich an das bewährte sowjetische Rezept, das ich bei Reden zu Feiertagen in unserem Objekt und in Leitartikeln der Prawda und Iswestija kennengelernt hatte. Ich formuliere es so: ‚Zunächst Rosen streuen, darauf die Leiche legen und sie dann wieder mit Rosen bedecken.‘ Nach dieser Regel schilderte ich zunächst, wie gut organisiert unser Leben, wie reichlich unsere Versorgung, wie angenehm unsere Wohnungen, wie abwechslungsreich unsere Freizeit sei. Daraus ergäbe sich ein hervorragendes Klima für die fachliche Arbeit. Diese Tatsache werde von allen Deutschen mit Dank anerkannt.“ Auf diese „Rosen“ bettete er dann die „Leiche“. Unangenehm sei das „nicht so gut klappende System der Begleiter“. Aber alle Deutschen seien überzeugt, streute er wieder Rosen, dass „auch dieses Problem im gemeinsamen Interesse bald gelöst würde“. Berija und seine Entourage seien zufrieden gewesen. Er werde Anweisung geben, verabschiedete sich der Geheimdienstchef, die Schwierigkeiten mit den Begleitern sofort abzustellen. „Ob mein Einsatz bei Berija geholfen hat, das Begleiterproblem zu entschärfen, muss zweifelhaft bleiben“, resümierte Hartmann, „es wäre im Laufe der Zeit wohl auch von sich aus besser geworden.“59 An diese „Begleiter“ kann sich Sylvelie, die jüngere Tochter, noch sehr gut erinnern. „Zur Zeit der Quarantäne, also nach Stalins Tod“ und der Hinrichtung von Berija, „hatten wir während der Schwarzmeerkreuzfahrt einen Begleiter, der uns nicht aus den Augen ließ“. Da ein kleines blondes Mädchen inmitten der fast ausschließlich brünett bis schwarzhaarigen weiblichen Passagiere, das noch dazu ein perfektes Russisch sprach, die Neugier der mitreisenden Sowjetbürger weckte, sei sie immer wieder gefragt worden, wer sie sei und woher sie käme. Der „Begleiter“ habe daraufhin den Einheimischen verboten, sie anzusprechen. Ganz anders hingegen verhielt sich der „Beglei58  Vgl.

Barkleit, Manfred von Ardenne, S. 331–338. Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1945–1955, Teil F, Bl. 61–

59  Nachlass,

63.

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D. Stalins Bombe

ter“ während eines dreiwöchigen Urlaubs in einem Ferienheim der Erdöl­ industrie in der Nähe von Moskau. Dieser, ein junger Mann, betrachtete den Ferienaufenthalt vor allem als persönlichen Urlaub. „Er spielte eifrig Volleyball, flirtete mit den hübschen jungen Damen und kümmerte sich nicht um uns.“60

IV. Der Alltag im „goldenen Käfig“ 1. Die privilegierten Internierten Die wissenschaftlichen, technologischen und industriellen Aspekte des Projekts „Atomnaja Bomba“ können als hinreichend erforscht gelten.61 Selbst die Rolle des sowjetischen Geheimdienstes wird von hochrangigen Mitarbeitern beschrieben.62 Darüber hinaus liegen inzwischen die Memoiren von Physikern und Technikern vor, die bei der Entwicklung und dem Bau einer Atombombe zusammenwirken mussten und die bis zu zehn Jahre in der Sowjetunion interniert waren. Ihre Memoiren schrieben nicht nur die Mitwirkenden im Projekt „Atomnaja Bomba“, sondern auch Flugzeug- und Raketenbauer. Sie alle schildern auch mehr oder weniger detailliert den Alltag, wobei es den Raketenbauern wohl weniger gut ging als den Atomphysikern.63 Unter dem Titel „Zehn Jahre im goldenen Käfig“ erschienen im Herbst 1988 die Erinnerungen des Physikers Nikolaus Riehl.64 Mit der Schilderung seiner „Erlebnisse beim Aufbau der sowjetischen Uran-Industrie“, wie es im Untertitel heißt, wagte sich nach drei Jahrzehnten des Beschweigens endlich der am höchsten dekorierte deutsche Mitwirkende in Stalins Jagd nach der Bombe „aus der Deckung“. Die Etikettierung der Rahmenbedingungen von Leben und Forschen zwischen privilegiert und interniert als „goldener Käfig“

60  Zeitzeugeninterview

mit Sylvelie Schopplich am 13.5.2020. ist insbesondere auf die bereits mehrfach zitierte fünfbändige Quellenedition „Atomnyi Projekt SSSR. Dokumenty i Materialy, Tom II, Atomnaja Bomba 1945–1954, Kniga 1–5“ in russischer Sprache hinzuweisen, die L. D. Rjabew herausgab. 62  Vgl. z. B. Nekrasow, W. F.: NKWD – MWD i Atom, Moskau 2007. 63  Vgl. z. B. Ardenne, Manfred von: Sechzig Jahre für Forschung und Fortschritt, Berlin 1988; Riehl, Nikolaus: Zehn Jahre im goldenen Käfig. Erlebnisse beim Aufbau der sowjetischen Uran-Industrie, Stuttgart 1988; Weiß, Cornelius: Risse in der Zeit. Ein Leben zwischen Ost und West, Berlin 2012; Uhl, Matthias: Stalins V-2. Der Technologietransfer der deutschen Fernlenkwaffentechnik in die UdSSR und der Aufbau der sowjetischen Raketenindustrie 1945–1959, Bonn 2001, S. 165 ff. 64  Riehl, Nikolaus: Zehn Jahre im goldenen Käfig. Erlebnisse beim Aufbau der sowjetischen Uran-Industrie, Stuttgart 1988, S. 40 ff. 61  Hier



IV. Der Alltag im „goldenen Käfig“85

gilt auch für Werner Hartmann, wenngleich er es sich aufgrund einer offen gelebten missglückten Ehe selbst besonders schwer machte. Ein leider nur lückenhaftes und darüber hinaus sehr asymmetrisches zeitgeschichtliches Dokument sind Teile von Hartmanns Briefwechsel mit seinem Vater Gustav, die zum Nachlass gehören, der den Technischen Sammlungen Dresden übergeben wurde. Diese Briefe vermitteln nicht nur authentische Einblicke in die Ehe des Sohnes, sondern auch in den Alltag aller deutschen Internierten. Der Vater benutzte eine Schreibmaschine und begann seine Briefe meist mit einigen Sätzen zum aktuellen Wetter in Berlin. Der Sohn hatte offensichtlich keinen Zugang zu einer Maschine mit deutschen Lettern, sodass er alle seine Briefe mit der Hand schreiben musste. Er benutzte zwei Adressen seines Vaters. Die erste lautete Quermatenweg Nr. 190, die zweite Eggepfad 22, beide in Berlin-Zehlendorf. Gelegentlich schrieb er auch an Gregor Polzin, den Ziehvater seiner Frau Lilo, der in der Cranachstraße 53 in Berlin-Friedenau wohnte. Tabelle 11 Im Nachlass vorhandener Briefwechsel mit dem Vater Jahr

Werner Hartmann

1945

6

1946

15

Gustav Hartmann

1947 1948

2

1949 1950

1

1951 1952 1953 1954 1955

28 sehr dichter Briefwechsel

64 15

86

D. Stalins Bombe

„Mein Finnenhaus war spärlich möbliert“, erinnert sich Hartmann. „Das Wohnzimmer enthielt Möbel der Familie Bumm, die diese nicht aufstellen konnten aus Platzmangel. Unser Schlafzimmer war mit Leihmöbeln ausgestattet. Unsere eigenen Möbel und Wäsche aus dem Haus Eggepfad 22 waren zwar in die UdSSR gebracht worden, wir sahen aber nur Reste davon wieder, und zwar: Schlafzimmerschrank, 2 Bettgestelle mit Matratzen, 2 Stoffsessel, 2 kleine Ledersessel, 1 kleiner runder Rauchtisch mit Marmorplatte.“65 Bei allen Lücken, die dieser Briefwechsel aufweist, tritt der Unterschied des Alltags einer kleinbürgerlichen Familie im geteilten Berlin und des Spezialisten im „goldenen Käfig“ am Schwarzen Meer überaus deutlich zutage. Täglicher Kampf um Nahrungsmittel und Wahrung des Besitzstandes auf der einen, mehr als nur genug zu essen und beschauliche Wochenenden am Strand auf der anderen Seite. In Westberlin kämpfte der Vater um die Reparatur seines defekten Heizkessels, am Schwarzen Meer resignierte der Sohn und ertrug die Konsequenzen seiner gescheiterten Ehe. Dabei hatte er mit aller Kraft darum gerungen, dass seine Frau mit den beiden Töchtern so

Abb. 11: Grüße aus Deutschland. 65  Nachlass,

Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1945–1955, Teil F, Bl. 72.



IV. Der Alltag im „goldenen Käfig“87

Abb. 12: Rückseite des Fotos.

rasch wie möglich zu ihm ans Schwarze Meer kommen konnte. Da es 1945 nicht möglich war, aus der Sowjetunion Briefe in die britische Besatzungszone zu senden, wo Lilo mit den beiden Töchtern lebte, musste Vater Gustav alles übermitteln, was er seiner Frau zu sagen hatte. Dazu gehörten auch akribische „Anweisungen“ für die bevorstehende Reise nach Russland. Sylvelie, die jüngere Tochter, war am 12. Juni 1945 in Celle geboren worden, einen Tag vor dem Flug des Vaters von Berlin nach Moskau. Die Mutter müsse keine Angst haben, schrieb er, da dort auch für Säuglinge gut gesorgt werde. Am 29. Juli 1946 instruierte Werner den Vater: „Ich betone immer wieder, für Lilo alles kaufen was sie haben will; ihr einige Tausend hinschicken, damit sie Reserven hat; Briefmarken, Briefmarken, Briefmarken!!!“ Immer wieder zweifelte er, ob Lilo mit den Töchtern tatsächlich zu ihm kommen wolle. Endlich, im August 1946, traf sie mit den beiden Töchtern in Agudseri ein. 2. Leben mit Frau und Töchtern Ein Brief vom 24. Oktober 1946 enthält eine Liste von Paketen, die Werner an verschiedene Adressaten in Deutschland geschickt hat und die vor allem Lebensmittel, aber auch Tabak und Zigaretten enthielten. Bereits wenige Tage später, am 2. November, teilte der Sohn dem Vater mit, dass sie sich sehr einschränken müssen, um weiterhin Pakete und Geld nach Deutschland schicken zu können. Auch erste Anzeichen einer Ehekrise signalisierte er dem Vater. Leider kümmere sich Lilo, so klagte er, nicht um die Beschaffung und Pflege von Informationen über Deutschland. „Sie hat ja gar nichts erledigt.“ Am 10. November klagt er erneut: „Lilo hat sich ja leider um

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D. Stalins Bombe

nichts in Berlin gekümmert, sie kann mir auf keine Frage Auskunft geben.“ Wie schwer es ihm fiel, plötzlich von Frau und Kindern umgeben zu sein, kommt in dem Bekenntnis zum Ausdruck, dass er selbst „in dem einen Jahr des Alleinseins so viel anders geworden“ sei, „befruchtet durch diese anregende Freundschaft mit so vielen geistigen Interessen“. Am 16. Juni 1948 schrieb Hartmann: „Sonntags arbeite ich viel zu Haus am Schreibtisch, Lilo geht mit Achim [Höhne]66 und den Kindern spazieren. So ist jeder zufrieden und froh. Lilo muss sich wirklich sehr wohl fühlen, denn sie wird immer dicker, ihre Kleider muss sie immerzu auftrennen, ihre Figur wird dadurch nicht besser, aber das ist ihr ja völlig gleichgültig und mir ja schon lange.“ […] „Ich habe wirklich noch kaum einen Menschen getroffen, der so stumpf und uninteressant ist. Hier sind viele einfache deutsche Frauen, aber eigentlich jede interessiert sich für etwas.“ […] „Den Brief, in dem ich Dich bat, Dich mal für die rechtlichen Scheidungsmöglichkeiten zu interessieren, hast Du wohl schon bekommen. Auch das wirst Du mit Deiner eigenen Gründlichkeit durchführen.“ Zehn Tage später beklagt er sich über die „lieblose Behandlung durch Lilo“ und erklärt, dass eine Scheidung nichts bringen würde, da sie beide weiterhin in der Siedlung leben müssten. „Lilo habe ich gesagt (vor einem Jahr schon), als wir über unsere völlig verschiedene geistige Einstellung sprachen, dass ich ihr völlige Freiheit gebe, dass ich mich über ihre Freundschaft mit Achim wirklich aufrichtig freue (was ich auch bis zum heutigen Tag tue), da diese Freundschaft ihr das gibt, was sie braucht, was ich ihr aber nicht geben kann, dass ich zu ihr immer das Gefühl einer Kameradschaft behalten werde und auch für sie sorgen werde.“ […] „Mein lieber Vater, du sollst nicht denken, dass mich das alles bedrückt oder aufregt, nein, darüber bin ich schon längst hinweg, dafür ist mir Lilo zu gleichgültig. Ich stehe nur immer sprachlos und staunend vor so viel Frechheit und bodenloser Unverschämtheit eines Menschen.“ Die Eltern hatten in Agudseri kein gemeinsames Schlafzimmer, erinnert sich Tochter Sylvelie. „Der Vater hatte sein Bett im Arbeitszimmer, neben dem Schreibtisch, die Mutter schlief im Wohnzimmer.“ Übrigens seien „Umgruppierungen“ von Partnerschaften unter den Deutschen keineswegs die Ausnahme gewesen. „Auch mein Vater ist nicht zu kurz gekommen.“67 Das Bekenntnis des Sohnes, seiner Frau nicht das geben zu können, „was sie braucht“, veranlasste offenbar den Vater, seinem Sohn regelmäßig das 66  Der als Kriegsgefangener für das Projekt „Atomnaja Bomba“ rekrutierte Mechaniker Achim Höhne war der Geliebte ihrer Mutter in Agudseri, wie die Tochter Sylvelie sich erinnert. 67  Zeitzeugeninterview mit Sylvelie Schopplich am 11.2.2020.



IV. Der Alltag im „goldenen Käfig“89

Abb. 13: Lageplan des Instituts in Agudseri.

Potenzmittel Testoviron68 zu schicken. Mit diesen Tabletten konnte er die Ehe zweier Persönlichkeiten aber nicht retten, deren Ansprüche an eine Partnerschaft unterschiedlicher nicht sein konnten. Der Staatssicherheit der DDR blieben bei ihren späteren Recherchen diese ungewöhnlichen Gaben keineswegs verborgen. Dem ersten Überwachungsvorgang Werner Hartmanns nach dessen Rückkehr im Jahre 1955 gaben die Genossen, ob ironisch gemeint oder nur einfallslos sei dahingestellt, den Tarnnamen „Tablette“.69 Man könnte es Ironie des Schicksals nennen, dass der Vater Jahre später in den Briefen an den Sohn immer häufiger seine Unzufriedenheit mit der eigenen zweiten Ehe beklagte. „Ach hätte ich doch nur nicht ein zweites Mal geheiratet! Wie gut könnte es mir gehen.“ Der Brief vom 26. Juni endet versöhnlich: „Heute ist Sonnabend, heute steigt ein großes Fußballspiel, abends ist Sportlerball. Lilo wird wohl hingehen, ich gönne ihr, dass sie sich amüsiert. Ich gehe zu B’s, wo wir gemütlich bei einer Flasche Wein auf dem Balkon sitzen werden, den Sternenhimmel 68  Der Wirkstoff von Testoviron ist ein Sexualhormon, das unter anderem bei Männern die Funktion der Sexualorgane aufrechterhält und das sexuelle Verlangen sowie die Potenz steigert. 69  In einem Bericht vom 31. Dezember 1954 wurden Hartmann und zehn weitere „zurückkehrende SU-Spezialisten“ genannt, die „operativ bearbeitet werden“ müssen. Als Gründe wurden genannt: Verbindungen zu Geheimdiensten, ehemals Abwehr­ beauftragte der Gestapo, feindliches Auftreten sowie interessante Verbindungen zu ­Personen im kapitalistischen Ausland. Vgl. SAPMO J IV 2/202/56, Büro Ulbricht (März 1953–Oktober 1955).

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D. Stalins Bombe

Abb. 14: Sommer 1947 am Strand (1. v. l. Liselotte Hartmann, 2. v. l. Achim Höhne).

über uns, in der Ferne das rauschende Wasser. Da fühle ich mich immer zufrieden und geborgen. – Da Annelo seit einigen Wochen einen Husten nie ganz loswurde, ließ ich sie zunächst von einem russischen Kinderarzt untersuchen, der nichts feststellte. […] Annelo und Sylvelie sind braun wie Neger und haben dicke Backen, sie fühlen sich beide sehr gut.“ Sylvelie erinnert sich: „Um zum Strand zu gelangen, mussten wir zuerst die Bahnlinie überqueren und dann durch den Park laufen, in dem das Haus stand, in dem Professor Hertz wohnte.“70 Im Hinblick auf das bevorstehende Weihnachtsfest schilderte Werner am 11. Dezember 1948 dem Vater erneut die „Qualen, die das Zusammenleben mit Lilo“ ihm bereite. Leider gibt es im verfügbaren Teil dieses Briefwechsels keine Reaktionen Hartmanns auf die Berlin-Blockade, als die westlichen Alliierten vom 24. Juni 1948 bis 12. Mai 1949 Westberlin nicht mehr über die Land- und Wasserverbindungen versorgen konnten. Zumindest sein Vater muss darunter doch besonders gelitten haben. Das Gleiche gilt für den Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Es wäre schon interessant zu erfahren, was Sohn Werner da­ rüber wissen wollte und ob er sich in irgendeiner Weise dazu positionierte. 70  Gespräch

mit Sylvelie Schopplich am 2.7.2020.



IV. Der Alltag im „goldenen Käfig“91

3. Vorbereitung auf die Rückkehr ins geteilte Deutschland Fünf Jahre später, im Herbst 1953, entfaltete Gustav Hartmann eine emsige Betriebsamkeit, um die Rückkehr des Sohnes nach Deutschland optimal vorzubereiten. In einem Brief vom 11. Oktober 1953 schrieb der Vater, er habe „auf Empfehlung von Erwin“ einen Dr. Wittbrodt aufgesucht, der zurzeit Direktor in der Akademie der Wissenschaften sei, mit Sitz am Gendarmenmarkt. Er hoffe, dieser könne seinen Sohn für eine Tätigkeit in der DDR bei den Sowjets „anfordern“, um dessen Entlassung zu beschleunigen. Im späteren Bericht über diese „Audienz“ konnte er allerdings keinen Erfolg vermelden. Wittbrodt habe ihm erklärt, dass sie „in ihrem beschränkten Kreis der Akademie keinen Einfluss“ auf die Rückkehr von Spezialisten hätten, obwohl die Akademie Physiker gut gebrauchen könne.71 Am 22. November 1953 riet der Vater dem Sohn zu versuchen, in die DDR zurückzukehren und nicht in die Bundesrepublik. „Du hast schon recht, man wartet nicht gerade auf Dich, aber Du müsstest erst mal versuchen, die Grundstücke zu veräußern.“ Es handelte sich um zwei Einfamilienhäuser in Berlin-Machnow bzw. Berlin-Teltow, die er zur besseren Geldanlage auf Wunsch des Sohnes gekauft hatte.72 […] „Du müsstest auf alle Fälle erst einmal einige Zeit in einem volkseigenen Betrieb tätig sein. Dass es sehr eintönig dort ist, weiß ich seit langem.“ Von der Aufnahme einer Hypothek, um die laufenden Kosten der Immobilien bestreiten zu können, riet der Vater vehement ab. Nach der Rückkehr verkaufte der Sohn die Häuser bald, „da wir ja in Dresden wohnten. Der von mir gewünschte Kauf resultierte aus der Befürchtung, mein Geld auf der Sparkasse infolge der von uns als instabil eingeschätzten politischen Verhältnisse im geteilten Deutschland zu verlieren. Wie sich zeigte, war diese Einschätzung falsch. Tatsächlich habe ich durch Kauf und Verkauf nur Geld verloren.“73 Am 17. Januar 1954 deutete Gustav Hartmann seinem Sohn Werner gegenüber an, warum dieser nach der Rückkehr nicht bei ihm in Westberlin wohnen könne. Natürlich würde er dem Sohn und dessen Familie genügend Wohnraum zur Verfügung stellen können und auch gern wollen. Aber: „Du darfst gar nicht hier wohnen und arbeiten, Du musst doch in der DDR oder im Ostsektor arbeiten. Du hörst doch Nachrichten, da müsstest Du eigentlich wissen, was hier los ist. Ich glaube, Du weißt nicht, was hier los ist.“ Damit spielte der Vater offensichtlich auf die Folgen des Aufstandes vom 17. Juni 1953 an. 71  Vgl.

Brief von Gustav Hartmann an seinen Sohn Werner vom 18. Oktober 1953. Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1945–1955, Teil F, Bl. 115.

72  Nachlass, 73  Ebd.

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D. Stalins Bombe

Abb. 15: Lilo und die Töchter warten auf das Ende der Internierung.

Zu diesen Folgen gehörte auch die Aufwertung der Ostmark zum 1. November 1953. Statt bisher 0,8319 Mark für einen Rubel gab es plötzlich nur noch 0,5556 Mark, was für Irritationen unter den Internierten angesichts ihrer bevorstehenden Rückkehr sorgte. Mit Billigung der Sowjetunion setzte der Ministerrat für die DM-Ost per Dekret einen Goldgehalt von 0,399902 Gramm fest. Der Goldgehalt der DM-West war vom Internationalen Währungsfonds dagegen mit 0,211588 Gramm festgelegt worden.74 Einen kleinen Trost bedeutete es für den Vater, als er dem Sohn am 14. August 1954 mitteilen konnte, dass er ein Schreiben vom Ministerium des Innern erhalten habe, „ab sofort bis zu Deiner Rückkehr jeden Monat 30 Mark bei der Notenbank umtauschen zu können“. Obwohl es nicht viel sei, habe er sich „aber doch gefreut und am nächsten Tag gleich geholt“. Für 74  Vgl. Gries, Rainer: Die Mark der DDR. Eine Kommunikationsgeschichte der sozialistischen deutschen Währung, Erfurt 2003, S. 21.



IV. Der Alltag im „goldenen Käfig“93 Tabelle 12 Inhaltsverzeichnis des Pakets 20 Packungen mit Tabletten 2,5 kg Schlackwurst

120,00 M 45,00 M

2 Glas Aprikosenkonfitüre

2,80 M

1 Dose gekochter Schinken

5,00 M

2 Kartons Marzipan

5,00 M

3 Tafeln Schokolade

18,60 M

5 Tüten Bonbons

24,00 M

Zollgebühren bei Intourist

43,11 M

Porto

8,45 M

eine DM-Ost erhielt er tatsächlich eine DM-West! „Mit Briefmarken“, so der Vater mit einem Anflug von Ironie, „kannst Du bald ein kleines Geschäft anfangen.“ Bis zum Ende der Internierung sandte Gustav Hartmann dem Sohn Lebensmittel und die aus seiner Sicht unverzichtbaren Tabletten. So auch Mitte Mai 1954 (Tabelle 12). „Mit 292 Mk der Deutschen Notenbank habe ich Dich belastet“, schrieb dazu der Vater. Das Warten des Vaters auf die Rückkehr des Sohnes mit Frau und Töchtern nach Deutschland auf der einen und die Ungewissheit des Sohnes, wann endlich auch er die Koffer packen könnte, auf der anderen Seite wurden durch einen Zugewinn an Freiheit ein wenig gelindert. Der Familienurlaub mit dem eigenen PKW, einem Moskwitsch, sowie eine Schwarzmeerkreuzfahrt waren die tragenden Themen der Korrespondenz des zweiten Halbjahres 1954. Am 18. Oktober 1954 gesteht der Vater, mehr ausgegeben zu haben, als Werner ihm eingeräumt hat. Um das auszugleichen, wolle er u. a. seinen Gehpelz für 50 Mark verkaufen. Trotz allen Bemühens um eine sparsame und bescheidene Lebensführung gelinge es leider nicht immer, mit 400 Mark im Monat auszukommen. Es wäre wohl besser gewesen, räumt er ein, nach dem Tod von Werners Mutter allein gelebt zu haben. „Man hat alles verkehrt gemacht, aber nun ist es zu spät.“ Selbst den Vorgarten habe er in diesem Sommer nur „ganz spärlich bepflanzt“. Ein wenig Stolz klingt durch, wenn er bemerkt: „Meine Else hat dauernd gemeckert, aber ich habe mich nicht beeinflussen lassen.“

94

D. Stalins Bombe

Abb. 16: Tochter Sylvelie und der Moskwitsch vor dem Finnenhaus.

Im Abstand von nur vier Wochen musste Gustav Hartmann seiner Schwiegertochter die traurige Botschaft von Ableben ihrer Pflegeeltern senden. Am 17. Oktober 1954 kondolierte er anlässlich des Todes „ihrer Ziehmutter, die am Freitag auf dem Matthiasfriedhof bestattet“ worden sei. Am 18. November 1954 teilte er den Tod des Ziehvaters mit, der am 14. November verstorben sei. Für die „vorzeitige“ Rückkehr von Gustav Hertz „vor allen seinen Mitarbeitern“ vermochte Gustav Hartmann keinerlei Verständnis aufzubringen, wie er am 8. Dezember 1954 dem Sohn mitteilte. Daraufhin erklärte dieser, dass man Hertz vorzeitig freigelassen habe, damit er „mittels eines Telegramms an die UNO bzw. den Weltfriedensrat ein Atomverbot“ fordern konnte. Da man in der DDR „keine Leute von Ruf hat“, habe man Hertz dafür gewinnen müssen. Der letzte Brief des Sohnes aus Suchumi trägt das Datum vom 30. Dezember 1954. Hartmann gehörte nicht zu den deutschen Wissenschaftlern, die für ihre Leistungen im sowjetischen Projekt „Atomnaja Bomba“ besonders hohe Auszeichnungen erhielten. Am 7. Oktober 1954 bekam er lediglich eine Ehrenurkunde „für erfolgreiche Arbeit und persönliche Initiative bei der Erfüllung der Arbeitsaufgaben“. Darüber hinaus hatte er eine Einladung zu den Maifeierlichkeiten des Jahres 1955 nach Moskau erhalten. Den Platz Nr. 6 auf der rechten Tribüne an einem genau festgelegten Punkt am Ufer der Moskwa konnte er aber nicht mehr einnehmen, da er inzwischen wieder in



IV. Der Alltag im „goldenen Käfig“95

Abb. 17: Das Wiedersehen in Leipzig im April 1955, Sylvelie (2. v. l.).

Deutschland leben durfte. Diese Einladung (Propusk), eine kleine farbige Karte aus festem Karton, hat er jedoch sein Leben lang aufbewahrt. Als Weichenstellung für eine Zukunft als selbstständiger Unternehmer in der DDR ist der Vertrag mit Manfred von Ardenne vom 29. Oktober 1953 anzusehen, in dem beide vereinbarten, spätestens ein Jahr nach ihrer Rückkehr gemeinsam eine Fabrik für elektronenphysikalische, ionenphysikalische und vakuumtechnische Geräte und Anlagen zu gründen. Die Anteile an diesem Unternehmen sollten zwischen Ardenne und Hartmann im Verhältnis von 2:1 aufgeteilt werden, unabhängig davon, ob Dritte zur Finanzierung herangezogen werden müssten.75 Aufgrund seiner exzellenten Russischkenntnisse musste ihr Vater mit seiner Familie bis zuletzt in Agudseri als Dolmetscher zur Verfügung stehen, erklärte Tochter Sylvelie. Sie spricht auch heute noch von einer glücklichen Kindheit am Schwarzen Meer, mit deutschen und russischen Freundinnen, Kinder- und Familienfesten sowie einer Schule, in die sie gern ging. Als sie dann endlich auch in Leipzig eintrafen, seien die früher angekommenen Frauen vollständig neu eingekleidet und mit neuen Haarfarben und Frisuren ausgestattet gewesen. Die ersten Eindrücke in Leipzig und Dresden haben sie regelrecht überwältigt, vor allem das über Nahrungsmittel hinausgehende Warenangebot in den Geschäften. Sie habe nicht geglaubt, dass so viel Wohl75  Vgl.

BStU Ast. Dresden, Abt. XVIII-835, Bd. I, Bl. 93 f.

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D. Stalins Bombe

stand noch zu toppen sei. Der erste Besuch beim Großvater in Westberlin belehrte sie rasch eines Besseren. „Dort war schon allein der Duft betörend.“76 Bis zum Tod im Jahre 1957 unterstützte Hartmann seinen Vater und setzte die finanziellen Zuwendungen an dessen zweite Ehefrau Else bis 1963 fort.

V. Später Rückblick und atomares Patt Neben Werner Hartmann hatten noch zahlreiche weitere Wissenschaftler aus dem Projekt „Atomnaja Bomba“ Dresden als künftigen Lebens- und Schaffensmittelpunkt gewählt. Darüber hinaus zog der Aufbau der Luftfahrtindustrie die ebenfalls aus der Sowjetunion zurückgekehrte Elite dieser Disziplin um Brunolf Baade in die Stadt. Während die Serienproduktion von Passagiermaschinen des Typs IL-14 und vor allem die Entwicklung des strahlgetriebenen Mittelstreckenpassagierflugzeugs mit der Typenbezeichnung „152“ zum ersten Prestigevorhaben der DDR-Wirtschaft stilisiert wurden, mussten sich die Atomphysiker mit einem Versuchsreaktor in Rossendorf bei Dresden und Lehrstühlen an der Technischen Hochschule begnügen. Aber nicht nur das, ebenso wie Manfred von Ardenne, Heinz Barwich, Ludwig Bewilogua, Helmuth Faulstich, Heinz Pose, Joseph Schintlmeister und Gustav E. R. Schulze hielt es auch Werner Hartmann für geboten, zurückhaltend mit der Preisgabe von Details ihrer Tätigkeit in der Sowjetunion umzugehen. In seinen Memoiren spielte Hartmann den Beitrag der deutschen Physiker und Ingenieure zur Entwicklung der sowjetischen Atombombe herunter: „Entscheidend haben alle Arbeiten der Deutschen sicher nicht zum Entstehen der sowj. Atombombe beigetragen, aber sie lieferten notwendige Ergebnisse.“ Obwohl „alle, auch wir“, überrascht gewesen seien, als die erste Testexplosion im September 1949 bekannt wurde, konstatierte er nüchtern: „Die UdSSR hatte einen großen Schritt vorwärts zum Abbau des USA-Vorsprungs gemacht.“77 Dieser „große Schritt“ löste das Jahrzehnte fortdauernde Wettrüsten aus, dem die Sowjetunion am Ende nicht gewachsen war, was Hartmann leider nicht mehr erleben sollte. Nur am Rande sei vermerkt, dass er als Spezialist für Messtechnik sich schon damals nicht wirklich für die Konstruktionsprinzipien von Atombomben interessierte, wie aus der Bemerkung hervorgeht, dass die erste sowjetische Bombe „wohl einen Plutoniumzünder“ hatte. Auf eine tiefer lotende Reflexion seines Mitwirkens an der Herstellung des atomaren Patts der beiden Supermächte verzichtete er mit dem lapidaren 76  Zeitzeugeninterview 77  Nachlass,

Bl. 47–54.

mit Sylvelie Schopplich am 13.5.2020. Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1945–1955, Teil F,



V. Später Rückblick und atomares Patt97

Hinweis, dass die weitere schnelle Entwicklung der Kernenergie für militärische Zwecke in der UdSSR bekannt sei.78 1. Das atomare Patt Nicht nur aus historischer, sondern auch aus wissenschaftstheoretischer Sicht empfiehlt sich an dieser Stelle ein Blick auf das, was als „Gleichgewicht des Schreckens“ in die Geschichte eingegangen ist. Es sei noch einmal an die unterschiedliche Bewertung des Abwurfs der ersten Atombomben durch die Amerikaner auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki erinnert. Die herrschende Sichtweise in den USA rechtfertigt das Handeln der Militärs, das in der Tat zur Kapitulation Japans führte und den Tod weiterer amerikanischer Soldaten verhinderte. Die Zahl der Opfer in den beiden betroffenen Städten, übrigens in der Mehrzahl Zivilisten, wird mit mehr als 100.000 beziffert und in Japan noch heute als Kriegsverbrechen empfunden. Obwohl der Rüstungswettlauf nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine essenzielle Dominante der Systemauseinandersetzung darstellte, mündete keine der zahlreichen politischen Krisen in einen heißen Krieg zwischen der westlichen Verteidigungsallianz und den Staaten des Warschauer Vertrages. Auch kam es trotz einer ständig wachsenden Anzahl von Staaten mit nuklearem Potenzial zu keinem weiteren Einsatz dieser Massenvernichtungsmittel. Nicht nur Militärstrategen und Politiker, sondern auch nicht wenige Wissenschaftler unterschiedlicher Denkschulen sind deshalb von der friedensbewahrenden Kraft des nuklearen Patts überzeugt. Der Historiker Michael Salewski sprach vom Zwang der Menschen, mit der Tatsache leben zu lernen, dass „der buchstäbliche Welt- besser Planetenuntergang“ möglich wäre. Dieser Lernprozess dürfe nicht scheitern, „es sei denn, man vernichte sich selbst“. Dieser Zwang gebar das, „was man als die Philosophie der Abschreckung, besser: Dialektik“ bezeichnet habe. „Der Historiker“, so Salewski, müsse zum Zukunftsdeuter werden. „Ob er es kann, ist fraglich, aber er kann es versuchen.“79 Strategietheoretiker argumentierten häufig mit Erkenntnissen der Spieltheorie. Sie deuten das nukleare Patt als ein klassisches Gefangenendilemma, in dem die Akteure sich vor Gericht entscheiden müssen, entweder zu leugnen oder zu gestehen. Keiner weiß allerdings, welche Wahl der jeweils andere treffen wird. Den Gedanken, dass Weltpolitik, die Entscheidung zwischen nuklearem Inferno und Frieden, „spielerisch“ zu suchen und auch zu begründen ist, mag der eine oder andere nicht nur als unangemessen, sondern gera78  Vgl.

79  Brief

ebd. Michael Salewskis an den Autor vom 21.7.2008.

98

D. Stalins Bombe

dezu als makaber empfinden. Mit der Wahl von Donald Trump, von Januar 2017 bis Ende 2020 Präsident des mächtigsten Landes der Erde, hat das spielerische Element des Zockens nun jedoch für jedermann sichtbar Einzug in die große Politik gehalten. Nicht das nukleare Patt habe die Welt gerettet, erklärte hingegen Ende 2016 ein langjähriger strategischer Planer des Pentagon im Magazin „New Yorker“, sondern „Geschick, Glück und göttliche Intervention“, wobei Letztere vermutlich von ausschlaggebender Bedeutung gewesen sei.80 Für Atheisten könnte man es so formulieren: Ein nukleares Inferno ist nicht dank, sondern trotz des nuklearen Patts, also zufällig, bislang ausgeblieben. Bedurfte der Bau der Atombombe als Antwort des Westens auf die nationalsozialistische Bedrohung keiner weiteren Rechtfertigung, so verschaffte die These von der friedenserhaltenden Wirkung des nuklearen Patts allen an der Entwicklung immer verheerenderer Massenvernichtungsmittel Beteiligten das sprichwörtliche „reine Gewissen“.81 Am 11. Dezember 2008 griff das Dresdner Hannah-Arendt-Institut mit seinem traditionellen öffentlichen Hannah-Arendt-Forum diese Fragestellung auf. Unter der Überschrift „Hat das atomare Patt einen dritten Weltkrieg verhindert? Die Verantwortung des Wissenschaftlers im Jahrhundert totalitärer Diktaturen“ diskutierten der Träger des alternativen Nobelpreises Prof. Dr. Hans-Peter Dürr (München), der Historiker Prof. Dr. Michael Salewski (Köln) und die russische Historikerin und Kurtschatow-Biografin Dr. Raisa Kusnezowa (Moskau). „Diente die allseits akzeptierte These von der Frieden erhaltenden Wirkung des atomaren Patts möglicherweise vor allem der Rechtfertigung der Politik für die fortwährende Forcierung des Rüstungswettlaufs, den Wissenschaftlern und Ingenieuren für engagiertes Mittun?“, fragten die „Dresdner Neuesten Nachrichten“.82 Wer im Publikum eindeutige Antworten erwartet hatte, mag unzufrieden nach Hause gegangen sein. Allerdings gelang es den Disputanten, die Komplexität eines Problems zu veranschaulichen, das nicht allein durch sein Vernichtungspotenzial die Angst von Menschen schürt, sondern das nicht zuletzt infolge des Ineinandergreifens von politischen und ethisch-moralischen Aspekten unlösbar scheint. Als „nukleare Teilhabe der Bundesrepublik im Rahmen der NATO“ Jahrzehnte hindurch verharmlost, erreichte dieses Dilemma im Mai 2020 wieder einmal die 80  Vgl. Hemicker, Lorenz: Wie verhindert man heute einen unbeabsichtigten Atomkrieg? in: Frankfurter Allgemeine Quarterly, Ausgabe 02, Frühjahr 2017, S. 42 f. 81  Vgl. Barkleit, Gerhard: Stalins Jagd nach der Bombe: Spionage und Knowhow-Transfer als Beitrag deutscher Wissenschaftler zur Herstellung des atomaren Patts, in: Bartosch, Ulrich et al.: Verantwortung von Wissenschaft und Forschung in einer globalisierten Welt, Berlin 2011, S. 41-56. 82  Barkleit, Gerhard: Dresden und das nukleare Patt, Dresdner Neuste Nachrichten vom 8.12.2008.



V. Später Rückblick und atomares Patt99

aktuelle Politik. Der SPD-Ko-Vorsitzende Norbert Walter-Borjans erklärte, dass er „gegen Stationierung, Verfügungsgewalt und erst recht gegen den Einsatz von Nuklearwaffen“ sei und deshalb fordere, auf diese Fähigkeit künftig zu verzichten. Die notwendige Ausmusterung der Tornado-Jets der Luftwaffe könnte ein passender Anlass dafür sein. Walter-Borjans erntete Widerspruch aus unterschiedlichen politischen Lagern, begründet mit den allseits bekannten „alten“ Argumenten. Lediglich die Namen der wichtigsten Akteure sind neu. Sie hießen 2020 Wladimir Putin und Donald Trump.83 Wie so vielen der Akteure von damals hätte man auch Werner Hartmann die Frage stellen können: „Wozu brauchte Stalin unbedingt die Atombombe oder, neutraler formuliert, weshalb war es notwendig, das Atomwaffenmonopol des Westens zu brechen?“ In seinen Memoiren begnügte er sich mit der bereits zitierten „lapidaren Bemerkung“, dass die weitere Entwicklung von Kernwaffen in der UdSSR inzwischen, also Mitte der 1970er Jahre, allgemein bekannt sei. Nicht vergessen sollte man in diesem Zusammenhang jedoch, dass Hartmann zu den Unterzeichnern einer von blockpolitischen Implikationen keineswegs freien Dresdner „Erklärung gegen die Vorbereitung eines Atomkrieges auf deutschem Gebiet“ vom 14. April 1957 gehörte, die Manfred von Ardenne entworfen hatte. Neben den beiden Genannten unterschrieben auch die Professoren Barwich, Macke, Rexer, Schintlmeister und Westmeyer.84 Mit Ausnahme von Wilhelm Macke waren alle im sowjetischen Projekt „Atomnaja Bomba“ tätig gewesen. Diese Dresdner Erklärung erschien nahezu zeitgleich mit der weltweit Schlagzeilen machenden „Göttinger Erklärung“, die von 18 namhaften Physikern, wie Weizsäcker, Max Born, Otto Hahn, Werner Heisenberg, Max von Laue und Wolfgang Pauli, unterzeichnet wurde. Es war eine aufrüttelnde Reaktion auf die Presseerklärung des Bundeskanzlers vom 5. April 1957, in der Konrad Adenauer taktische Atomwaffen als „besondere normale Waffen“ verharmloste. Von den Unterzeichnern der Dresdner Erklärung kehrten Barwich und Macke später der DDR den Rücken. Barwich kam als Teilnehmer an der Genfer Konferenz „Atome für den Frieden“ im September 1964 nicht nach Dresden zurück. Macke konnte sich mit dem Bau der Berliner Mauer im Jahre 1961 und der damit verbundenen Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit nicht abfinden. Er erkrankte, stellte einen Ausreiseantrag und durfte 1968 zusammen mit seiner Frau in die Bundesrepublik ausreisen. Zwei Jahrzehnte später sollte Hartmann die Republikflucht Barwichs emotionslos reflektieren. „Wir waren gut befreundet“, erklärte er diese seit der Schulzeit bestehende Freundschaft. „Er hatte in Berlin-Steglitz die gleiche Schule wie 83  Vgl. Schuller, Konrad: Zwei Schlüssel zur Bombe, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 3.5.2020, S. 6. 84  Vgl. Barkleit, Manfred von Ardenne, S. 148.

100

D. Stalins Bombe

ich besucht“, einen Jahrgang über ihm. Später habe er „Physik an der TH Charlottenburg bei Hertz“ studiert.85 2. Persönliche Bilanz und (In-)Konsequenzen In der späten Bilanz seiner Jahre am Schwarzen Meer versuchte Hartmann, so scheint es zumindest, sich vom Projekt „Atomnaja Bomba“ zu distanzieren. „Wenn ich im Nachhinein überlege, was ich in den 10 Jahren der Arbeit in der UdSSR fachlich geleistet habe“, schreibt er, „so kann ich eindeutig feststellen: Ich habe in größtem Umfang moderne Elektronik gelernt.“ Nach dem Krieg, so fährt er fort, seien die Impulse, „ausgelöst durch die militärische und friedliche Entwicklung der Kernenergie, nicht von Elektrotechnikern, sondern von Physikern“ gekommen.86 Damit erklärt er einerseits die Entwicklung von Kernwaffen zu einer Quelle für Innovationen, wie den Bau von Atomkraftwerken, und behauptet andererseits, dass nicht mehr die Elektrotechniker die impulsgebenden Köpfe gewesen seien, sondern die Physiker. Wenn dem so gewesen wäre, bliebe immer noch die Frage: Wie ordnet er sich selbst ein? Es gab für ihn nachvollziehbare Gründe, eine gewisse Distanz zur Atombombe herzustellen. Moskaus nachholende militärische Modernisierung mit Hilfe deutscher Technologie und deutscher Spezialisten erfolgte nicht nur auf dem ethisch-moralisch besonders heiklen Gebiet der nuklearen Rüstung, sondern auch im Flugzeug- und Raketenbau. Seit 1941 arbeiteten mehrere deutsche Hersteller an der Entwicklung von Überschallflugzeugen. Die in Peenemünde entwickelten Raketen, auf Anweisung von Hitler als „V-2“ zu bezeichnen, schlugen in London ein.87 Während man den deutschen Flugzeugbauern, erst recht ohne Zweifel den Raketenentwicklern, attestieren kann, die Weltspitze mitzubestimmen bzw. diese zu verkörpern, so gilt das nicht für die Mitwirkenden am Bau der sowjetischen Atombombe. Diese erprobten sich bei Stalins Jagd nach der Bombe im nachholenden Erfinden, was ironischerweise später ausgerechnet denen zugutekam, die nach der Internierung ihren Lebensmittelpunkt in der DDR fanden. Bis zum Ende ihres Berufslebens waren sie vergeblich darum bemüht, den vom SED-Chef Walter Ulbricht gewiesenen Irrweg des Überholens ohne einzuholen erfolgreich gehen zu können. Hartmann, als zunächst sehr erfolgreicher Hochschullehrer und Manager in der vom Mangel geprägten Zentralplanwirtschaft, hätte sich ver85  Nachlass,

68 f.

86  Ebd.,

Technische Sammlungen Dresden, 1961–1974, Teil H (AMD), S. H

Ordner 1945–1955, Teil F, Bl. 71. Miranda, Josef/Mercado, Paula: Die geheimen Wunderwaffen des III. Reiches, München 2002, S. 79. 87  Vgl.



V. Später Rückblick und atomares Patt101

mutlich gegen eine solche Etikettierung gewehrt. Und dennoch lässt sich sein weiteres tragisches Schicksal recht gut in solch ein plakatives politischideologisches Bild einpassen. Die Auswirkungen der Überformung wissenschaftlicher Debatten in der Sowjetunion durch die Dominanz einer als wissenschaftliche Weltanschauung daherkommenden Ideologie des Marxismus-Leninismus blieben Hartmann keineswegs verborgen. Als Beispiele nannte er selbst Kybernetik, Quantentheorie und Relativitätstheorie sowie die mit dem Namen Lyssenko verbundene These von der „Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften“.88 Für ihn war Lyssenko ein Scharlatan und zumindest mitverantwortlich für den „Selbstmord des Biologen Wawilow“, so zumindest die offizielle Todesursache. Trofim Denissowitsch Lyssenko war ein Agrarwissenschaftler, der unter Stalin großen politischen Einfluss erlangte. Seine Theorie, nach der die Eigenschaften von Lebewesen nicht durch Gene, sondern durch Umweltbedingungen bestimmt werden, war wissenschaftlich unhaltbar und widersprach den zu Lyssenkos Zeiten bekannten Grundlagen der Genetik. Einige seiner Forschungsergebnisse wurden als Fälschungen entlarvt. Nikolai Iwanowitsch Wawilow hingegen war ein international hochangesehener russischer Botaniker, Genetiker und Forschungsreisender. Am 6. August 1940 wurde er im Rahmen der politischen Repressionen in der Stalin-Ära verhaftet, seiner Ämter enthoben und am 19. Juli 1941 zum Tode verurteilt. Im Juni 1942 wurde er zu zwanzig Jahren Freiheitsentzug begnadigt. Er starb am 26. Januar 1943 im Gefängnis von Saratow. Die SED übernahm das sowjetische System der Indoktrination von Wissenschaft und Bildung, praktizierte es jedoch in abgeschwächter Form. Im Zuge der Ideologisierung der Hochschulen wurden moderne naturwissenschaftliche Erkenntnisse zunächst als bürgerlich-dekadent eingestuft. Das betraf, wie Kurt Reinschke schreibt, „insbesondere die Relativitätstheorie, die nichtlineare Systemtheorie und die Kybernetik“. Letztere sei „um 1950 als eine neue Wissenschaft der Obskuranten diffamiert worden“.89 Darüber hinaus wurde mit der 1951 einsetzenden II. Hochschulreform das marxistisch-leninistische Grundlagenstudium für alle Fachrichtungen verpflichtend eingeführt. Wie konnte Hartmann diese „Zeichen der Zeit“ übersehen? Oder glaubte er, dank seiner in der Sowjetunion erworbenen Meriten und seines Engagements in Dresden gegen ideologisch gegründete Anfeindungen immun zu sein? 88  Nachlass, Technische

Sammlungen Dresden, Ordner 1945–1955, Teil F, Bl. 111 f. Kurt: Kriegsende und Wiederbelebung des Hochschulbetriebs in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), in: Sächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Die Ideologisierung der sächsischen Hochschulen von 1945 bis 1990, Dresden 2015, S. 38–40. 89  Reinschke,

E. Der wissenschaftlich-technische Industriebetrieb VEB Vakutronik I. Als Netzwerker und Unternehmensgründer in Dresden 1. Gelungener Start in Dresden Nicht nur für Hartmann, sondern für viele seiner ehemaligen Kollegen erwies sich die Mitwirkung an Stalins Jagd nach der Atombombe als Ausgangspunkt einer steilen Karriere in der DDR. Der Chemiker Max Volmer, zwei Jahre älter als Hertz, avancierte unmittelbar nach seiner Rückkehr aus der Sowjetunion zum Präsidenten der Deutschen Akademie der Wissenschaften (DAW). Heinz Barwich, 1953 mit dem Stalinpreis ausgezeichnet, wurde 1956 zum Direktor des Zentralinstituts für Kernforschung der Akademie der Wissenschaften in Rossendorf bei Dresden berufen. Gleichzeitig ernannte ihn die Technische Hochschule Dresden zum Professor mit Lehrauftrag für Kerntechnik. 1959 erhielt er einen Nationalpreis. Von 1961 bis zum Verlassen der DDR im Jahre 1964 übte er darüber hinaus das Amt eines Vizedirektors des Vereinigten Instituts für Kernforschung in Dubna bei Moskau aus. Ludwig Bewilogua baute die Arbeitsstelle für Tieftemperaturphysik der Akademie der Wissenschaften auf und lehrte dieses Spezialgebiet auch als Professor an der Technischen Hochschule Dresden. Er wurde 1966 mit dem Nationalpreis geehrt. Werner Hartmann dokumentierte den gelungenen Start in Dresden auf seine Weise, nämlich wie schon zu Beginn des Zweiten Weltkrieges durch die akribische Führung eines Tagebuchs. Er legte es am 9. April 1955, wenige Tage nach seiner Ankunft in der DDR, an und führte es bis zum 26. August 1959. Nur sechs Tage nach seiner Rückkehr in die DDR am 2. April 1955 fuhr Hartmann mit dem Taxi von Leipzig nach Dresden, wo er im Hotel „Astoria“ abstieg. Am folgenden Tag fand eine erste Besprechung mit Manfred von Ardenne und dessen engstem Mitarbeiter, Johannes Richter, in Ardennes Wohnhaus auf der Plattleite statt. Es galt, das ins Werk zu setzen, was beide am 29. Oktober 1953, noch am Schwarzen Meer, vereinbart hatten. Die bereits erwähnte „Vorläufige Vereinbarung“ verpflichtete beide, spätestens ein Jahr nach ihrer Rückkehr gemeinsam eine Fabrik für elektronenphysikalische, ionenphysikalische und vakuumtechnische Geräte und Anlagen zu



I. Als Netzwerker und Unternehmensgründer in Dresden103

gründen.1 Nun wogen sie Vor- und Nachteile eines Angebots von Oberbürgermeister Walter Weidauer ab, eine Ruine auf dem Grundstück Dornblüthstraße 11/13 für diesen Zweck auszubauen. Hartmanns finanzielle Situation erlaubte es, in solche Planungen den Einsatz privater Mittel ernsthaft in Erwägung zu ziehen, denn neben den beiden Einfamilienhäusern in Berlin besaß er „auf Sparkonten der Berliner Sparkasse, Alexanderplatz, ein Vermögen von 75.000 M“.2 Manfred von Ardenne hatte mit dem Passieren der polnisch-deutschen Grenze bereits am 23. März das Gebiet der DDR erreicht. Dank eines generalstabsmäßig organisierten Umzugs seiner Familie und seines Instituts von Sinop nach Dresden fand er sofort „geordnete Verhältnisse“ vor, die es ihm erlaubten, Werner Hartmann vorübergehend Räume für ihn und seine Mitarbeiter zur Verfügung zu stellen, wie folgender Tagebucheintrag belegt: „MvA stellt in seinem Haus Leonhardistraße 2 Zimmer für mich und meine 8 Mitarbeiter zur Verfügung (darunter Eckhardt, Bernhard, Hoenow, Sägel, Uhlmann, Will).“3 Bereits am 12. April nahm Hartmann zum ersten Mal an einer Beratung beim Oberbürgermeister Walter Weidauer teil. Zwei Tage darauf wird er davon in Kenntnis gesetzt, dass für sein Vorhaben statt der Dornblüthstraße 11/13 die Ruine Dornblüthstraße 15 aufgebaut werde, die sich im Besitz von General Papers befand, der in Brüssel lebte. Am gleichen Tag überbrachte ein Mitarbeiter des ZK der SED die Einladung zu einem Empfang durch Ulbricht am 16. April im Gebäude der Arbeiter- und Bauernfakultät (ABF) der TH Dresden am Weberplatz und zur Teilnahme an der Reise einer Regierungsdelegation nach Moskau. Am 19. April startete die von Prof. Rompe geleitete Delegation in Berlin, um in Moskau Verhandlungen über die Lieferung eines Reaktors und eines Zyklotrons zu führen. Ein Besuch der Stadt Leningrad und die Teilnahme an der Maifeier in Moskau, wo die Deutschen auf der Tribüne am Lenin-Mausoleum Platz nehmen durften, rundete diese Reise ab. Auf diese Weise konnte Werner Hartmann nun doch noch an der Maifeier teilnehmen, zu der er vor Monaten eingeladen worden war – wahrscheinlich sogar in größerer Nähe zum Parteichef Chruschtschow. Nach dem Rückflug am 2. Mai fand ein Empfang bei Max Volmer statt, dem Präsidenten der Deutschen Akademie der Wissenschaften. Dabei ergab sich ein Gespräch mit Walter Ulbricht über den Aufbau des später „Vakutronik“ genannten Unternehmens. „In den Unterredungen mit W. U.“, so sollte er später bilanzieren, „gewann ich einen Barkleit, Manfred von Ardenne, S. 168. Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1945–1955, Teil F, Bl. 38 f. 3  Ebd., Zeitraum 1955–1961, Tagebuch. 1  Vgl.

2  Nachlass,

104

E. Der Industriebetrieb VEB Vakutronik

ganz anderen, viel positiveren Eindruck von ihm, seiner Art, seinen Kenntnissen als dies bisher durch Lesen seiner Reden bei öffentlichen Anlässen geschah. Dieser Eindruck blieb auch später weiter bestehen.“4 An anderer Stelle seiner Memoiren ergänzte er die Worte Ulbrichts bei diesem Empfang: „Ulbricht sagte auch: ‚Führen Sie ihre Erfahrungen aus der Arbeit in der UdSSR in der DDR ein! Dies hilft uns schneller vorwärts. Seien Sie dabei mutig!‘ “5 Zurück in Dresden, fand am 17. Mai die „erste Besprechung am Ardenne­ schen runden Marmortisch“ statt. Dort wurde vereinbart, einen Brief an den stellvertretenden Innenminister General Rudolf Menzel mit der Bitte zu ­schreiben, Werner Schauer, einen Mitarbeiter des Ministeriums des Innern, als hauptamtlichen Organisator/Beschaffer freizustellen.6 Der in Berlin-Zehlendorf bei der Kreisel-Geräte GmbH als Feinmechaniker und Ingenieur beschäftigte Schauer hatte in sowjetischer Gefangenschaft eine Antifa-Schule absolviert und leitete bis 1955 u. a. die Außenstelle Leipzig des Ministeriums des Innern der DDR.7 Am 24. August rief von Ardenne bei Hartmann an und erklärte, dass er Wert auf die Aufnahme seines und Hartmanns Namen in die Betriebsbezeichnung lege. „Ich lehne ab“, schreibt er in sein Tagebuch. Am 8. September sollte Ardenne immerhin „der von mir vorgeschlagenen Regelung als wiss. Direktor unter mir“ zustimmen. Die in den beiden Wörtchen „unter mir“ zum Ausdruck kommende Genugtuung ließ ihn übersehen, dass Ardenne sein Leben lang niemals „unter“ jemandem gearbeitet hat. Das Scheitern dieser Konstruktion war vorhersehbar. Über alle diese gewiss nicht einfachen und vertraulichen Gespräche war das MfS durch seine Inoffiziellen Mitarbeiter stets bestens informiert.8 Ein reichliches Jahrzehnt danach sollte Ardenne seinem ursprünglichen Kompagnon freundlich attestieren, dass sich unter dessen „tatkräftiger Leitung“ ein „sehr bedeutendes Industriewerk“ ent­ wickelt habe.9 2. Das Ringen um Namen und Profil des neuen Unternehmens Um den Namen des zu gründenden Unternehmens gab es allerdings immer wieder kontroverse Diskussionen zwischen den beiden Gründern. Einerseits 4  Nachlass,

Zeitraum 1955–1961, Abschnitt G: VEB Vakutronik, Tagebuch. S. 133. 6  Vgl. ebd., Tagebuch. 7  Vgl. Buthmann, Reinhard: Versagtes Vertrauen. Wissenschaftler der DDR im Visier der Staatssicherheit, Göttingen 2020, S. 376 f. 8  Vgl. ebd., S. 376–384. 9  Ardenne, Ein glückliches, S. 227. 5  Ebd.,



I. Als Netzwerker und Unternehmensgründer in Dresden105

galt es für Hartmann zum ersten Mal in seiner beruflichen Laufbahn, Entscheidungen von großer Tragweite zu treffen, nämlich das Entwicklungs- und Produktionsprofil eines Unternehmens zu bestimmen, für das es kein Vorbild gab. Dazu brauchte er den erfahrenen Manfred von Ardenne. Andererseits strebte er, getreu seinem früher einmal formulierten Anspruch, „keine kleine Null in einem Großbetrieb“ sein zu wollen, nach der alleinigen Führungsverantwortung. Das bedeutete, Distanz zu Ardenne herzustellen. Nach langen Diskussionen erklärte jener schließlich, „mit jeder Entscheidung des Ministers Stoph einverstanden zu sein“, notierte Hartmann am 8. Oktober 1955 in seinem Tagebuch. Die endgültige Entscheidung zugunsten von Hartmanns Konstrukt „Vakutronik“ fiel am 3. November in einem Dreier-Gespräch bei Willi Stoph.10 Es ist jedoch nicht völlig auszuschließen, dass Ardennes Strategie zu einem weiteren wissenschaftlich-technischen Privatunternehmen in der DDR hätte führen können. Was hätte es wohl für die Entwicklung der Silizium-PlanarTechnologie in der Mikroelektronik der DDR bedeutet, wenn Hartmann, statt diese zu entwickeln, Anfang der 1970er Jahre all seine Energie darauf hätte richten müssen, einen privaten Messgerätehersteller vor der Verstaatlichung zu bewahren? Ein Kunststück übrigens, das Ardenne gelang. Noch bevor der Name feststand, wurde Hartmann am 14. Oktober mit Karl-Heinz Berthold der für sein Unternehmen zuständige Offizier der Bezirksverwaltung Dresden des MfS vorgestellt. Am 19. Oktober fand die erste Leitungssitzung statt. Den offiziellen Arbeitsbeginn des VEB Vakutronik datierte Hartmann in seinem Tagebuch auf den 1. April 1956. Entgegen der ursprünglichen Absicht des Tandems Ardenne/Hartmann wurde der potenzielle Hersteller von kernphysikalischer Messtechnik nicht als privates Unternehmen, sondern als volkseigener Betrieb Wirklichkeit. Am 31. Januar 1956 verfügte Hartmann bereits über 19 Mitarbeiter, die ihm zum 44. Geburtstag gratulierten. Ende März 1956 reiste er erneut in die Sowjetunion, um an den Gründungsfeierlichkeiten des Vereinigten Instituts für Kernforschung in Dubna bei Moskau teilzunehmen. Wenige Tage später, am 4. Mai, besuchte Walter Ulbricht zusammen mit hochrangigen Mitgliedern der Partei- und Staatsführung die Neugründung. Zu seinem Tross gehörten, wie Hartmann festhielt, u. a. der stellvertretende Vorsitzende des Ministerrats Willi Stoph, der Sekretär für Wirtschaft des ZK der SED Gerhart Ziller sowie Friedrich Zeiler, der Leiter der Abteilung Technik im ZK.

10  Vgl.

buch.

Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Zeitraum 1955–1961, Tage-

106

E. Der Industriebetrieb VEB Vakutronik

Abb. 18: Unterzeichner der Glückwunschkarte zum 44. Geburtstag des Chefs.

Der „wissenschaftlich-industrielle Betrieb“ Vakutronik sollte nach Hartmanns Verständnis ein Unternehmen sein, das „einen hohen Anteil wiss.technischen Entwicklungspersonals an der Gesamtbelegschaft aufwies und in der Lage war, neue Geräte nach zügiger Entwicklung in schneller Überleitung kurzfristig in Klein- und Mittelserien zu fertigen“. Ein wichtiger ökonomischer Grundsatz dieses Konzepts bestand in der Betonung „der gesamtvolkswirtschaftlichen Rentabilität gegenüber der betrieblichen Rentabilität“.11 Erstmals sei dieses ökonomische Konzept bei der Entwicklung und Produktion des „Szintiscanners“ für die Diagnose der Schilddrüse mit einer Stückzahl von nur zehn Exemplaren praktiziert worden. Kein Anwender aus dem Bereich des Gesundheitswesens wäre bereit gewesen, einen kostendeckenden Preis zu zahlen. Den „ökonomischen Wert eines medizinisch-diagnostischen Gerätes“ könne man ohnehin „kaum einschätzen“, argumentierte Hartmann gegenüber den entscheidenden staatlichen Institutionen und verlangte, „dass in bestimmten Fällen einem wiss.-industriellen Betrieb andere finanziell-technische Möglichkeiten eingeräumt werden müssen“.12 Im Rückblick erinnerte sich Hartmann, dass ihn bereits Monate vor der offiziellen Gründung von Vakutronik, nämlich am 28. Mai 1955, die erste Bewerbung auf eine Mitarbeiterstelle erreichte, und zwar von einem 22 Jahre alten Starkstrom-Ingenieur namens Petter. Am 9. Juni stellte er die ersten Mitarbeiter ein, die von Zeiss-Ikon freigestellt worden waren. Er erinnerte 11  Ebd., Abschnitt G: VEB Vakutronik, S. 130. Anm. d. Verf.: Hervorhebung im Original durch Unterstreichung. 12  Ebd., S. 132.



II. Die ersten Konflikte107

sich an einige wenige namentlich, so an den Feinmechaniker und Ingenieur Schauer, Herrn S. Apelt und Frau Schirdewan. Schauer wurde stellvertretender Direktor und bespitzelte als Inoffizieller Mitarbeiter unter dem Decknamen „Karl Wagner“ seinen Chef.13 Auch sein Kraftfahrer, der SED-Genosse Schlesier, berichtete zuverlässig unter dem Decknamen „Zündkerze“ an das MfS.14 Am 27. Juni bewarb sich Fräulein Gertraude Hentschel als Sekretärin, „sie wurde von Elsa Suchland geschickt“, der langjährigen Chefsekretärin Manfred von Ardennes, steht im Tagebuch. Er stellte sie ein. Am 17. August sei endlich sein Gehalt festgesetzt worden, auf 8.000 Mark monatlich. Den Einzelvertrag überreichte ihm der Leiter des Amtes für Kernforschung und Kerntechnik, Prof. Rambusch, am 12. Dezember persönlich.

II. Die ersten Konflikte 1. Die „Abnabelung“ von Manfred von Ardenne Obwohl Manfred von Ardenne offiziell lediglich der Status eines Beraters – mit der nicht unerheblichen monatlichen Vergütung von 5.000 Mark – eingeräumt wurde, richtete Hartmann ihm ein Arbeitszimmer und zwei Laboratorien in der Dornblüthstraße ein. In einem der beiden Labore erfolgte die Entwicklung des magnetischen Isotopentrenners sowie der DuoplasmatronIonenquelle, im anderen entstand der Präzisionsoszillograph. „Damals übersah ich nicht, was ich mir eingehandelt hatte“, räumte er später ein.15 Zunächst sei er mit der Ardenne’schen Aufgabenstellung „sehr zufrieden gewesen“, denn „für einen Betrieb stark ausgeprägter Wissenschaftlichkeit hielt ich es für richtig und im Interesse der Volkswirtschaft auch für erforderlich, komplizierte Geräte in kleinen Stückzahlen zu bauen“.16 Der Staatsauftrag an den VEB Vakutronik beinhaltete zehn Präzisionsoszillographen, zehn Ionenquellen und zwei Isotopentrenner und wurde nur teilweise erfüllt. „Von der Ionenquelle Duoplasmatron, deren Prinzip“, wie Hartmann anerkennend festhielt, „sehr intelligent überlegt war, wurde nicht ein einziges Stück verkauft.“17 Das Duoplasmatron war in der Tat „sehr intelligent überlegt“, denn diese Ionenquelle wird auch heute noch eingesetzt, u. a. auch im weltweit größten Forschungszentrum für Teilchenphysik, dem CERN. Von Buthmann, Versagtes Vertrauen, S. 377. ebd., S. 394. 15  Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Zeitraum 1955–1961, Abschnitt G: VEB Vakutronik, S. 37. 16  Ebd. 17  Ebd. 13  Vgl. 14  Vgl.

108

E. Der Industriebetrieb VEB Vakutronik

den zehn gefertigten Präzisionsoszillographen wurde ein einziger verkauft, zum Preis von 80.000 Mark an den Neuropsychologen Prof. Baumann in Berlin-Buch. Neun Geräte bzw. deren Einzelteile seien verschrottet worden. Die beiden Isotopentrenner gingen zu Prof. Mühlenpfordt an das Institut für physikalische Stofftrennung in Leipzig. Sie seien beide in Betrieb genommen worden. Er habe allerdings niemals mehr etwas von ihnen gehört, allerdings auch nicht nachgefragt. „Denn ich war froh, sie und damit MvA [Manfred von Ardenne, Anm. d. Verf.] los zu sein.“18 Alles andere als reibungslos verlief auch die etwa zwei Jahre währende Entwicklung des Präzisionsoszillographen. Das Gerät bestand aus etwa 1.500 Einzelteilen, Schrauben und Muttern mitgezählt, und der Konstrukteur Jäger vom Forschungsinstitut Manfred von Ardenne habe rund 2.000 Konstruk­ tionsänderungen geschickt. Die Entscheidung, bereits in der Frühphase der Geräteentwicklung alle zehn Geräte gleichzeitig zu produzieren, und damit nicht nur einen Prototyp ändern zu müssen, hatte aber Hartmann getroffen und nicht Ardenne. Er war also selbst für die zahlreichen Verschrottungen und finanziellen Verluste verantwortlich. Dass er diese Verluste und das schlechte Klima zwischen seinen und Ardennes Mitarbeitern gegenüber den zuständigen Aufsichtsgremien ausschließlich Ardenne anlastete, ist mehr als nur ein Indiz dafür, dass er sich mit allen Mitteln von seinem Partner „ab­ nabeln“ wollte. Am 1. März 1957 teilte er Rambusch mit, dass Ardenne ihn überhaupt nicht entlaste. Er verlangte, die monatlichen Bezüge für die Beratertätigkeit von Ardennes rückwirkend zum 1. Januar von 5.000 auf 2.000 Mark monatlich zu senken, denn das Geld für diesen sei „sinnlos vergeudet“. Rambusch stimmte zu. Aufgrund dieser Erfahrungen habe er später Vorschläge Ardennes für weitere gemeinsame Geräteentwicklungen, wie ein Halogen-Lecksuchgerät zur Identifikation undichter Stellen in Vakuumanlagen oder ein Banddickenmeßgerät für die Papierindustrie, abgelehnt.19 Mit der Weigerung von Hartmanns Mitarbeitern im Herbst 1957, ein im Ardenne-Institut entwickeltes Dickenmessgerät bei Vakutronik zur Produk­ tionsreife zu führen, konnte Ardenne gelassen umgehen, fand er doch im VEB Carl Zeiss Jena umgehend einen neuen Kooperationspartner. Die Eigenentwicklung des VEB Vakutronik, ein ebenfalls die Absorption von BetaStrahlen radioaktiver Isotope messendes Gerät, wurde 1958 im VEB Wachstuch- und Kunstlederwerk Coswig erprobt.20 Die Dickenmesstechnik gehörte zu den Bereichen, die nicht nur bis 1989 eine Säule im Fertigungsprogramm 18  Ebd.,

S. 38. ebd. 20  Vgl. Dörfel, Günter: Im Sog früher kerntechnologischer Entwicklungen und Versprechen: Der „Schwingkondensator“ als elektro-mechanischer Verstärker zwischen Elektronenröhre und Feldeffekt-Transistor und dessen Nutzbarmachung im 19  Vgl.



II. Die ersten Konflikte109

des Unternehmens Vakutronik darstellten, sondern auch durch den Nachfolger „Mesacon Messelektronik GmbH Dresden“ gepflegt und weiterentwickelt wird. Allerdings scheint Ardenne diese und weitere unfreundliche Schritte Hartmanns zur „Abnabelung“ keineswegs vergessen zu haben. Knapp zwei Jahrzehnte später habe Ardenne, so Hartmanns dritte Ehefrau Renée, ihrem Mann nicht beigestanden, als dieser auf entwürdigende Art und Weise aus dem Amt entfernt wurde. Der Ehemann der älteren Tochter, der im diplomatischen Dienst der DDR 1962 nach Kuba geschickt wurde und gelegentlich auch für Honecker dolmetschte, habe Ardenne gebeten, sich für seinen Schwiegervater einzusetzen. Der lehnte unter Hinweis auf gewisse charakterliche Defizite Hartmanns ab. Das könne sie nicht nachvollziehen. „Immerhin waren die beiden doch befreundet.“21 Wenn Hartmann diesen Konflikt mit Ardenne, der niemals offen zutage trat, zu einer frühen Erkenntnis verallgemeinerte, „dass in der DDR eine ungeheure Überschätzung der sog. ‚Wissenschaft‘ und der sog. ‚Wissenschaftler‘ bestand“, so gibt diese zwiefach negative Sinnzuschreibung Anlass zu Spekulationen.22 Der Beginn des Atomzeitalters in einer Diktatur, die ihre Legitimation auf eine sogenannte wissenschaftliche Weltanschauung stützte, führte zu einer tiefen Wissenschaftsgläubigkeit großer Teile der Gesellschaft. Wer wollte das bestreiten? Warum schrieb Hartmann von der „sogenannten Wissenschaft“ und den „sogenannten Wissenschaftlern“, wenn er vermutlich doch nur diesen einen meinte? Diesem allerdings wurde gern wegen des fehlenden Abiturs und eines nicht abgeschlossenen Studiums die Zugehörigkeit zur elitären Klasse der Akademiker abgesprochen, nicht zuletzt auch von Gustav Hertz. Das Verhältnis zwischen ihrem Vater und Manfred von Ardenne sei immer ein besonderes gewesen, sagte Tochter Sylvelie, die Ärztin. „Hassliebe sei zu stark, zu emotional – besser wäre es als eine Mischung aus Rivalität und Zuneigung zu beschreiben.“23 2. Eine parteifeindliche Plattform Mit dem Tod seines Vaters im November 1957 hatte Hartmann den Menschen verloren, dem er wohl als einzigem ein bedingungsloses und niemals Wirtschaftsraum Dresden – Jena, Jenaer Jahrbuch zur Technik- und Industriegeschichte, Jena 2018, S. 317–366. 21  Gespräche mit Renée Hartmann im Herbst 2017. 22  Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Zeitraum 1955–1961, Abschnitt G: VEB Vakutronik, S. 39. 23  Gespräch mit Sylvelie Schopplich am 8.5.2020.

110

E. Der Industriebetrieb VEB Vakutronik

enttäuschtes Vertrauen entgegengebracht hatte.24 Das Jahr 1958 sollte für ihn ein erstes Kräftemessen mit der Staatspartei bereithalten. Denn ein „Nichtgenosse“ zu Beginn des Atomzeitalters an der Spitze eines rasch expandierenden, innovativen Unternehmens zur Entwicklung und Fertigung nuklearer Messtechnik, der noch dazu wissenschaftliche Rationalität über ideologisch begründete Vorgaben der Staatspartei zu stellen pflegte, war den führenden SED-Genossen suspekt. Eine solche Unabhängigkeit war nicht nur verdächtig, sondern musste selbst dann bekämpft werden, wenn der Betreffende ein Jahrzehnt lang an Stalins Jagd nach der Atombombe mitgewirkt hatte. Darüber hinaus arbeiteten nicht wenige Parteifunktionäre an der Basis mit Hingabe oder auch von purem Opportunismus getrieben daran, vermutlichen oder tatsächlichen „Sand aus dem Getriebe“ zu entfernen. Die bislang enttäuschten Erwartungen dieser Parteisoldaten an der Basis hinsichtlich der Leistungsfähigkeit einer zentral geplanten Volkswirtschaft nach sowjetischem Vorbild sollten mit dem 1958 um zwei Jahre verspätet anlaufenden 2. Fünfjahrplan endlich deutlich sichtbarer Realität werden. Am 31. Januar 1958, so notierte es Hartmann in seinen Memoiren, erhielt er Kenntnis vom Vorwurf eines „Genossen Knoll“, Mitarbeiter des Amts für Kernforschung und Kerntechnik (AKK), Hartmann habe eine „parteifeindliche Plattform“ gebildet. Er hatte jedoch lediglich in einem Brief an Prof. Rambusch, den Leiter dieser Behörde, Vorschläge unterbreitet, die geltenden Verordnungen zu Planung, Fertigung und Materialrichtsätzen mit dem Ziel zu überarbeiten, eine schnellere Entwicklung des von ihm geleiteten VEB Vakutronik zu ermöglichen.25 Anhand des Tagebuchs und vor allem eines Briefes an seinen verehrten Lehrer Gustav Hertz lässt sich eine Intrige rekonstruieren, in deren Verlauf Hartmann drauf und dran war, „das Handtuch zu werfen“.26 Auf der ersten ökonomischen Konferenz des Betriebes im Januar, „die dank einer intensiven Vorbereitung zunächst sehr harmonisch verlief“, ergriff „ein Genosse Knoll“, Mitarbeiter des AKK, das Wort und erklärte, dass es nicht auszuschließen sei, das im Bau befindliche Kernkraftwerk27 nicht planmäßig in Betrieb nehmen zu können, weil Vakutronik „die Entwicklung und Fertigung von Gerä24  Vgl. Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Zeitraum 1955–1961, Abschnitt G: VEB Vakutronik, S. 124. 25  Vgl. ebd., S. 57 f. 26  Brief Hartmanns an Gustav Hertz vom 19.11.1958, in: ebd., Anlagen. 27  Es handelte sich um die erste Ausbaustufe des Kernkraftwerkes Rheinsberg, dessen Errichtung der Ministerrat der DDR am 20.7.1956 beschlossen hatte, und die am 9.5.1966 in Betrieb ging, vier Jahre später als ursprünglich geplant. Vgl. Abele, Johannes/Hampe, Eckhard: Kernenergiepolitik der DDR, in: Liewers, Peter/Abele, Johannes/Barkleit, Gerhard (Hrsg.): Zur Geschichte der Kernenergie in der DDR, Frankfurt am Main 2000, S. 39.



II. Die ersten Konflikte111

ten zur dosimetrischen Überwachung und Steuerung von Leistungsreaktoren“ nicht in den Griff bekommen habe. Knoll nannte Hartmann einen „Parteifeind“ und behauptete darüber hinaus in einem Brief an den Parteisekretär Schwanbeck, dass „im Betrieb Bestrebungen im Gange seien, das Labor zur Entwicklung von Geräten der industriellen Isotopenanwendung zu schwächen“. Diese Behauptung stützte sich im Wesentlichen darauf, dass der dort arbeitende Genosse Dipl.-Ing. Wolfram Wisch für andere Aufgaben eingesetzt werden sollte – auf eigenen Wunsch und mit Zustimmung des Parteisekretärs. Ungeachtet der Tatsache, dass Hartmann auch Knoll über diese Umsetzung informiert hatte, sprach dieser von „einer falschen, nichtsozialistischen Arbeitsweise“. Insider behaupten heute, dass damals eine große Mehrheit unter den SED-Mitgliedern den Vorwurf nicht nachvollziehen konnte, ihr Chef sei ein Parteifeind, sondern ihn auch weiterhin verehrte. Da Hartmanns Bemühungen der letzten beiden Jahre um eine „Vergrößerung der Entwicklungskapazität“ erfolglos geblieben waren, prüfte er im Vorfeld der Betriebskonferenz, welche Themen man unter den gestiegenen Anforderungen abbrechen könnte. Er fand nur zwei, beides Aufträge des Transformatoren- und Röntgenwerks Dresden, und schlug dem dafür zuständigen AKK vor, die „Liquidierung“ dieser beiden Themen zu vollziehen. Das von Rambusch geleitete Amt reagierte nicht, sondern bestätigte lediglich, dass Aufträge des Ministeriums für Nationale Verteidigung sowie Geräte für den industriellen Isotopeneinsatz oder andere Geräte, die ebenfalls im Kraftwerk benötigt werden, „nicht gestrichen werden können“. In seiner Not wandte sich Hartmann im Sommer in dieser Angelegenheit direkt an „Herrn Ulbricht“ mit dem Ergebnis, dass „ein Raumzuwachs für Anfang des Jahres 1959 gesichert“ zugesagt wurde. „Herr Knoll aber stellt sich hin und verleumdet mich vor der Belegschaft, ohne jemals vorher Gelegenheit genommen zu haben, mit mir zu sprechen.“ „Unter solchen Umständen“, klagte er Hertz sein Leid, „ist auf lange Sicht keine ersprießliche Arbeit möglich. All das, was Herr Knoll in anderen Gremien über mich berichtet, erfahre ich nicht und kann mich nicht wehren. Niemandem kann man zumuten, sich immer wieder verleumden zu lassen. Dazu arbeite ich nicht.“ Er bedaure gelegentlich, „über drei Jahre seines Lebens“ verwandt zu haben, den „Betrieb aufzubauen und zum Laufen zu bringen“. In diesem Brief vom 19. November 1958 zieht Hartmann Bilanz seines Wirkens seit 1955 und stellt seinen Erwartungen eine Reihe von Enttäuschungen gegenüber. Beim Aufbau des Betriebes habe er keine Unterstützung erfahren und konnte zunächst nur zwei Diplomingenieure einstellen. Gute Fachleute seien zu Barwich, Richter, Weiss, Born und Rexer gegangen, aber nicht in einen „industriellen Betrieb“. Es war kein Team der Spitzenklasse, mit dem er begonnen habe, „über 100 Themen zu bearbeiten“. „Sie, Herr Professor, können selbst am besten beurteilen, was es, um einen Vergleich

112

E. Der Industriebetrieb VEB Vakutronik

anzuziehen, etwa bedeutete, in einem neu gegründeten wissenschaftlichen Institut unter solchen Bedingungen etwa 100 Probleme zu bearbeiten.“ Die „jetzigen Bedingungen“ seien durch „den Mangel an Fachleuten aller Art, einer ungenügend qualifizierten Zulieferindustrie und eines Balancierens zwischen Anarchie und Managertum“ gekennzeichnet. Dennoch sei es gelungen, „eine Vielzahl von Themen, nämlich fast 100, ‚veröffentlicht‘ “ zu haben. Das heiße „Geräte und Zubehör so weit entwickelt“ zu haben, „dass sie sich in der laufenden Fertigung befinden und auch im Ausland einen sehr guten Ruf genießen“. Es habe, räumt er ein, „auch einige Einbrüche gegeben“. Aber, so führt er zu seiner Entlastung an: „Wer kennt von vornherein die Qualitäten seiner Mitarbeiter und die Schwierigkeiten der materiellen Durchführung mancher Arbeiten in der DDR?“ Dennoch gilt es festzuhalten, dass Hartmann als „sozialistischer Leiter“ die alleinige Verantwortung für die Themenvielfalt in seinen Forschungsabteilungen sowie für die Abläufe in der Fertigung trug. Dabei war er, wie gesehen, um ein gutes Einvernehmen mit der Parteileitung bemüht. Das stieß in diesem konkreten Fall jedoch nicht auf Gegenliebe. Am 6. Juli 1959 notierte er in sein Tagebuch: „Jahn MfS erzählt, dass Schwanbeck Urheber der Parteifeind-Aktion gegen mich war.“28 Obwohl Hartmann gegenüber Hertz „ein zu starkes Verantwortungsgefühl“ für sich reklamierte, bot er Prof. Rambusch an, ihn „aus der Verantwortung als Werkleiter zu entlassen“, was dieser jedoch ablehnte. Schon seit 1957 bemühte sich Hartmann um eine Entlastung von administrativen Aufgaben. Als Physiker und Hochschullehrer wollte er sich auf Forschung und Entwicklung konzentrieren. Zweckfreie akademische Forschung, wie sie an Universitäten und den Kaiser-Wilhelm-Instituten möglich war, hatte er nie kennengelernt. Seinem Anspruch, zugleich als Wissenschaftler und Manager – in der DDR „sozialistischer Leiter“ genannt – zu brillieren, konnte er offensichtlich nicht genügen. Am 12. Juni 1958 wandte sich Hartmann in einem 12-seitigen Brief an den SED-Chef Ulbricht. Darin skizzierte er sein Produktionsprogramm, das er ein „Kampfprogramm“ nannte, und wies darauf hin, dass Forschung und Entwicklung in Dresden konzentriert seien, die Fertigung hingegen in Radebeul erfolge. Als wichtigste aktuelle Produkte nannte er „4 Typen kernphysikalischer Geräte und einige Typen von Geiger-Müller-Zählrohren“. Seiner Zielsetzung, so schrieb er dem SED-Chef, lägen zwei Überlegungen zugrunde. Erstens sei es dringend geboten, „den vieljährigen Abstand gegenüber anderen Ländern schnell zu verringern“. Zweitens hoffe er, dass aufgrund „einer klaren und relativ kurz befristeten Aufgabenstellung alle wesentlichen Unzulänglichkeiten in der Arbeitsweise“ seines Betriebes schnell 28  Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Zeitraum 1955–1961, Abschnitt G: VEB Vakutronik, Tagebuch.



II. Die ersten Konflikte113

zutage treten würden und das auch „mit einer für alle Mitarbeiter unübersehbaren Deutlichkeit“. Bei der Durchsetzung einer wissenschaftlichen Arbeitsweise auf allen Ebenen und in allen Bereichen, in der Verwaltung, in den Entwicklungslaboratorien wie auch in den Fertigungsstätten, sei „die Parteiorganisation mit ihrem Sekretär, Herrn Schwanbeck, eine große Hilfe“. Die Janusköpfigkeit des Parteisekretärs ahnte er zu diesem Zeitpunkt nicht einmal. Immerhin hatte ihn Ulbricht, wie bereits erwähnt, anlässlich eines Empfangs beim Akademiepräsidenten Volmer am 2. Mai 1955 aufgefordert, seine Erfahrungen aus der Arbeit in der UdSSR in der DDR einzuführen. „Dies hilft uns schneller vorwärts. Seien Sie dabei mutig!“ Ob mutig oder verzweifelt, auf jeden Fall spricht Hartmann Klartext, wenn er auf eine „wesentliche Schwierigkeit“ hinweist, nämlich den „manchmal sehr störenden Mangel moderner Bauelemente“. Darüber hinaus, so fährt er fort, „können unsere Geräte nur exportfähig sein, wenn sie dem Stand der Technik entsprechen“. „Da aber die Industrie der DDR“, räumt er ein, „aus verständlichen Gründen nicht sämtliche Arten von Bauelementen entwickeln und fertigen kann, muss ein Teil von ihnen importiert werden.“ „Leider“, und damit spricht er schon zu diesem frühen Zeitpunkt ein die DDR fortwährend begleitendes Problem an, „ist es bisher nicht gelungen, den von uns in diesen Fragen angestrebten Kontakt mit der UdSSR herzustellen.“29 Vier Tage später schrieb er einen weiteren Brief an Ulbricht, diesmal mit der Bitte um Abberufung als Werkleiter. Er hoffe, so seine Begründung, „der Entwicklung unserer DDR in anderer Form, die in gemeinsamer Beratung mit Herrn Professor Rambusch sicher gefunden werden wird, besser dienen“ zu können. Als Nachfolger schlug er seinen aktuellen Stellvertreter Ludwig Wieczorek vor.30 Am 24. Juni bat ihn Ulbricht, seine endgültige Entscheidung erst nach einer Aussprache mit Erich Apel zu treffen.31 Dieser bat Hartmann nur eine Woche darauf, Zeitpunkt und Ort dieser Aussprache zu bestimmen.32 Sie fand am 25. August als „lange vertrauensvolle Unterredung“ im Betrieb statt, mit dem Ergebnis, dass Hartmann Werkdirektor und Wieczorek Betriebsdirektor wurde.33 Ende der 1950er Jahre, so ist zu bilanzieren, konnte sich ein „bürgerlicher Wissenschaftler“ noch erfolgreich gegen Angriffe von SED-Genossen zur Wehr setzen.

29  Ebd.,

Anlagen. ebd. 31  Vgl. ebd., Tagebuch. 32  Vgl. ebd. 33  Vgl. ebd. 30  Vgl.

114

E. Der Industriebetrieb VEB Vakutronik

Abb. 19: Grüße Erich Apels aus Marienbad vom 13. Januar 1960.

III. Das Unternehmen zwischen Gründung und Mauerbau 1. Personal- und Produktentwicklung Vier Jahre nach seiner Gründung beschäftigte der VEB Vakutronik bereits mehr als 900 Mitarbeiter. Die Dominanz von Forschung und Entwicklung in Hartmanns Konzept eines „wissenschaftlich-industriellen Betriebes“ veranschaulicht die folgende Übersicht. Die offizielle Etikettierung des Betriebs als „Wissenschaftlicher Industriebetrieb“ (WIB) empfand er als wenig zutreffend. Dennoch stellte der parteilose Direktor auf der 9. Plenartagung des ZK der SED das Kernstück seines Konzepts den führenden Genossen vor. „Das Konzept findet Beifall“, wie Günter Dörfel sich erinnert, „erlangt in Teilen Gesetzeskraft und wird unter den Bedingungen der Nach-Mauerbau-Zeit sehr schnell zur Farce.“34

34  Dörfel,

Hartmann. Industriephysiker, S. 228.



III. Das Unternehmen zwischen Gründung und Mauerbau115 Tabelle 13 Struktur der Belegschaft des VEB Vakutronik im Sommer 196035 Gesamtzahl der Mitarbeiter

912

100 %

Entwicklung

379

42 %

Fertigung

328

36 %

Verwaltung usw.

205

22 %

Mitarbeiter mit Hochschulbildung

55

Mitarbeiter mit Fachschulbildung

103

bisherige Zahl von Veröffentlichungen

70

Zahl der Geräte- und Zubehörtypen

90

Auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1960 stellte Vakutronik eine Reihe von Neuentwicklungen kernphysikalischer Messgeräte vor, neben den Strahlungsmessplätzen VA-M-15 und VA-M-16 als kleinere Version das Strahlungsmessgerät VA-M-14 sowie einen Szintillationsmesskopf mit der Typenbezeichnung VA-S-971. Der Staubprobensammler VA-T-80, die Luftüberwachungsanlage VA-T-81 zur kontinuierlichen Messung radioaktiver Aerosole in der Luft und das Beta-Gamma-Glaszählrohr Typ VA-Z-114 rundeten die Liste neuer Produkte ab.36 Der Strahlungsmessplatz VA-M-16, ein Impulszähler für den Laborgebrauch, der mit einem Szintillationsmesskopf, einem Geiger-Müller-Zählrohr oder auch einem Proportionalzählrohr betrieben werden konnte, verfügte durch den Anschluss eines Probenwechslers und eines Druckers über eine große Anwendungsbreite. Das Model VA-M-15 unterschied sich vom VA-M16 vor allen dadurch, dass die Zeitmessung nach einem weniger aufwendigen Prinzip erfolgte.37 Der kleine Szintillationsmesskopf VA-S-971 war standardmäßig für die Messung von Gamma-Strahlen bestimmt, ließ sich jedoch auch für die Messung von Alpha- und Beta-Strahlung umrüsten. Dazu musste der Szintillator, ein Natriumjodid-Kristall, gegen einen Zinksulfid-Schirm oder einen plastischen Szintillator ausgetauscht werden. 35  Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Zeitraum 1955–1961, Abschnitt G: VEB Vakutronik, S. 108. 36  VEB Vakutronik: Presseinformation zur Frühjahrsmesse 1960, zu finden in: Nachlass WH 4 (1960). 37  Vgl. Monthly Technical Review, Vol. 4, No. 7, July 1960, S. 162–164.

116

E. Der Industriebetrieb VEB Vakutronik

Abb. 20: Messtechnik von Vakutronik auf der Leipziger Messe.

Ohne zu übertreiben kann man diese Produktpalette als „Materialisierung“ von Hartmanns langjährigen Erfahrungen und seiner unbestreitbaren Fachkompetenz interpretieren. Bereits in seiner Habilitationsschrift vom März 1956 hatte er sich unter dem Titel „Kernphysikalische Meßgeräte“ mit dem Szintillationszähler, Ionisationskammern, dem Geiger-Müller-Auslösezähler, Massenspektrometrie und Ionenstrommessgeräten sowie der Anzeigeelektronik dieser Geräte befasst.38 Im Jahre 1961 gehörten das RICU-Messgerät mit der Typenbezeichnung VA-J-35, das Schwingkondensator-Elektrometer VA-J-50 und das Szintilla­ tions-Spektrometer VA-M-12 zu den Erzeugnissen, die in der Fachzeitschrift „radio und fernsehen“ besonders hervorgehoben und deren Funktionsprinzipien vorgestellt wurden.39 38  Vgl. Hartmann, Werner: Habilitationsschrift über Kernphysikalische Meßgeräte, eingereicht am 16. März 1956 bei der Fakultät für Kerntechnik der TH Dresden. 39  Vgl. radio und fernsehen, Heft 8, 1961, S. 240 f.



III. Das Unternehmen zwischen Gründung und Mauerbau117

Das RICU VA-J-35 war ein universelles Gerät zur Messung großer Widerstände und geringer Stromstärken. Darüber hinaus konnte man auch Spannungen, Kapazitäten und Ladungen messen sowie weitere physikalische Größen, die sich mit Hilfe eines entsprechenden Gebers in Spannungs-, Strom-, Widerstands-, Kapazitäts- oder Ladungsänderungen umwandeln ließen. Somit konnte das RICU u. a. auch zur Dosisleistungsmessung ionisierender Strahlung eingesetzt werden. Das Schwingkondensator-Elektrometer VA-J-50 gestattete eine nahezu leistungslose Messung von Gleichspannungen im Bereich von 10 bis 1.000 Millivolt bei hoher Stabilität des Nullpunktes sowie der Verstärkung. Es ließen sich problemlos externe Geräte wie z. B. Schwellwertgeber oder auch robuste Registriergeräte anschließen. Das Szintillations-Spektrometer VA-M-12 war ein Messplatz, der insbesondere eine vollautomatische Aufnahme von Impulshöhenverteilungen erlaubte. Für kernphysikalische Untersuchungen eingesetzt, gestattete es, die Energieverteilung der Strahlung radioaktiver Substanzen zu bestimmen. Auch der Anschluss eines Ergebnisdruckers war möglich. Nicht zuletzt verwies das Fachjournal auf das neue volltransistorisierte und tragbare Strahlungsmessgerät Aktimeter VA-J-13, das sowohl „eine Kontrolle der Verseuchung an Personen und Gegenständen als auch die Überprüfung von Abschirmungen und Strahlenschutzanordnungen“ ermögliche.40 Zwischen 1956 und 1961 nahm der VEB Vakutronik eine „geradlinige und erfolgreiche Entwicklung“. Mit dem Mauerbau und einer weltweit zu beobachtenden Ernüchterung „hinsichtlich der von der Kerntechnik zu erwartenden Möglichkeiten“, so Dörfel, fror die Weiterentwicklung ein, „allerdings auf einem für DDR-Verhältnisse ziemlich hohen Niveau“.41 Auch die Staatssicherheit lobte Hartmann, dem am 6. Juli 1959 „der MfS-Mitarbeiter Jahn“ bescheinigte, „dass Vakutronik im Ausland geschätzt wird“.42 International konkurrenzfähige Erzeugnisse des Unternehmens wurden von den Medien besonders hervorgehoben. So überschrieb die „Sächsische Zeitung“ am 19. Januar 1960 einen Beitrag über den Schwingkondensator euphorisch mit: „Internationale Spitzenklasse – ein Bauelement aus dem VEB Vaku­tronik“. Am 29. Februar folgte, wohl im Hinblick auf die bevorstehende Frühjahrsmesse, ein Beitrag mit dem Titel: „Kerntechnik im Interesse des Friedens – VEB Vakutronik setzt sich international durch“. Im Jahr darauf legte die SED-Bezirkszeitung in Sachen Schwingkondensator-Elektrometer ­ VA-J-50 40  Ebd.

S. 241. Hartmann. Industriephysiker, S. 227. 42  Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Zeitraum 1955–1961, Abschnitt G: VEB Vakutronik, S. 134. Anm. d. Verf.: Hervorhebung im Original durch Unterstreichung. 41  Dörfel,

118

E. Der Industriebetrieb VEB Vakutronik

noch einmal mit der Meldung nach, dass es sich um ein Elektrometer von Weltniveau handele. Es stelle nach Aussage von Fachleuten im internationalen Rahmen „Spitzenklasse“ dar, denn die Empfindlichkeit betrage „ein trillionstel Ampere“, in wissenschaftlicher Schreibweise 10–12 A.43 Trotz des beachtlichen Produktportfolios eines inzwischen renommierten Unternehmens fällt auf, dass die Bedürfnisse des Uranbergbaus für den individuellen Strahlenschutz keinen Niederschlag fanden. Immerhin war die SDAG Wismut als Gemeinschaftsunternehmen von DDR und UdSSR der drittgrößte Uranproduzent der Welt. 1958 beschäftigte das Unternehmen 63.000 Menschen, deren Anzahl bis 1967 auf 43.700 sank.44 Niemand, auch nicht die Führungsriege des Herstellers kernphysikalischer Messgeräte, kam auf die Idee, ein robustes Personendosimeter für den Einsatz unter Tage zu entwickeln. In der Art, wie der Uranbergbau zumindest in den Anfangsjahren betrieben wurde, forderte er einen hohen Preis. Nahezu 10.000 Bergleute erkrankten nachweislich an dem zumeist tödlich verlaufenden Lungenkrebs.45 Der Aufbau eines dosimetrischen Dienstes der Wismut erfolgte erst ab Ende 1954. Bis dahin erfolgten keine Radon-Messungen. Zur Erkundung und Sortierung von Uranerz interessierte nur die Gamma-Strahlung. Mit RadonMessungen des „Wetters“ an Arbeitsorten wurde 1955 begonnen. Diese Messungen wurden 1964 nach Umfang und Zielstellung verändert. Ab 1971 wurde diese Art von Ortsdosimetrie für die Ermittlung von individuellen Strahlenbelastungen weiterentwickelt. Die sogenannte MarkovMethode errechnet die individuelle Strahlenexposition aus der Konzentration von Radon-Folgeprodukten vor Ort bzw. im Arbeitsbereich und der Aufenthaltszeit des dort Beschäftigten. Das Verfahren von Markov wurde in der DDR auch im Nichturanbergbau eingesetzt und ist international als belastbar bewertet worden. Allerdings erfolgten die Messungen an den ausgewählten Orten unter Tage nur zwei Mal pro Monat und die Messdauer betrug lediglich fünf Minuten. Damit wurde nur 1/2.000 der regulären Arbeitszeit eines Kumpels vor Ort tatsächlich überwacht.46 Die Einführung einer EDV-gestützten individuellen Belastungskartei ließ zwar das Verfahren als solches nicht genauer werden, förderte aber aufgrund der schnelleren Bearbeitung großer Datenmengen beunruhigende Ergebnisse zutage. Die jahrzehntelang auch international nicht für sinnvoll gehaltene 43  Sächsische

Zeitung vom 2.1.1961. Boch, Rudolf/Karlsch, Rainer (Hrsg.): Uranbergbau im Kalten Krieg. Die Wismut im sowjetischen Atomkomplex, Berlin 2011, Bd. 2, S. 267. 45  Vgl. Dresdner Neueste Nachrichten vom 28./29.4.2012. 46  Vgl. Bundesamt für Strahlenschutz: Strahlenexposition und strahleninduzierte Berufskrankheiten im Uranbergbau am Beispiel Wismut, 2. und erweiterte Ausgabe, Berlin 1993. 44  Vgl.



III. Das Unternehmen zwischen Gründung und Mauerbau119

Entwicklung eines elektronischen Personendosimeters erfolgte Mitte der 1980er Jahre unter der Verantwortung des Staatlichen Amtes für Atomsicherheit und Strahlenschutz. Es war 1987 produktionsreif. Die SDAG Wismut sollte die Fertigung übernehmen, „aber dazu kam es dann wohl nicht mehr“.47 Auch wenn Hartmann oder eine seiner Führungskräfte das Dilemma der Wismut-Kumpel gesehen und die Entwicklung eines robusten Dosimeters für den Einsatz vor Ort eingeleitet hätten, wäre dessen Einführung in dem militärisch streng abgesicherten und von der Sowjetunion geführten Unternehmen ein „Ding der Unmöglichkeit“ gewesen. Nur am Rande sei erwähnt, dass die Spitze einer neuen Unternehmensführung noch bis weit in die 1990er Jahre hinein an der Behauptung festhielt, dass ein Großteil der Bergleute glaubte, sie förderten Wismut und nicht Uran, den strahlenden Rohstoff für die sowjetischen Atombomben. Ob sie andernfalls einen besseren Strahlenschutz gefordert hätten, bleibt eine offene Frage. 2. Isotopentechnik in der DDR-Industrie Bei aller Vielfalt der Nutzungsmöglichkeiten lassen sich die meisten Anwendungen radioaktiver Isotope auf drei grundlegende Verfahren zurückführen: das Bestrahlungsverfahren, das Durchstrahlungsverfahren und das Markierungsverfahren. In der DDR-Industrie waren die Gammadefektoskopie als Verfahren zur zerstörungsfreien Werkstoffprüfung, die Flächengewichts- und die Füllstandsmessung ebenso in der Praxis etabliert wie radioaktiv markierte Substanzen in der Medizin und die Aktivierungsanalyse als neue Methode zur Bestimmung von Spurenelementen. 1960 wurden insgesamt 201 Anwender gezählt, davon 79 in der Industrieproduktion, 13 in der Medizin und 109 in der Forschung. Das Kernforschungszentrum Rossendorf war in der Lage, 70 Prozent des auf dem Weltmarkt angebotenen Sortiments zu liefern.48 Im ersten Halbjahr 1959 beschäftigten sich maßgebliche Gremien mit dem Problem der unzureichenden Nutzung radioaktiver Isotope in der DDRWirtschaft. In Hartmanns Tagebuch fanden eine „große Sitzung der Staat­ lichen Plankommission über techn. Isotopenanwendung“ am 20. Februar sowie die „Forschungsratssitzung über techn. Isotopenanwendung“ vom 4. Juni besondere Erwähnung. Unter der Überschrift „Stiefkind Isotopentechnik“ veröffentlichte „Die Wirtschaft“, eine 1955 gegründete Wochenzeitung für Politik, Wirtschaft und 47  Vgl. Schramm, Manuel: Strahlenschutz im Uranbergbau. DDR und Bundesrepublik Deutschland im Vergleich (1945–1990), in: Boch, Rudolf/Karlsch, Rainer (Hrsg.): Uranbergbau im Kalten Krieg. Die Wismut im sowjetischen Atomkomplex, Berlin 2011, Bd. 1, S. 271–328. 48  Vgl. Mitteilungen aus Kernforschung und Kerntechnik, März 1961, Nr. 2.

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E. Der Industriebetrieb VEB Vakutronik

Technik, in ihrer ersten November-Nummer des Jahres 1960 Auszüge aus der Rede von Helmut Wunderlich, dem stellvertretenden Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission (SPK). Auf der III. Technologietagung des Maschinenbaus kritisierte Wunderlich die ungenügende Nutzung dieser modernen Technologie. Er bezog sich bei seiner Kritik auf Erkenntnisse, die er an­ lässlich eines Besuchs der Messe in Brno gewonnen habe. „In den USA kamen 1958 bereits Aktivitäten von ca. 143.000 Curie und in Westdeutschland ca. 4.000 Curie zur Anwendung; dagegen werden in der DDR zurzeit kaum 100 Curie angewandt.“49 Zu der nachfolgenden Tabelle 14 ist anzumerken, dass insbesondere bei den Einwohnerzahlen verschiedene Quellen auch unterschiedliche Werte angeben. Für die darauf aufbauende Argumentation ist das jedoch bedeutungslos. Die III. Technologietagung des Maschinenbaus im Jahre 1960 fand zu einem Zeitpunkt statt, als der Optimismus des „ersten Staates der Arbeiter und Bauern auf deutschem Boden“ noch ungebrochen schien, die kleine DDR könne bei der Entwicklung innovativer Technologien den internationalen Stand mitbestimmen. Die Liquidierung der Luftfahrtindustrie war zwar absehbar, wurde aber erst am 28. Februar 1961 vom Politbüro beschlossen.50 Auch die fatalen Konsequenzen der Zwangskollektivierung in der Land­ wirtschaft, die allein 1960 etwa 15.000 Bauern in die Bundesrepublik trieb, wurden erst 1961 sichtbar.51 Tabelle 14 Vergleich der Anwendung radioaktiver Isotope Land

Fläche in Quadratkilometern

Einwohner 1960 in Millionen

Aktivität in Curie*

USA

9.834.000

179,323

143.000

Bundesrepublik

249.000

72,973

4.000

DDR

108.333

17,188

100

* Das Präparat eines beliebigen Nuklids hat die Aktivität von 1 Curie, wenn je Sekunde 3,7 x 1010 Zerfallsprozesse stattfinden.

49  Die

Wirtschaft vom 2.11.1960. Barkleit, Gerhard: Die Spezialisten und die Parteibürokratie. Der gescheiterte Versuch des Aufbaus einer Luftfahrtindustrie in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Barkleit, Gerhard/Hartlepp, Heinz: Zur Geschichte der Luftfahrtindus­ trie in der DDR 1952–1961, Dresden 1995, S. 5–27. 51  Vgl. Steiner, André: Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, Bonn 2007, S. 115–122. 50  Vgl.



III. Das Unternehmen zwischen Gründung und Mauerbau121

Hartmann konnte seinen Mitarbeitern 1960 noch verkünden, dass Prof. Rambusch, der Leiter des Amts für Kernforschung und Kerntechnik, am 29. März die Gründung des VEB Vakutronik Pockau/Lengefeld angeordnet habe. In diesem Ableger des Stammbetriebes sollte die Serienproduktion von Strahlungsmessgeräten angesiedelt werden. Am 6. Februar 1961 fand unter der Losung „Durch Verbesserung der Qualität der Arbeit – zu Geräten mit Weltniveau“ die 1. Wissenschaftlich-technische Konferenz im VEB Vakutronik Dresden statt. Auf der Grundlage „eines systematisch betriebenen Vergleichs mit Erzeugnissen des Weltmarktes“ beschlossen die Teilnehmer eine Reihe von Maßnahmen, diesem Anspruch auch gerecht zu werden. Dazu zählten u. a. „Sofortmaßnahmen“ in Forschung und Entwicklung zur „Begegnung von Störversuchen durch Westdeutschland“ sowie die „Verkürzung der Überleitungszeiten und Verbesserung der fertigungstechnischen Voraussetzungen zur Durchführung der Kleinserienproduktion“. Bei den „Störversuchen durch Westdeutschland“ galt es in erster Linie, die Produktion von Zählrohren für den industriellen Einsatz „unabhängig von Westimporten“ zu gestalten.52 Ob diesem Ziel auch die Unterstützung der Landwirtschaft durch Delegierung von Mitgliedern der Freien Deutschen Jugend (FDJ) in Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG) diente, kann wohl zu Recht bezweifelt werden. Dennoch wurde der Entschluss des Jugendfreundes Rolf Eisert, gemäß den Verpflichtungen der FDJ anlässlich des 9. Plenums des ZK der SED in eine LPG einzutreten, von der Betriebsleitung gebührend gewürdigt.53 Auch der SED-Parole „gemeinsam sozialistisch arbeiten, lernen und leben“ konnte und wollte sich Hartmann nicht verschließen. Nachdem am 15. März 1960 die Auszeichnung „Kollektiv der sozialistischen Arbeit“ gestiftet worden war, lud der VEB Vakutronik am 8. Mai 1960 zu einem „Musikalischen Abend“ mit den Dresdner Tanzsinfonikern, einer von Günter Hörig geleiteten und dem Swing verpflichteten Dresdner Bigband, und Otto Franz Weidling,54 einem populären Conférencier der DDR, in das Hygienemuseum ein.

52  Mitteilungen

aus Kernforschung u. Kerntechnik, März 1961, Nr. 2. Technische Sammlungen Dresden, WH 4 (1960). 54  Der Dresdner Conférencier Otto Franz Weidling wurde 1981 mit dem Nationalpreis geehrt und 1984, nach seiner Moderation der Eröffnungsveranstaltung des neuen Friedrichstadtpalastes, mit einem Auftrittsverbot in den Medien der DDR geächtet. 53  Nachlass,

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E. Der Industriebetrieb VEB Vakutronik

IV. Der Chef: Alltag, Anerkennung und Ehrungen 1. Trennung von Liselotte Obwohl Hartmann in Stalins Projekt „Atomnaja Bomba“ keine herausgehobene Stellung eingenommen hatte, war seine Expertise im Bereich des wissenschaftlichen Gerätebaus gefragt, insbesondere natürlich für die aufstrebenden Zweige der Kernphysik und der Kernenergie. Darüber hinaus galt er Mitte der 1950er Jahre in den Kreisen der Partei- und Staatsführung als Protegé des einflussreichen Manfred von Ardenne, damals einer der wichtigsten Berater des Parteichefs Ulbricht in Wirtschaftsfragen.55 Im Unterschied zu vielen anderen ehemaligen Internierten bemühte sich Hartmann nicht darum, sofort ein eigenes Haus zu erwerben. Er begnügte sich zunächst mit einer Mietwohnung in exklusiver Lage. Am 10. Juni 1955, so notierte er in seinem Tagebuch, habe man die „Wohnung Schillerstraße 19 eingerichtet“.56 Nur wenige Monate nach seiner Rückkehr aus der Sowjetunion nahm Hartmann im September 1955 an der Mitgliederversammlung des Verbandes Deutscher Physikalischer Gesellschaften e. V. in Wiesbaden teil, auf der eine „Entschließung der deutschen Physiker zur Atomrüstung“ verabschiedet wurde. Auf dem ersten Höhepunkt des Kalten Krieges wollten die Physiker die Gefahren nuklearer Rüstung und eines Atomkrieges in das öffentliche Bewusstsein rücken.57 In seinem Tagebuch vermerkte er lapidar: „17.– 29. September 1955: Physikertagung in Wiesbaden. Rückfahrt mit Prof Hertz.“ Tochter Sylvelie erinnert sich, dass der Vater die Mutter gebeten hatte, ihn nach Wiesbaden zu begleiten. Diese lehnte ab, denn „sie wollte lieber bei uns Kindern bleiben“. Da habe der Vater seine Sekretärin mitgenommen. „Ein reichliches Jahr später ließ er sich von der Mutter scheiden, obwohl die Ehe seit der Rückkehr nach Deutschland wieder intakt war.“58 Am 1. März 1958 heiratete Hartmann seine Sekretärin. Kurz nach Ostern 1957 sei der Vater aus dem inzwischen erworbenen Haus am Lahmannring 18 ausgezogen. „Ins Grundbuch wurden daraufhin neben der Mutter auch meine Schwester und ich als Eigentümer eingetragen“, erinnert sich die Tochter. Der Vater habe sich ein Zimmer im Hotel „Astoria“ genommen. In seinem Tagebuch verBarkleit, Manfred von Ardenne, S. 152. Technische Sammlungen Dresden, Zeitraum 1955–1961, Abschnitt G: VEB Vakutronik, Tagebuch. 57  Vgl. Rollnik, Horst: Die Stellungnahmen und Empfehlungen der DPG – ein Spiegel ihrer bildungs- und wissenschaftspolitischen Aktivitäten, Physikalische Blätter 51 (1995) Nr. 1, S. F-203–F-213. 58  Gespräch mit Sylvelie Schopplich am 8.5.2020. 55  Vgl.

56  Nachlass,



IV. Der Chef: Alltag, Anerkennung und Ehrungen123

merkte er: „Später wohnte ich kurze Zeit in der Wohnung von Gertraude Hentschel (genannt Gertie), bis wir im Herbst 1957 eine Dreizimmerwohnung in den gerade fertiggestellten Neubauten am Altmarkt bezogen“, in der Nummer 14. Erst Ende Juli 1961 konnte das Ehepaar Hartmann das auf Staatskosten grundlegend sanierte Einfamilienhaus in der Klengelstraße 6 beziehen. Es gehörte zuvor dem 1960 wegen Spionage zu 15 Jahren Haft verurteilten leitenden Mitarbeiter der Flugzeugwerke, Walter Gerlach, und dessen Frau, deren Vermögen eingezogen worden war. 2. Netzwerker und gefragter Experte Ein eigenes Netzwerk aufzubauen, erschien nicht nur angesichts seiner Bemühungen unausweichlich, auf Distanz zu Ardenne zu gehen. Als wichtige Schritte hin zu diesem Ziel sind Hartmanns „Antrittsbesuche“ bei den Professoren Kurt Schwabe am 7. und Wilhelm Macke am 26. November 1955 zu werten.59 Der Physikochemiker Schwabe, Direktor des Instituts für Elektrochemie und Physikalische Chemie an der TH Dresden, ließ sich bei seinem Gegenbesuch am 17. November von Dr. Christian Weißmantel begleiten, einem seiner Assistenten, der in den 1960er Jahren in die Eliteklasse von Physikern der DDR aufstieg.60 Der theoretische Physiker Macke schlug Hartmann vor, „mich als Professor zu berufen“.61 Dieser Gedanke des Dekans der Fakultät für Kerntechnik gefiel ihm offenbar so, dass er daranging, eine Habilitationsschrift zu verfassen. Am 10. November 1955 beschloss der Ministerrat Maßnahmen zur Anwendung der Atomenergie für friedliche Zwecke. Dazu gehörte die Bildung eines „Wissenschaftlichen Rates für die friedliche Anwendung der Atomenergie“. Unter der Leitung von Gustav Hertz sollten in diesem Gremium hochrangige, aus der Sowjetunion zurückgekehrte Fachwissenschaftler wie Manfred von Ardenne und Heinz Barwich mit führenden Partei- bzw. Regierungsvertretern wie Kurt Hager, Fritz Selbmann und Gerhart Ziller zusammenarbeiten. Robert Rompe, Direktor des Instituts für Strahlungsquellen der Akademie der Wissenschaften und ab 1945 „Tipper“ für den sowjetischen Nachrichtendienst,62 durfte bei einem derart sensiblen Thema nicht außen 59  Vgl. Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Zeitraum 1955–1961, Abschnitt G: VEB Vakutronik, Tagebuch. 60  Vgl. Luther, Stephan/Weißmantel, Christian, in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e. V., Online-Ausgabe: http:// www.isgv.de/saebi/ (16.11.2020). 61  Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Zeitraum 1955–1961, Abschnitt G: VEB Vakutronik, Tagebuch. 62  Vgl. Müller-Enbergs u. a. (Hrsg.): Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien, Berlin 2009, Bd. 2, S. 1078 f.

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E. Der Industriebetrieb VEB Vakutronik

vor gelassen werden. Als Nr. 11 auf der Liste der 21 Berufenen ist Hartmann genannt. Die konstituierende Sitzung dieses Rates fand am 9. Dezember 1955 statt. Drei Tage danach, am 12. Dezember, überreichte Karl Rambusch persönlich Hartmann „den Einzelvertrag mit Gehalt von 8.000 M“, wie er im Tagebuch festhielt.63 Der „Wissenschaftliche Rat für die friedliche Anwendung der Atomenergie“, als dessen Sekretär Rambusch bis zum Mai 1962 fungierte, bildete neun Fachkommissionen, darunter jeweils eine für Kernenergie, Isotope, Strahlenschutz, Entsorgung radioaktiven Abfalls, Nachwuchs- und Ausbildungsfragen sowie Rechtsfragen.64 Am 20. Dezember wurde Hartmann mit der Leitung der Gerätekommission beauftragt. Hier galt es, die widerstreitenden Interessen von akademischer und industrieller Forschung sowie die Möglichkeiten der Hersteller und die Erwartungen der Anwender mit den von der Politik zugewiesenen Mitteln und Ressourcen in Einklang zu bringen. Und das ausgerechnet bei der Entwicklung einer mit großen wirtschaftspolitischen Hoffnungen beladenen Zukunftstechnologie – ein Balanceakt, der mit den Jahren immer schwieriger werden sollte. In seinem Tagebuch nannte Hartmann einige Mitglieder dieser Kommission, benutzte allerdings nur deren Familiennamen. Es waren dies die Herren Stanek, Görlich, Jancke und Grosse.65 Zwei Personalia des ausklingenden Jahres hielt er noch für erwähnenswert: die Vorstellung eines designierten Parteisekretärs am 21. Dezember sowie das baldige Ausscheiden seines Stellvertreters Schauer, der ihn am 30. Dezember davon in Kenntnis setzte. Zu Recht verstand es Hartmann als Zeichen der Anerkennung, dass sein verehrter Lehrer Gustav Hertz sich von ihm am 13. Juli 1956 durch den VEB Vakutronik führen ließ, was er ebenfalls im Tagebuch festhielt. Zu den positiven Ereignissen der Jahre 1956/57 gehörte auch die Erteilung des Patents für eine Erfindung aus dem Jahr 1944 durch das Amt für Erfindungs- und Patentwesen der DDR, die Patentschrift Nr. 19082, Klasse 21g, Gruppe 29/20 „Fotozelle mit kleinflächiger Kathode“, Erfinder zugleich Inhaber Dr.-Ing. Werner Hartmann, Dresden, patentiert in der DDR ab 17. Juli 1956.

63  Nachlass,

Zeitraum 1955–1961, Abschnitt G: VEB Vakutronik, Tagebuch. https://de.wikipedia.org/wiki/Amt_für_Kernforschung_und_Kerntechnik, aufgerufen am 17.11.2020. 65  Es handelt sich um Josef Stanek (Präsident des Deutschen Amts für Maß und Gewicht, 1976 Ehrendoktor der TU Dresden „in Anerkennung seiner wissenschaftsleitenden Tätigkeit in zentralen Gremien der DDR und für sein Wirken als Professor an der TUD“), Prof. Paul Görlich (Jena), Dr. Janke (Berlin, engagiert bei Gründung der DPG der DDR 1962) und Hermann Grosse (von Juli 1958 bis März 1963 Stellvertretender Vorsitzender der Staatlichen Plankommission). 64  Vgl.



IV. Der Chef: Alltag, Anerkennung und Ehrungen125

Abb. 21: Besuch von Prof. Jemeljanow (zwischen von Ardenne und Hartmann) im August 1955 in Dresden.66

Im Jahre 1957 erschien im Akademie-Verlag Berlin das 188 Seiten umfassende Buch „Fotovervielfacher und ihre Anwendung in der Kernphysik“ von Werner Hartmann und Fritz Bernhard.67 Hartmann verfasste den Teil I, „Foto­ vervielfacher. Ihre Herstellung und Eigenschaften“, Bernhard den Teil II, „Die Anwendung der Fotovervielfacher in der Kernforschung“. Im November sandte er ein Exemplar mit der handschriftlichen Widmung „Meinem alten Freund Dr.-Ing. Erwin Schmidt mit herzlichen Grüßen überreicht 66  Professor Wassili Semjonowitsch Jemeljanow leitete ab 1957 die sowjetische Atombehörde. 67  Bernhard war Mitte der 1940er Jahre Abteilungsleiter im Lichterfelder Laboratorium Manfred von Ardennes, ging mit ihm in die sowjetische Internierung und wurde 1961 zum Ordentlichen Professor für Experimentalphysik an die HumboldtUniversität Berlin berufen.

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E. Der Industriebetrieb VEB Vakutronik

von Werner Hartmann“ an einen seiner besten Freunde aus Studententagen, den er im Juni 1955 auf einer familiären Party in Westberlin „nach fast 15 Jahren“ wiedergesehen hatte.68 Bereits 1955 waren in sowjetischen Fachzeitschriften Aufsätze erschienen, in denen Hartmann als Ko-Autor genannt wurde. Die ehemaligen Kollegen sandten ihm Kopien dieser Publikationen zu. Es handelte sich um „unsensible“ Arbeiten im Zusammenhang mit der Entwicklung der sowjetischen Atombombe. Das „Journal für experimentelle und theoretische Physik“ der Akademie der Wissenschaften der UdSSR veröffentlichte im Band 28, Heft 6, 1955, auf den Seiten 699 bis 705 den Aufsatz „Amplituden-ImpulsAnalysator mit Elektronenstrahlröhre“ der Autoren Hartmann, I. N. Leon­ tjewa, A. P. Sinjawskij, L. W. Wasiljew. In „Erfolge der physikalischen Wissenschaften“, Band LV, Heft 4, April 1955, Seiten 537 bis 593, wurde eine „Tabelle von Kernmomenten“ veröffentlicht, die E. F. Kjulz, W. W. Kunz und W. G. Hartmann zusammengestellt hatten. Eine von Hartmann 1954 noch am Schwarzen Meer erstellte Liste „Wo werde ich zitiert?“ enthält 33 Literaturstellen.69 Auf der „2. Internationalen wissenschaftlichen Konferenz über die friedliche Anwendung der Atomenergie“, die vom 1. bis zum 13. September 1958 in Genf stattfand, war die DDR, wie Eckhard Hampe schreibt, durch „eine große Delegation von 35 Wissenschaftlern mit Beobachterstatus vertreten, deren Zusammensetzung am 24. Juli 1958 dem Wissenschaftlichen Rat vorgelegt“ worden war. Hartmann gehörte dazu. In seiner Bewertung dieser Konferenz stellte das Amt für Kernforschung und Kerntechnik fest, dass „im Hinblick auf den technischen Entwicklungsstand und die angestrebte Wirtschaftlichkeit“ von Reaktoren für den Einsatz in Kernkraftwerken „eine allgemeine internationale Ernüchterung“ zu erkennen gewesen sei. Man habe daraus den Schluss gezogen, „wegen der Begrenzung der Mittel in der DDR nunmehr die Kräfte zu konzentrieren“. Eine Mahnung, die „leider ungehört verhallte“, weil, wie Hampe konstatiert, „die in der DDR von der Parteiführung angestrebte optimistische Atmosphäre zum Einsatz moderner Techniken“ nicht beschädigt werden durfte.70 Als Ausdruck der überhöhten Erwartungen der SED-Führung an die Kernenergie und die Verortung der DDR als führender Industriestaat darf die Tatsache verstanden werden, dass die Bundesrepublik in Genf mit einer fünfköpfigen Delegation unter Leitung des

68  Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Zeitraum 1955–1961, Abschnitt G: VEB Vakutronik, Tagebuch. 69  Vgl. ebd., WH1 (1930–1955). 70  Hampe, Eckhard: Zur Geschichte der Kerntechnik in der DDR von 1955 bis 1962, Dresden 1996, S. 47.



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Bundesministers für Atomfragen Siegfried Balke teilnahm, die von lediglich 23 Beratern begleitet wurde.71 Unmittelbar im Anschluss an diese Konferenz besuchte Hartmann gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Dr. Lippmann eine Tagung über Kernelektronik in Paris und kehrte am 23. September nach Dresden zurück.72 Schon für die „1. Internationale wissenschaftliche Konferenz über die friedliche Anwendung der Atomenergie“ in Genf war Hartmann eine Teilnahme in Aussicht gestellt worden. Dort berieten vom 8. bis zum 20. August 1955 etwa 2.000 Wissenschaftler und Fachleute aus 72 Nationen über die Verhinderung der Weiterverbreitung von Atomwaffen. Als Gegenleistung sollte die friedliche Nutzung der Atomkraft weltweit vorangetrieben werden. Erst als die Konferenz beendet war, erhielt er am 22. August 1955 die Mitteilung, dass er nicht teilnehmen könne.73 Die zuständigen Instanzen ersparten sich auf diese Weise eine Begründung der Entscheidung, ihn nicht reisen zu lassen. 3. Nebenamtlicher Professor an der TH Dresden Im Jahre 1958 berief die Technische Hochschule Dresden Hartmann zum nebenamtlichen Professor mit vollem Lehrauftrag an die Fakultät für Kerntechnik. Am Institut für experimentelle Kernphysik, dessen Direktor der Lehrstuhlinhaber Paul Kunze war, vertrat er als zweiter Hochschullehrer das Spezialgebiet „Kernphysikalische Elektronik“. Drei Assistenten ergänzten den Lehrkörper dieses Instituts.74 Hartmann bot die einstündige Vorlesung „Kernphysikalische Strahlenmesstechnik, Kernphysik und Strahlenmesstechnik“ als obligatorische Veranstaltung für das 8. Semester an, verbunden mit einem gleichfalls obligatorischen einstündigen Seminar. Darüber hinaus verantwortete er ein achtstündiges Elektronikpraktikum für Fortgeschrittene mit dem Schwerpunkt Strahlenmesstechnik.75 Nebenbei bemerkt bot Manfred von Ardenne an der Fakultät Elektrotechnik lediglich die einstündige Vorlesung „Neuere Elektronen- und Ionengeräte“ an.76

71  Vgl. https://www.bundesarchiv.de/cocoon/barch/10/k/k1957k/kap1_2/kap2_35/ para3_3.html, aufgerufen am 19.11.2020. 72  Vgl. Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Zeitraum 1955–1961, Abschnitt G: VEB Vakutronik, Tagebuch. 73  Vgl. ebd. 74  Vgl. Personal- und Vorlesungsverzeichnis der TH Dresden, Studienjahr 1958/ 59, Frühjahrs-Semester, S. 89. 75  Vgl. ebd., S. 210. 76  Vgl. ebd., S. 192.

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E. Der Industriebetrieb VEB Vakutronik

Ein Jahr vor der Schließung der Fakultät las Hartmann zwei Vorlesungen über jeweils zwei Stunden, und zwar „Kernphysikalische Elektronik“, obligatorisch für das 3. Semester, und „Ausgewählte Kapitel der kernphysikalischen Elektronik“, obligatorisch für Studenten des 7. Semesters. Ein zweistündiges Seminar für Kernphysik ergänzte das für einen nebenamtlichen Hochschullehrer beachtliche Pensum.77 Das Institut für experimentelle Kernphysik war personell aufgestockt worden, die Zahl der Assistenten von drei auf neun gewachsen. Hinzu kam noch ein Oberassistent in dem von Hartmann verantworteten Bereich der Strahlenmesstechnik.78 4. Chruschtschow lädt ein Auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1959 besuchte der sowjetische Parteiund Regierungschef Nikita Chruschtschow in Begleitung von Walter Ulbricht auch den Stand des VEB Vakutronik, wo ihn Hartmann in perfektem Russisch begrüßte. Darüber freute sich Chruschtschow derart, dass er Hartmann spontan zu einem Besuch der Sowjetunion einlud. In den „Mitteilungen aus Kernforschung u. Kerntechnik“ wurde diese Einladung zwar zum Zeichen der „Anerkennung der Wertarbeit unserer Facharbeiter und Angehörigen der Intelligenz“ umgewidmet, das keineswegs ein zufälliges Ereignis darstelle, sondern zum Prinzip des „Erfahrungsaustauschs und der Zusammenarbeit unserer Kernforscher und Kerntechniker mit den sowjetischen Fachleuten“ gehöre.79 Die zuständigen Institutionen der DDR bauten allerdings eine Reihe bürokratischer Hindernisse auf, sodass Hartmann der Einladung nicht Folge leisten konnte.80 Diese Einladung und das in den DDR-Medien verbreitete Foto von Chruschtschow und Hartmann am Messestand dürften aber ihre Wirkung auf missgünstige SED-Genossen unter den Mitarbeitern sowie bei den Verantwortlichen im Amt für Kernforschung und Kerntechnik nicht verfehlt haben – Publicity, die Hartmann guttat. Aufgrund seiner Mitwirkung an der Entwicklung der sowjetischen Atombombe bezog Hartmann bis in die 1960er Jahre hinein immer wieder einmal als Mitunterzeichner von öffentlichen Erklärungen zum atomaren Wettrüsten Stellung oder er ließ sich zitieren. Statt auf Atombomben, über die der Ostblock seit 1949 auch verfügte, setzten die USA und ihre europäischen Verbündeten zunehmend auf taktische Gefechtsfeldwaffen, um der Überlegenheit des Ostblocks auf dem Gebiet der konventionellen Rüstung zu begegnen. Der 77  Vgl. Personal- und Vorlesungsverzeichnis der TH Dresden, Studienjahr 1960/61, Herbst-Semester, S. 224. 78  Vgl. ebd., S. 105 f. 79  Mitteilungen aus Kernforschung u. Kerntechnik, Jahrgang 1, Juni 1959, Nr. 2. 80  Vgl. Buthmann, Versagtes Vertrauen, S. 395 f.



IV. Der Chef: Alltag, Anerkennung und Ehrungen129

Abb. 22: Chruschtschow am Messestand von Vakutronik.

Beschluss des Deutschen Bundestages vom März 1958 über die Ausrüstung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen stieß auf heftigen Widerstand in der Bevölkerung, der in öffentlichen Aktionen unter dem Slogan „Kampf dem Atomtod“ auch auf der Straße ausgetragen wurde. Die Welle des Protests wurde durch eine Äußerung des Bundeskanzlers Konrad Adenauer befeuert, der auf einer Pressekonferenz am 4. April 1957 die taktischen Atomwaffen mit der Bemerkung verharmloste, dass dies „im Grunde nichts anderes als eine Weiterentwicklung der Artillerie“ sei, „beinahe normale Waffen“.81 In der DDR gelang es der SED-Führung, Sympathien für den Plan des polnischen Außenministers Adam Rapacki zu wecken. Dieser hatte auf der UN-Vollversammlung am 2. Oktober 1957 die Bildung einer atomwaffenfreien Zone in Europa vorgeschlagen, im Kern bestehend aus Polen und den beiden deutschen Staaten. So würdigte Manfred von Ardenne am 18. März 1959, dem 10. Jahrestag der Weltfriedensbewegung, in seiner Rede in Dres81  Vgl. Wie Dr. Konrad Adenauer „taktische Atomwaffen“ definierte, in: Forum der Wehrmacht, Jahrgang 39 vom 12. Januar 2020, aufgerufen am 16.12.2020.

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E. Der Industriebetrieb VEB Vakutronik

den deren im August 1958 verstorbenen langjährigen Präsidenten Frédéric Joliot-Curie und sprach sich zum wiederholten Male für die Umsetzung des Rapacki-Plans aus.82 Wenngleich das Agieren Hartmanns zu jener Zeit keineswegs den Eindruck erwecken kann, sich auch in das politische Leben einbringen zu wollen, ließ er sich durchaus auf gelegentliche Stellungnahmen zum Zeitgeschehen ein. So auch im Juli 1959, als ihn die „Sächsische Zeitung“ bat, sich zur Europäischen Konferenz des Weltfriedensrates zu äußern. In Warschau trafen sich 130 Vertreter aus 22 europäischen Ländern im Vorfeld einer Konferenz der Außenminister, auf der Wege „zur Lösung des Deutschlandproblems“ und zur „internationalen Entspannung“ gesucht werden sollten. „Der bekannte Physiker Prof. Dr. Ing. Hartmann, Werkleiter des VEB Vakutronik Dresden, warnt in einer Stellungnahme zur Konferenz besonders vor der tödlichen Gefahr eines Atomkrieges“, schrieb das Bezirksorgan der SED. „In flammenden Worten“, so hieß es, „fordern hervorragende Persönlichkeiten unseres Bezirks […] Frieden für die Menschheit.“83 Zu den weniger erfreulichen Ereignissen jenes Jahres gehörte eine Unterschlagung erheblicher Gelder in seiner Finanzabteilung. Die Tageszeitung „DIE UNION“ berichtete darüber unter der Titelzeile „Vabanque-Spiel mit Volkseigentum. Kassenleiterin im VEB Vakutronik unterschlug 21.300 Mark“.84 Damals kam niemand auf die Idee, den Chef dafür zur Rechenschaft zu ziehen. 5. Reise ans Ende der Welt Neben all den Problemen eines rasch wachsenden Unternehmens sollte das Jahr 1959 aber auch Annehmlichkeiten und Ehrungen bereithalten. Von Ende April bis Anfang Mai ging das Ehepaar Hartmann auf eine große Reise „ans andere Ende der Welt“. China und dessen Hauptstadt Peking war das Ziel, das mit Zwischenlandungen und entsprechenden Aufenthalten in sowjetischen Metropolen, u. a. Moskau, angesteuert wurde. Als passionierter Briefmarkensammler schrieb er, wo immer möglich, sich selbst Ansichtskarten an seine Dresdner Adresse. In seinen Erinnerungen an eine außergewöhnliche Reise beschreibt Hartmann auch, wie es ihm gelang, den chinesischen Zoll zu überlisten. Es war dies neben dem Austritt aus der SA eine jener seltenen Gelegenheiten, gegen den Strom zu schwimmen, die er in seinen Erinnerungen hervorhebt. In Pe82  Vgl.

Sächsische Zeitung vom 20.3.1959. Zeitung vom 6.7.1959. 84  DIE UNION vom 4.3.1959. 83  Sächsische



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Abb. 23: Briefmarken als eigentlicher Zweck der Sendung.

king habe ihn eine Kollegin angesprochen und erzählt, dass sie vor dem Zweiten Weltkrieg bei dem 1953 verstorbenen Professor Ludwig Prandtl in Göttingen Luftfahrttechnik studiert habe. Als sie 1945 zurück nach China ging, schenkte ihr Professor Robert Wichard Pohl, vom Nobelpreisträger des Jahres 1977, Nevill Francis Mott, als „wahrer Vater der Festkörperphysik“ gefeiert,85 zum Abschied ein Kilogramm Platinblech. Die Chinesin wollte nun die Gelegenheit nutzen, dieses Geschenk an Deutschland zurückzugeben. Nach 14 Jahren der „Zwischenlagerung“ in China konnte Pohl das wertvolle Metall wieder in seinem Göttinger Depot verwahren.86 6. Erster Nationalpreis und öffentliche Anerkennung Anlässlich des 10. Jahrestages der Gründung der DDR erhielt Hartmann im Oktober 1959 den Nationalpreis II. Klasse, der mit 50.000 Mark dotiert

85  https://de.wikipedia.org/wiki/Robert_Wichard_Pohl,

aufgerufen am 19.6.2021. Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Zeitraum 1955–1961, Abschnitt G: VEB Vakutronik, S. 118. 86  Vgl.

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E. Der Industriebetrieb VEB Vakutronik

Abb. 24: Die Einladung nach Wien.

war.87 Die Urkunde trug die Unterschrift von Wilhelm Pieck, dem Präsidenten der Republik. Der zugehörige Ausweis hatte die Nummer 42/59. Mit Datum vom 6. Oktober 1959 erreichten den frisch gekürten NPT, so die offizielle Abkürzung, Glückwunschschreiben von SED-Chef Ulbricht, Ministerpräsident Grotewohl und Apel, dem Leiter der Wirtschaftskommission beim Politbüro des ZK der SED.88 Hartmann selbst reflektierte Jahre später diese Würdigung so: „Mit der Verleihung des Nationalpreises 4½ Jahre nach der Rückkehr aus der UdSSR war meine Arbeit hoch gewürdigt worden, ich war auf meinen Betrieb stolz und mit mir zufrieden.“89 Zu dieser Zufriedenheit mag auch eine Einladung zu Vorträgen nach Wien für den 19./20. Oktober 1959 beigetragen haben. Während einer Indienreise in den Monaten Januar und Februar 1960, die Hartmann akribisch dokumentierte, hielt er in mehreren Städten in englischer Sprache einen Vortrag über Kernstrahlungsmessgeräte des VEB Vaku-

87  Preisgeld: Die I. Klasse war mit einem Geldpreis in Höhe von 100.000 Mark, die II. Klasse mit 50.000 Mark und die III. Klasse mit 25.000 Mark verbunden. 88  Vgl. Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Zeitraum 1955–1961, Abschnitt G: VEB Vakutronik, Anlagen. 89  Ebd., S. 65.



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tronik.90 Die indische Presse berichtete ausführlich über diese Vorträge. Er bewahrte die Beiträge in „The Deccan Chronicle“, „Deccan Herald“, „Delhi Hindustan Standard“ und „The Daily Pratap“ (New Delhi) in einer repräsentativen schwarzen Mappe sorgsam auf.91 Bei seiner Rückkehr konnte er sich über einen Beitrag in der „Sächsischen Zeitung“ vom 29. Februar freuen. „Kerntechnik im Interesse des Friedens – VEB Vakutronik setzt sich international durch“, lautete die Überschrift. Die Journalistin und Schriftstellerin Ruth Seydewitz, Ehefrau des sächsischen Ministerpräsidenten der Jahre 1947 bis 1952, würdigte in ihrem 1960 erschienenen Buch „Dresden – geliebte Stadt“ den von Hartmann geleiteten Betrieb. Im Kapitel „Von Helden und Heldentaten“ schrieb sie: „Das Morgen wächst heute schon heran.“ Das sei auch im VEB Vakutronik zu sehen, „der sich bei der Herstellung vieler der Gesundheit der Menschen dienender In­ strumente in Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut von Professor Manfred von Ardenne und dem Institut für Kernphysik in Rossendorf besondere Verdienste erworben hat“.92 Am 14. Dezember 1960 fand eine Beratung über die „Bereitstellung von Bauelementen für die Elektronik“ statt, in der Hartmann „auf die Erschließung der Festkörperphysik für viele technische Zwecke aufmerksam machte“.93 Seine Botschaft war gut adressiert, wie die Liste der Teilnehmer zeigt.94 •• Prof. Gustaf Hertz (Vorsitzender des „Wissenschaftlichen Rates für die friedliche Anwendung der Atomenergie“), •• Prof. Robert Rompe (AdW), •• Werner Krolikowski (Bezirksleitung Dresden der SED), •• Prof. Paul Görlich (Direktor für Forschung und Entwicklung im VEB CZ Jena), •• Prof. Karl Rambusch (Leiter des Amtes für Kernforschung und Kerntechnik), •• Dr. Erich Apel (Leiter der Wirtschaftskommission beim Politbüro des ZK der SED),

90  Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Werner_Hartmann_(Physiker), aufgerufen am 10.11.2020. 91  Vgl. Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, WH 4 (1960). 92  Seydewitz, Ruth: Dresden – geliebte Stadt, Dresden 1960, S. 57. 93  https://de.wikipedia.org/wiki/Werner_Hartmann_(Physiker), aufgerufen am 24.11. 2020. 94  Vgl. Nachlass Technische Sammlungen Dresden, WH 4 (1960).

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E. Der Industriebetrieb VEB Vakutronik

•• Prof. Werner Kutzsche (Vorsitzender des Arbeitskreises „Elektrische Messund Prüftechnik“), •• Prof. Adolf Thießen (Vorsitzender des Forschungsrates), •• Bruno Leuschner (Vorsitzender der Staatlichen Plankommission), •• Prof. Hans Frühauf (TU Dresden), •• Herr Chrapek (Staatliche Plankommission), •• Dipl. oec. Ing. Wiesner (VEB Werk für Fernmeldewesen). Im August 1961 genoss das Ehepaar Hartmann einen zweiwöchigen Sommerurlaub in Bayreuth, „zusammen mit Adams und Rühles“. Theo Adam sang bei den Wagner-Festspielen sowohl im „Tannhäuser“ (23. Juli, Reinmar von Zweter) als auch in den „Meistersingern“ (8. August, Veit Pagner). Im Westfernsehen „erlebten“ sie den Mauerbau, hin- und hergerissen zwischen Verständnis und ungläubigem Staunen. Die Republikflucht, so Hartmanns Kommentar, „konnte ja nicht andauern, aber dass man mitten durch eine Stadt eine Mauer bauen würde, daran hatte niemand gedacht, dies hielt jeder für unmöglich und absurd“.95 Am 17. August, vier Tage nach diesem von Erich Honecker gemanagten brachialen Paukenschlag, kehrten die Urlauber in eine DDR zurück, deren Bürger nunmehr endgültig der SED ausgeliefert waren. Die Konsequenzen der Abschottung von Wissenschaftlern für das Innovationssystem konnte man zunächst nur ahnen. Sie traten allerdings von Jahr zu Jahr deutlicher hervor. Die überaus geringe Anzahl privilegierter sogenannter NSW-Reisekader konnte die negativen Folgen nicht wirksam kompensieren. Nur wenige Wochen nach dem Sommerurlaub bewies Hartmann seine Loyalität zur Staatspartei in Fragen der atomaren Rüstung. Am 10. September 1961 meldeten die führenden Tageszeitungen der DDR, dass namhafte Atomforscher die Erklärung der UdSSR vom 31. August 1961 billigten, nach der „einseitigen Einstellung“ der Kernexplosionen diese Versuche wieder aufzunehmen. Die am 13. Februar 1960 gezündete französische „Sahara­ bombe“96 sei, so argumentierten die Wissenschaftler, unter Beteiligung westdeutscher Monopole entwickelt worden. Sie sahen diese nicht näher beschriebene Kooperation als Beweis dafür an, dass „die westdeutschen Milita95  Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Zeitraum 1955–1961, Abschnitt G: VEB Vakutronik, S. 73 f. 96  „Das Verbrechen ist geschehen. Im Widerspruch zu den Beschlüssen und Empfehlungen der UNO, den entschiedenen Protesten der überwältigenden Mehrheit aller Menschen zum Trotz, wurde die französisch-westdeutsche Atombombe in der Sahara zur Explosion gebracht. Mit Abscheu und Empörung weist die Welt auf die Schuldigen; die französischen und die westdeutschen Imperialisten.“ Neues Deutschland vom 14.2.1960, S. 1.



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risten das deutsche Volk und andere Völker erneut in ein Kriegsabenteuer stürzen wollen“. Die Unterzeichner der Erklärung bescheinigten der Sowjetregierung, auf die „aggressive Rüstungspolitik der USA und Westdeutschlands“ nicht anders reagieren zu können. Neben Manfred von Ardenne, Klaus Fuchs und Werner Hartmann betrachteten auch Wilhelm Macke, Inhaber des Lehrstuhls für theoretische Physik an der TU Dresden, Walter Friedrich, Präsident des Deutschen Friedensrates, Josef Stanek, Präsident des Deutschen Amtes für Maß und Gewicht, sowie Karl Rambusch, Leiter des Amtes für Kernforschung und Kerntechnik, wie auch der amtierende Direktor des Zentralinstituts für Kernforschung Rossendorf, Helmuth Faulstich, und Justus Mühlenpfordt, Gründer des Leipziger Instituts für physikalische Stofftrennung, die Maßnahmen der Sowjetunion „als eine Stärkung der Friedenskräfte im Kampf um die Verhinderung eines Atomkrieges“.97 Nicht nur aus heutiger Sicht ist es, vorsichtig ausgedrückt, zumindest erstaunlich, dass namhafte Wissenschaftler wenige Tage nach dem fundamentalen Angriff der SED auf die Freiheit der Wissenschaft vom 13. August bereit waren, sich auf diese Weise instrumentalisieren zu lassen. Für die in der Sowjetunion Internierten lassen sich als entlastende Argumente Gefühle der Schuld geltend machen, an Stalins Jagd nach der Atombombe maßgeblich beteiligt gewesen zu sein. Bleibt die Frage, was Wilhelm Macke antrieb. 7. Aufbruch in ein neues Forschungsfeld Im September 1961 wurde Hartmann für ein Jahr als Chef von Vakutronik beurlaubt, um die „Arbeitsstelle für Molekularelektronik“ (AME) aufzubauen. Er war überzeugt, notierte er in diesem Zusammenhang, dass künftig der Maschinenbau ohne Elektronik nicht mehr auskommen wird, „um funktionsfähig zu sein“.98 Er ging diesen Schritt keineswegs ungern, empfand die neue Herausforderung vermutlich gar als einen weiteren Sprung nach oben auf der Karriereleiter. Stolz und Selbstzufriedenheit klingen in dem Satz an, dass er am 1. Oktober 1961 „sein Kind und Zögling, den VEB Vakutronik“, verlassen habe, „um eine neue Aufgabe von vielfach höherer Bedeutung zu übernehmen: Entwicklung der Mikroelektronik“.99 Die Tageszeitung der Freien Deutschen Jugend, die „Junge Welt“, besuchte Hartmann und veröffentlichte in ihrer Ausgabe vom 18./19. November 1961 auch dessen Antwort auf die Frage: „Was ist Molekularelektronik?“ Der ExBarkleit Manfred von Ardenne, S. 154. Technische Sammlungen Dresden, WH 5 (1961). 99  Ebd. Zeitraum 1955–1961, Abschnitt G: VEB Vakutronik, S. 65. 97  Vgl.

98  Nachlass

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E. Der Industriebetrieb VEB Vakutronik

perte betonte die Vorteile dieser neuen Technologie bei der Anwendung von Transistoren, vor allem „kleine Abmessungen und hohe Betriebssicherheit“. 1963 wurde der VEB Vakutronik offiziell zum Wissenschaftlichen Industriebetrieb ernannt und der Vereinigung volkseigener Betriebe (VVB) Nachrichten- und Messtechnik Leipzig angegliedert.100 „Bis 1965/66 war Hartmann gleichzeitig Hauptentwicklungsleiter (≈ Technischer Direktor) im VEB Vakutronik“, heißt es in dem Wikipedia-Eintrag. In diesen Jahren habe er vielfältige Angebote von renommierten Institu­tionen erhalten, u. a. „ein Angebot zur Leitung des Atomforschungszentrums Jülich“.101 Bis zum Jahre 1968 wuchs das Unternehmen auf 1.400 Mitarbeiter, von denen 300 einen Hoch- bzw. Fachschulabschluss besaßen. Am 1. März 1969 schließlich ging der Betrieb gemeinsam mit den beiden Dresdner Firmen VEB Funkwerk und dem VEB Schwingungstechnik und Akustik in den VEB RFT Meßelektronik Dresden über, dessen Name 1972 um den Zusatz „Otto Schön“ erweitert wurde.102 Zehn Jahre später, als Folge weiterer struktureller Veränderungen in der Volkswirtschaft, wurde der VEB Meßelektronik in das Kombinat Robotron eingegliedert und firmierte bis zum Ende der DDR als „VEB Robotron-Meßelektronik ‚Otto Schön‘ Dresden“. Rückblickend sollte Werner Hartmann Jahre später bilanzieren, dass „den VEB Vakutronik aufzubauen und viele Ideen wissenschaftlicher, technischer und organisatorischer Art zu investieren, sich gelohnt hat“. […] „Für eine erfolgreiche Analyse einer gegebenen Ausgangssituation sind Fantasie und Kreativität erforderlich, die zunächst alles in Frage stellen und alle Ideen, auch zunächst absurd erscheinende sog. Schnapsideen, zulassen. Dazu muss man jedoch eine gewisse Denkfreiheit, Unbeeinflussbarkeit von fixierten Schemata und orthodoxen Kategorien bewahrt haben. Dies ist nicht einfach, heute weniger denn je, und es bedeutet leider schon ein Risiko, solche Ideen auszusprechen. Aber, davon bin ich völlig überzeugt und meine Erfahrungen haben es vielfältig bestätigt, nur auf diese Weise ist Fortschritt erreichbar. Wenn jedoch sofort mit Misstrauen, der gefährlichsten Krankheit der Spezies Mensch, reagiert wird, können neue Ideen nicht entstehen oder wachsen: es tritt Stagnation und unfruchtbarer Small Talk ein, der Rückschritt ist dadurch vorprogrammiert. Um neue Ideen durchzusetzen, braucht man die alten preußischen Tugenden: Mut und Pflichtgefühl, Verantwortung, Disziplin und Selbstkontrolle, Kompromissbereitschaft und Standfestigkeit. Diese Eigen100  Vgl.

https://de.wikipedia.org/wiki/Vakutronik, aufgerufen am 16.12.2020.

101  https://de.wikipedia.org/wiki/Werner_Hartmann_(Physiker).

102  Otto Schön, ein 1905 in Königsberg geborener Kommunist, leitete von 1950 bis zu seinem Tod im Jahre 1968 das Büro des Politbüros des ZK der SED. 1985 gab die Post der DDR eine Sonderbriefmarke mit dessen Porträt heraus. Vgl. Müller-Enbergs u. a. (Hrsg.): Wer war wer, S. 1173.



V. Der Chef: Im Visier der Staatssicherheit137

schaften haben das vielgeschmähte Preußen – im Herzen Europas gelegen, mit Feinden an allen Grenzen, die auf seinem Boden ihre Kämpfe wie den 30-jährigen Krieg austrugen – nach dieser vernichtenden Katastrophe wieder erstehen und erstarken lassen: nur durch sie wurde es möglich. Das war niemals ‚Militarismus‘, sondern Selbstbehauptungswille und Selbstverteidigung des Volkes in seiner Gesamtheit. Aber wo existieren diese Eigenschaften heute noch in ausreichendem Maße? Herrscht heute nicht Opportunismus, Schönfärberei, Kriechen, Gewissenlosigkeit, Rücksichtslosigkeit?“103 Sind das Einsichten eines „im Grunde unpolitischen Hartmann“, wie Günter Dörfel ihn charakterisiert?104

V. Der Chef: Im Visier der Staatssicherheit In einem „Bericht über die zurückkehrenden SU-Spezialisten“ vom 31. Dezember 1954, in dem 139 Familien mit insgesamt 405 Personen erfasst sind, wurden elf Wissenschaftler und Ingenieure genannt, die „operativ bearbeitet werden müssen“, da sie „Verbindungen zu Geheimdiensten“ haben bzw. „ehemalige Abwehrbeauftragte der Gestapo“ waren. Einige seien „an ihrer Arbeitsstelle feindlich in Erscheinung getreten“, andere „haben interessante Verbindungen zu Personen im kapitalistischen Ausland“.105 Für Hartmanns Einbeziehung in diese Gruppe dürfte wohl das letzte Kriterium ausschlaggebend gewesen sein. Möglicherweise war das auch der Grund, weshalb die Sowjets kein Interesse daran hatten, dass er in die DDR ging. Wie bereits erwähnt, platzierte die Stasi nahezu zeitgleich mit seinem Amtsantritt zwei Inoffizielle Mitarbeiter in seinem engsten Umfeld. Sein Stellvertreter Werner Schauer, Deckname „Karl Wagner“, hatte nicht nur Einblick in, sondern auch Einfluss auf wichtige Leitungsentscheidungen. Sein Kraftfahrer, der SED-Genosse Egon Schlesier, gab unter dem Decknamen „Zündkerze“ willig darüber Auskunft an das MfS, wann und wo sich sein Chef mit wem getroffen hatte. Allerdings verlor Hartmann seinen Stellvertreter bereits Anfang 1956. „Für den Staatssicherheitsdienst war dies eine Niederlage.“ Der Arbeitsvertrag zwischen dem VEB Vakutronik und ihm wurde „im gegenseitigen Einvernehmen mit Zustimmung des Amtes für Kernforschung und Kerntechnik zum 31. Januar 1956 gelöst“.106

103  Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Zeitraum 1955–1961, Abschnitt G: VEB Vakutronik, S. 104 ff. Anm. d. Verf.: Hervorhebungen im Original durch Unterstreichungen. 104  Dörfel, Hartmann. Industriephysiker, S. 228. 105  SAPMO-J IV/2/202/56. 106  Buthmann, Versagtes Vertrauen, S. 384.

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E. Der Industriebetrieb VEB Vakutronik

„Der Staatssicherheitsdienst fertigte mit Datum vom 5. Juli [1955, Anm. d. Verf.] einen Sachstandsbericht zu Hartmann vor allem auf Grundlage der Berichte Schauers an. Wesentliche Aspekte darin: er sei ein guter Physiker, ein Gegner der Sowjetunion und er bekomme Tabletten vom Vater, die der US-Geheimdienst zur Anfertigung von Geheimtinte benutze. Der Bericht listete seine Westverbindungen auf und legte die Eröffnung eines Operativen Vorgangs (OV) fest.“107 Nachdem für diese Verdachtsmomente keine Belege erbracht werden konnten, wurde der OV „Tablette“ 1958 abgeschlossen. Bereits im darauffolgenden Jahr setzte die Überwachung durch das MfS erneut ein. Im Überprüfungsvorgang (ÜV) „Kristall“ versuchte die Stasi bis 1962, Hartmann „Schädlingstätigkeit“ nachzuweisen, wiederum erfolglos.108 Die zeitliche Nähe zu den Vorwürfen der Bildung einer parteifeindlichen Plattform Anfang 1958 dürfte allerdings kein Zufall sein. Erst im dritten Anlauf sollte es gelingen, Hartmann in einer Weise zu belasten, dass seine, wie er selbst es nannte, „Vernichtung“ möglich wurde.

107  Ebd., 108  Vgl.

Bl. 9.

S. 380. BStU ASD – AOP 2554/76 (Reg.-Nr. XII/2956/62 – „Molekül“), Bd. 1,

F. Vater der Mikroelektronik in der DDR I. Der Transistor öffnet das Tor ins Kommunikationszeitalter 1. Planwirtschaft und Innovationen Am 23. Dezember 1947 demonstrierten John Bardeen, Walter Brattain und William Shockley in Murray Hill im US-Bundesstaat New Jersey zum ersten Mal erfolgreich den Transistoreffekt. Aufgrund dieser Entdeckung konnten die elektrischen Funktionen der klassischen Elektronenröhre zukünftig von Festkörperschaltkreisen übernommen werden. Die drei wurden dafür nicht nur mit dem Nobelpreis geehrt, sondern setzten mit ihrer Erfindung einen Meilenstein auf dem Weg von der Industrie- zur Informationsgesellschaft. Der zweite bedeutsame Schritt, die Herstellung eines planaren integrierten Schaltkreises, gelang 1959 und wurde 1961 in den USA patentrechtlich geschützt. Diese Erfindung ist die Grundlage für die heute allgemein übliche Silizium-Planar-Technologie zur Herstellung mikroelektronischer Bauelemente. Zwischen 1965 und 1968 begannen Japan, Großbritannien, Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland mit der Produktion erster Typen von integrierten Schaltkreisen. Auf der 3. Parteikonferenz der SED im März 1956 forderte Walter Ulbricht, „in der Zeit des zweiten Fünfjahrplanes mit einer neuen industriellen Umwälzung [zu] beginnen“. Darunter verstand er eine „weitestgehende Mechanisierung und Automatisierung der Produktion“, nicht zuletzt durch „die Produktion von Elektronenrechenmaschinen sowie die Entwicklung der Halbleitergeräte für verschiedene Zwecke“.1 Obwohl auch in der DDR namhafte Wissenschaftler wie Matthias Falter und Werner Hartmann sofort die weitreichende Bedeutung von Bauelementen auf der Basis von Halbleitern erkannt hatten, wurde die Aufnahme der Serienproduktion von Kristalldioden und Transistoren erst durch den 1956 beginnenden 2. Fünfjahrplan zum ­strategischen Ziel erhoben. Die Volkskammer verabschiedete das Gesetz zu ­diesem Plan allerdings mit zweijähriger Verspätung am 9. Januar 1958. Es schrieb eine vorrangige Entwicklung von Schwer-, Energie- und Bauindus­ 1  Zitiert nach Sobeslavsky, Erich: Der schwierige Weg von der traditionellen Büromaschine zum Computer, in: Sobeslavsky, Erich/Lehmann, Nikolaus Joachim: Zur Geschichte von Rechentechnik und Datenverarbeitung in der DDR 1946–1968, Dresden 1996, S. 41.

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F. Vater der Mikroelektronik in der DDR

trie sowie der chemischen und elektronischen Industrie fest. Das bedeutete zunächst eine Erweiterung der Produktion traditioneller Betriebs-, Mess- und Regeltechnik. „Etwas später“, so André Steiner, „sollten auch Halbleiterbauelemente die elektronische Industrie modernisieren.“2 Sowohl Falter als auch Hartmann trauten sich zu, führend und gestaltend auf diesem zukunftsträchtigen Gebiet tätig zu werden. Beide vermochten es, nicht zuletzt dank ihrer mehrjährigen Tätigkeit in der Sowjetunion, das dafür unabdingbare Vertrauen der Partei- und Staatsführung zu erlangen. 2. Halbleitertechnik in der DDR in den 1950er Jahren Bereits seit 1951 liefen im Werk für Bauelemente der Nachrichtentechnik in Teltow erste Forschungsarbeiten zu Halbleitern. 1952 übernahm der nach „nur“ fünfjähriger Internierung aus der Sowjetunion zurückgekehrte Matthias Falter die Teltower Forschungsabteilung, und schon 1953 stellten seine Mitarbeiter die ersten Muster von Spitzentransistoren her. Diese Entwicklung verlief nur in der Startphase ähnlich wie in Westdeutschland. Die Produktion des Halbleiterwerkes in Frankfurt an der Oder (HFO) begann 1958 in einer ehemaligen Berufsschule. Jörg Berkner schreibt über die Anfänge der Halbleiterindustrie in Ost- und Westdeutschland: „Vergleicht man nun das Erscheinungsjahr des Mesa-Transistors AF 139 von Siemens mit dem des vergleichbaren HFO-Mesa-Transistors GF 145, so beträgt der Rückstand zirka drei Jahre. Beim AF 239 und GF 147 sind es etwa fünf Jahre.“3 Der AF 139 von Siemens kam 1963 auf den Markt, der AF 239 im Jahre 1966, die vergleichbaren Typen des Halbleiterwerkes Frankfurt/Oder 1966 bzw. 1971. Germanium-Mesa-Transistoren erlaubten erstmals die Konstruktion kompakter, volltransistorisierter Kofferradios mit UKW-Empfang. Aber nicht nur die Hersteller von Rundfunk- und Fernsehgeräten konnten durch den Einsatz von Halbleiterbauelementen kleinere, leichtere und energieeffizientere Endgeräte auf den Markt bringen. Auch die ausgesprochen konservative Büromaschinenindustrie ließ sich vom Wachstumspotenzial der Miniaturisierung von Rechenmaschinen überzeugen. Noch bis 1963 produzierten die Mercedes Büromaschinenwerke in Zella-Mehlis elektromechanische Rechen- und Buchungsmaschinen. Mit dem „Seriellen Elektronischen Rechner SER 2“, ausgestattet mit importierten Germanium-Dioden und -Transistoren, startete das Unternehmen 1964 erfolgreich in eine neue Ära. Das Interesse der Kunden übertraf alle Erwartungen. „Etwa 2.000 Exemplare dieses Typs wurden an rund 1.000 Betriebe und Institutionen geliefert“, so 2  Steiner,

André: Von Plan zu Plan, S. 89. Jörg: https://www.all-electronics.de/die-halbleiterindustrie-in-der-ddr/, aufgerufen am 19.1.2021. 3  Berkner,



I. Der Transistor öffnet das Tor ins Kommunikationszeitalter141

Christine Krause und Dieter Jacobs, wo sie „für Berechnungen in Ökonomie, Wissenschaft und Technik eingesetzt wurden“.4 Der mit 200 Transistoren und 1.500 Halbleiterdioden bestückte und von Prof. Nikolaus Joachim Lehmann 1963 am Institut für Maschinelle Rechentechnik der TU Dresden entwickelte „Kleinstautomat D 4a“, der nach Auffassung seines Entwicklers bereits damals „in bescheidener Weise alle wesentlichen Kriterien eines PC erfüllte“,5 wurde 1965 auf der Leipziger Herbstmesse präsentiert. Als Cellatron-Kleinrechner C8201 wurde er in Zella-Mehlis in Serie produziert. Bereits 1964 war mit dem „Robotron R100“ auf der Leipziger Herbstmesse der erste volltransistorisierte, programmgesteuerte Großrechner der DDR vorgestellt worden. Er enthielt 3.000 Germanium-Transistoren und 6.700 Dioden. In einer Studie zur Geschichte von Rechentechnik und Datenverarbeitung in der DDR in den Jahren 1946 bis 1968 zeigte Erich Sobeslavsky, dass es der DDR nicht gelang, den „erstrebten Anschluss an das Niveau westlicher Industriestaaten“ zu finden. Der Rückstand zu diesem Niveau „betrug 1966, d. h. zum Termin der Fertigstellung der ersten in der DDR gebauten Datenverarbeitungsanlage ‚Robotron 300‘, immer noch sechs Jahre“. Die SEDFührung selbst schätzte ein, dass „sich auf den Gebieten der Datenverarbeitung und der elektronischen Bauelemente trotz einer bedeutenden Konzentration der Kräfte der Rückstand auch in den auf 1966 folgenden Jahren nicht verringern wird, da das Entwicklungstempo in den führenden Industrieländern ebenfalls außerordentlich groß“ sei.6 Die Wirtschaftsfunktionäre waren nicht bereit, die systembedingte „generelle Unvereinbarkeit von zentraler Planung und Innovation“ als eine der wesentlichen Ursachen für den Rückstand von inzwischen sechs Jahren zu erkennen. Allerdings gab es „keinen wie auch immer gearteten Zwang, den Übergang zur Halbleitertechnik zu verschlafen“, konstatiert Johannes Bähr.7 Lehmann erinnert sich an die Argumente von Vertretern der Büromaschinenindustrie, die noch 1962 bei der Vorstellung seines Kleinstrechners angesichts der kompakten Bauweise er4  https://docplayer.org/27116662-Von-der-schreibmaschine-zu-mikrorechnersys temen.html, aufgerufen am 3.2.2021. 5  Lehmann, Nikolaus Joachim: Zur Geschichte des „Instituts für maschinelle Rechentechnik“ der Technischen Hochschule/Technischen Universität Dresden, in: Sobeslavsky, Erich/Lehmann, Nikolaus Joachim: Zur Geschichte von Rechentechnik und Datenverarbeitung in der DDR 1946–1968, Dresden 1996, S. 136. 6  Sobeslavsky, Erich: Der schwierige Weg von der traditionellen Büromaschine zum Computer, in: Sobeslavsky, Erich/Lehmann, Nikolaus Joachim: Zur Geschichte von Rechentechnik und Datenverarbeitung in der DDR 1946–1968, Dresden 1996, S. 80. 7  Bähr, Johannes: Innovationsverhalten im Systemvergleich. Bilanz und Perspektiven neuerer wirtschaftshistorischer Forschungen, in: Abele, Johannes/Barkleit, Gerhard/Hänseroth, Thomas (Hrsg.): Innovationskulturen und Fortschrittserwartungen im geteilten Deutschland, Köln 2001, S. 35.

142

F. Vater der Mikroelektronik in der DDR

klärten, dass der „leere Raum immer noch das billigste Bauelement der Elektrotechnik“ sei.8 Zu der oben zitierten „bedeutenden Konzentration der Kräfte“ gehörte auch die Gründung des Instituts für Halbleitertechnik Teltow am 1. Januar 1960, einer Ausgründung der Halbleiterentwicklung und -fertigung aus dem Werk für Bauelemente der Nachrichtentechnik. Matthias Falter wurde der erste Direktor des neuen Instituts. 1958 zum Honorarprofessor an der Fakultät für Elektrotechnik der TH Dresden berufen, leitete er in Teltow die Entwicklung der grundlegenden technologischen Verfahren zur Herstellung von Halbleiterbauelementen.9 Anfangs standen Dioden aus Silizium, Germanium und Glas auf dem Entwicklungsprogramm des Institutes, aber auch Golddraht- und Fotodioden. Für erste Versuche, Bauelemente auf einem Chip zu integrieren, wurden Anlagen zur Züchtung von Einkristallen weiterentwickelt und betrieben.10 Innerhalb von fünf Jahren wuchs die Anzahl der Beschäftigten des Instituts auf etwa 1.200.11 Reinhard Buthmann attestiert Falter, „der veralteten Herstellung von Halbleiterbauelementen“ angehangen zu haben, indem „er quasi für jeden Typ eines Halbleiter-Bauelementes eine eigenständige Abteilung“ aufbaute, was „auch ökonomisch nicht tragbar“ war. Darüber hinaus sei die Kommunikation zwischen den Abteilungen „nahezu Null“ gewesen.12 Hartmann kann zugestanden werden, schreibt sein ehemaliger Mitarbeiter Lutz Böttger, „sehr früh bereits die unerhörte Tragweite“ der Fertigung des ersten integrierten Schaltkreises auf Germaniumbasis bei der amerikanischen Firma Texas Instruments im Jahre 1958 erkannt zu haben. Er habe daraufhin den Anstoß gegeben, „dass seit Anfang 1960 von zentralen Stellen der DDR die Notwendigkeit der Bearbeitung des Gebietes der Molekularelektronik geprüft wurde“.13 Sein Chef wurde zunächst für die Dauer eines Jahres von 8  Lehmann, Nikolaus Joachim: Zur Geschichte des „Instituts für maschinelle Rechentechnik“ der Technischen Hochschule/Technischen Universität Dresden, in: Sobeslavsky, Erich/Lehmann, Nikolaus Joachim: Zur Geschichte von Rechentechnik und Datenverarbeitung in der DDR 1946–1968, Dresden 1996, S. 136. 9  Vgl. Falter, Bernd: Die „Technologische Lücke“ – zum Rückstand der mikroelektronischen Industrie der DDR, in: Hänseroth, Thomas (Hrsg.): Dresdner Beiträge zur Geschichte der Technikwissenschaften, Heft 25/1998, S. 15–38. 10  Vgl. Graulich, Kirsten: Wiege der Halbleiter, in: Potsdamer Neueste Nachrichten vom 5.2.2010. 11  Vgl. https://imt-museum.de/de/das-museum/ausstellung/elektronik/gleichrichterstahnsdorf, aufgerufen am 19.1.2021. 12  Buthmann, Versagtes Vertrauen, S. 363. 13  Böttger, Lutz: Die Ära Hartmann, vier Jahrzehnte später von einem Mitarbeiter betrachtet, Dresden 2001, S. 4. Mein Dank gilt Herrn Böttger für die Überlassung des unveröffentlichten Manuskripts.



II. Die Arbeitsstelle für Molekularelektronik143

Vakutronik beurlaubt, um die Arbeitsstelle für Molekularelektronik (AME) aufzubauen, blieb aber noch etwa fünf Jahre als Hauptentwicklungsleiter dem Unternehmen verbunden. Unter dem Datum des 8. September 1961, fünf Wochen nach der Gründung des neuen Unternehmens, notierte er, dass künftig der Maschinenbau ohne Elektronik nicht mehr auskommen wird, „um funktionsfähig zu sein“. „In absehbarer Zeit wird ein Maschinenbau ohne Elektronik unbrauchbar und nicht exportfähig sein.“14

II. Die Arbeitsstelle für Molekularelektronik 1. Ein Konzept wird Realität Am 1. August 1961 nahm in Dresden die „Arbeitsstelle für Molekularelektronik“ (AME) unter Leitung von Werner Hartmann ihren Betrieb auf. Die Rahmenbedingungen für die Entwicklung innovativer Technologien waren in der DDR mit der nach Bähr „systembedingten generellen Unvereinbarkeit von zentraler Planung und Innovation“ sowie der „Priorisierung von Verfügbarkeit und Eigenversorgung“ durch die wirtschaftsleitenden Organe alles andere als optimal.15 All das hatte Hartmann beim Aufbau von Vakutronik bereits erlebt. Aber weder der schwierige Zugriff auf unverzichtbare Ressourcen noch die jedem der sogenannten staatlichen Leiter drohende Gefahr der Personifizierung von systembedingten Defiziten konnten ihn entmutigen. Die neue Forschungs- und Entwicklungseinrichtung wurde aus simplen organisatorischen und finanztechnischen Gründen dem Amt für Kernforschung und Kerntechnik unterstellt. In einer zweigeschossigen Baracke in unmittelbarer Nähe des Flughafens begann Hartmann seine Arbeit und stellte bis Jahresende sieben Mitarbeiter ein. Unter wechselnden Namen und Unterstellungsverhältnissen sollte sein Werk bis in die Mitte der 1980er Jahre das Forschungszentrum der DDR auf dem Gebiet der Mikroelektronik schlechthin sein.16 Im Unterschied zu seinem Teltower Konkurrenten Falter verfolgte Hartmann das Konzept, „die Entwicklung und Produktion nach technologischen Gesichtspunkten aufzubauen und danach ihre Struktur auszurichten“. Hartmann, so Buthmann weiter, „hatte die primäre Rolle der Technologie bereits bei der Entwicklung der SEV [Sekundärelektronenvervielfacher, Anm. d. 14  Nachlass,

Technische Sammlungen Dresden, WH 5 (1961). Innovationsverhalten im Systemvergleich, S. 40. 16  Am 6. Juni 1978 bestätigte das Politbüro einen Beschluss des Präsidiums des Ministerrates über die „Langfristige Konzeption zur Profilierung des VE Instituts für Mikroelektronik Dresden als führende wissenschaftlich-technische Einrichtung auf dem Gebiet der Mikroelektronik“. SAPMO Barch J IV 2/2-1729. 15  Bähr,

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F. Vater der Mikroelektronik in der DDR

Verf.] von 1937 erkannt“.17 Hartmanns Konzept von Struktur und Führungsstil des neuen Unternehmens, die Buthmann als externer Beobachter kurz und knapp auf den Punkt gebracht hat, beschreibt der Insider Böttger ausführlich und findet wesentliche Übereinstimmungen mit den Ergebnissen einer Studie der London Business School aus dem Jahre 2000. Deren Autoren empfahlen „weitsichtigen Managern“, zum Wohle aller Beteiligten auf Kooperation zu setzen und die Mitarbeiter zu motivieren. Er findet es „schon erstaunlich, dass die Ergebnisse heutiger Forscher den Konzeptionen sehr ähnlich sind, die Hartmann vor 40 Jahren beim Aufbau der Arbeitsstelle für Molekularelektronik in Dresden verwirklichte“. Darüber hinaus nennt Böttger „eine prozessbezogene Denk- und Arbeitsweise als Ausgangs- und Mittelpunkt der Forschungs- und Entwicklungsarbeit sowie der Fertigung auf allen Ebenen und in sämtlichen Phasen des gesellschaftlichen Reproduk­tionsprozesses in der physikalischen Industrie“. Damit sei, und das unterscheidet auch den Führungsstil Hartmanns von demjenigen seines Konkurrenten Falter, „die prozessorientierte, interdisziplinäre Zusammenarbeit fachbezogener Abteilungen impliziert“. Für Hartmann galt: „AME ist ein Labor.“ Es entwickelte sich, so Böttger, „eine produktive Arbeitsatmosphäre, die Mitarbeiter jeder Strukturebene forderte und anspornte und sie Spaß und Befriedigung an ihrer Arbeit im Kollektiv erleben ließ“. Nicht zuletzt diesem Klima sei eine „außerordentlich geringe Fluktuation“ zu verdanken gewesen.18 Böttgers Manuskript enthält auch eine Chronologie wesentlicher Ereignisse und Leistungen der „Ära Hartmann“, die im Folgenden, systematisch geordnet, wiedergegeben und wo erforderlich erläutert werden soll. Für eine Forschungs- und Entwicklungseinrichtung erlebte die AME innerhalb weniger Jahre beachtliche Zuwächse an Personal. Tabelle 15 Anzahl der Beschäftigten in der AME Datum Ende 1961

17  Buthmann, 18  Böttger,

Beschäftigte 7

Juli 1962

46

Ende 1965

300

31. Dezember 1969

611

31. Dezember 1972

961

31. Dezember 1973

973

Versagtes Vertrauen, S. 363. Die Ära Hartmann, S. 2 f.



II. Die Arbeitsstelle für Molekularelektronik145

Nur zwei Wochen nach dem Beschluss des Ministerrats vom 13. Juli 1961 zur Auflösung der Luftfahrtindustrie gegründet, nahm die AME ihre Tätigkeit am Hauptsitz der VVB Flugzeugbau in Dresden auf, dem Standort der 1935 erbauten Luftkriegsschule Klotzsche. Aber nicht nur die Errichtung neuer Gebäude hält Böttger für erwähnenswert, sondern auch die Schaffung betrieblicher Ferieneinrichtungen, wie das Ferienheim in der Sächsischen Schweiz, einer europaweit einmaligen Landschaft. Um das knappe Angebot der Gewerkschaft an Urlaubsplätzen während der Schulferien zu erweitern, nutzten nicht nur volkseigene Betriebe, sondern auch Produktionsgenossenschaften in der Landwirtschaft oder auch im Handwerk sowie gesellschaft­ liche Institutionen das Instrument der Eigeninitiative. Mit dem Umzug in die frühere Kaserne stand Hartmann 1964 endlich eine geeignete Immobilie zur Verfügung. Dennoch beklagte er die äußeren Umstände. „Weil die AME nicht auf der Liste der volkswirtschaftlich dringenden Objekte steht, ist Baumaterial kaum zu beschaffen. Mitarbeiter sind kaum zu rekrutieren. Bauarbeiter werden wiederholt abgezogen. Dringend notwendige Renovierungsarbeiten können nur gegen Zahlung von Bestechungsgeldern vorangetrieben werden.“19 Tabelle 16 Das Baugeschehen an den unterschiedlichen Standorten Datum

Standort/Ereignis

1961

Baracke am Flughafen

Juli 1962

Umzug nach Königsbrücker Landstraße 159

Februar 1963 bis Anfang 1964

schrittweiser Umzug in eine ehemalige Kaserne

September 1965

Inbetriebnahme des größten Teils der Labore

März 1966

Inbetriebnahme der ersten staubarmen und klimatisierten Räume

April 1968

Grundsteinlegung für das Hauptgebäude der Versuchsfertigung

Mai 1968

Einweihung eines betriebseigenen Ferienheimes in Schmilka

Januar 1969

Richtfest für Haus 331

Juli 1970

erster Spatenstich für das Rechnergebäude

November 1973

Richtfest für das umgebaute Ferienheim in Schmilka

19  Silicon

Saxony (Hrsg.): Silicon Saxony. Die Story, Dresden 2006, S. 35.

146

F. Vater der Mikroelektronik in der DDR

2. Konkurrierende Technologien In den Anfangsjahren der AME sah auch Hartmann die sogenannte Mikromodul-Technologie noch als aussichtsreiche Methode zur Miniaturisierung elektronischer Bauelemente an. Bei dieser Technologie werden leitende und isolierende Schichten auf eine Unterlage aus Glas oder Keramik aufgedampft oder auch aufgedruckt. In Abhängigkeit von der Dicke dieser Schichten sprach man von Dünn- bzw. Dickschichttechnik. Allerdings lassen sich aktive Bauelemente wie Dioden oder Transistoren mit hinreichend stabilen elektrischen Parametern auf diese Weise nur schwer herstellen. Deshalb müssen sie als diskrete Bauelemente nachträglich eingefügt werden. Als Hybridoder Mikromodultechnologie bezeichnet, wurde sie in den 1960er und 1970er Jahren federführend von den Keramischen Werken Hermsdorf entwickelt. Dort wurden mehrere Generationen von Hybrid- und Dickschichtschalt­ kreisen produziert, die als KME 1 bis KME 3 eine gewisse Bedeutung für Gerätehersteller erlangten. Die Buchstabenkombination KME stand für Kompakt-Mikroelektronisches-Element. Bei der dritten Generation wurden schließlich auch die Kondensatoren in Dünnschichttechnik erstellt. Ein KME-3-Baustein enthielt jeweils eine logische Funktion, z. B. NOR-Gatter, Flip-Flop oder Negator. Außerdem gab es KME-3-Baugruppen, die lediglich Widerstände enthielten und benutzt wurden, um den Pegel von Leitungsbündeln elektrisch in eine Richtung zu ziehen. Die KME-3-Schaltkreise waren in Silikongummi eingegossen. Als Substrat wurde neben Keramik auch Glas verwendet. Die Strukturen auf dem Substrat wurden mit einer HochvakuumVerdampfungsanlage des Dresdner Instituts „Manfred von Ardenne“ aufgebracht. Widerstände und kleinkapazitive Kondensatoren konnten direkt in die Schaltungsstruktur integriert werden. Größere Kondensatoren, aktive Bauelemente (Dioden und Transistoren im Miniplast-Gehäuse) wurden vor dem Kunststoff-Verguss aufgelötet. Die anfangs verwendeten Kunststoff-Gehäuse wurden später durch Aluminium-Gehäuse ersetzt.20 Als Leiter der Arbeitsgemeinschaft „Aktive Dünnfilmelemente“ befasste sich auch Hartmann selbst intensiv mit dieser Technologie. Der für dieses Aufgabengebiet verantwortliche Abteilungsleiter war überzeugt, „dass im Westen die Dünnschichttechnik bald die Halbleiterblocktechnik überflügeln werde“. Dennoch setzte die AME für das Dünnschichtprogramm „nie mehr als fünf bis zehn Prozent der Gesamtforschungskapazität“ ein.21 20  Vgl. https://www.robotrontechnik.de/index.htm?/html/standorte/kwh.html, aufgerufen am 2.2.2021. 21  Augustine, Dolores L.: Werner Hartmann und der Aufbau der Mikroelektronikindustrie in der DDR, in: Hänseroth, Thomas (Hrsg.): Dresdner Beiträge zur Geschichte der Technikwissenschaften, Nr. 28 (2002), S. 14.



II. Die Arbeitsstelle für Molekularelektronik147

Von allen KME-Varianten erlangte KME 3 die größte Bedeutung. Die Entwicklung eines Nachfolgers, KME 4 bezeichnet, sollte vor allem höhere Rechengeschwindigkeiten ermöglichen. Der dafür erforderliche Übergang zur Dünnschichttechnologie, die Herstellung von Dioden, Transistoren oder ganzen Schaltungseinheiten direkt auf dem Glas- oder Keramiksubstrat, gelang jedoch nicht, „da in der AMD die betreffenden Entwicklungsvorhaben 1971 im Zuge der Umorientierung auf die Halbleiter-Block-Technologie abgebrochen wurden“.22 Obwohl Hartmann „die Mikromodultechnik für wenig mehr als eine notwendige Übergangslösung“ hielt, irrte er sich mit der Prognose, dass deren Ablösung durch die Mikroelektronik ein Prozess sein und „etwa zehn Jahre dauern“ würde.23 Eine „gravierende Fehlentscheidung“ nennt der Technikhistoriker Bernd Wenzel die Hoffnung, mit Hilfe der Dünnschichttechnik könne man die DDR-Wirtschaft „billiger und schneller mit elektronischen Komponenten für die Unterhaltungselektronik, EDV und Automatisierungsanlagen beliefern“.24 3. Vom Schaltungsentwurf zum fertigen Chip Seit der Gründung waren einige Jahre ins Land gegangen, bis Hartmann mit seinen Mitarbeitern den kompletten Prozess der Herstellung von Festkörperschaltkreisen in Angriff nehmen konnte. Dieser erfolgt in vier Schritten, sogenannten Zyklen: Tabelle 17 Die Zyklen der Chip-Herstellung Zyklus 0

Schaltungsentwurf mit Hilfe leistungsfähiger Rechner und entsprechender Software, Ergebnis: Datensätze für den Scheibenprozess sowie die Zwischenund Endmesstechnik

Zyklus I

gesamter Scheibenprozess unter Reinraumbedingungen, Herstellung und Abtragung der einzelnen Schichten, Lithgraphie, Dotierung

Zyklus II

Vereinzeln und Kontaktieren der Chips, Einbau ins Gehäuse, Verkappen

Zyklus III

Funktionsprüfung durch rechnergestützte Messtechnik

22  https://www.robotrontechnik.de/index.htm?/html/standorte/kwh.htm, aufgerufen am 2.2.2021. 23  Augustine, Aufbau der Mikroelektronikindustrie, S. 12. 24  Zitiert nach ebd., S. 13.

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F. Vater der Mikroelektronik in der DDR

Voraussetzung für den Schaltungsentwurf im Zyklus 0 und die Funktionsprüfung im Zyklus III sind Hochleistungsrechner, während die Scheibenbearbeitung im Zyklus I staubarme Reinräume verlangt. Die Montage- und Verkappungsprozesse im Zyklus II werden durch Roboter realisiert. Viele der erforderlichen Technologischen Spezialausrüstungen (TSA) waren weder in der DDR noch in den Staaten des RGW verfügbar. Sowohl wegen der Embargobestimmungen als auch wegen des chronischen Devisenmangels war es nicht möglich, sie im Westen einzukaufen. Hartmann sah nur einen Weg, sein Ziel zu erreichen: den Eigenbau. Zu den unverzichtbaren Spezialausrüstungen gehörten Diffusionsanlagen zur Dotierung des Siliziums mit den erforderlichen Fremdatomen, wie z. B. Arsen, Phosphor, Bor oder Gold. Im Juli 1962 beauftragte Hartmann den neu eingestellten und frisch promovierten Dr. Kurt Drescher mit der Entwicklung einer solchen Anlage. Drescher erinnert sich, dass die Parteispitze das gar nicht gern sah, sondern forderte, „dieses Produkt aus der Sowjetunion zu importieren“. Mit einer Portion Ironie wies er auf einen „entscheidenden Nachteil“ der russischen Diffusionsöfen hin: „Für ihre Inbetriebnahme hätten wir ein eigenes Wasserwerk benötigt.“25 Die wirtschaftsleitenden Institutionen der DDR suchten über Jahre hinweg eine nach ihrer Auffassung optimale Einordnung der AME in die Struktur der zentralistischen Planwirtschaft. Im März 1963 wurde die AME aus dem Verantwortungsbereich des Amts für Kernforschung und Kerntechnik herausgelöst und dem Volkswirtschaftsrat direkt unterstellt. 1970 erfolgte die Eingliederung in die VVB Bauelemente und Vakuumtechnik (BuV), 1971 eine Erweiterung des Namens durch Hinzufügung des Standortes Dresden, sodass die offizielle Abkürzung nicht mehr AME, sondern AMD (Arbeitsstelle für Molekularelektronik Dresden) lautete. Ebenfalls 1971 fand im Plenarsaal des Dresdner Rathauses ein dreitägiges wissenschaftliches Kolloquium anlässlich des 10-jährigen Bestehens statt, das Böttger als „außerordentlich erfolgreich“ erlebte und bei dem Hartmann „prägnant formulierte: ‚Kühn planen, konsequent handeln und sich dann auf allerhand gefasst machen‘.“ Besonders das Letzte sollte sich für ihn auf eine Weise bewahrheiten, die sich weder er selbst noch die Teilnehmer dieses festlichen Ereignisses hätten vorstellen können.

25  Silicon

Saxony (Hrsg.): Silicon Saxony. Die Story, Dresden 2006, S. 37.



II. Die Arbeitsstelle für Molekularelektronik149 Tabelle 18 Bilanz der Ära Hartmann in Forschung und Entwicklung Datum

Stand von Forschung und Entwicklung

März 1966

Beginn der Messungen an pn-Übergängen

April 1967

Test von selbst entworfenen und hergestellten integrierten Transistoren

Oktober 1967

Laborfertigung von FKS (Festkörperschaltkreis) des Typs AME T 10

April 1968

erfolgreiche Präparation des ersten FKS C 10 mit Strukturen von 20 Mikrometern

September 1968

erfolgreiche Präparation des FKS C 30, später D 120 C, kleinste Strukturen 10 Mikrometer; Nachweis der Verwendbarkeit des Verfahrens C (Silizium-Epitaxie-Planar-Technologie)

Februar 1969

Beginn der Überleitung des Verfahrens C und der FKS-Reihe D 1 C in das Halbleiterwerk Frankfurt/Oder

Oktober 1970

Versuchsfertigung mit eigens geschultem Personal

Februar 1971

Inbetriebnahme des Rechners IBM 360/40 für Schaltungsentwurf, Systemanalyse, Durchlaufsteuerung und Auswertung von Messergebnissen

April 1971

Übergabe der ersten in der Versuchsfertigung hergestellten FKS

ab 1971

industrielle Warenproduktion von FKS

Januar 1972

Abschluss der FKS-Reihe D 1 C nach Überleitung in das Halbleiterwerk Frankfurt/Oder

Mai 1972

Auftrag für MNOS-Technologie (Taschenrechnerschaltkreis)

Sommer 1972

Einsatz von AMD-Mitarbeitern im Halbleiterwerk Frankfurt/ Oder zur Beseitigung von Mängeln im Zyklus II

ab 1973

industrielle Warenproduktion von mehr als 25 Millionen Mark ohne Lieferrückstände; Reklamationsquote 0,031 Prozent

März 1974

Beginn des Testfeldentwurfs für die p-channel Silicon Gate Technology (pSGT)

April 1974

erste gute Ergebnisse des FKS U 820 D bei der Überleitung in den VEB Funkwerk Erfurt

150

F. Vater der Mikroelektronik in der DDR Tabelle 19 Kennziffern der AME/AMD, 1965 bis 1973

Jahr

Mitarbeiter (VbE)*, Ist

Mittel für F/E, Ist [Mark]

Investitionen, Ist [Mark]

Prämienmittel, Ist [Mark]

1965

297

4.105.000

4.488.000

129.000

1966

344

4.977.000

5.238.000

226.000

1967

404

11.594.000

5.465.000

269.000

1968

460

16.750.000

3.527.000

294.000

1969

539

58.893.000

2.725.000

410.000

1970

660

49.424.000

25.042.000

561.000

1971

806

37.203.000

13.849.000

806.000

1972

912

29.051.000

2.111.000

912.000

1973

945

18.324.000

1.497.000

945.000

* VbE – Vollbeschäftigten-Einheit

„Die AMD war auf Erfolgskurs“, konstatiert Buthmann. „Doch die DDR geriet immer mehr in Zahlungsnot. Statt die Investitionen kräftig zu steigern, schrumpften sie binnen dreier Jahre um die Hälfte. Reziprok dazu stiegen im gleichen Zeitraum die Prämienmittel um das Doppelte.“26 Die von Buthmann präsentierte Übersicht über relevante ökonomische Parameter der Ära Hartmann spiegelt die fatalen Auswirkungen der von Honecker seit 1971 verfolgten Linie der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik deutlich wider. 4. Der Taschenrechner „minirex 73“ Einen „großen technologischen Schritt“ nennt der studierte Informationselektroniker und Publizist Jörg Berkner die Produktionsaufnahme des ersten integrierten Schaltkreises, der TTL-Schaltung D100, im Frühjahr 1971 im Halbleiterwerk Frankfurt/Oder, dessen Entwicklung in der AMD erfolgte.27 Im Jahr darauf beauftragte Otfried Steger, Minister für Elektrotechnik und Elektronik, das Funkwerk Erfurt mit der Entwicklung eines Taschenrechners nach einem japanischen Vorbild. Der Zyklus I, die Entwicklung des RechnerSchaltkreises, wurde der AMD übertragen. Als „minirex 73“ zeigte der Her26  Buthmann,

Versagtes Vertrauen, S. 546. Berkner, Jörg: https://www.all-electronics.de/die-halbleiterindustrie-in-derddr/, aufgerufen am 19.1.2021. 27  Vgl.



II. Die Arbeitsstelle für Molekularelektronik151

Abb. 25: Taschenrechner „minirex 73“ vom VEB Röhrenwerk Mühlhausen.28

steller das Modell auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1973 der Weltöffentlichkeit. „Im gleichen Jahr stellten auch die Sowjetunion mit dem ‚elektronika B3-04‘ und die Volksrepublik Bulgarien mit dem ‚elka 101‘ ihre ersten Taschenrechner vor“, hob der Insider Dipl.-Ing. Hartmut Lorenz in einem Vortrag hervor, den das Thüringer Wirtschaftsarchiv veröffentlichte.29 Im Thüringer Museum für Elektrotechnik in Erfurt erzählt Lorenz die Geschichte der Taschenrechnerfamilie minirex. „Die Entwicklungsarbeiten des minirex 73 erfolgten im VEB Funkwerk Erfurt. In Serie produziert wurde er im VEB Röhrenwerk Mühlhausen.“ […] „Die Schaltkreise und die Anzeige für den minirex 73 waren noch aus amerikanischer Produktion. Was zu jener Zeit international jedoch so üblich war.“ Während in der Bundesrepublik 1973 „ca. eine Million Taschenrechner über die Ladentische“ wanderten, wurden die minirex in der DDR „für 3.100 M einschließlich Netz- und Ladeteil verkauft“. Erst nach Aufnahme der Serienproduktion des Taschenrechner-Schaltkreises U820D, der bereits 1973 in Dresden entwickelt worden war, habe am 1. Januar 1976 im Röhrenwerk Mühlhausen mit der Herstellung des „minirex 75“ begonnen werden können, „dem ersten elektronischen Taschenrechner, der ausschließlich mit DDR-Bauteilen bestückt werden konnte“.30 Der Dresdner Rechnerschaltkreis war eine Nachentwicklung des Schaltkreises TMS0101 von Texas Instruments.31 In seinen Memoiren reflek28  Quelle:

https://www.elektromuseum.de/wissen-taschenrechner-minirex73.html.

29  https://www.twa-thueringen.de/files/16741AA7A00/45-Jahre-Minirex-Einladung.

30  Vgl. https://www.elektromuseum.de/publication/newsletter/elektromuseum_news letter_032018.pdf, S. 6 ff., aufgerufen am 25.1.2021. 31  Vgl. Silicon Saxony (Hrsg.): Silicon Saxony. Die Story, Dresden 2006, S. 57.

152

F. Vater der Mikroelektronik in der DDR

tierte Hartmann voller Bitterkeit, dass seit der Herstellung eines Labormusters des U820D am 7. November 1973 acht Jahre vergangen seien und in die Mikroelektronik der DDR „finanzielle Mittel in Höhe mehrerer Milliarden Mark gepumpt“ wurden, es aber noch immer keine billigen Taschenrechner gäbe. In der BRD seien in jedem Haushalt bereits ein bis zwei Taschenrechner vorhanden. In der DDR hingegen sei der Besitz eines Taschenrechners außerhalb von wissenschaftlich-technischen Fachkreisen eine ausgesprochene Seltenheit. „So groß ist der Abstand geworden.“32 5. Die Strategie des Nachempfindens Entwicklung und Produktion der ersten Taschenrechner in der DDR legten zwei systembedingte Schwachstellen der Zentralplanwirtschaft offen, die zu ständigen Begleitern der Mikroelektronik wurden. Es waren dies zum einen die in allen Industriebereichen zu beobachtenden Probleme bei der Überführung von Ergebnissen aus Forschung und Entwicklung in die Serienproduktion und zum anderen die schwache Innovationsfähigkeit in Forschung und Entwicklung selbst, verglichen mit den technologischen Weltmarktführern. Letztere konnten auch durch die zunehmenden illegalen Praktiken des Ministeriums für Staatssicherheit bei der Beschaffung von Fremdmustern und Technologischen Spezialausrüstungen nicht kompensiert werden, beschönigend als „Durchbrechung der Embargobestimmungen des Westens“ bezeichnet. Industriespionage ist zwar kein universitärer Studiengang, wird aber weltweit exzessiv praktiziert. Im Vorwort eines 2008 erschienenen Buches mit dem Titel „Die Industriespionage der DDR. Die wissenschaftlich-technische Aufklärung der HVA“ dankt Herbert Weiz, ehemaliger stellvertretender Ministerpräsident und Minister für Wissenschaft und Technik, den Herausgebern, zwei Oberste und ein Generalmajor der Hauptverwaltung Aufklärung des MfS, „der beachtlichen Zahl großartiger Menschen, die für uns im westlichen Ausland tätig waren, ein Denkmal“ gesetzt zu haben.33 Zwei Kapitel dieses Buches sind der „Unterstützung der elektronischen Industrie“ gewidmet.34 Von der erfolgreichen Herstellung eines Labormusters des U820D am 7. November 1973 in Dresden bis zur Aufnahme der Serienproduktion im 32  Ebd.

S.  58 f. Horst/Süß, Manfred/Vogel, Horst: Die Industriespionage der DDR. Die wissenschaftlich-technische Aufklärung der HVA, Berlin 2008, S. 9. 34  Bereits 1997 veröffentlichte die amerikanische Wissenschaftshistorikerin Prof. Kristie Macrakis einen Aufsatz über „Das Ringen um wissenschaftlich-technischen Höchststand: Spionage und Technologietransfer in der DDR“, in: Hoffmann, Dieter/ Macrakis, Kristie (Hrsg.): Naturwissenschaft und Technik in der DDR, Berlin 1997, S. 59–88. 33  Müller,



II. Die Arbeitsstelle für Molekularelektronik153

Funkwerk Erfurt vergingen reichlich zwei Jahre. Das „Nachempfinden“ des Schaltkreises TMS0101 der amerikanischen Firma Texas Instruments im Jahre 1972 bezeichnete Dr. Roland Köhler, damals bei AMD dafür verantwortlich, als „hohe Schule der Fremdmusteruntersuchung“.35 Hohe Schule deshalb, weil man in Dresden die p-channel Silicon Gate Technology noch nicht beherrschte, bei der die Gate-Elektrode nicht mehr aus Aluminium gefertigt wird, sondern aus hochdotiertem polykristallinem Silizium besteht. Der Chip von Texas Instruments enthielt „knapp 5.000 Transistoren auf einer Fläche von 36 Quadratmillimetern – ein für DDR-Verhältnisse gigantischer Integrationsgrad“.36 Trainiert hatten Hartmanns Mitarbeiter die Fremdmusteruntersuchung bereits bei der Entwicklung des später im Halbleiterwerk Frankfurt/Oder in Serie produzierten Chips mit dem Namen D120C, der als erster Festkörperschaltkreis wirtschaftliche Bedeutung für die DDR erlangte und darüber hinaus als erfolgreiche Premiere der Kunst des Nacherfindens gelten kann. Seine Vorlage, ein Schaltkreis aus der Familie SN 74 von Texas Instruments, gehörte noch zum SSI-Niveau (Small Scale Integration) und ließ sich unter einem Mikroskop vermessen. Ein Querschliff lieferte Aufschlüsse über den schichtweisen Aufbau und die Technologie des Herstellungsprozesses, gab Dr. Dietrich Armgarth preis, der 1962 vom VEB Elektronische Bauelemente Teltow zu Hartmann gekommen war.37 Im Unterschied zu der einigermaßen kontinuierlichen Entwicklung der Forschung wies die industrielle Nutzung der Halbleiterphysik Höhen und Tiefen auf. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre gehörte der Industriezweig Elektrotechnik/Elektronik mit einem Produktionszuwachs von fast 60 % zu den Spitzenreitern im Entwicklungstempo in der DDR-Industrie überhaupt.38 Während sich die Mikroelektronik in der ersten Hälfte der siebziger Jahre in den führenden westlichen Industriestaaten zu einer Schlüsseltechnologie entwickelte, beschloss die SED auf der 14. Tagung des ZK im Dezember 1970 und auf ihrem VIII. Parteitag im Juni 1971 die drastische Senkung der Investitionen im Industriezweig Elektrotechnik/Elektronik. Der von Honecker veranlasste „politische und ökonomische Gegenentwurf zur Ulbricht’schen Politik“, die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“, setzte andere Prioritäten. Die Konzentration auf den Ausbau der Rohstoff- und Energiebasis, 35  Silicon 36  Ebd. 37  Vgl.

Saxony (Hrsg.): Silicon Saxony. Die Story, Dresden 2006, S. 57.

ebd., S. 54 f. Müller, Gerhard: Die Politik der SED zur Herausbildung und Entwicklung der Mikroelektronikindustrie der DDR im Rahmen der ökonomischen Strategie zur Durchsetzung der intensiv erweiterten Reproduktion (1976 bis 1985), Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Dissertation (B), Berlin 1989, S. 11. 38  Vgl.

154

F. Vater der Mikroelektronik in der DDR

die Erhöhung der Konsumgüterproduktion und nicht zuletzt die Forcierung des Wohnungsbaus hatten zur Folge, dass die Investitionen im Bereich Elektrotechnik/Elektronik im Jahre 1974 nur noch 68,4 % des Wertes von 1970 betrugen.39 Günstige Voraussetzungen für den Aufbau einer mikroelektronischen Industrie bestanden Mitte der siebziger Jahre in der DDR also nicht. Aber auch Westeuropa war dabei, den Anschluss zu verlieren. Obwohl Siemens 1975 durch den Bau eines 20 Millionen DM teuren Fertigungszen­ trums zum bedeutendsten Hersteller für MOS-Schaltkreise in Europa avancierte, bestanden dennoch keinerlei Aussichten, den Vorsprung der USA und Japans aufzuholen. Eine der amerikanischen Förderung vergleichbare Initiative, durch die bis 1980 rund 1 Milliarde US-Dollar für Forschung und Entwicklung bereitgestellt wurden, gab es in Europa nicht.

III. Der Chef: Alltag, Anerkennung und Ehrungen 1. Eigeninitiative versus Linientreue Auch an seiner neuen Wirkungsstätte erwies sich Hartmann als unbequemer Chef, besessen von seiner Arbeit. Das spürten auch die Mitarbeiter. Gerade in der Mikroelektronik müssten alle Mitarbeiter „höchste Disziplin und Sauberkeit regelrecht verinnerlicht“ haben, so sein Anspruch. Die Gruppen- und Abteilungsleiter ließ er „weitgehend an der langen Leine“ arbeiten. Sein Beitrag sei die Vorgabe der Richtung gewesen. „Und die stimmte, heben Beteiligte noch heute hervor.“40 Der Physiker Hans W. Becker, der 1963 seine berufliche Laufbahn in der Arbeitsstelle für Molekularelektronik begann, hebt drei Merkmale als „entscheidende Grundlage“ des methodischen Konzepts von Hartmann hervor, nämlich interdisziplinäre Kollegialität, das Primat der Technologie sowie Eigeninitiative.41 Für die amerikanische Historikerin Dolores L. Augustine ermöglichte nicht zuletzt die persönliche Auswahl durch den Chef „die Ausprägung einer hohen Arbeitsmoral sowie einer engagierten Arbeitsweise“. Dies schuf zugleich „die Basis für persönliche Treue und Hartmanns große Autorität“. Dieser „patriarchalische Führungsstil, der dem eines deutschen Ordinarius vor 1945 ähnlich war“, habe darüber hinaus das Misstrauen der Staatsführung erweckt, „zumal er kein SED-Mitglied war“.42

Müller, Die Politik der SED, S. 23. Saxony (Hrsg.): Silicon Saxony. Die Story, Dresden 2006, S. 23. 41  Vgl. Becker, 100. Geburtstag. 42  Augustine, Aufbau der Mikroelektronikindustrie, S. 23. 39  Vgl.

40  Silicon



III. Der Chef: Alltag, Anerkennung und Ehrungen155

Abb. 26: Der Chef in der Versuchsfertigung.

In der Tat bemühte sich Hartmann als Wissenschaftler und Manager, seine oben genannten Prinzipien selbst zu leben, wobei insbesondere die Eigeninitiative von ihm, der Not gehorchend, oft praktiziert werden musste. Das sahen nicht nur die führenden Wirtschaftsfunktionäre, sondern auch die ­ ­Apparatschiks der unteren Ebenen gar nicht gern. Eigeninitiative war der Staatspartei suspekt, denn in diesem Begriff klang unterschwellig immer auch Individualität mit. Die SED setzte stattdessen vielmehr auf „verordnete“ kollektive Initiativen, wie die sogenannten VMI-Einsätze. VMI stand für volkswirtschaftliche Masseninitiative, die „freiwillige“ Verpflichtung eines jeden Werktätigen, pro Kalenderjahr eine bestimmte Anzahl an Stunden unbezahlter Arbeit in Kommunen oder Institutionen zu leisten. Selbst die 1948 in den DDR-Medien euphorisch gefeierte Hochleistungsschicht des später zur Legende gewordenen Bergmanns Adolf Hennecke, der am 13. Oktober jenes Jahres in einer gut vorbereiteten Schicht 24,4 Kubikmeter Kohle statt der üblichen 6,3 Kubikmeter förderte und damit die Hauer-Norm mit 387 Prozent erfüllte, war von der Partei inszeniert worden. Das wichtigste Instrument der Wirtschaftspolitik der DDR, also der Zentralplanwirtschaft, war nun einmal der Plan, so banal diese Feststellung auch immer klingen mag. Für viele Funktionäre war es wichtiger, einen Plan aufzustellen, als diesen auch erfüllt zu sehen. Die Kluft zwischen den lauthals

156

F. Vater der Mikroelektronik in der DDR

verkündeten Ansprüchen der SED und der Realität sehend, spotteten „Nichtgenossen“ mit einer Spur von Galgenhumor, dass die Planvorgaben ohnehin nur unverbindliche Richtlinien seien. Gründe für nicht erfüllte Pläne ließen sich in einer Mangelwirtschaft immer finden. Selbstverständlich war auch Hartmann gefordert, wenige Jahre nach der Gründung der AME einen langfristigen Arbeitsplan mit terminlich fixierten Entwicklungsstufen und abrechenbaren Leistungen aufzustellen. Er weigerte sich jedoch, konkrete Termine anzugeben. Bei einer Sitzung des Forschungsrats am 9. Juli 1964 wurde er deshalb von Günter Mittag heftig attackiert, der ihm vorwarf, „die Verantwortung für die Mikroelektronik nicht erkannt zu haben und wahrzunehmen“. Je lauter Mittag wurde, desto wütender sei er geworden, erinnert sich Hartmann und habe erwidert: „Wenn die Mitarbeiter von AME und ihr Leiter nicht so viel Verantwortungsgefühl hätten, wäre bis heute überhaupt nichts entstanden.“ Hartmann bat um den Einsatz einer Untersuchungskommission. Das sei genehmigt worden, aber nie zustande gekommen, schreibt Dolores Augustine.43 Mittag, schon damals als Mitglied des Forschungsrats, Leiter des Büros für Industrie und Bauwesen des ZK der SED sowie Vorsitzender des Volkskammerausschusses für Industrie, Bauwesen und Verkehr ein Mann mit großem Einfluss, pflegte einen Führungsstil, zu dem auch die Demütigung der Leiter von Betrieben vor den Augen ihrer Mitarbeiter gehörte. Das war bekannt und wurde gefürchtet. Wenige Monate vor dieser Sitzung des Forschungsrats war Matthias Falter, Direktor des Instituts für Halbleitertechnik Teltow und Technischer Direktor des Halbleiterwerks Frankfurt/Oder, abgelöst und zu Hartmann nach Dresden „abgeordnet“ worden. Bei der Überführung der Forschungsergebnisse gab es Probleme, für die das zuständige Ministerium Falter verantwortlich machte. Hartmann wurde die Übernahme der Leitung des Teltower Instituts angetragen, was der jedoch ablehnte. „Ihn reize die wissenschaftliche Arbeit mehr“, nennt Buthmann als Grund dieser Ablehnung, „die er in Teltow in diesem Maße nicht leisten könne.“ Er habe aber vorgeschlagen, „die Möglichkeit des Einsatzes eines sowjetischen Wissenschaftlers zu prüfen“. War dies ein Versuch, „eine Art Luftballon, die Ernsthaftigkeit der Regierung in Sachen seiner Philosophie von Mikroelektronik auszutesten?“, fragt Buthmann.44 Günter Dörfel erinnert sich daran, dass Falter unter vier Augen Hartmann „als primäre Ursache für sein Scheitern“ dessen Bemühen genannt habe, „den staatlichen Vorgaben immer nachzukommen, auch dann, wenn diese als unrealistisch erkennbar waren“.45 Falters Abordnung nach Dresden sollte eine 43  Vgl.

ebd., S. 10. Versagtes Vertrauen, S. 434. 45  Augustine, Aufbau der Mikroelektronikindustrie, S. 24.

44  Buthmann,



III. Der Chef: Alltag, Anerkennung und Ehrungen157

recht kurze Episode in dessen Berufsleben bleiben, denn bald wechselte er zunächst zum Elektronikhandel Berlin, um schließlich im Institut für elektronische Bauelemente als Abteilungsleiter für Forschungsprognose eine neue Aufgabe zu finden. 2. Eigenbau von Technologischen Spezialausrüstungen Da die DDR-Industrie, wie bereits ausgeführt, nicht in der Lage war, die erforderlichen Technologischen Spezialausrüstungen zu liefern und die Devisen für einen Import nicht bereitgestellt werden konnten, gab es für Hartmann beim Aufbau der Arbeitsstelle für Molekularelektronik und der Entwicklung von Festkörperschaltkreisen keine Alternative zum Eigenbau. Schon früh strebte er eine Zusammenarbeit mit Carl Zeiss Jena an. Mitte 1963 schlug er die Bildung einer Arbeitsgemeinschaft beider Unternehmen vor, was Prof. Paul Görlich, in Jena Direktor für Forschung und Entwicklung, jedoch „schroff ablehnte“.46 Das galt nicht nur generell, sondern auch für den Einzelfall. Aufgrund der Weigerung des VEB Carl Zeiss Jena, für die AME einen Fotorepeater zur Übertragung der einzelnen Chipstrukturen auf eine Schablone zu entwickeln, begann „mit einem vom 14. April 1966 datierten internen Entwicklungsauftrag“ der Eigenbau eines solchen Gerätes „als waschechte ‚Schwarzarbeit‘ “. Zeiss wäre als einziges Unternehmen in der DDR in der Lage gewesen, ein solches Präzisionsgerät für die Mikroelektronik zu fertigen. In „bemerkenswert kurzer Zeit ist das funktionsfähige Labormuster hergestellt“, das eine „deutlich verbesserte Positioniergenauigkeit als das japanische Modell“ aufwies.47 Bei dem Besuch einer hochrangigen Regierungsdelegation in der AME gelang es Hartmann Mitte 1967, Günter Mittag über das Dilemma mit dem Fotorepeater zu informieren. Nach einem Tobsuchtsanfall habe dieser angewiesen, dass „sowohl Carl Zeiss Jena als auch Elektromat innerhalb der folgenden Woche je zehn qualifizierte Mitarbeiter für die beschleunigte Überleitung des Fotorepeaters zur AME abzustellen haben“. Das durch Carl Zeiss weiterentwickelte Modell des „vollautomatischen 9-fach Fotorepeaters ANR“ wurde „zum Kassenschlager, mit dem sich beträchtliche Außenhandelsgewinne erzielen ließen und das sogar nach Japan exportiert wurde“.48 1969 gab es für das Entwicklungskollektiv „Gerätesystem E/Foto-Repeater“, bestehend aus Mitarbeitern der Arbeitsstelle für Molekularelektronik in Dresden und dem VEB Carl Zeiss Jena, einen Nationalpreis I. Klasse für Wissen46  Ebd.,

S. 16. Saxony (Hrsg.): Silicon Saxony. Die Story, Dresden 2006, S. 40 ff. 48  Ebd., S.  43 f. 47  Silicon

158

F. Vater der Mikroelektronik in der DDR

schaft und Technik. Zu den Geehrten gehörten die AME-Mitarbeiter Dr. Kurt Drescher, Dr. Konrad Iffarth und Dr. Reinhard Springer. Bald schon erwies es sich als unumgänglich, die Technologischen Spezialausrüstungen nicht nur zu besitzen, sondern diese auch in einer geeigneten Umgebung zu betreiben. Der Begriff des „Reinraumes“ umfasst die Anforderungen an die Abwesenheit von Stäuben. Um persönlich staubarme Reinräume in Augenschein nehmen zu können, erhielt Hartmann 1964 die Erlaubnis, zusammen mit vier seiner Mitarbeiter in die Bundesrepublik zu reisen. Für die Jahre 1965/1966 geplante Reisen in die USA, zu den Firmen Fairchild, Texas Instruments und Motorola, sowie nach Japan wurden ihm jedoch untersagt.49 In einem auf den 1. Januar 1965 datierten Bericht „Integrierte Mikroelektronik in der DDR. Über die Arbeitsstelle für Molekularelektronik Dresden“ beklagte sich Hartmann über die aus seiner Sicht noch immer ungeklärte Stellung als Leiter der AME sowie fehlendes Vertrauen der übergeordneten Instanzen. Er bat „mit Nachdruck“ darum, dass seine „Stellung und damit meine weitere Tätigkeit ohne Verzug eindeutig geklärt wird. In dem äußerst geringen, mir zur Zeit noch gelassenen Spielraum an Vertrauen sehe ich kaum Möglichkeiten, die Verantwortung für das ‚Komplexthema Integrierte Mikroelektronik‘ zu tragen.“50 Mit dem Tod von Erich Apel am 3. Dezember 1965 verlor Hartmann nicht nur einen ihm sympathischen Spitzenpolitiker der SED, sondern auch einen Förderer der Mikroelektronik. Der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission gilt als geistiger Vater des Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft (NÖSPL), von dem sich Ulbricht eine Erhöhung der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft versprach. Zweifel an der offiziellen Darstellung über die Gründe für dessen Suizid werden immer wieder einmal laut.51 In seinen Memoiren reflektierte Hartmann: „Ende 1965 erschoss sich Dr. Apel, der sich am meisten“ um den WIB „gekümmert hatte. Heute (1981) bezeichnen sich VEB Spurenmetalle und VEB Hochvakuum in ihren Briefköpfen noch immer als WIB, aber sie haben keinerlei Vorteile mehr davon. Nur die Bezeichnung blieb!“ Der „VEB Vakutronik war der erste Betrieb, der per Verfügung der SPK mit Datum vom 20. Februar 1961 diese Bezeichnung zuerkannt bekam“.52 Und er hielt fest, dass er „in Apel einen guten Freund“ gefunden hatte, der „sich aus Überzeugung für die Förderung der Elektronik“ eingesetzt habe. Als es diesem gelungen war, die 49  Vgl. Augustine,

Aufbau der Mikroelektronikindustrie, S. 18. Technische Sammlungen Dresden, 1961–1974, Teil H (AMD), S. 55. 51  Vgl. Wiegrefe, Klaus: Wohin führt das?, in: Der Spiegel 10 (2000). 52  Vgl. Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, G 110. 50  Nachlass,



III. Der Chef: Alltag, Anerkennung und Ehrungen159

Entwicklung integrierter Schaltkreise 1965 in die Liste volkswirtschaftlich dringender Vorhaben aufzunehmen, habe er zu ihm gesagt: „Jetzt ist es mir zum ersten Mal gelungen, in die Plandokumente das Wort Elektronik hineinzubekommen.“ Bedauernd fügte Hartmann hinzu: „Es ist sehr kompliziert ohne Mitstreiter!“53 Obgleich die Sowjetunion bei der Entwicklung einer im Wettstreit der Systeme immer bedeutsamer werdenden innovativen Technologie nicht zu einer vertraglich fixierten Zusammenarbeit auf Augenhöhe bereit war, gab es durchaus fruchtbare punktuelle Kontakte. So fuhr Hartmann im Oktober 1966 als Mitglied einer vom Direktor für Wissenschaft und Technik der VVB Bauelemente und Vakuum, Heinz Fuhrmann, geleiteten Delegation nach Moskau, wo er u. a. von Alexander I. Schokin empfangen wurde, dem sowjetischen Minister für Elektrotechnik und Elektronik. Schon beim Besuch Schokins in Dresden im September 1966 fanden sich beide sympathisch. „Schokin beeindruckte Hartmann durch seine Fachkenntnisse der Halbleitertechnik und Mikroelektronik, wobei er sein Pendant Steger bei weitem übertraf.“ Schokin habe Hartmann in Moskau „persönlich Staubmessgeräte“ überreicht und Fragen zur „Ausbeute bei der Herstellung integrierter Schaltkreise“ beantwortet. Die Bitte, „DDR-Fachleute an sowjetischen Tagungen zur Halbleitertechnik bzw. Mikroelektronik teilnehmen zu lassen“, habe er nicht erfüllen können.54 In ihrer abschließenden Bewertung dieser Reise stellte die DDR-Delegation fest, dass auf beiden Seiten die Voraussetzungen fehlten, Wünsche der jeweils anderen Seite nach der Lieferung von Bauelementen zu erfüllen. Die Teilnehmer urteilten, „dass die sowjetische Seite einen noch erheblichen Rückstand habe, gemessen an den USA sei es etwa der Stand 1963 bis 1964“.55 Ohne sich auf die SED einzulassen, lernte Hartmann im Laufe der Jahre, erfolgreich eigene Wege zu gehen. Unter den besonders linientreuen Genossen regte sich Widerstand. Am Rande einer stürmisch verlaufenden Beratung unterrichtete Minister Steger ihn am 30. Juni 1967 darüber, dass zwei seiner Mitarbeiter gegen ihn arbeiteten. „Aber es ist Ihre Sache, herauszufinden, wer das ist.“56 Hartmann glaubte offenbar nicht, dass sich seine Position ein reichliches Jahr nach dem Tod von Erich Apel, der von seiner Linie überzeugt war und zu ihm gehalten hatte, grundsätzlich verschlechtert haben könnte. Zumindest deutet alles darauf hin, dass er nicht wirklich beunruhigt war.

53  Ebd.,

G 62. Aufbau der Mikroelektronikindustrie, S. 18 f. 55  Buthmann, Versagtes Vertrauen, S. 485 f. 56  Nachlass 1961–1974, S. H 131–133. 54  Augustine,

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F. Vater der Mikroelektronik in der DDR

Das galt zu diesem Zeitpunkt auch noch für sein Privatleben. Ein wenig melodramatisch formuliert, stand jedoch auch seine zweite Ehe unter keinem guten Stern. Im Sommer 1967 organisierte das MfS die sogenannte Anschleusung eines Gesellschaftlichen Mitarbeiters (GM) an die zweite Ehefrau Hartmanns.57 Der GM „Theo“ agierte als Gigolo so erfolgreich, dass diese bereits im Herbst die Scheidung einreichte. „Theo“, geboren in Hamburg, siedelte 1954 in die DDR über und war zuvor mehrere Jahre als Journalist in Schweden tätig. Hieraus flocht das MfS die Legende: „ ‚Theo‘ wird als zurzeit in Schweden lebender WD-Bürger bei der H. auftreten. Er hat in Schweden eine Wohnung und besitzt in Hamburg, seiner Geburtsstadt, ebenfalls eine Wohnung.“ Außerdem solle er „sich als freischaffender Journalist vorstellen, der sich mit wirtschaftlichen Problemen des ‚Osthandels‘ befasst“.58 Als „Theo“ plötzlich aus ihrem Leben verschwand, zog „Gerti“ die Klage zurück. Hartmann konnte seiner Frau aber nicht verzeihen und bestand nun seinerseits auf der Ehescheidung, die am 8. April 1968 erfolgte. Als Ertrag dieser „operativen Kombination“ konnte das MfS die Erkenntnis verbuchen, dass Werner und Gertraude Hartmann sich „1963 bei einem Aufenthalt in Westdeutschland mit dem Gedanken getragen haben, dort zu bleiben“. Aufgrund finanzieller Erwägungen haben sie sich jedoch für die Rückkehr in die DDR entschieden.59 Ob der Vertrauensbruch auch seiner zweiten Frau nicht nur den Mann, sondern auch den Menschen misstrauischer werden ließ, ist nicht sicher zu belegen. Fest steht jedenfalls, dass Hartmann nicht mehr ausschloss, dass Minister Steger ihn eines Tages zur Niederlegung seines Amtes auffordern würde. Bei einer Beratung im Jahr 1968 habe Steger ihn, so Augustine, unvermittelt attackiert: „Sie sind ein objektives Hindernis für die Entwicklung der Mikroelektronik.“ Selbstbewusst habe Hartmann erwidert: „Wenn dies so ist und Sie mir auch nicht sagen, warum ich ein objektives Hindernis bin, dann würde ich, wäre ich Minister Steger, Hartmann sofort abberufen.“ Dazu sei es aber nicht gekommen.60 Als weiteres Beispiel unbotmäßiger Eigeninitiative erwähnt Dolores Augustine, dass Hartmann gegen den Widerstand Stegers und des Generaldirektors der VVB Bauelemente und Vakuumtechnik, Rudolf Heinze, die Fertigung von Siliziumscheiben in der AME durchsetzte, weil der zuständige VEB Spurenmetalle Freiberg nicht in der Lage war, die erforderliche Reinheit des Materials zu gewährleisten.61 Buthmann, Versagtes Vertrauen, S. 434. S.  486 f. 59  Ebd., S. 434. 60  Augustine, Aufbau der Mikroelektronikindustrie, S. 24 f. 61  Vgl. ebd., S. 17. 57  Vgl.

58  Ebd.,



III. Der Chef: Alltag, Anerkennung und Ehrungen161

Abb. 27: Nationalpreis 1970: Hartmann mit Minister Steger und Parteichef Ulbricht im Gespräch.

Im Oktober 1970 wurde ein „Kollektiv zur Entwicklung von Technologien für die elektronische Industrie für seinen Anteil an beispielgebenden wissenschaftlich-technischen Leistungen bei der Entwicklung von Technologien und Spezialausrüstungen für die elektronische Industrie“, so die offizielle Begründung, mit dem Nationalpreis II. Klasse für Wissenschaft und Technik geehrt. Neben dem Chef Werner Hartmann gehörten mit Ralf Kempe und Eberhard Jahn ein Abteilungsleiter und ein Gruppenleiter der Arbeitsstelle für Molekularelektronik zu den Ausgezeichneten. Darüber hinaus waren in diesem Kollektiv mit dem Auftragsleiter Klaus Fuchs vom VEB Funkwerk Erfurt, der Abteilungsleiterin Erika Godau vom VEB Halbleiterwerk Frankfurt (Oder) und Horst Bilz, dem Leiter des Musterbaus im VEB Elektromat Dresden, drei wichtige Kooperationspartner vertreten. Die Auffassung Hartmanns, mit der Auszeichnung im Kollektiv sei er „als parteiloser Wissenschaftler diskriminiert worden“, stellt Augustine jedoch mit dem Verweis auf den gleichfalls als Parteiloser mit dem Nationalpreis geehrten Max Steenbeck in Frage.62 Denn Steenbeck erhielt 1971 den Nationalpreis I. Klasse gleichfalls im Kollektiv, und zwar für seinen Anteil an der Erarbeitung einer neuartigen Theorie zur Elektrodynamik turbulenter bewegter elektrisch leitender 62  Vgl.

ebd., S. 25.

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Medien, mit der die Herkunft des Magnetfeldes von Himmelskörpern und deren magnetischer Zyklus erklärt werden konnte. 3. Konkurrenz im eigenen Hause Mit dem deutlichen Hinweis, zwei seiner Mitarbeiter arbeiteten gegen ihn, hatte Minister Steger erkennen lassen, dass sich das Klima für etablierte Wissenschaftler in Leitungspositionen, aber ohne Parteibuch, grundlegend ändern würde. „Mitte der 1960er Jahre war ein akademisches Nachwuchs­ potenzial herangewachsen, das vornehmlich in der DDR selbst sozialisiert worden war“, konstatiert Günther Heydemann. „Der Partei stand nun ein wissenschaftlicher Personenkader zur Verfügung, der ihr noch in den 1940er und 1950er Jahren gefehlt hatte.“ Aber nicht nur an den Universitäten „setzte um diese Zeit ein Generationenwechsel unter den Professoren ein“.63 Auch in der Akademie der Wissenschaften sowie den Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen der Industrie machten sich ehrgeizige junge Genossen auf, leitende Mitarbeiter „bürgerlicher Herkunft“ zu verdrängen. Sie forderten das ein, was ihre Partei bereits Ende der 1950er Jahre unverblümt verkündet hatte, nämlich das Wissen reaktionärer Lehrkräfte nur so lange auszunutzen, „bis wir durch sie den entsprechenden Nachwuchs herangebildet haben“.64 Dennoch fühlten sich die „bürgerlichen Wissenschaftler“ an den Hochschulen einigermaßen sicher. Das Risiko einer Spitzenstellung in der Industrie, wie es Hartmann eingegangen war, wäre den meisten seiner Professorenkollegen viel zu hoch gewesen, erklärten sie ihm immer wieder. Bereits im März 1949 hatte das Politbüro der SED ein sogenanntes Nomenklatursystem nach sowjetischem Vorbild verabschiedet. „Im Laufe der Jahrzehnte“, so Klaus Schroeder, „weitete die Parteiführung das Nomenklatursystem horizontal und vertikal aus, bis schließlich, abgesehen von den Kirchen, alle Führungspositionen in Staat und Gesellschaft erfasst waren.“65 Das gesamte leitende Personal von Universitäten, Hochschulen, Instituten sowie alle Betriebsdirektoren und das leitende Personal von Großbetrieben stand somit unter Kuratel der Staatspartei. Ehrgeizige junge Nachwuchskader waren mitunter alles andere als zimperlich in der Wahl ihrer Mittel, wenn sie eine Chance sahen, Karriere zu ma63  Heydemann, Günther: Die Usurpierung akademischer Freiheit im deutschen Realsozialismus: Die Universität Leipzig in der Sowjetischen Besatzungszone und DDR 1945–1989/90, in: Sächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Die Ideologisierung der sächsischen Hochschulen von 1945 bis 1990, S. 72. 64  Reinschke, Kriegsende und Wiederbelebung der Hochschulen, S. 35. 65  Schroeder, Klaus: Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR, München 1998, S. 409.



III. Der Chef: Alltag, Anerkennung und Ehrungen163

chen. Sie scheuten nicht davor zurück, auch solche Wissenschaftler zu mobben, die durch eine Internierung in der Sowjetunion „geadelt“ worden waren. Diese „spezielle Erfahrung“ blieb auch Helmuth Faulstich, dem Direktor des Zentralinstituts für Kernforschung Rossendorf der Akademie der Wissenschaften, nicht erspart, der 1970 sein Amt an Günter Flach abgeben musste, der im Jahr darauf zum Professor ernannt wurde. In einem Brief an den Präsidenten der Akademie der Wissenschaften klagte Faulstich am 1. April 1971, dass „für mich manche Schritte im Jahre 1970 unverständlich blieben und in ihrer Primitivität der Tradition der Deutschen Akademie der Wissenschaften nicht entsprechen, um nicht zu sagen, unwürdig sind“.66 Spätestens jetzt hätte auch Hartmann erkennen müssen, wer in der DDR das Sagen hatte. 4. Prinzipien geraten ins Wanken Mit der Fertigstellung „des modernsten Reinraums im Ostblock und der Inbetriebnahme der Versuchsfertigung im sogenannten ‚Blauen Haus‘ besaß die AME im Jahr 1970 alle technischen Voraussetzungen, die zur Produktion kleinerer Serien von Festkörperschaltkreisen notwendig waren“. Die staub­ armen Räume hatte der Chef persönlich konzipiert. „Penibel wie er ist, legt er dabei die höchsten Maßstäbe an.“ Durch die Kombination von elektrischen Filtern und Massenfiltern wurde ein Staubgehalt der Luft von null bis drei Staubpartikeln einer Größe von über 0,5 Mikrometern pro Liter Luft erreicht. Dieser Staubpegel entsprach „exakt jenem Wert, den die Spitzenunternehmen der USA in ihren Produktionsstätten“ erzielten.67 Als am 16. April 1971 die ersten Festkörperschaltkreise vom Typ D2C die Versuchsfertigung verließen, war das für Hartmann ein Erfolg, der „unter strengster Abschirmung von der Welt, in völliger Isolation, ohne jedes Vorbild“ errungen worden sei.68 Was mag er sich dabei gedacht haben, angesichts der immer weiterentwickelten und permanent praktizierten Technik der Fremdmusteranalyse? Wenn er unter „völliger Isolation“ die „Vernachlässigung der AME durch die staatlichen Organe“ meinte, so trifft das zu, wie Dolores Augustine zeigen konnte. „Der Aufbau der Arbeitsstelle für Molekularelektronik hat im Wesentlichen im Selbstlauf stattgefunden. […] Von keiner zentralen Stelle wurde ein Gesamtplan über die Entwicklung der Mikroelektronik ausgearbeitet, so dass die AME bei der langfristigen Planung gänzlich auf sich selbst gestellt blieb.“ Aus der Schwäche des zentralen 66  Barkleit, Gerhard: EinBlick in zwei Welten. Das Ende der DDR als Glücksfall der Geschichte, 2. Auflage, Berlin 2019, S. 200. 67  Silicon Saxony (Hrsg.): Silicon Saxony. Die Story, Dresden 2006, S. 47. 68  Ebd., S. 28.

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Leitungsapparates heraus seien die verantwortlichen Genossen in das Beschreiben von Papier geflüchtet.69 Die Behauptung, der Schaltkreis D2C sei „ohne jedes Vorbild“ entwickelt worden, entspricht hingegen keineswegs der Wahrheit. In einer Denkschrift vom 10. April 1964 positionierte sich Hartmann eindeutig in der Frage, „ob man in der DDR die Mikroelektronik kopieren oder selbst entwickeln sollte“. Auf dem Weltmarkt angebotene Bauelemente nachzuentwickeln, stellte seiner Auffassung nach eine „unorganische und überstürzte Entwicklung“ dar, die „keine echte Beherrschung der Technik“ mit sich brächte und wodurch die DDR dazu verurteilt wäre, „bei technologischen Entwicklungen immer um Jahre hinterherzuhinken“. Er formulierte Mindestanforderungen für das Ziel, den Anschluss an den Weltmarkt zu finden. Den „wissenschaftlichen Austausch mit dem Ausland“ sowie den Import „von Geräten und Bauelementen, die in der DDR nicht erhältlich waren“, hielt er für unverzichtbar, fasst Augustine die Kernpunkte dieser Denkschrift zusammen.70 Vier Jahre nach seiner dezidierten Ablehnung des Nacherfindens von Schaltkreisen zeigte er seinen Stolz auf die Ergebnisse eben dieser Strategie. Hartmann habe im Oktober 1970 „die ehrenvolle Berufung“ in das Komitee für den Nobelpreis in Physik des Jahres 1971 erhalten, ist in seinem Lebenslauf bei Wikipedia zu lesen. „Gegen seinen Willen“ sei er vom SEDRegime „gezwungen worden“, mit Max Steenbeck den Vorsitzenden des Forschungsrates zu benennen.71 Dolores Augustine formulierte vorsichtiger, nämlich dass Hartmann 1970 vom Nobelkomitee in Stockholm gebeten wurde, Kandidaten für den Nobelpreis in Physik vorzuschlagen. Er habe, wie von der Parteispitze gewünscht, Max Steenbeck genannt, obwohl er diesen keineswegs für nobelpreiswürdig hielt.72 Bernd Helmbold kann den Nachweis führen, dass Hartmann gemeinsam mit Prof. Hans-Jürgen Treder die für einen Vorschlag notwendigen Unterlagen erstellte.73 Wie bereits zitiert, gehörte Steenbeck in Hartmanns Augen zu jenen Wissenschaftlern, die zwar „gute Ideen“ haben, diese „aber nicht verwirklichen“ können. Angesichts seiner bahnbrechenden Erfindungen mit dem „rasternden“ Elektronenstrahl für das Fernsehen und die Elektronenmikroskopie war Manfred von Ardenne der einzige in der DDR lebende Physiker mit preiswürdigen Leistungen. Für die Behauptung, Hartmann sei im Oktober 1970 in 69  Augustine,

Aufbau der Mikroelektronikindustrie, S. 9. ebd., S. 15. 71  https://de.wikipedia.org/wiki/Werner_Hartmann_(Physiker), aufgerufen am 18.2. 2021. 72  Vgl.  Augustine, Dolores L.: Red Prometheus. Engineering and Dictatorship in East Germany 1945–1990, London 2007, S. 182. 73  Helmbold, Wissenschaft und Politik, S. 112 f. 70  Vgl.



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das Nobelkomitee berufen worden, gibt es keine belastbaren Belege. Für die Akten gilt eine 50-jährige Sperrfrist. Die Besetzung des Komitees für den Preis in Physik des Jahres 1971 ist zurzeit noch nicht zu prüfen. Statt einer Berufung Hartmanns in das Komitee scheint es wahrscheinlicher zu sein, dass er von einem Mitglied gefragt worden ist, ob er jemanden vorschlagen könne. Dafür käme am ehesten Erwin Müller in Frage, sein Studienfreund und Erfinder des Feld-Ionen-Mikrokops, der inzwischen in den USA lebte und wie bereits gesagt als erster Mensch gilt, der ein Atom „gesehen“ hat. Aktenkundig ist hingegen, dass Hartmann am 17. April 1971 Renée Gertrud Adolf heiratete, fast auf den Tag genau drei Jahre nach der Scheidung von Gertraude. Für den Einzug in Hartmanns Haus bedurfte es keiner Spedition, Renée musste nur die Straßenseite wechseln, was sie bereits 1970 getan hatte. Mit Eifer, Geschmack und viel Geschick machte sich Renée ans Werk, ihr neues Heim in eine Wohlfühloase zu verwandeln (Abb. 29).

Abb. 28: Hartmanns Haus auf der Klengelstraße.

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Abb. 29: Das Wohnzimmer Anfang der 1970er Jahre.

Nach der standesamtlichen Trauung wandte sich der Ehemann an den Vorsitzenden des Rates des Bezirks mit der Bitte, unter Umgehung der mehr als ein Jahrzehnt betragenden Wartezeit einen Pkw erwerben zu können. Seinen Wartburg hatte er nach der Scheidung der Exfrau Gertraude überlassen. Nur wenige Wochen später hielt er die Zuweisung für den Kauf eines Polski-Fiat in den Händen.74 Als Chef der Arbeitsstelle für Molekularelektronik wurde Hartmann mehr und mehr zum erfolgreichen Manager, ein Prozess, den auch die wenigen Patente widerspiegeln, die er auf dem Gebiet der Mikroelektronik anmeldete. Dennoch verlor er nicht die Bindung zur Physik und der damit verbundenen Art des disziplinierten Denkens. Er demonstrierte sie als Hochschullehrer seinen Studenten. Für den Chefredakteur der Zeitschrift „rfe“, Wolfgang Schlegel, waren Hartmanns Vorlesungen zur Elektrophysik „die interessantesten und brillantesten“ seiner Studienzeit, denn sie „zeichneten sich durch den berühmten Blick über den Tellerrand aus“.75 74  Vgl. Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, 1961–1974, Teil H (AMD), S. 204. 75  Zitiert nach Buthmann, Versagtes Vertrauen, S. 359.



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Bahnbrechende oder wegweisende Erfindungen gelangen ihm nicht. Im August 1969 meldete er in der DDR eine „Integrierte Festkörper-Schaltungsanordnung und Verfahren zu ihrer Herstellung“ an. Im DDR-Patent Nr. 80119, Klasse 21g, 11/02 wurde Prof. Dr.-Ing. habil Werner Hartmann als Erfinder und zugleich Inhaber eingetragen, als Anmeldetag der 8. August 1969, als Ausgabetag der 20. November 1971. 1972 wurde ihm das UdSSR-Patent Nr. 339070 „Integralnaja Mikroschema“ erteilt. Als Anmeldetag ist der 30. Juni 1970 und als Ausgabetag der 15. Mai 1972 eingetragen. Seine Idee, die Vorder- und Rückseite des Wafers für die Produktion von Chips zu nutzen, auch in der Bundesrepublik patentieren zu lassen, fand dort keinen Widerhall. Die Offenlegungsschrift 2037261 des Deutschen Patentamts der Bundesrepublik vom 18. Februar 1971 „Integrierte FestkörperSchaltungsanordnung und Verfahren zu ihrer Herstellung“ von Werner Hartmann führte offenbar zu keinem Patent. Im August 1978 veröffentlichte er dazu einen Aufsatz in „Solid State Technology“. Das Verfahren konnte sich nirgends auf der Welt durchsetzen. Einige wenige Patentanmeldungen waren in der ersten Hälfte der 1960er Jahre in der Sowjetunion (1962), Polen (1960) und der ČSSR (1964) erfolgreich. Anfang der 1970er Jahre gab es noch keinerlei Anzeichen für das, was 1974 folgen sollte. Nicht allein die Zuweisung eines Pkw unter Umgehung der Wartezeiten des Normalbürgers bestätigten ihn in seiner privilegierten Stellung eines Spitzenmanagers, auch die persönlichen Glückwünsche des Leiters der Bezirksverwaltung Dresden des MfS, Generalmajor Markert, zum Jahreswechsel 1972/73 waren als Zeichen von Wertschätzung zu interpretieren. In seinen Memoiren weist Hartmann dezidiert darauf hin und zitiert den obersten Tschekisten Dresdens, der ihm „die besten Wünsche für Sie und Ihre Familienangehörigen, Gesundheit, Schaffenskraft und viele schöne Erfolge in der Arbeit“ übermittelte.76 Am Schluss dieser Impressionen aus dem Leben eines „sozialistischen Leiters“ sei noch einmal Reinhard Buthmann zitiert. Aus dem Manuskript der Rede, die Hartmann auf der 2. Betriebskonferenz am 26. März 1973 halten wollte, filterte er die „zukünftigen Aufgaben der AMD“ und die Erwartungen des Chefs heraus. Mit Befriedigung habe Hartmann feststellen können, dass die Arbeitsstelle für Molekularelektronik Dresden „mit Beginn des Jahres 1973 alle für die 76  Nachlass,

Technische Sammlungen Dresden, 1961–1974, Teil H (AMD), S. 233.

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Abb. 30: Das sowjetische Patent von 1962.

VVB wesentlichen Verfahrensentwicklungen der Mikroelektronik durchzuführen und den Gesamtkomplex der Verfahrensentwicklung im Industriezweig zu koordinieren“ habe. Das bedeute zum einen, dass die einst „formulierte Aufgabe der Schaffung und Beherrschung einer vielseitig einsetzbaren und einheitlichen, weitgehend standardisierten Technologie“ nun „mehr denn je im Mittelpunkt nicht nur in der DDR, sondern darüber hinaus in der Zusammenarbeit mit der UdSSR“ stehe. Zum anderen gelte es, „Verfahren anzustreben, die unter unseren Bedingungen, den Bedingungen der DDR-



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Elektronik, einen ökonomisch gerechtfertigten Kompromiss zwischen Produktivität und Ausbeute darstellen“. Hartmann habe auf die Spezifik „der physikalischen Industrie der Mikroelektronik“ hingewiesen. Man müsse sich „darüber Rechenschaft ablegen, dass nur bei sehr sorgfältiger, ausgefeilter Kontrolle der technologischen Prozesse ökonomisch vertretbare Ausbeuten an FKS bei dem […] notwendigerweise erzwungenen Gebrauch von Materialien und Prozessen, die durchaus nicht vollständig verstanden und beherrscht werden, erzielbar sind“. In diesem Zusammenhang habe er auch erklärt, dass ein hohes Ausbeuteziel ökonomisch möglicherweise gar nicht sinnvoll sei. Denn leicht könne „der Fall eintreten, dass bei einer Ausbeute von 25 Prozent und gegebenem Bedarf die Kosten pro FKS bedeutend geringer sind als bei Erarbeitung eines Verfahrens mit 50 Prozent Ausbeute“. Probleme mit der Qualität gab es für Hartmann offensichtlich nicht, denn alle in der AMD gefertigten Typen der Reihe D2C besäßen das Gütezeichen „1“; die Zuerkennung des Gütezeichens „Q“ sei in Vorbereitung. Dafür habe Hartmann ein systemisches Problem offen angesprochen, nämlich „das komplizierte Gebilde einer Kooperationsgemeinschaft ohne Weisungsrecht untereinander und unter der Maßgabe, koordinativ, nicht aber leitend verantwortlich gemacht worden zu sein“. Buthmann fällt ein ernüchterndes Urteil: „Unter den zentralplanwirtschaftlichen Bedingungen, den Nöten in den naturalen Zuwendungen sowie den Herrschaftsansprüchen in der Regel inkompetenter Funktionäre war diese Verpflichtung“, nämlich die AMD zur Leiteinrichtung für die Mikroelektronik zu erklären, „blanker Idealismus.“77 Aufhorchen lässt der Nebensatz Hartmanns, in dem er vom „notwendigerweise erzwungenen Gebrauch von Materialien und Prozessen“ spricht, „die durchaus nicht vollständig verstanden und beherrscht werden“. Das könnte als Hinweis auf seine anfängliche Abneigung des Nacherfindens von Bauelementen gedeutet werden. Angesichts der überhöhenden Zuschreibungen, die in Hartmann einen Visionär (Buthmann) oder gar einen Propheten (Becker) erkennen, seien andeutungsweise einige tiefer zielende Spekulationen gestattet. Lässt der Physiker hier vielleicht sogar eine Ahnung anklingen, sich künftig in Bereichen bewegen zu müssen, deren Komplexität für den Einzelnen nicht mehr durchschaubar sein könnte? Und das zu einer Zeit, als die Wissenschaftsgläubigkeit vor allem im Osten Deutschlands noch in schönster Blüte stand. Oder quälten den Manger zunehmend Selbstzweifel, weil die Physik und das physikalische Handwerkszeug ihm langsam entglitten?

77  Buthmann,

Versagtes Vertrauen, S. 536 f.

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Abb. 31: Der Mikroprozessor U 808 aus dem VEB Mikroelektronik „Karl Marx“ Erfurt.78

Als Hartmann am 25. Juni 1974 nicht nur abberufen, sondern für ihn sogar ein Hausverbot ausgesprochen wurde, begann in „seiner“ AMD die Entwicklung des ersten Mikroprozessors der DDR, des U 808, der ab 1978 in Erfurt in Serie produziert wurde. Im gleichen Jahr brachte der amerikanische Marktführer den Intel 8080 auf den Markt, der als erster vollwertiger Mikroprozessor angesehen wird. Der Rückstand der DDR betrug bei den Mikroprozessoren also etwa vier Jahre. Die Ursachen für diesen Rückstand könne man „auf eine einfache Formel bringen“, meint Bernd Falter, der Sohn von Matthias Falter und Inhaber des Lehrstuhls für Mikroelektronik an der TU Cottbus, sie seien „systembedingt“.79

IV. Der Chef: Absturz 1. Die Staatssicherheit im Bereich der Hochtechnologien Am Beginn dieses Unterkapitels sei noch einmal darauf verwiesen, dass Reinhard Buthmann in seinem 2020 erschienenen Buch „Versagtes Vertrauen. Wissenschaftler der DDR im Visier der Staatssicherheit“ das Berufsleben Hartmanns auf der Grundlage eines privilegierten Zugangs zu den Akten der Staatssicherheit akribisch und lückenlos aufgeblättert hat. Das Gleiche auch nur ansatzweise wiederholen zu wollen, wäre nicht nur absolut überflüssig, sondern auch vermessen. Jedem am Detail Interessierten kann nur empfohlen werden, bei Buthmann nachzuschlagen. Im Folgenden soll es vielmehr darum gehen, die zu Hartmanns entwürdigender Entlassung führenden Vorgänge im Sinne der leitenden Fragestellung zu analysieren und zu kontextualisieren. 78  Quelle: 79  Falter,

https://www.robotrontechnik.de/index.htm?/html/komponenten/ic.htm. Die technologische Lücke, S. 36.



IV. Der Chef: Absturz171

Das Ministerium für Staatssicherheit verstand sich von seiner Gründung bis zum Ende der DDR als „Schild und Schwert der Partei“. Als Schild galt es, die SED vor jeglicher Bedrohung zu schützen, was ihr im Juni 1953 allerdings nicht gelungen war. Um vermeintliche Gegner und Gefährder mit aller Härte unschädlich zu machen, bedurfte es des Schwertes. Auf Dauer wollte sich Minister Mielke jedoch nicht damit begnügen. Je deutlicher die wirtschaftliche Schwäche der DDR im Vergleich zu den führenden Wirtschaftsnationen hervortrat, desto stärker orientierte er darauf, dieser Schwäche mit Maßnahmen zur Erhöhung der Effektivität der Volkswirtschaft zu begegnen. Die vom MfS als „politisch-operative Sicherung der Volkswirtschaft“ bezeichneten kontrollierenden, steuernden und manipulierenden Eingriffe erfolgten auf verschiedenen Ebenen und mit unterschiedlichen Methoden. „Offizielle Kontakte“ pflegten die hauptamtlichen Mitarbeiter der für Wirtschaftsfragen zuständigen Abteilungen zu den fachlich korrespondierenden Leitungsebenen der Kombinate und Betriebe. „Offiziere im besonderen Einsatz“ (OibE) sorgten in den staatlichen Organen und Schwerpunktbereichen für die Umsetzung der Strategie des MfS bei der Überwachung von Produktion und Personal. Das große Heer von „Inoffiziellen Mitarbeitern“ (IM) und „Gesellschaftlichen Mitarbeitern“ (GM) schließlich, von Mielke als seine „Hauptwaffe im Kampf gegen den Feind“ bezeichnet, bildete auch im Bereich der Hochtechnologien das Fundament der geheimdienstlichen Aktivitäten.80 Das Ministerium für Staatssicherheit erlangte eine Machtfülle, die für einen Geheimdienst in demokratisch verfassten Gesellschaften unvorstellbar ist. Während der gesamten Ulbricht-Ära war die Staatssicherheit „noch sehr weitgehend auf Strafverfolgung ausgerichtet“, konstatiert Roger Engelmann. „Die operativen Vorgänge“, so schreibt er, „hatten damals tatsächlich noch den Charakter von konspirativen Vor-Ermittlungsverfahren, die mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zu Verhaftungen“ führten. In der Honecker-Ära hingegen sei „die Überführung von Operativvorgängen in Strafverfahren nicht mehr die Regel“ gewesen, sondern wurde „immer mehr zur Aus­ nahme“.81 Im Fall Hartmann wurde ein Beschuldigter inhaftiert und zu 15 Jahren Haft verurteilt, er selbst jedoch vom MfS „begnadigt“. Die weitgehenden Befugnisse der Staatssicherheit, das Recht, „feindliche Spione, Agenten und Diversanten“ zu verhaften und „alle erforderlichen Un80  Vgl. Barkleit, Gerhard/Dunsch, Anette: Anfällige Aufsteiger. Inoffizielle Mitarbeiter des MfS in Betrieben der Hochtechnologie, Dresden 1998, S. 8. 81  Engelmann, Roger: Staatssicherheitsjustiz im Aufbau. Zur Entwicklung geheimpolizeilicher und justitieller Strukturen im Bereich der politischen Strafverfolgung 1950–1963, in: Engelmann, Roger/Vollnhals, Clemens (Hrsg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR, Berlin 2000, S. 134.

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tersuchungen bis zum Schlussbericht an die Organe der Justiz zu führen“, sei „im geheimen MfS-Statut von 1953“ verankert, schreibt Clemens Vollnhals.82 Die Personalunion von MfS und Staatspartei, die Hartmanns Mitarbeiter Dr.Ing. Hans Joachim Hanisch als hauptamtlicher IM „Rüdiger“ und Parteisekretär der AME verkörperte, sollte für den Chef zum Verhängnis werden. Hanisch, ein Macbeth des beginnenden Kommunikationszeitalters, vergaß offenbar die Demütigung durch Hartmann nicht, die er zu Beginn seiner Tätigkeit als Parteisekretär der AME erfuhr. Es könnte eine Schlüsselszene gewesen sein, die Buthmann besonders hervorhebt: „Hanisch erinnerte zwölf Jahre später eine Episode mit Hartmann von Ende 1962: ‚Nach meiner Tätigkeit als Werkleitungsmitglied des VEB Halbleiterwerk Frankfurt/Oder war es für mich selbstverständlich, dass der Parteisekretär an den Leitungssitzungen teilnimmt. Als ich nach meiner Wahl in AME zur nächsten Leitungssitzung (Beratung der Gruppenleiter bei Professor Hartmann) ging, wurde ich von Professor Hartmann mit den Worten: „Für sie ist kein Stuhl hier“ empfangen und praktisch von der Beratung ausgeschlossen‘. Hanisch will den ‚Rausschmiss dadurch überspielt‘ haben, indem er sich ‚aus einem anderen Zimmer einen Stuhl holte (obwohl noch genügend Plätze frei waren) und wieder zur Beratung ging‘.“83 Im Fall Hartmann führte die bereits mehrfach angesprochene Strategie von Staatspartei und Staatssicherheit, systemische Dysfunktionalitäten zu personifizieren, zu einem tragischen Ende. Im Selbstverständnis von Partei- und Staatsführung war das System der Zentralplanwirtschaft frei von systembedingten Dysfunktionalitäten. Gravierende Probleme mussten demzufolge ihre Ursache in menschlichem Fehlverhalten haben. Mit dem Vorwurf, den Rückstand seiner Erzeugnisse zum internationalen Entwicklungsstand bewusst herbeigeführt zu haben, hätte man beinahe jeden Betriebsleiter in der DDR abberufen können. Besonders im Fokus des MfS standen die Leiter von Betrieben und Einrichtungen der Hochtechnologie. Einige wenige Beispiele für die sogenannte operative Bearbeitung durch die Tschekisten und deren Resultate seien im Folgenden angeführt. Der Fall des Generaldirektors von Robotron zeigt, dass Partei und Staatssicherheit nicht immer in enger Abstimmung handelten. Als Anfang der 1980er Jahre die Schwierigkeiten des VEB Kombinat Robotron immer größer wurden, die NSW-Exportpläne zu erfüllen, schob nicht nur das zuständige Fachministerium, sondern auch das MfS die Verantwortung allein dem 82  Vollnhals, Clemens: „Die Macht ist das Allererste“. Staatssicherheit und Justiz in der Ära Honecker, in: Engelmann, Roger/Vollnhals, Clemens (Hrsg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR, Berlin 2000, S.  243 f. 83  Buthmann, Versagtes Vertrauen, S. 433.



IV. Der Chef: Absturz173

Generaldirektor Wolfgang Sieber zu. Mielkes Tschekisten sammelten Material, das Siebers Ablösung begründen sollte. Noch bevor der eigens angelegte OV „Sittich“ erfolgreich abgeschlossen werden konnte, hatte allerdings der Minister für Elektrotechnik und Elektronik schon dessen Abberufung verfügt.84 Die Übernahme der Ermittlungen im Fall eines zivilrechtlichen Vergehens des Direktors des VEB Meßelektronik Dresden, Dietmar Hanke, im März 1979 begründete das MfS damit, dass „der gesamte Betrieb zum überwiegenden Teil spezielle Produktion für die Landesverteidigung im Rahmen des Warschauer Vertrages herstellt“.85 Einen solchen Umfang habe der militärische Sektor nicht gehabt, erklären Insider heute übereinstimmend. Hanke wurde zunächst beschuldigt, „die mit seiner beruflichen Tätigkeit und Stellung als Werkdirektor durch Auftrag eingeräumte Befugnis, über sozialistisches Eigentum zu verfügen, missbraucht, sich und anderen Personen dadurch rechtswidrig Vermögensvorteile verschafft und eine schwere Schädigung des sozialistischen Eigentums verursacht zu haben“.86 Darüber hinaus gelang es im Laufe der Ermittlungen, weitere Anklagepunkte zu konstruieren, wie beispielsweise „Falschmeldungen an übergeordnete Organe“. Der Staatsanwalt des Bezirkes Dresden klagte Hanke am 14. Dezember 1979 an, „Geheimnisverrat begangen und mehrfach handelnd das sozialistische Eigentum durch verbrecherische Untreue geschädigt zu haben“. Der Beschuldigte habe „Dokumente für Unbefugte zugänglich aufbewahrt, ein Vergehen gem. § 245 Abs. 1 StGB“.87 Am 11. April 1980 wurde der Strafgefangene Hanke in der Berufungsverhandlung rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Nachdem er sich als IM hatte anwerben lassen,88 wurde die Freiheitsstrafe von vier Jahren mit Wirkung vom 25. Mai 1981 durch Richter Peckermann auf drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt.89 Im „Deutschland Archiv“ veröffentlichte Prof. Ludwig J. Cromme, von 1993 bis 2016 Professor für Mathematik an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus, 2005 die Ergebnisse seiner Studie zu einigen ausgewählten Untersuchungsvorgängen des MfS im Bereich der Hochtechnologien.90 Unterstützt vom Hannah-Arendt-Institut, analysierte Cromme Barkleit/Dunsch, Anfällige Aufsteiger, S. 84. AU 988/80 Hanke, Dietmar (Reg.-Nr. 569/79), Bd. VI, Bl. 1. 86  Ebd., Bd. 1, Bl. 13. 87  Ebd., Bd. VI, Bl. 259. 88  Vgl. BStU AIM 4145/90 Hanke, Dietmar (Reg.-Nr. 264/82). 89  Vgl. BStU AU 988/80 Hanke, Dietmar (Reg.-Nr. 569/79), Bd. IV, Bl. 303. 90  Cromme, Ludwig J.: Ideologiefreie Wissenschaft? Technisch-naturwissenschaftliche Gutachten im Rahmen von Untersuchungsvorgängen des MfS der DDR, Deutschland Archiv 38 (2005) 6, S. 1056–1061. 84  Vgl.

85  BStU

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akribisch die Qualität von Fachgutachten, die das MfS als Untersuchungsorgan in Auftrag gegeben hatte. Der von Cromme untersuchte Fall Schnabel sei als drittes Beispiel derartiger operativer Bearbeitungen etwas ausführ­ licher dargestellt, und zwar aus zwei Gründen. Dr. Gerhard Schnabel war Bereichsleiter für Forschung und Entwicklung im VEB Elektromat Dresden. Zum einen gehörte Elektromat zu den wichtigsten Kooperationspartnern der AMD und zum anderen verfasste Hartmanns Mitarbeiter Dr.-Ing. Hans Joachim Hanisch (IM „Rüdiger“) am 5. Oktober 1976 die sogenannte Ersteinschätzung Schnabels für das MfS. Hanisch unterstellte darin Schnabel „ein schädigendes Handeln über einen Zeitraum von 1971 bis 1977 mit erheblichen volkswirtschaftlichen Schäden“.91 Diese Ersteinschätzung habe jedoch nichts juristisch Verwertbares zutage gefördert, schreibt Cromme, sodass ein zweites Gutachten unter der Leitung von Hanisch angefertigt wurde. „Erst die detaillierte Überprüfung des Gutachtens lässt das Vorgehen seiner Verfasser erkennen. Bei jedem Einzelkomplex werden zunächst akribisch Fakten zusammengetragen, umfangreiches technisches Wissen demonstriert und erste Folgerungen sauber und nachvollziehbar begründet. Erst danach kommt es zu Brüchen in der Argumentation, immer spätestens dann, wenn die Frage der Verantwortlichkeit für behauptete (und zumindest im Kern in der Regel auch vorhandene) Missstände auszuloten ist. An dieser Stelle verengt sich die Sicht des Gutachters, und alle Verantwortlichkeit wird ausschließlich Schnabel angelastet. Entlastende Sachverhalte, wie zum Beispiel die Mitverantwortlichkeit von Mitarbeitern und Vorgesetzten, werden nicht einmal in Erwägung gezogen, selbst dann nicht, wenn sich diese geradezu aufdrängen.“92 Es sei offensichtlich, „dass Gutachter wie Hanisch keine Randfiguren im Untersuchungsvorgang sind, sondern tragende Säulen. Sie setzen Schadenssummen in die Welt, die den hohen Mitteleinsatz des MfS rechtfertigen können und konkretisieren und konstruieren die Vorwürfe, die vom MfS nur allgemein formuliert werden konnten.“93 Allerdings habe Oberleutnant Schulz von der Hauptabteilung IX (IX/3) des MfS in Berlin „die Untersuchungsergebnisse der Bezirksverwaltung (BV) Dresden und insbesondere das Hanisch-Gutachten in so gründlicher Weise“ zerpflückt, „dass Schnabel sich keinen besseren Verteidiger hätte wünschen können. Wiederholt weist Schulz darauf hin, dass im Gutachten erhobene Behauptungen unbelegt sind. Er deckt zahlreiche Widersprüche und Fehlschlüsse auf, weist auf die Mitverantwortung von Mitarbeitern und Vorgesetzten hin und belegt die Einseitigkeit des Gutachters Hanisch, der Schnabel selbst für Ergebnisse von Bespre91  BStU,

AIM 4885/90 (Reg.-Nr. XII 2007/64) „Rüdiger“, Teil II, Bd. IX, Bl. 73. Ideologiefreie Wissenschaft, S. 1059. 93  Ebd., S. 1060. 92  Cromme,



IV. Der Chef: Absturz175

chungen verantwortlich macht, an denen dieser gar nicht teilnahm, weil er sich zu diesem Zeitpunkt in Kur befand.“94 Nach vier Jahren wurde der Untersuchungsvorgang abgeschlossen. Da Schnabel sich am 27. November 1980 als IM „Gerhard Fröhlich“ anwerben ließ, verzichtete das MfS auf ein Strafverfahren.95 Cromme bringt seine Erkenntnisse in folgender Weise auf den Punkt: „Der hier dargestellte Sachverhalt zeigt, dass MfS-intern und -extern professionelles Handeln alternativ möglich war, ohne dass das für die Betroffenen gravierende Konsequenzen gehabt hätte. Die Unrechtsmaschinerie des MfS wurde von Menschen angetrieben, die ohne Not und äußeren Zwang und oft genug im Bewusstsein der Tragweite und Konsequenzen ihres Handelns agiert haben.“96 Letzteres gilt in besonderem Maße für Hanisch und dessen „Feldzug“ gegen Werner Hartmann. 2. Der Operative Vorgang „Molekül“ Bevor der zu seinem Sturz führende OV „Molekül“ am 20. Dezember 1965 angelegt wurde, hatte das MfS, wie bereits erwähnt, mit zwei früheren operativen Maßnahmen vergeblich versucht, Hartmann Verbindungen zu westlichen Geheimdiensten und Schädlingstätigkeit nachzuweisen. Dennoch klingt Hartmanns Behauptung glaubwürdig, dass der für die AME zuständige hauptamtliche Mitarbeiter des MfS, Offizier Krenkel, Anfang der 1960er Jahre einen ersten Versuch gestartet habe, ihn für eine enge Zusammenarbeit zu gewinnen. Er habe aber seine „klare und eindeutige Ablehnung“ bekundet.97 Im Beschluss für das Anlegen des OV „Molekül“ sind in der Rubrik „Delikt“ die beiden Begriffe „Spionage“ und „elektronische Industrie“ verzeichnet. In der „Begründung“ formulierte Hauptmann Seiler: „Im vorhandenen Operativ-Vorgang wird der Prof. Dr.-Ing. H. wegen Verdacht der Spionage und Verbindung zum amerikanischen Geheimdienst operativ bearbeitet. Er wurde bereits von 1955–1958 im OV ‚Tablette‘ wegen dem gleichen Delikt und von 1959–1962 im ÜV ‚Kristall‘ wegen Verdacht der Schädlingstätigkeit operativ bearbeitet. Die seit dieser Zeit durchgeführte operative Kontrolle des H. durch IM und andere op. Hilfsmittel erbrachte eine Reihe neuer Verdachtsmomente, die eine erneute operative Bearbeitung des H. in einem OV rechtfertigen.“98 94  Ebd. 95  Vgl.

BStU AIM 2153/91 (Reg.-Nr. XII 71/82). Ideologiefreie Wissenschaft, S. 1061. 97  Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, WH 4 (1960). 98  BStU ASD – AOP 2554/76 (Reg.-Nr. XII/2956/62 – „Molekül“), Bd. 1, Bl. 9. 96  Cromme,

176

F. Vater der Mikroelektronik in der DDR Tabelle 20 Im OV „Molekül“ wurde gegen 19 Personen ermittelt Kategorie innerhalb des Vorgangs erfasste Personen

Anzahl 19

mit Haft erfasst ohne Haft erfasst (Fahndung) erfasst vorbeugende, erzieherische u. a. operative Maßnahmen

6

Übergabe der Bearbeitung an andere Organe keine Möglichkeit der Weiterbearbeitung

5

Geringfügigkeit

6

Krankheit/Tod Nichtbestätigung des Verdachts

2

Anhand einer „holzschnittartigen“ Darstellung dieser operativen Maßnahme sollen nun Antworten auf die eingangs formulierte leitende Fragestellung nach den Ursachen des tragischen Schicksals von Werner Hartmann gesucht und die maßgeblichen Akteure benannt werden. Die folgenden statistischen Angaben zu den in der Akte eingeführten Kategorien vermitteln nicht nur einen Eindruck von den angewandten Methoden, sondern auch vom Aufwand, den das MfS betrieb, wenn es galt, tatsächliche oder auch nur vermeintliche „Feinde“ des SED-Regimes unschädlich zu machen. Nach Abschluss des Verfahrens entschieden Hauptmann Seiler und Oberstleutnant Dieter Hachenberger, den aus 47 Akten mit 11.353 Blatt bestehenden Vorgang „gesperrt abzulegen“.99 Aus diesen Akten geht hervor, dass in der neun Jahre währenden Laufzeit des OV „Molekül“ insgesamt 31 Hauptamtliche Mitarbeiter, angefangen bei der Berliner Zentrale und einer Operativgruppe in Moskau bis hinunter auf die Ebene der Kreisdienststellen, in die operativen Maßnahmen gegen Hartmann involviert waren. Da nicht in jedem Fall der Dienstgrad und schon gar nicht der Vorname vermerkt ist, mussten eigene Recherchen dazu durchge99  Ebd.,

Bl. 96.



IV. Der Chef: Absturz177

führt werden, die nicht immer erfolgreich waren.100 Hinzu kamen mindestens 18 Inoffizielle bzw. Gesellschaftliche Mitarbeiter unterschiedlichen Typs.101 Tabelle 21 Die Hauptamtlichen Mitarbeiter im OV „Molekül“ Name, Dienstgrad

Dienststelle

Jahr der Involvierung

Andrejkovits

BV Dresden, Abt. XVIII

1974

Bäßler, Oltn.

BV Dresden, Abt. XVIII/1

1967

Bock, Oltn.

BV Dresden, Abt. VIII

1972

Bormann, Hptm.

KD Dresden-Stadt, Ltr.

1962

Brumm, Major

KD Dresden-Stadt

1974

Buchholz

Berlin, HA II/5, Ltr.

1970

Damm, Oberst

Berlin, Abt. X, Ltr.

1972

Engelmann, Hptm.

BV Dresden, Abt. II

1974

Gesang, Hptm.

Berlin, HA XVIII/8/3

1973

Glöckner, Major

BV Dresden, Abt. VIII, Ltr.

1972

Hachenberger, Hptm.

BV Dresden, Abt. XVIII/1

1965

Hergt, Major

Operativ-Gruppe der HA II in Moskau

1967

Höhne, Ultn.

BV Dresden, Abt. XVIII/1

1965

Kadner

KD Dresden-Stadt

1974

Karasek

BV Dresden, Abt. XX

1974

Kleber, Oltn.

BV Dresden, Abt. XVIII/1

1965

Lawryk, OSL

KD Dresden-Stadt

1974

Lehmann, OSL

BV Dresden, Stellv. Operativ

1965

Michel, Ultn.

KD Dresden Stadt

1962

Opitz, Major

KD Dresden-Stadt

1974 (Fortsetzung nächste Seite)

100  Vgl. 101  Vgl.

ebd., Bl. 25 f. ebd., Bl. 27–30.

178

F. Vater der Mikroelektronik in der DDR

(Fortsetzung Tabelle 21) Name, Dienstgrad

Dienststelle

Jahr der Involvierung

Pabst, Major

BV Dresden, Ref. XII, Ltr.

1974

Pohl

BV Dresden, Abt. XX

1974

Rabe, Feldwebel

BV Dresden, Abt. XVIII/1

1966

Reichelt, Major

KD Dresden-Land

1974

Salomo, Hptm.

KD Pirna

1974

Schallert, Ltn.

BV Dresden, Abt. XVIII/1

1974

Schulz, Major

BV Dresden, Abt. II

1974

Seiler, Hptm.

BV Dresden, Abt. XVIII/1

1976

Sturm

KD Dresden-Stadt

1974

Tondock, Hptm.

KD Dresden-Stadt

1974

Zeinert

AG-West

1974

Trotz eines immensen Aufwandes konnten bis zum Herbst 1970, genau wie in den beiden operativen Maßnahmen der 1950er (Zusammenarbeit mit dem US-Geheimdienst, Spionage) und Anfang der 1960er Jahre (Schädlingstätigkeit), keinerlei Beweise für die o. g. Verdächtigungen erbracht werden. Am 31. August 1970 ließ sich der Leiter der Abteilung HA II/5, Oberst Buchholz, in der Berliner Zentrale über den Stand des OV „Molekül“ unterrichten. Hauptmann Bäßler von der BV Dresden musste einräumen, dass Spionage „nicht zu beweisen“ sei und die Postkontrolle „nicht straff genug geführt“ werde, „um Verdachtsmomente zum Beweis ‚zu qualifizieren‘ “. Er schlug die „Vorbereitung einer größeren operativen Kombination“ vor, die „den Prof. H. zu Handlungen zwingt“. Zu diesem Zweck sollten die Berliner Abteilungen HA XVIII/8 und HA II/5 und die Abteilung XVIII der BV Dresden zusammenarbeiten.102 Die Linie II war zuständig für die innere und äußere Spionageabwehr, die Linie XVIII für den Schutz der Volkswirtschaft. Ohne das politische Schlagwort „Unrechtsstaat“ bemühen zu wollen, sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass der Fall Hartmann die Defizite der SED-Diktatur an Rechtsstaatlichkeit überaus deutlich zutage treten ließ. Der Aktenvermerk der Hauptabteilung XVIII des MfS vom 22. September 1970, 102  Vgl.

ebd., Bd. 2, Bl. 102.



IV. Der Chef: Absturz179

durch Hauptmann Bäßler verfasst, stellt eine geradezu perverse Missachtung rechtsstaatlicher Prinzipien dar. Obwohl – oder eben weil – „Spionage nicht zu beweisen“ war, schlug Bäßler vor, Hartmann Fallen zu stellen. Der Anspruch der Tschekisten, die Staatspartei vor Feinden zu schützen, mündete hier in den Eifer eines Jägers, der sein Wild um jeden Preis und mit allen erdenkbaren Mitteln zur Strecke bringen will. 3. Der Fall Dr. Konrad Iffarth Im Herbst 1972 kam dem MfS der Zufall zu Hilfe. Am 24. Oktober wurde der Abteilungsleiter Dr. Konrad Iffarth in Dolní Dvořiště bei dem Versuch festgenommen, mit Ehefrau und Sohn von der ČSSR aus nach Österreich zu gelangen. Drei Tage später leitete das MfS ein Ermittlungsverfahren ein, da Iffarth dringend verdächtig sei, „seine im Oktober 1972 in die ČSSR angetretene Urlaubsreise dazu ausgenutzt zu haben, nicht wieder in das Staatsgebiet der DDR zurückzukehren“. Um in die BRD zu gelangen, hatte er versucht, „die Staatsgrenze ČSSR/Österreich ungesetzlich mittels dazu geeignetem Werkzeug zu durchkreuzen“. Bereits vor dem versuchten Grenzübertritt „hat der Beschuldigte ca. 7.000 Mark der Staatsbank der DDR nach der BRD verbracht“, heißt es weiter in der Begründung. Damit habe Iffarth gegen § 213 Abs. 1 Ziff. 1 Abs. 3 StGB sowie § 7 der Geldverkehrsordnung verstoßen.103 Es gibt mehr als nur einen Grund dafür, dass Iffarth sich in der DDR nicht mehr wohlfühlen konnte. Bereits 1966 hatte die HA XXVIII/2 ihn angesprochen „mit der Perspektive der Werbung“, wie es in der Akte heißt. Beim „Kontaktgespräch“ habe er sich zwar „verschlossen, aber zu weiteren Gesprächen bereit“ erklärt.104 Nachdem der Inoffizielle Mitarbeiter mit dem Decknamen „Richter“ seinem Führungsoffizier berichtet hatte, dass Iffarth Zweifel an der termingerechten Inbetriebnahme der Verschließstrecke geäußert habe, legte die Abteilung XVIII/4 der BV Dresden am 27. Januar 1971 eine „Vorlaufakte Operativ“ (VAO) an. Der Verdacht einer „Falschmeldung und Vorteilserschleichung nach § 171 (1) StGB“ wurde damit begründet, dass Iffarth als Verantwortlicher für die Fertigung der Verschließstrecke „inoffiziell“ davon spreche, dass „die Verschließstrecke nicht gehen wird, auf Grund der zu hohen Kompliziertheit“. Darüber hinaus treffe er sich „in Abständen mit einem WB-Bürger in der Hauptstadt der DDR“.105 Sich mit einem Westberliner in Ostberlin zu treffen, konnte in der DDR als strafbare Vorteilserschleichung geahndet werden. Der „weitere Einsatz des IMF ‚Richter‘ “ genügte in der Anfangsphase 103  Vgl.

BStU AU 1418/74 (211-19/74), Bd. I, Bl. 18. AOP 1034/75 (Reg.-Nr.: XII 271/73), Bd. 1, Bl. 8. 105  Ebd., Bl. 2. 104  BStU

180

F. Vater der Mikroelektronik in der DDR

der operativen Bearbeitung.106 Für Iffarth war der IMF „Richter“ offenbar ein vertrauenswürdiger Kollege, denn ihm hatte er im September 1967 vom Anwerbeversuch des MfS erzählt. „Richter“ hatte keine Skrupel, Iffarths Vertrauen zu missbrauchen und Einzelheiten aus dessen Privat­leben seinem Führungsoffizier mitzuteilen.107 Am 28. August 1971 ereignete sich in zwei Laborräumen der Arbeitsstelle für Molekularelektronik eine Wasserstoffexplosion, für die Iffarth verantwortlich gemacht wurde. Er habe entgegen den bestehenden Sicherheitsvorschriften und Hinweisen von Fachexperten eine Glasrohrleitung für den Transport von Wasserstoff verlegen lassen, obwohl die Vorschriften dafür die Verwendung von Kupfer vorsahen. „Durch diese Explosion wurde ein besonders schwerer Sachschaden in Höhe von 250 TM sowie eine schwere Körperverletzung eines Menschen verursacht“, was einen Straftatbestand gemäß § 188 Abs. 1 und 2 StGB bedeute, argumentierte der Leiter des Untersuchungsorgans.108 Die operative Bearbeitung Iffarths durch das MfS erfolgte in drei Stufen. Im Januar 1971 wurde eine Vorlaufakte Operativ (VAO) angelegt, die im Mai 1972 in eine Operative Personenkontrolle (OPK) mündete. Nach seiner Inhaftierung erfolgte die weitere Bearbeitung in dem Operativen Vorgang (OV) „Automat“. In die OPK waren sein Kollege IMF „Richter“, also ein Inoffizieller Mitarbeiter der inneren Abwehr mit Feindverbindungen zum Operationsgebiet, und ein mit der Sicherung eines gesellschaftlichen Bereiches oder Objekts beauftragter IMS mit dem Decknamen „Urban“ eingebunden. Hinzu kamen der IMS „Grünberg“ im Wohngebiet und ein Führungs-IM mit dem Decknamen „Waldmann“. Der Untersuchungsvorgang, unter der Signatur BStU Ast. Dresden AU 1418/74 archiviert, umfasst 22 Bände, insgesamt ca. 6.500 Blätter. Am 23. Januar 1973 verfügte der Leiter des Untersuchungsorgans die Erweiterung des Ermittlungsverfahrens mit der Begründung: „IFFARTH ist dringend verdächtig, es unternommen zu haben, Tatsachen, die im politischen und wirtschaftlichen Interesse der Deutschen Demokratischen Republik geheim zu halten sind, an einen imperialistischen Geheimdienst bzw. Einrichtung, deren Tätigkeit sich gegen die Deutsche Demokratische Republik richtet, zu verraten.“ Strafbar gemäß § 97 Abs. 1 und 2 StGB.109 Am 27. September 1973 wurde das Ermittlungsverfahren in drei Schritten ausgeweitet. Im ersten dieser Schritte hieß es zur Begründung: „Dr. I. ist 106  Ebd.,

Bl. 4. ebd., Bl. 15. 108  Ebd., Bl. 27. 109  BStU AU 1418/74, 211-19/74, Bd. I, Bl. 20. 107  Vgl.



IV. Der Chef: Absturz181

dringend verdächtig, seit 1963 mit der Zielstellung der Schädigung der Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik es unternommen zu haben, die planmäßige Entwicklung und Produktion von Festkörperschaltkreisen zu durchkreuzen, indem er die Entwicklung und Bereitstellung von Verfahren und technologischen Ausrüstungen zur Produktion von Festkörperschaltkreisen durch die Anwendung verschiedenster Methoden verhinderte und hemmte, wodurch der Deutschen Demokratischen Republik ein erheb­ licher materieller und finanzieller Schaden entstand. Strafbar gemäß § 104 Abs. 1 Ziff. 1 StGB.“110 Im zweiten Schritt kam Spionage hinzu: „Dr. I. ist dringend verdächtig, entgegen der ihm auferlegten Pflicht geheim zu haltende Tatsachen gegenüber Vertretern von westlichen Firmen offenbart zu haben, wodurch wirtschaftliche Interessen der Deutschen Demokratischen Republik im erheblichen Maße gefährdet wurden. Strafbar gemäß § 245 Abs. 1 und 3 StGB.“111 Im dritten Schritt schließlich Sabotage: „Dr. I. ist dringend verdächtig, durch fahrlässige Handlungsweise am 28.08.1971 in der Arbeitsstelle für Molekularelektronik Dresden in den Laborräumen 032 und 034 eine Wasserstoffexplosion verursacht zu haben, indem er entgegen den bestehenden Sicherheitsvorschriften und Hinweisen von Fachexperten eine Glasrohrleitung für den Transport von Wasserstoff verlegen ließ. Durch diese Explosion wurde ein besonders schwerer Sachschaden in Höhe von 250 TM sowie eine schwere Körperverletzung eines Menschen verursacht. Strafbar gemäß § 188 Abs. 1 und 2 StGB.“112 Unmittelbar vor Prozessbeginn sandte Bezirksstaatsanwalt Lindner die Konzeption für sein Plädoyer in der Strafsache gegen Konrad Iffarth an das Büro des Generalstaatsanwalts der DDR, „Genosse Wagner, zu Ihrer Kenntnisnahme“.113 Im Abschlussbericht (Aktenzeichen 211-19/74) der Untersuchungsabteilung stellten Abteilungsleiter Oberstleutnant Simon und Referatsleiter Hauptmann Friedmar Döhling fest: Der nicht vorbestrafte Beschuldigte „hat Sabotage, das Unternehmen der Spionage, Geheimnisverrat, den Versuch der Nichtrückkehr in das Staatsgebiet der Deutschen Demokratischen Republik sowie Brandstiftung im schweren Fall begangen“. Sie beantragten, „die Hauptverhandlung wegen Gefährdung der Sicherheit der Deutschen Demokratischen Republik und Geheimhaltung bestimmter Tatsachen unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchzuführen“. Sie fand am 10. Juni 1974 statt. 110  Ebd.,

Bl. 23. Bl. 25. 112  Ebd., Bl. 27. 113  Ebd., Bd. II, Bl. 15. 111  Ebd.,

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F. Vater der Mikroelektronik in der DDR

Als Sachverständige waren Dr.-Ing. Hanisch, Dipl.-Ing. Frau Holland und Dr. rer. nat. Theß geladen.114 Die Hauptverhandlung wurde nicht öffentlich, sondern „unter Einbeziehung einer gezielten Öffentlichkeit gem. §§ 4 und 209 StPO durchgeführt“, weist ein Aktenvermerk des Vorsitzenden Richters Dr. Körner aus. „Aus dem Bereich der Elektroindustrie nahmen 35 Leiter bzw. leitende Mitarbeiter von Kombinaten, Betrieben und Institutionen sowie Vertreter des Ministeriums und der VVB BuV teil, deren namentliche Festlegung durch den Minister des Ministeriums für Elektrotechnik und Elektronik erfolgte.“ Hartmann gehörte nicht dazu. „Außerdem nahmen etwa 30 Mitarbeiter des Untersuchungs­ organs teil.“115 Am 24. Juni 1974 wurde Iffarth vom 1. Senat des Bezirksgerichts Dresden zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt. Der „unmittelbare ökonomische Schaden“ habe 7.518 Millionen Mark betragen. An der Verhandlung waren Bezirksgerichtsdirektor Dr. Körner als Vorsitzender, Oberrichter Hillmann als beisitzender Richter, die Rentnerin Frau Raue und Dozent Dr. Müller als Schöffen beteiligt. Die Anklage vertraten Bezirksstaatsanwalt Lindner und Staatsanwalt Förster. Rechtsanwalt Well, Mitglied des Kollegiums der Rechtsanwälte, verteidigte den Angeklagten. Am 4. Juli bat Minister Steger den Bezirksstaatsanwalt Lindner um „wirkungsvolle und allseitige Auswertung“ des Falles Iffarth.116 Nicht nur am Rande sei bemerkt, dass eine Anfrage von Amnesty International an die Staatsanwaltschaft Dresden vom 12. Juni 1975, ob Iffarth wirklich ein Spion sei, mit dem handschriftlichen Vermerk „nicht zu beantworten“ zu den Akten gelegt wurde.117 Abschließend sei ein Auszug aus der Urteilsbegründung zitiert, den Iffarth nach der Wiedervereinigung seinem Antrag auf Rehabilitierung beifügte: „– hat seit 1963 mit dem Ziel, die DDR zu schädigen, als Abteilungsleiter für Technologie und Konstruktion der Arbeitsstelle für Molekularelektronik Dresden unter Ausnutzung und Missbrauch seiner Stellung die Entwicklung und Produktion von Festkörperschaltkreisen systematisch durchkreuzt und desorganisiert. Er verzögerte diese Aufgaben um 5 bis 7 Jahre und verursachte einen unmittelbaren finanziellen Schaden von 8,5 Mill. Mark Entwicklungskosten und weitere 109,5 Mill. Mark Ausfall von Warenproduktion. – um GHD [Geheimdiensten, Anm. d. Verf.] in der BRD Möglichkeiten zur Schädigung der DDR zu geben, unternahm er es, diesen Geheimnisse über Forschungsergebnisse und die Zusammenarbeit mit der SU sowie über Ex- und Importfragen zu verraten. 114  Vgl.

ebd., Bl. 11. Bl. 108. 116  Vgl. ebd., Bl. 113 f. 117  Vgl. ebd., Bl. 119. 115  Ebd.,



IV. Der Chef: Absturz183

– seit 1962 offenbarte er vielfach entgegen seinen beruflichen Pflichten gegenüber unberechtigten Personen geheime Tatsachen über die Produktion und Bereitstellung elektronischer Ausrüstungen, wodurch er diese erheblich gefährdete. – seit 1968 betrieb er Vorbereitungen, um die DDR illegal zu verlassen und versuchte am 24.10.1972 zusammen mit seiner Ehefrau unter Mitwirkung von BRDBürgern, die Staatsgrenze der ČSSR zu Österreich gewaltsam zu durchbrechen – verursachte die am 28.8.1971 im AMD erfolgte Wasserstoffexplosion mit 250.000 Mark Schaden und Verletzung von mehreren Personen, indem er bewusst entgegen seinen Pflichten für den Transport von Wasserstoff Glasrohrleitungen installieren ließ und diesen Zustand trotz entsprechender Aufforderungen über Jahre nicht verändern ließ.“118

4. Hartmanns Abberufung Cui bono? Auf diese Standardfrage gibt es mindestens drei Antworten. Erstens ist es unstrittig, dass der SED und insbesondere Günter Mittag, dem für Wirtschaftsfragen zuständigen Mitglied des Politbüros, der unbequeme und parteilose Chef einer Forschungs- und Entwicklungseinrichtung mit wachsender volkswirtschaftlicher Bedeutung mehr als nur ein Dorn im Auge war. Buthmann sieht hinreichende Indizien dafür, dass die Initiative für dessen Abberufung von Günter Mittag ausging, obwohl er einräumen muss, dafür keine Beweise vorlegen zu können. Aufgrund seines akribischen Quellenstudiums und jahrzehntelanger einschlägiger Erfahrungen ist es allerdings eine gewichtige These, ausgesprochen in einem gewichtigen Werk. Die im vorangegangenen Abschnitt bereits beschriebene Ablösung von Wolfgang Sieber, dem Generaldirektor des Kombinats Robotron, zeigt allerdings, dass Personalentscheidungen von großer Tragweite keineswegs der Mithilfe des MfS bedurften. Zweitens dürften Mielkes Tschekisten starke Eigeninteressen entwickelt haben, Hartmann nach jahrzehntelanger operativer Bearbeitung endlich der Zusammenarbeit mit einem westlichen Geheimdienst überführen zu können. Und zum Dritten hatten sie mit Hanisch einen Mann vor Ort, wie sie ihn sich nicht besser hätten wünschen können. Dieser hemmungslos agierende Karrierist kannte, nicht zuletzt aus gekränkter Eitelkeit, keine Skrupel, seinen Chef als einen die Volkswirtschaft bewusst schädigenden Feind der Partei darzustellen. Durch seine Gutachtertätigkeit im Fall Iffarth sah er dann eine Chance, seinen Chef zu stürzen, wenn es gelang, Iffarth zu belastenden Aussagen gegen Hartmann zu bewegen. Buthmann dokumentiert Hanischs hektische Betriebsamkeit im ersten Halbjahr 1974. Er absolvierte zwischen dem 2. Januar bis zum 15. Februar 21 Treffs mit Offizieren des MfS. Zwischen 118  BStU AU 1418/74, 211-19/74, Schwarzbuch, Reha-Antrag Iffarth (006002/93D).

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dem 15. Februar und dem 18. März waren es 32 und vom 1. April bis zum 28. Juni kamen noch einmal 47 hinzu.119 Wie der nachfolgenden Tabelle zu entnehmen ist, bildete sich aufgrund von Hanischs Eifer so etwas wie eine Arbeitsgruppe „Sturz Hartmanns“ innerhalb des MfS, in der Mitarbeiter der Berliner Zentrale und der Bezirksverwaltung Dresden auf das genannte Ziel hinarbeiteten. Oberstleutnant Dr. Lonitz von der HA IX in Berlin und Oberst Hachenberger, Leiter der Auswerte- und Kontrollgruppe in der Bezirksverwaltung Dresden, scheinen die führenden Köpfe gewesen zu sein, Hanisch der Stichwortgeber. Der Offizier für Sonderaufgaben Oberstleutnant Werner Lonitz war auch besonders qualifiziert. Am 9. Juni 1971 war er an der Juristischen Hochschule des MfS mit der Dissertation „Die strafrechtlichen Anforderungen und die Methodik der Beweisführung bei der Bekämpfung von Sabotageverbrechen gegen die Volkswirtschaft der DDR“ promoviert worden.120 Hanisch hatte, so Buthmann, einen Plan entwickelt, mit dem er die Sabotagearbeit Hartmanns nachweisen wollte. Dieser Plan basierte auf drei Unterstellungen: „Erstens in der maximalen Verzögerung des effektiven Arbeitsbeginns zur Entwicklung von Festkörperschaltkreisen, zweitens in der maximalen Verzögerung entscheidender Entwicklungsthemen und Negierung entscheidender Entwicklungseinrichtungen sowie drittens in der Aufnahme der Produktion mit unausgereiften Verfahren.“121 Neben der Fertigstellung des Gutachtens im Fall Iffarth sei bei diesen Treffs auch die Erarbeitung eines Gutachtens zu Hartmann bis hin zu Überlegungen, diesen als Leiter der AMD abzulösen, Gegenstand der Gespräche gewesen. Über die „lückenlose Kontrolle“ Hartmanns hinaus wurde auch eine „konspirative Arbeitsplatzdurchsuchung“ sowie der „Ein- und Ausbau der Maßnahme ‚B‘ “ verabredet, also das Abhören der Gespräche im Arbeitszimmer des Chefs. „Mit dem absonderlichen inoffiziellen Arbeitsvolumen Hanischs traten“, wie Buthmann feststellt, allerdings „ernsthafte dienstliche Probleme“ auf. Im gegenseitigen Einvernehmen sei er schließlich von allen fachlichen Aufgaben entbunden und dem Bereich Inspektion zugeordnet worden.122

Buthmann, Versagtes Vertrauen, S. 550, 552 und 560. dieser Gemeinschaftsdissertation waren Major Johannes Böttger und Major Karl-Heinz Knoblauch, BStU, JHS – Dissertationen 1971, JHS/21809, Bd. 1–2. 121  Buthmann, Versagtes Vertrauen, S. 557. 122  Vgl. ebd., S. 561 f. 119  Vgl.

120  Ko-Autoren



IV. Der Chef: Absturz185 Tabelle 22 Hanischs Treffs mit der Arbeitsgruppe „Sturz Hartmanns“ im ersten Halbjahr 1974 Zeitraum 1.  Januar – 15. Februar

Anzahl Teilnehmer 21

Major Birke, BV Dresden, 1981 Ltr. d. Abt. XVIII OSL Döhling, BV Dresden, Abt. IX Hptm. Fischer, BV Dresden, Abt. XVIII Hptm. Gesang, (HA XVIII/8/3) Hanemann (nicht zu ermitteln) OSL Dr. Lonitz, HA IX/OfS Hptm. Schmidtke, BV Dresden, Abt. XVIII Hptm. Seiler, BV Dresden, Abt. XVIII/1

15.  Februar – 18. März

32

OSL Döhling, BV Dresden, Abt. IX Hptm. Fischer, BV Dresden, Abt. XVIII Hptm. Gesang, (HA XVIII/8/3) Oberst Hachenberger, BV Dresden, Ltr. AKG Hanemann Hptm. Lehmann, BV Dresden, Abt. XVIII OSL Dr. Lonitz, HA IX/OfS Hptm. Schmidtke, BV Dresden, Abt. XVIII Hptm. Seiler, BV Dresden, Abt. XVIII/1

1.  April – 28. Juni

47

OSL Döhling, BV Dresden, Abt. IX Hptm. Fischer, BV Dresden, Abt. XVIII Hptm. Gesang, (HA XVIII/8/3) Oberst Hachenberger, BV Dresden, Ltr. AKG OSL Dr. Lonitz, HA IX/OfS Hptm. Schmidtke, BV Dresden, Abt. XVIII Hptm. Seiler, BV Dresden, Abt. XVIII/1

Am 4. Mai 1974, wenige Wochen vor der Urteilsverkündung, gab Iffarth in einer Vernehmung u. a. Folgendes zu Protokoll: „Aus persönlichen Gesprächen mit ihm während meiner Tätigkeit in der AMD konnte ich entnehmen, dass Prof. Hartmann reaktionäre Anschauungen hatte. Dies kam besonders dadurch zum Ausdruck, dass er das kapitalistische Wirtschaftssystem der BRD und der USA für besser als das sozialistische Wirtschaftssystem der DDR hielt.“

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Die „einer sozialistischen Lebens- und Verhaltensweise abgekehrte Verhaltensweise des Prof. Hartmann, verbunden mit der Vermeidung eines politischen Engagements im Sinne der DDR und allgemein des Sozialismus, musste bei jedem Mitarbeiter von Prof. Hartmann den Eindruck hinterlassen, dass Prof. Hartmann sich betont und bewusst so verhielt, um seine ablehnenden Anschauungen und Auffassungen gegenüber der Politik und der Entwicklung der DDR zum Ausdruck zu bringen; denn er war meiner Meinung nach andererseits zu klug, diese Anschauungen konkret zu formulieren, da er sich damit offenbart und als sozialistischer Leiter unmöglich gemacht hätte“. […] Durch die Art der Nichtwahrnehmung „seiner politischen Pflichten als Betriebsleiter hatte Prof. Hartmann eine negative Wirksamkeit auf seine leitenden Mitarbeiter und durch diese indirekt auch auf mehr oder weniger alle Mitarbeiter der AMD“. […] An zwei Beispielen könne er „sogar ein negatives Verhalten des Prof. Hartmann gegenüber der Neuerertätigkeit123 nachweisen“, die ihm aus seiner Tätigkeit „als Leiter des Neuererrates bzw. der Zentralen Neuererbrigade“ bekannt geworden seien. […] Vom Charakter her sei der Chef „autoritär, hochmütig und überheblich“.124 Am 14. Mai legte Iffarth noch einmal nach und äußerte sich ganz im Sinne Hanischs. Ihm seien „Handlungen des Prof. Hartmann im Rahmen meiner Tätigkeit als Abteilungsleiter der AMD bekannt geworden, die unmittelbar entwicklungshemmend waren und die Erfüllung der an die AMD gestellten Aufgaben verhinderten oder hemmten“. Als Beispiele von Pflichtverletzungen nannte er u. a: –– keine Untergliederung der großen Themenkomplexe in betriebliche Themen, –– keine Bildung eines wissenschaftlich-technischen Rates in der AMD, –– unterlassen, eine den Anforderungen der AMD gerecht werdende Informations- und Dokumentationsstelle aufzubauen, –– hat die Arbeiten in der AMD nicht nach den Festlegungen des Schwarzbuches kontrolliert, –– unzureichende Berichterstattung zum Plan Neue Technik, –– Einführung einer für VEB nicht gebräuchlichen Struktur, –– eigenwillige Kaderpolitik. 123  Die Neuererbewegung war als Bestandteil des sozialistischen Wettbewerbs eine Form der schöpferischen Massenbewegung zur weiteren Intensivierung der sozialistischen Produktion. Vgl. Meyers Universallexikon, Leipzig 1981, Bd. 3, S. 239. 124  BStU ASD – AOP 2554/76 (Reg.-Nr. XII/2956/62 – „Molekül“), Bd. 12, Bl. 101– 111.



IV. Der Chef: Absturz187

Durch Handlungen „mit schädigender Absicht“ habe Hartmann das Ziel verfolgt, „Entscheidungen oder überhaupt die Leitungstätigkeit der VVB BuV zu sabotieren“. Die drohende Verurteilung vor Augen, versuchte Iffarth, auf den Chef auch Teile seiner Verantwortung als Abteilungsleiter abzuwälzen. „Durch die Arbeitsweise des Prof. Hartmann hat er entgegen seinen Kenntnissen und Pflichten die Möglichkeit geschaffen, dass durch meine schädigende Tätigkeit erheblicher und folgenschwerer volkswirtschaftlicher Schaden entstanden ist.“ Zu seiner Entlastung lieferte er ein „Paradebeispiel für die Schaffung von Möglichkeiten für meine schädigende Tätigkeit“: Die Vorbereitung der Anlage zum Verschließen der Chips sei von Prof. Hartmann gar nicht kontrolliert worden. Dieser habe sich „erst nach massivem Druck durch die VVB BuV widerwillig und ohne Engagement eingeschaltet“. Darüber hinaus thematisierte Iffarth die Großzügigkeit Hartmanns bei Importen und lieferte Beispiele „für NSW-Importe, die nicht wirksam geworden sind“. Beim Umbau des Hauses 137 hingegen seien „kleinliche Sparmethoden an den Tag“ getreten. Man könne aus dieser Verhaltensweise den Schluss ziehen, dass Hartmann „den Eindruck eines mit dem Volkseigentum sparsam umgehenden Leiters erwecken wollte, jedoch bei Valutamitteln großzügig verfuhr, da er damit der Volkswirtschaft der DDR, ohne in den Vordergrund zu treten, mit relativ wenigen Posten großen Schaden an empfindlicher Stelle zufügen konnte“.125 5. Ein Doppelschlag Als „Doppelschlag“ bezeichnet Buthmann die Ereignisse vom 24. bis 26. Juni 1974. Am Montag, dem 24. Juni, sei die Betriebsleitung der AMD um 16.00 Uhr über die Verhandlung des Falls Iffarth durch die VVB Bauelemente und Vakuumtechnik informiert worden. „Tags darauf, am 25. Juni um 7.00 Uhr, wurden die Parteileitung und die Bereichsleiter davon in Kenntnis gesetzt. Alles verlief ‚nach einem Ablaufplan‘. Die Kollegen der Bereiche wurden um 8.15 Uhr informiert. Die unmittelbaren Reaktionen zu dieser Verhaftung sollen zustimmend aufgenommen worden sein.“ Hartmann, der wie bereits erwähnt nicht zur Urteilsverkündung in der Sache Iffarth zugelassen worden war, habe am 24. Juni die Aufforderung erhalten, am nächsten Tag nach Berlin zu kommen. „Hier wurde ihm vom stellvertretenden Generaldirektor der VVB, also nicht von Lungershausen selbst, und vom Kaderleiter des MEE mitgeteilt, dass er ‚ab sofort Hausverbot für

125  Ebd.,

Bl. 134–159.

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F. Vater der Mikroelektronik in der DDR

die AMD‘ und ‚sofort‘ den Dienstausweis und das Petschaft abzugeben habe.“ Die formale Abberufung sei allerdings erst am 11. Juli erfolgt.126 „Am 25. Juni 1974“, also am Tag der Absetzung Hartmanns, so Buthmann weiter, „fand in der AMD eine Leitungssitzung statt, an der der Direktor für Kader und Bildung der VVB BuV, der ZK-Beauftragte der VVB, Weiß, und ein Vertreter der Bezirksleitung der SED teilnahmen.“ Weiß habe sich in „grundsätzlicher“ Form „zum Feind Iffarth“ geäußert. Hartmann wurde vorgeworfen, „begünstigende Umstände“ für dessen Verbrechen geschaffen zu haben. Eine Konsequenz des Prozesses gegen Iffarth sei die Ablösung Hartmanns. Als amtierender Direktor wurde Dr. Ralf Kempe eingesetzt, der dieses Amt zwei Jahre lang bekleiden sollte. Jochen Henning, Nachfolger Hanischs als Parteisekretär der AMD, habe im Verlauf dieser Leitungssitzung angeregt, eine Verpflichtungsbewegung zu Ehren des 25. Jahrestages der DDR ins Leben zu rufen, um den durch die Feindtätigkeit von Iffarth entstandenen Schaden zu beheben. Auch die Kaderleiterin der AMD wurde zunächst von ihrer Funktion entbunden. Selbst in diesem Kreis der Leitungsfunktionäre seien die Informationen „äußerst beeindruckt aufgenommen“ worden. Trotz Aufforderung habe es keine Diskussion gegeben.127 Hanisch konnte sich mit dem Sturz Hartmanns, der ohne strafrechtliche Konsequenzen blieb, offensichtlich nicht zufriedengeben. Am 14. September 1974 schrieb er einen Brief an das MfS, in dem er erneut schwere Vorwürfe erhob: „Eine umfangreiche detaillierte Analyse der Handlungen von Prof. Hartmann hat mich zu der festen Überzeugung geführt, dass Prof. Hartmann diese Anfangsverzögerung bei der Entwicklung von FKS, die Grundlage für einen Entwicklungsrückstand von 8 bis 10 Jahren wurde und die Mikroelektronik der DDR von vornherein in den verhängnisvollen Nachentwicklungszwang brachte, im vollen Wissen um bessere und schnellere Lösungen und Möglichkeiten in der DDR bewusst herbeigeführt hat.“ Mit dem Vorwurf, Teil „eines gut organisierten perfekt funktionierenden Systems“ zu sein, denunzierte Hanisch auf einen Schlag neun zum Teil herausragende Akteure im Innovationssystem der DDR, wie Prof. Frühauf (Vizepräsident der AdW und Mitglied des Forschungsrates), Prof. Rompe (Mitglied des ZK der SED und des Forschungsrates) und Prof. Auth (Mitglied des Forschungsrates und Vorsitzender der Physikalischen Gesellschaft). Prof. Siegfried Pfüller und Prof. Walter Heinze zählten zu den namhaften Experten auf dem Gebiet der Mi­ kroelektronik. Der gleichfalls diesem „System“ zugeordnete Dr. Jochen Al­ brecht wurde am 1. Juli 1976 zum Nachfolger von Kempe als Leiter der AMD berufen und übte diese Funktion bis zum 31. März 1980 aus. Von anderem Kaliber war der ebenfalls genannte Rolf Hillig, der als Doppelagent 126  Buthmann, 127  Vgl.

Versagtes Vertrauen, S. 558. ebd., S. 558 f.



IV. Der Chef: Absturz189

sowohl für das MfS als auch für den britischen Geheimdienst arbeitete und 1987 im Kombinat Mikroelektronik zum Stellvertreter des Generaldirektors für Sonderaufgaben ernannt wurde.128 Ein Mitarbeiter des Funkwerks Erfurt namens Bremeier, ein Dr. Willi Franke sowie ein weiterer von Hanisch Genannter namens Zedler sind für den Fall Hartmann lediglich Randfiguren.129 Die Absurdität dieser Denunziation ist mit den Händen zu greifen, konnte aber Hanischs Rolle als Fachgutachter nicht erschüttern. Er gehörte einer Expertenkommission an, die im Auftrag des MfS einen „Untersuchungsbericht über die Tätigkeit des Leiters der Arbeitsstelle für Molekularelektronik Dresden, Prof. Dr.-Ing. habil. Werner Hartmann, bei der Erfüllung zentraler staatlicher Aufgaben“ anfertigte. Neben Hanisch arbeiteten Dipl.-Ing. H. Holland und Dipl.-Phys. V. Köhler vom Ministerium für Elektrotechnik und Elektronik, Dipl.-Ing. H. Klemens von der Staatlichen Plankommission sowie Dipl.-Ing. M. Roeske von der VVB Bauelemente und Vakuumtechnik an diesem Bericht. Die Experten belegten in ihrem Gutachten, „dass mit Ausnahme der ersten Monate des Aufbaus der Arbeitsstelle für Molekularelek­ tronik die Arbeitsfähigkeit jeweils in ausreichendem Maße gewährleistet war, so dass die gestellten Aufgaben termingemäß hätten abgeschlossen werden können“.130 Ein Urteil, dass auch unter dem Gesichtspunkt der wissenschaftlichen Qualifikation der Gutachter kritisch zu hinterfragen gewesen wäre. Für seine maßgebliche Mitwirkung am Sturz Hartmanns ist Hanisch persönlich von Mielke ausgezeichnet worden. Für Buthmann ein weiteres Indiz, „dass die Angelegenheit Hartmann wohl Chefsache von Günter Mittag war“.131 Nun forderte der IM „Rüdiger“ energisch seinen Lohn ein. Am 27. Februar 1975 beklagte er sich in einem Schreiben an die BV Dresden des MfS darüber, dass seine „Beförderung zum Leiter des Büros des Leiters der AMD, verbunden mit einem Sondergehalt von 2.000 Mark und der Einrichtung eines Arbeitszimmers, noch immer nicht perfekt ist“. Er fordert die Bezirksverwaltung auf, bei der VVB als dem übergeordneten Organ seine Einsetzung zu betreiben.132 Einen Monat später mahnte er eine Antwort an. Auf einem weiteren, dieses Mal handschriftlichen Brief findet sich der mit rotem Stift geschriebene Bearbeitungsvermerk „Vorstellungen des IM wurden mit Schreiben vom 16.4.75 an HA XVIII übersandt“.133 Oberst Bormann, 128  Vgl. 129  Vgl.

BStU, AIM 10794/91 IMB „Günter Richter“, Reg.-Nr.: Gera 491/60. BStU, AIM 4885/90 (Reg.-Nr. XII 2007/64) „Rüdiger“, Band I (1),

Bl. 97–100. 130  BStU, AOP 2554/76, Bd. 7, Bl. 1–218, Anhang Bl. 220–237; undatiert. 131  Buthmann, Versagtes Vertrauen, S. 568. 132  Vgl. BStU, AIM 4885/90 (Reg.-Nr.  XII 2007/64) „Rüdiger“, Band I (1), Bl. 101–104. 133  Ebd., Bl. 108.

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Stellvertreter Operativ, und OSL Hachenberger, Leiter der Abteilung XVIII, baten die Hauptabteilung XVIII in Berlin, die „als Anlage zugehenden Vorstellungen einer Veränderung der Struktur der AMD in Bezug auf den Einsatz von Dr. Hanisch als Direktor für Wissenschaftsorganisation zu prüfen und entsprechend den gegebenen Möglichkeiten auf die Verwirklichung Einfluss zu nehmen“.134 Oberst Dr. Kleine antwortete am 3. Juni und teilte mit: „Für die von Ihnen vorgeschlagene Variante hinsichtlich des Einsatzes von Dr. Hanisch als Sonderbeauftragter der VVB sind keinerlei Voraussetzungen vorhanden, ebenso ist eine anderweitige Übernahme in die VVB nicht möglich. Dr. H. ist bereits jetzt über 3 Jahre aus dem Arbeitsprozess herausgelöst und gutachterlich für das MfS tätig. Wir halten es deshalb für erforderlich, dass für die künftige Tätigkeit des Dr. H. eine endgültige Klärung Ihrerseits erfolgt.“ In der VVB, so viel scheint klar zu sein, wollte niemand den Denunzianten und Karrieristen haben. In Absprache mit dem Generaldirektor hat Kleine aber „eine erneute Freistellung für weitere 6 Monate erwirkt“.135 Im Juni 1977 erklärte der seit dem 1. Juli 1976 amtierende Leiter der inzwischen als Institut für Mikroelektronik Dresden firmierenden Einrichtung gegenüber der Abteilung XVIII der BV Dresden, „dass er auf der Grundlage eines Einverständnisses mit uns bereit ist, die Planstelle weiter zur Verfügung zu stellen und Gen. Dr. Hanisch die Möglichkeit des Einsatzes bei uns zu geben“.136 Mit Datum vom 22. März 1978 beantragte der Institutsdirektor ein „Sondergehalt für meinen Sonderbeauftragten Genossen Dr.-Ing. Hans Joachim Hanisch“.137 Dies mag nur ein Beispiel dafür sein, dass Betriebe und Einrichtungen Inoffizielle Mitarbeiter finanzierten, die de facto hauptamtlich für das MfS arbeiteten. Im März 1981 besuchte Hanisch im Auftrag des MfS die Bezirksparteischule mit der Perspektive, anschließend als Hauptamtlicher Mitarbeiter übernommen zu werden.138 Er nutzte das MfS aber auch aus, um Privilegien für sich und seine Familie zu genießen, so zum Beispiel um „vorzeitig“, also unter Umgehung der üblichen Wartezeit von mehr als zehn Jahren, einen PKW „Dacia“ erwerben zu können, oder eine Lehrstelle als Autoschlosser für seinen Sohn zu ergattern.139

134  Ebd.,

Bl.  109 f. Bl. 125. 136  Ebd., Bl. 138. 137  Ebd., Bl. 140. 138  Vgl. ebd., Bl. 176. 139  Vgl. ebd., Bl. 128 f. 135  Ebd.,



IV. Der Chef: Absturz191

Im Juni 1983 als wissenschaftlicher Oberassistent an die TU Dresden gewechselt, unterzeichnete Hanisch am 1. Februar 1989 nach 25 Jahren inoffizieller und offizieller Mitarbeit eine „Vereinbarung zur Beendigung der hauptamtlichen inoffiziellen Tätigkeit“.140 Am 8. Februar 1989 wurde ihm mit dem Befehl Nr. K 9/89 eine „Ehrenurkunde verbunden mit einer finanziellen Anerkennung in Höhe von 5.000 Mark“ überreicht.141 Durch seinen Wechsel ins Direktorat für Internationale Beziehungen der TU öffnete sich für Hanisch vor allem durch die Beurteilung von NSW-Reisekadern ein neues Feld, seine Obsession der Erfindung von Staatsfeinden exzessiv weiter zu leben. 6. Das Nachspiel Doch zurück zum Fall Hartmann, denn der OV „Molekül“ war mit dessen Degradierung und dem Hausverbot noch immer nicht abgeschlossen. Die Tschekisten gaben nicht auf, sondern hegten die Hoffnung, in entsprechend hart geführten Verhören ein Schuldeingeständnis erpressen zu können. „Da das vorhandene Material keinen Nachweis strafrechtlich relevanten Handelns zuließ“, führte Oberstleutnant Dr. Lonitz, der Berliner Offizier für Sonderaufgaben der HA IX, vom 27. bis 29. April 1976 in einem konspirativen Objekt der BV Dresden eine „Befragung des ehemaligen Leiters der Arbeitsstelle für Molekularelektronik Dresden (AMD)“ durch. Am 10. Mai formulierte Lonitz in seinem handschriftlichen Abschlussbericht142 einleitend drei Schwerpunkte seiner Verhöre, nämlich erstens „unverständliche Entscheidungen Hartmanns, die die Spionagetätigkeit von Dr. Iffarth begünstigten“, zweitens „mögliche Verbindungen zu einem westl. Geheimdienst“ und drittens die „politisch-ideologische Position Hartmanns“. Prof. Hartmann gab zu Protokoll, dass er „im umfassendsten Sinne bereit ist, jeden vom MfS gewünschten Beitrag zur Wiedergutmachung der durch ihn verursachten volkswirtschaftlichen Schäden und der anderen Handlungen, mit denen er sich äußerst schuldhaft gegenüber unserem Staat verhalten habe, zu leisten“. Er, Lonitz, habe sogar daran gedacht, Hartmann für eine Zusammenarbeit gewinnen zu wollen. „Diese Zusammenarbeit sollte darauf ausgerichtet sein, ein vertrauensvolles Verhältnis Prof. Hartmanns zum MfS zu erreichen, um ihn später, bei gleichzeitiger Auswertung der Ergebnisse operativer Überprüfungen und Kombinationen, auch zu einem vollen Geständnis seiner vermut140  BStU,

AIM 4885/90 (Reg.-Nr. XII 2007/64) „Rüdiger“, Teil I, Bd. 4, Bl. 163. Bl. 165. 142  Vgl. BStU, OV „Molekül“ (Reg.-Nr. XII 2956/62), Bd. 4, Bl. 212–220. 141  Ebd.,

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lich bisher unvollständig dargelegten, gegen die DDR gerichteten Handlungen zu bewegen.“ Die „Befragung“ durch Lonitz war die einzige Gelegenheit für Hartmann, sich gegenüber einer Institution zu rechtfertigen, deren Macht und Einfluss er keineswegs unterschätzte. Er reflektierte das Frage- und Antwortspiel zwischen ihm und dem Stasi-Offizier mit dem erfolgreichen Instrument des Physikers, durch Reduktion von Komplexität Ursache-Wirkungs-Ketten zu erkennen, wo immer möglich, monokausale. Als Spezialist auf dem Gebiet der Elektrotechnik/Elektronik sollte ihm aber auch die Netzwerktheorie nicht fremd gewesen sein, nach der er sich als Mittelpunkt eines Netzes hätte sehen können, dessen zahlreiche Knoten in unterschiedlicher Weise miteinander wechselwirkten. Seine Demontage, schreibt Hartmann in den Memoiren, sei „ein infames abgekartetes Spiel, das nur zum Ziel hatte, den parteilosen Hartmann aus­ zuschalten“. Da er aber „bei Mitarbeitern, Kollegen und der elektronischen Industrie einen sehr guten Ruf hatte – gewiss gab es auch feindlich gesinnte Menschen, ich habe solche nie selbst getroffen oder erkannt –, musste man, um meine Vernichtung glaubhaft zu machen, schweres, grobes Geschütz auffahren, um mich vor der Öffentlichkeit zu belasten“. Man habe ihm keine Möglichkeit gegeben, sich „öffentlich, in welcher Form auch immer, zu verteidigen“. Darüber hinaus habe man ihn „durch die Stasi-Überwachung“ eingeschüchtert. „Derartig ausgekochten gemeinen Methoden war ich nicht gewachsen.“ Einem „deutschen sozialistischen Staatswesen“ hätte er Methoden „dieser Gemeinheit nie zugetraut“. Nach dieser zutreffenden Analyse hätte Hartmann klar sein müssen, dass jegliche weiteren eigenen Aktivitäten in seiner Sache vergeudete Zeit und Energie sind. Warum kämpfte er dennoch weiter? Er versuchte vergeblich, Antworten auf seine „drei Hauptfragen“ zu finden, die da lauteten: „a.  der Aufbau von AMD und damit der Mikroelektronik erfolgte nicht zügig genug, b.  durch Iffarths Sabotage entstand der DDR ein Schaden von 100 Mio. M, c. dreimal mussten Pläne verändert werden, da die erwarteten FKS nicht produziert werden konnten.“143

Günter Dörfel ist überzeugt, dass „Hartmann die ideologie- und machtbestimmten Hintergründe seiner Demontage lange nicht begriffen“ habe. „Er glaubte beweisen zu können, dass er die ursprüngliche Vereinbarung, nämlich Leistung gegen Gestaltungsspielraum, nie verlassen habe und deshalb zu Unrecht gedemütigt worden sei.“144 143  Nachlass, 144  Dörfel,

Technische Sammlungen Dresden, Zeitraum 1974–1977, S. JZ 9. Hartmann. Industriephysiker, S. 230.



IV. Der Chef: Absturz193

Nach Verbündeten suchte Hartmann nicht. Es stellt sich die Frage, warum der im diplomatischen Dienst der DDR stehende Ehemann der älteren Tochter, der für Honecker als Dolmetscher bei spanisch sprechenden Gästen tätig war, nicht versuchte, den SED-Chef auf die unverschuldete und unverdiente existenzielle Notlage seines Schwiegervaters aufmerksam zu machen. Immerhin war Honecker auf die unbedingte Loyalität seiner Dolmetscher angewiesen. Es ist deshalb nicht auszuschließen, dass er auf den Fall Hartmann anzusprechen gewesen wäre, auch wenn die Mikroelektronik von der SED 1974 noch nicht als Schlüsseltechnologie begriffen wurde. Stattdessen bat er Ardenne, wie bereits erwähnt, vergeblich um Hilfe. In ihrer Verzweiflung entschloss sich Ehefrau Renée im August zu einer ungewöhnlichen Art, ihrem Mann beizustehen. In einem anonymen Brief attackierte sie die Führung der Staatspartei. Am 10. August ging beim ZK der SED das anonyme Schreiben ein, in dem sie Klartext redete: „Genossen, sehr schlechte Berater habt ihr. Wenn ihr wüsstet, was die Berater mit dem Absägen vom Professor angerichtet haben, dann würdet Ihr die rausschmeißen.“ Und weiter: „Am Ende seiner Zeit habt Ihr nichts weiter für ihn als einen Tritt in den Hintern. Das im ersten Staat der Werktätigen. Das ist ein böses Beispiel. Die Arbeitsmoral sinkt.“ Ferner: „Und alle reden nur hinter vorgehaltener Hand. So weit sind wir gekommen.“145 „Bald lagen drei an das ZK der SED gerichtete anonyme Schreiben vor“, weiß Buthmann. Darin sei die Ablösung Hartmanns als ungerecht dargestellt worden. „Das MfS begann am 19. August mit der systematischen Fahndung und formuliert erste Schritte.“146 Auch die IM-Netze wurden sensibilisiert. Wie Buthmann weiter berichtet, stellte das MfS eine Liste von Verdächtigen zusammen. Auf dieser standen u. a. Heinz Werner, Abteilungsleiter und „langjähriger guter Mitarbeiter von Professor H.“; Heinz Gerlach, „großer Verehrer von Professor H.“; Dieter Garte, Abteilungsleiter, „großer Verehrer von Professor H.“; Kurt Locke, „der erste und engste Mitarbeiter des Professor H. beim Aufbau der AMD“, aber auch Hennig, der Parteisekretär.147 Die Abteilung XVIII/2 der BV Dresden habe umgehend „weitere Maßnahmen zur Aufklärung des anonymen Briefeschreibers“ ergriffen. In 150 Kaderakten seien zu fünf Personen „personifizierte Verdachtsrichtungen herausgearbeitet“ worden.148 Schließlich gelang es, Renée Hartmann als Verfasserin dieser Briefe zu ermitteln. Anhand einer Speichelprobe, wie sie selbst sagte. Denn sie habe die Klebestreifen der Umschläge mit der Zunge angefeuchtet. In einer der Befragungen ging Lonitz auch auf die „verleumderischen“ Briefe nach Buthmann, Versagtes Vertrauen, S. 564. nach ebd. 147  Vgl. ebd., S. 567. 148  Vgl. ebd. 145  Zitiert 146  Zitiert

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seiner Frau an die Parteiführung ein. Hartmann habe versucht, diese Äußerungen abzumildern, schreibt Buthmann.149 Im März 1975 habe ihn Frau Iffarth besucht, schreibt Hartmann in seinen Memoiren. Sie wollte wissen, weshalb ihr Mann zu 15 Jahren Haft verurteilt worden sei. Er könne diese Frage nicht beantworten, habe er gesagt. Er wisse nur, dass Iffarth sein, also Hartmanns, Leben zerstört habe. Daraufhin sei sie ausfällig geworden und er habe sie gebeten, sein Haus zu verlassen. Grußlos sei sie gegangen. „Später glaubte ich annehmen zu können, dass sie im Auftrage des MfS kam, um meine Reaktion zu erkunden.“ Mit dieser Vermutung lag er richtig.150 Nachdem die Verhöre abgeschlossen waren, ging Hartmann daran, für das MfS eine schriftliche Darstellung seiner beruflichen Laufbahn sowie seiner Verbindungen zu Verwandten und Bekannten in der Bundesrepublik anzufertigen. Am 5. August 1976 übergab er Dr. Lonitz „einen Schnellhefter mit folgendem Inhalt: Ausarbeitung A (12 Seiten): meine fachlich-politische Entwicklung, Ausarbeitung B (15 Seiten): Westverbindungen, Ausarbeitung C (25 Seiten): Elektronik in der DDR“.151 Offenbar reifte im Herbst 1976 bei den Bearbeitern des OV „Molekül“ die Erkenntnis, Hartmann weder Spionage noch Schädlingstätigkeit nachweisen zu können, und sie bereiteten dessen Abschluss vor. Im Schlussakt eines makabren Krimis trafen die antagonistischen Protagonisten Lonitz und Hachenberger auf der einen sowie Hartmann auf der anderen Seite unter dem gemeinsamen Motto „die Hoffnung stirbt zuletzt“ noch einmal aufeinander. Die Täter wollten so viel wie möglich an schriftlichen Bekenntnissen ihres Opfers erhalten, um vielleicht doch noch Schuldeingeständnisse konstruieren zu können. Das Opfer wiederum gab sich der trügerischen Hoffnung hin, seine Unschuld beweisen zu können. Diese letzten Gespräche fanden in Hartmanns Haus statt. Nicht immer vermochten es die Vernehmer, auf einer sachlichen Ebene zu agieren und ihre Contenance zu bewahren. So erklärte Lonitz dem Hausherrn am 24. November 1976, wie dieser in seinen Memoiren schrieb, „wie tüchtig und fähig ich wäre, wie viel ich geleistet hätte, welch Vorbild ich für die jungen Leute gewesen sei usw. Aber er müsse hinzufügen, ich hätte auch gemeint, immer der Schönste und Beste gewesen zu sein. Das aber – nun wurde Lonitz wieder scharf und lauter – sei falsch, ich hätte Fehler gemacht.“ […] Hartmann habe daraufhin erklärt, dass „wohl niemand fehlerfrei lebe und arbeite“. 149  Vgl. 150  Vgl.

17.

ebd., S. 590. Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Zeitraum 1974–1977, S. JZ

151  Ebd.,

S. JZ 33.



IV. Der Chef: Absturz195

Seine Arbeit könne doch wohl nicht ganz wertlos gewesen sein, „denn wofür habe ich zwei Nationalpreise erhalten?“ Lonitz sei aufgesprungen und habe gebrüllt: „Dafür könnte ich Sie erwürgen.“ Hachenberger habe aber sofort reagiert und gesagt: „Professor, das war keine Drohung.“152 Am 1. Dezember 1976 legte das MfS den Operativen Vorgang „Molekül“ zu den Akten.153 In der Begründung heißt es: „Die Bearbeitung als OV wurde am 29.4.76 mittels Befragung des Beschuldigten und weiterer Aussprachen abgeschlossen. Die im OV erarbeiteten Verdachtsmomente hinsichtlich von Kontakten zum BND 1957/58 bzw. zum anderen GD 1965 haben sich bestätigt. Es konnte weiterhin der Nachweis erbracht werden, dass durch Fehlentscheidungen und Fehlhandlungen des H. hohe volksw. Verluste für die DDR entstanden und H. begünstigende Bedingungen für den Saboteur IFFARTH setzte. Im OV wurde der anonyme Briefschreiber ermittelt. Die Anwendung strafrechtlicher Maßnahmen gegen Prof. H. sind lt. Festlegungen der HA IX und HA XVIII vom 10.5.76 nicht durchzuführen.“ Das MfS sprach Recht, nicht die Gerichte! Wenige Tage später, am 12. Dezember, nahm Oberst Hachenberger bei seinem Besuch im Hause Hartmann weitere Teile der Hartmann’schen Verteidigungsschrift entgegen. Es waren dies: „Ausarbeitung D (12 Seiten): Zur Elektronenstrahltechnologie, Ausarbeitung E (11 Seiten): Über Abwerbungsversuche, Ausarbeitung F (11 Seiten): Resignation und kritische Einstellung, Ausarbeitung G (2 Seiten): Auszüge aus Artikel von Prof. Rompe, Spektrum 9/1976, Ausarbeitung H (2 Seiten): Erläuterungen zu G, Über Strategie und Taktik.“154 Hachenberger und Lonitz nahmen auch diese Ausarbeitungen gern entgegen. Eine Reaktion darauf habe es aber niemals gegeben, beklagte sich Hartmann, der noch immer keine Logik in seiner Abberufung erkennen konnte. „Seit dem 23.2.77 hat sich niemand – weder Dr. Lonitz, Hackenberger oder sonst jemand – vom MfS oder einer ähnlichen DDR-Dienststelle bei mir gemeldet.“ [ …] „Warum hat das Interesse des MfS an mir so plötzlich aufgehört? Ich glaube, dass die schriftlichen Glückwünsche von Honecker und Modrow zu meinem 65. Geburtstag zum Abbruch veranlassten, zumal sie von mir sowieso nichts für sie Interessantes erfuhren und mir auch keine strafrechtlich zu verfolgenden Handlungen vorwerfen konnten. Ebenso musste Dr. Lonitz damit rechnen, dass ich ihn um konkrete Auskunft bat, wie ein ‚Staatsverbrecher‘ Dr. Iffarth 2½ Jahre nach seiner Verurteilung zu 15 Jahren Freiheitsentzug auf freien Fuß gesetzt werden kann. Iffarth hat also 152  Ebd.,

S. JZ 36. BStU, AOP 2554/76 (Reg.-Nr. XII/2956/62 – „Molekül“), Bd. 1, Bl. 96. 154  Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Zeitraum 1974–1977, S. JZ 35. 153  Vgl.

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wohl doch wenig verbrochen? Aber Iffarths ‚Verbrechen‘ waren der Anlass zu meiner Abberufung.“ […] „Iffarth arbeitet seit Herbst 76 in seinem Beruf im Zentrallabor für Rundfunk und Fernsehen im Industriegelände Meschwitzstraße, ich aber bleibe zu ‚lebenslänglich‘ und ‚Berufsverbot‘ verurteilt!!“155 Die hier erwähnten Glückwünsche des Generalsekretärs und des 1. Sekretärs der SED-Bezirksleitung anlässlich seines 65. Geburtstags hätte Hartmann als Beleg dafür ansehen können, dass die Spitzen der Staatspartei und möglicherweise auch des Ministeriums für Elektrotechnik und Elektronik keine Kenntnis von den Machenschaften des Ministeriums für Staatssicherheit hatten. Es wäre naiv gewesen, daraus Hoffnung auf eine Rehabilitation zu schöpfen. 7. Iffarths Entlohnung Nur wenige Tage nach Abschluss des OV „Molekül“, am 10. Dezember 1976, verfügte der Bezirksstaatsanwalt für Iffarth eine „Strafaussetzung auf Bewährung gem. § 349 StPO mit einer Bewährungszeit von 4 Jahren, wirksam ab dem 17.12.1976“.156 Damit erhielt auch Konrad Iffarth den Judaslohn für seine Kooperation mit den Tschekisten. Seine Ehefrau Christine unterschrieb am 19. Dezember 1974 in der Haftanstalt eine Verpflichtungserklärung, in der sie ihre Bereitschaft erklärte, nach ihrer Entlassung auf diese Weise Wiedergutmachung zu leisten. Sie wählte den Decknamen „Moritz“ und erhielt den Auftrag, „Berichte zur eigenen Verwandtschaft und zum 7-er Kreis sowie Kontakte zu Prof. Hartmann zu übernehmen“.157 Auf den 13. Mai 1975 ist ihr Bericht über einen Besuch bei Prof. Hartmann datiert.158 Am 29. Juni 1976 zahlte das MfS Frau Iffarth eine Unterstützung in Höhe von 9.154 Mark.159 Da eine „langfristig geplante Aufbaulinie zum späteren Absetzen ins Operationsgebiet“ durch den „Straferlass für den Ehemann des IM-Vorl. ‚Moritz‘ hinfällig“ geworden sei, entschied Generalmajor Markert, Leiter der BV Dresden, den Vorgang zwar einzustellen, jedoch noch eine gewisse Zeit den Kontakt zum Vorlauf und Ehemann zu halten.160 Hier wird deutlich, dass verschiedene Abteilungen der Bezirksverwaltung mitunter durchaus unterschiedliche Ziele verfolgten. Die einen, in diesem Fall die Abteilung XV (Auslandsaufklärung), waren bereit, in eine Agentin für den Einsatz in der Bundesrepublik zu investieren, die anderen, die Abtei155  Ebd.,

S. JZ 38. 211-19/74, Bd. II, Bl. 125. 157  BStU AIM 3516/83, Iffarth, Christine, Reg.-Nr.: XII 2/75, Bd. 1/III, Bl. 6–9. 158  Vgl. ebd., Bl. 25–27. 159  Vgl. ebd., Bl. 49. 160  Vgl. ebd., Bl. 53. 156  BStU,



IV. Der Chef: Absturz197

lung XVIII (Sicherung der Volkswirtschaft), arbeiteten auf die Ablösung des „Vaters der Mikroelektronik in der DDR“ hin. Letztere setzten sich durch. Übrigens: Ein Bericht des IM „Günter Richter“ über den „Besuch des Ehepaares Hillig bei uns am 7.2.77“, also wenige Wochen nach der Haftentlassung Konrad Iffarths, trägt mit „Max und Moritz“ die Unterschriften beider Eheleute.161 8. Hartmann in Muldenhütten Weisungsgemäß trat Hartmann am 15. Juli 1974 den Dienst im VEB Spurenmetalle Freiberg an, genau dort, wo man lange nicht in der Lage war, Silizium-Einkristalle für die Waferproduktion mit der erforderlichen Reinheit herzustellen. Als „Sonderbeauftragter des Generaldirektors der VVB“ erhielt er die Arbeitsaufgabe, sich mit der „Korrelation zwischen Basismaterial und elektronischen Bauelementen“ zu befassen.162 In Muldenhütten, gelegen in einem engen, aber tiefen Tal der Freiberger Mulde in Sichtweite der alten Bergstadt Freiberg, wurden seit Jahrhunderten Erze aus den umliegenden Gruben verhüttet. Seit dem 16. Jahrhundert, aufgrund einer Verordnung von Kurfürst August, auch solche mit geringem Gehalt an Silber. Im Zusammenhang mit der Bildung des Bergbau- und Hüttenkombinats „Albert Funk“ wurde im Sommer 1961 die Produktion von Blei in Muldenhütten konzentriert. Bereits Ende 1957 hatten dort etwa drei Dutzend Beschäftigte im Labor einer ehemaligen Bleihütte mit der Produktion von Germanium für die sich entwickelnde Halbleiterindustrie begonnen. 1960 startete der Bau einer Großproduktionsversuchsanlage, die Mitte der 1960er Jahre neben der erheblichen Steigerung der Germaniumdioxidproduktion auch die Züchtung von Germanium-Kristallen ermöglichte.163 „Muldenhütten war aufgrund seiner ökologischen Belastung mit Schwermetallen für die auf höchste Reinheit angewiesene Siliziumproduktion denkbar ungeeignet“, schreibt Franz-Peter Kolmschlag, Prokurist der Muldenhütten Recycling und Umwelttechnik GmbH. Denn bis Ende der 1970er Jahre führten „die von Jahr zu Jahr größer werdenden Flugstaubhalden“ zu einer „ernsthaften Bedrohung der Umwelt“. Noch 1979 seien „aus dem Schachtofenprozess 10.000 Tonnen Flugstaub“ angefallen.164 Es bedurfte also schon 161  Vgl. BStU, AIM 10794/91, IMB „Günter Richter“, Reg.-Nr.: Gera 491/60, Hillig, Rolf, Bd. I/III Bl. 25–27. 162  Buthmann, Versagtes Vertrauen, S. 562. 163  Vgl. https://freiberger.com/unternehmen/firmengeschichte/, aufgerufen am 20.3.2021. 164  Kolmschlag, Franz-Peter: Sieben Jahrhunderte Hüttenstandort Muldenhütten, Freiberg 2010, S. 115.

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F. Vater der Mikroelektronik in der DDR

einer gehörigen Portion Naivität, an diesem Standort der Grundstoffindustrie das Fundament einer künftigen Waferproduktion für die mikroelektronische Industrie zu errichten, um große Silizium-Einkristalle hoher Reinheit inmitten ständig wachsender Flugstaubhalden aus der Bleiproduktion zu züchten. Die Verfahrens- und Technologieentwicklung für die Chipherstellung in unmittelbarer Nähe der Start- und Landebahn des Flughafens in DresdenKlotzsche anzusiedeln, dem Ort des Scheiterns des ersten Prestigeprojekts der DDR-Wirtschaft, ist weniger deutlich Ausdruck von Naivität der Entscheidungsträger. Aber: Was kann die Unvereinbarkeit von Anspruch und Wirklichkeit, von Plänen und deren Erfüllung besser vergegenständlichen als die Herstellung mikroskopisch kleiner Bauelemente in den riesigen Hallen der Luftfahrtindustrie? Werner Hartmann war keineswegs der erste namhafte sozialistische Leiter, der nach Muldenhütten „verbannt“ wurde. Kolmschlag erinnert in seiner Geschichte des Industriestandortes Muldenhütten an Adolf (Lex) Ende. Im Oktober 1950 nahm der in Ungnade gefallene Chefredakteur des „Neuen Deutschlands“ seine Tätigkeit in der Buchhaltung auf. Ende war am 24. August aus der SED ausgeschlossen worden, weil er sich erlaubt hatte, Stil und Rechtschreibung in den Aufsätzen von Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht zu korrigieren. Was Ulbricht als „Unverschämtheit“ empfand, rechtfertigte Ende mit dem Anspruch eines Journalisten, der nicht akzeptieren könne, „dass unter seiner Verantwortung Artikel mit mangelnden Deutsch- und Rechtschreibekenntnissen erscheinen“. Die Parteiführung beschuldigte Ende und eine Handvoll weiterer prominenter Funktionäre, Verbindungen zum amerikanischen Geheimdienst zu pflegen.165 Im Zusammenhang mit der „Noel-H.Field-Affäre“166 wurde Ende mit 50 weiteren Beschuldigten der Spionage verdächtigt. Nach dreimonatiger Tätigkeit sei er am 15. Januar 1951 in Hilbersdorf tot in seinem Bett aufgefunden worden. Die Presse veröffentlichte in einer kurzen Meldung, dass er einem Herzschlag erlegen sei.167 Zwei Tage nach Hartmanns Arbeitsaufnahme in Muldenhütten wies Rolf Markert, Leiter der Bezirksverwaltung Dresden des MfS, die Kreisdienststelle Freiberg an, „in Abstimmung mit der Abteilung XVIII der BV Dresden entsprechende Sicherungsmaßnahmen am neuen Arbeitsplatz“ Hartmanns 165  Vgl.

Field.

Die Zeit Archiv, Jahrgang 1950, Ausgabe 40: Das Geheimnis um Noel

166  Noel Haviland Field (1904–1970) war ein amerikanischer Diplomat, marxistischer Aktivist und Informant des sowjetischen Geheimdienstes. Während des Zweiten Weltkriegs leitete er das Unitarian Service Committee und rettete zahlreiche Flüchtlinge vor der nationalsozialistischen Bedrohung. Nach Kriegsende wurde er als angeblicher US-Agent Opfer der stalinistischen Säuberungen. Vgl. https://de.wikipedia. org/wiki/Noel_Field, aufgerufen am 20.3.2021. 167  Vgl. Kolmschlag, Hüttenstandort Muldenhütten, S. 76 f.



IV. Der Chef: Absturz199

einzuleiten.168 Als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Betriebsdirektors sollte dieser die Verantwortung für die Verbesserung der Qualität der Si-Scheiben im Zusammenhang mit dem Einbau in Festkörperschaltkreise übernehmen. Bereits am 27. Juli legte Hartmann erste Ergebnisse seiner Analyse der Herstellung der Si-Scheiben im Betrieb vor.169 Am 1. September stellte Hartmann den technologischen Prozess der Scheibenproduktion zur Diskussion und forderte die genaue Einhaltung aller Teilschritte sowie eine sorgfältige Dokumentation jeder Änderung einzelner Prozessschritte.170 Am 9. September fällte er ein vernichtendes Urteil über das Niveau der Scheibenherstellung. Die „hohen Rückweisquoten“, also der Ausschuss, seien auf „eine völlig unzureichende Sorgfalt und Disziplin in der Fertigung“ zurückzuführen. Er erklärte sich bereit, helfend einzugreifen und schlug einen „Fehlerkatalog mit Kennzeichnung der Fehler“ vor, um den Herstellungsprozess besser kontrollieren und überprüfen zu können.171 Auf den 8. Oktober ist ein weiterer Vorschlag zur Verbesserung der Qualität der Si-Scheiben datiert, der auch zusätzliche Investitionen vorsah. Am 18. Oktober und 15. November legte Hartmann die Ergebnisse seiner Analyse der technologischen Abläufe im VEB Spurenmetalle vor. Er listete nicht nur Versäumnisse und Unzulänglichkeiten in den technologischen Abläufen auf, sondern unterbreitete auch Vorschläge zur Erhöhung der Effektivität durch technologische Verbesserungen sowie effektivere Messverfahren für die geometrischen Parameter der Si-Scheiben.172 Am 19. November schrieb Hartmann dem Direktor der VVB einen als persönlich deklarierten Brief, in dem er die „Missstände in den technologischen Prozessen insgesamt, nicht nur in Freiberg“ aufzeigte. Ursache sei die Nichtbeachtung „elementarer Spezifika der physikalischen Industrie der Halbleitertechnik/Mikroelektronik im Sinne der AMD-Konzeption“. Er führte fünf Komplexe im Halbleiterwerk Frankfurt/Oder und im Funkwerk Erfurt an, die „alles andere als optimal liefen“ und bot sich als Berater an.173 Bis zum Jahresende formulierte Hartmann allgemeine Anforderungen an die Halbleitertechnologie, lieferte Arbeitsvorschriften sowie Fertigungs- und Prüfanweisungen und stellte betriebswirtschaftliche Berechnungen an.174 Am 25. Februar attestierte ihm der Betriebsdirektor Jochen Albrecht, „sich in das Betriebskollektiv eingefügt“ zu haben. Allerdings habe er oft Unverständnis 168  Buthmann,

Versagtes Vertrauen, S. 562. ebd., S. 563. 170  Vgl. ebd., S. 565. 171  Ebd., S. 567. 172  Vgl. ebd., S. 570. 173  Ebd., S. 571. 174  Vgl. ebd., S. 572. 169  Vgl.

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dafür gezeigt, dass von ihm vorgeschlagene Maßnahmen „erst in Zukunft durchgeführt werden können“.175 Im Vergleich zu seinem fachlichen Engagement nehmen sich die „Aktionen in eigener Sache“ überaus bescheiden aus. Am 6. Juli 1974 schickt er „seine“ Kurzgeschichte der Arbeitsstelle für Molekularelektronik an den zuständigen Minister Steger sowie den Generaldirektor der VVB Bauelemente und Vakuumtechnik Lungershausen.176 Darüber hinaus bat er Steenbeck, ihm zu helfen, „wenigstens fachlich weiter adäquat arbeiten zu können“.177 Obwohl dieser sich keineswegs energisch für Hartmann einsetzte, blieben beide während der folgenden Monate miteinander in Kontakt. Steenbeck war dadurch stets „auf dem Laufenden“ und bemüht, wenigstens „partiell Hilfe zu leisten“.178 In den Monaten März und April 1975 versuchte Hartmann mehrmals, den Rat des „DDR-Staranwalts Friedrich Karl Kaul“ einzuholen.179 Ein Gespräch fand am 6. Mai 1975 statt. „Es brachte nichts, alles prallte bei Kaul wie von einer Gummiwand ab.“180 Hartmann scheint nicht gewusst zu haben, dass der Stern Kauls, der als einziger DDR-Anwalt vor sämtlichen Gerichten in der Bundesrepublik Deutschland als Strafverteidiger zugelassen war, in den siebziger Jahren „unvermittelt zu sinken begann und sein Einfluss spürbar nachließ“, wie Anette Rosskopf feststellt.181 Eine auf den 29. April 1975 datierte Eingabe an den Staatsratsvorsitzenden Willi Stoph landete im Ministerium für Staatssicherheit, zuerst bei Rudi Mittig, dem stellvertretenden Minister, dann bei Erich Mielke persönlich. Mittig übernahm Hanischs Sicht auf den Fall Hartmann und Mielke erklärte sie anschließend zur offiziellen Lesart seines Hauses.182 Obwohl Hartmann in Muldenhütten noch einmal das gesamte handwerk­ liche Instrumentarium des Physikers und seine Erfahrungen als Manager aktivierte, ließen ihn die Staatspartei und das Ministerium für Staatssicherheit ins Leere laufen. „Drei Grundtöne beherrschen das neue Jahr“, bilanziert Buthmann die letzte Phase im Berufsleben Hartmanns: „1. Hartmann wurde 175  Vgl.

ebd., S. 575. ebd., S. 561. 177  Ebd., S. 573. 178  Vgl. ebd., S. 576. 179  Vgl. ebd. 180  Ebd., S. 578. 181  Rosskopf, Anette: Strafverteidigung als ideologische Offensive. Das Leben des Rechtsanwalts Friedrich Karl Kaul (1906–1981), https://forhistiur.net/1998-08-rosskopf/, aufgerufen am 21.3.2021. 182  Vgl. Buthmann, Versagtes Vertrauen, S. 577. 176  Vgl.



IV. Der Chef: Absturz201

zur Passivität verurteilt, 2. Die SED erobert die AMD, 3. Die AMD bewegte sich in ihrer Ausrichtung weg von der Entwicklung hin zur Produktion.“183 Man könnte es für einen tragischen Zufall halten, dass die Schließung der Akte Hartmann durch die Stasi im Dezember 1976 nahezu zeitgleich mit der Einberufung der 4. Tagung des Zentralkomitees der SED erfolgte, auf der Minister Steger, Ressortchef für Elektrotechnik und Elektronik, von der Mikroelektronik als künftigem Rationalisierungsfaktor sprach. Nur sechs Monate später, auf seiner 6. Tagung am 23./24. Juni 1977, fasste das Zentralkomitee den historisch zu nennenden „Beschluss zur Beschleunigung der Entwicklung, Produktion und Anwendung der Mikroelektronik in der DDR“. Im Jahr darauf, am 6. Juni 1978, verabschiedete das Politbüro den „Beschluss über die langfristige Konzeption zur Profilierung des VE Instituts für Mikroelektronik Dresden als führende wissenschaftlich-technische Einrichtung auf dem Gebiet der Mikroelektronik“. Von Hartmann sprach niemand mehr. 9. Stirb und werde Ist es gerechtfertigt, Hartmanns „Vernichtung“, wie er es selbst nannte, unter dieses Goethewort zu stellen? Es steht in der letzten Strophe eines 1817 veröffentlichten Gedichts, das dieser mit „Selige Sehnsucht“ überschrieb. Und so lang du das nicht hast, Dieses: Stirb und werde! Bist du nur ein trüber Gast Auf der dunklen Erde.

Generationen von Literaturwissenschaftlern und Schöngeistern haben sich an der Suche nach dem rationalen Kern dieser Verse abgearbeitet. Vielfach wird betont, dass die Sentenz „stirb und werde“ insbesondere nach schweren Schicksalsschlägen hilfreich sein kann, Kraft für einen neuen Anfang zu geben. Dem Zeitgeist huldigend heißt es zwei Jahrhunderte später, sich immer wieder neu erfinden zu können. Wilfried Andreas Faust bringt es auf den Punkt: „Die Sehnsucht, die Goethe uns in diesem Gedicht beschreibt, hat kein Ziel außerhalb von uns, sondern meint unsere innere seelische Entwicklung, die auf uns wartet, weil sie uns möglich ist.“184 Als Manager zu sterben, hätte Hartmann als Chance begreifen können, sich im Goethe’schen Sinne in „seliger Sehnsucht“ als souveräne Persönlichkeit neu zu erfinden. Dem Physikochemiker und Kommunisten Robert Havemann gelang die Metamorphose vom Naturwissenschaftler zum Homo politicus. Der Professor an 183  Ebd.,

S. 573.

184  http://anthologie.de/015.htm.

202

F. Vater der Mikroelektronik in der DDR

der Humboldt-Universität Berlin, Nationalpreisträger und Inoffizieller Mitarbeiter „Leitz“ des MfS, wurde in den 1960er Jahren vom SED-Mitglied zum bedeutendsten und bekanntesten Kritiker des SED-Regimes.185 Nach dem Erreichen des 65. Lebensjahres, als Bezieher einer von ihm und seiner Gattin als absolut unangemessen empfundenen Rente, konnte Hartmann das genießen, wovon der DDR-Bürger bis zum Erreichen des Rentenalters nur träumen konnte, nämlich Reisefreiheit. Um einigermaßen „standesgemäß“ weiterleben zu können, verkaufte er sein Elternhaus in Westberlin. „Renée hatte Theo Adam und seine Frau zum Maßstab ihres Lebensstils erkoren“, sagt Tochter Sylvelie.186 Zu einem solchen Leben gehörten auch Reisen, nicht nur in die Bundesrepublik, sondern auch nach Italien, Österreich und in die USA. In diesem Zusammenhang thematisierte Renée im Interview zweierlei. Zum einen beklagte sie, dass der damalige Kultusminister beiden Eheleuten einen Reisepass ausstellen ließ, der jedoch nur jeweils ein Jahr gültig war und immer wieder neu beantragt werden musste. Zum anderen erzählte sie eine unvergessliche Episode, die sich bei der Einreise in die USA ereignete. Nach Prüfung ihrer Dokumente sei ihr ein Aufenthalt von wenigen Monaten, ihrem Mann aber von nur einigen Wochen zugestanden worden. Warum wohl dieser Unterschied? Sie kommt auf die Vergangenheit von Werner zu sprechen, der als Student, wie bereits beschrieben, der SA beigetreten war. Es könne ja sein, so rätselten beide später, „dass der Beamte statt SU, wo Werner ja zehn Jahre gelebt hatte, SA gelesen haben könnte, und er als ehemaliger Nazi nicht besonders willkommen sei“.187 Tochter Sylvelie, aufgrund ihrer glücklichen Kindheit in der Sowjetunion diesem Land immer in besonderer Weise verbunden geblieben, weist darauf hin, dass Mitte der 1980er Jahre, „vielleicht unter dem Eindruck von Gorbatschow, Glasnost und Perstroika“, die Angst nicht nur unter ehemaligen Mitarbeitern, sondern auch in der Presse deutlich abnahm, „den Namen Werner Hartmann in den Mund zu nehmen“. Zu seinem 75. Geburtstag kamen einige seiner ehemaligen Mitarbeiter, die ihm „treu geblieben waren“, erinnert sie sich. Die Dresdner CDU-Zeitung druckte einen Glückwunsch, in dem er erstmals „Vater der Mikroelektronik in der DDR“ genannt worden sei.188

Müller-Enbergs, Wer war wer, S. 498. mit Sylvelie Schopplich am 2.3.2021. 187  Gespräch mit Renée Hartmann am 27.9.2017. 188  Gespräch mit Sylvelie Schopplich am 21.4.2021. 185  Vgl.

186  Gespräch



IV. Der Chef: Absturz203

Abb. 32: Der 75. Geburtstag – Gratulation oder Verabschiedung?

Unter einer dreizeiligen Überschrift veröffentlichte die Tageszeitung das Interview mit Werner Hartmann. Der „Vater“ der Mikroelektronik in der DDR, Prof. Werner Hartmann, wird 75: Suche nach Verbündeten war nötig UNION-Interview über den schweren Anfang in der mikroelektronischen Industrie

Der Jubilar wies darauf hin, dass es anfangs galt, Verbündete für seine Ideen zu finden. „Das ist sehr wichtig. Dr. Günter Mittag und der ehemalige 1. Sekretär der Bezirksleitung der SED Dresden, Werner Krolikowski, haben mich dabei gut unterstützt.“189 Eingedenk der Tatsache, dass Buthmann in Mittag den eigentlichen Drahtzieher des Hinauswurfs von Hartmann sieht, ist die ausdrückliche Hervorhebung dessen positiver Rolle durch den Betroffenen schwer nachzuvollziehen. Wenn Hartmann in seinen Memoiren gelegentlich Situationen schildert, in denen der Eindruck einer gewissen Selbstüberschätzung entstehen muss, so klingt in diesem Interview eine erschütternde Selbstverleugnung an. „Mein Vater hat Krolikowski sehr geschätzt“, bestätigt die Tochter, mit diesem Interview ihres Vaters konfrontiert.190 Mit dem Rauswurf aus dem von ihm gegründeten Unternehmen wurde auch der Einzelvertrag hinfällig und sein Gehalt auf 16 Prozent gekürzt. 189  DIE

UNION vom 27.1.1987, S. 3. mit Sylvelie Schopplich am 21.4.2021.

190  Gespräch

204

F. Vater der Mikroelektronik in der DDR

Unter diesen Umständen sah er sich auf Dauer nicht mehr in der Lage, sein dem Vater gegebenes Versprechen zu halten, auch nach der Trennung für Lilo und die Töchter sorgen zu wollen. Er änderte sein Testament und setzte Renée als Alleinerbin ein. Sie habe sich durchgesetzt, ist die Sicht der Töchter. Beide bedauern es, kurz vor dem Mauerfall das 1957 auf sie und ihre Mutter überschriebene Haus Nr. 18 auf dem Lahmannring für nur 80.000 Mark der DDR verkauft zu haben. Denn wenige Jahre später hätte das Grundstück ein Mehrfaches davon in DM erbracht. In diesem Punkt stimmen sie mit Renée überein, die in den Gesprächen immer wieder einmal betonte, wie unklug es gewesen sei, das von ihrem Mann geerbte Haus noch zu DDRZeiten veräußert zu haben. Ihre Mutter erlebte die Wiedervereinigung nicht mehr. „Sie verstarb im Alter von 75 Jahren an einem Krebsleiden“, beendete die Tochter ihre Rückschau auf die Eltern. 10. Tod im Krankenhaus Das Ehepaar Hartmann saß auf gepackten Koffern, um wieder einmal eine Reise anzutreten, als zunehmende Beschwerden eine Einweisung des Vaters ins Krankenhaus erforderlich machten, erinnert sich Tochter Sylvelie. Der Tod Werner Hartmanns am 8. März 1988, im Krankenhaus nach einer Prostataoperation, kam für seine Gattin Renée vor allem deshalb völlig unerwartet, weil der Chefarzt sie noch am Tag zuvor angerufen und erklärt habe, Prof. Hartmann könne am nächsten Tag entlassen werden. Gelegentlich im privaten Umfeld geäußerte verschwörungstheoretische Überlegungen zu diesem überraschenden Ableben sollte man mit der uralten Frage begegnen: Cui bono? Welches Interesse sollte das MfS am Tod eines bereits Vernichteten haben? Dem Image der Klinik war ebenfalls nicht damit gedient. So bliebe schließlich noch Hartmann selbst, der sein Schicksal nicht annehmen konnte. Machte er es wie seine Mutter, nur gründlicher? Diese hatte am 1. Januar 1927 nach einer Silvesterfeier bei Bekannten versucht, sich das Leben zu nehmen. In seinen Memoiren reflektierte der Sohn, wie bereits erwähnt, vor allem die Bemerkung der Mutter, dass sie „den Werner hätte mitnehmen sollen“. Den Grund für diesen Schritt mütterlicher Verzweiflung erfuhr Hartmann nie. Ohne Einzelheiten preiszugeben, erwähnte Renée Hartmann in einem der Gespräche mit dem Autor, dass ihr Mann nach seiner demütigenden Entlassung zwei Mal versucht habe, sich das Leben zu nehmen. Tochter Sylvelie wusste davon nichts, wollte es aber auch nicht ausschließen, denn ihr Vater sei oft von Depressionen geplagt worden. Was den überraschenden Tod im Krankenhaus betrifft, zu dessen Vorgeschichte Renée sich nicht äußern wollte, erklärte die Tochter, dass die Prostataoperation ihres Vaters durch den Chefarzt schiefgelaufen sei. Die Vorstel-



IV. Der Chef: Absturz205

lung von Renée, ihr Mann müsse unbedingt vom Chefarzt persönlich operiert werden, was dieser am späten Abend und nach einer anstrengenden Dienstreise auch tat, hatte fatale Folgen. „Mein Vater wäre nicht gestorben, wenn die Stationsärzte den Fehler ihres Chefs umgehend korrigiert hätten, und nicht erst, als es schon zu spät war“, sagt die Ärztin. Renée habe mit allen Mitteln versucht, einen Besuch der Töchter am Krankenbett zu verhindern. Erst als es „schlimm um ihn stand“, haben beide sich darüber hinweggesetzt. „Ob er uns noch bewusst wahrgenommen hat, können wir allerdings nicht mit Sicherheit behaupten.“191

191  Gespräch

mit Sylvelie Schopplich am 11.2.2020.

G. Würdigung ja, Rehabilitation nein I. Renée, die dritte Ehefrau 1. Die Interviews Für die Beantwortung der leitenden Fragestellung dieser Biografie, nämlich wie und warum Hartmann durch die Staatssicherheit zu Fall gebracht wurde sowie die daran anschließende Frage, die unter Bezugnahme auf die Goethe’sche Sentenz vom „stirb und werde“ aufgeworfen wurde, ist es unumgänglich, seine dritte Ehefrau in den Blick zu nehmen. Was zeichnete Renée aus, die Hartmann nicht nur eine ebenbürtige Partnerin wurde, sondern ihn zuletzt auch dominierte? Dessen erste Ehefrau fand während der Jahre am Schwarzen Meer einen Geliebten und lebte diese Beziehung offen aus. Seine zweite Frau ließ sich auf einen Gigolo ein, den das MfS auf sie angesetzt hatte – eine weniger offen gelebte, aber folgenreiche Affäre. An insgesamt sechs Nachmittagen im Herbst 2017 ließ die fast vollständig erblindete Renée Hartmann ihr eigenes Leben und die Jahre mit Werner Revue passieren. Ich lernte eine Dame kennen, die über eine ausgeprägte Neigung zu kritischer Selbstreflexion verfügt, ohne in Selbstmitleid zu versinken. Die nachfolgenden biografischen Fakten und Episoden wurden am 27. September und am 13. Oktober 2017 aufgezeichnet. Sie vermitteln, unter bewusstem Verzicht auf das Bemühen um Stringenz, das holzschnittartige Porträt einer bemerkenswerten Frau. „Gefunden haben wir uns in der Nacht“, so erzählte sie, „als die Amerikaner auf dem Mond landeten. Das war am 20. Juli 1969. Geheiratet haben wir im April 1971.“ Nach vierjähriger glücklicher Ehe, sagte sie, „setzten die Stasiverhöre ein und mein Mann wurde ein anderer“. 2. Kindheit und Jugend Renée Gertrud Hartmann wurde am 20. Februar 1930 in Wolmirstedt bei Magdeburg geboren. Der Großvater besaß eine Lederfabrik, ein Industriezweig, der sich ab 1850 dort angesiedelt hatte und in dem auch ihr Vater tätig war, der das Unternehmen einmal fortführen sollte. Sowohl Vater als auch Mutter waren geistig „eher eng angelegt“, urteilt die Tochter. Die Eltern erlaubten ihr nach Abschluss der Grundschule nicht, an einer Arbeiter- und



I. Renée, die dritte Ehefrau207

Abb. 33: Herbst 2017: Renée Hartmann im Gespräch mit dem Autor.

Bauernfakultät (ABF) die Hochschulreife nachzuholen. Denn, so der Vater, „die heiratet doch sowieso mal“. Diese Perspektive führte die Mädchen nach dem Abschluss der Grundschule in aller Regel dazu, „in Stellung zu gehen“, was bedeutete, für freie Kost und Logis sowie ein kleines Taschengeld im Haushalt städtischer oder in Haus und Hof ländlicher Familien zu arbeiten und dabei zu lernen, einen Haushalt zu führen. Diesen Weg musste Renée nicht beschreiten, verspürte aber dennoch bald den Wunsch, etwas zum Unterhalt der Familie beizutragen. „Bei der Volkspolizei bekamen die Mitarbeiter ein für damalige Verhältnisse unglaubliches Gehalt, 300 Mark im Monat“, erinnert sie sich. Sie habe sich beworben, sei genommen worden und verpflichtete sich, mindestens drei Jahre zu bleiben. Was sie nicht ahnte: Sie geriet als attraktive junge Frau in eine Welt, die Männern vorbehalten war. Das zeigten diese auch und die Elevin bekam das komplette Spektrum männlicher Verhaltensweisen zu spüren. Es reichte von väterlicher Fürsorge bis hin zu versuchter Vergewaltigung. „Als mir klar wurde, worauf ich mich eingelassen hatte, wollte ich unbedingt wieder frei sein, um mein Leben selbst gestalten zu können.“ Sie habe einen Weg gesehen, aus der Volkspolizei „in Unehren entlassen zu werden“. Die Grenzen zwischen den Besatzungszonen wurden Ende der 1940er/Anfang der 1950er Jahre zwar bewacht, waren für Ortskundige jedoch kein

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G. Würdigung ja, Rehabilitation nein

unüberwindliches Hindernis. Die Bewohner der Grenzgebiete nutzten das für gelegentliche Stippvisiten in den westlichen Besatzungszonen, denn sie hatten nicht die Absicht, die sowjetisch besetzte Zone zu verlassen. Bewohner des Hinterlandes, die den Entschluss gefasst hatten, in den Westen zu gehen, benötigten Schleuser, um die Grenze überwinden zu können – ein gutes Geschäft, vor allem für junge Männer des grenznahen Raumes. Wer bei dem Versuch eines illegalen Grenzübertritts gestellt wurde, erhielt einen entsprechenden Vermerk in seinem Personalausweis, „einen Stempel“, sagte Renée. Um zu einem solchen Stempel zu kommen und daraufhin in Unehren entlassen zu werden, sei sie mit dem Zug über Magdeburg bis in die Nähe der Grenze gefahren. Dort suchte und fand sie einen jungen Mann, „der mich rüberbringen sollte und Vorauszahlung verlangte“. In der Dunkelheit habe man sich am vereinbarten Ort getroffen und auf den Weg gemacht. Schon bald sei ihr Schleuser aber zudringlich geworden und habe versucht, sie zu vergewaltigen. „Es gelang mir, mich zu befreien und in panischer Angst davonzulaufen, ohne zu wissen, wo ich bin.“ Irgendwann begegnete sie einem älteren Mann, der sie auf der Querstange seines Fahrrades in ein Dorf brachte und als jemanden ablieferte, der die Grenze illegal übertreten wollte. Sie landete schließlich in einer Polizeidienststelle, deren Leiter sie kannte und die Angelegenheit „vergessen“ wollte. Sie habe aber darauf bestanden, den Stempel in ihren Ausweis zu bekommen. Daraufhin musste sie drei Tage Arrest in ihrem Heimatort Wolmirstedt verbringen, bewacht von einem guten Bekannten, und wurde aus der Volkspolizei entlassen. Bereits früh habe sie den Wunsch verspürt, Texte zu verfassen und wenn möglich zu veröffentlichen. „Ich kann mich gut daran erinnern, mit welcher Hochstimmung ich jeden Freitag die Gipfelstraße unserer Kleinstadt hinauf ins Haus des Kulturbundes gerast bin, um die neue Ausgabe des ‚Roland von Berlin‘ zu kaufen“, eine Wochenzeitschrift für Kultur, Politik, Wirtschaft und Berliner Leben, die seit dem Juni 1947 erschien. Im „Roland“ faszinierten sie vor allem Gedichte, „die irgendwie aus Resten zusammengesetzt schienen und die ich nicht verstand. Dadaismus könnte man vielleicht sagen, aber sie sprachen mich an.“ Nach der Befreiung von der Uniform konnte Renée bei der in Berlin erscheinenden Satirezeitschrift „Frischer Wind“ eine Art Volontariat antreten, wurde dort aber bald fristlos entlassen, weil sie als Ko-Autorin ein systemkritisches Gedicht mitzuverantworten hatte. Das wurde zwar nicht gedruckt, aber Heynowski, der damalige Chef, „verstand da keinen Spaß“.1 Sie ging dann nach Dresden, wo sie bei der „Sächsischen Zeitung“ innerhalb von drei Jahren zur Reporterin ausgebildet wurde. Dankbar denke sie insbesondere an 1  Walter Heynowski war von 1949 bis 1955 Chefredakteur der Satire-Zeitschrift „Frischer Wind“, dem Vorgänger des „Eulenspiegel“.



I. Renée, die dritte Ehefrau209

Dr. Bobach zurück, einen Altkommunisten, der ihr Mentor war. Wenn er zu Vorträgen aufs Land fuhr, durfte sie ihn begleiten und „ansagen, worauf ich als junger Mensch damals sehr stolz war“. Bei längeren Anfahrten nutzte er die Zeit, ihre Allgemeinbildung zu verbessern, was „ich immer sehr schön fand“. 3. Übers „Rote Kloster“ in den Westen Anschließend wurde sie an das Institut für Publizistik nach Leipzig „delegiert“, in das sogenannte Rote Kloster im Wilhelm-Wolff-Haus in der Tieckstraße, wo am 10. September 1951 das erste planmäßige Zehn-Monate-Studienjahr eröffnet worden war. Dort lehrten zwar „berühmte Professoren, wie Hermann Budzislawski“, sagte sie, „aber bald ist das alles abgeglitten in Marxismus-Leninismus“, was sie zunehmend störte. „Auf meinen Schreibtisch im Internat stellte ich deutlich sichtbar das Heine-Zitat ‚Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht‘.“ Sie äußerte sich kritisch und wollte mehr Journalismus als Ideologie. „Beim Bergfest tanzte unser Seminarleiter oft mit mir und fragte mich regelrecht aus. Alles das, was ich ihm offenherzig antwortete, berichtete er am folgenden Tag dem Parteisekretär, der mir, ich war damals Kandidatin der SED, ein Nachspiel androhte.“ Nach dem Ende der Semesterferien sei sie dann nicht wieder nach Leipzig zurückgekehrt, sondern „aus Angst in den Westen gegangen“. Sie habe am Tag des Grenzübertrittes nach Westberlin die Nr. 361 erhalten und sei an jenem Tag „ganz bestimmt noch nicht die Letzte gewesen“. Ihre ersten Stationen im Westen seien die Flüchtlingslager in Marienfelde und Stuttgart gewesen. Mit Tränen in den Augen erinnert sie sich daran, in Stuttgart einmal bezichtigt worden zu sein, ein Stück Butter entwendet zu haben. Dank der strengen Erziehung im Elternhaus, so ihre Worte, „hätte ich so etwas nicht einmal zu denken gewagt, geschweige denn es zu tun“. Schließlich landete sie im „Mädchenhandelslager“ in der Nähe von Bremen, in dem in der Tat eine „schwierige Klientel“ untergebracht war. Sie sei als Dienstmädchen in einen „ziemlich armen Haushalt“ verpflichtet worden – „fünf Kilometer Fußmarsch zum Dienst und wieder zurück, und das für 35 Mark im Monat“. Das Gefühl, frei zu sein, wollte sich im Lager nicht einstellen. Mit der Behauptung, bei einer aus Leipzig stammenden Familie in Mannheim unterkommen zu können, schaffte sie es tatsächlich, entlassen zu werden. Nun hatte diese Familie aber eine derart kleine Wohnung, dass sie keine Untermieterin aufnehmen konnte. „Für 3,65 Mark pro Nacht stieg ich im Bunkerhotel ab. Alle Zimmer lagen unter der Erde, aber es war halt preiswert.“ Bei

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einem ihrer Streifzüge durch die Stadt, bekleidet mit einer Rot-Kreuz-Jacke, „eine andere Jacke besaß ich nicht, und mit meiner selbst geschnittenen Pony-Frisur“, stand sie plötzlich vor einem Haus, an dem prangte in großen Lettern „Mannheimer Morgen“, eine Tageszeitung. Sie habe all ihren Mut zusammengenommen, ging hinein und fragte nach dem Chefredakteur. Als sie ihm erzählt habe, sie sei der ideologischen Indoktrination im Leipziger „Roten Kloster“ entronnen, wurde sie sofort für die Lokalredaktion eingestellt. Statt einer Einarbeitung durch ihre männlichen Kollegen erhielt sie Heiratsanträge und eindeutige Angebote von verheirateten Familienvätern. Da sie sehr wenig Geld hatte, baute sie sich aus Holzkisten, wie sie damals für den Transport der Zeitungen verwendet wurden, einfache Möbel. Ihre Vermieterin fand das so erstaunlich, dass sie Gästen gern das Zimmer ihrer Untermieterin zeigte. 4. Zurück in den Osten Sie war drauf und dran, in Mannheim Fuß zu fassen, als sie aus Leipzig die Nachricht ihres Verlobten erhielt, dass er endlich das Examen bestanden habe und nun als Zahnarzt praktizieren wolle. „Wir betrachteten uns seit langem als verlobt. Also ging ich der Liebe wegen zurück in die DDR.“ Dr. med. dent. Horst Adolf wurde nach Hoyerswerda vermittelt. „Wir heirateten und bekamen bald eine Tochter.“ Warnende Stimmen aus dem Bekanntenkreis, diese Ehe könne nicht gut gehen, habe sie ignoriert. „Es ging auch nicht gut. Die Zuneigung meines Mannes zum Alkohol war auf Dauer größer als zu mir.“ Die 1956 geborene Tochter „guckt mich nicht mehr an, obwohl sie eine sehr schöne Kindheit hatte“. Hartmanns jüngere Tochter Sylvelie hingegen, die Zahnärztin, kann auch heute noch nicht verstehen, wie „Renée ihre minderjährige Tochter diesem Manne überlassen konnte, als sie Hals über Kopf in das Haus meines Vaters zog“. Sie selbst habe als Studentin der Zahnmedizin den beliebten Oberarzt Dr. Adolf persönlich erleben können. „Der liebte nicht nur den Alkohol, sondern auch die Jagd.“2 Ihr Mann, erzählt Renée mit einem Anflug von Eitelkeit in der Stimme, inzwischen ein zweites Mal promoviert, und zwar im Fach Kieferchirurgie, sei in Hoyerswerda immer nur als „Herr Adolf“ angesprochen worden, sie hingegen als „Frau Doktor“. Dr. Adolf ging bald als Oberarzt an die Medizinische Akademie Dresden, wo nicht nur der Kammersänger Theo Adam, sondern auch der Architekt und Chefstatiker des Dresdner Fernsehturms Prof. Hermann Rühle zu guten Bekannten wurden. Diese persönlichen Beziehungen führten sie bald in den „erweiterten Freundeskreis“ um Manfred von Ardenne. Wobei der Begriff „Freundeskreis“ streng genommen eigentlich 2  Gespräch

mit Sylvelie Schopplich am 13.5.2020.



I. Renée, die dritte Ehefrau211

nicht so recht passe, erklärt sie. Befreundet im eigentlichen Sinne dieses Wortes seien sie mit Kammersänger Theo Adam und dessen Frau gewesen. „Werner Hartmann war mein Freund“, sollte der Weltstar 14 Jahre nach dessen Tod bekennen.3 Ardenne hatte nach ihrer Meinung keine „richtigen“ Freunde, sondern „hielt Hof“. Gemeinsam feierte man die anstehenden Geburtstage, insbesondere natürlich den von Ardenne. „Der fiel in die Faschingszeit und wir haben schon Monate vorher tolle Kostüme genäht.“ 5. Das Leben mit Werner Schon kurz nach dem Kennenlernen fühlte sich Renée von Werner Hartmann angezogen. Er sei der „komplette Gegenentwurf zu meinem ersten Mann gewesen“. Obwohl er „ein sehr schwieriger Mensch“ war, stellte sich bei ihr „in seiner Gegenwart rasch ein Gefühl der Geborgenheit ein“. „Wir haben anfangs oft gestritten, haben uns aber zusammengerauft, und es begann die schönste Zeit in meinem Leben.“ Auch das sagt sie mit Tränen in den Augen. Jeden Morgen habe Werner, bevor er das Haus verließ, einen kleinen Zettel mit ein paar lieben Worten für sie auf den Tisch gelegt. Auf

Abb. 34: Renée 1971.

3  Dieckmann, Christoph: Vernichtung eines Unpolitischen, Die Zeit vom 31.1.2002, S.  49 f.

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G. Würdigung ja, Rehabilitation nein

seine vorhergehenden Ehen angesprochen, habe er ihr gesagt: „Du bist meine erste und auch einzige Frau.“ „Bis wir uns kennenlernten“, das könne man wohl so sagen, waren Frauen für ihn „gar keine richtigen Menschen. Er lebte nur für die Arbeit.“ Über ihre beiden Vorgängerinnen wusste sie kaum Gutes zu berichten. Bei Lilo, die er als Mädchen mit schönen braunen Augen kennengelernt hatte, habe Werner „schon auf dem Standesamt ein ungutes Gefühl gehabt“. Im Krieg habe Lilo „mit einem Apotheker angebändelt“. Gerti, die zweite Ehefrau Hartmanns, „vergnügte sich vor allem gern und oft, konnte aber nicht richtig kochen“. Sie selbst habe aus ihrem Fenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite gesehen, wie ein weißer Wagen vor Hartmanns Haustür hielt und ein schmucker junger Mann klingelte. Später erfuhren alle Bewohner dieser Straße, dass es sich um die Kontaktaufnahme eines unter der Legende eines schweizerischen oder auch österreichischen Staatsangehörigen, so genau wisse sie das nicht mehr, agierenden Stasi-Offiziers handelte. Gerti fiel darauf rein und wollte sich bald danach von Werner scheiden lassen. Den Schlussstrich unter diese zweite Ehe habe schließlich Werner selbst gezogen. Der romantische Teil von Hartmanns dritter Ehe endete, wie bereits erwähnt, mit den ersten Vernehmungen durch die Stasi im Jahre 1974. Werner glaubte anfangs, so schildert sie die damalige Situation, es müsse sich um einen Irrtum handeln. „Als er aus Berlin zurückkam, war er nicht in der Lage, mit mir über sein Erlebnis zu sprechen. Er warf sich aufs Bett und hat tagelang nicht geredet.“ Ihr Mann habe sich total verändert. „Er verlor die Selbstachtung. Das tat mir furchtbar weh und ich musste das Kommando übernehmen. Das wiederum fand er unerträglich.“ Tochter Sylvelie bilanziert rückblickend und um Zurückhaltung bemüht: „Renée war meinem Vater nach 1974 keine Stütze.“4 Als die Eheleute bemerkten, dass während ihrer Abwesenheit immer wieder einmal sogenannte konspirative Wohnungsdurchsuchungen stattgefunden hatten, habe ihnen Theo Adam Hausschlüssel aus dem Westen mitgebracht, die von der Stasi nicht zu „knacken“ waren. Da es in der DDR unmöglich war, die Öffentlichkeit zu mobilisieren, verfasste sie etwa 30 anonyme Briefe, adressiert u. a. auch an Honecker. Durch allerlei stilistische Tricks, wie unterschiedliche Grob- bzw. Feinheiten in den Formulierungen, habe sie versucht, das gesamte Spektrum der Mitarbeiter ihres Mannes abzubilden. Das Haus wurde überwacht und sie warf diese Protestschreiben in Briefkästen außerhalb der Stadt ein. „Die Stasi brauchte länger als ein Jahr, um mich zu identifizieren.“ Es gelang schließlich durch den Vergleich der Klebestellen der

4  Gespräch

mit Sylvelie Schopplich am 20.7.2020.



I. Renée, die dritte Ehefrau213

anonymen mit einem von ihr „legal“ an Verwandte adressierten Brief, „durch einen Speicheltest, würde man heute sagen“. Im hohen Alter von 87 Jahren erinnere sie sich gern an bedeutende Männer, die sie kennenlernen durfte. Ganz oben auf einer nur in ihrem Kopf existierenden Liste stehe der Nobelpreisträger Gustav Hertz, der sie gelegentlich besuchte. „Hertz war ein typischer Vertreter der alten Klasse, der durch seinen betont aufrechten Gang auffiel und auch ein bisschen eitel war. ‚Frau Hartmann‘, sagte er zu mir, als ich ihm bei unserem Besuch in Berlin am Kaffeetisch durch eine kleine Handreichung behilflich sein wollte, ‚ich bin zwar alt, aber ich mache keinen Gebrauch davon‘.“ Für den plötzlichen Tod von Gustav Hertz am 30. Oktober 1975 hat sie eine Erklärung parat. Selbst im Alter von 88 Jahren sei dieser regelmäßig mit seiner Frau in einem uralten Mercedes in den Wald gefahren, um dort spazieren zu gehen. Eines Tages habe er nach dem Rundgang den Wagen mit zerstochenen Reifen vorgefunden. „Dieser Akt von Vandalismus hat den Gentleman alter Schule derart aus der Fassung gebracht, dass er daran zerbrochen ist und starb. Kurze Zeit darauf nahm sich seine Frau das Leben. Ohne ihren Mann wollte und konnte sie nicht weiterleben. Sie war entweder Frau Hertz oder ein Niemand, so war das eben früher.“ Mit einem unvermittelt anmutenden Gedankensprung landete sie bei Manfred von Ardenne, gleichfalls auf ihrer Liste stehend, und erzählte, dass Hertz die Aufnahme Ardennes in die Akademie der Wissenschaften verhindert habe. „Wenn Ardenne berufen werde, müsse er austreten“, habe er erklärt. „Ardenne, ein Mann ohne Abitur und abgeschlossenes Studium, war für Hertz nun einmal kein Wissenschaftler.“ 6. Ausreise aus der DDR Nur wenige Wochen nach dem Tod ihres Mannes, im Frühsommer 1988, entschloss sie sich, die Ausreise in die Bundesrepublik zu beantragen. Sie hoffte, dass sie nach etwa einem Jahr werde ausreisen dürfen. Zu einem Problem sollte sich der Verkauf ihres Hauses entwickeln, obwohl es mehr als 300 Interessenten gab. Denn: „Ich wollte keine DDR-Mark dafür haben.“ Schließlich fand sich ein Konzertmeister der Staatskapelle, der auf eine Tournee in die Bundesrepublik nicht nur eine, sondern zwei Geigen mitnahm. Das sehr wertvolle der beiden Instrumente verkaufte er im Westen und deponierte dort den Kaufpreis. Völlig überraschend erreichte sie bereits im Dezember das Telegramm mit der Auflage, die DDR binnen 24 Stunden zu verlassen. „Glücklicherweise hatte ich schon das meiste gepackt. Die Memoiren meines Mannes hatte ich vor dem Zoll in Kartons versteckt, solche, wie sie für den Versand von Christstollen verwendet wurden. Damit haben

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G. Würdigung ja, Rehabilitation nein

die DDR-Bürger ihre Verwandten und Bekannten im Westen zu Weihnachten überschüttet. Was hätten sie auch sonst schicken sollen.“ Unglücklicherweise sei ihr beim Packen und Räumen die vier Zentimeter dicke Marmorplatte des Esstisches auf den Fuß gefallen, der eingegipst werden musste. „Da ich nicht selbst Auto fahren konnte, hat die Frau von Günter Hörig, das war der Chef der Dresdner Tanzsinfoniker, mich und das Auto nach drüben gebracht. Zurück musste sie dann den Zug nehmen.“ Der Tisch mit der Marmorplatte gehörte zu den Stilmöbeln, die sie besaß und nicht zurücklassen wollte. Das erforderte, wie sie betonte, einen erhöhten bürokratischen Aufwand, „nicht nur in der DDR, sondern auch im Westen“. Als sie das entsprechende Formular in Dresden vorlegen musste, erklärte ihr der Mitarbeiter des Zolls: „Der Plunder muss raus aus der DDR.“ Dennoch dauerte es drei Monate, bis dieser „Plunder“ in ihrer schönen Wohnung im Haus eines Arztes in einem kleinen Ort unweit von Hannover ankam. Wenn sie geahnt hätte, wie schnell die DDR zusammenbrechen werde, hätte sie ihr Haus nicht zu einem solch niedrigen Preis verkauft. „Regelrecht verschleudert habe ich es“, klagt sie heute. „Wenn ich nicht so viel jünger gewesen wäre als mein Mann, dann hätte ich das alles nicht geschafft und er hätte sich sofort, also 1974, das Leben genommen.“ Sie selbst nehme seit 1974 regelmäßig Schlaftabletten. „Ich konnte damit nie wieder aufhören.“ Sie sei davon abhängig, bestätigten ihr die Ärzte.5 Als „Gedanken zur Wende“ habe sie versucht, ihre Befindlichkeit Anfang der 1990er Jahre einmal kompakt darzustellen. Es kommt nachts, schwarz und schwer immer wieder, jede Nacht, wenn der Schlaf in anderen Betten ist. Unerbittlich legt es sich auf meine Schultern unabwendbar, unerträglich bis meine Schultern nicht mehr sind. Die Vergangenheit findet ihr Ende nicht, sie verdunkelt die Gegenwart und die Zukunft kann nicht sein. Jeder Gedanke, der sich auf den Weg macht, endet im Schwarz. Wenn sich Gedanken bewegen, kommen sie dort an. In meinem Kopf überwachen die Sorgen. Die Zeit nimmt’s mir nicht ab, sie lässt mir die Bürde, sie will es nicht wissen. Gedankenketten, immer die gleichen, 5  Gespräch

mit Renée Hartmann am 29.9.2017.



I. Renée, die dritte Ehefrau215 begleiten mich jahrelang – ein jahrelang währender Schrei. Die Wende, sie will es nicht wissen.

Nachdem sie die letzten schweren Lebensjahre Werners schon viel Kraft gekostet hatten, ließ die Durchsicht seiner Stasi-Akte „das alles wieder hochkochen“. Besonders deprimierend sei für sie gewesen, dass im wiedervereinten Deutschland niemand etwas davon wissen wollte. 7. Rückkehr nach Dresden Nach vier Jahren im Westen kehrte sie 1993 nach Dresden zurück, um die Rehabilitierung ihres Mannes zu betreiben. Felsenfest davon überzeugt, dass es ihr gelingen werde, glaubte sie darüber hinaus, die juristische Aufarbeitung des Falles Werner Hartmann sei am einfachsten am Ort des Geschehens zu erreichen, also in Sachsen. In den Institutionen, die sie aufsuchte, „saßen Beamte aus dem Westen, die nichts über die DDR wussten, aber eine üppige ‚Buschzulage‘ zu ihrem Westgehalt bekamen“. Das Unrecht, das ihrem Mann dadurch zugefügt worden war, dass sein Einzelvertrag außer Kraft gesetzt wurde, letzten Endes durch die Stasi, konnten sie nicht nachvollziehen. „Was ein Einzelvertrag war, dass wusste niemand von denen.“ Nachdem sich alle angeschriebenen bzw. aufgesuchten Behörden für nicht zuständig erklärten, habe sie Briefe an Spitzenpolitiker geschrieben, u. a. an Richard von Weizsäcker, Hans-Dietrich Genscher, Egon Bahr, Horst Köhler und drei Mal an Kurt Biedenkopf. „Auch die erklärten sich für nicht zuständig.“ Mit der ihr eigenen Hartnäckigkeit gelang es jedoch, den sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf für das Schicksal des Vaters der Mikroelektronik der DDR zu interessieren. Biedenkopf nahm die Einladung in ihre große Wohnung auf dem Veilchenweg an. „Es heißt, er hat den Sachsen das Selbstbewusstsein zurückgegeben – mir nicht.“ Dennoch, „wenn der Landesvater zu Besuch kommt, muss man sich elegant anziehen“. Dazu haben natürlich auch Schuhe mit hohen Absätzen gehört. „Nun ist Biedenkopf, was ich bis dahin nicht wahrgenommen hatte, wirklich ein sehr kleiner Mann, der große Frauen nicht mochte. Das habe ich später in einem Buch seines ehemaligen Protokollchefs gelesen.“ „Biedenkopf soll auch einmal zu einem Parteifreund gesagt haben: ‚Wenn ich so groß wäre wie du, wäre ich längst schon Bundeskanzler‘.“ Der Landesvater habe sich im Wohnzimmer umgesehen und beiläufig mit der Hand an einen Schrank geschlagen. „Lieben Sie Stilmöbel?“, habe sie gefragt. Wegen ihrer vielen Enkelkinder haben sie sich robustes Mobiliar anschaffen müssen, lautete seine Antwort. Renée Hartmann hatte eine besonders aufwendige Kaffeetafel hergerichtet, obwohl sie gehört hatte, dass man

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G. Würdigung ja, Rehabilitation nein

in Biedenkopfs Quartier auf der Schevenstraße dickwandiges Hotelporzellan bevorzugte. Darüber hinaus hielt sie es für klüger, nicht gleich „mit der Tür ins Haus zu fallen“, sondern mit ein wenig Small Talk behutsam auf die Geschichte ihres Mannes hinzuführen. „Nach einer Präambel der Freundlichkeit, als ich gerade die Rehabilitierung meines Mannes ansprechen wollte, stand Biedenkopf auf und erklärte, jetzt leider gehen zu müssen, um nach seiner Frau zu sehen, die krank sei und die er behüten müsse.“ Bei dem überstürzt anmutenden Aufbruch habe der Ministerpräsident seine Akten­ tasche mit Unterlagen für die bevorstehenden Haushaltsberatungen im Landtag zurückgelassen. Aus ihrer Enttäuschung über diese private Begegnung mit dem Landesvater, die „überhaupt nichts“ gebracht habe, macht sie keinen Hehl. In dem für Interessierte offenen Seminar des Hannah-Arendt-Instituts tauchte Ende der 1990er Jahre bei einem Vortrag zur Geschichte der Mikroelektronik in der DDR für alle überraschend auch Renée Hartmann auf. Mit dem Statement zur Rolle ihres Mannes erweckte sie den Eindruck, dass ihr Engagement nicht in erster Linie darauf gerichtet war, dessen Verdienste hervorzuheben, sondern vor allem auf ihre unangemessen niedrige Witwenrente zu verweisen. Ein Erlebnis von einem Nachwendeaufenthalt in Baden-Baden müsse sie unbedingt noch erzählen, sagte sie gegen Ende unseres letzten Gesprächs. Die Stadt scheint es ihr besonders angetan zu haben. Trotz aller Enttäuschungen, vielleicht auch gerade deswegen, zog es sie immer wieder einmal in den mondänen Kurort im Schwarzwald. Bei einem ihrer Besuche „nach der Wende“ sei sie zur Abwechslung einmal nicht im „Steigenberger“, sondern in „Brenners Parkhotel“ abgestiegen. Dort habe man ihr ein Zimmer zugewiesen, das vom Ausstattungsgrad bestenfalls als „Dienstmädchenzimmer“ akzeptabel sein konnte. „Für eine aus dem Osten musste es offenbar gut genug sein.“ Wie immer sehr elegant gekleidet, hatte sie das Gefühl, vom Personal misstrauisch beäugt zu werden. Rein zufällig habe sie von einem Vortrag zum Thema „deutsche Einheit“ erfahren und sei hingegangen. Sie erlebte einen „übertriebenen Nationalismus der Wessis“. Daraufhin habe sie ein eigenes Insider-Statement abgegeben, das keiner hören wollte, und anschießend voller Wut und bewusst Lärm verursachend die Veranstaltung verlassen. Im Jahre 2017 lebte Renée Hartmann in einer kleinen Wohnung im Dachgeschoss eines markanten Mehrfamilienhauses am Rande von Dresden, umgeben von besonders schönen Stücken ihrer geliebten Stilmöbel und mit freiem Blick auf Schloss und Park Pillnitz. Die größte Enttäuschung nach der Wiedervereinigung ist und bleibt für sie, dass der Rechtsstaat Demütigungen und schmerzhaftes Unrecht der SED-Diktatur nicht in jedem Fall heilen kann.



II. Hartmann in den Augen der anderen217

II. Hartmann in den Augen der anderen 1. Wider das Vergessen Es gilt nun, die Sicht der Witwe auf den verstorbenen Ehemann durch Äußerungen zweier Physiker zu erweitern, die Hartmann ein Leben lang auf unterschiedliche Weise eng verbunden waren. Da wäre zunächst sein verehrter Lehrer Gustav Hertz zu nennen. Das Urteil des Nobelpreisträgers über seinen Schüler Hartmann zitierte dessen Schüler Prof. Lippmann in seiner Rede während der Trauerfeier am 5. April 1988 in Dresden. Hertz habe Werner Hartmann „trotz seiner Eigenart“ als „talentierten Physiker“ geschätzt, „von dem man viel lernen könne“.6 In dieser Formulierung fällt die feine Unterscheidung zwischen dem Menschen und dem Physiker auf, eine Botschaft, die Lippmann zwar offensichtlich, aber zurückhaltend weitertragen wollte. Auch Manfred von Ardenne ließ in seinem Kondolenzschreiben an Renée eine leise Kritik anklingen. Er drückte es folgendermaßen aus: „Als Physiker habe ich Deinen Mann immer hochgeschätzt. Sein bedeutendes Wirken bei uns in der DDR hätte noch größer und für ihn befriedigender sein können, aber er setzte sich selbst Grenzen.“7 Noch zu Lebzeiten Hartmanns, anlässlich des 25. Jahrestages der Unternehmensgründung, hatte sein ehemaliger Mitarbeiter Hans W. Becker 1986 eine Wandzeitung gestaltet, mit der er auch an den von ihm verehrten Gründer erinnerte. Da in der DDR selbst Beiträge an Wandzeitungen von Unternehmen und Institutionen einer Publikationsordnung unterlagen, bewies der Autor durchaus eine gehörige Portion Mut. Nach dem Zusammenbruch der DDR nutzte Becker das Recht der freien Meinungsäußerung einer demokratisch verfassten Gesellschaft und engagierte sich wie kaum ein anderer für die Rehabilitierung Hartmanns. Mit einiger Mühe gelang es Günter Dörfel, im ersten Heft des Jahres 1987 der Zeitschrift „Experimentelle Technik der Physik“ einen Aufsatz „Pseudo­ stochastische Impulsgeneratoren – Strukturen und Anwendungen“ zu veröffentlichen, um diesen seinem totgeschwiegenen verehrten Lehrer und Doktorvater Werner Hartmann „zum 75. Geburtstag“ zu widmen. Noch heute sei er Prof. Ernst Schmutzer dankbar, einem der Herausgeber, dass der Aufsatz mit dieser Widmung erscheinen konnte.

6  Nachlass,

Technische Sammlungen Dresden, Ordner 1974–1977. Christoph: Vernichtung eines Unpolitischen, Die Zeit vom 31.1.2002,

7  Dieckmann,

S.  49 f.

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G. Würdigung ja, Rehabilitation nein

Abb. 35: Die Wandzeitung von 1986.

2. Öffentlicher Tabu-Bruch Nachdem die letzte DDR-Regierung unter Hans Modrow am 1. März 1990 die Gründung einer „Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volks­ eigentums“ beschlossen hatte, setzte die Entflechtung der Kombinate und die Umwandlung der Nachfolgeunternehmen in Kapitalgesellschaften ein. Umgangssprachlich bürgerten sich für das Wirken der „Treuhand“ die Begriffe „Privatisierung“ und „Abwicklung“ als entscheidende und überwiegend negativ konnotierte Charakteristika heraus. Die nahezu ausschließlich der SED angehörenden Funktionäre der ersten Leitungsebene in den Volkseigenen Betrieben schalteten sehr schnell vom Klassen- auf den Überlebenskampf um, bei dem es in aller Regel erst in zweiter Linie um das Unternehmen ging. Unter Marketinggesichtspunkten wurde einstmals Bekämpftes zu wesentlichen Elementen von Identität und Tradition. Am 14. Juni 1990 lud die sich juristisch noch im Stadium der Gründung befindliche „Zentrum Mikroelektronik Dresden GmbH“ zu einer Veranstaltung ein, um Werner Hartmann zu würdigen. Geschäftsführer Prof. Dieter Landgraf-Dietz, der zu DDR-Zeiten bei allen sich bietenden Gelegenheiten darauf verwies, „hier und jetzt als sozialistischer Leiter zu sprechen“, konnte neben Familienangehörigen und Mitarbeitern auch ehemalige Weggefährten



II. Hartmann in den Augen der anderen219

des zu Ehrenden begrüßen, die inzwischen als Professoren Lehrstühle an den Universitäten in Dresden und Chemnitz innehatten oder gar zum Rektor gewählt worden waren. Es waren dies die Herren Drescher, Lippmann und Theß sowie Magnifizenz Köhler. Dietrich Theß hatte sich unter dem Decknamen „Andre“ vom MfS anwerben lassen. Der sogenannte Führungs-IM gehörte Mitte der 1970er Jahre als amtierender Direktor für Wissenschaft und Forschung der VVB Bauelemente und Vakuum zu den Gutachtern im Fall Iffarth. Er hatte offensichtlich keinerlei Skrupel, an der Würdigung seines ehemaligen Chefs teilzunehmen, an dessen Sturz er maßgeblich beteiligt war. Der ehemalige stolze sozialistische Leiter Landgraf-Dietz hatte ebenfalls keine Probleme, mit den Herren Dr. Wolfgang Gloede und Hans Becker zwei Mitglieder des „Freundeskreises Prof. Hartmann“ namentlich zu begrüßen, „die sein Ansehen in schwerer Zeit gepflegt haben“. Als klare Darstellung „unserer Position“ rief er „unsere Identität“ als „deutsches Volk“ an und betonte, dass „wir in diesem Teil Deutschlands und in diesem Forschungszentrum Mikroelektronik besonders empfunden haben“, dass „viele Teile unserer Geschichte“ lange Jahre unterdrückt worden seien. „Damit haben wir uns aber, wie gezeigt, nicht abgefunden.“8 Für solcherart Opportunismus bürgerte sich rasch der Begriff „Wendehals“ ein.9 Neben Dipl.-Phys. Hans W. Becker, der seinen Vortag unter die Überschrift „Ein Leben in Würde für die Wissenschaft“ stellte, sprach Prof. Eberhard Köhler „Über den Mut, den eigenen Verstand zu gebrauchen“. Diesen oft zitierten Satz von Immanuel Kant „buchstabierte“ Köhler, beginnend bei der Aufklärung über den Klimawandel hin zur Aufforderung, „sich am Neuaufbau eines jetzt möglich gewordenen demokratischen Staates zu beteiligen“. Renée Hartmann sprach als Letzte. Sie beschrieb die gemeinsamen Jahre mit ihrem Werner, den sie drei Jahre lang als den erlebt habe, „was er einmal war“ und 14 Jahre lang als das ertrug, „was sie aus ihm gemacht hatten“. Sie endete mit den Worten: „Betroffene können nicht vergessen, die anderen dürfen nicht vergessen.“10 Der Geschäftsführer gab bei diesem Anlass die 8  Zentrum Mikroelektronik Dresden GmbH i. G. (Hrsg.): Prof. Dr.-Ing. habil. Werner Hartmann. Leiter der Arbeitsstelle für Molekularelektronik Dresden 1961–1974, Dresden 1990. 9  Prof. Dieter Landgraf-Dietz, der Unternehmer und langjährige Leiter eines Ingenieurbüros, erhielt 2021 die Verfassungsmedaille für sein ehrenamtliches Engagement für den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Sachsen. Er war von 1992 bis 2015 Mitglied im Landesvorstand Sachsen, davon vier Jahre als Landesvorsitzender, und hat sich insbesondere um die Kontakte des Volksbunds nach Russland sowie die Jugendarbeit verdient gemacht. Sächsischer Landtag: Pressemitteilung 42/2021 vom 25.5.2021. 10  Zentrum Mikroelektronik Dresden GmbH i. G. (Hrsg.): Prof. Dr.-Ing. habil. Werner Hartmann, Dresden 1990.

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Auslobung eines jährlich zu vergebenden „Werner-Hartmann-Preises“ mit einem Geldbetrag in Höhe von 3.000 DM bekannt. Die folgende Auflistung von Aktivitäten zeigt, dass nach der Wiedervereinigung sich nicht nur die mikroelektronische Industrie, sondern auch die Stadt und ihre Institutionen darum bemühten, Werner Hartmann als bedeutenden Wissenschaftler und Manager den Dresdner Bürgern nahe zu bringen. 1998: Die Straße E in der Albertstadt im Norden Dresdens wird in „Werner-Hartmann-Straße“ umbenannt. In den Technischen Sammlungen Dresden wird eine Ausstellung eröffnet, in deren Mittelpunkt Hartmann steht. 2000: In einer Umfrage der Tageszeitung „Dresdner Neueste Nachrichten“ wird Hartmann zu einer der bedeutendsten Dresdner Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts gewählt. 2001: Die Firma ZMD AG stiftet den „Werner-Hartmann-Preis für Chipdesign“, der allerdings nur wenige Male verliehen wurde. 2011: Das am 7. September von Silicon Saxony, einem der größten Mi­ kroelektronik- und IT-Cluster Europas, veranstaltete öffentliche Symposium „50 Jahre Mikroelektronik in Sachsen“ ist auch eine Würdigung Hartmanns. 2012: Zum 100. Geburtstag Hartmanns eröffnen die Technischen Sammlungen Dresden die Ausstellung „50 Jahre Mikroelektronik in Dresden“. Im Lingner-Schloss findet am 3. Februar eine öffentliche Würdigung des Lebenswerkes Hartmanns durch Hans W. Becker statt. 2013: Am 2. Dezember erhielt der Neubau eines Reinraum-Technikums auf dem Campus der TU Dresden im Rahmen eines Festaktes den Namen „Werner-Hartmann-Bau“. 3. Mediale Würdigung Nach den bereits erwähnten überhöhenden Zuschreibungen durch Becker, der in Hartmann einen Propheten sieht, und Buthmann, der, deutlich zurückhaltender, von einem Visionär spricht, sollen nun näher an Fakten liegende Stimmen aus der Fachwelt und den Medien zu Wort kommen. In seinem bereits erwähnten, in philosophischer Breite angelegten Vortrag auf der Hartmann-Ehrung im Juni 1990 ordnete Magnifizenz Köhler seinen früheren Chef in die Reihe derjenigen Menschen ein, die den Mut aufbrachten, „den eigenen Verstand zu gebrauchen“. Er habe dafür bezahlen müssen, „mit seiner sozialen und gesellschaftlichen Stellung“.11 11  Köhler, Eberhard: Über den Mut, den eigenen Verstand zu gebrauchen, in: Zentrum Mikroelektronik Dresden GmbH i. G. (Hrsg.), Dresden 1990.



II. Hartmann in den Augen der anderen221

Abb. 36: Der Hartmann-Bau.

Hans W. Becker hatte in seinem Vortrag am 14. Juni mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass „wir Hartmanns Visionen, seiner Genialität und seinem Tatendrang eines der ersten Forschungs- und Entwicklungsinstitute für Mi­ kroelektronik im europäischen Maßstab verdanken“. Auch nach seinem unwürdigen Hinauswurf habe ihn sein Fachgebiet nicht gleich losgelassen. „Bis zuletzt ein Pionier, hat er als einer der Ersten den Fortschritt von der Mikroelektronik zur Nanoelektronik publiziert.“12 Lutz Böttger zitiert aus einem Brief Hartmanns vom September 1961 an Thiessen, in dem sein Chef darauf hinwies, dass die Molekularelektronik „zu einem Schlüssel der gesamten weiteren Entwicklung der DDR“ werden würde.13 Als eine weitere „besondere Stärke“ Hartmanns nennt er dessen „ansteckende Begeisterung“, durch die er seine Mitarbeiter „immer wieder aufs Neue hoch motivierte“.14 Anlässlich des zehnjährigen Bestehens der AME habe er im Beisein des Ministers das Wachsen dieser leistungsfähigen Gemeinschaft als ein „beglückendes Erlebnis“ bezeichnet, als das „vielleicht 12  Becker,

100. Geburtstag. Die Ära Hartmann, S. 4. 14  Ebd., S. 7. 13  Böttger,

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G. Würdigung ja, Rehabilitation nein

Schönste, was man sich in einem langen wechselvollen Berufsleben wünschen kann“.15 Günter Dörfel hebt in seinem gleichfalls bereits zitierten Aufsatz die „leistungs- und erfolgsorientierte Vorgehensweise Hartmanns“ hervor, mit der er sich „nicht nur Freunde“ machte. Im Gegenteil, er habe „nie aufgehört, sich Feinde zu machen“. Letztlich sei er „zum allgemeinen Vergessen verurteilt“ worden.16 Diese reflektierte Erinnerung von Wissenschaftlern und Ingenieuren, die Hartmann als Chef persönlich erlebten, soll nun noch durch distanzierte Beiträge professioneller Journalisten ergänzt werden, die einige Jahre nach dessen Tod und der deutschen Wiedervereinigung publiziert worden sind. Christoph Dieckmanns Reportage „Vernichtung eines Unpolitischen“ erschien am 31. Januar 2002 nach Gesprächen mit Hartmanns Witwe Renée, dessen ehemaligem Mitarbeiter Dr. Becker, dem Fachmann Dr. Buthmann von der Behörde für die Stasi-Unterlagen sowie dem Dresdner Opernstar Theo Adam in der ZEIT. Allein der Titel „Vernichtung eines Unpolitischen“ bringt das Schicksal dieses Mannes treffend auf den Punkt. Dieckmann fragte, warum Hartmann nach seiner Degradierung „aus dem bürgerlichen Milieu herausgefallen“ sei. „So möchte ich’s nicht sehen“, antwortete Frau Adam. „Er hat sich selbst ein bissl rausgenommen. Als Gescheiterter wollte er sich nicht zeigen.“ Auch die Frage, warum sich Manfred von Ardenne arrangieren konnte und Werner Hartmann nicht, eine der leitenden Fragestellungen dieser Biografie, stellte Dieckmann damals bereits. Die Antworten eines Sängers von Weltgeltung und dessen Gattin streifen allerdings bestenfalls das Ursachengeflecht. „Werner hatte einen Hang zur Sturheit“, sagte er. „Werner war ein Wissenschaftler alter Schule und Manfred war Privatgelehrter“, sagte sie. Seine Wahrnehmung, dass „Manfred immer mehr Wind um seine Sache verbreitet“ habe, ergänzte sie um die Feststellung, dass „Werner sehr verinnerlicht“ gewesen sei, wohingegen Manfred „nach außen“ ging. Nicht nur überregionale Zeitungen, sondern auch Zeitungen mit geringerer Reichweite suchten und fanden immer wieder einmal einen Anlass, sich Werner Hartmann zuzuwenden. Auch wenn nicht alle Beiträge sorgfältig recherchiert waren, so stimmten die Autoren darin überein, dass dieser unbequeme Physiker und Manager durch das MfS auf brutale Weise vernichtet wurde. So erinnerte Manfred Zander am 6. März 2004 in der „Magdeburger Volksstimme“ an „Ein zerstörtes Forscherleben“ und attestierte Hartmann, im Gegensatz zu Ardenne, sich „zu keiner Zeit mit seiner Kritik an den Zuständen in der DDR“ zurückgehalten zu haben, was sich für ihn „bitter rächen“ sollte. 15  Ebd.,

S. 11. Hartmann. Industriephysiker, S. 228 ff.

16  Dörfel,



III. Vernichtet oder gescheitert223

Den kleinen Exkurs über die mediale Aufmerksamkeit, die Hartmann nach dem Ende der DDR zuteilwurde, soll ein Beitrag für den Mitteldeutschen Rundfunk beschließen, den der Dresdner Journalist Jens Trocha 2014 produzierte. Unter dem Titel „Vom Visionär zum Staatsfeind“ in der Reihe „Geschichte Mitteldeutschlands“ ließ er das Leben seines Protagonisten in wenigen Minuten Revue passieren. Neben der Witwe Renée zeichneten die beiden inzwischen zu absoluten Hartmann-Experten avancierten Dr. Becker und Dr. Buthmann das Bild eines Wissenschaftlers, der mit seiner Abberufung im Juni 1974 plötzlich und unerwartet „vor dem Trümmerhaufen seines Lebens stand“. Mit dieser „konstruierten Demontage“, so Trocha, „brachte sich die DDR um einen ihrer bedeutendsten Wissenschaftler“, der als „geächtetes Opfer der SED“ endete. Aus den Titeln dieser drei professionellen Beiträge lässt sich eine Trias herausdestillieren: Staatsfeind, Vernichtung, Zerstörung – eine zutreffende Beschreibung des Umgangs der SED-Diktatur mit Andersdenkenden.

III. Vernichtet oder gescheitert Obwohl eine Mehrheit von Hartmanns ehemaligen Mitarbeitern geradezu allergisch reagiert, wenn behauptet wird, ihr Chef sei gescheitert, eine Minderheit hingegen das Attribut „vernichtet“ als zu hart empfindet, soll das Schlusskapitel dieser Biografie mit den beiden umstrittenen Attributen überschrieben werden. Denn, so argumentieren die einen, er habe schließlich Bleibendes ins Werk gesetzt. Mit diesem zutreffenden Argument beugen sie darüber hinaus auch einer Abwertung der eigenen Lebensleistung vor. Die vom Betroffenen selbst gewählte Bewertung seiner Degradierung als Vernichtung sei keinesfalls zutreffend, argumentieren die anderen. Es habe sich nicht um eine physische Vernichtung gehandelt, streng genommen nicht einmal eine existenzielle, stellen sie dessen Selbstetikettierung in Frage. Darüber hinaus sollte der Zeitpunkt von Hartmanns Absetzung nicht außer Acht gelassen werden. Weniger als drei Jahre danach hätte er das 65. Lebensjahr vollendet und ohnehin in den Ruhestand gehen müssen. 1. Die privilegierten Spezialisten Die Suche nach Antworten auf die Frage, welche systemischen und/oder persönlichen Gründe für Hartmanns tragisches Schicksal auszumachen sind, sollte mit einem Blick auf dessen Startbedingungen in der DDR beginnen. Er gehörte der privilegierten Gruppe von Rückkehrern aus der Sowjetunion an, die bereits dort als unverzichtbare „deutsche Spezialisten“ zwar interniert, aber materiell sehr viel bessergestellt lebten als ihre einheimischen Kollegen.

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G. Würdigung ja, Rehabilitation nein

Unverzichtbar deshalb, weil ohne sie die nachholende Modernisierung des militärischen Sektors der sowjetischen Industrie innerhalb kürzester Zeit nicht möglich gewesen wäre. Das galt vor allem für den Flugzeug- und Raketenbau sowie die Entwicklung der Atombombe. SED-Chef Ulbricht stellte für die Rückkehrer in die DDR lukrative Stellen an den Hochschulen und in den Forschungseinrichtungen der Akademie der Wissenschaften bereit, die finanziell außerordentlich gut ausgestattet waren. Die Spezialisten des Flugzeugbaus besetzten die Führungspositionen beim Aufbau einer eigenen Luftfahrtindustrie. Im Lehrkörper der damaligen Technischen Hochschule Dresden traf Hartmann auf eine Reihe von Kollegen, die wie er auf eine mehrjährige Tätigkeit in der Sowjetunion zurückblicken konnten. Einige seien hier genannt. Der Mathematiker Helmut Fritz Heinrich arbeitete von Oktober 1946 bis Juni 1954 unter den Flugzeugbauern in Kuibyschew. Nach seiner Rückkehr wurde er zum Direktor des Instituts für Angewandte Mathematik berufen. Der Physiker Heinz Pose, im Herbst 1945 für die Mitarbeit in Stalins Projekt „Atomnaja Bomba“ gewonnen, leitete von 1946 bis 1955 das „Labor W“ im russischen Obninsk, wo an der Entwicklung von Kernreaktoren gearbeitet wurde. Bevor er an die TH Dresden berufen wurde, forschte er am Vereinigten In­ stitut für Kernforschung in Dubna bei Moskau. Als Atomphysiker, der in beiden deutschen Diktaturen Karriere machte, diente er Stefan Heym als Protagonist in dessen Erzählung „Mein verrückter Bruder“. Ludwig Bewilogua, der bis 1954 im Rahmen des sowjetischen Atomprogramms bei tiefen Temperaturen experimentierte, begründete von Dresden aus die Tieftemperaturphysik in der DDR und schuf die wissenschaftlichen Voraussetzungen für eine industrielle Produktion von kryogenen Gasen wie Helium und Neon. Gustav Ernst Robert Schulze kehrte 1954, wie Heinrich, aus Kuibyschew nach Dresden zurück, wo er 1958 zum Professor für Röntgenkunde und Metallphysik berufen wurde. Keiner der Genannten trat in irgendeiner Weise politisch in Erscheinung, sondern alle verhielten sich loyal gegenüber der Partei- und Staatsführung. Sie ließen Hartmann wissen, dass es ihnen nicht einmal im Traum einfallen würde, sich auf einen Chefsessel berufen zu lassen, der sich jederzeit als „Schleudersitz“ entpuppen und sie ins Abseits katapultieren könnte. Unabhängig davon, ob es sich um gut gemeinte Ratschläge oder gar ernst zu nehmende Warnungen handelte – Hartmann ließ sich nicht beeindrucken.



III. Vernichtet oder gescheitert225

2. Einsichten und Bekenntnisse Werner Hartmann lebte in drei Diktaturen. Obwohl er, wie gezeigt, gern als unpolitischer Wissenschaftler beschrieben wird, finden sich in seinen handschriftlichen Memoiren mehrfach sehr deutliche Hinweise darauf, dass er während seiner aktiven Zeit als Wissenschaftler in der Tat viel lieber und erfolgreicher über physikalische Probleme nachdachte, als dass er sich bemühte, das Zeitgeschehen intensiv zu reflektieren. Aufgrund seiner bitteren Erfahrungen nach dem Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker und dem Verlust seines Amtes begann er 1974, gründlicher die politischen Verhältnisse zu analysieren, unter denen er lebte. Ohne expressis verbis von einem Vergleich zu sprechen, fing er an, „die NS-Herrschaftsstruktur und ihre Totalität zu durchdenken“.17 Hier hätte seine persönliche Betroffenheit in politisches Denken münden können, das, um an Hannah Arendt zu erinnern, vielleicht nicht unbedingt die Ursprünge, sondern vielmehr die Elemente totalitärer Herrschaft reflektierte. Bei der Niederschrift seiner Erinnerungen hat Hartmann offensichtlich nicht auf Stringenz und Vermeidung von Widersprüchen geachtet. Gerade deshalb sind sie in hohem Maße authentisch und sollten äußerst zurückhaltend interpretiert werden. Beim Thema Holocaust, um nur ein Beispiel zu nennen, ordnet er sich in die Reihe derjenigen ein, die das furchtbare Ausmaß der Verbrechen an den Juden nicht kennen konnten. Als Mittel der „Judenbekämpfung“ habe er „damals nur die Ausweisung aus Deutschland, nicht aber die KZ“ gekannt. Es sei „für die Betroffenen nicht angenehm“ gewesen, „ihre Heimat verlassen zu müssen“, räumte er ein. „Aber wenn es Hitler durchführt, wird es wohl für Deutschland richtig und notwendig sein.“18 Das klingt glaubhaft und keineswegs beschönigend. So manche seiner nachträglichen politischen Einlassungen zur NS- und Nachkriegsgeschichte könnte sich als Wasser auf die Mühlen seiner Gegner erwiesen haben, sollten sie je unter seinen Mitarbeitern verbreitet worden sein. Wie mag es auf sie gewirkt haben, wenn es für ihn „einer der größten Witze der Weltgeschichte“ war, dass „Deutschland durch Hitler vernichtet wurde, aber die kommunistische UdSSR eine der beiden militärischen Weltmächte wurde. Man sollte dafür eigentlich Hitler ein großes Denkmal in Moskau setzen.“ Den Lebensstandard in der Sowjetunion in den Blick nehmend, führte er fort: „Ein weiteres Paradoxon besteht darin, dass die Angreifer des 2. Weltkriegs, Japan und Deutschland, die vernichtend geschlagen wurden, heute [1981, Anm. d. Verf.] zu den wohlhabendsten Völkern gehören: USA, BRD, Japan.“ Die „siegreiche UdSSR“ hingegen sei „nach wie 17  Nachlass, 18  Ebd.,

Technische Sammlungen Dresden, Zeitraum 1912–1945, Bl. C 38. Bl. C 57.

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G. Würdigung ja, Rehabilitation nein

vor ein wirtschaftlicher Zwerg, der es bisher noch nicht geschafft hat, seine eigene Bevölkerung problemlos – ohne Schlange stehen, ohne schwarzen Markt –, ordentlich mit den Grundansprüchen an Ernährung, Wohnung, Konsumgüter zu versorgen“.19 Angesichts solcher und ähnlicher Vergleiche ist es kein Wunder, dass ihm die Ermittler des MfS sogar Hass auf die Sowjetunion unterstellten, wie Buthmann zeigen konnte. Während seines zehnjährigen Aufenthaltes, so argumentierten sie, sei er „gezwungen gewesen, nutzbare Ergebnisse seiner fachlichen Tätigkeit der Sowjetunion zur Verfügung zu stellen“. Das habe er getan, „ohne seine ihm im Faschismus anerzogene politische Grundeinstellung gegenüber der Sowjetunion zu ändern“.20 Gleichermaßen empfindlich reagierte das MfS auf Ost-West-Vergleiche, in denen die DDR alles andere als gut abschnitt. Hartmann sah die Mikroelektronik als ein Paradebeispiel für schnelle Entscheidungsprozesse in den USA, im Gegensatz zur „inhärenten Verzögerung“ innerhalb des sozialistischen Lagers. „Während die BRD langsam wieder Anschluss an bestimmte Entwicklungen gefunden hat – bemerkenswert sind die mit dem Beschleuniger DESY in Hamburg gewonnenen Ergebnisse auf dem Gebiet der Elementarteilchen und die beachtliche Zahl von Nobelpreisträgern nach dem 2. Weltkrieg – kann das in der DDR nicht festgestellt werden.“21 3. Zwei in einem Boot Die Puhdys, eine der legendärsten Rockbands der DDR, veröffentlichte 1976 ein Lied mit dem Titel „Lebenszeit“, in dem sie die Metapher von zweien in einem Boot musikalisch entwickelte: Der eine kennt die Sterne, der andere misst das Lot. Sie finden zueinander auf Lebenszeit. Werner Hartmann und Manfred von Ardenne konnten trotz gelegentlicher energischer Versuche einander nie wirklich loslassen und verließen auch das Boot nicht, für das sie sich Mitte der 1950er Jahre entschieden hatten. Wie im Vorwort bereits erwähnt, erwuchs der Entschluss, eine Biografie Werner Hartmanns in Angriff zu nehmen, als eine späte Folge der mehrjährigen Beschäftigung mit dem Leben und Wirken Manfred von Ardennes, einer Ausnahmeerscheinung in der deutschen Wissenschaftsgeschichte. Deshalb sind in dieser Hartmann-Biografie auch immer wieder Spiegelungen und Reibungen des einen an dem anderen zu finden. Beide verfügten über besondere Anlagen, die sie befähigten, Herausragendes zu leisten. Ohne soziologi19  Ebd.,

Bl. E 60. Versagtes Vertrauen, S. 553. 21  Nachlass, Technische Sammlungen Dresden, Zeitraum 1912–1945, Bl. C 38. 20  Buthmann,



III. Vernichtet oder gescheitert227

sches oder psychologisches Instrumentarium zu bemühen, lassen sich allein unter Verwendung umgangssprachlicher Begriffe wesentliche Charaktereigenschaften abbilden. So gehörte Hartmann zur Gruppe der Hochbegabten und zeichnete sich durch extremen Ehrgeiz und Prinzipienfestigkeit aus. Ardennes Entsprechungen dieses Tripels von Attributen wären Genialität, Risikofreude und Flexibilität. Mit der in Nuancen variierenden persönlichen Disposition beider Protagonisten allein lassen sich das tragische Schicksal des einen und der Erfolg des anderen schwerlich begründen. In seinem Bemühen, sich als unpolitischer Wissenschaftler zu gerieren, unterlief Hartmann ein verhängnisvoller Fehler in der Beurteilung der Rahmenbedingungen für das Handeln von Wissenschaftlern und Managern in der SED-Diktatur, eine im Kant’schen Sinne selbstverschuldete Unmündigkeit, wie sie unter anderen Niels Beckenbach den Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung pauschal attestiert.22 Die äußeren Umstände, die Rahmenbedingungen, unter denen sich die beruflichen Laufbahnen beider entwickeln konnten, unterscheiden sich in einem Punkt fundamental: Ardenne war stets sowohl Chef als auch Eigentümer seines Forschungsinstituts, des Fundaments seines wissenschaftlichen und unternehmerischen Lebens. Hartmann hingegen blieb immer ein abhängig Beschäftigter. Niemand konnte Ardenne absetzen und die massiven Versuche, ihn zu enteignen, wehrte er erfolgreich ab. Hartmann war immer auf das Wohlwollen der SED-Spitze angewiesen. Und die sah sich und ihren „ersten fortschrittlichen Staat der Arbeiter und Bauern auf deutschem Boden“ zu Beginn der 1970er Jahre mit der ambivalenten Parallelität zunehmender internationaler Anerkennung und wachsendem technologischen Rückstand konfrontiert. „Die DDR nahm zwischen 1972 und 1974 zu fast allen Staaten, so z. B. im September 1974 auch mit den USA, diplomatische Beziehungen auf und war (seit September 1973 UN-Mitglied) weltweit diplomatisch anerkannt.“23 Bei den fortschrittsbestimmenden Mikroprozessoren betrug der Rückstand der DDR zum internationalen Niveau, wie bereits erwähnt, etwa vier Jahre – Tendenz steigend. Er sollte 1989 bei analogen Schaltkreisen vier bis acht Jahre, bei digitalen Schaltkreisen sechs bis sieben Jahre und bei Technologischen Spezialausrüstungen bis zu neun Jahre betragen.24

22  Vgl. Beckenbach, Niels: Ideologische Ursprünge der deutschen Teilung, in: Beckenbach, Niels: Fremde Brüder. Der schwierige Weg zur deutschen Einheit, Berlin 2008, S. 99–125. 23  Weber, Hermann: DDR. Grundriß der Geschichte 1945–1990, Bielefeld 1992, S. 149. 24  Vgl. Falter, Die technologische Lücke, S. 37.

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Hartmanns „persönliche Tragödie“, so Dolores Augustine, „liegt darin, dass er erst nach seiner Demontage“ den SED-Staat als ein System begriff, „in dem es vorrangig um Kontrolle ging“. „Der Grund für seine Illusionen und Fehleinschätzungen ist sicher in seiner bewusst ‚unpolitischen‘ Haltung sowie in seiner grundsätzlichen Staatstreue zu suchen.“ Fatalerweise habe er den „Konflikt zwischen technischer Effizienz und politischer Kontrolle“ für lösbar gehalten.25 Eine Weltanschauungsdiktatur entwickelt keine Instrumente, den Bürger vor Übergriffen des Staates und seiner Institutionen zu schützen. Werner Hartmann ist ein prominentes Opfer von Machtmissbrauch nicht nur eines parteigesteuerten Repressionsorgans, sondern auch eines skrupellosen Einzeltäters, eines „Täters mit gutem Gewissen“, wie der Moralphilosoph Lothar Fritze solcherart menschliches Versagen im diktatorischen Sozialismus nennt.26 Diese Spezies nutzt alle nur denkbaren Mittel, um die Entwicklung der Gesellschaft im Interesse der herrschenden Partei zu befördern, im Ex­ tremfall auch aus rein egoistischen Motiven. Die Frage, ob sich das MfS bei der Absetzung Hartmanns der Tatsache bewusst war, damit eventuell einer innovativen Technologie schweren Schaden zuzufügen, lässt sich anhand der ausgewerteten Stasi-Unterlagen nicht eindeutig beantworten. „Nach Abbruch der Wirtschaftsreform 1970/71 stand das Bemühen um mehr Innovationen zunächst nicht im Mittelpunkt der SED-Wirtschaftspolitik“, konstatiert André Steiner.27 Der 1966 innerhalb des Ministeriums für Staatssicherheit gegründete Bereich „Kommerzielle Koordinierung“ war zwar vor allem im Bereich der Hochtechnologien tätig, die Partei aber hatte der Mikroelektronik im Juni 1974 noch nicht die Rolle einer Schlüsselindustrie zugeschrieben. Andernfalls wäre es in den Augen der Tschekisten dennoch das kleinere Übel gewesen, das Innovationssystem personell zu schädigen als Zweifel an der Durchsetzungsfähigkeit der Partei zu schüren.

25  Augustine,

Aufbau der Mikroelektronikindustrie, S. 27. Lothar: Täter mit gutem Gewissen. Über menschliches Versagen im diktatorischen Sozialismus, Köln/Weimar/Wien 1998. 27  Vgl. Steiner, André: Anschluss an den „Welthöchststand“? Versuche des Aufbrechens der Innovationsblockaden im DDR-Wirtschaftssystem, in: Abele, Johannes/ Barkleit, Gerhard/Hänseroth, Thomas (Hrsg.): Innovationskulturen und Fortschrittserwartungen im geteilten Deutschland, Köln 2001, S. 71–88. 26  Fritze,



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4. Weltanschauung und Wissenschaftsverständnis Manfred von Ardenne, vor allem in den Medien oft als einer der letzten Universalgelehrten unserer Zeit gefeiert, hinterließ ein „Glaubensbekenntnis“, an dessen Formulierung er jahrelang feilte. „Ich glaube in tiefer Demut an ein Schöpfungsprinzip, welches die Natur mit ihren vielen unbegreifbaren Wundern seit ihrem Ursprung, zu allen Zeiten und in allen Orten des Universums beherrscht. Ich glaube, dass das allgegenwärtige schöpferische Wirken der Natur sich in der über viele hundert Millionen Jahre andauernden Evolution unseres Planeten widerspiegelt – einer Evolution mit der Bevorzugung und damit Selektion des Besseren.“

Pragmatismus und Empirie bildeten das Fundament seines Verständnisses von Wissenschaft, in der er sich auf den unterschiedlichsten Gebieten erfolgreich betätigte. Dem 16-Jährigen wurde 1923 sein erstes Patent für ein „Verfahren zur Erzielung einer Tonselektion, insbesondere für die Zwecke der drahtlosen Telegraphie“ erteilt. Etwa 600 weitere sollten folgen. Mit der Dreifachröhre erfand er 1926 die erste integrierte Schaltung der Welt. Im Dezember 1930 gelang ihm der Durchbruch zum vollelektronischen Fernsehen, indem er die Braun’sche Röhre nicht nur zur Bildwiedergabe, sondern auch zur Bilderzeugung benutzte. 1937 erfand er das Rasterelektronenmikroskop. Sein Universal-Elektronenmikroskop war Anfang der 1940er Jahre das leistungsfähigste Gerät weltweit. Ab 1940 galt sein Hauptinteresse der Kernphysik. Er baute 1942 mit der 1-Millionen-Volt-van-de-Graaff-Anlage einen sogenannten Linearbeschleuniger, der als Neutronenbeschleuniger arbeitete, und aus der Gruppe der Zirkularbeschleuniger ein Zyklotron, das er allerdings kriegsbedingt in Berlin nicht mehr in Betrieb nehmen konnte. In der Sowjetunion wurde er für die Entwicklung der Duoplasmatron-Ionenquelle mit dem Stalinpreis geehrt. Diese Ionenquelle erlaubte es den Sowjets, vor den Amerikanern eine transportable Wasserstoffbombe herzustellen und für kurze Zeit die Führung in der nuklearen Rüstung zu übernehmen. In der DDR führte er in seinem privaten Forschungsinstitut eine Reihe unterschiedlicher Elektronenstrahltechnologien zur industriellen Reife, bevor er sich der medizinischen Forschung zuwandte. Die Sauerstoff-Mehrschritt-Therapie, ein inzwischen etabliertes Verfahren der Naturheilkunde, und die systemische Krebs-Mehrschritt-Therapie tragen seinen Namen. Darüber hinaus bedachte er auch stets die Wirkungen des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts auf die Gesellschaft. Werner Hartmann hingegen agiert extrem auf seine Ziele fokussiert, dem Typ des „Spezialisten mit Tunnelblick“ durchaus nahekommend. Unter den „Schlaglichtern“ seiner Einsichten und Bekenntnisse ist vor allem die Wissenschaftsgläubigkeit hervorzuheben. Die Beherrschung der in den Atomker-

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nen gespeicherten Energie durch Spaltung schwerer Elemente in leichtere sowie die Hoffnung, bald auch Energie in noch größerem Umfang durch eine Verschmelzung leichter Elemente zu schwereren erzeugen zu können, und der Start des ersten Satelliten in eine Umlaufbahn um die Erde lösten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Euphorie aus, der sich auch Hartmann nicht entziehen konnte. Die Physik avancierte zur Leitwissenschaft, was in der DDR dazu führte, dass sogenannte Einserabiturienten um die limitierten Studienplätze für die Fachrichtung Physik wetteiferten. „In den Jahren 1900–1933 war Deutschland“, so Hartmann, „das Weltzentrum der Physik bezüglich der Weiterentwicklung der grundlegenden Erkenntnisse.“28 Als Ende der 1930er Jahre die Sulfonamide bekannt wurden und damit die Chemotherapie entwickelt werden konnte, zeigte er sich „fest davon überzeugt“, dass „alle Erscheinungen des Lebens physikalisch-chemisch erklärbar sind, auch wenn der Mensch vorläufig vieles noch nicht versteht. Eines Tages wird er wissen, durch welche chemischen Reaktionen ein Gefühl entsteht usw.“29 Möglicherweise hat sich Hartmann viel zu lange von dieser Euphorie tragen lassen, statt sich kritischer mit der realen Welt um sich herum auseinanderzusetzen. Eine Gemeinsamkeit beider gilt es dennoch hervorzuheben. Sowohl von Ardenne als auch Hartmann weigerten sich, Wissenschaft dem Diktat einer Ideologie unterzuordnen, und den einzelnen Wissenschaftler einem Parteifunktionär. Das galt auch für die SED, die für sich reklamierte, den gesellschaftlichen Fortschritt zu verkörpern, in dessen Dienst sich beide gestellt sahen. So verwies Ardenne den 1. Sekretär der Bezirksleitung Dresden seines Hauses, als dieser sich über die marginale Rolle seiner Partei in dessen Institut beschwerte.30 Hartmann verwies mit Hanisch den Parteisekretär der AME seines Zimmers, als dieser, wie bereits erwähnt, ohne eingeladen zu sein an einer Leitungssitzung teilnehmen wollte. 5. Innere Emigration und später Ruhm Warum hat Hartmann nach dem Erreichen des Rentenalters die DDR nicht verlassen? Er hatte daran bereits 1963 gedacht, als er noch mit seiner zweiten Frau verheiratet war. Damals schlugen ausschließlich materielle Gründe, vor allem sein hohes Gehalt auf der Grundlage eines Einzelvertrages, für die DDR zu Buche. Nach seiner Absetzung, spätestens aber mit dem Erreichen des Rentenalters hätte er einen Ausreiseantrag stellen und nach Westberlin übersiedeln können. Dort gehörte ihm noch immer das Haus seines Vaters, 28  Nachlass,

Technische Sammlungen Dresden, Zeitraum 1912–1945, Bl. C 37. Bl. E 64. 30  Vgl. Barkleit, Manfred von Ardenne, S. 181. 29  Ebd.,



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wo er sich mit Renée hätte niederlassen können. Der Verkauf seines Dresdner Hauses hätte ihm allerdings nur „nutzlose“ DDR-Mark gebracht, noch dazu in vergleichsweise bescheidener Menge. Lukrativer war es offenbar, das Elternhaus zu verkaufen und in Westberlin über ein Konto in ansehnlicher Höhe zu verfügen. Mit einem Pass der DDR ausgestattet, waren nicht nur Reisen im westlichen Ausland zu finanzieren, sondern auch Westmark für Einkäufe im Intershop in die DDR mitzubringen. Nach dem Verlust des herausgehobenen Status als Chef einer großen Forschungs- und Entwicklungseinrichtung sowie des damit verbundenen, für DDR-Verhältnisse außergewöhnlich lukrativen Einkommens begnügte er sich mit Reisefreiheit und Taschengeld in harter Währung, wo er doch auch Gedanken- und Meinungsfreiheit hätte haben können. Es ist anzunehmen, dass er sich in diesem entscheidenden Punkt gegen Renée hat durchsetzen können, glaubt Tochter Sylvelie. Die anspruchsvolle und in dieser Lebenslage dominante Gattin „wäre lieber heute als morgen in den Westen zurückgegangen, was sie kurze Zeit nach Vaters Tod ja auch getan hat“.31 Auf Nachfrage räumte Renée ein, dass sie Ende der 1970er Jahre durchaus gemeinsam darüber nachgedacht hatten, der DDR den Rücken zu kehren. „Der Heidelberger Jurist Professor Schneider, ein Freund meines Mannes aus der Studentenzeit, hat davon abgeraten. Werner würde nur eine niedrige Rente bekommen, sagte er, von der wir nicht hätten leben können.“ Nach der Wiedervereinigung avancierte Hartmann zur Symbolfigur für die Geschichte der Mikroelektronik in der DDR. Nun betonten auch seine früheren Gegner, dass er das innovative Potenzial einer neuen Technologie früh erkannte und das Fundament einer zukunftsweisenden Industrie legte. Darauf beruft sich auch der im Jahre 2000 gegründete Verein „Silicon Saxony“. Dieser Verein ist mit mehr als 350 Mitgliedern das größte Hightech-Netzwerk Sachsens und verbindet seitdem Hersteller, Zulieferer, Dienstleister, Hochschulen/Universitäten, Forschungsinstitute, öffentliche Einrichtungen sowie branchenrelevante Startups nicht nur am Wirtschaftsstandort Sachsen. Silicon Saxony ist Europas größter Mikroelektronik-/IKT-Standort und der fünftgrößte weltweit. Jeder dritte in Europa produzierte Chip trägt den Aufdruck „Made in Saxony“. GLOBALFOUNDRIES, Infineon und Bosch betreiben in der Landeshauptstadt Dresden einige der modernsten und größten Halbleiterfabriken der Welt.32 Dresden sei „europaweit führend bei der Mikroelektronik“, schrieb Dietmar H. Lamparter im Frühjahr 2019 in seiner Reportage über einen Besuch 31  Gespräch 32  Vgl.

mit Sylvelie Schopplich am 21.4.2021. https://www.silicon-saxony.de/ueber-uns/.

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G. Würdigung ja, Rehabilitation nein

auf der Großbaustelle der Firma Bosch, wo die „modernste Halbleiterfabrik Europas“ entsteht, „das erste derartige Projekt auf dem Kontinent seit zehn Jahren“. Eine Milliarde Euro gebe Bosch aus, um „Mikrochips für die Digitalisierung von Autos (autonomes Fahren), Fabriken (Internet der Dinge) und Haushalten (Smart Home) – für die Zukunft also“ herzustellen. Bei der Standortwahl haben „Subventionen – und etwas DDR“ den Ausschlag gegeben.33 „Etwas DDR“ ist und bleibt untrennbar mit dem Namen Werner Hartmann verbunden.

33  Lamparter, Dietmar H.: „Vereinigte Netzwerker“ in: Die Zeit vom 9.5.2019, S. 35.

Kurzbiografien Adam, Theo (1926–2019) Kammersänger Dresdner Bassbariton mit Weltgeltung, 1952 Debüt in Bayreuth, ab 1953 Mitglied der Deutschen Staatsoper Berlin, 1969 Debüt an der Metropolitan Opera New York, 1979 Ernennung zum Kammersänger an der Wiener Oper. Adenauer, Konrad (1876–1967) Politiker Begründer der CDU, Parteivorsitzender von 1950 bis 1966. Präsident des Parlamentarischen Rates sowie erster Bundeskanzler und Außenminister der Bundesrepublik Deutschland. Alichanow, Abram Isaakowitsch (1904–1970) Physiker Maßgeblich an der Entwicklung von Kernreaktoren mit „schwerem Wasser“ als Bremssubstanz beteiligt, Mitglied des „Technischen Rates“ im sowjetischen Atombombenprogramm. 1945 Gründer des Instituts für Theoretische und Experimentelle Physik in Moskau, 1939 Korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Apel, Erich (1917–1965) SED-Funktionär Ab 1958 Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses sowie des Ausschusses für Wirtschafts- und Finanzfragen der Volkskammer, von 1963 bis 1965 Vorsitzender der Staatlichen Plankommission. Kurz vor der Unterzeichnung des Wirtschaftsabkommens mit der UdSSR nahm er sich 1965 mit seiner Dienstwaffe das Leben.

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Ardenne, Manfred von (1907–1997) Physiker Mit 16 Jahren Beginn der Forschungen auf den Gebieten Rundfunk- und Fernsehtechnik, Elektronen- und Ionenphysik, biomedizinische Technik. 1930 erstmalige Realisierung des vollelektronischen Fernsehens. Erfindung und Entwicklung von: Elektronenrastermikroskop, Verfahren zur magnetischen Isotopentrennung, Elektronenstrahl-Mehrkammerofen, Plasmafeinstrahlbrenner, Sauerstoff-Mehrschritt-Therapie, Krebs-Mehrschritt-Therapie bis zum klinischen Einsatz. Von Mai 1945 bis März 1955 innerhalb des sowjetischen Projekts „Atomnaja Bomba“ Leiter eines Forschungsinstituts in Sinop (bei Suchumi), 1955 Gründung seines privaten Forschungsinstituts in Dresden. Arzimowitsch, Lew Andrejewitsch (1909–1973) Physiker Mitbegründer der Kernforschung in der UdSSR, ab 1944 im Projekt „Atomnaja Bomba“. 1950 Leitung der Forschungen zur Kernfusion (Tokamak), 1966 Mitglied der Amerikanischen Akademie für Kunst und Wissenschaft. Baade, Brunolf (1904–1969) Ingenieur Seit 1936 Leiter des Konstruktionsbüros bei Junkers in Dessau (Entwicklung der Ju 288), ab Herbst 1946 Chefkonstrukteur in Sawjolowo (bei Moskau). 1954 Leiter des Forschungszentrums und Generalkonstrukteur der Luftfahrtindustrie (Entwicklung der legendären 152). 1961 erster Direktor des Instituts für Leichtbau und ökonomische Verwendung der Werkstoffe in Dresden. Bahr, Egon (1922–2015) Politiker Soldat im Zweiten Weltkrieg, ab 1956 SPD-Mitglied, von 1972 bis 1974 Bundesminister für besondere Aufgaben, von 1974 bis 1976 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Vordenker einer neuen Ostpolitik („Wandel durch Annäherung“). Barwich, Heinz (1911–1966) Physiker Von 1932 bis 1934 Assistent bei Prof. Gustav Hertz in Berlin, von 1934 bis 1945 Mitarbeit im Forschungslabor der Firma Siemens & Halske, von 1945

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bis 1955 Mitarbeiter von Hertz im Projekt „Atomnaja Bomba“. Von 1956 bis 1964 Professor an der TH Dresden und Direktor des ZfK Rossendorf, von 1960 bis 1964 stellvertretender Direktor des Vereinigten Instituts für Kernforschung in Dubna (UdSSR), seit 1955 IM „Hahn“ des MfS, 1964 Flucht in die BRD. Berija, Lawrentij Pawlowitsch (1899–1953) Politiker 1926 georgischer Chef des GPU-Vorgängers des NKWD/KGB, ab Oktober 1932 Vorsitzender der Kommunistischen Partei der Transkaukasischen Republik, ab 1938 Chef des NKWD. 1941 Mitglied des staatlichen Verteidigungskomitees, Leiter des „Spezialkomitees“ im Projekt „Atomnaja Bomba“, Kommandeur der sowjetischen Atomwaffen-Einheiten bis zu seiner Hinrichtung 1953. Biedenkopf, Kurt (1930–2021) Politiker 1963 Promotion in Nationalökonomie, von 1967 bis 1969 Rektor der RuhrUniversität Bochum, von 1973 bis 1977 Generalsekretär der CDU. Von 1990 bis 2002 erster Ministerpräsident des Freistaates Sachsen nach dessen Neugründung. Born, Max (1882–1970) Physiker 1907 Promotion in Göttingen, Forscher und Wegbereiter der modernen theoretischen Physik. 1954 erhielt er gemeinsam mit Walther Bothe den Nobelpreis für Physik für seine Beiträge zur Kristallphysik und die Interpretation der Quantenmechanik. Mitunterzeichner der Göttinger Erklärung (1957). Braun, Wernher von (1912–1977) Physiker Studium in Berlin, ab 1937 Mitglied der NSDAP. In Peenemünde führender Konstrukteur der „V2“-Rakete, bei der NASA leitende Tätigkeit („Saturn V“). Mit seiner „Apollo 11“ landeten 1969 erstmals Menschen auf dem Mond.

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Budzislawski, Hermann (1901–1978) Journalist 1923 Promotion in Tübingen mit einer Arbeit über Eugenik. Ab 1929 SPDMitglied, Chefredakteur „Die Weltbühne“, 1933 Flucht in die Schweiz, Frankreich und USA (Arbeit als freier Journalist). 1948 Rückkehr nach Deutschland, SED-Mitglied, von 1967 bis 1971 Herausgeber und Chefredakteur „Die Weltbühne“, von 1955 bis 1966 Abgeordneter der Volkskammer. Chamberlain, Neville (1869–1940) Politiker Von 1937 bis 1940 Premierminister des Vereinigten Königreichs. 1938 maßgebliche Mitwirkung am Münchner Abkommen, am 3. September 1939 erklärte die Regierung Chamberlain Deutschland den Krieg, Rücktritt am 10. Mai 1940. Chruschtschow, Nikita Sergejewitsch (1894–1971) Politiker Von 1953 bis 1964 Parteichef der KPdSU, Einleitung der Entstalinisierung. Propaganda der friedlichen Koexistenz mit dem Westen, aber gleichzeitig dessen schwieriger Konterpart. Sturz 1964 durch Leonid Breschnew und 1966 Ausschluss aus dem ZK. Churchill, Winston (1874–1965) Politiker Bedeutendster britischer Staatsmann des 20. Jahrhunderts. Von 1940 bis 1945 sowie von 1951 bis 1955 Premierminister. Autor politischer und historischer Werke. 1953 Nobelpreis für Literatur. Diebner, Kurt (1905–1964) Physiker Ab 1934 Beamter der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt und Referent im Heereswaffenamt. Später Leiter des Uranprojekts des Heereswaffenamtes, von 1940 bis 1942 Geschäftsführer des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik, 1945/46 Internierung im britischen Farm Hall.

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Dürr, Hans-Peter (1929–2014) Physiker 1956 Promotion bei Edward Teller, ab 1958 Mitarbeiter von Werner Heisenberg. Später Beschäftigung mit Themen der Kernphysik sowie erkenntnistheoretischen und gesellschaftspolitischen Fragen. Ab 1978 Direktor des MaxPlanck-Instituts für Physik und Astrophysik sowie des Werner-HeisenbergInstituts. 1995 Friedensnobelpreis zusammen mit der wissenschafts- und forschungskritischen Gruppe Pugwash. Einstein, Albert (1879–1955) Physiker Mit 26 Jahren Veröffentlichung der fünf der wichtigsten Werke zur Speziellen Relativitätstheorie, 1906 Promotion in Zürich, 1920 lebenslange Ehrenprofessur der Universität Leiden. 1933 Niederlegung der Ämter und Funktionen in Hitler-Deutschland, Emigration, Lehrtätigkeit in Princeton (New Jersey, USA), 1939 Einsatz für die rasche Entwicklung der amerikanischen Atombombe. 1921 Nobelpreis für Physik. Elser, Georg (1903–1945) Schreiner Am 8. November 1939 Sprengstoffattentat auf Adolf Hitler im Münchner „Bürgerbräukeller“, ab 1941 als „Sonderhäftling des Führers“ ohne Gerichtsverfahren im KZ Sachsenhausen interniert. Nach mehr als fünf Jahren Haft heimlich und ohne Gerichtsurteil ermordet. Ende, Adolf (Lex) (1899–1951) Journalist 1918 Soldat, ab 1919 Mitglied der KPD, dann Redakteur der „Roten Fahne“. 1936 Emigration, 1942 Amtsenthebung und Parteiausschluss wegen Sabotage, Verleumdung und Zersetzung. 1945 Rückkehr nach Deutschland als Chefredakteur des „Neuen Deutschland“, 1950 Ausschluss aus der SED, Rehabilitierung 1989. Falter, Matthias (1908–1985) Physiker 1932 Studium der Mathematik, Chemie und Physik an den Universitäten Berlin und Köln, 1935 Promotion auf dem Gebiet Hochfrequenztechnik. Von

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1946 bis 1951 Tätigkeit in der UdSSR. Von 1952 bis 1960 Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung in Teltow, Abteilungsleiter für Forschungsprognose im Institut für elektronische Bauelemente. Faulstich, Helmuth (1914–1991) Ingenieur Studium an der TH Danzig, 1936 Eintritt in die NSDAP. Von 1946 bis 1956 Tätigkeit in der UdSSR. Ab 1956 Bereichsleiter und von 1965 bis 1971 Direktor des ZfK in Rossendorf, ab 1965 Mitglied des Vorstandes des Forschungsrates. Fljorow (Flerow), Georgi Nikolajewitsch (1913–1990) Physiker Ab 1939 Mitarbeiter von Igor Wasiliewitsch Kurtschatow, ab 1941 Beteiligung an der Entwicklung der sowjetischen Atombombe, 1957 Gründer und ab 1960 Leiter des Laboratoriums für Kernreaktionen am Vereinigten Institut für Kernforschung in Dubna bei Moskau. Ab 1981 Mitglied der Leopoldina. Frühauf, Hans (1904–1991) Hochfrequenztechniker 1933 Eintritt in die NSDAP. 1938 Technischer Direktor der Ehrich & Graetz AG Berlin, von 1945 bis 1948 Chefingenieur und stellvertretender Direktor von Stern-Radio Rochlitz. Ab 1946 Mitglied der SED. Wissenschaftlicher Leiter und technischer Direktor der VVB RFT in Leipzig, von 1950 bis 1969 Professor an der TH Dresden, ab 1961/62 Staatssekretär für Forschung und Technik. Fuchs, Klaus Emil Julius (1911–1988) Physiker 1932 Eintritt in die KPD, im Juli 1933 Emigration nach England. Ab Mai 1941 Einbindung in das britische Nuklearprogramm, ab 1943 Arbeit am USAtombomben-Programm in Los Alamos, ab 1946 Weitergabe der Erkenntnisse an den sowjetischen Geheimdienst. 1950 Verhaftung und Verurteilung, 1959 Entlassung in die DDR. Von 1959 bis 1974 stellvertretender Direktor im ZfK Rossendorf, ab 1967 Mitglied des ZK der SED.

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Genscher, Hans-Dietrich (1927–2016) Politiker 1943 Studium in Halle an der Saale, 1952 Übersiedelung in die BRD, 1952 Eintritt in die FDP. Von 1969 bis 1974 Bundesminister des Innern. Von 1974 bis 1992 Außenminister und Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland. Gerlach, Walter (1889–1979) Physiker Von 1921 bis 1924 Professur in Frankfurt am Main, 1922 „Stern-GerlachVersuch“. Ab 1924 Professur in Tübingen, später in Bonn und München. Von 1948 bis 1951 Rektor an der Universität München, von 1956 bis 1957 Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG). Goebbels, Joseph (1897–1945) Politiker Ab 1933 Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda sowie Reichsbevollmächtigter für den totalen Kriegseinsatz. 1938 Initiierung des Pogroms der „Reichskristallnacht“. Am 1. Mai 1945 Suizid mit Frau und sechs Kindern. Görlich, Paul (1905–1986) Physiker 1932 Promotion, Arbeitsgebiete: Fotoempfänger, Sekundärelektronenvervielfacher, Festkörper- und Laserphysik, nichtlineare Optik, Spektroskopie, wissenschaftlicher Gerätebau. Ab 1940 Mitglied der NSDAP, von 1946 bis 1952 Tätigkeit in der optischen Industrie der UdSSR. In der DDR Forschungs­ direktor des VEB Carl Zeiss Jena, Mitglied der Leopoldina, der Sächsischen Akademie der Wissenschaften und der Royal Microscopical Society London. Grotewohl, Otto Emil Franz (1894–1964) Politiker Von 1925 bis 1933 Vorsitzender des SPD-Landesverbandes Braunschweig, Mitglied des Reichstages. 1946 Befürworter des Zusammenschlusses von SPD und KPD zur SED, ab 1949 Mitglied des ZK und des PB, von 1949 bis 1964 Vorsitzender des Ministerrates der DDR.

240 Kurzbiografien

Groves, Leslie Richard (1896–1970) Lieutenant General Hauptverantwortlicher für die technische Entwicklung der Atombombe im amerikanischen „Manhattan Project“. Hager, Kurt (1912–1998) SED-Funktionär Seit 1930 Mitglied der KPD, 1933 Inhaftierung, von 1937 bis 1939 Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg. 1949 Professor für Dialektik und historischen Materialismus in Berlin, 1954 Mitglied, ab 1955 Sekretär des ZK der SED, ab 1963 Mitglied des PB („Chefideologe“), 1990 Ausschluss aus der PDS/SED. Hahn, Otto (1879–1968) Chemiker 1901 Promotion, ab 1910 Professor am Kaiser-Wilhelm-Institut Berlin, 1912 Leitung der Abteilung für Radioaktivität im Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie, ab 1933 kommissarische Leitung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie. Nachweis der Spaltung von Uran. Von 1946 bis 1960 Präsident der Max-Planck-Gesellschaft. Mitinitiator der „Mainauer Erklärung“ und der „Göttinger Erklärung“. 1944 Nobelpreis für Chemie, 1966 Fermi-Preis der Atomic Energy Commission of the US (als erster Nicht-Amerikaner). Havemann, Robert (1910–1982) Chemiker Promotion 1935 in Chemie. 1943 Inhaftierung wegen Widerstands gegen den Nationalsozialismus (u. a. Kontakte zur „Roten Kapelle“). 1945 Leitung aller Kaiser-Wilhelm-Institute in Berlin, ab 1950 Berufsverbot in Berlin-West. SED-Mitglied seit 1951, von 1946 bis 1964 Zusammenarbeit mit dem KGB und der Staatssicherheit der DDR, 1964 Entzug des Lehrauftrages und Ausschluss aus der SED, 1975 Strafverfahren und Hausarrest, 1989 Rehabilitierung.

Kurzbiografien241

Heisenberg, Werner (1901–1976) Physiker Von 1923 bis 1927 Assistent bei Max Born in Göttingen, 1925 Entwicklung der Matrizenmechanik (Quantentheorie). Von 1927 bis 1942 Professor an der Universität Leipzig, von 1942 bis 1945 Leiter des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik. Beteiligung am Uranprojekt des Heereswaffenamtes. Von 1945 bis 1946 Internierung in England. Von 1946 bis 1958 Direktor des MaxPlanck-Instituts für Physik in Göttingen, von 1958 bis 1970 Direktor des Max-Planck-Instituts für Physik und Terrestrische Physik in München. 1932 Nobelpreis für Physik. Hertz, Gustav (1887–1975) Physiker 1911 Promotion an der Universität Berlin, ab 1926 Professor für Physik in Halle an der Saale, ab 1927 Lehrstuhl an der TH Berlin. 1935 Industriephysiker bei Siemens (Entwicklung von Diffusions-Trennanlagen für leichte Isotope). Von 1945 bis 1954 Leitung eines Forschungslabors in Suchumi (UdSSR), ab 1955 Direktor des physikalischen Instituts an der Karl-MarxUniversität in Leipzig, Gründungsmitglied des Forschungsrates der DDR. 1925 Nobelpreis für Physik, 1951 Stalinpreis. Heym, Stefan (1913–2001) Schriftsteller 1933 Flucht in die Tschechoslowakei, 1936 Abschluss des Studiums in Chicago. Von 1943 bis 1945 Teilnahme am Zweiten Weltkrieg. 1945 freier Schriftsteller in den USA, 1953 Übersiedlung in die DDR, Konflikte mit der Staatsführung nach dem Volksaufstand am 17. Juni 1956. 1979 Ausschluss aus dem Schriftstellerverband, 1990 juristische Rehabilitation, 1994 Abgeordneter im Bundestag. Heynowsky, Walter (*1927) Dokumentarfilmer Ab 1948 Chefredakteur von Satirezeitungen, 1959 Intendant und Programmdirektor des Deutschen Fernsehfunks. 1969 Gründung eines von der DEFA unabhängigen Filmstudios (Heynowsky und Scheumann), 1982 Verfügung zur Auflösung des Studios und Rückkehr zur DEFA.

242 Kurzbiografien

Hitler, Adolf (1889–1945) NS-Politiker Ab 1921 Parteichef der NSDAP, 1933 Deutscher Reichskanzler, ab 1934 „Führer und Reichskanzler“. Suizid mit Ehefrau am 30. April 1945. Honecker, Erich (1912–1994) SED-Politiker 1930 Eintritt in die KPD, 1935 Haft im Zuchthaus Brandenburg. Von 1946 bis 1955 Vorsitzender der FDJ, ab 1949 Mitglied des ZK der SED, seit 1958 Mitglied des PB und Sekretär des ZK, ab 1971 Erster Sekretär des ZK der SED, seit 1976 Generalsekretär und Staatsratsvorsitzender. 1989 Rücktritt aus allen Ämtern, Ausschluss aus der SED, Anklage wegen Amtsmissbrauchs und Hochverrats, Flucht über Moskau nach Chile. Houtermans, Friedrich (1903–1966) Physiker Von 1928 bis 1933 Assistent bei Gustav Hertz an der TH Berlin, 1933 Emigration nach England, ab 1935 am Ukrainischen Physikalisch-Technischen Institut in Charkow tätig. 1937 Verhaftung und Ausweisung aus der UdSSR, in Deutschland Inhaftierung. 1940 Tätigkeit bei von Ardenne sowie an der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt in Berlin, von 1945 bis 1952 Anstellung an der Universität Göttingen, von 1952 bis 1966 Professur am Physikalischen Institut der Universität Bern. Joffe, Abram Fjodorowitsch (1880–1960) Physiker 1905 Promotion bei Wilhelm Conrad Röntgen, 1913 Professur für Physik am Leningrader Polytechnikum, 1919 Dekan der Physikalisch-technischen Fakultät Leningrad. Von 1921 bis 1951 Direktor des Radium-Institutes der Akademie. Er gilt als einer der Begründer der modernen Physik in Russland. Ehrenmitglied verschiedener amerikanischer und britischer wissenschaftlicher Gesellschaften. Joliot-Curie, Frédéric (1900–1958) Physiker Ab 1925 Tätigkeit als Assistent bei Marie und Irène Curie, 1937 Professor für Physik am Collège de France und Direktor des Laboratoire de Synthèse

Kurzbiografien243

Atomique in Ivry. 1940 Unterstützung der französischen Widerstandsbewegung, Mitarbeit am ersten französischen Atomreaktor (ging 1948 in Betrieb), 1950 Entlassung aufgrund seiner Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei, ab 1956 Leiter des Institut du Radium. 1935 Nobelpreis für Chemie (zusammen mit seiner Frau Irène). Kant, Immanuel (1724–1804) Philosoph 1740 Studium in Königsberg, Hauslehrer, 1770 in Königsberg Professor für Logik, 1786 und 1788 Rektor. Sein Werk Kritik der reinen Vernunft kennzeichnet einen Wendepunkt in der Philosophiegeschichte und den Beginn der modernen Philosophie. Kapitza, Pjotr Leonidowitsch (1894–1984) Physiker 1921 Assistent von Abram Fjodorowitsch Joffe in Großbritannien, Schüler von Ernest Rutherford. 1934 verweigert die UdSSR die Rückkehr nach England. 1935 Direktor des Instituts für Physikalische Probleme in Moskau, 1939 Professur an der Moskauer Universität, 1947 Entdeckung der „Supraflüssigkeit“ von Helium II, 1949 Leiter der Entwicklung von Wasserstoffbomben. 1978 Nobelpreis für Physik. Kaul, Friedrich Karl (1906–1981) Jurist Ab 1925 Jurastudium und Dissertation in Berlin, 1933 nach Inhaftierung Ausreise nach Kolumbien und Nicaragua und 1942 in die USA. 1945 Rückkehr nach Ost-Berlin, SED-Mitglied, Zulassung am Kammergericht und damit an allen westdeutschen Gerichten. Beteiligung an allen Staatsschutzverfahren in der Bundesrepublik, vertritt die DDR in Prozessen gegen nationalsozialistische Verbrecher. Kikoin, Isaak Konstantinowitsch (1908–1984) Physiker 1933 Entdeckung des photoelektromagnetischen Effekts, Tätigkeit am Leningrader Physikalisch-Technischen Institut und am Institut für Metallphysik in Swerdlowsk, 1943 Mitbegründer des Kurtschatow-Institutes. 1946 Entwicklung des ersten sowjetischen Atomreaktors.

244 Kurzbiografien

Krolikowski, Werner (*1928) SED-Funktionär 1946 Eintritt in die SED, von 1953 bis 1958 Sekretär der SED-Kreisleitung Greifswald, von 1960 bis 1973 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden, Mitglied des ZK der SED (Sekretär für Wirtschaft), Mitglied des PB des ZK der SED. 1989 Rücktritt und Ausschluss aus der SED. Kruglow, Sergej Nikiforitsch (1907–1977) Politiker Ab 1918 Mitglied der Kommunistischen Partei, enger Freund Stalins. 1939 Mitglied des ZK der KPdSU, ab 1941 stellvertretender Volkskommissar für innere Angelegenheiten. Von 1946 bis 1953 Innenminister, dann Minister für Staatssicherheit. 1956 Amtsenthebung und 1960 Ausschluss aus der KPdSU. Kurtschatow, Igor Wasiliewitsch (1903–1960) Physiker 1925 Mitarbeiter des Physikalisch-Technischen Instituts Leningrad, 1930 Lehrstuhl am Polytechnischen Institut in Baku, 1938 Leiter des Laborato­ riums für Nuklearphysik am Physikalisch-Technischen Institut Leningrad, 1943 wissenschaftlicher Leiter des Atomforschungsprogramms der UdSSR, 1948 Eintritt in die KPdSU, 1956 Direktor des Atomenergie-Instituts der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Laue, Max von (1879–1960) Physiker 1912 Nachweis der Wellennatur von Röntgenstrahlen sowie der Gitterstruktur von Kristallen. Professuren in Zürich, Frankfurt, Berlin und Göttingen, Direktor des Instituts für Physikalische Chemie und Elektrochemie in BerlinDahlem. 1952 Mitglied des Ordens Pour le mérite für Wissenschaften und Künste. 1914 Nobelpreis für Physik. Lehmann, Nikolaus Joachim (1921–1998) Mathematiker 1953 Professor für angewandte Mathematik an der TH Dresden, 1956 Gründungsdirektor des Instituts für Maschinelle Rechentechnik, 1968 Leiter des Bereichs Mathematische Kybernetik und Rechentechnik, von 1964 bis 1967 zugleich Direktor des Instituts für maschinelle Rechentechnik, seit 1962 Mitglied des Forschungsrates.

Kurzbiografien245

Leipunski, Alexander Ilitsch (1903–1972) Physiker 1923 bei Abram Fjodorowitsch Joffe in Leningrad tätig, 1933 Direktor des Physikalisch-Technischen Instituts in Charkow, Arbeitsaufenthalt bei Ernest Rutherford in Cambridge. 1937 Ausschluss aus der KPdSU. 1939 Forschungen zur Uranspaltung und Bau eines Zyklotrons, 1950 leitende Tätigkeit bei der Entwicklung eines Schnellen Brutreaktors. Leuschner, Bruno (1910–1965) SED-Politiker Ab 1931 Mitglied der KPD, 1937 Verurteilung zu sechs Jahren Zuchthaus, von 1942 bis 1944 Haft im KZ Sachsenhausen. Von 1948 bis 1949 Mitglied des Deutschen Volksrats, von 1949 bis 1950 Staatssekretär im Ministerium für Planung, von 1950 bis 1965 Mitglied des ZK der SED, Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrats. Lyssenko, Trofim Denissowitsch (1898–1976) Biologe 1925 Diplom, unter Stalin führender Biologe der UdSSR, Begründer der pseudowissenschaftlichen Theorie des „Lyssenkoismus“, Initiator politischer Verfolgung von kritischen Biologen, 1962 Entlassung. Malyschew, Ilja Ilitsch (1904–1973) Geologe 1932 Eintritt in die KPdSU, 1935 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Akademie der Wissenschaften in Moskau, 1946 Minister für Geologie und 1957 Vorsitzender der Staatlichen Kommission für die Nutzung von Bodenschätzen. Mittag, Günter (1926–1994) Politiker 1945/46 Mitglied der KPD/SED, 1958 Promotion an der Hochschule für Verkehrswesen Dresden, 1962 Mitglied des ZK der SED. Von 1984 bis 1989 stellvertretender Vorsitzender des Staatsrats, von 1976 bis 1989 Leiter der Wirtschaftskommission beim PB des ZK der SED, 1989 Ausschluss aus dem ZK.

246 Kurzbiografien

Molotow, Wjatscheslaw Michailowitsch (1890–1986) Politiker 1912 Redakteur der Parteiorgane „Prawda“ und „Swesda“, enger Kontakt mit dem im Ausland lebenden Lenin. 1915 Verbannung nach Sibirien, 1916 Flucht aus der Verbannung nach Petrograd. Mitglied des ZK der KPdSU und des PB der KPdSU. Von 1939 bis 1949 Außenminister, 1956 Minister für Staatskontrolle, 1957 Botschafter in Ulan-Bator und 1960/61 Vertreter der UdSSR bei der Internationalen Atomenergiekommission in Wien. Mühlenpfordt, Justus (1911–2000) Physiker 1931 Mitarbeiter der Siemens AG, nach Kriegsende gemeinsam mit Gustav Hertz in Suchumi am sowjetischen Atombombenprojekt tätig. 1956 Rückkehr nach Deutschland und Aufbau des Instituts für physikalische Stofftrennung in Leipzig. 1970 Leiter des Forschungsbereiches Kernwissenschaften der Akademie der Wissenschaften. Nipkow, Paul (1860–1940) Techniker Pionier des Fernsehens, als Student zerlegte Nipkow 1883 Bilder mit einer spiralförmig gelochten Scheibe mosaikartig in Punkte und Zeilen. Die „Nipkow-Scheibe“ war bis 1932 das bevorzugte Verfahren der Bildabtastung. Ohnesorge, Wilhelm (1872–1962) Politiker Studium der Mathematik und Physik in Kiel und Berlin, 1900 Oberpost­ direktion Berlin, 1929 Präsident des Reichspostzentralamtes, 1933 Staats­ sekretär im Reichspostministerium, von 1937 bis 1945 Reichspostminister. Pauli, Wolfgang (1900–1958) Physiker 1918 Studium in München, Promotion 1921; bedeutende Beiträge zur Kernphysik: Pauli-Ausschlussprinzip, Elektronenspin, 1930 Voraussage der Existenz eines später Neutrino genannten Teilchens. 1945 Nobelpreis für Physik.

Kurzbiografien247

Perwuchin, Michail Grigoriewitsch (1904–1978) Politiker 1919 Eintritt in die KP, 1939 Volkskommissar für Kraftwerke und Elektro­ industrie, von 1946 bis 1950 Volkskommissar für chemische Industrie. 1957 Minister für mittleren Maschinenbau, von 1958 bis 1962 sowjetischer Botschafter in Ost-Berlin, 1966 Abteilungsleiter in der Staatlichen Plankommission. Pieck, Wilhelm (1876–1960) SED-Politiker 1919 Mitbegründer und führender Funktionär der KPD. 1933 Aufenthalt in Paris, 1935 bis 1945 überwiegend in Moskau, 1946 Parteivorsitzender der SED, 1949 Präsident der DDR. Pose, Heinz (1905–1975) Physiker 1928 Promotion bei Gustav Hertz. 1933 Eintritt in die SA, 1937 Eintritt in die NSDAP. 1944 in Leipzig Mitarbeit an der Entwicklung eines Zyklotrons zur Isotopentrennung, von 1946 bis 1955 Leitung des Labors „V“ in Obninsk (Konstruktion und Bau des ersten Atomkraftwerkes der Welt). 1959 Direktor des Instituts für Allgemeine Kerntechnik an der TH Dresden. Putin, Wladimir Wladimirowitsch (*1952) Politiker Präsident und Ministerpräsident der Russischen Föderation, von 1985 bis 1989 Mitarbeiter des sowjetischen Geheimdienstes in Dresden. Rambusch, Karl (1918–1999) Physiker 1945 Eintritt in die KPD. 1953 Leiter des Nautisch-Hydrographischen Instituts in Berlin, 1955 Professor und Leiter des Amtes für Kernforschung und Kerntechnik der DDR, Direktor des VEB Atomkraftwerk Rheinsberg. Von 1966 bis 1969 Generaldirektor des Kombinates Kernenergetik, 1970 technischer Direktor des VEB Kombinat Kraftwerksanlagenbau.

248 Kurzbiografien

Rexer, Ernst (1902–1983) Physiker Von 1926 bis 1929 Tätigkeit in den glastechnischen Laboratorien der OsramWerke in Weißwasser und Berlin. 1932 Eintritt in die NSDAP und in die SA. 1944 Professor am Physikalischen Institut der Universität Leipzig, 1946 Deportation in die Sowjetunion. 1956 Professor und Direktor des Instituts für die Anwendung radioaktiver Isotope an der TH Dresden, Gründungsdirektor des Instituts für angewandte Physik der Reinststoffe (Zentralinstitut für Werkstoffforschung). Ribbentrop, Joachim von (1893–1946) NS-Politiker 1932 Mitglied der NSDAP, 1936 bis 1938 deutscher Botschafter in London, 1939 Unterzeichner des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrags (HitlerStalin-Pakt). Im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher verurteilt und hingerichtet. Riehl, Nikolaus (1901–1990) Physiker Promotion bei Otto Hahn im Kaiser-Wilhelm-Institut Berlin, 1939 Direktor der Wissenschaftlichen Hauptstelle der Auer-Gesellschaft Berlin, 1945 erzwungene Mitarbeit an der sowjetischen Atombombe. 1957 Professur an der TH München, Direktor des Labors für technische Physik an der TU München. Rompe, Robert (1905–1993) Physiker 1930 wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der OSRAM KG in Berlin. 1932 Eintritt in die KPD. 1946 Professor für Experimentalphysik an der Univer­ sität in Berlin, Direktor des II. Physikalischen Instituts. Von 1958 bis 1989 Mitglied des ZK der SED, Schlüsselfigur für die Organisation der physikalischen Bildungs- und Forschungseinrichtungen in der Frühzeit der DDR. Roosevelt, Franklin Delano (1882–1945) Politiker 1933 Präsident der Vereinigten Staaten, Wiederwahl 1936, 1940 und 1944. 1941 Aufbau der Anti-Hitler-Koalition, 1945 Mitgründer der Vereinten Natio­­nen (UNO).

Kurzbiografien249

Ruska, Ernst (1906–1988) Physiker 1931 zusammen mit Max Knoll (1897–1969) Bau des ersten Elektronen­ mikroskops der Welt, 1933 Promotion und Tätigkeit in der Industrie (Fernseh AG, Siemens & Halske). 1949 Professur an der FU Berlin, 1955 Direktor des Fritz-Haber-Instituts der Max-Planck-Gesellschaft. 1986 Nobelpreis für Physik. Rutherford, Lord Ernest, Baron of Nelson (1871–1937) Physiker 1896 Mitarbeiter am Cavendish-Laboratorium in Cambridge, 1898 Leitung eines Forschungsinstituts an der McGill University in Montreal. 1907 Rückkehr nach England, 1911 Rutherford’sches Atommodell. 1919 experimenteller Nachweis der Umwandlung von Atomkernen durch Bestrahlung mit Alphateilchen, Entdecker des Protons. 1908 Nobelpreis für Physik. Sacharow, Andrej Dmitrijewitsch (1921–1989) Physiker 1947 Promotion in Kernphysik, von 1948 bis 1968 Arbeit am sowjetischen Kernwaffenprogramm unter Kurtschatow. Maßgebliche Beteiligung an der Entwicklung der ersten sowjetischen Wasserstoffbombe. 1955 Umdenken, 1967 Erklärung der Baryonenasymmetrie des Weltalls, 1968 Memorandum für Abrüstung und Kernwaffen-Kontrolle. 1980 Verhaftung und Verbannung nach Gorki, 1986 Aufhebung der Verbannung durch Gorbatschow. 1975 Friedensnobelpreis. Sawenjagin, Awraami Pawlowitsch (1901–1956) Politiker 1917 Eintritt in die Kommunistische Partei, 1930 Dekan der metallurgischen Fakultät der Bergbauakademie in Moskau, 1933 Direktor eines metallurgischen Kombinats, von 1937 bis 1938 stellvertretender Minister für Schwerindustrie, 1938 Konstruktionsleiter eines Kombinats in Norilsk und Leiter der Norilsker Konzentrationslager. Von 1941 bis 1950 stellvertretender Innenminister, von 1953 bis 54 stellvertretender Minister für mittleren Maschinenbau, 1955 stellvertretender Ministerpräsident.

250 Kurzbiografien

Schintlmeister, Joseph (1908–1971) Physiker Von 1934 bis 1938 Mitarbeiter des österreichischen Patentamtes, 1938 Assistent an der Universität Wien. 1946 Tätigkeit in der UdSSR, 1956 Professor für Experimentelle Kernphysik an der TH Dresden, 1958 Leiter des Bereichs Kernphysik im ZfK Rossendorf, 1971 Honorarprofessor an der TU Dresden. Schirdewan, Karl (1907–1998) Politiker 1925 Eintritt in die KPD, 1946 SED-Funktionär, 1953 Mitglied des ZK. 1953 Kritik an der Stalinzeit und Abweichen von der offiziellen Parteilinie. 1958 Ausschluss aus dem Politbüro und dem ZK. Schmidt, Helmut (1918–2015) Politiker 1946 Eintritt in die SPD, 1961 Senator in Hamburg. Von 1967 bis 1969 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, von 1969 bis 1972 Bundesminister der Verteidigung, von 1972 bis 1974 Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen, schließlich von 1974 bis 1982 Bundeskanzler. Schokin, Alexander Iwanowitsch (1909–1988) Politiker Ab 1961 Vorsitzender des Staatskomitees des Ministerrats für elektronische Technologie, von 1965 bis 1985 Minister für elektronische Industrie, von 1966 bis 1986 Mitglied des ZK der KPdSU und Abgeordneter des Obersten Sowjets. Schön, Otto (1905–1968) Politiker 1925 Mitglied der KPD, von 1933 bis 1937 Haft im Zuchthaus Bautzen und im KZ Sachsenburg. Von 1946 bis 1950 Stadtverordneter von Dresden und 2. Sekretär des SED-Landesverbandes Sachsen, 1950 Leitung des Büros des Politbüros und enger Mitarbeiter Walter Ulbrichts.

Kurzbiografien251

Schottky, Walter (1886–1976) Physiker 1912 Promotion bei Max Planck und Forschung bei Siemens in Berlin, von 1923 bis 1927 Professur in Rostock, ab 1946 Lebens- und Wirkungsmittelpunkt Pretzfeld (Franken). Schwabe, Kurt (1905–1983) Chemiker 1929 Promotion und Habilitation an der TH Dresden, 1947 Gründung des „Forschungsinstituts für chemische Technologie Meinsberg“. 1949 Professur mit Lehrstuhl und Direktor des Instituts für Physikalische und Elektrochemie der TH Dresden. Von 1961 bis 1965 Gründungsrektor der TU Dresden, 1965 Gründung und Leiter (bis 1971) der „Zentralstelle für Korrosionsschutz“. Selbmann, Fritz (1899–1975) SED-Politiker Von 1931 bis 1933 Leitung der KPD in Sachsen, Abgeordneter des Reichstags, Haft in Zuchthäusern und KZs. 1946 Eintritt in die SED, von 1946 bis 1948 Minister für Wirtschaft und Wirtschaftsplanung in Sachsen und Abgeordneter des Sächsischen Landtags, 1949 Minister für Industrie, für Schwerindustrie sowie für Hüttenwesen und Erzbergbau, 1958 Ausschluss aus dem ZK, 1959 Selbstkritik und Arbeit als Schriftsteller. Stalin, Josef Wissarionowitsch (1879–1953) Politiker 1918 Befehlshaber in der Roten Armee („Generalissimus“), 1922 General­ sekretär des ZK der KPdSU, 1941 Vorsitzender des Rates der Volkskommissare, 1946 Vorsitzender des Ministerrats der UdSSR. Stauffenberg, Graf von, Claus Schenk (1907–1944) NS-Offizier 1938 Abkehr von Hitler und dem Nationalsozialismus, 20. Juli 1944 Attentat auf Hitler, Ermordung nach dem Scheitern des Staatsstreiches.

252 Kurzbiografien

Steenbeck, Max (1904–1981) Physiker 1929 Promotion in Kiel, 1935 Konstruktion des ersten Betatrons. 1945 Mitarbeit am Atomprogramm der UdSSR bei von Ardenne, 1947 Entwicklung der ersten Gaszentrifuge zur Uranisotopentrennung, 1956 Professur an der Universität Jena und Direktor des Instituts für magnetische Werkstoffe, Direktor des Instituts für Plasmaphysik in Jena und Vorsitzender des Forschungsrates der DDR. Steger, Otfried (1926–2002) SED-Politiker Maschinenschlosser, 1947 Eintritt in die CDU, 1950 Wechsel zur SED. Von 1948 bis 1952 Revierleiter bei der SAG Wismut, Fernstudium Arbeitsökonomie. 1963 Leitung der Abteilung Elektrotechnik im Volkswirtschaftsrat, von 1965 bis 1982 Minister für Elektrotechnik und Elektronik, 1986 Mitglied des ZK der SED. Stoph, Willi (1914–1999) SED-Funktionär Maurerlehre, 1931 Eintritt in die KPD, ab 1946 SED-Mitglied. 1948 Leiter der Abteilung Wirtschaftspolitik beim SED-Parteivorstand. Von 1952 bis 1955 Minister des Inneren, Minister für Nationale Verteidigung, von 1964 bis 1973 Vorsitzender des Ministerrates, von 1973 bis 1976 Vorsitzender des Staatsrates. 1989 Rücktritt von allen Ämtern, 1991 Anklage wegen Tötungen an der DDR-Grenze. Szilard, Leo (1898–1964) Physiker 1925 Promotion, 1933 Emigration nach England. 1939 Mitinitiator des Briefes von Albert Einstein an Präsident Roosevelt mit der Aufforderung zur Entwicklung einer Atombombe, 1942 Mitarbeit im „Manhattan Project“. Teller, Edward (1908–2003) Physiker 1930 Promotion bei Werner Heisenberg, 1935 Emigration in die USA, Professur in Washington und New York. Von 1943 bis 1945 Mitarbeit im „Manhattan Project“, 1950 Beginn der Entwicklung der Wasserstoffbombe, politisch einflussreichster und umstrittenster Physiker des 20. Jahrhunderts.

Kurzbiografien253

Thiessen, Peter Adolf (1899–1990) Chemiker 1923 Promotion in Göttingen, Mitglied der NSDAP, von 1935 bis 1945 Direktor des Instituts für Physikalische Chemie und Elektrochemie der KaiserWilhelm-Gesellschaft, Abteilungsleiter im Reichsforschungsrat. Von 1945 bis 1956 Mitarbeiter von Ardenne in der UdSSR, 1964 Direktor des Instituts für Physikalische Chemie der Akademie der Wissenschaften, 1960 Mitglied des Staatsrates der DDR, Lehrstuhl für Physikalische Chemie an der HumboldtUniversität Berlin. Truman, Harry S. (1848–1972) Politiker 1945 bis 1953 Präsident der USA, unterschrieb das Potsdamer Abkommen und gab den Befehl zum Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Trump, Donald (*1946) Politiker Von 2017 bis 2021 Präsident der USA, Freispruch in zwei Amtsenthebungsverfahren. Ulbricht, Walter Ernst Paul (1893–1973) SED-Politiker Tischler, 1912 Eintritt in die SPD, 1919 Wechsel zur KPD, 1928 Mitglied des Reichstages. 1928 Aufnahme in die KPdSU, 1933 Emigration nach Paris, später nach Moskau. 1943 Mitbegründer des Nationalkomitees Freies Deutschland, von 1950 bis 1953 Generalsekretär der SED, 1971 1. Sekretär des ZK der SED, 1960 Staatsratsvorsitzender, Entmachtung 1971. Volmer, Max (1885–1965) Chemiker 1910 Promotion, nach dem Kriegsdienst Forschung zu chemischen Kampfstoffen, 1922 Lehrstuhl am Physikalisch-Chemischen Institut an der TU Berlin. 1945 Mitwirkung im Projekt „Atomnaja Bomba“ unter Gustav Hertz, 1955 Rückkehr in die DDR, bis 1963 Präsident bzw. Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften.

254 Kurzbiografien

Wannikow, Boris Lwowitsch (1897–1962) General und Funktionär 1918 Kämpfer der Roten Armee im Bürgerkrieg und Parteiarbeiter, Studium an der TH in Moskau, in den 1920er Jahren Direktor verschiedener Maschinenbaufabriken. 1937 Kommissar für Verteidigung und Rüstungsindustrie, nach Kriegsende Minister für Landmaschinenbau. Weidauer, Walter (1899–1986) Politiker Zimmermann, 1922 Eintritt in die KPD, Stadtverordneter in Zwickau, 1932/33 Abgeordneter des Reichstages. 1933 Inhaftierung im KZ Sonnenburg. 1946 Eintritt in die SED, dann von 1946 bis 1958 Oberbürgermeister von Dresden, von 1958 bis 1961 Vorsitzender des Rates des Bezirks Dresden. Weißmantel, Christian (1931–1987) Physiker 1958 Promotion bei Kurt Schwabe, 1968 Professur an der TH Karl-MarxStadt. Von 1965 bis 1969 Prorektor für Forschung, 1973 Rektor. Weiz, Herbert (*1924) SED-Funktionär Kaufmännische Ausbildung. 1942 Eintritt in die NSDAP, 1945 Eintritt in die KPD. 1953 Werkleiter des VEB „Optima“ Büromaschinenwerk Erfurt, 1962 stellvertretender Werkleiter im VEB Carl Zeiss Jena und von 1962 bis 1967 Staatssekretär für Forschung und Technik. 1967 stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates, 1974 Minister für Wissenschaft und Technik. Weizsäcker, Carl Friedrich von (1912–2007) Physiker, Philosoph Von 1929 bis 1933 Studium der Physik, Astronomie und Mathematik in Leipzig, Berlin und Göttingen, Promotion in Leipzig. Von 1942 bis 1945 außerordentlicher Professor für Theoretische Physik an der Universität Straßburg. 1945/46 Internierung in Farm Hall. 1946 Tätigkeit am Max-PlanckInstitut für Physik, Honorarprofessor in Göttingen, 1957 Direktor des Philosophischen Seminars der Universität Hamburg. Von 1970 bis 1980 Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der technisch-wissenschaftlichen Welt.

Kurzbiografien255

Weizsäcker, Richard von (1920–2015) Politiker Militärdienst im Zweiten Weltkrieg (Hauptmann d. R.), 1954 Eintritt in die CDU, 1955 Promotion in der Rechtswissenschaft. Von 1981 bis 1984 Regierender Bürgermeister von Berlin, von 1984 bis 1994 Präsident der Bundesrepublik. Ziller, Gerhart (1912–1957) SED-Politiker Elektroingenieur, 1930 Eintritt in die KPD, mehrfache Inhaftierung, zuletzt 1944/45 im KZ Sachsenhausen und im Gefängnis Leipzig. Von 1953 bis 1954 Minister für Schwermaschinenbau der DDR und Sekretär für Wirtschaftspolitik des ZK der SED, Suizid im Dezember 1957. Zippe, Gernot (1917–2008) Physiker 1914 Promotion in Wien, 1945 Mitarbeit im Projekt „Atomnaja Bomba“. Von 1958 bis 1960 an der Universität Virginia, in der BRD wissenschaft­ licher Berater für Kernverfahrenstechnik (Gas-Ultrazentrifuge).

Quellen- und Literaturverzeichnis I. Ungedruckte Quellen 1. Nachlass Der Nachlass Hartmanns in den Technischen Sammlungen Dresden umfasst handschriftliche Memoiren, Dokumente, Fotos und Beiträge aus Fachzeitschriften und Tageszeitungen. Nachlass, Zeitraum 1955–1961, Tagebuch. Nachlass, Zeitraum 1955–1961, Abschnitt G. Nachlass WH 1 (1930–1955). Nachlass WH 4 (1960). Nachlass WH 5 (1961). Nachlass 1961–1974, Teil H (AMD). Nachlass 1974–1977.

2. Archivalien Bestand der Abteilung „Deutsches Reich“ im Bundesarchiv: R 9361 III/567275. Bestände des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU): Abt. XVIII-835; AIM 4145/90 (Reg.-Nr.  264/82); AOP 2554/76 (Reg.Nr. XII/2956/62 – „Molekül“; AIM 4885/90 (Reg.-Nr. XII 2007/64 „Rüdiger“; AIM 2153/91 (Reg.-Nr. XII 71/82); AIM 10794/91 (IMB „Günter Richter“, Reg.Nr. Gera 491/60); AIM 3516/83 (Reg.-Nr. XII 2/75); AOP 2554/76 (Reg.Nr. XII/2956/62 – „Molekül“); AOP 1034/75 (Reg.-Nr. XII 271/73 – „Automat“); AU 1418/74, AU 988/80 (Reg.-Nr. 569/79); OV „Molekül“ (Reg.-Nr. XII 2956/ 62). Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR (SAPMO-BArch): DY 30–J IV 2/202/56.

3. Zeitzeugeninterviews Interviews mit Ehefrau Renée Hartmann (2017) und Tochter Sylvelie Schopplich (2020/21).



I. Ungedruckte Quellen257

4. Internet Hinweis: Die hier aufgeführten Quellen wurden zuletzt am 6. August 2021 geprüft. http://anthologie.de/015.html. http://www.georg-elser-arbeitskreis.de/texts/hitler-1939-09-01.htm. http://www.scheida.at/scheida/Televisionen_Normenentwicklung.htm#Die Deutschen Fernsehspezialisten in der UdSSR. https://de.wikipedia.org/wiki/Amt_für_Kernforschung_und_Kerntechnik. https://de.wikipedia.org/wiki/HASAG. https://de.wikipedia.org/wiki/Mainila-Zwischenfall. https://de.wikipedia.org/wiki/Noel_Field. https://de.wikipedia.org/wiki/Olympische_Sommerspiele_1936#Berichterstattung. https://de.wikipedia.org/wiki/Vakutronik. https://de.wikipedia.org/wiki/Werner_Hartmann_(Physiker). https://de.wikipedia.org/wiki/Winterkrieg. https://docplayer.org/27116662-Von-der-schreibmaschine-zu-mikrorechnersystemen. html. https://freiberger.com/unternehmen/firmengeschichte/. https://imt-museum.de/de/das-museum/ausstellung/elektronik/gleichrichter-stahnsdorf. https://physik.cosmos-indirekt.de/Physik-Schule/Werner_Hartmann_(Physiker). https://ru.wikipedia.org/wiki, mainilskij-inzident (Anm. d. Verf.: im Original auf Russisch/in kyrillischen Buchstaben geschrieben). https://verschwiegenegeschichtedrittesreich.wordpress.com/2017/01/16/miniaturfernseh kameras-mit-sender/. https://www.bundesarchiv.de/cocoon/barch/10/k/k1957k/kap1_2/kap2_35/para3_3. html. https://www.elektromuseum.de/publication/newsletter/elektromuseum_newsletter_ 032018.pdf. https://www.elektromuseum.de/wissen-taschenrechner-minirex73.html. https://www.robotrontechnik.de/index.htm?/html/komponenten/ic.html. https://www.robotrontechnik.de/index.htm?/html/standorte/kwh.html. Berkner, Jörg: https://www.all-electronics.de/die-halbleiterindustrie-in-der-ddr/. Stephan Luther, Christian Weißmantel, in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e. V., Online-Ausgabe: http://www. isgv.de/saebi/.

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5. Sonstige Becker, Hans W.: 100. Geburtstag von Werner Hartmann (1912–1988), Begründer der Mikroelektronik im Osten Deutschlands, Vortragsmanuskript. Böttger, Lutz: Die Ära Hartmann, vier Jahrzehnte später von einem Mitarbeiter betrachtet, Dresden 2001.

II. Gedruckte Quellen 1. Monografien und Aufsätze in Sammelbänden Abele, Johannes/Hampe, Eckhard: Kernenergiepolitik der DDR, in: Liewers, Peter/ Abele, Johannes/Barkleit, Gerhard (Hrsg.): Zur Geschichte der Kernenergie in der DDR, Frankfurt am Main 2000, S. 29–89. Andrew, Christopher/Mitrochin, Wassili: Das Schwarzbuch des KGB. Moskaus Kampf gegen den Westen, München 1999. Ardenne, Manfred von: Ein glückliches Leben für Technik und Forschung, Berlin 1972. Augustine, Dolores L.: Werner Hartmann und der Aufbau der Mikroelektronikindustrie in der DDR, in: Hänseroth, Thomas (Hrsg.): Dresdner Beiträge zur Geschichte der Technikwissenschaften, Nr. 28 (2002), S. 3–32. Augustine, Dolores L.: Red Prometheus. Engineering and Dictatorship in East Germany 1945–1990, London 2007. Bähr, Johannes: Innovationsverhalten im Systemvergleich. Bilanz und Perspektiven neuerer wirtschaftshistorischer Forschungen, in: Abele, Johannes/Barkleit, Gerhard/Hänseroth, Thomas (Hrsg.): Innovationskulturen und Fortschrittserwartungen im geteilten Deutschland, Köln 2001, S. 33–46. Barkleit, Gerhard: Manfred von Ardenne. Selbstverwirklichung im Jahrhundert der Diktaturen, 2. Auflage, Berlin 2008. Barkleit, Gerhard: Sonderzonen. Das Sicherheitsregime bei der Wismut, in: Boch, Rudolf/Karlsch, Rainer: Uranbergbau im Kalten Krieg. Die Wismut im sowjetischen Atomkomplex, Berlin 2011, S. 158–227. Barkleit, Gerhard: Die Spezialisten und die Parteibürokratie. Der gescheiterte Versuch des Aufbaus einer Luftfahrtindustrie in der Deutschen Demokratischen Republik,



II. Gedruckte Quellen259 in: Barkleit, Gerhard/Hartlepp, Heinz: Zur Geschichte der Luftfahrtindustrie in der DDR 1952–1961, Dresden 1995, S. 5–30.

Barkleit, Gerhard: EinBlick in zwei Welten. Das Ende der DDR als Glücksfall der Geschichte, 2. Auflage, Berlin 2019. Barkleit, Gerhard: Stalins Jagd nach der Bombe: Spionage und Know-how-Transfer als Beitrag deutscher Wissenschaftler zur Herstellung des atomaren Patts, in: Bartosch, Ulrich et al.: Verantwortung von Wissenschaft und Forschung in einer globalisierten Welt, Berlin 2011, S. 41–56. Barkleit, Gerhard/Dunsch, Anette: Anfällige Aufsteiger. Inoffizielle Mitarbeiter des MfS in Betrieben der Hochtechnologie, Dresden 1998. Beckenbach, Niels: Ideologische Ursprünge der deutschen Teilung, in: Beckenbach, Niels: Fremde Brüder. Der schwierige Weg zur deutschen Einheit, Berlin 2008, S. 99–126. Boch, Rudolf/Karlsch, Rainer (Hrsg.): Uranbergbau im Kalten Krieg. Die Wismut im sowjetischen Atomkomplex, Berlin 2011. Bock, Helmut u. a.: Sturz ins Dritte Reich, Historische Miniaturen und Porträts 1933/35, Leipzig/Jena/Berlin 1983. Bundesamt für Strahlenschutz: Strahlenexposition und strahleninduzierte Berufskrankheiten im Uranbergbau am Beispiel Wismut, 2. und erweiterte Ausgabe, Berlin 1993. Buthmann, Reinhard: Versagtes Vertrauen. Wissenschaftler der DDR im Visier der Staatssicherheit, Göttingen 2020. Coulmas, Florian: Hiroshima. Geschichte und Nachgeschichte, München 2005. Cromme, Ludwig J.: Ideologiefreie Wissenschaft? Technisch-naturwissenschaftliche Gutachten im Rahmen von Untersuchungsvorgängen des MfS der DDR, Deutschland Archiv 38 (2005) 6, S. 1056–1061. Dörfel, Günter: Werner Hartmann. Industriephysiker, Hochschullehrer, Manager, Opfer, in: Hoffmann, Dieter (Hrsg.): Physik im Nachkriegsdeutschland, Frankfurt am Main 2003, S. 221–230. Dörfel, Günter: Im Sog früher kerntechnologischer Entwicklungen und Versprechen: Der „Schwingkondensator“ als elektro-mechanischer Verstärker zwischen Elektronenröhre und Feldeffekt-Transistor und dessen Nutzbarmachung im Wirtschaftsraum Dresden – Jena, Jenaer Jahrbuch zur Technik- und Industriegeschichte, Band 21 (2018), Jena 2018, S. 317–367. Engelmann, Roger: Staatssicherheitsjustiz im Aufbau. Zur Entwicklung geheimpolizeilicher und justitieller Strukturen im Bereich der politischen Strafverfolgung 1950–1963, in: Engelmann, Roger/Vollnhals, Clemens (Hrsg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR, Berlin 2000, S. 133–164. Esser, Brigitte/Venhoff, Michael: Die Chronik des Zweiten Weltkriegs, Augsburg 1997.

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II. Gedruckte Quellen263

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Quellen- und Literaturverzeichnis

3. Beiträge in Tageszeitungen Anderl, Sibylle: Sehnsucht nach Einfachheit, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 23.5.2021. Barkleit, Gerhard: Dresden und das nukleare Patt, in: Dresdner Neueste Nachrichten vom 8.12.2008. Dieckmann, Christoph: Vernichtung eines Unpolitischen, in: Die Zeit vom 31.1.2002, S.  49 f. Graulich, Kirsten: Wiege der Halbleiter, in: Potsdamer Neueste Nachrichten vom 5.2.2010, zu finden unter: https://www.pnn.de/potsdam-mittelmark/wiege-derhalbleiter/22176802.html. Lamparter, Dietmar H.: „Vereinigte Netzwerker“, in: Die Zeit vom 9.5.2019, S. 35. Schuller, Konrad: Zwei Schlüssel zur Bombe, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 3.5.2020, S. 6. Söllner, Fritz: Was ein totalitäres System ausmacht, Schweizer Monat, Ausgabe 1085, April 2021, zu finden unter: https://schweizermonat.ch/was-ein-totalitaeres-sys tem-ausmacht/.

Personenregister Adam, Theo  134, 202, 210, 211, 212, 222, 233 Adenauer, Konrad  99, 129, 233 Adolf, Horst  210 Albrecht, Jochen  188, 199 Alichanow, Abram Isaakowitsch  73, 233 Anderl, Sibylle  57 Andrejkovits  177 Apel, Erich  107, 113, 114, 132, 133, 158, 159, 233 Apelt, S.  107 Ardenne, Manfred Baron von  5, 6, 19, 33, 34, 69, 70, 72, 73, 76, 77, 79, 81, 82, 83, 84, 95, 96, 99, 102, 103, 104, 105, 107, 108, 109, 122, 123, 125, 127, 129, 133, 135, 164, 193, 210, 211, 213, 217, 218, 226, 227, 229, 230, 234 Arendt, Hannah  17, 225 Armgarth, Dietrich  153 Arzimowitsch, Lev Andrejewitsch  72, 234 August, Kurfürst  197 Augustine, Dolores L.  6, 147, 154, 156, 158, 159, 160, 161, 163, 164, 228, Auth  188 Baade, Brunolf  19, 96, 234 Bagge, Erich  70 Bahr, Egon  215, 234 Bähr, Johannes  141, 143 Bähring, Herbert  38 Balke, Siegfried  127 Bardeen, John  139 Barwich, Heinz  19, 60, 74, 76, 78, 96, 99, 102, 111, 123, 234

Bäßler  177, 178, 179 Baumann, Rudolf  108 Bayer  61 Bayerl, Victor  75 Beckenbach, Niels  227 Becker, Hans W.  6, 27, 154, 169, 217, 219, 220, 221, 222, 223 Becker, Richard  30 Behne, R.  38 Below, Fritz  38 Berija, Lawrentij Pawlowitsch  72, 73, 77, 82, 83, 235 Berkner, Jörg  140, 150 Bernhard, Fritz  103, 125 Berthold, Karl-Heinz  105 Bewilogua, Ludwig  75, 96, 102, 224 Biedenkopf, Kurt  215, 216, 235 Bilz, Horst  161 Birke  185 Bobach  209 Bock  177 Bode, Gerda  44 Bormann  177, 189 Born, Max  99, 111, 235 Borries, Bodo von  38, 39 Böttger, Johannes  184 Böttger, Lutz  142, 144, 145, 148, 221 Brandt, Liselotte Vera Maria  43 Brattain, Walter  139 Braun, Wernher von  71, 235 Bremeier  189 Brückersteinkuhl, Kurt  38 Buchholz  177, 178 Budzislawski, Hermann  209, 236 Bumm, Helmut  60, 74, 78, 86 Bünger, W.  38

266 Personenregister Buthmann, Reinhard  7, 8, 104, 107, 128, 137, 142, 143, 144, 150, 156, 159, 160, 166, 167, 169, 170, 172, 183, 184, 187, 188, 189, 193, 194, 197, 199, 200, 203, 220, 222, 223, 226 Chamberlain, Neville  53, 236 Chrapek  134 Chruschtschow, Nikita Sergejewitsch  82, 103, 128, 129, 236 Churchill, Winston  51, 53, 236 Cohen, Victor W.  80 Cooper, Duff Alfred  53 Cromme, Ludwig, J.  173, 174, 175 Damm  177 Diebner, Kurt  70, 236 Dieckmann, Christoph  211, 217, 222 Dillenburger, Wolfgang  38 Döhling, Friedmar  181, 185 Dörfel, Günter  6, 8, 58, 59, 108, 114, 117, 137,156, 192, 217, 222 Drescher, Kurt  148, 158, 219 Dürr, Hans-Peter  98, 237 Ebert, Friedrich  18 Eckhardt  103 Einstein, Albert  63, 237 Eisert, Rolf  121 Elser, Georg  49, 237 Ende, Adolf (Lex)  198, 237 Engelmann, Roger  171, 172, 177 Ernemann, Alexander  37 Esche, Paul  74 Everhart, Thomas Eugene  80 Falter, Bernd  142, 170, 227 Falter, Jürgen W.  57 Falter, Matthias  139, 140, 142, 143, 144, 156, 170, 237 Farnsworth, Philo Tyler  33 Faulstich, Helmuth  96, 135, 163, 238 Faust, Wilfried Andreas  201

Field, Noel H.  198 Finkendey, Else  45 Fischer  185 Flach, Günter  67, 163 Flechsig, Werner  29, 31, 38 Fljorow, Georgij Nikolajewitsch  72, 238 Förster  182 Franck, James  29 Franke, Willi  189 Friedrich, Walter  135 Fritze, Lothar  8, 49, 66, 228 Frühauf, Hans  134, 188, 238 Fuchs, Klaus  19, 60, 67, 135, 161, 238 Fuchs, Otto Emil  67 Füchsel, Herrmann  79 Fuhrmann, Heinz  159 Gagua, T. A.  78 Gamelin, Maurice  54 Garte, Dieter  80, 193 Genscher, Hans-Dietrich  215, 239 Gerlach, Heinz  193 Gerlach, Walter  70, 123, 239 Gesang  177, 185 Glöckner  177 Gloede, Wolfgang  219 Godau, Erika  161 Goebbels, Joseph  51, 53, 56, 239 Goerz, Paul  34, 35, 37 Goethe, Johann Wolfgang von  201 Gorbatschow, Michail  202 Görlich, Paul  124, 133, 157, 239 Grosse, Hermann  124 Grotewohl, Otto Emil Franz  18, 132, 239 Groves, Leslie Richard  65, 70, 240 Günther, Johann  38 Günzel, Erwin  38 Gustav V., König von Schweden  52 Gwerdziteli, I. G.  78

Personenregister267 Hachenberger, Dieter  176, 177, 184, 185, 190, 194, 195 Hagen, Curt  38 Hager, Kurt  123, 240 Hahn, Otto  70, 99, 240 Hampe, Eckhard  110, 126 Hanemann  185 Hanisch, Hans-Joachim  172, 174, 175, 182, 183, 184, 188, 189, 190, 191, 230 Hanke, Dietmar  173 Hänseroth, Thomas  8, 141, 142, 146, 228 Harteck, Paul  70 Hartmann, Annelore  43, 44, 45, 60 Hartmann, Heinrich  44 Hartmann, Lois Gustav Adolf  85, 87, 91, 93, 9 Hartmann, Olga  44 Hartmann, Renée  6, 7, 21, 109, 165, 193, 202,204, 205, 206, 207, 208, 210, 211, 212, 214, 215, 216, 217, 219, 222, 223, 231 Haß, Walter  38 Havemann, Robert  201, 240 Hawes, James  57, 58 Heimann, Walter  59 Heine, Heinrich  209 Heinrich, Helmut Fritz  224 Heinze, Rudolf  160 Heinze, Walter  188 Heisenberg, Werner  70, 99, 241 Helmbold, Bernd  69, 164 Hennecke, Adolf  155 Henning, Jochen  188 Hentschel, Gertraude  107, 123 Hergt  177 Hertz, Gustav  5, 29, 30, 31, 59, 60, 61, 69, 72, 73, 74, 76, 77, 78, 81, 83, 90, 94, 100, 102, 109, 110, 111, 112, 122, 123, 124, 133, 213, 217, 241 Heydemann, Günther  162 Heym, Stefan  224, 241

Heynowski, Walter  208 Hillig, Rolf  188, 197 Hillmann  182 Hitler, Adolf  40, 48, 49, 55, 57, 58, 62, 67, 100, 225, 242 Hoenow, Gerhard  74, 103 Höhne, Achim  35, 88, 90 Höhne, Rudolf  177 Holland  182 Holland, H.  189 Honecker, Erich  5, 18, 109, 134, 150, 153, 193, 195, 212, 225, 242 Hoppe, Joseph  35, 40, 41 Hörig, Günter  121, 214 Houtermans, Friedrich  29, 242 Hudec, E.  38 Iffarth, Christine  196 Iffarth, Konrad  8, 158, 179, 180, 181, 182, 183, 184, 185, 186, 187, 188, 191, 194, 195, 196, 219 Isajew, Boris Michailowitsch  81 Jacobs, Dieter  141 Jäger  108 Jahn  112, 117 Jahn, Eberhard  161 Jancke  124 Jemeljanow, Wassili Semjonowitsch  125 Joffe, Abram Fjodorowitsch  72, 73, 242 Joliot-Curie, Frédéric  130, 242 Kadner  177 Kant, Immanuel  219, 243 Kapitza, Pjotr  29, 243 Karasek  177 Karlsch, Rainer  62, 67, 118, 119 Kaul, Friedrich Karl  200,243 Kempe, Ralf  161, 188 Kikoin, Isaak Konstantinowitsch  72, 76, 243 Kjulz, E. F.  126

268 Personenregister Kleber  177 Kleine  190 Klemens, H.  189 Knoblauch, Karl-Heinz  184 Knoll  110, 111 Köhler, Eberhart  219, 220 Köhler, Horst  215 Köhler, Roland  153 Köhler, V.  189 Kolmschlag, Franz-Peter  197, 198 Kopfermann, Hans  30 Körner  182 Korsching, Horst  70 Kosche, E.  38 Kotschlawaschwili, Alexander Iwanowitsch  83 Krause, Christine  141 Kremer  75 Krenkel  175 Krolikowski, Werner  133, 203, 244 Kruglow, Sergej Nikiforitsch  76, 244 Kunz, W. W.  126 Kunze, Paul  127 Kurtschatow, Igor Wasiliewitsch  76, 244 Kusnezow  83 Kusnezowa, Raisa Wasiljewna  98 Kutscherjajew, A. G.  78 Kwarzchawa, Ilja Filipowitsch  78 Lamparter, Dietmar, H.  231, 232 Landgraf-Dietz, Dieter  218, 219 Laue, Max von  70, 99, 244 Lawryk  177 Legler, F.  38, 39 Lehmann  177, 184 Lehmann, Nikolaus Joachim  139, 141, 142, 244 Leipunski, Alexander Iljitsch  245 Leontjewa, I. N.  126 Leuschner, Bruno  134, 245 Lindner  181, 182

Lippmann, Hans Herbert Otto  127, 217, 219 Locke, Kurt  193 Lonitz, Werner  184, 185, 191, 192, 193, 194, 195 Lorenz, Hartmut  151 Lungershausen, Wolfgang  187, 200 Lyssenko, Trofim Denissowitsch  101, 245 Macke, Wilhelm  99, 123, 135 Maly, Rolf  38 Malyschew, Ilja Ilitsch  76, 245 Markert, Rolf  167, 196,198 Matern, Hermann  18 Mayer, Edgar  62 Mehner, Thomas  62 Menzel, Rudolf  104 Michel  177 Mielke, Erich  18, 19, 171, 173, 183, 189, 200 Migdal, Arkadij Bejnuosowitsch  72 Migulin, Wladimir Wasiliewitsch  81 Mirianaschwili, Matwej Michailowitsch  78 Mittag, Günter  156, 157, 183, 189, 203, 245 Mittig, Rudi  200 Modrow, Hans  195, 218 Möller, Rolf  35, 36, 38, 42 Molotow, Wjatscheslaw Michailowitsch  50, 60, 246 Mott, Nevill Francis  131 Mückenberger, Erich  18 Mühlenpfordt, Justus  74, 76, 78, 108, 135, 246 Mulert, Theodor  38 Müller  182 Müller, Erwin  28, 29, 165 Müller, Katharina  8 Neumann, Alfred  18 Nipkow, Paul  246

Personenregister269 Ohnesorge, E. H.  Wilhelm  35, 40, 246 Opitz  177 Ordschonikidse, Keto  78 Pabst  178 Paehr, Hans Werner  38 Papers  103 Pauli, Wolfgang  99, 246 Paulus, Friedrich  55 Perwuchin, Michail Georgijewitsch  76, 77, 247 Pétain, Phillipe  54 Petter  106 Pfüller, Siegfried  188 Pieck, Wilhelm  18, 132, 198, 247 Pilling  43 Pohl  178 Pohl, Robert Wichard  131 Polzin, Gregor  43, 56, 85 Polzin, Ludwig  44, Popp, Manfred  62 Pose, Heinz  77, 96, 224, 247 Prandtl, Ludwig  131 Putin, Wladimir Wladimirowitsch  99, 247 Rabe  178 Rambusch, Karl  107, 108, 110, 111, 112, 113, 121, 124, 133, 135, 247 Rapacki, Adam  129 Rassbach, E. C.  37 Rau, Heinrich  18, 19 Raue  182 Reichelt  178 Reichmann, Reinhold  60, 74, 78 Reinschke, Kurt  101, 162 Rexer, Ernst  99,111, 248 Reynaud, Paul  54 Ribbentrop, Joachim von  53, 56, 248 Richter  41 Richter, Gustav  74, 111 Richter, Johannes  102 Riehl, Nikolaus  69, 82, 84, 248

Rodjonow, Sergej Fedorowitsch  37 Roeske, M.  189 Rompe, Robert  103, 123, 133, 188, 195, 248 Roosevelt, Franklin Delano  63, 248 Rosskopf, Anette  200 Rottmann, Ernst  60, 74 Rudert, Frithjof  38 Rühle, Hermann  134, 210 Ruska, Ernst  38, 39, 249 Sacharow, Andrej  67, 249 Sachs, Alexander  63 Saegebarth, Gerda  43 Saegebarth, Herbert  43 Sägel  103 Salewski, Michael  97, 98 Salomo  178 Sawenjagin, Awraami Pawlowitsch  60, 72, 75, 77, 83, 249 Schallert  178 Schallies  31 Schauer, Werner  104,107, 124, 137, 138 Scheida, Wolfgang  37 Schintlmeister, Joseph  96, 99, 250 Schirdewan, Karl  18, 250 Schlesier, Egon  107, 137 Schmeitzner, Mike  8 Schmidt, Arthur  29 Schmidt, Erwin  29, 125 Schmidt, Hannelore  43 Schmidt, Helmut  39 Schmidtke  185 Schmutzer, Ernst  217 Schnabel, Gerhard  174, 175 Schneider  231 Schokin, Alexander I.  159, 250 Schön, Otto  136, 250 Schopplich, Sylvelie  7, 25, 58, 82, 84, 88, 90, 96, 109, 122, 202, 203, 205, 210, 212, 231, Schottky, Walter  33, 251

270 Personenregister Schroeder, Klaus  162 Schubert, Georg  32, 35, 38 Schulz  174, 178 Schulze, Gustav Ernst Robert  96,224 Schunack, Johannes  39 Schütze, Werner  60, 74, 77, 78 Schwabe, Kurt  123, 251 Schwanbeck  111, 112, 113 Schwartz, Erich  39 Segel, Max  75 Seiler  175, 176, 178, 185 Selbmann, Fritz  123, 251 Seydewitz, Ruth  133 Shockley, William  139 Sieber, Wolfgang  173, 183 Simader, Alfred  37 Simon  181 Sinjawskij, A. P.  126 Slutsch, Sergej  50, 51 Sobeslavsky, Erich  139, 141, 142 Sobolew, Sergej Lwowitsch  72 Sondermayer  39 Springer, Reinhard  158 Stalin, Josif Wissarionowitsch  18, 49, 50, 60, 71, 99, 101, 251 Stanek, Josef  124, 135 Staudenmeyer  74 Stauffenberg, Graf von, Claus Schenk  57, 251 Steenbeck, Max  69, 72, 76, 79, 82, 161, 164, 200, 252 Steger, Otfried  150, 159, 160, 161, 162, 182, 200, 201, 252 Steiner, André  120, 140, 228 Stoph, Willi  105, 200, 252 Strübig, Heinrich  39 Sturm  178 Suchland, Elsa  107 Sulzbacher, Cornelia  63 Sulzer, Andreas  62, 63 Szilard, Leo  63, 252 Teller, Edward  63, 252

Theß, Dietrich  182, 219 Thießen, Klaus  77, 79 Thießen (Thiessen), Peter Adolf  69, 73, 79, 134, 221, 253 Thöm, Kurt  39 Thornley, Richard  80 Tondock  178 Treder, Hans-Jürgen  164 Trocha, Jens  223 Truman, Harry S.  66, 253 Trump, Donald  98, 99, 253 Uhlmann  103 Ulbricht, Walter  5, 18, 19, 100, 103, 104, 105, 111, 112, 113, 122, 128, 132, 139, 158, 161, 198, 224, 225, 253 Vollnhals, Clemens  171, 172 Volmer, Max  30, 60, 74, 102, 103, 113, 253 Walter-Borjans, Norbert  99 Wannikow, Boris Lwowitsch  76, 254 Warnke, Herbert  18 Wasiljew, L. W.  126 Wawilow, Nikolai Iwanowitsch  101 Weidauer, Walter  103, 254 Weidling, Otto Franz  121 Weiss, Carl-Friedrich  111 Weiß, Cornelius  84, 188 Weißmantel, Christian  123, 254 Weiz, Herbert  152, 254 Weizsäcker, Carl Friedrich von  62, 70, 99, 254 Weizsäcker, Richard von  215, 255 Well  182 Wellmann, Kurt  39 Wellnitz, Franz  43 Wellnitz, Hedwig Adelheid Wilhelmine  21 Wenzel, Bernd  147 Werner, Heinz  193 Westmeyer, Hans Georg  99

Personenregister271 Westphal, Wilhelm  29 Weygand, Maxime  54 Wieczorek, Ludwig  113 Wiesner  134 Wild, Karl Matell  37 Will  103 Wirtz, Karl  70 Wisch, Wolfram  111 Wittbrodt, Hans  91 Wittke, Heinz  29 Wulfheckel, H.  36, 39 Wunderlich, Helmut  120

Zander, Manfred  222 Zedler  189 Zeiler, Friedrich  105 Zeinert  178 Ziller, Gerhard  105, 123, 255 Zippe, Gernot  82, 255 Zschau, Horst  39 Zühlke, Karl-Franz  60, 75, 76, 78 Zwerew, Alexsander Dmitriewitsch  72, 77, 83 Zworykin, Vladimir  33