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German Pages 213 [218] Year 2012
Norbert Groddeck Carl Rogers
(Brief aus dem Nachlass; mit freundlicher Genehmigung der Library of Congress, Washington D.C., Box 4)
Norbert Groddeck
Carl Rogers Wegbereiter der modernen Psychotherapie 3.Auflage
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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3., unveränderte Auflage 2011 © 2006 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt 1. Auflage 2002 Umschlaggestaltung: Neil McBeath, Stuttgart Umschlagabbildung: Carl Rogers, © Landmark Photos, La Jolla, California Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-23133-1 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-71910-5 eBook (epub): 978-3-534-71911-2
Inhalt Vorwort Einleitung
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Kindheit und Jugend in Chicago: 1902–1919 . . . . Die Familie Walter und Julia Rogers . . . . . . . Carls Kindheit in Oak Park . . . . . . . . . . . . Leben in einer religiösen pädagogischen Provinz Naturwissenschaftliche Studien . . . . . . . . . .
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Das „Problemkind“ macht Karriere: 1920–1939 . . . . . . . . . . . . Neue Freiheiten am College: Von der Landwirtschaft zur Theologie Die Reise nach China und die Missionstätigkeiten im Fernen Osten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emanzipationskämpfe – Das junge Paar in New York . . . . . . . Von der Theologie zur Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Studium der klinischen Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . Das Stipendium am „Institute of Child Guidance“ . . . . . . . . . Die ersten Berufsjahre als klinischer Psychologe in Rochester . . Unter den Sozialarbeitern: Auf der Suche nach einer beruflichen Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Kampf um die Leitungsstelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das erste Buch: ›The Clinical Treatment of the Problem Child‹ . . Von den Sozialarbeitern lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die nicht-direktive Beratung: 1940–1944 . . . . . . Der Universitätsprofessor in Ohio . . . . . . . . Das zweite Buch: ›Die nicht-direktive Beratung‹ Die Arbeit mit den Kriegsheimkehrern . . . . .
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Die klient-zentrierte Psychotherapie: 1945–1957 . . . . . . . . . . . . 89 Professor an der Universität in Chicago . . . . . . . . . . . . . . . 89 Von der Praxis der Beratung zu Theorie und Forschung der Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Die ersten Debatten mit der Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . 94 In den Fallstricken der nicht-direktiven Methode: Als Therapeut in einer Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Das dritte Buch: ›Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie‹ 100
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Inhalt
Zwischen Empirie und Phänomenologie: Kreativität als neue Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rogers-Skinner-Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Dialog mit Martin Buber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine neue Mission: Rogers’ Abschied von Chicago . . . . . . . . . Scheitern in Wisconsin: 1957–1963 . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wieder Streit mit den Psychiatern . . . . . . . . . . . . . . . . Familienprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Probleme im Forschungsprojekt . . . . . . . . . . . . . . . . . Stress im Psychologischen Institut . . . . . . . . . . . . . . . . Das Forschungsprogramm an der „Mendota State Psychiatry“ Aus der Erfahrung lernen: ›On Becoming a Person‹ . . . . . . Auf dem Weg zum Person-Zentrierten Ansatz (PCA) . . . . .
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In der Alternativbewegung: 1964–1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . Die neue Freiheit: Rogers’ Wechsel zum „Western Behavioral Science Institute“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entdeckung der Gruppe und die Entwicklung des person-zentrierten Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Als Berater bei Caltech . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontroversen zu Hause . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das „Center for the Studies of the Person“ (CSP) . . . . . . . . . Für eine person-zentrierte Pädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Fluch und Nutzen des Ruhms . . . . . . . . . . . . . . . . . . ›Becoming Partners‹ oder: Die offene Ehe . . . . . . . . . . . . . . Die gesellschaftspolitische Dimension des PCA . . . . . . . . . . . Die Zeit um Helens Tod: Zwischen Konstruktivismus und New Age
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144 149 151 153 156 160 163 172 175
In weltweiter Friedensmission: 1979–1987 . . . . . . . . . Rogers in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansichten eines Psychologen über den Atomkrieg . . . Das „Carl Rogers Institute for Peace“ . . . . . . . . . . Der Rust-Workshop: „The Central America Challenge“ Die Workshops in der Sowjetunion 1986 . . . . . . . . . „I will die young“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Carl-Rogers-Biographie im Überblick
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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Personen und Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
Vorwort Bei meinem Vorhaben, eine zusammenhängende Biographie über das Leben von Carl R. Rogers zu schreiben, habe ich vor allem auf Vorarbeiten in der amerikanischen und englischen Literatur zurückgreifen müssen. Wo es möglich war, habe ich Texte und Bücher benutzt, die in deutscher Sprache erschienen sind und aus diesen Quellen zitiert. Deshalb gibt es in diesem Buch Zitate, für deren Übersetzung ich die Verantwortung trage, und solche, die von anderen Übersetzern stammen. Ich habe mit verschiedenen Zitierweisen versucht, dies kenntlich zu machen. Die Quellenangabe (Rogers 1980, S. 50) steht für ein Zitat aus einem deutschen Buch. Die Quellenangabe (Rogers 1941: 37) steht für ein von mir übersetztes Zitat. Eine dritte Form der Quellenangabe (Rogers 1961/1976, S. 23) verweist zuerst auf den englischen Text in der Literaturliste und dort auf die Seitenangabe in der deutsche Ausgabe. Weil ich selbst männlichen Geschlechts bin und um solche „Schriftungeheuer“ wie z. B. „Therapeut/Therapeutin“ zu vermeiden, habe ich im Text durchgängig die männliche Schreibweise verwendet, wohl wissend, dass es genauso viel Sinn machen würde, überall die weibliche Form einzusetzen. Ich vertraue darauf, dass weibliche Autoren in dieser Hinsicht auch von ihrem Recht Gebrauch machen. Obwohl ich es ursprünglich nicht beabsichtigt hatte, führten mich meine Forschungsarbeiten schließlich auch nach Amerika zu den „Quellen“. Der persönliche Nachlass von Carl Ransom Rogers wird in der amerikanischen Nationalbibliothek (Library of Congress, Washington D.C.) aufbewahrt und ist auf Verfügung von Rogers für jedermann ohne Einschränkungen einsehbar. Die Manuskriptabteilung hält für den interessierten Forscher Rogers’ persönliche Aufzeichnungen, private Briefe, berufliche Korrespondenzen, alle handschriftlichen Manuskripte, eine Vielzahl von Filmen, Tonaufzeichnungen, Zeitschriften, Fotos und andere Dokumente in 146 Kisten bereit. Das Personal des „Reading-Rooms“ war sehr zuvorkommend und unterstützte mich in großzügiger Weise. Für die freundliche und professionelle Hilfe und für die Erlaubnis, Fotos und Kopien von einigen Unterlagen machen zu dürfen, um sie in diesem Buch zu verwenden, möchte ich mich hiermit bedanken. Bei meinen weiteren Recherchen stieß ich auch auf das „Carl-RogersArchiv“, das die „Davidson Library“ der Universität von Santa Barbara in
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Vorwort
Kalifornien eingerichtet hat und das von David C. Gartrell verwaltet wird. Viele dort aufbewahrte biographische Materialien tragen den Vermerk „restricted“ und waren deshalb für meine Arbeiten nicht zugänglich. Weitere Unterlagen finden sich in den Bibliotheken der Universitäten, an denen Rogers lehrte (Ohio State University, University of Chicago, University of Wisconsin), sind aber für allgemein-biographische Interessen weniger interessant. Meine Arbeit über Carl Rogers’ „Leben“ und „Werk“ hat sich relativ schnell zu einem sehr lebendigen Abenteuer ausgewachsen, das mich im Jahr der Abfassung in vielerlei Hinsicht auch an meine persönlichen Grenzen trieb: Dazu gehörte z. B., meine Unzulänglichkeiten in der englischen Sprache zu überwinden, meine Bequemlichkeiten aufzugeben, was die neuen Techniken der Internetrecherchen betreffen, und auch über meinen eigenen Schatten zu springen, um nach Amerika zu fliegen und Recherchen vor Ort anzustellen. Alle diese inneren Blockaden lösten sich Schritt für Schritt in dem Maße auf und verwandelten sich in beflügelnde Herausforderungen, wie die Zusage des Verlages klar war, das Buch mit einer außerordentlichen Anstrengung noch in diesem Jahr herauszubringen. Auch dafür möchte ich mich an dieser Stelle bedanken. Ich nahm Kontakt mit Natalie Rogers auf, ebenso mit Bruce Medor vom CSP, mit Reinhard Tausch (Stuttgart) und Peter F. Schmid (Wien). Ihrer freundlichen Unterstützung meines Vorhabens verdanke ich sehr viel. Und natürlich will ich mich sehr herzlich bei meiner Frau Ariane für ihre Geduld und Mithilfe bedanken. Sie hat wieder einmal miterlebt, wie sich unser geplanter Sommerurlaub im August dieses Jahres in (m)ein Forschungsabenteuer verwandelte. Bereits in den Monaten zuvor hat sie mich in einigen Workshops vertreten, als klar wurde, dass ich dieses Buch über die Sommermonate hinweg fertig stellen musste, damit es rechtzeitig zum 100. Geburtstag von Carl Rogers am 8. Januar 2002 erscheinen kann. Aber alles dieses hätte sich nicht ereignen können ohne die Mitarbeit von Gay Lea Barfield (Hawaii CSP), Leiterin des „Carl Rogers Peace Project“, die 1995 und 1999 als „Botschafterin“ des CSP an unseren aktEncounter-Gruppen in Karlsruhe teilgenommen hat. Ihre warmherzige, großzügige und sachkundige Unterstützung und Ermunterung war mir eine besondere Hilfe. Siegen, im September 2001
Norbert Groddeck
Einleitung Die Konferenz vom 11. bis 15. Dezember 1985 in Phoenix (Arizona) war wohl so etwas wie das „Woodstock“ in der Geschichte der Psychotherapie. Obwohl der Dezember prinzipiell ein ungünstiger Termin für eine solche internationale Großveranstaltung ist, nahmen daran fast alle „Pioniere“ teil, die in dem zurückliegenden Jahrhundert eigene psychotherapeutische Konzepte vorgestellt und verbreitet hatten. Carl Rogers war mit 83 Jahren einer der Ältesten.1 Er konnte als Begründer der klient-zentrierten Psychotherapie auf ein fruchtbares Leben und Werk als Psychologe, Psychotherapeut und Psychotherapieforscher zurückblicken und hatte sich darüber hinaus – als eine „Gallionsfigur“ der humanistischen Psychologie und Pädagogik – im öffentlichen Leben Amerikas zu vielen sozialen Fragen geäußert und sich persönlich mit seinem person-zentrierten Ansatz in einer weltweiten Friedensarbeit engagiert. Seine 16 Bücher wurden in 12 Sprachen übersetzt und erreichten so die Menschen in mehr als 25 Ländern. Kein Zweifel: Er hatte eine Botschaft, die die Menschen unmittelbar berührte und die etwas von dem aussprach, was sie selbst auch fühlten. Bevor er auf dieser Konferenz mit seinen Vortrag starten konnte, musste er lange warten. 7000 Konferenzteilnehmer feierten ihn fünf Minuten lang mit „Standing Ovations“, um so seinen Beitrag zur Entwicklung der doch noch jungen Geschichte der Psychotherapie zu würdigen. Es folgte ein anschaulicher und eindrucksvoller Vortrag zum Thema „Empathie“. Rogers sprach darüber, wie das Phänomen der Einfühlung in unterschiedlichen psychotherapeutischen Konzepten, seinem eigenen, dem des Psychoanalytikers Heinz Kohut und dem des Hypnotherapeuten Milton H. Erickson, zur Anwendung kommt und gab darüber hinaus – wie immer zu solchen Gelegenheiten – eine (auf Video mitgeschnittene) Demonstrationssitzung mit einer freiwilligen Klientin aus dem Publikum. Schließlich beantwortete er persönlichen Fragen, so z. B. was er über den Tod und das 1 Das Tagungsfoto zeigt die illustre Versammlung von links nach rechts in der unteren Reihe beginnend: Albert Ellis, Mary Goulding, Robert Goulding, Zerka Moreno, Cloe Madanes, Virginia Satir, Miriam Polster, Carl Rogers, Rollo May, Arnold Lazarus, Judd Marmor, Aron Beck, Carl Whitaker, Murray Bowen, Thomas Szasz, Paul Watzlawick, Jay Haley, Joseph Wolpe, Bruno Bettelheim, James Masterson, Jeffrey Zeig, Ronald D. Laing, Ernest Rossi, Erving Polster, Salvatore Minuchin, Lewis Wolberg.
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Sterben denke. Nach einigen allgemeinen Überlegungen und auch konkreten Aussagen über seine gegenwärtige körperliche und geistige Verfassung hielt er inne und sagte mit nachdenklicher Stimme: „Als ich ein Kind war, wurde mir prophezeit, dass ich jung sterben würde. Jetzt, da ich 83 Jahre alt geworden bin, weiß ich, dass sich diese Prophezeiung erfüllen wird“ (Zeig 1991, S. 34). Rogers’ Leben (1902–1987) umfasst nahezu das gesamte 20. Jahrhundert. Aus einer sehr engen und stark religiös geprägten protestantischen Familie des mittleren Westens kommend, befand er sich in seinem ersten Lebensabschnitt augenscheinlich im Zustand schmerzlicher Einsamkeit. Kontakt, Beziehung, Nähe, persönliche Vertrautheit und Intimität waren – seinen Berichten zufolge – in seiner Familie für ihn nicht erfahrbar. Stattdessen erlebte er Bewertung, Kontrolle, hohe Ansprüche – und Unzulänglichkeitsgefühle, die von hohen und nicht erreichbaren Idealen ausgelöst wurden. Im Angesicht Gottes fühlte sich Carl als ein Nichts, als ein Sünder, der allein durch viel Arbeit und durch gute Taten vor diesem strengen Gott bestehen konnte. Der sensible Carl war als Kind und Jugendlicher für die als „grausam“ empfundenen religiösen Botschaften empfänglich, die ihn innerlich in ein Gefängnis aus Anstrengung, Einsamkeit und Kontaktlosigkeit führten. Sein Lebensweg und -werk sind von seiner Suche nach einem Du, nach einer konkret spürbaren und fühlbaren Person als Gegenüber geprägt, die ihn aus dieser Einsamkeit befreien könnte. Die hohe Sensibilität als Zuhörer, die unglaublichen empathischen und mitfühlenden Qualitäten, aber auch die Achtung und der große Respekt vor dem Anderen, kurzum alle Beziehungsqualitäten, die sein psychotherapeutisches Konzept als heilsam beschreibt, sind Dinge, an denen es ihm selbst von Kindesbeinen an sehr mangelte. Dass Carl mit seiner Begeisterung für Natur, Technik und Landwirtschaft letztlich nicht Landwirtschaft oder Ingenieurwissenschaft studierte, sondern eine Berufung zur Arbeit mit Menschen in sich spürte und so zuerst als Pfarrer und später als Psychologe, Berater, Psychotherapeut, Lehrer und Gruppenleiter arbeitete, hat gewiss mit dieser tiefsitzenden Einsamkeit zu tun, in der er sich als Kind und Jugendlicher einrichten musste, und mit den kostbaren Erlebnissen glücklicher Situationen, wenn es ihm gelang, diese Einsamkeit durch einen fühlbaren Kontakt zu einem Gegenüber zu durchbrechen. Im Schonraum der Therapie, und hier insbesondere als Therapeut, konnte Carl, wie er später in seinen autobiographischen Schriften bemerkt, zaghafte Versuche mit zwischenmenschlicher Nähe und persönlichen Beziehungen machen, Erfahrungen sammeln und selbst in dieser Hinsicht dazulernen und nachreifen. Bis ins hohe Alter hatte Carl mit dieser inneren Anstrengung zu kämpfen, sich einsam zu
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Referenten der Konferenz „Evolution of the Psychotherapie“ 1985 in Phönix, Arizona (aus: Zeig, J. K. [Hrsg.] 1991. Foto mit freundlicher Genehmigung des DGVT-Verlags, Tübingen. Erläuterung siehe oben, Fußnote 1).
fühlen, einerseits den Kontakt zu anderen zu suchen und andererseits zugleich vor diesem Kontakt wiederum ängstlich und verzagt zu sein und ihn nicht richtig genießen zu können. Es fiel ihm schwer, positive Zuwendung wirklich anzunehmen. Und es verunsicherte ihn zutiefst, wenn er Zuwendung, Anerkennung und gar Lob oder Bewunderung erfuhr. Das Ringen mit diesem Problem blieb Carl Rogers bis ins hohe Alter erhalten. Carl hat in vielen autobiographischen Passagen selbst von dieser Einsamkeit als Kind gesprochen, aber in welchem Ausmaß diese religiöse Enge, von der er sich im Alter von etwa 20 Jahren lossagte, sein Leben trotzdem beherrschte, ist mir erst während meiner Arbeit an seiner Biographie deutlich geworden. Carl brachte alle Voraussetzungen für das so genannte „Helfersyndrom“ oder auch für das Phänomen des „burn-out“ mit: hohe Ideale, geringes Selbstwertgefühl, extremes Verantwortungsgefühl und eine große Leistungsbereitschaft, für andere da zu sein. Alles dieses hat ihn in seinem beruflichen und persönlichen Leben wenigstens zweimal an den Rand des Zusammenbruchs geführt. Rogers hat in seinem Leben immer wieder erneut damit gerungen, einen Ausweg aus dieser „Falle“ zu finden. Und er hat stets neue Versuche
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und Anläufe unternommen, als Person zu anderen hindurchzudringen, um diese im Gespräch und in der Begegnung wirklich zu erreichen. Entweder durch seine einzigartige intensive Art des empathischen Zuhörens und Verstehens, die er in den ersten Berufsjahren entwickelt hat (nichtdirektive Phase), oder indem er später verstärkt das Risiko einging, sein eigenes persönliches Erleben mitzuteilen und von sich und seinen Empfindungen und Erfahrungen zu sprechen und zu schreiben (person-zentrierter Ansatz). So ist die von ihm praktizierte Beratung und Psychotherapie immer mehr ein Prozess wechselseitigen Gebens und Nehmens zwischen Klient und Therapeut geworden, in dem der Klient zu sich selbst finden, als Person aus gegenwärtigem Leid auftauchen kann und auf eine reale Person (die des Therapeuten) trifft, die sich in kongruenter Weise für die Entwicklung des Klienten verfügbar macht. Die Zuwendung und Aufmerksamkeit des Beraters gilt vorwiegend der Person des Klienten, die zwar aktuell von Lebenskrisen, Leid und Störungen überwältigt, entmutigt und fast unsichtbar geworden ist, die aber, wenn sie wieder auftauchen kann, immer noch alle Möglichkeiten hat zu wählen, Entscheidungen zu treffen und ihr Leben aktiv und mit persönlicher Befriedigung zu gestalten. Da Rogers’ Leben selbst von diesem kreativen Ringen um Selbstverwirklichung und Authentizität geprägt war, konnte er „seine“ Klienten in dieser Hinsicht auch besonders gut verstehen. Die von ihm entwickelte klient-zentrierte Psychotherapie und der später von ihm propagierte person-zentrierte Ansatz sind Ergebnisse seines persönlichen Ringens um ein Leben in authentischen Beziehungen. Seine persönlichen Fähigkeiten als Zuhörer, Berater und Therapeut waren eindrucksvoll. Es gibt zahllose Berichte, in denen Personen schildern, dass ein Gespräch von einer guten halben Stunde ausgereicht habe, um dramatische positive Veränderungen in ihrem Leben zu bewirken. Rogers war ein perfekter Zuhörer, der zudem die Gabe hatte, ganz unterschiedliche Menschen in ihrem Selbstverständnis so zu berühren, dass sie sich in einem existentiellen Sinne „erkannt“, verstanden und aufgehoben fühlten. Selbst die kurzen „Vorführgespräche“ hatten oft eine „erhebende“ Wirkung: Die Betroffenen fühlten sich in ihrer Beziehung zu sich selbst als bessere Wesen gewürdigt und ermutigt („empowered“). Die Demonstrationsklientin „Gloria“ zum Beispiel, die sich mit ihren Problemen sowohl Carl Rogers als auch Fritz Perls (Gestalttherapie) und Albert Ellis (Rational Emotive Therapie) zu vergleichenden Filmaufnahmen zur Verfügung gestellt hatte, behielt noch lange nach diesem Interview gerade die Begegnung mit Carl Rogers in guter Erinnerung und pflegte noch viele Jahre einen brieflichen Kontakt mit ihm. Ruth Cohn, die Propagandistin des gruppenpädagogischen und gruppentherapeutischen Konzepts der
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„Themenzentrierten Interaktion“ (TZI), beschrieb ihre Erfahrungen als Demonstrationsklientin mit Carl auf dem Jahreskongress des amerikanischen Psychologenverbandes (APA) 1965 mit folgenden Worten: „Carl Rogers beeindruckte mich tief. Er arbeitete ohne Regression, ohne Interpretation, ohne Spiele, ohne Übungen, ohne Gestalttechniken. Er arbeitete mit der Fähigkeit, sich voll auf den anderen zu konzentrieren und sich zugleich in sich selbst zu versenken, um aus der Tiefe heraus den Anderen zu verstehen. Ich habe keinen begabteren Therapeuten kennen gelernt“ (Cohn/Farau 1984, S. 289). Trotzdem ist die Praxis und Theorie seines Beratungs- und Therapiekonzeptes nicht unumstritten. Wie präsent und kontrovers Rogers’ Einfluss selbst in alltäglichen Ausbildungssituationen noch immer ist, will ich an Beispielen aus meinem Erfahrungsfeld aufzeigen: In meinem Siegener Ausbildungsinstitut (akt) wurden 1977 im kleinen Kreis einer Ausbildungsgruppe persönliche Eindrücke zum Konzept der klient-zentrierten Beratung und Therapie und zum Werk von Carl R. Rogers ausgetauscht: Ein Teilnehmer berichtete der Gruppe von den „Aggressionen, die mich nachts überfallen, wenn ich an die Bücher von Carl Rogers denken muss! Allein dieses ewig grinsend-freundliche Gesicht auf dem Foto (Rückseite der beiden Taschenbücher, die 1971 als Standardwerke in Deutschland erschienen waren) bringen mich zur Raserei. Ich kann dieses ewige Getue, das sanfte ‚Rumgefühle‘ und diese ganze Scheinheiligkeit nicht mehr sehen. Er macht mich rasend!“ In der Gruppe herrschte betretendes Schweigen. Auch ich musste zunächst etwas tiefer Luft holen, weil etwas ausgesprochen worden war, was auch ein Teil der übrigen Teilnehmer offensichtlich dachte, aber nicht auszusprechen wagte. Diese hohen Ansprüche an Menschlichkeit, Einfühlung und Verständnis – können diese wirklich realisiert werden? Ist nicht gerade dies schon wieder unmenschlich? Eine andere Teilnehmerin berichtete hingegen: „Carl Rogers hat mir das Leben gerettet!“ Sie hatte im Umfeld ihrer Ehekrise und einer erfolglosen Paartherapie in den 1970er Jahren begonnen, sich für psychologische Bücher zu interessieren. Verzweifelt und mit ihren Kindern alleine stieß sie damals in einer kleinen Buchhandlung zufällig auf das „rote Buch“ von Carl (›Die Kraft des Guten‹). Sie kaufte es und nahm es mit in den Urlaub, den sie mit ihren Kindern zum ersten Mal alleine verbringen wollte. „Ich habe das Buch in der ersten Nacht von Anfang bis Ende durchgelesen und war zwischendrin immer wieder von Tränen ergriffen! – Hier ging jemand davon aus, dass Menschen prinzipiell in Ordnung sind, dass also auch ich in Ordnung bin?! – Ich war persönlich angesprochen von dieser positiven Botschaft. Unter vielen Tränen merkte ich beim Lesen, wie unbedacht ich mit einer Auffassung von mir selbst groß gewor-
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den bin, die besagte, dass ich nichts wert bin. Es steckt ein Teufel in mir! Ich mache alles falsch und es wäre am besten, es gäbe mich nicht! Diese Grundhaltung hatte sich in meinem Leben von Kindesbeinen an eingenistet und war durch die Erfahrung im Familienleben und auch in meiner späteren Beziehung immer wieder neu bestätigt worden. Aber plötzlich, beim Lesen dieses Buches, konnte ich zum ersten Mal aufatmen in meinem Leben! Kein anderes Buch hatte bisher eine solche direkte Auswirkung auf mich und mein Leben gehabt!“ Ein drittes Beispiel: Meine Frau Ariane hatte als Dozentin an einer Zivildienstschule die Aufgabe, mit ihrem Unterricht junge Wehrdienstverweigerer für ihre sozialen Aufgaben vorzubereiten. Nachdem sie über Carl Rogers und sein humanistisches Konzept einer hilfreichen Beziehung gesprochen hatte und praktische Übungen im Zuhören durchführen ließ, erhielt sie prompt eine Anzeige von einem Kursteilnehmer und musste sich in der Bundeszentrale für den Zivildienst in Bonn bei dem damaligen Beauftragten für den Zivildienst, Pfarrer Hinze (der später CDU-Generalsekretär wurde), für ihren Unterricht verantworten. Der Vorwurf lautete, sie verbreite anarchistisches Gedankengut. Der junge Mann, der aus einer streng katholischen Jugendbewegung kam und den Wehrdienst aus religiösen Gründen ablehnte, erläuterte in einer Gegenüberstellung, dass die von Ariane vorgestellte Version von Freiheit nach Rogers für die Menschen gefährlich sei und einen Aspekt von anmaßender Selbsterlösung beinhalte. Er fühle sich von seinem christlichen Gewissen dazu aufgerufen, Ariane „das Handwerk zu legen“.2 Und noch ein letztes Beispiel: Ich hatte 1976–84 an meiner Hochschule ein Ausbildungsprogramm für Diplompädagogen in klient-zentrierter Gesprächsführung aufgebaut und mich – ohne es zu ahnen – damit tüchtig in die Nesseln und zwischen alle Stühle gesetzt. Als Pädagoge stünde mir das nicht zu, so ereiferte sich ein Kollege aus der Psychologie und wollte mir vom Rektor der Universität solche Seminare verbieten lassen, wenn nicht mindestens ein Psychologe daran beteiligt sei! Meine Kollegen vom Fach Pädagogik/Erziehungswissenschaft duldeten diese Veranstaltungen als eine Art privater Zusatzleistungen zum regulären Lehrangebot, schon weil man sich eine solche Bevormundung von den Psychologen nicht bieten lassen wollte. Bezogen auf die Inhalte meinten sie jedoch, dass Rogers’ 2 Glücklicherweise traf Ariane mit Pfarrer Hinze auf einen Vorgesetzten, der als evangelischer Pastor in seinem Studium ebenfalls eine Ausbildung in Gesprächsführung und Beratung nach Carl Rogers absolviert hatte und dadurch die religiös und dogmatisch aufgeheizte Anklage des jungen Mannes richtig einzuschätzen wusste, so dass das Verfahren niedergeschlagen wurde.
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Konzept zu persönlich sei und solche Art der Selbsterfahrung mit Erziehungswissenschaft eigentlich gar nichts zu tun habe. Bei genauerem Hinschauen wird deutlich, das Carl Rogers’ Konzept, dem doch schnell Harmoniesucht und Konfliktvermeidung nachgesagt wird, gerade wegen seiner Werthaltungen Kontroversen und polarisierende Debatten auslöst: Es wird für zu naiv und zugleich für zu anspruchsvoll gehalten, es ist irgendwie zu wenig und verlangt gleichzeitig zu viel, es erscheint der akademischen Welt als ein sehr schlichtes theoretisches Konzept und ist zugleich doch höchst schwierig zu praktizieren. Kurzum, es wirkt auch heute in der institutionellen Landschaft der helfenden Berufe noch immer sperrig und verquer, wenn man seinen Anspruch auf persönliche Authentizität ernst nimmt. Ein Blick in die Biographie von Carl R. Rogers zeigt, dass diese Kontroversen sein ganzes Werk und seinen Lebensweg begleitet haben. Der scheue und zurückhaltende Carl konnte zugleich sehr beharrlich und kämpferisch sein, wenn es darum ging, für seine Einsichten und Erfahrungen einzutreten. Damit meinte er stets auch die Rechte anderer – die Rechte des Einzelnen auf seine Einzigartigkeit und Unabhängigkeit, ganz im Sinne der amerikanischen Verfassung. Die Psychologie als Wissenschaft und die Psychotherapie als eine psychologische Praxis sollten für ihn selbstverständlich durchwoben sein von demokratischen Prinzipien und hohen ethischen Werten, für die er sich streitbar engagierte. Ein so produktives und weltweit einflussreiches Werk wie das seine hätte natürlich nicht ohne seine Talente als zielstrebiger Organisator, als effektiver Debattenredner, als engagierter und überzeugter Motivator und Promotor, als begnadeter Schriftsteller, Lehrer und Missionar zustande kommen können. Erst wenn man das Lebenswerk in seiner ganzen Spanne überblicken kann, werden diese Dimensionen seines Werkes sichtbar. Aber bedeutet nicht eine Biographie über Carl Rogers zu schreiben, Eulen nach Athen zu tragen? Jeder, der sich mit seinen Texten beschäftigt hat, stößt unmittelbar auf die autobiographischen Passagen, die Rogers seit den 1960er Jahren den meisten seiner Bücher vorangestellt hat. Im Kapitel „Das bin ich“ seines Werkes ›Entwicklung der Persönlichkeit‹ (1972) beschreibt er beispielsweise auf 40 Seiten ausführlich und eindringlich die Entwicklung seiner fachlichen Ansichten und seiner persönlichen Philosophie im Zusammenhang mit seiner biographischen Entwicklung seit seiner Kindheit. Aber: Dieses Buch wurde bereits 1960 geschrieben, als Rogers gerade mal 58 Jahre alt war, sein Spätwerk und 27 Jahre seines Lebens bleiben darin zwangsläufig unberücksichtigt. Auch in seinen folgenden Werken findet sich darüber nur wenig. 1977 veröffentlicht er
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„Rückblick. Sechsundvierzig Jahre Carl R. Rogers“ als Einleitungskapitel seines Buches ›Die Person als Mittelpunkt der Wirklichkeit‹ (deutsch: 1980) und reflektiert dort im Alter von 68 Jahren seine berufliche Tätigkeit als Psychologe. Er geht hier deutlicher und klarer auf die Auseinandersetzungen mit der Verhaltenspsychologie und mit der Psychiatrie ein, die er in seinem Berufsleben gesucht hat. Jedoch ist Rogers auch im Alter von 68 Jahren noch sehr umtriebig und hat einen großen Teil (17 Lebensjahre liegen noch vor ihm) seiner vielleicht wichtigsten Erfahrungen und sozialen Experimente noch vor sich. Zum Beispiel seine weltweiten Friedensmissionen, die er erst 1979 in der Zeit nach dem Tod seiner Frau Helen begann. In dem Band ›Der neue Mensch‹, 1980 in den USA erschienen, stellt er ebenfalls biographische Einblicke voran und reflektiert darin vor allem seinen Prozess des Alterns oder, wie er es beschreibt, das „Älterwerden und Wachsen“. Er berichtet darin als inzwischen 75-jähriger Mann über seine körperliche und sexuelle Aktivität und teilt zentrale Lerneinsichten der letzten Jahre mit, so beispielsweise, dass er gelernt hat, für sich selbst zu sorgen, dass seine Aufgeschlossenheit für neue Ideen nicht nachgelassen hat, dass er jetzt endlich offen aussprechen kann, was er schon immer vage empfunden hatte, dass nämlich „mir meine intensive Beschäftigung mit Psychotherapie die Möglichkeit bietet, diese Bedürfnisse nach Intimität vorsichtig zu befriedigen, ohne zu viel von meiner eigenen Person zu riskieren. Ich bin jetzt eher bereit, in anderen Beziehungen Nähe zuzulassen und es zu riskieren, mehr von mir selbst zu geben. Ich fühle mich so, als hätte ich in mir eine neue, ungeahnte tiefe Fähigkeit zur Intimität entdeckt. Diese Fähigkeit hat mir viele Schmerzen eingetragen, aber noch mehr Freude“ (Rogers 1980/1981, S. 50). Aber auch in diesem sehr persönlichen Text findet der Leser wenig über Rogers’ Arbeit der letzten Jahre. Howard Kirschenbaum hat 1979 eine von Rogers autorisierte Biographie vorgelegt. Rogers war zu diesem Zeitpunkt 77 Jahre alt. 1995, also acht Jahre nach Rogers’ Tod, wurde diese Biographie erweitert und modifiziert. Zwar umfasst sie seine komplette Lebensspanne, basiert dabei jedoch im Wesentlichen auf den Angaben von Carl Rogers selbst und auf Interviews, die Kirschenbaum mit ihm durchgeführt hatte. So finden sich hier vorwiegend nur solche Geschichten, die Rogers bereits vorher von sich selbst erzählt hatte. Seine Friedensarbeit von 1980–86 wird nicht behandelt. 1992 hatte Brian Thorne in London ein Buch über Rogers’ Leben und Werk vorgelegt. Darin werden der Biographie allerdings nur etwa 20 Seiten gewidmet. Den übrigen Text verwendet Thorne darauf, die Theorien darzustellen, auf Kritiker einzugehen und den weltumspannenden Ein-
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fluss von Rogers’ Therapiekonzept zu umreißen. In der Arbeit wird Carl Rogers allerdings nur als der Psychologe und Psychotherapieforscher vorgestellt. Wenngleich er das gewiss auch war, so bezeichnet dies aber nur einen Zeitraum von etwa 25–30 Jahren in einem Leben von 85 Jahren. Sein Alterswerk, sein Engagement in der Pädagogik, seine Aktivitäten in der Alternativbewegung der 1960er, 1970er und 1980er Jahre und seine weltweiten Friedensaktivitäten finden auch hier keine angemessene Berücksichtigung. David Cohen veröffentlichte 1997, ebenfalls in England, eine „kritische“ Biographie, der das Verdienst zukommt, sich nicht nur auf Rogers’ Erzählungen zu stützen, sondern selbst ausgiebig an verschiedenen Orten in Rogers’ persönlichem Nachlass recherchiert zu haben. Diese Arbeit macht Carl Rogers als Person mit Ecken und Kanten und auch mit Schwächen und Fehlern sehr konkret sichtbar. Aber leider wurde diese im Einzelnen sehr fleißige Arbeit allzu sehr von einem sensationslüsternen Standpunkt aus geschrieben. Der Autor erweckt den Eindruck, als wollte er unbedingt etwas aufdecken, frei nach dem Motto: „Fritz Perls, der Erfinder der Gestalttherapie, hat mit seinen Patientinnen geschlafen, Carl Gustav Jung hat mit dem Faschismus geflirtet, Jean-Paul Sartre hat junge Frauen ausgenutzt und war biestig zu Simone de Beauvoir, Bruno Bettelheim, der große Kinderpsychologe, war brutal zu Kindern – mal sehen, was wir bei Carl Rogers finden können“ (Cohen 1997, S. 18). So verliert denn die biographische Detailarbeit von Cohen an Glaubwürdigkeit, und es bleibt der Verdacht, dass er seine Recherchen in den persönlichen Unterlagen von Carl Rogers nur benutzte, um das Klischee von „dem Psychologen“ zu bedienen, der von dem, was er predigt, selbst meilenweit entfernt ist. Als jüngster Text über das Leben und Werk von Carl Rogers wurde von Reinhold Stipsits 1999 eine sehr umfangreiche und ausführliche Arbeit mit dem Titel ›Gegenlicht. Studien zum Werk von Carl R. Rogers‹ vorgelegt. Diese materialreiche Darstellung ist als akademische Habilitationsschrift verfasst und leidet, so eindrucksvoll und kenntnisreich sie auch ist, zugleich an diesem Umstand. Der nicht mit den akademischen Sprachund Reflexionsspielen vertraute Leser wird das Buch vermutlich relativ bald wieder aus den Händen legen, weil der Verfasser seiner gelehrten Prüfungskommission offensichtlich nicht einfach eine biographische Erzählung vorlegen durfte, ohne den Nachweis zu führen, dass er mit allen akademischen Diskursen des postmodernen Wissenschaftsbetriebs vertraut ist. Ein zusammenhängender biographischer Überblick über Rogers’ Leben und Werk ist aus dieser anspruchsvollen Studie deshalb nur schwer zu rekonstruieren.
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Aufgrund der beschriebenen Literaturlage schien es mir sehr sinnvoll zu sein, eine zusammenhängende Biographie von Carl Rogers für einen deutschsprachigen Leserkreis zu schreiben, und zu versuchen, seinen Lebensweg und sein bemerkenswertes Werk auch in dem Kontext zu zeigen, in dem es sozialgeschichtlich entstanden ist.
Kindheit und Jugend in Chicago: 1902–1919 Die Familie Walter und Julia Rogers Carl Ransom Rogers wurde am 8. Januar 1902 als viertes von sechs Kindern in Oak Park, Illinois, einem noblen Vorort von Chicago, geboren. Oak Park hatte um die Jahrhundertwende ungefähr 10 000 Einwohner. Hier wohnten viele wohlhabende Familien, die nach dem verheerenden Feuer, das Chicago 1871 heimgesucht hatte, in die Vorstadt übergesiedelt waren. Ernest Hemingway, der etwa zur selben Zeit wie Carl Rogers dort aufwuchs, beschrieb die Vorstadt als einen Ort von „weiten Park- und Rasenanlagen und engem Geist“. In Oak Park gab es, wie sicherlich auch im restlichen Teil der christlichen Welt Amerikas, verschiedene religiöse Gemeinschaften, Freikirchen und Sekten, die untereinander rivalisierten. Jede versuchte, von oben auf die anderen herabzuschauen und diese mit religiösem Eifer in einer christlichen Lebensführung zu übertreffen. Die Rogers waren Mitglieder in einer freien protestantischen Gemeinde (Congregational Church)3, die, wie viele dieser Gemeinden, keine zentrale und übergeordnete Aufsichtsorganisation (im Sinne einer Amtskirche) duldete. Die Lebensführung der Familie wurde durch eine strenge Variante des calvinistischen Glaubens bestimmt, den die Siedler in der Pionierzeit nach Amerika gebracht hatten. Insbesondere Mutter Julia sorgte wesentlich dafür, dass diese christlichen Standards in der Familie hochgehalten wurden. Vater Walter Alexander hatte an der Universität von Wisconsin ein Ingenieurstudium abgeschlossen und war, als Carl zur Welt kam, bereits ein erfolgreicher Geschäftsmann im Bereich des Straßen- und Brückenbaus. Er konnte der Familie ein wohlhabendes Zuhause einrichten. Ohnehin waren die Rogers trotz oder in gewissem Sinne auch gerade wegen ihres
3 Im Juli 1620 erhalten die von England in die Niederlande geflohenen Separatisten, die später „Pilgerväter“ genannt wurden, von der Virginia-Kompanie durch den Eisenhändler Thomas Westen das Angebot, in Virginia zu siedeln. Die Pilgerväter werden Separatisten genannt, da sie die Liturgie der anglikanischen Kirche Englands ablehnen; sie gelten als Kongregationalisten. Ihre Lehre basiert auf dem Calvinismus (Schomaekers 1983, S.13).
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Glaubens dem technologischen Fortschritt der modernen Zeit gegenüber durchaus aufgeschlossen. Auch Mutter Julia besaß eine höhere Schulbildung und hatte ebenfalls zwei Jahre die Universität besucht. Ellen Key hatte zu dieser Zeit in Europa gerade das „Jahrhundert des Kindes“ ausgerufen. Auch in Nordamerika waren in allen Bereichen Auswirkungen einer Lebensreformbewegung zu spüren, die sich kritisch gegen die sozialen Folgen der Industrialisierung und der allgemeinen „Entwurzelung“ der Menschen richtete. Ein „Ast“ dieser Bewegung war die „progressive education“. Sie hatte im Amerika des frühen 20. Jahrhunderts viele Anhänger gerade in der gut ausgebildeten bürgerlichen Mittelschicht, die sich zunehmend Gedanken über die gesellschaftlichen Verhältnisse und über die richtige Erziehung ihrer Kinder machten. Unter engagierten Pädagogen und pädagogisch engagierten Eltern vollzog sich im Erziehungsdenken eine „kopernikanische Wende“, wie Herman Nohl dies genannt hatte. Das Verhältnis von Eltern und Kindern, wie auch das von Lehrern und den ihnen anvertrauten Schülern, sollte umgekehrt werden. Die Erwachsenen sollten für die Kinder da sein, deren Entwicklung und Anlagen fördern und nicht umgekehrt von den Kindern fordern, dass sie sich in die Anschauungen und Auffassungen der Erwachsenen einzufügen haben. Die kind-zentrierte Pädagogik kritisierte, dass die traditionelle Erziehung in der zurückliegenden Zeit die unendlichen kreativen Potentiale, die Kinder immer wieder neu mit zur Welt bringen, sträflich missachtet und in blinden Anpassungs- und Dressurprozessen in den Institutionen der Gesellschaft erstickt habe. Die lebensfremde und obrigkeitsstaatliche Buch- und Paukschule war für sie eine solche Institution. Kinder sollten nach der modernen Pädagogik ohne Angst, frei und selbstbestimmt in einer „guten“ und pädagogisch wohl geordneten Umwelt aufwachsen. Am besten in freier Natur, abgeschieden von den Versuchungen und Verlockungen des modernen Großstadtlebens, sollten sie in einer klug geregelten „pädagogischen Provinz“ leben und aufwachsen, ganz so wie es Rousseau schon vor der Französischen Revolution für seine Romanfigur „Emile“ gefordert hatte. Auf ihrem Lehrplan sollte zur Vorbereitung auf das Leben nicht mehr totes Schulbuchwissen stehen, sondern die Kinder sollten an den wirklichen Herausforderungen des „natürlichen“ und sozialen Lebens lernen und in der Bewährung an wirklichen Aufgaben und Herausforderungen die Kräfte sammeln, aus denen sie dann ihre eigenen Persönlichkeiten entwickeln konnten. Das beginnende Jahrhundert des Kindes hatte vielversprechend angefangen: Sigmund Freud hatte als Mediziner mit seiner Psychoanalyse die Öffentlichkeit mit einer neuen Auffassung vom Menschen überrascht.
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Dieser sei primär ein triebbestimmtes Wesen und von Erlebnissen und Ereignissen seiner frühen Kindheit viel stärker bestimmt, als ihm bewusst sei. Seine Auffassung von der überragenden Kraft der Libido und dem Einfluss sexueller Impulse auch auf das Leben des Kindes hatte Freud bereits 1905 in seinen drei Abhandlungen zur Sexualtheorie veröffentlicht und in der Anwendung dieser Konzepte 1909 eine erste Kindertherapie durchgeführt. Er konnte den fünfjährigen kleinen Hans, in Zusammenarbeit mit dessen Vater als Co-Therapeut, unter Zuhilfenahme seiner sexualtheoretischen Konzepte von einer Pferdephobie befreien. Maria Montessori hatte im Januar 1907 ihr erstes Kinderhaus in Rom eröffnet, nachdem es ihr zuvor schon mit ihrer Methode gelungen war, geistesschwache, so genannte „Idioten“-Kinder zum Lesen und Schreiben zu führen, und diese in vergleichenden Prüfungen nicht schlechter abgeschnitten hatten als „normale“ Kinder. Kurzum: Die Vertreter einer neuen Medizin, einer modernen Pädagogik und der jungen Psychologie machten sich daran, die konkreten Entwicklungsbedingungen des Menschen zu erforschen und Lebens- und Erziehungskonzepte zu entwickeln, die sich zu den traditionellen und vorwiegend religiös geprägten Lebens- und Erziehungsvorstellungen der Jahrhunderte zuvor in eine deutliche Opposition brachten. So begann das „Jahrhundert des Kindes“ in religiöser, pädagogischer und psychologischer Hinsicht mit Kämpfen und polarisierenden Geburtswehen zwischen Traditionalisten und Erneuerern. Der allgemeine technologische Fortschritt und in dessen Gefolge der soziale Wandel rissen eine tiefe Kluft in das Alltagsleben vieler Menschen. Die Familie Walter und Julia Rogers lebte als relativ wohlhabende und gut gebildete Mittelschichtfamilie genau in diesem Spannungsfeld von technologisch-wissenschaftlicher Erneuerung und wirtschaftlichem Gewinnstreben einerseits und dogmatischem Festhalten an überkommenen religiösen Prinzipien der Lebensführung und Erziehung andererseits. Sie lebte vom Fortschritt der Zeit und war doch in den traditionellen Wertvorstellungen eines konservativen Protestantismus aus der frühen Zeit der amerikanischen Siedlerbewegung zu Hause. Die Wurzeln der Familie Rogers ließen sich bis weit in das 17. Jahrhundert zurückverfolgen, als europäische Auswanderer den Atlantik überquerten, um in Amerika eine neue Heimat zu finden. In amerikanischen Schriften über Rogers wird sehr gerne mit nationalem Stolz betont, dass es Carl Rogers als einem „echten Amerikaner aus dem mittleren Westen der USA“ gelungen sei, das Bild der noch jungen Wissenschaft der Psychologie und Psychotherapie nachhaltig mitzugestalten, das bis dahin doch weitgehend in Europa und von europäischen Einwanderern geprägt wurde. Der Abenteurer- und Pioniergeist
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Mutter Julia Rogers und Vater Walter Rogers (aus: Familienchronik der Familie Rogers. Fotos mit freundlicher Genehmigung der Library of Congress, Washington D.C.).
der Siedler, die sich in der „Wildnis“ behaupten lernten, und der strenge und missionarische Protestantismus, gepaart mit einem vom Überlebenskampf geprägten Pragmatismus, waren gewiss ein wichtiger Teil seines Familienerbes. Viele der Pioniere hatten als Protestanten Europa aus Glaubensgründen verlassen müssen und waren als Siedler und Eroberer auf ihrem Weg westwärts in die „Neue Welt“ Amerikas gekommen, um ihren Glauben hier endlich frei leben und verbreiten zu können. In dieser Hinsicht unterschieden sich die Entwicklungen in der „Neuen Welt“ deutlich von den Verhältnissen und Strukturen der „Alten Welt“. Die politische Ordnung, die sich die Siedler in der Neuen Welt gegeben hatten, entwickelte sich streng individualistisch, sozusagen von unten, und im rauhen Kampf ums Überleben. Kennzeichnend war und ist bis heute eine deutliche Abstinenz vom Staat, eine pragmatische Orientierung an den Prinzipien von Selbstverantwortung, von Angebot und Nachfrage und eine nur minimale Regelung sozialer Fragen durch die öffentliche Hand. Deshalb reichen die Wurzeln der progressiven Erziehungsbewegung in Amerika inhaltlich zum Teil in eine andere Mentalitätsgeschichte zurück als in Europa. Die Freiheit der Religionsausübung spielt im Streben nach Glück und im amerikanischen Demokratieverständnis eine große Rolle.
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Der deutsche Soziologe Max Weber hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit seiner Studie ›Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus‹, die im Geburtsjahr von Carl Rogers 1902 erschien, auf Zusammenhänge hingewiesen, die zwischen kapitalistisch-unternehmerischer Unrast einerseits und protestantischer Tugendhaftigkeit und Strebsamkeit (protestantische Pflichtethik) andererseits zu finden sind. Speziell für die calvinistische Variante des Protestantismus galt seiner Meinung nach, dass wirtschaftlicher Erfolg und ein frommes Leben nicht in einem Widerspruch zu sehen sind, sondern dass umgekehrt der wirtschaftliche Erfolg des arbeitsamen und tugendhaften Christenmenschen durchaus auch als Zeichen dafür angesehen werden kann, dass dieser zu den von Gott „Auserwählten“ gehört, der der ewigen Verdammnis des Sünders entkommen ist. Entsprechend hatte das Klima innerhalb der Familie Walter und Julia Rogers, bei aller Offenheit für Technik und wissenschaftlichen Fortschritt, zugleich auch etwas von der Stimmung in einer Wagenburg aus der Pionierzeit: Man fühlte sich umzingelt von Feinden, Fremden und von unreligiösen Verlockungen und Versuchungen des Vorstadtlebens. Man musste zusammenhalten, und jedermann in dieser auserwählten „Pionierfamilie“ musste sich anstrengen und aufpassen, dass die hohen Standards einer christlich-tugendhaften Lebensführung eingehalten wurden. Das bedeutete konkret: viel Arbeit, keine Freizeit, kein Müßiggang, keine „Laster“ und stets ein Vorbild für die anderen sein. Carl Rogers selbst beschrieb sein Zuhause als einen Ort, der von einer engen Familienbindung gekennzeichnet war und der bestimmt wurde durch eine strenge und kompromisslos-religiöse und moralisierende Atmosphäre (Rogers 1961: 6). „Gehet aus ihrer Mitte und sondert euch ab!“ – so lautete eines der beliebtesten Bibelzitate von Mutter Julia, mit dem sie die Kinder den weltlichen Versuchungen des Vorstadtlebens zu entziehen suchte. Ein Zweites „All our righteousness is as filthy rags in Thy sight, o Lord!“ machte Carl immer deutlich, dass er zwar zu den Auserwählten gehörte, aber trotzdem durch und durch ein sündiger und nichtswürdiger Mensch sei (Kirschenbaum 1995:1). Zweifellos wurde er geliebt, aber die fast exzessive religiöse Sorge der Eltern um das Wohlergehen ihrer Kinder wurde von einer subtilen und liebevollen Kontrolle begleitet, die auch darauf abzielte, einen selbstsüchtigen Eigenwillen frühzeitig zu unterwerfen. Im Hause Rogers herrschte eine protestantische Pflichtethik. Es war selbstverständlich, dass die Familie anders war als andere, und sie führten ihr Leben unter dem hohen Anspruch, dass sie „von Gott auserwählt“ waren. Alkohol war tabu, ebenso Tanzen oder der Besuch eines Theaters. Es gab keine Kartenspiele, und so
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ziemlich jede Art gesellschaftlicher Unterhaltung und Zerstreuung war verboten. Kein Mensch war gut genug, und alle mussten sich gewaltig anstrengen und rivalisierten untereinander. „Es fällt mir schwer, meine Kinder davon zu überzeugen, dass sogar kohlensäurehaltige Getränke einen leicht sündigen Beigeschmack hatten; und ich erinnere mich an das leichte Gefühl der Verworfenheit, als ich meine erste Flasche ,Limo‘ trank“, schreibt Rogers in einem autobiographischen Rückblick auf seine Erziehung (Rogers 1961/1976, S.21). Carls Selbstwertgefühl war eher negativ entwickelt und besetzt von hohen Idealen und Ansprüchen an sich selbst. All dieses wurde zusammengehalten von einer stetigen Abwertung anderer. Die eine Kirchengemeinde lebte von der Abwertung der anderen, die eigene Familie im Kontrast zu den anderen, und schließlich herrschte dieser bewertende, kontrollierende und abwertende Ton auch innerhalb der Familie. Andauernde „Sticheleien“ bestimmten das Klima unter den Geschwistern und zwischen den Eltern und Kindern. „Jeder meckerte an dir herum und du meckertest an jedem herum“, so beschrieb Carl später die familiäre Situation seiner Kindertage in einem Interview mit Wesley Westmann und begründete damit, dass er als Kind sich am liebsten aus diesen nervigen Situationen zurückzog und lesend in seine Abenteuerliteratur (James Fenimore Cooper oder Jean Stratton-Porter) flüchtete (Kirschenbaum 1995: 2). Sein Vater Walter wurde 1868, ebenfalls im Januar, als Sohn eines Bahnschaffners geboren. Er war während seines Ingenieurstudiums an der Universität von Wisconsin Vorsitzender des örtlichen Christlichen Vereins Junger Männer (YMCA) gewesen. Als 20-Jähriger hatte er mit hervorragenden Noten in Mathematik graduiert und war ein weiteres Jahr an der Universität geblieben, um sich im Bereich der angewandten Forschung im Betonbau zu spezialisieren. Für die Wisconsin-Bahngesellschaft baute er später Brücken und machte sich dann mit einer eigenen Firma selbständig. Seine Frau Julia kannte er aus seinen Kindertagen. Sie heirateten 1891, nachdem Julia ihr Studium am College absolviert hatte. Ihre ehrgeizigen Ambitionen konzentrierten sich anschließend darauf, den Haushalt zu führen und das Familienleben zu gestalten. Die Familie betete regelmäßig zu allen Mahlzeiten, Tischgebete um die Gnade Gottes und der Segen wurden zelebriert, die Familie besuchte den Gottesdienst sonntags regelmäßig. Es ist vor allem Carl, der in diesem Familienleben Verständnis, persönliche Nähe und Zuneigung schmerzlich vermisst. Seine Geschwister erleben Mutter und Vater durchaus anders als er und konnten sich an Situationen erinnern, die sie als liebevoll bezeichneten, so z. B. wie die Mutter
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bei Carls Schwester am Bett sitzt, als diese Alpträume hatte, und wie sie mit ihr Lieder aus dem Gottesdienst singt.
Carls Kindheit in Oak Park Als Carl 1902 geboren wurde, gab es bereits den dreijährigen Bruder Ross, die fünfjährige Schwester Julia und den neunjährigen Bruder Lester. Vater Walter hatte sich kurz zuvor mit einem Kollegen selbstständig gemacht und die „Bates & Rogers Construction Company“ gegründet. Beide Firmeneigener hatten gute Kontakte zu Industrie, Handel und Technologie. Walter schrieb Aufsätze für einschlägige ingenieurwissenschaftliche Fachzeitschriften und die Geschäfte gingen gut. Walter Rogers konnte seiner Familie ein finanziell angenehmes und gesichertes Leben bieten. Mutter Julia tat das ihre, um das Familienleben und die Erziehung der Kinder in ehrfürchtige und gottgefällige Bahnen zu lenken. In den Kindertagen war Carls Gesundheit schlecht, und in der ansonsten „robusten“ Familie galt er als kränklich und leicht übersensibel, zumal er dazu neigte, gleich in Tränen auszubrechen. „Du wirst jung sterben!“, so wurde ihm vorausgesagt, und in den letzten Jahren seines Leben, immer noch sehr rüstig und weltweit in missionarischen Aktivitäten unterwegs, bereitete es ihm augenscheinlich eine große Genugtuung, auf diese Prophezeiung zurückzukommen und dieser nun seine eigene Bedeutung zu geben: Er werde in der Tat jung sterben. Selbst als 82-jähriger Mann, im Angesicht des näher rückenden Todes, fühle er sich jung und aktiv. Obwohl oder vielleicht auch gerade weil Carl in seinen jungen Jahren kränklich und nervös war, zeigte er sich intellektuell begabt und früh an allem interessiert, was mit Lesen und Schreiben zu tun hatte. Die Eltern waren stolz darauf, dass Carl bereits im Alter von vier Jahren Geschichten aus der Kinderbibel vorlesen konnte und die Texte verstand. Als er zur Schule kam und der Lehrer feststellte, dass Carl bereits lesen konnte, schlug er vor, ihn direkt in die zweite Klasse zu geben. So entging er einem etwas finster erscheinenden Lehrer und kam direkt in die zweite Klasse zu Miss Littler, einer freundlichen Lehrerin, in die er sich sofort „verliebte“. Ihr zuliebe brach er dann auch erstmals den Gehorsam gegenüber den strengen Regeln seiner Mutter. Er musste immer sofort nach Hause kommen, wenn die Schule zu Ende war: „Keine Spiele und kein Geschwätz mit den anderen Kindern“, so lauteten Julias strenge Anweisungen. Trotzdem half er Miss Littler nach dem Unterricht noch lange beim Aufräumen (Cohen 1997: 25). Er sprach später oft von sich selbst als einem einsamen Kind, das wenig
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Gelegenheiten hatte, Freunde außerhalb der Familie zu finden, und deshalb Trost in Büchern suchte. In jeder freien Minute, die Mutters strenge Tagesplanung zuließ, las er und ertrug dafür auch die Meckereien der Eltern: „Da bist du ja schon wieder und hast die Nase im Buch!“ Insgesamt tolerierten sie seine Leseleidenschaft allerdings. Dennoch beschwert sich Carl in vielen autobiographischen Hinweisen darüber, dass er als Kind gnadenlos diesen ewigen Hänseleien in der Familie ausgesetzt war und sieht dies als Grund dafür, dass er sich oft aus dem Kontakt mit den anderen Familienmitgliedern zurückgezogen hat. Diese nannten den kränklichen und vergesslichen, ewig abwesenden und zurückgezogenen Carl gerne nach einer Zeichenfigur aus der damaligen Zeit: „Professor Moony“. Carl war, angetrieben von den vielen strengen Regeln in seiner Familie, sicherlich etwas zerstreut. Deshalb bemühte er sich ganz besonders, alles richtig zu machen und versuchte sein Gedächtnis dadurch zu unterstützten, dass er alles aufschrieb. Er machte sich unzählige Notizen von allem und jedem, um sicher zu sein, dass er nichts vergaß. Für seine Eltern und Geschwister zeigte Carl viele Anzeichen eines „Problemkindes“. Auch das Verhältnis zu seinen Geschwistern war kompliziert. Der älteste Bruder Lester war neun Jahre älter und zu „weit weg“ für Carls kindliches Interesse an Abenteuerspielen. Ross, drei Jahre älter, war für Carl ein heftiger Konkurrent beim Ringen um die Zuneigung der anderen. Carl glaubte, dass seine Eltern seinen Bruder Ross mehr lieben würden als ihn, und er entwickelte sogar die Vorstellung, dass er ein Adoptivkind sei, jedenfalls nicht das Kind dieser Eltern. Er wagte es aber nicht, seinen Eltern eine klärende Frage zu stellen, und blieb so mit diesen Phantasien und negativen Gefühlen allein. Vielleicht waren diese auch durch die Geburt seiner Brüder Walter (1907) und John (1908) ausgelöst worden, die Carl im Alter von 5 Jahren aus der Rolle des Jüngsten verdrängten – vielleicht wurden seine Phantasien auch durch die frühe Lektüre seiner Abenteuerromane verfestigt. Wie dem auch sei, Carl blieb für den Rest seiner Lebens ängstlich und scheu und tat sich schwer, unangenehme Gefühle zu äußern und anderen mitzuteilen. Als er selbst Vater war, so erinnert sich sein Sohn David, erwartete er von seinen Kindern, dass sie negative Gefühle mit sich selbst ausmachen sollten. Sie durften erst dann wieder aus dem Kinderzimmer kommen, wenn sie sich wieder im Griff hatten (Cohen 1997: 26). In der Schule schien sich Carl wohl zu fühlen, die schulischen Anforderungen bereiteten ihm keine Probleme. Aber die soziale Kluft zwischen ihm und seinen Mitschülern war groß, nicht zuletzt auch, weil Carl ihnen im Lesen um Jahre voraus war. Dass er gleich nach der Schule nach Hause kommen musste, vergrößerte diese Kluft, die von den Eltern letztlich auch gewollt war. Die Rogers spielen nicht nutzlos herum, so der Familien-
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kodex, sie trinken nicht, rauchen nicht, spielen nicht mit Karten, gehen nicht ins Theater und sie zeigen kein Interesse an anderen Menschen und schon gar nicht an denen des anderen Geschlechts. Sexualität und körperliche Sinnlichkeit waren in diesen protestantischen Pioniersfamilien tabu. Carl berichtet in seinen autobiographischen Schriften später, dass sich ab dem 12. Lebensjahr sein Interesse an Sexualität entwickelte – aber wie sollte er in dieser „engen“ Umgebung damit umgehen? Als Carl in der Grundschule ein Mädchen kennen lernte, Helen Elliott, nahm er für den Schulweg ihretwegen das Fahrrad, um so trotz einiger Minuten gemeinsamen Schulwegs pünktlich zu Hause sein zu können. Bereits in diesen frühen Jahren zeichneten sich die Umrisse eines einsamen, unsicheren, eingeengten, aber intelligenten Kindes deutlich ab, dessen Bedürfnisse nach persönlicher Nähe und Geselligkeit weitgehend unbefriedigt blieben. In eigenen Berichten sieht Rogers hierin eine Wurzel für sein Motiv, später als Berater und Psychotherapeut zu arbeiten, um in diesem Rahmen die unerfüllten Bedürfnisse nach Nähe und authentischem Kontakt in einem kontrollierten Rahmen erleben zu können.
Leben in einer religiösen pädagogischen Provinz Als Sechsjähriger hatte Carl die Verantwortung für den Hühnerstall hinter dem Hof zu tragen; er fütterte und versorgte die Hühner und verkaufte die Eier an die Nachbarschaft. Ernsthaft mit Pflichten und Verantwortungen in Anspruch genommen zu werden war Ausfluss des religiösen Glaubens seiner Eltern, der von ihnen mit viel Aufmerksamkeit und Anstrengung in der alltäglichen Erziehungspraxis umgesetzt wurde. Die Geschäfte in Vaters Firma entwickelten sich hervorragend. Walter Rogers war viel unterwegs, weil die Firma versuchte, nun auch Aufträge weiter im Norden zu bewältigen. Durch die Abwesenheit des Vaters entwickelte sich die Familie zu Hause unter Mutter Julias Führung immer stärker in religiös-fundamentalistischer Richtung.4 Sie kultivierte die Wa4 Diese Herkunft aus einer fundamentalistischen christlichen Familie teilte Carl Rogers mit anderen berühmten Psychologen seiner Generation, ebenfalls das daraus entspringende opponierende Motiv. So ist von Burrhus F. Skinner dessen Opposition zu seiner religiösen Herkunft bekannt. Auch J. B. Watson hatte eine ähnliche Biographie: Er war von einer fanatischen baptistischen Mutter großgezogen worden. Auch McClelland, der berühmte Harvard-Psychologe, rebellierte als Jugendlicher gegen die Kirche und verdankt seine Studienwahl ähnlichen Motiven (Cohen 1977).
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genburgmentalität: „Wir sind die Auserwählten!“, „Wir halten die Gebote ein!“, „Wir führen ein vorbildliches und gottgefälliges Leben!“, „Wir bekämpfen die und widerstehen den Sünden dieser Welt!“. So etwa muss das Selbstverständnis der Familie Julia Rogers gelautet haben, mit dem sie Kurs gegen die unchristliche Welt „da draußen“ zu halten suchte. Die ersten offenen Konflikte mit den Eltern entwickelten sich über die Bücher, die Carl lesen wollte. Im Alter von acht Jahren interessierten ihn die Geschichten aus der Kinderbibel nicht mehr. Er war von Western- und Kriegsgeschichten fasziniert, von Abenteuergeschichten, von Cowboys und Indianern und ähnlich „sündigem“ Lesestoff. Walter und Julia versuchten ihn mit allen pädagogischen und religiösen Mitteln davon fern zu halten: Vergeblich! Carl schnappte sich die jeweils jüngste Ausgabe von „Billy the Kid“ und verschwand damit in seine Phantasiewelten. Streitereien dieser Art nahmen in den letzten Jahren, in denen die Familie in Oak Park wohnte, zu. Am Wochenende, wenn Vater Walter zu Hause war, fuhr die Familie aufs Land zur etwa 30 km entfernten Farm bei Wheaton, die der Vater 1911 gekauft hatte, um vier Jahre später den Wohnsitz der Familie ganz dorthin zu verlegen. Rückblickend sah Rogers zwei Motive seiner Eltern für diesen Umzug. Zum einen wollte Vater Walter, nicht nur ein ambitionierter Ingenieur, sondern inzwischen ein erfolgreicher Geschäftsmann, als Ausgleich zu seinen geschäftlichen Reisetätigkeiten Hobbyfarmer werden. Zum anderen spielte für die Umsiedelung der Familie der Wunsch beider Eltern eine wichtige Rolle, die heranwachsenden Kinder während der Pubertätszeit von den sündigen Versuchungen der Großstadt fern zu halten (Rogers 1961/1976, S. 6). Als „Fahrschüler“ setzte sich für Carl die soziale Isolation von seinen gleichaltrigen Mitschülern auch während des Besuchs der höheren Schule fort. Auch verlor er den Kontakt zu seiner Schulfreundin Helen. Er konnte nun nur mit seinen beiden jüngeren Brüdern spielen. In seinen späteren autobiographischen Berichten über seine Partnerschaft und Ehe mit Helen schreibt er rückblickend: „Als ich dreizehn war, zogen wir fort, und ich kann mich nicht erinnern, dass mich die Trennung von ihr geschmerzt hätte. Wir schrieben uns auch nicht“ (Rogers 1972/1975, S.27). In vielerlei Hinsicht wurde ihm mit diesem Umzug der Boden zu den „peers“ unter den Füßen weggezogen. Er musste nun zwei Stunden täglich mit der Bahn zur Schule fahren und sollte nach wie vor unverzüglich nach Schulende nach Hause kommen, um auf der Farm seine Pflichten zu erledigen. Carl stellte später mit Bedauern fest, dass er während seiner gesamten Schulzeit nur zwei Verabredungen mit Mädchen hatte. Stattdessen musste er ein hartes Arbeitsprogramm absolvieren. Seine
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Aufgabe war es, früh morgens um fünf Uhr etwa zwölf Kühe zu melken, was dazu führte, dass er in der Schule oft „eingeschlafene“ Arme hatte, die, wie er berichtete, „immer lästig prickelten“. Carl musste auch die Schweine versorgen und sich um den Traktor kümmern bzw. diesen in Stand halten. Von seinem Vater hatte er ein Getreidefeld am Ende der Ranch für eigene Projekte und Experimente zugewiesen bekommen. Als Kind und erst recht als heranwachsender Jüngling erlebte Carl diese täglichen Mühen als Zeichen dafür, dass er von seinen Eltern nicht geliebt wurde. So wurde sein Verhältnis zu beiden zunehmend schwieriger, und er zog sich immer weiter in seine Fantasiewelten und in die Welt der Abenteuerbücher zurück. Eine Zeitung, die er als Elfjähriger produzierte, mag etwas Auskunft darüber geben, was ihn in seiner Innenwelt beschäftigte: Die „Chickville News“, die er als Kind gemalt und geschrieben hatte, berichtet mit einem grausamen Titelbild und spöttischen Titelüberschriften von dem, was Carl im Hühnerstall erlebte: Ein Mann mit einer Axt in der Hand köpft gerade ein Huhn, Hennen wollen aus dem Käfig flüchten und ein schwarzer Hahn sitzt im Arrest u. Ä. Die Wirkung, die diese Zeitung in der Familie hatte, ist unbekannt. Aber die Eltern müssen schon vage gespürt haben, dass mit Carl irgendetwas nicht stimmt: „Carl entwickelte sich nicht genau so gut wie Lester, Ross und Margret. Lester war ein Bilderbuchsohn und hatte seine Berufsentscheidung zum Ingenieur schon getroffen, Ross war erfolgreich in der Schule, Margret pflichtbewusst und anpassungsfähig. Aber Carl war ein Problem“ (Cohen 1997:29). So beschlossen die Eltern, Carl aus seinen Träumereien herauszuholen und unternahmen den Versuch, das Verhältnis zum Vater zu verbessern. Walter Rogers nahm Carl auf eine dreiwöchige Geschäftsreise mit. Carl wurde dazu mit viel Aufwand vom Schulbesuch befreit und musste über diese Reise einen Bericht schreiben, der heute, zusammen mit der Ausgabe der „Chickville Times“, in seinem Nachlass zu finden ist. Danach nahmen Vater und Sohn am 10. Dezember 1914 den Zug nach New Orleans, und Carl hielt minutiös und pflichtbewusst alle Stationen der Reise genau fest; auch was er unterwegs sehen und lernen konnte. Die Kriegsschiffe im Hafen von New Orleans müssen ihn sehr beeindruckt haben, ebenso ein frühmorgendlicher Spaziergang an den Dünen von Virginia oder auf wie viele verschiedenen Arten in Billups Restaurant in Norfolk Austern zubereitet wurden. Schließlich waren Vater und Sohn in diesen drei Wochen durch 16 Staaten gereist und hatten gemeinsam etwa 3200 Meilen zurückgelegt. Der Ertrag der Reise für die Beziehung zwischen dem zwölfjährigen Carl und Vater Walter war jedoch gleich null. Carl blieb in den Augen der Familie das „Problemkind“, das er zuvor bereits war (Cohen 1997:30).
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Naturwissenschaftliche Studien Es waren andere Wege, auf denen Carl in die Gemeinschaft und in die Realität zurückfand: Das Leben auf der Farm ermöglichte ihm, eigenständig Interessen zu entwickeln, die auch in seinem späteren Berufsleben wichtig wurden. In dieser von den Eltern eingerichteten pädagogischen Provinz war der einsame und eher introvertierte jugendliche Carl, angeregt durch ein Fachbuch, fasziniert von der ihn umgebenden Natur, die er zu studieren begann. Wie dies in vielen Lebensläufen von einsamen Kindern zu finden ist, so verstand auch Carl sich mit der Natur besser als mit den Menschen. Er beobachtete und sammelte große Nachtfalter, die in den nahe liegenden Wäldern der Farm heimisch waren und entwickelte sich zu einem Experten für diese exotischen Lebewesen. Er las alles über sie und begann sie selbst zu züchten. Er zog Raupen auf und beobachtete die Kokons während der langen Wintermonate. Sogar die Nachbarschaft nahm an seinen neuen Aktivitäten interessiert Anteil und bewunderte ihn. Als kleiner Experte für diese Falter stand Carl plötzlich im Mittelpunkt von Anerkennung und Bewunderung, die er gewiss sehr genoss. „In meiner kleinen und spezialisierten Welt wurde ich so etwas wie ein Biologe“, so schilderte er diese Erfahrung später. Hier wurde vermutlich der Grundstein für den späteren Forscher und Wissenschaftler Carl Roger gelegt. Die naturwissenschaftliche Neigung von Carl wurden von seinem Vater gefördert. Walter Rogers selbst wollte ja seine Hobby-Farm so fortschrittlich wie möglich führen. Sie sollte ein Vorbild in neuen Methoden der wissenschaftlichen Landwirtschaft sein, und er lud oft Dozenten der landwirtschaftlichen Fakultät der Universität von Chicago ein, um zu zeigen, wie er den Ertrag seiner Pflanzen steigern konnte oder welche neuen Saatzüchtungen ihm gelungen waren. In dieses ehrgeizige und anspruchsvolle Klima wurden seine Söhne mit eigenen Projekten einbezogen. So lernten die Jungen, Saatgut zu züchten und Kälber zu halten. Vater Walter hatte seinen Jungfarmern elf Kälber für ihre eigene Züchtung überlassen. Wie kompliziert das Verhältnis zu seinem Vater dennoch war, oder auch wie gnadenlos von den Heranwachsenden bereits Selbständigkeit verlangt wurde, zeigt eine andere Geschichte, in der Carl als „Bücherwurm“ sich zu helfen wusste: Er fragte nicht etwa seinen Vater, wie man Kälber schlachtet, sondern schrieb an das Amt für Landwirtschaft und ließ sich von dort eine schriftliche Schlachtanleitung kommen. Carl wurde durch diese pädagogisierte und religiös geprägte Lebensgestaltung schon sehr frühzeitig ein gewissenhafter Student der modernen wissenschaftlichen Landwirtschaft und lernte aus einem dicken Fachbuch ›Feeds and Feeding‹ von Morrison, wie landwirtschaftliche wissenschaft-
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liche Experimente richtig durchzuführen sind. Ihm erschloss sich so ganz praktisch die Bedeutung von naturwissenschaftlichen Versuchsanordnungen und von experimentellen Kontrollgruppen. Zusammen mit seinem jüngeren Bruder eignete er sich ein sehr umfangreiches Wissen an, das beide in den Stand setzte, einige Gemüse- und Getreidesorten als Überschuss zu erwirtschaften und auf dem örtlichen Markt zu verkaufen. Insbesondere Carl und sein Bruder Walter waren hoch motiviert und arbeiteten methodisch kontrolliert und sehr erfolgreich. Als im Sommer das fünf Ar große Land in voller Blüte stand, wollte Vater Walter unerwartet sein Land zurückhaben. Er befürchtete, der Erfolg könnte den Jungen zu Kopf steigen und sah darin eine gefährliche Versuchung. Carl war wütend und enttäuscht. Er versuchte mit dem Vater zu verhandeln. Schließlich war die Farm sein Hobby, und es gab keine finanzielle Notwendigkeit für die Forderung des Vaters. Es half jedoch alles nichts: Vater Walter blieb stur und nahm sein Land zurück. So hatten die schwierigen Zeiten für Carl nur ein kurze Unterbrechung gehabt, in der er etwas aufblühen konnte. Das Verhältnis zu seinen Eltern war und blieb konfliktbeladen. Bereits mit 15 Jahren hatte Carl ein ausgewachsenes Magengeschwür. Zwei seiner Geschwister ebenso. In der Schule ging es Carl trotz des langen und beschwerlichen Schulwegs augenscheinlich noch immer besser als zu Hause. In einem Interview mit John K. Wood erzählte er 1970: „Meine Erfahrungen auf der High School waren sehr fragmentiert. Ich besuchte drei verschiedene Schulen in dieser Zeit, aber zu jeder dieser Schulen musste ich mit dem Pferdewagen, dem Auto, mit dem Zug oder mit einer Kombination von allem jeweils anreisen und auch wieder zurückreisen, um pünktlich zu Hause zu sein und dort meine häusliche Pflichten zu erledigen. Konsequenterweise konnte ich keine Freundschaften in irgendeiner Schule schließen. Ich war ein guter Schüler und hatte nie Schwierigkeiten mit den schulischen Anforderungen“ (Wood 1970: 18). Englische Literatur war sein Lieblingsfach, er hatte ebenfalls gute Noten in den Naturwissenschaften. Die Leistungsanforderungen, die zu Hause galten, waren aber in jedem Falle höher, und Carl wusste sich in vielerlei Hinsicht auch ohne Schule und Lehrer zu helfen, um die Zusammenhänge auf der Farm zu verstehen. Auch verhinderte der dreimalige Schulwechsel innerhalb von sechs Jahren, dass Carl sich in einer nicht von der Familie kontrollierten Umwelt einleben konnte.5 Das Problem mit den sozialen Kontakten blieb. In der Familie Rogers 5 Konsequenterweise gab Rogers später in seinen pädagogischen Schriften der traditionellen Schule auch wenig Gewicht. Für ihn zählte das Lernen aus praktischer Erfahrung.
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waren Besucher, z. B. Schulfreunde, nicht erwünscht: Keine Klassenkameraden und schon gar keine Mädchen! Carl schreibt, dass er etwa im Alter von 12 Jahren ein starkes Interesse an Sex entwickelte. Aber bis zum Alter von 17 Jahren konnte er wegen der rigorosen Mentalität in seiner Familie nicht einmal mit einem Mädchen ausgehen, und als sich zum ersten Mal eine Gelegenheit bot, geriet sein erstes „date“ zum Trauma, weil er so aufgeregt und ängstlich war. Im selben Jahr hatte er unverhofft etwas Glück. Weil er keine Freunde, Kumpels und „Seilschaften“ in der Klasse hatte, wurde er überraschend als Kompromisskandidat verschiedener Lager zum Klassensprecher gewählt. Nun hatte er ein Amt und damit ein Alibi, mit dem er zu Hause begründen konnte, dass er an den geselligen Veranstaltungen des Schullebens teilnehmen musste. Er lernte so, dass ein öffentliches Amt zu haben den Weg öffnen konnte, an der Kontrolle der Eltern vorbei soziale Kontakte zu knüpfen. Am Ende der Schulzeit war Carl sich sicher, dass er in jedem Falle Farmer werden wollte – dies obwohl er ein ausgezeichnetes Examen gemacht hatte, das ihm den Zugang zu allen Studiengängen ebnete. Auch wenn seine berufliche Entwicklung später eine andere Richtung nehmen sollte, so kann man doch in seinem späteren psychologischen Werk sehr leicht die Liebe zur Natur und die Liebe zur experimentellen Beobachtung und zum (naturwissenschaftlichen) wissenschaftlichen Forschen wieder finden – ebenfalls eine Einstellung, die sich als „social engineering“ bezeichnen lässt und die in der pragmatischen Alltagsbewältigung des Landlebens ihre Wurzeln hat. Die Lebensform des intellektuellen, kulturell ambitionierten Stadtmenschen und Weltbürgers hat Carl Rogers in seiner Kindheit und Jugend gewiss nicht an der Wiege gestanden.
Das „Problemkind“ macht Karriere: 1920–1939 Neue Freiheiten am College: Von der Landwirtschaft zur Theologie Für das Studium der Landwirtschaft wählten Carl und seine Familie die Universität von Wisconsin in Madison aus. Dort schrieb er sich 1920 ein. Er folgte damit einer Familientradition: Auch Vater und Mutter hatten in Wisconsin studiert. Carls Studienmotivation und Ziel waren identisch mit den Idealen seines Vaters: Auch er wollte eine Farm nach den neuesten und modernsten wissenschaftlichen Erkenntnissen führen. Der Schritt in die neuen Freiheiten, die das Studium bedeutete, war für Carl sicherlich bedeutungsvoll. Er schrieb in dieser Zeit intensiv Tagebuch und bewahrte diese Notizen auf, so dass detaillierte Stimmungsberichte aus dieser Zeit in Rogers’ Nachlass zu finden sind. Ebenso streng wie seine bisherige Erziehung war auch das finanzielle Arrangement mit seinen Eltern. Sie erwarteten selbstverständlich von ihm, dass er seinen Lebensunterhalt für das Studium selbst verdienen musste. Nur zum HighSchool-Abschluss erhielt er ein Geschenk von 50 Dollar. Also musste Carl, noch bevor das Studium am College anfing, den Sommer über arbeiten und Geld verdienen. Sein Vater hatte ihm bei seinen Brüdern einen Job in einem Sägewerk an der kanadischen Grenze besorgt. Carl war dort für drei Monate bei Verwandten in Kenmore, in North Dakota, untergebracht, die ebenso streng lebten, wie er es von zu Hause kannte. Die Arbeit war schwer, der Kontakt zu der Verwandtschaft distanziert und steril. Sein Onkel schien nicht an ihm interessiert zu sein. Einzig einer der Vorarbeiter lud ihn zweimal mittags zum Essen ein. Von 8.00 Uhr bis 17.00 Uhr musste Carl Bauholz ab- oder aufladen. Hier war er noch einsamer als zu Hause. In weiser Voraussicht hatte er für die 50 Dollar viele Bücher gekauft, die er mitnahm, um die einsamen Tage in der Fremde zu überstehen. Es waren zumeist die zu Hause verpönten Abenteuerromane, aber auch „richtige“ Weltliteratur von Charles Dickens, Victor Hugo, Edgar Allan Poe und anderen Romanciers, in denen freilich auch das Abenteuer „tobte“. Auf der anderen Seite war das Alleinsein für Carl auch eine Befreiung. Er konnte nun in seiner Freizeit ungestört und ohne Vorhaltungen der Eltern in die Abenteuerwelten seiner Bücher eintauchen. So schrieb er in sein Tagebuch: „Wenn ich endlich den Schluss der Geschichte erreicht
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hatte, konnte ich das Buch zur Seite legen und wusste nicht mehr, welcher Tag es war und was ich hier machte.“ Umso mehr muss Carl danach das soziale Leben auf dem Campus des Colleges genossen haben. Nach drei Monaten Einsamkeit begann mit dem Studium ein neuer Lebensabschnitt, in dem Carl überraschende Entwicklungen und Veränderungen durchlebte. Mit seinem Bruder Ross teilte er ein Zimmer im YMCA-Heim. Bereits während seines ersten Studienjahres wurde er Mitglied einer Vereinigung christlicher Landwirtschaftsstudenten, die von Professor George Humphrey geleitet wurde. Humphrey war ein sehr ungewöhnlicher Professor: In reformpädagogischem Eifer motivierte er die einzelnen Gruppenmitglieder, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, und weigerte sich, in seinen Veranstaltungen die konventionelle Leitungsposition des Lehrers einzunehmen. Rogers berichtete später voller schwärmender Begeisterung von seinen Erfahrungen als Mitglied in dieser Gruppe und bezeichnete Humphreys Führungsverhalten als ein ausgezeichnetes Beispiel für das von ihm später selbst proklamierte „facilitating leadership“ (Burton, 1972: 36). Die ersten selbstbestimmten Lernerfahrungen begannen nun, sein bisher strenges und autoritäres Verständnis vom Lernen zu unterwandern. Humphreys Stil und Intention waren so ganz anders als der zwar gut gemeinte, aber stets kontrollierende erzieherische Einfluss von Rogers’ Eltern. Carl war von der Meinungsfreiheit, die sich hier für ihn auftat, und den daraus entstehenden Gesprächen und Diskussionen auch emotional tief bewegt. Außerdem war er in dieser Gruppe zum ersten Mal in der Lage, mit jungen Leuten, die nicht zu seinem Familienkreis gehörten, Freundschaften zu schließen. Der „emotionslose“ Carl entdeckte in diesem besonderen pädagogischen Klima aus Intellektualität, Begeisterung und sozialer Verbundenheit eine neue und andere Lebensqualität. Von diesen Erlebnissen ermutigt hatte er Helen Elliott, seiner früheren Freundin aus der Grundschule in Oak Park, geschrieben und sich ein paar Mal mit ihr getroffen. Sie studierte, überraschenderweise auch in Wisconsin, Angewandte Kunst und Design. Während der ersten Weihnachts-Freizeit besuchte Carl eine Missionarskonferenz in Des Moines in Iowa. Das Motto dieser Konferenz lautete: „Die Welt in unserer Generation missionieren!“ Carl fühlte sich angesprochen und war fasziniert. So fand er Zugang zur christlichen Missionsarbeit. Er wechselte daraufhin die Studienrichtung und belegte das Fach Geschichte, um sich für ein theologisches Studium vorzubereiten. Er wollte ein Mann Gottes werden! Zwei protestantische Religionsgründer waren in diesen religionsgeschichtlichen Studien besonders interessant für ihn: John Wyclif und Mar-
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tin Luther. Er setzte sich mit ihren Thesen und mit ihrem Leben auseinander und war von ihren Botschaften beeindruckt. Luther stand für die Überzeugung, dass Menschen direkt mit Gott in Verbindung treten konnten und dazu nicht einen Priester als Vermittler und Experten brauchen, sondern alleine durch das Studium der Heiligen Schrift und durch die eigene Erfahrung zum rechten Glauben gelangen konnten. John Wyclif beeindruckte ihn als sozialrevolutionärer Pazifist und Märtyrer. Diese Studien führten dann dazu, dass Carl die sozialen und religiösen Aktivitäten der Studierenden auf dem Campus sehr bald noch spannender als seine landwirtschaftlichen Studien fand. Er nutzte viele der angebotenen Gelegenheiten, vom Gottesdienst über die YMCA-Freizeiten bis hin zu Wiedersehensfeiern mit ehemaligen Studierenden und hörte prominenten Sprechern und Verkündern der „frohen Botschaft“ auf dem Campus zu. Zugleich übernahm er Führungsrollen in der Arbeitsgemeinschaft „Triangel“ und im YMCA-Sommer-Camp an der Sturgeon Bay in Wisconsin. Nach einer Veranstaltung, auf der „Dad Wolfe“ zum Thema „Eine Lebensaufgabe wählen!“ sprach, schrieb Carl in sein Tagebuch: „Oh! Es ist wunderbar zu spüren, dass Gott mich wirklich durch meine Lebensaufgabe hindurch führen wird, und ich weiß, er wird es tun, denn er hat mich nie enttäuscht.“ Fünf Monate später steht dort: „Während Eddys Morgenansprache reifte in mir der Entschluss, in die Arbeit der Kirche einzutreten und Pfarrer zu werden. Und während der Nachmittagsansprache traf ich die endgültige Entscheidung. Gott möge mir helfen, dies alles zu bewahren!“ (Kirschenbaum 1995: 4).
Die Reise nach China und die Missionstätigkeiten im Fernen Osten Eine Reise nach China, die Carl für ein halbes Jahr unterwegs sein ließ, wurde zu einem Wendepunkt in seinem Leben und besonders im Verhältnis zu seiner Herkunftsfamilie. Carl hatte bereits 1921 an den YMCA geschrieben, als er hörte, dass eine kleine Gruppe im nächsten Jahr nach China geschickt werden sollte, um an einer internationalen Konferenz der „World Student Christian Federation“ (WSCF) teilzunehmen. Er war sehr interessiert, machte sich aber keine großen Hoffnungen. Er wusste, es würden insgesamt nur 10 Studenten die Chance erhalten, auf dieser Konferenz die USA als Delegierte zu vertreten. Die Konferenz sollte im März 1922 in Peking stattfinden. Dass er eine positive Antwort erhielt und an der Reise teilnehmen konnte, überraschte ihn sehr; er weinte vor Freude und konnte es zunächst gar nicht glauben. Noch Jahre später vermutet er,
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dass er den Platz nur deshalb erhalten hat, weil seine Eltern sehr wohlhabend waren und der YMCA mit einer entsprechenden Spende rechnete. Wie dem auch sei, er freute sich sehr auf dieses Erlebnis und auf die Perspektive, für sechs Monate unterwegs in fremden Ländern zu sein. Aber er wollte natürlich dadurch seine ersten Freundschaftsbande zu Helen nicht verlieren. Sie hatten sich in der Zwischenzeit öfters getroffen und Carl, der „Einsame“, lernte ihre Nähe und Freundschaft immer mehr zu schätzen. Zwar sei er nicht in sie verliebt, so erklärte er ihr, aber je länger er sie kenne, umso besser könne er sie leiden. Kurz vor seiner Abreise nach China verabredeten sie, eine feste Beziehung einzugehen. Carl führte gewissenhaft ein Reisetagebuch und schrieb seinen Eltern und „seinem Mädchen“ Helen detailliert von den neuen Eindrücken und Erfahrungen, die er fernab von zu Hause machen konnte. Für die Entwicklung seiner persönlichen Autonomie war das Erlebnis der Reise eine wichtige Initialzündung: Da waren zum einen die Anregungen durch die sehr fremde Kultur und zum anderen die Eingebundenheit in eine internationalen Gruppe hochintelligenter und kreativer junger Menschen. Dies war in gewissem Sinne eine Steigerung und Intensivierung der CampusAktivitäten, in denen Rogers zuvor schon so intensiv aufgeblüht war und in der sich seine neuen Ziele und Motive entwickelt hatten. Während der China-Reise konnte Carl seine religiösen und philosophischen Auffassungen noch einmal vertieft mit ganz anderen Menschen teilen, diskutieren und verändern. Auch erlebte er die Auswirkungen nationalistischer Gefühle und wurde mit den Aggressionen konfrontiert, die wenige Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges unter den Menschen herrschten, die von dem Krieg direkt betroffen waren. Die zentrale Einsicht aus dieser Reise muss für ihn aber die Erfahrung gewesen sein, die er in der Gruppe machen konnte: Dass ehrliche und aufrichtige Menschen durchaus unterschiedliche religiöse Auffassungen und Überzeugungen haben konnten und dass man diese intellektuell und emotional wertschätzen und achten konnte, ohne dass die persönlichen Beziehungen darunter litten. Im Gegenteil: Das geachtete Fremde weckte Interesse. So konnte Carl auch seine eigenen religiösen Überzeugungen und seine „geerbten“ Dogmen mit den Mitgliedern dieser Reisegesellschaft erörtern und solchen zentralen theologischen Fragen nachgehen wie: „Kann man sich nur dann als Christ bezeichnen, wenn man an die Auferstehung Jesu glaubt?“ „Es war ein gutes Stück nachträgliche Bildung für einen engen und provinziellen Mittelwestler, wie ich einer bin, herauszufinden, was für wunderbare Menschen sich hinter den verschiedenen Etiketten unterschiedlicher Nationen oder unterschiedlicher Hautfarbe verbargen“, schrieb er
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seinen Eltern. Und es waren auch sehr schwärmerische und weitgehend sozialrevolutionäre Aussagen in seinen Briefen zu finden: Hier wurde er Teil einer anderen, alternativen und kritischen christlichen Gemeinschaft, die sich als junge Generation sendungsbewusst berufen fühlte, die sozialen und politischen Verhältnisse, die zum Ersten Weltkrieg geführt hatten, grundlegend zu verändern. Dies klingt revolutionär, und so war es wohl auch gemeint. Schließlich schrieb Rogers: „Die Welt steht am Rande einer gewaltigen Veränderung, die unsere Generation hervorbringen wird.“ Und: „Die Konferenz ist der Überzeugung, dass das gegenwärtige Industriesystem nicht nur voller Fehler ist, sondern grundlegend falsch. Sie beginnen einzusehen, dass ein System, das vorwiegend von den eigennützigen Instinkten der Menschen angetrieben wird, nicht von Christenmenschen aufrechterhalten werden kann.“ Diese jungen, verschworenen Christenmenschen wollten, nach der Reformierung des kapitalistischen Industriesystems auch das Militär abschaffen und alles daran setzen, weitere Kriege zu verhindern. Eine solche weltliche Begeisterung war nicht nur in einem allgemein-religiösen Sinne bedrohlich für die konservative Familie der Rogers, sondern auch sehr konkret. Schließlich arbeitete die Firma seines Vaters, Bates & Rogers Construction Company, unter anderem auch für das Militär. In dem strengen Protestantismus, den sie lebten, stand weltlicher Reichtum und harte Arbeit als sichtbarer Beweis dafür, ein Gott gefälliges Leben zu führen. So lässt sich leicht erahnen, welchen Wirbel diese Briefe zu Hause auslösten. Aber egal, wie die Reaktionen zu Hause auch waren: Carl war weit weg von seinen Eltern, und sein religiöser und intellektueller Horizont weitete sich von Tag zu Tag, wie er schrieb. Die Diskussionen und Debatten waren intellektuell auf hohem Niveau, nie verletzend oder dogmatisch und gaben ein gutes Beispiel für eine neue und tolerante Zeit. Rogers nutzte die drei Monate nach dem Ende der Konferenz, um zusammen mit anderen Studenten, Missionaren und China-Experten intensive Reisen zu weit verstreuten regionalen YMCA-Missionsstützpunkten im Landesinneren zu unternehmen. Es ist erstaunlich, davon zu lesen, dass der junge und „schüchterne“ Carl in diesem Kontext sehr souverän viele Reden und Ansprachen hielt und zahllose informelle Gruppentreffs mit Studenten und anderen erwachsenen Personen in China, Korea, Hongkong, Japan, den Philippinen und Hawaii durchführte. In einer gewissen Weise schien Carl als „Speaker“ mit diesen christlichen Missionstätigkeiten in seinem Element zu sein. Bis zum Ende nutzte Rogers die Reise für intensive Eindrücke und Erlebnisse: In der letzten Nacht in Japan, unmittelbar vor der Abreise, während sich seine Reisegefährten längst zur Nachtruhe gelegt hatten, be-
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stieg er den Fujiyama, um früh morgens atemlos auf dem Gipfel alleine mit sich und der Stille der Natur den gewaltigen Sonnenaufgang zu erleben. Ein wirkliches „Gipfelerlebnis“ in vielerlei Hinsicht. Rückblickend beschrieb Rogers diese Reise als den idealen Kontext, um aus dem engen religiösen Glauben seiner Eltern auszubrechen und eine eigene spirituelle, intellektuelle und emotionale Unabhängigkeit zu erlangen. Es ist bemerkenswert, dass er während dieser Reise seinen Eltern treu und brav seine neuen Ideen und Gefühle in ausführlichen Briefen beschrieb. Darin kommt die offensichtlich noch immer enge Familienbindung Carls zum Ausdruck. Vermutlich kam darin aber auch ein religiöses Ehrlichkeitsdogma zum Tragen, das ihn eifrig darauf bedacht sein ließ, den Eltern nichts zu verschweigen. Der Biograph Brian Thorne spekuliert darüber, ob ihn diese innere Pflicht kurzfristig blind machte vor der Wirkung, die solche Briefe auf seine Eltern zwangsläufig haben mussten, oder ob er die Distanz und die zeitliche Verzögerung wissentlich nutzte, um sozusagen von einem sicheren Ort aus einen Konflikt zu riskieren (Thorne 1992: 4). Jedenfalls waren seine Eltern verstört und entsetzt darüber, dass ihr Sohn im Begriff war, sich für die moderne Theologie zu entscheiden, die sie für gefährlich und pervers hielten. Zu allem Übel konnten sie nicht gleich etwas dagegen unternehmen, und als ihre negativen Reaktionen schließlich Carl in China erreichten, war dieser in seinen neuen Überzeugungen schon zu gefestigt. Er gab später zu, dass dieser Prozess es ihm ermöglichte, so schmerzlos wie möglich mit den alten religiösen und intellektuellen Bindungen zu brechen, die sich auch als ausgesprochen stark hätten erweisen können. So aber fühlte sich Carl stark genug, seine eigene Anschauung und Begeisterung in der Studentenzeitschrift des YMCA im Juni 1922 zu veröffentlichen. Es ist seine erste öffentlich publizierte Schrift. Die dramatische Erweiterung seines Erfahrungshorizontes durch die Gruppenreise in den Osten halfen Carl, sich von den Werten seiner fundamentalistischen protestantischen Herkunft zu emanzipieren. Die unterschiedlichen Reaktionen auf seine Briefe, die aufgebrachten und strafenden seiner Eltern und die verständnisvollen und unterstützenden von Helen, zeigten ihm klar die inhaltliche Richtung an, in die er sich verändern wollte. Er schreibt 1965 in einem autobiographischen Text dazu: „… vom Zeitpunkt dieser Reise an waren meine Ziele, Werte und Überzeugungen, ebenso wie meine Philosophie meine eigene“ (Kirschenbaum 1995: 5).
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Emanzipationskämpfe – Das junge Paar in New York Nach der Chinareise stürzte sich Rogers zu Hause in seine historischen und theologischen Studien und in die Vorbereitungen für eine kirchliche Tätigkeit. Er war, angeregt durch die vielen Eindrücke und durch die neue geistige und intellektuelle Weite, die er von der Reise mitbrachte, nicht mehr der Carl von zuvor. Ein neues Selbstverständnis war aufgebrochen, und es gab viel nachzuarbeiten und Neues zu lernen. Darüber hinaus machten sich auch die körperliche und mentale Belastung der Reise und die zunehmenden Konflikte mit seinem Elternhaus bemerkbar. Kurz nach seiner Rückkehr brach sein Magengeschwür erneut auf. Er musste für einige Zeit ins Krankenhaus, um sich einer Operation zu unterziehen. Danach kehrte er zur weiteren ambulanten Behandlung und anschließenden Erholung in das Haus seiner Eltern zurück. Diese Zeit als Rekonvaleszent hätte für Rogers und seine neu gewonnene intellektuelle Autonomie sehr bedrohlich werden können, aber die strengen Auflagen, die seine Eltern ihm machten, halfen Carl, sich von seinen Eltern abzugrenzen. Beide hatten seine Magenbeschwerden wohl nie richtig ernst genommen und als Krankheit akzeptiert: So musste sich Carl sofort nach der Entlassung aus dem Krankenhaus wieder eine Arbeit suchen, um eigenes Geld zu verdienen. Diese erzieherische Maßnahme war die Strafe religiöser Eiferer, die auf diese Weise versuchen, ihren Sohn wieder auf den rechten Weg zurückzubringen. In dieser Zeit machte Carl einen Versuch, seine persönlich schwierige Situation in der Familie anzusprechen. Er fühlte sich dabei von Helen unterstützt und verstanden und brauchte die Beziehung zu ihr geradezu, um nicht in dieser fanatischen Polarisierung zwischen liberaler und konservativer Anschauung zerrieben zu werden. Er schrieb seinen Eltern einen Brief, in dem er auf die unerträglichen Spannungen zu Hause aufmerksam machte und erklärte, dass auch sein Bruder Walter an der Atmosphäre zu Hause litt und im Begriff wäre, sich von der Familie abzuwenden. Er bat seine Eltern inständig, sich mit diesem Thema zu befassen, und betonte zugleich, dass er mit diesem Brief seine Eltern nicht kritisieren wolle. Aber seine Anstrengungen waren vergeblich, und es wurde klar, dass er nichts dazu beitragen konnte, den Familienfrieden wiederherzustellen. Er blieb das „schwarze Schaf“ in der Familie und hatte in den Augen der Eltern eine harte Strafe verdient. Sofort nach seiner Rückkehr aus dem Krankenhaus musste er erneut eine körperlich schwere Arbeit in einem Holzlager antreten. Gleichzeitig schrieb er sich für einen Fernlehrgang in Psychologie bei William James ein. Die Zeit der Rekonvaleszenz zu Hause bot ihm ideale Gelegenheiten,
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die Beziehung zu Helen zu festigen. Neben dem Geld aus dem Job in dem Holzlager erzielte er einige Gewinne durch den Verkauf von chinesischem Kunsthandwerk. Er hatte einen kleinen geschäftlichen Kontakt noch aus der Zeit der Chinareise aufrechterhalten, der sich jetzt auszahlte. So war es Carl möglich, sich bereits zu College-Zeiten sein erstes Auto von seinem selbst verdienten Geld zu kaufen. Es war ein gebrauchter Ford, Model T, den er für 450 Dollar erstanden hatte und den er nun oft nutzte, um die 25 Meilen über unbefestigte Straßen zu Helen zu gelangen, in die er sich zunehmend verliebte. Nach einiger Zeit erwiderte diese seine Gefühle, und es kam der Tag, an dem, wie Rogers es ausdrückte, „das schönste Wunder der Welt geschah“, als Helen ihm sagte, dass sie ihn liebe. Carl wollte nun in jedem Falle von zu Hause weg und seine eigene Familie gründen. Er schrieb Helen Liebesgedichte. Sie mochte seine radikalen Ideen und seine Selbstständigkeit und unterstützte ihn in seinem Kampf mit seinen Eltern. Auch wollten beide mit ihrer ersten körperlichen Liebe nicht warten, bis sie einen sicheren Job hatten. Also schliefen sie miteinander. Am 9. Oktober 1922 schließlich verlobten sie sich. Rogers war im „siebten Himmel“ und beschrieb dieses Ereignis als einen der wichtigsten Höhepunkte in seinem Leben. Anfang 1923 beschloss Carl nach New York zu gehen, um sich dort am „Union Theological Seminary“ einzuschreiben. Es war zu dieser Zeit das führende liberale theologische Seminar in den USA. Und wieder folgte ein harter Konflikt mit seinen Eltern, denn das Union Seminary war nicht fundamentalistisch ausgerichtet. Vater Walter machte seinem Sohn das Angebot, die gesamten Kosten auch für Helen zu übernehmen, wenn er sein Studium in dem konservativen „Princeton Seminary“ absolvieren würde. Das Paar hätte so ohne finanzielle Sorgen heiraten können. Helen und Carl lehnten dieses Angebot jedoch ab. Gleichzeitig war damit klar, dass sie wirtschaftlich nun auf eigenen Beinen stehen mussten. Rogers entschied für sich, dass er nach dieser Entwicklung seine Eltern nie wieder um Unterstützung bitten wollte. Er bewarb sich um ein Stipendium und hatte damit Erfolg. Aber dies reichte nicht für ein Leben zu zweit. Deshalb vermuteten alle Freunde und Bekannte, dass Carl und Helen mit der Eheschließung noch warten würden. Aber Carl wollte keine längere Trennung und überredete Helen, die eigentlich ihr Studium vorher abschließen wollte, zu einer raschen Heirat. Er hatte ein paar Ideen, wie er sein Stipendium aufbessern konnte, und baute den Handel mit dem chinesischen Kunsthandwerk aus. In der Vorweihnachtszeit wurde Carl zum Händler. Er bestellte mit einem Kredit von 400 Dollar in China Waren, die sich dann in Chicago überraschend mit gutem Gewinn verkauften. Carl verdiente pro Tag zwischen 100 und 400 Dollar. In Rogers’ Nachlass in Washington fin-
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det sich ein kleines Bankbuch mit den entsprechenden Aufstellungen. David Cohen vermutet in seiner kritischen Biographie, dass Rogers dieses kleine Buch bis an sein Lebensende aufbewahrt hat, weil er es als ein Triumph empfunden haben muss, dass er sich gegen seine reichen und strengen Eltern behaupten konnte (Cohen 1997:41). Carl und Helen heirateten am 28. August 1924, zwei Monate nach Abschluss seiner religionsgeschichtlichen Studien. Carl war 22 Jahre alt und graduierter Student der Universität Wisconsin. Die Hochzeit fand in Oak Park im Haus von Helens Schwester statt. Beide Elternhäuser wären für die Hochzeitsfeier nicht in Frage gekommen, weil beide Eltern nachdrücklich versucht hatten, die jungen Leute davon zu überzeugen, erst dann zu heiraten, wenn beide ihre Studien abgeschlossen und sich beruflich etabliert hätten. Rogers wurde kurz darauf zum Studium der Theologie am „Union Theological Seminary“ in New York angenommen und gleich nach ihrer Hochzeit packte das frisch gebackene Ehepaar sein Hab und Gut in Carls Auto und fuhr in seine neue Zukunft in die Weltstadt New York. Vater Walter hatte wohl den Eindruck, dass er etwas unternehmen musste, um den Respekt des Sohnes nicht ganz zu verlieren, und übergab zur Hochzeit einen Scheck über 2500 Dollar.6
Von der Theologie zur Psychologie Rogers hatte das „Union Theological Seminary“ in New York ausgewählt, weil es zu dieser Zeit „das liberalste im ganzen Land war und eine intellektuelle Führerschaft in der religiösen Bewegung innehatte“, schreibt er (Rogers 1961/1976, S. 23). Die Flitterwochen waren sehr schön. Carl hatte Helen ein Handbuch über Sex geschenkt, „um zu demonstrieren, wie avantgardistisch ich in meinem Denken war“, wie er später in einem Beitrag über ihre Ehe schreibt. Dort schildert er, wie naiv beide in sexuellen Dingen waren, als sie ihre Ehe begannen, und wie sie dann in der ersten Krise langsam lernen mussten, über diese Dinge zu sprechen (Rogers 1972/1975, S. 29). Wie auch immer, das Paar kam sehr verliebt in New York an und wusste, dass es sich das Geld einteilen mussten, wenn es für drei Jahre reichen sollte. Sie hatten sich in einem kleinen Apartment im Westen in der 123. Straße eingemietet, das praktischerweise dem Union Seminary gegenüber und nicht weit weg von der Columbia University lag. Helen besuchte eine 6 Um die Größenordnungen einschätzen zu können: Ein männlicher Arbeiter verdiente damals etwa 800 Dollar im Jahr.
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Künstler-Klasse in der Stadt und hörte ebenfalls einige Vorlesungen am „Union Theological Seminary“. Beide genossen ihr Zusammensein, das Großstadtleben von New York mit seinen Theatern, Museen, Galerien, dem „bohemian life“ im Greenwich Park und den vielen sozialen und kulturellen Veranstaltungen in vollen Zügen. Das liberale und intellektuell anregende Lehrangebot am „Union Theological Seminary“ präsentierte ihnen mit Harry Emerson Fosdick die Sicht einer neuen, modernen, liberalen und diesseitsbezogenen Religion, die bereit war, von der Psychologie, der Philosophie und der modernen Pädagogik zu lernen. Die bevorzugten Themen von Fosdick waren die Gefahren, die von einer zu strengen und anspruchsvollen religiösen Erziehung für die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen ausgehen konnte. In diesen Veranstaltungen war Carl genau richtig! Fosdick hat später ein Buch veröffentlicht, dessen Titel auch von dem späten Carl Rogers hätte stammen können: ›On Being a Real Person‹ (1943). Er nahm darin viele Wertorientierungen und Ziele der humanistischen Psychologie vorweg, die sich erst 20 Jahre später artikulierten. Fosdicks Auffassung war, Menschen müssten zuerst lernen, sich selbst zu akzeptieren, und sollten ihr Leben nicht unerfüllbaren Idealen opfern. Die christliche Moral könne Menschen verkrüppeln. Diese Ansichten gefielen Rogers sehr gut! Mit dem „Teachers Training College“ der „Columbia University Graduate School“ gab es ein Dozenten-Austauschprogramm, so dass Rogers auch Veranstaltungen in Psychologie, Pädagogik und Psychiatrie hören konnte und auf diese Weise auch von anderen Fachdisziplinen erfuhr, mit welchen Methoden diese in ihrer speziellen Aufgabe der Menschenführung arbeiteten. Das „Teachers Training College“ war die Hochburg der „progressive education“. Der bedeutendste Schüler und Mitstreiter von John Dewey lehrte und arbeitete hier: William Heard Kilpatrick, bei dem Carl Rogers studierte. Der „one million dollar professor“, wie er in einigen Schriften genannt wurde, war ein hervorragender Lehrer, der in seinen Lehrveranstaltungen den Studenten das Gefühl geben konnte, dass sie das Problem selbst durchdacht hätten. Er lehrte, dass „Respect for Personality“ die Wurzel der Demokratie darstelle. Als Mitstreiter von John Dewey entwickelte er die Projektmethode des lebendigen, praxisnahen und erfahrungsbezogenen sozialen Lernens. Die Bezeichnung „one million dollar professor“ hat den Hintergrund, dass Kilpatrick mit seinen Vorlesungen extrem viele Studenten anzog und über entsprechende Einnahmen aus Hörergeldern verfügen konnte. Während seiner Laufbahn hat er auf diese Weise 35000 Studenten erreicht und beeinflusst. Er setzte als einer der ersten die Kleingruppenarbeit ein, um die soziale Dimension des Lernens zu verstärken und den Aspekt der persönlichen Begegnung in
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den Lernprozess mit einzubeziehen. Kilpatrick war Sohn eines Baptistenpredigers. Auch er wollte, wie Rogers zuvor, ursprünglich Prediger werden und verstand seine pädagogische Arbeit als säkularisierten Glauben, der sich in nützlichen und sozialen Taten für die Menschheit zu bewähren hat. Seine missionarische Authentizitätsforderung ist auf den jungen Studenten Carl Rogers gewiss nicht ohne Eindruck geblieben: „Wir lernen, indem wir uns verhalten, d. h. durch innere Haltungen und äußeres Handeln. Und daraus folgt, dass die Schule ein Ort sein muss, an dem gelebt wird, was gelernt werden soll; denn jeder lernt, was er wirklich und wahrhaftig lebt. Mit einem Wort, unsere Philosophie erweist sich als das Korrelat unserer Philosophie des Lebens“ (Röhrs 1977, S.63). Wirkliches Lernen ist demnach nur dieses Lernen, das innerlich angenommen werden kann und über das eigenen Lebenskonzept als konkrete Taten in die Lebensplanung eingehen kann. Die Projektmethode betont diesen Zusammenhang von Lernen, Erfahrung und Handlung, ein Lernkonzept, für das Rogers für den Rest seines beruflichen Lebens immer wieder neu eintreten wird. Harold Ordway Rugg, ein in Europa leider nicht rezipierter Kollege und ebenfalls führender Sprecher der „progressiv education“, vertrat das Konzept der kind-zentrierten Schule. Er hatte während des Ersten Weltkriegs zusammen mit dem berühmten Psychologen E. L. Thorndike statistische Untersuchungen im Komitee für Personalfragen durchgeführt und für die Armee Instrumente entwickelt, die er später für die Entwicklung von Schülerprofilen nutzen konnte. Damit versuchte er die weitere Entwicklung der Schüler messbar zu machen. Er kam 1920 als Professor an das „Teachers Training College“, als die Bewegung ihren Höhepunkt erreichte. Neben seinen statistischen Arbeiten hat er sich mit den „social studies“ einen Namen gemacht, mit denen er die künstliche Trennung der Fächer Geschichte, Politik, Wirtschaftslehre, Politik zugunsten eines übergreifenden Problem- und Sinnzusammenhanges aufhob. Seine Arbeitshefte und Textbücher ›Man and His Changing Society‹ fanden in vielen Schulen im Unterricht Verwendung. Es wurden rund zwei Millionen Exemplare davon verkauft. In der kind-zentrierten Schule betonte Rugg den Stellenwert der ästhetischen Bildung: Künstlerisches Gestalten, Musizieren, Theaterspielen, Werken, Sport und Gruppenerlebnisse wurden von ihm zur Förderung des sozialen Verstehens und des individuellen Selbstausdrucks eingesetzt. In seinen Studien stellten sich für Carl praktische Fragen des menschlichen Lebens und anwendungsbezogene Aufgaben der Menschenführung integrativ und interdisziplinär. An seinem akademischen Lebenslauf waren die Disziplinen Theologie, Pädagogik, Psychologie und Psychiatrie
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beteiligt. Wäre da nicht das starke religiöse Engagement und der anspruchsvolle und wohlhabende familiäre Hintergrund Carls, so hätte er mit seinen Interessen und Neigungen auch Social Worker oder Lehrer werden können – zwei Berufe, die in den USA seinerzeit allerdings keine akademische Karriere ermöglicht hätten. Als Rogers seine Studien am „Union Theological Seminary“ begann, wollte er Pfarrer werden. Um Geld zu verdienen, nahm er während des ersten Sommers eine Stelle als Leiter eines Programms für religiöse Erziehung (Religionspädagoge) an der protestantischen Kirchengemeinde in Vernon an und organisierte die „Sunday School Classes“ (Kindergottesdienst) und die Diskussionsgruppen für Jugendliche. Rogers war angesteckt von Deweys demokratischen und pragmatischen Auffassungen vom Lernen. Kinder sollten auch in der religiösen Erziehung der Kirche stärker durch praktische Aktivitäten und durch konkretes Tun und Handeln lernen als durch passives Zuhören in langen Predigten. Die reformpädagogischen Ideen von Dewey wollte er auch auf die Durchführung des Gottesdienstes angewendet wissen. Die Pfarrkinder sollten sich frei fühlen können, ihre Probleme und Nöte der Gemeinde darzulegen. „Wenn ihre wirklichen Probleme mit Sex zu tun haben, dann können wir sie nicht mit einigen religiösen Problemen über Gott abspeisen, nur weil das ‚religiös‘“ ist, so argumentierte er kämpferisch (Kirschenbaum 1979). In dieser Zeit versuchte er auch seine idealistische Seite mit seinen wissenschaftlichen Neigungen, die noch immer aus seiner Zeit als Jungfarmer vorhanden waren, zusammen zu bringen. In Amerika lag zu dieser Zeit eine neue Wissenschaftsgläubigkeit in der Luft. Die Wirtschaft war aufgeblüht und hatte die Wissenschaften sozusagen mitgenommen. Von der bevorstehenden Weltwirtschaftskrise 1929–1931 war noch nichts zu spüren. „War es, wissenschaftlich betrachtet, richtig, Babys Nähe und Hautkontakt zu geben, sie lange auf dem Arm zu halten, sie lange zu stillen? – Und wenn, wie lange genau?“; „Konnte die moderne Wissenschaft Gott beweisen?“; „Wie sollte die Erziehung der Kinder in diesen Zeiten besser organisiert werden?“ – überall tauchten solche Fragen in den Tageszeitungen auf und wurden von Experten beantwortet. Auch Rogers versuchte sich als ein schreibender Experte und Ratgeber. Schließlich gab es hier auch etwas zu verdienen, und er brauchte das Geld. Für 30 Dollar Honorar im „Journal of Home Economics“ schrieb er über religiöse und praktische Fragen des Alltags und versuchte sich als wissenschaftlich gebildeter Aufklärer. Er hatte durch die Dozenten am „Union Theological Seminary“ und am „Teachers Training College“ jede Menge idealistische Unterstützung und Anregung. Deutlicher noch als in Deutschland und auf dem übrigen
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europäischen Festland, wo, bedingt durch Faschismus und durch den Zweiten Weltkrieg, die kulturellen Reformbewegungen erstickt wurden und abrissen, kann man in den USA an den Themen und an der Art, wie sie von diesen Dozenten damals vorgetragen und gelebt wurden, eine Kontinuität von der Reformpädagogik (vom Anfang des Jahrhunderts) bis zur Bewegung der humanistischen Psychologie und Pädagogik (in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren) erkennen. Als ein eindrucksvolles Beispiel für diese Kontinuität mag hier, neben den bereits genannten Vertretern der „progressiv education“, Professor McGiffert von der Theologie genannt werden. Er war Mitte bis Ende der 1920er Jahre Rektor am „Union Theological Seminary“ und gab, nach Carls Berichten, in seinen Vorlesungen mitreißende Überblicke über die Geschichte der Philosophie und wusste zugleich auch, dass seine Studenten später in ihrer seelsorgerischen Praxis als Pfarrer mit den zentralen Themen des Lebens konfrontiert sein würden: dem Tod, der Geburt, der Ehe und der Partnerschaft, der Kindererziehung, der Verzweiflung in Familienkrisen, Krankheiten usw. Er empfahl deshalb, für diese Situationen auch die Schriften von Freud zu studieren und sich mit allen modernen psychologischen Kenntnissen und Methoden vertraut zu machen, um in solchen Situationen der Bedrängnis als Helfer und Seelsorger über ein breites Hilfeangebot verfügen und nicht nur Kirchenlieder anstimmen zu können. Freud hatte 1909 zusammen mit Carl Gustav Jung und Sandor Ferenczi Amerika besucht und dort eine Vortragsreise unternommen, die seine Arbeit etwas bekannter gemacht hatte. Aber Freud in den 1920er Jahren bereits für die praktische seelsorgerische Arbeit zu empfehlen, war ungewöhnlich fortschrittlich. Erst durch die Immigration vieler Analytiker aus Nazi-Deutschland wurde die Psychoanalyse in den 1930er Jahren in den Vereinigten Staaten bekannt. Jedoch war die Psychologie als junge wissenschaftliche Disziplin in diesen Jahren bereits im Aufwind. Sie entwickelte Testverfahren, mit denen man menschliche Fähigkeiten und Motive messen konnte, und versuchte, menschliche Eignungen und späteres Verhalten prognostisch vorauszusagen. Die amerikanische Armee hatte solche Tests in ihren Rekrutierungsverfahren im Ersten Weltkrieg eingesetzt, die Industrie beauftragte 1921 die amerikanische Psychologenvereinigung, solche Tests auch für die Einstellungsverfahren von Bewerbern um Führungspositionen in der freien Wirtschaft zu entwickeln, es gab eine Reihe von interessanten Laborexperimenten mit Ratten und anderen Tieren, deren Lernverhalten beobachtet wurde usw. Kurzum, neben der Medizin, der Pädagogik und der Theologie meldete sich eine neue Wissenschaft mit interessanten Perspektiven und neuen Alternativen zu Wort.
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Goodwin Watson, ein anderer Lehrer in Psychologie, bei dem Rogers studierte, war fasziniert von der Werbepsychologie und von der sich entwickelnden Marktforschung, die das Konsumverhalten der Menschen studieren und voraussagen wollten. Sein berühmter Namensvetter, der Psychologe John B. Watson, hatte die akademische Welt bereits verlassen und arbeitete für eine Werbeagentur. Er hielt abends Vorträge an der Columbia University und empfahl den Studenten, in einem Selbsttest ihre Stärken und Schwächen herauszufinden. Er verbreitete die Vorstellung, dass Psychologen, bevor sie anderen Menschen einen Rat geben könnten, zunächst ihre eigenen Probleme weitgehend aufgearbeitet haben sollten. Diese Vorstellung aus der Psychologie hatte sein Namensvetter Goodwin Watson am Union Seminary für die Gestaltung der seelsorgerischen Praktika übernommen. Die Arbeit dort bestand darin, dass Studierende vor allem an ihren persönlichen Problemen arbeiten sollten. Viele Studenten wohnten alleine, weit weg von zu Hause und hatten in der Tat Probleme. Schon lange bevor die Selbsterfahrungsbewegung in den 1960er und 1970er Jahren dann vehement über das Land hereinbrach, wurden hier bereits in den 1920er Jahren diese Ideen ausgesät und auch praktisch bearbeitet. Rogers bedauerte nie seinen zweijährigen Aufenthalt am Union Seminary. Er lernte dort einige außergewöhnliche Lehrer kennen und nahm voll und ganz am Leben der Institution teil. Das Seminar war bewundernswert fortschrittlich in seinen Auffassungen vom Menschen und vom Lernen und kam auch den progressiven Erwartungen und Ambitionen der Studenten weit entgegen. Trotzdem: Rogers und einige Kommilitonen wurden zunehmend unzufriedener mit der Art und Weise, wie der Lehrstoff im Unterricht „ex cathedra“ angeboten wurde, und eine Gruppe von Studierenden reichte eine ungewöhnliche Anfrage bei McGiffert, dem Leiter des Union Seminary, ein. Neben Carl Rogers gehörte auch Theodore Newcomb, der später als Sozialpsychologe Karriere machte, zu dieser Delegation engagierter Studenten. Und auch für ihn muss das dann folgende hochschuldidaktische „Experiment“ von großem Einfluss gewesen sein. Der Antrag lief darauf hinaus, eine Seminargruppe ins Leben rufen zu dürfen, die ganz ohne Lehrer und ohne Unterweisung arbeiten sollte. Die Gruppe sollte sich ausschließlich mit den eigenen Fragen der Studenten beschäftigen können. Erstaunlicher war es, dass diese Bitte von der Collegeleitung tatsächlich gewährt wurde, wenn auch unter der Bedingung, dass ein junger Lehrerassistent während der Stunden anwesend sein und eine formale Aufsicht führen sollte. Es war aber klar geregelt, dass dieser nur sprechen durfte, wenn er von den Studierenden gefragt wurde. Von ihm sollte kein aktiver Beitrag und vor allem keine Beeinflussung oder gar Kontrolle ausgehen. Für Rogers und seine Mitstreiter brachte dieses
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führungslose, nicht-direktive Seminar viel Klarheit und neue Erkenntnisse. Vor allem die kontroversen und unzensierten, aber ehrlichen und authentischen Diskussionen der Studierenden untereinander hatten augenscheinlich eine befreiende und euphorisierende Wirkung. Ähnlich wie die Erfahrungen, die Carl auf seiner China-Reise sammeln konnte, wurden auch diese Gruppenerlebnisse am Union Seminary prägend für seine spätere nicht-direktive Arbeitsweise als Berater, Therapeut, Gruppenleiter und als Lehrer. Die Teilnehmer an diesem besagten Seminar nutzten die gewährten Freiheiten jedenfalls intensiv. In ihrem Bestreben, alle Fragen wirklich offen und ehrlich zu erörtern, diskutierten sich einige aus dem normativen Bezugsrahmen, den die Theologie vorgab, für immer hinaus. Wieder wurde Rogers in ein kreatives Durcheinander geworfen. Später schrieb er, dass er sich damals allmählich bewusst wurde, dass seine Verpflichtung, sich für ein besseres Leben des Individuums und der Gesellschaft einzusetzen, sich nicht mit dem Bekenntnis zu einer spezifischen theologischen Doktrin vereinbaren ließ. „Es schien mir eine grässliche Vorstellung, sich zu einem Gefüge von Glaubensinhalten bekennen zu müssen, um im eigenen Beruf bleiben zu können. Deshalb wollte ich einen Arbeitsbereich finden, der mir die Freiheit der Gedanken ließ“ (Rogers 1961: 8). Diese Beschreibung ist sicherlich nicht falsch. Sie zeigt aber nur die intellektuelle und abgeklärte Zusammenfassung eines natürlich viel komplizierteren und persönlich durchaus krisenhaften Suchprozesses, in dem Carl damals steckte. Die Entscheidung, die Studien- und Berufsrichtung zu wechseln, fällte er ja nicht einfach so, weil es vernünftiger schien. Vielmehr gab es eine ganz Reihe von konkreten Ereignissen, Erlebnissen und Konflikten, die seine Entscheidung, Psychologie zu studieren, stark beeinflussten und die ihn schließlich zwangen, eine berufliche Perspektive in der Kirche aufzugeben. Rogers hatte im Sommer 1925 wiederum die Gelegenheit ergriffen, Geld zu verdienen und dabei konkrete praktische Erfahrungen zu sammeln. Er konnte in einer kleinen Stadt in Vermont eine Vertretung als Pastor übernehmen, was für ihn im Alter von 23 Jahren eine aufregende Erfahrung war. Er hielt elf Predigten in East Dorset und behandelte darin religiöse Fragen der Genesis im Lichte der Wissenschaft und der Evolutionstheorie Darwins. Bei allem missionarischen Engagement stellten sich auch erste praktische Zweifel ein: So fand er es schier unmöglich, eine Predigt zu halten, die länger als 20 Minuten dauerte. Üblicherweise dauerte zu dieser Zeit eine Predigt 40–60 Minuten. Infiziert vom Projektlernen und vom „learning by doing“ spürte er, dass die Menschen so lange nicht passiv zuhören konnten und wollten. Auch fühlte er sich nicht wohl dabei,
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anderen Menschen seine religiöse Überzeugung aufzudrängen. So war seine Situation zwiespältig. Die missionierende Arbeit in der Menschenführung erfüllte ihn allerdings trotzdem mit tiefer Befriedigung. Die anderen Probleme kamen eher aus der praktischen seelsorgerischen Arbeit: Während seiner Besuche in den Familien kam er intensiv mit den sozialen Problemen und Nöten der Familien seiner Gemeinde in Berührung, die er als Kind, Jugendlicher und junger Erwachsener in seiner „religiösen und pädagogischen Provinz“ in Oak Park oder auf der „gentlemens farm“ seines Vaters nie zuvor erlebt hatte. Da gab es eine Alkoholikerfamilie, in der der Ehemann viele verschiedene Frauen mit nach Hause brachte. In einer anderen Familie wiederum lebte eine psychotische Frau, die sich und ihre Umwelt chaotisierte. In einer weiteren Familie war zuvor ein Familienmitglied an Krebs gestorben, und der Sohn tanzte im Raum neben der Leiche hysterisch lachend auf dem Tisch. Rogers war verstört und gestresst in seiner Rolle als Pfarrer und hatte keine Idee, wie er sich in solchen Situationen verhalten sollte. Schließlich musste ein Kollege aus der Nachbargemeinde einspringen, um das Begräbnis durchzuführen und der Familie in angemessener und würdiger Weise christlichen Trost zu spenden. Rogers war paralysiert. Um solchen Situationen gewachsen zu sein, musste er noch viel lernen. Sein psychologisches Interesse wuchs. Auch hier taten sich zwiespältige Gefühle auf. Er fühlte sich unzulänglich und zugleich herausgefordert. Die Arbeit der praktisch helfenden Seelsorge erfüllte ihn mit tiefer Befriedigung, wenn sie gelang. Es gab aber zu viele und zu ernste Situationen des Scheiterns und der Hilflosigkeit. Als diese Zeit vorüber war, diskutierte er mit Helen auf der Rückreise nach New York die Frage, ob er immer noch eine Berufung für das Kirchenamt spüre. Carl hatte bereits starke Zweifel. Darüber hinaus war Helen schwanger und beide machten sich Sorgen über die weitere Zukunft. So kam er zu Beginn seines zweiten Jahres am Seminar mit erheblichen Unsicherheiten in das bereits geschilderte nicht-direktive Gruppenexperiment bei McGiffert. Rogers’ Unzufriedenheit mit seinen theologischen Studien manifestierte sich schon während seines zweiten Jahres, und er fand einen Ausgleich, indem er zunächst am benachbarten Teachers College einige Kurse belegte und einen Spagat zwischen diesen beiden Welten probierte. Gleichzeitig hielt er noch immer seine Sonntagsschule ab und war in vielen praktischen Initiativen involviert. Helen sah ihn in dieser Zeit wenig, und sie erlebten zum ersten Mal eine problematische Zeit in ihrer Ehe. Rogers bemerkte das zuerst daran, das Helen sich zunehmend zurückzog, wenn er mit ihr schlafen wollte. Sie gab
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vor, sich nicht wohl zu fühlen oder müde zu sein. Rogers war enttäuscht, fügte sich aber, weil die Lehrbücher der damaligen Zeit schrieben, dass Männer ein größeres Verlangen nach Sex haben als Frauen. Vor diesem Hintergrund meldete er sich als Proband für eine Untersuchung über sexuelles Verhalten bei G. V. Hamilton. Dieser brauchte für seine Studien noch Material von jungen Menschen, die bereit waren, über ihre Erfahrungen in Ehe und Partnerschaft zu sprechen, und er bezahlte dafür. Seine Arbeit über sexuelles Verhalten von Studierenden war natürlich auch für Rogers interessant, und durch die Befragungen wurde ihm selbst klar, dass er immer sehr selbstverständlich davon ausgegangen war, dass Sex für Helen genauso wichtig und befriedigend war wie für ihn selbst, und er erkannte plötzlich, dass er noch nicht einmal wusste, ob Helen Orgasmen bei ihrer Vereinigung erlebte oder ob sie diese nur vortäuschte. Diese Erkenntnis war ein Schock für Carl, der doch Helen so gerne seine aufgeklärten Ansichten über Sex zu Beginn ihrer Ehe demonstriert hatte. Rogers war traumatisiert und kam sich nun wie ein Versager vor. Schlimm genug empfand er es, dass er es nicht wusste, noch schlimmer aber, dass er nicht wusste, dass er es nicht wusste. So begann er aufgeregt und ängstlich zu Hause ein klärendes Gespräch mit Helen. Er nannte es den „fightening process“, in dem er Helen alle Fragen stellte, die ihn beschäftigten, und alle Phantasien und Ängste aussprach, die er in der Beziehung zu Helen hatte. Auch Helen stieg mit ihren Fragen und Wünschen in dieses Gespräch ein, und sie nutzten die Krise, um alle Enttäuschungen, Leidenschaften, Tabus und Vorlieben voneinander zu erfahren. Die Offenheit und Vertrautheit, die diese Gespräche bewirkten, brachten beiden schließlich ihre Liebe und ihre Leidenschaft zurück. Aber auch noch auf einer ganz anderen Ebene hatte diese Erfahrung bei Carl einen prägenden Eindruck hinterlassen: Psychologische Tests und solche Untersuchungen, so konnte er hier am eigenen Leib erfahren, waren augenscheinlich nicht „nur“ objektive wissenschaftliche Verfahren, die von den jeweiligen Testpersonen nur ein paar Daten „abgriffen“ und diese ansonsten aber unbeeinflusst zurückließen. Sie hatten durchaus auch einen Einfluss auf die Untersuchungsobjekte selbst. Carl hatte sich eigentlich „nur“ für eine wissenschaftliche Studie zur Verfügung gestellt und war dadurch innerlich in ein ziemliches Durcheinander geraten, was sich wiederum auch auf seine Beziehung zu Helen auswirkte. So hatten sie ihre Krise mutig überstanden und fühlten sich durch ihre Gespräche näher und vertrauter als zuvor. Carl fand in der Bewältigung dieser Krise auch den Mut, seinen Eltern gegenüber den Konflikt einzugestehen, den er zunehmend mit seiner Berufsperspektive als Pfarrer und als
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Mann der Kirche spürte. Er wusste, dass sie mehr als enttäuscht sein würden, dass sie ihn wieder hänseln würden, dass er sich klein und nichtsnutzig vorkommen würde – und er hatte Angst davor. Sein Bruder Lester war inzwischen ein erfolgreicher Ingenieur in Vaters Firma. Er hingegen war nun 23 Jahre alt, verheiratet, seine Frau war schwanger, und er wusste immer noch nicht, was er beruflich anstreben wollte. Schon hörte er die ganze Familie über ihn lästern: „Typisch Professor Moony!“ Allein die Vorstellung von dieser erneuten Familienauseinandersetzung ließen das Magengeschwür wieder aufbrechen. Und dies alles in der Zeit, als für Helen die Geburt ihres ersten Kindes anstand. Ihr Sohn David wurde am 17. März 1926 geboren. Das Ereignis war von Carls Krankheit überschattet. Trotzdem brachte er den Mut auf und schrieb seinen Eltern, dass er das Union Seminary verlassen und nicht in den Dienst der Kirche eintreten werde. Er rechnete zwar mit neuem Ärger in der Familie, war aber über die Dramatik der folgenden Ereignisse erschüttert. Weil er eine Aussprache mit seinen Eltern wollte, um ihnen seine Situation zu erklären und um ihr Verständnis und ihre Zuneigung zurückzugewinnen, suchte er zur Behandlung seines Magengeschwürs nicht in New York eine Klinik auf, sondern fuhr mit Helen und dem Baby zur 2000 Meilen entfernten Mayo-Klinik in Minnesota, in der er früher schon einmal behandelt worden war und die nicht sehr weit von Chicago entfernt war. Er wollte, dass seine Eltern ihn, Helen und das Enkelkind David dort besuchen sollten. Helen mietete sich mit dem Säugling in einem Zimmer in der Stadt ein. Aber niemand von der Familie Walter und Julia Rogers erschien. Vater und Mutter konnten ihm seine Entscheidung, nicht Pfarrer zu werden, nicht verzeihen und reagierten abweisend und bestrafend. Sie hatten sogar Carls Geschwistern verboten, Helen, Carl und David zu besuchen. Es ist für das Familienklima kennzeichnend, dass die Wagenburgmentalität aus der Zeit der Pioniersfamilien in der Tat auch in dieser Situation funktionierte und sich so Carls gesamte Familie seinen Bemühungen um eine Annäherung verweigerte. Für Carl war dies ein weiterer Beweis für die Unmenschlichkeit der christlichen Moral, die in seinem Elternhaus so hochgehalten wurde. Verbittert wie seine Eltern waren, ignorierten sie seine Krankheit, das neugeborene Enkelkind David und die erheblichen Anstrengungen, die Helen und Carl auf sich genommen hatten, um unter diesen schweren Bedingungen ein Familientreffen möglich zu machen. Ein weiteres Ereignis später im Jahr machte die Entscheidung endgültig perfekt, das Berufsziel des Pfarrers aufzugeben: Direkt nach der zweiten Operation im August, in einem alles in allem sehr schweren Jahr, musste Carl wieder die Kasse auffüllen, und statt Urlaub veranstaltete er zusam-
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men mit Helen einen Workshop über Ehe und Sexualität im Rahmen eines christlichen Sommer-Camps in Colorado. Sie hatten David bei Helens Eltern zurücklassen können und traten als Paar und Gruppenleiter auf. Das Thema des Workshops legte es nahe, dass sie auch die Fragen aus Hamiltons Untersuchung benutzen wollten, mit denen das Paar Helen und Carl in der eigenen Beziehung ja bereits positive Erfahrungen gemacht hatte. Aber weit gefehlt! Die anderen Helfer des Camps waren empört, dass solche „schmutzigen“ Fragen in diesem Kreis gestellt werden sollten und verweigerten die Mitarbeit. Für Carl und Helen war dies ein weiterer Beweis dafür, dass die Kirche und die organisierte Religion zu rigide waren, um in ihr lebenslänglich arbeiten zu können. Wenn man sich vor Augen führt, dass diese Auseinandersetzung Mitte der 1920er Jahre in einem puritanisch und konservativ protestantisch geprägten Amerika und lange vor der Zeit der sexuellen Aufklärung in den 1960er Jahren stattfand, dann kann man etwas von dem progressiven Elan erfassen, der in dieser Zeit als Lebensreformbewegung viele Menschen bereits berührt hatte und der im 20. Jahrhundert zu verschiedenen Zeiten immer wieder durchbrach – am intensivsten in den 1960er Jahren, in denen Carl Rogers als Mitsechziger mit der Hippie- und Studentenbewegung plötzlich von ähnlichen Reform- und Aufbruchsstimmungen umgeben war.
Das Studium der klinischen Psychologie Zurück in New York stand noch das Gespräch mit McGiffert über den Wechsel zum Teachers College an. Es verlief unproblematisch, weil McGiffert keinen seiner Studenten in ein Kirchenamt zwingen wollte, und so beschreibt Rogers diesen Wechsel in seinen eigenen autobiographischen Schriften abgeklärt und vernünftig. Er habe nur auf die andere Seite der Straße gehen müssen, um dort seine Studien fortzusetzen. David Cohen kommentiert diesen Schritt in seiner „kritischen“ Biographie allerdings als einen sehr viel bedeutungsvolleren Akt: Rogers habe mit dieser Entscheidung die Ideale seiner Jugend verraten und sich zu Gunsten einer Karriere gegen den Vorsatz aus seiner Jugendzeit entschieden: „Gehet hin und missionieret die Welt in dieser Generation.“ Dieses Ziel des fundamentalistischen Protestantismus hat er sicherlich aufgegeben, aber sein gesamtes weiteres Wirken und sein Lebenswerk als Psychologe, Berater und Psychotherapeut zeigt deutlich, dass Carl Rogers trotzdem immer ein sendungsbewusster Lehrer und ein engagierter Missionar geblieben ist – freilich zunächst für streng wissenschaftliche und später dann für humanistische Ideale.
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Am Teachers College belegte er verschiedene Kurse in klinischer Psychologie. Einer fand unter der Leitung von Leta Hollingworth statt. Rogers beschreibt sie als eine Frau, die die Eigenschaften eines warmherzigen Menschen mit denen einer kompetenten Wissenschaftlerin in einer Person vereinen konnte. Dank Hollingworth machte er erste Erfahrungen in der psychologischen Arbeit mit psychisch traumatisierten Kindern. Diese machte ihm nach einigen kleineren Anlaufschwierigkeiten, weil er so scheu und gehemmt im Umgang auch mit Kindern war, großen Spaß. Nach einer Weile konnte er mit Kindern therapeutische Gespräche führen und auch mit ihnen spielen. Von Leta Hollingworth übernahm er den Terminus „Klient“. In seiner wissenschaftlichen Ausbildung lernte er hier Methoden der Fallstudie, der Längsschnittuntersuchung, der psychodynamischen Tests und spezielle Interviewtechniken kennen. Es folgten intensive wissenschaftliche Studien z. B. bei E. L. Thorndike, einem Pionier der neueren Testpsychologie im Bereich der Intelligenztests. Das Klima im Fach Psychologie beschrieb Rogers am Teachers College als streng naturwissenschaftlich. Die Haltung war geprägt von einer kalten, objektiven Untersuchungsmethodik, von Laborbedingungen, von statistischen Erhebungen und vergleichenden Messungen. Alles musste messbar sein oder messbar gemacht werden können. Sigmund Freud und die Psychoanalyse galten als unwissenschaftliche Scharlatanerie. Auch Carl Gustav Jung erschien in dieser naturwissenschaftlichen Perspektive obskur, obwohl er sich auch mit Testverfahren den Phänomenen des Seelenlebens genähert hatte. Vielleicht war diese neue naturwissenschaftliche Strenge, die Rogers nun in „seinem“ neuen Fach erlebte, aber auch genau das, was er als „Gegendogma“ gut brauchen konnte. Die sozialpsychologisch beschreibbare Tendenz, sich als strenger (positivistischer) Wissenschaftler über andere Wissenschaftsauffassungen zu erheben, um auf diese dann elitär herabzublicken, dieser Mechanismus war ihm seit Kindertagen aus seiner Familiensozialisation vertraut. Jedenfalls wurde in diesem Institut der experimentell-wissenschaftliche Teil seiner Persönlichkeit aus seinen Jugendtagen auf der Farm mit Morrisons Lehrbuch ›Feeds and Feeding‹ wieder angesprochen und herausgefordert – allerdings nun ohne missionarischen Eifer und emotionale Begeisterung, sondern mit strenger Untersuchungsdisziplin. Es fiel gerade in diesem Studienabschnitt auf, dass Carl bisher stets seinen Neigungen folgend studiert hatte und ihm deshalb als graduierter Student die statistischen Grundkenntnisse im Hauptfach Psychologie fehlten. Am Ende des ersten Studienjahres wurde ihm das erst mitten in den Abschlusstests bewusst, als er die letzten Aufgaben der Klausur, in denen es um teststatistische Fragen ging, nicht beantworten konnte. Dass er in
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Prüfungssituationen nicht brillieren konnte, war er nicht gewohnt. Bis hierhin war er stets von einem intellektuellen Erfolg leichtfüßig zum nächsten geeilt, sein IQ-Test hatte hervorragende Ergebnisse gebracht und ihm Brillanz bescheinigt – und jetzt das! Er stürzte in depressive Selbstzweifel und wurde ärgerlich. Nach der Darstellung von David Cohen beschimpfte er den Aufsichtsführenden, dass die Vorlesung unübersichtlich gewesen und der vorlesende Professor nicht den besten Lehrmethoden gefolgt sei (Cohen 1997: 52). Später war er nie sicher, ob er die Prüfung nur wegen seines Aufbegehrens bestanden hatte oder wegen seines Wissens. Aber er hatte damit auch ein wichtiges Erleben, was Prüfungsangst bewirken konnte, und seine ersten Zweifel an der Angemessenheit wissenschaftlicher Kriterien in der Messung von pädagogischen Erfolgen. Gleichwohl blieb er im Umfeld des Psychologischen Instituts und legte dort später dann auch seine Doktorarbeit vor.
Das Stipendium am „Institute of Child Guidance“ Sein Interesse an der Arbeit mit Kindern brachte Rogers am Ende seines Studium dazu, sich für ein Stipendium am „Institute of Child Guidance“ zu bewerben. Goodwin Watson und Leta Hollingworth hatten ihn mit exzellenten Gutachten ausgestattet und der Auswahlkommission mit besten Empfehlungen vorgeschlagen. Er erhielt das Stipendium. Aber es war zugleich mit einer zentralen Grenzerfahrung gekoppelt, die Rogers später in seiner beruflichen Laufbahn in unterschiedlicher Form immer wieder entgegentrat: die Auseinandersetzung mit den Machtverhältnissen im Gesundheitswesen, speziell mit den Psychiatern. Carl musste heftig um die Höhe des Stipendiums streiten. Den Rangordnungen und Machtverhältnissen der akademischen Disziplinen und der wissenschaftlichen Berufsgruppen entsprechend, konnten Psychiater ein Stipendium von 2500 Dollar erhalten, Psychologen stand dagegen nur die Hälfte zu. Für Rogers glich das einem finanziellen Desaster, und er setzte einen entsprechenden Beschwerdebrief auf, der zeigt, wie überzeugend er auch für seine Interessen argumentieren konnte. Schließlich hätten er und seine Familie zum Zeitpunkt der Bewerbung mit 2500 Dollar gerechnet. Er sei Familienvater und könne nun nicht mehr seine Pläne so kurzfristig umstellen. Letztlich konnte er mit diesem Schreiben durchsetzen, dass er das Stipendium in der gleichen Höhe wie die Psychiater erhielt; dies dann allerdings, wie sich später zeigte, nur für ein Jahr. Es wurde nicht verlängert! Das „Institute of Child Guidance“ in New York ging auf das erste Kinder- und Jugendrecht zurück, das 1909 in den USA als Teil einer fort-
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schrittlichen Gesellschaftspolitik etabliert wurde. Hier kam der neue Gedanke der Resozialisierung zum Ausdruck. Straffälligen Kindern und Jugendlichen sollte die Chance einer „Besserung“ gewährt werden. Die ersten Jugendhilfeeinrichtungen wurden von der Regierung in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg 1919 eingerichtet. In der Praxis hatte in den USA vor allem der Psychiater William Healy damit begonnen, mit straffälligen Kindern zu arbeiten, und er versuchte, beeinflusst von Freud und Aichhorn, psychoanalytische Theorien auf dieses Klientel anzuwenden. Er ging davon aus, dass vor allem sexuelle Triebhaftigkeit zu kriminellen Verhaltensweisen führte. Zu viel Onanie, zu frühe Triebregungen, aber auch zu wenig triebhafte Erregung, kurzum alles, was mit libidinöser Energie zu tun hatte, konnte als Ursache und Erklärung herangezogen werden. Das „Institute of Child Guidance“ in New York hatte die Hauptaufgabe, Weiterbildungen für die sozialen Berufe zu organisieren, die in den Feldern der Jugendfürsorge tätig waren: Sozialarbeiter, Lehrer, Psychiater, Ärzte, Psychologen. Rogers hatte hier von 1927–1928 die Gelegenheit, ein ganz anderes wissenschaftliches Milieu kennen zu lernen. Das Institut befasste sich hauptsächlich mit psychoanalytischer Theorie und einer daraus abgeleiteten Methodik. Rogers war nun umgeben von klinischen Ärzten, die eine ganz andere Zielsetzung verfolgten, als dies seine naturwissenschaftlichen Mentoren am Teachers College taten. Aus diesen Gegensätzen zwischen Behaviorismus und Psychoanalyse lernte Rogers viel, und obwohl er sich in beiden Richtungen nicht wohl fühlte, nahm er doch aus jedem Ansatz etwas mit und integrierte es später in sein eigenes Werk. Der Persönlichkeitstest, den er in seiner Promotionsarbeit vor dem Hintergrund der tiefenpsychologischen Praxis im „Institute of Child Guidance“ für Kinder im Alter zwischen 7 und 13 entwickelt hatte, war eine solche erste Synthese. Er wurde von ihm in einem Praxisfeld entwickelt, das psychoanalytisch strukturiert war, und musste doch als Promotionsarbeit vor allem der wissenschaftlich objektiven Betrachtungsweise der Psychologen am Teachers College genügen. Roger schaffte diesen Spagat. Sein Test wurde als klinisches Instrument am Institut akzeptiert. Rogers versuchte mit dieser Methode herauszufinden, ob die zur Diagnose vorgestellten Kinder emotionale Probleme hatten. Er achtete bei diesem Test darauf, dass die subjektiven Erfahrungen und Äußerungen der Kinder berücksichtigt wurden, die er über Wortassoziationen zu ermitteln suchte. Das war neu! Fragen wie „Was fällt dir zu dem Wort Hund ein?“, „Was zu Katze?“ sollten die Kinder spontan beantworten. Wichtig war ihm, dass die Kinder die Aufgabenstellung des Assoziierens richtig verstehen konnten, und er gab deshalb in dem Testmanual eine Reihe von einführenden Übungen und Demonstrationen, an denen der Tester erken-
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nen konnte, ob das Kind die Aufgabenstellung auch intellektuell verstanden hatte. Er konnte mit dieser „Kommunikationsbrücke“ zeigen, dass auch schon sehr junge Kinder diese Testaufgaben durchaus erfüllen konnten. Dies widersprach den damaligen Auffassungen der Kinderpsychologie. In Analogie zu dem von C. G. Jung entwickelten Testverfahren versuchte er die Zeit zu messen, bis die Antworten gegeben wurden, kam aber trotz mancher Abwandlungen nicht zu einem klaren Ergebnis. Letztlich fand er den Bildertest am fruchtbarsten. Als den Kindern Bilder aus dem Familienleben gezeigt wurden, fingen sie an zu sprechen und erzählten, was sie zu Hause erlebt hatten, was sie später einmal werden wollten, was sie über ihre Geschwister dachten. Die Kinder, die später mit dem fertigen Test untersucht wurden, durften auch ihre Tagträume, Wünsche, Phantasien und ihre Meinung von sich selbst, über ihre Familie und ihre Freunde in dem Test mitteilen. Alles in allem hatte Rogers ein differenziertes und funktionstüchtiges Instrumentarium entwickelt. Seine Doktorarbeit erhielt den Titel „Measuring Personality Adjustment in Children Nine to Thirteen Years“ (Messung von persönlichen Einstellungen bei Kindern im Alter zwischen 9 und 13 Jahren). Erstmals veröffentlicht wurde der Test 1931 in der „YMCA’s Association Press“ – ein Zeichen dafür, dass die Verbindungen zu den jungen Christen nicht ganz abgebrochen waren. Im Laufe der Jahre wurde er in den Beratungsstellen für Kinder und Jugendliche ausgesprochen populär und verkaufte sich noch bis in die 1970er Jahre mit mehr als 500000 Exemplaren sehr gut (Kirschenbaum 1995: 9). In der Entstehungsphase war es jedoch vorerst nur ein Projekt, an dem er, finanziert durch das Stipendium, ein Jahr arbeiten konnte. Diese Zeit reichte aber nicht aus, um die Arbeit als Promotion abzuschließen – den Weg zu einer Verlängerung des Stipendiums hatte er sich selbst mit seiner forschen Verhandlungsführung zu Beginn verbaut. Helen war erneut schwanger, und es folgte eine weitere finanzielle und familiäre Krise. Tochter Natalie wurde am 9. Oktober 1928 geboren. Wie schwierig die finanzielle Situation war, kann man daran ersehen, dass Rogers sich in seiner Verzweiflung bei der „Culver Military Academy“ um eine freie Stelle bewarb. „Hatte er früher als Jugendlicher seinen Eltern so leidenschaftlich von John Wyclifs Pazifismus geschrieben, so war er nun im Begriff, bei der Armee eine Stelle anzutreten. Seine Familie, die sich verweigert hatte, ihn in Minnesota zu besuchen, würde ihn auslachen. Sie würden wieder gnadenlos herumlästern können, wenn sie das je herausfinden würden“, so fasst David Cohen diesen Lebensabschnitt zusammen (1997:56).
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Die ersten Berufsjahre als klinischer Psychologe in Rochester „Rogers war nicht in der Lage und nicht bereit sich einer der vorherrschenden psychologischen Lehrmeinungen anzuschließen. Diese Unfähigkeit zur Orthodoxie ist eine Indikation für seine geistige Unabhängigkeit, und sie spiegelt sich in der Wahl seiner ersten beruflichen Anstellung als Psychologe wider“, so schreibt Brian Thorne, ein englischer Biograph, über Carl Rogers’ Berufswahlentscheidung (Thorne 1992: 8). Howard Kirschenbaum, der amerikanische Biograph, ordnet 1995 diesen Sachverhalt pragmatischer ein: „Als verheirateter Mann mit einer Frau und einem Sohn namens David und einem zweiten Kind unterwegs konnte er nicht warten und auswählen. Sofort, wenn ein Job in Upstate New York frei werden sollte, würde er zusagen“ (Kirschenbaum 1995: 9). Wie immer es in den beiden Biographien dargestellt wird, tatsächlich war die Situation für Carl und Helen wohl noch viel schwieriger, als es aus diesen Zeilen zu entnehmen ist. David Cohen berichtet detaillierter: Der Stellenmarkt war zu dieser Zeit selbst für promovierte und hoch qualifizierte Psychologen sehr eng. Hundert graduierte Studenten, die mit ihren Doktorarbeiten im Distrikt New York beschäftigt waren, konnten nur auf 45 offene Stellen blicken. Nachdem Rogers seine Bewerbung an die „Culver Military Academy“ abgeschickt hatte, hörte er davon, dass die „Society for the Prevention of Cruelty to Children“ in Rochester eine neue Sektion eröffnen wollte, und er bewarb sich dort. Rochester war damals ein kleines und trostloses Industriestädtchen im Norden nahe an der kanadischen Grenze. Das Vorstellungsgespräch verlief zu seinen Gunsten. Er hatte einschlägige Erfahrungen, hervorragende Zeugnisse und an bekannten Institutionen studiert und gearbeitet. Beide Parteien konnten sich inhaltlich schnell einigen, nur war da wieder ein Problem mit der Höhe des Gehalts. Dieses sollte nur 2900 Dollar im Jahr betragen, und Rogers verhandelte um ein besseres Angebot – diesmal jedoch mit schlechten Aussichten: Nicht nur, dass es um 1928 in New York doppelt so viele Psychologen wie Stellen gab, auch das Ansehen des Psychologenberufs, speziell im Bereich der klinischen Psychologie, war sehr gering. Dieses Spezialgebiet wurde zu 68 Prozent von Frauen studiert, die nach Meinung der Öffentlichkeit den Beruf nicht ernst nahmen. Warum also sollte die Gesellschaft mehr bezahlen? Schließlich musste Rogers das Angebot annehmen, zum einen weil er kein besseres Angebot hatte und zum anderen, weil ihn diese Stelle davor rettete, einen Job beim Militär anzutreten (Cohen 1997: 57f.). Auf der Ebene biographischer Bedeutungsfindung ist es interessant, dass Carl, das seelisch verwundete Kind und selbst immer noch im Kampf
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mit seinen Eltern, eine erste feste Anstellung in einer Einrichtung findet, deren Klientel „Problemkinder“ sind. Als Rogers ein paar Jahre später sein erstes Buch veröffentlicht, stellt er sich darin als psychologischer Experte in der Behandlung von Problemkindern vor.
Unter den Sozialarbeitern: Auf der Suche nach einer beruflichen Identität Im Frühjahr 1928, also etwa 11/2 Jahre vor dem großen Börsenkrach und der danach beginnenden Weltwirtschaftskrise 1929–1931, tritt Rogers in der Abteilung Kinderforschung der „Rochester Society for the Prevention of Cruelty to Children“ seine erste Stelle an. Diese Tätigkeit bot für eine akademische Laufbahn die denkbar schlechtesten Karrierechancen. Rogers befand sich plötzlich in einem eher unattraktiven Berufsfeld und weit weg von den „Academics“, den „High Standards“. Allerdings eröffnete ihm die Stelle die Aussicht auf eine Arbeit, die ihm Spaß machte und für die er ein großes soziales Engagement, eine qualifizierte Ausbildung und – was ihm möglicherweise weniger bewusst war – auch dank eigener Betroffenheit genügend einfühlende Sensibilität mitbrachte (Rogers 1961: 10). Die „Society for the Prevention of Cruelty to Children“ verfolgte allerdings nicht das präventive Ziel, Grausamkeiten an Kindern zu verhindern, wie der Name der Gesellschaft etwas missverständlich suggeriert, und man darf sich keine Illusionen über die Orientierungen der staatlichen Politik Ende der 1920er Jahre in den USA machen: Es ging eher um Resozialisierungsmaßnahmen und um die Wiederanpassung der Kinder und der Familien an das normale Leben. Rogers’ Aufgabe als klinischer Psychologe war es, vorwiegend Kinder daraufhin zu untersuchen, ob bzw. welche kognitiven und/oder emotionalen Probleme sie hatten. Anfang der 1930er Jahre, als in Amerika mehr als 12 Millionen Arbeitslose im wörtlichen Sinne auf der Straße saßen, viele Familien in den Städten hungerten und ohne Fürsorgemaßnahmen zurechtkommen mussten, sahen die überforderten Einrichtungen dieser Art ihre Aufgabe vorwiegend darin, schwierige Kinder umzuerziehen. An präventive Maßnahmen war in solchen Zeiten aktueller Not nicht zu denken. Rogers machte hier zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn sicherlich noch keine Ausnahme. Als junger wissenschaftlicher Experte für klinische Psychologie waren Kinder „sein“ Problem, das er mit wissenschaftlichen Mitteln untersuchte. Eine ganze Reihe von kleineren Aufsätzen und Vortragsmanuskripten zeugen von den Bemühungen, als klinischer Experte eine Position innerhalb der Sozialarbeit und der Einrichtungen des psychosozialen Feldes zu finden:
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1930: 1931: 1933: 1933: 1935:
„Intelligenz als ein Faktor von Camping-Aktivitäten“ „Ein Test von persönlichen Einstellungen“ „Wir zahlen für die Schmidts“ „Eine gute Pflegefamilie: Möglichkeiten und Grenzen“ „Unsere wachsende Aufgabe, den Kindern unserer Gemeinde bei ihren Problemen zu helfen“ 1935: „Einige Probleme in der Beratung von Eltern und Schule – Wie sie von einem klinischen Psychologen gesehen werden“ 1936: „Sozialarbeiter und Rechtsprechung“ 1937: „Die Ansicht eines klinischen Psychologen über persönliche Probleme“; „Ein zukünftiges Programm für Rochester, das jungen Menschen helfen kann“; „Drei Studien über die Behandlung von Kindern“ 1938: „Eine diagnostische Studie über die Jugend von Rochester“ 1939: „Autorität und Casework – passt das zueinander?“; „Das notwendige Verständnis für die Ausbildung von klinischen Psychologen“; „Ein Programm, um den Delinquenten zu verstehen“ 1940: „Die veränderte Beziehung zwischen Gruppenpädagogik und Casework“; „Familienbeziehungen – die ‚Vitamine‘ einer „Psychologie des Wachstums“7 Die Zeitschrift „The Camping Magazine“ diente ihm als Forum. Sie veröffentlichte 1930 seinen Beitrag über „Intelligenz als ein Faktor von Cam7 Alle Texte dieser Zeit zeigen, wie sehr Rogers als klinischer Psychologe mit Fragen des Gemeindelebens, der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen und vor allen Dingen auch mit Problemfamilien und damit auch mit den Kolleginnen und Kollegen der Sozialarbeit zu tun hatte. Seine Arbeiten zeigen, dass er sich bis 1940 nicht mit Psychotherapie im engeren Sinne befasste. – Erst sein Beitrag ›Der Prozess der Therapie‹ (1940) thematisierte dieses Aufgabengebiet, dem sich Rogers von da an immer stärker zuzuwenden begann – ohne sich vorher in kleineren Artikeln und Schriften entsprechend „vorbereitet“ zu haben. Die Zentrierung auf Psychotherapie war eine Entwicklung, die in der Kriegszeit 1940 begann, in der augenscheinlich durch die allgemeine Not die Beratungsstellen zunehmend auch therapeutische Aufgaben übernehmen mussten und in der, wie man sehen konnte, durch die funktionalistische Schule der Sozialarbeit mittlerweile ein ausgearbeitetes methodisches Konzept vorlag, dass die amerikanische Form der Einzelfallhilfe (Case Work) sehr in die Nähe moderner psychoanalytischer und psychotherapeutischer Behandlungsformen brachte. Eine moderne und offene Psychoanalyse, wie sie von Otto Rank gelehrt wurde, infiltrierte die Casework-Methode und entwickelte sich zu einer neuen Methode der therapeutischen Einzelarbeit, die Carl Rogers als Psychologe dann unter dem Begriff „nicht-direktive Beratung und Therapie“ zu propagieren begann.
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The Camping Magazine, Dezember 1930 (aus: Manuskript-Abteilung der Library of Congress, Washington D.C., Box 41).
ping-Aktivitäten“ (Jugendfreizeit), in dem er nachwies, dass die Jugendlichen, die am kompletten Camp-Lawrence-Programm der RochesterYMCA teilgenommen hatten, einen auffallend höheren Intelligenzquotienten zeigten als die Kontrollgruppe. Ein paar Jahre später hielt er einen Vortrag auf der Jahrestagung des amerikanischen Berufsverbandes der Sozialarbeiter zum Thema „Auto-
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rität und Casework – passt das zueinander?“, in dem er zu dem neuen Trend in der Sozialarbeitsszene Stellung nimmt, kaum noch Autorität zu zeigen und stattdessen vorwiegend weich und verständnisvoll zu agieren. Rogers’ Einstellung war weniger streng als die der Polizei oder anderer Fürsorgeeinrichtungen. Aber es ging doch darum, Wege, Mittel und geeignete Maßnahmen zu finden, um das Kind oder die Familie „umzudrehen“ und der Gemeinde Kosten zu sparen. Er plädierte klar dafür, Fälle, in denen delinquente Hilfesuchende die Hilfe nicht annehmen wollen und keine Einsicht zeigen, an das Gericht weiterzuleiten. Rückblickend beschrieb Rogers die 12 Berufsjahre in dieser sozialpsychiatrischen Beratungsstelle in Rochester als ausgesprochen wertvoll. Er betrachtete seine helfende und beratende Arbeit als soziale Mission und fühlte sich dem Wohlergehen der benachteiligten, verwahrlosten und verhaltensauffälligen Kinder und Jugendlichen und deren Eltern verpflichtet. Es war eine Zeit, in der sich im klinischen und helfenden Bereich die unterschiedlichen akademischen Berufsgruppen, die uns heute weitgehend vertraut sind, mit ihrem eigenständigen Profil und in ihrer Zusammenarbeit erst herausbildeten. Sie steckten als Professionen noch in den Kinderschuhen und mussten ihre ersten Gehversuche in der Praxis unternehmen: der klinische Psychologe, der klinische Sozialarbeiter, der Psychiater in der Sozialfürsorge, der klinische Soziologe, alle diese neuen Fachkräfte rivalisierten und kooperierten in den neuen Aufgabenfeldern. Auch die Einrichtung von Carl zählte dazu: Jährlich wurden hier 600–700 Kinder vorgestellt, die bettnässten, stotterten, stahlen, in Lügenwelten lebten, aggressiv waren, Opfer sexueller Übergriffe in Inzest-Familien wurden, Anzeichen von Sadismus und Tierquälerei zeigten, Dreck oder Kot aßen oder ähnliche Auffälligkeiten zeigten. Zuständig für diese soziale Arbeit waren Einrichtungen der Medizin und Psychiatrie, der Sozialfürsorge, des Erziehungswesens und der Kinderpsychologie. Die Kinder oder ihre Eltern wurden zunächst zur Diagnose und einige davon dann später auch zur Behandlung zu Rogers geschickt. Die meisten seiner Klienten entstammten Multiproblemfamilien und hatten bereits Erfahrungen mit dem Gericht, dem Jugendamt und der Sozialberatungsstelle gemacht, so dass zumeist schnell konkrete Maßnahmen eingeleitet werden mussten und wenig Zeit für elaborierte Tests, langwierige Theorien und allgemeine Forschungshypothesen blieb. Unter den Bedingungen der Arbeit mit dieser Randgruppenklientel war eine direkte, intervenierende Praxis, wie sie unter den Sozialarbeitern verbreitet war, eher gefragt als eine mittelschichtorientierte bedächtige und selbstreflexive „white collar“-Therapie, wie sie von dem pychoanalytischen Verfahren angeboten wurde. Benötigt wurden ein möglichst schneller und direkt wirksamer Zu-
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gang zu den Kindern und ihren Eltern sowie Hilfsangebote, die tatsächlich etwas verändern konnten und die den Bedürfnissen des Klientels entsprachen. Roger entwickelte damals in seinen ersten Berufsjahren mit der „Component Factor Method“ ein neues diagnostisches Verfahren, das acht Bedingungsfelder untersuchte, von denen die Experten annahmen, dass diese die Entwicklung der Kinder und damit auch ihr gegenwärtiges Verhalten beeinflussten: 1. Vererbung, 2. Gesundheit, 3. Mentalität, 4. SelbstEinsicht, 5. Emotionales Familienklima, 6. Wirtschaftliche und kulturelle Faktoren, 7. Soziale Erfahrungen, 8. Erfahrungen in der Erziehung und im Schulwesen. Die Kinder, ihr Verhalten und ihre Umgebung, ebenso ihre gegenwärtigen und vergangenen sozialen Erfahrungen wurden zusammen mit einem Sozialarbeiter, der die sozialen Umfeldbedingungen der Klienten kannte, in diesen acht Feldern auf einer siebenstufigen Skala eingeschätzt. So konnte der Mitarbeiterstab sich ein Bild machen, auf welchem Gebiet die größten Nöte vorhanden waren und wo effektive Hilfen und Behandlungsangebote gemacht werden sollten. Ziel dieses Instrumentes war es, die Effektivität von Hilfemaßnahmen vorausschauend einschätzen zu können. In einem Vortrag, den Rogers 1939 in Washington für die Gesellschaft für Angewandte Psychologie hielt, demonstrierte er am Fall „Tony“ die Möglichkeiten, Prozesse der Veränderung in diesen unterschiedlichen Bedingungsfeldern zu messen. Dieses Arbeitskonzept stellte Rogers später in seinem ersten Buch einer breiteren Öffentlichkeit vor: ›The Clinical Treatment of the Problem Child‹ (Rogers 1939). Ohne an dieser Stelle auf die statistischen Details einzugehen, mit denen Rogers versuchte, seine Testverfahren hinsichtlich ihrer Reliabilität zu überprüfen, ist es psychologisch sehr interessant, welche Untersuchungsthemen er verwendete, um die Erlebenswelt von Kindern zu erschließen. Ein Test versucht die Wünsche von Kindern zu erfassen, die Rogers in drei Kategorien teilte: 1. Wünsche, besser auszusehen, 2. Wünsche nach glücklicheren Beziehungen und 3. Wünsche nach mehr Freunden und besseren sozialen Kontakten. Abgesehen davon, dass dies dem deutschen Leser sehr amerikanisch vorkommen mag: Es ist offensichtlich, wie stark diese Einteilung von den Nöten beeinflusst ist, die „Professor Moony“ in seiner Kindheit quälten, und aus welchen Quellen Rogers hier schöpfen konnte. In einer so herausfordernden Situation machte Rogers rasch die Erfahrung, dass auch die elegantesten Behandlungskonzepte, die bis dahin vorlagen und die er im Studium und in seiner klinischen Ausbildung kennen gelernt hatte, den Anforderungen dieser Realität kaum entsprachen. Weit ab von den Dogmen des akademischen Forschungsbetriebs begann er sich
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Carl Rogers: Component Factor Ratings (aus: Manuskript-Abteilung der Library of Congress, Washington D.C., Box 41).
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und seine Arbeit ganz pragmatisch als Pioniertätigkeit aufzufassen. Wenn das, was er studiert hatte, nicht ausreichte oder nicht passend war, dann musste er sich selbst etwas einfallen lassen. So machte er sich daran, seine tagtägliche Arbeit theoretisch zu formulieren und eigene Idee und Vermutungen aus der praktischen Erfahrung gezielt zu überprüfen. Es waren zu dieser Zeit sehr unterschiedliche Behandlungskonzepte und Interventionsstrategien im Umlauf: Die verhaltensmodifizierende Strategie, die die Umwelt des Kindes zu verändern suchte, war ein ebenso bewährtes Konzept wie das, die Eltern der Kinder durch pädagogische Trainings zu besserem Erzieherverhalten zu erziehen oder ihnen konkrete Hilfen zur Entlastung im Familienleben anzubieten. Gelegentlich wurde auch die Umwelt des Kindes radikal verändert, indem man es in eine Pflegefamilie gab oder einen Schulwechsel einleitete. Vorwiegend die Soziarbeiter entwickelten Nachbarschaftsprogramme und suchten die sozialen Einbindungen der Familien durch Vereine und Selbsthilfegruppen zu fördern. In etwa einem Fünftel der Fälle, so zeigte sich nach dieser diagnostischen Abklärung mit Rogers’ „Component Factor Method“, waren Beratungsgespräche oder direkte Therapie angezeigt. Und auch hier in dem schmalen Beratungsbereich, für den nur einige wenige Kinder oder Eltern nach der diagnostischen Abklärung in Frage kamen, fühlte sich Rogers herausgefordert, Neues zu wagen. Er experimentierte mit therapeutischen Behandlungskonzepten von „geringerem Tiefgang“, wie „Educational Therapy“, „Überredung und Verführung“, „Entspannungsverfahren“ oder „Ausdrucks- und Spieltherapie“. Er setzte sich auch mit Konzepten und Methoden „tiefergehender“ Therapien auseinander, so mit der Psychoanalyse, mit interpretativen Therapieverfahren und mit der Beziehungstherapie nach Otto Rank. In all diesen experimentellen und offenen Arbeitssituationen stand die praktische Problembewältigung so stark im Vordergrund, dass die Grenzen der Fachdisziplinen keine Rolle zu spielen schienen. Die helfenden Berufe suchten in dieser Zeit aktueller sozialer und wirtschaftlicher Not nach praktizierbaren Methoden und Verfahren der Problemlösung, wobei Status und fachliche Herkunft nur eine untergeordnete Rolle spielten. Mit Roosevelts „New Deal“ wurden in den USA auch erste sozialstaatliche Maßnahmen „links von der Mitte“ versucht und Ideen aus der „progressiven Bewegung“ wieder aufgegriffen. Soziale Einrichtungen erlebten einen Aufschwung. So kam es, dass Rogers in dieser Zeit tief in die Lösung sozialer Aufgaben eintauchte und eher projekt- und lösungsorientiert arbeitete als fachlich entlang seiner akademischen Disziplin. Weit ab von der Universität, tief in die Bewältigung praktischer Fragen verstrickt, konnte er seine professionelle Identität und Zugehörigkeit nicht mehr sicher an-
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geben – er fühlte sich kaum noch als klinischer Psychologe. Seine Art zu arbeiten und sich zu engagieren wurde von der Universität in Rochester nicht als akademische Psychologie angesehen, und ihr Psychologisches Institut verweigerte ihm einen akademischen Lehrauftrag. Von Anbeginn seiner beruflichen Karriere an begleitet ihn nun auch das Trauma in wiederkehrenden Episoden, dass er von seiner „Zunft“ der akademischen Psychologie Amerikas ebenso wenig anerkannt wurde wie von seiner Familie zu Hause. Die Amerikanische Gesellschaft für Psychologie (APA), deren Tagungen er eifrig besuchte, befasste sich damals vorwiegend mit Lernprozessen bei Ratten und mit anderen Laborexperimenten, in denen Rogers seine beruflichen Tätigkeit nicht wiedererkennen konnte. Nicht dass er nicht erfolgreich war, aber er blieb mit seiner Arbeit in einem kollegialen Sinne heimatlos, weil er sich von den Forschungsgegenständen, den Dogmen und Umgangsformen der akademischen Psychologie durch seine praktische Berufstätigkeit immer weiter entfernte. Er hielt zwar die Fahne der empirischen Testpsychologie in der Praxis der Beratungsstelle hoch, aber seine akademischen Kollegen von der Universität schien das nicht zu beeindrucken. So engagierte er sich stärker in den Berufsorganisationen der psychiatrischen Sozialarbeit und übernahm, strebsam und ehrgeizig wie er war, auch dort wiederum sehr schnell führende Ämter (Rogers 1961: 22). So beauftragte ihn der Magistrat der Stadt New York, die nationale Konferenz der Sozialarbeiter, die 1937 in New York stattfinden sollte, auszurichten und zu leiten. Im Fach Soziologie hingegen erhielt er später, als er Direktor des neuen therapeutischen Zentrums war, einen Lehrauftrag an der Universität Rochester zu dem Thema „Wie man Problemkinder versteht und behandelt“, und auch die Pädagogische Fakultät in Rochester erteilte ihm einen Lehrauftrag zur Arbeit mit Problemkindern. Sehr viel später erst, als Rogers bereits im Begriff war, Rochester zu verlassen, war auch das Psychologische Institut bereit, ihm einen Lehrauftrag zu erteilen. So wie er als Kind, Jugendlicher und junger Erwachsener um die Zuneigung und Bestätigung seiner Eltern gekämpft hatte, so rang er auch stets um die Anerkennung als Wissenschaftler durch die Fachgesellschaft der akademischen Psychologen. Wie überhaupt: Seine ehrgeizigen und kämpferischen Charakterzüge werden erst deutlich, wenn man seine berufliche Karriere genauer betrachtet.
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Der Kampf um die Leitungsstelle Rogers hatte, mit dem Angebot des Psychologischen Instituts, nach neun sehr erfolgreichen Berufsjahren bereits 1937 ein regional gut funktionierendes Hilfesystem etabliert, und es war ihm gelungen, im Zuge der allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Entwicklung die Justiz und die Verwaltung für die Sorgen und Nöte der Kinder und ihrer Familien aufgeschlossener zu machen. Aber er teilte in dieser Art der Arbeit das Los der anderen Sozialberufe: zu viel Not, zu viel praktische Arbeit, zu viele Untersuchungen, zu viele Gutachten und Termine und wenig Zeit für wissenschaftliche Arbeit und für Veröffentlichungen. So konnte er sich trotz der Anerkennung seiner Arbeit in der Region im wissenschaftlichen Sinne kaum ausweisen. Lediglich ein paar Aufsätze und Berichte von ihm waren in Regionalzeitschriften oder in Zeitschriften der Sozialarbeiter erschienen. Er schrieb zwar immer noch regelmäßig seine Ideen, Pläne und Konzepte auf und überdachte das, was er beruflich tat, aber für ausführlichere wissenschaftliche Arbeiten fehlte einfach die Zeit. In dieser Zeit war Rogers sicherlich ein schlechter Familienvater, wenig zu Hause und wenn, dann spät abends noch mit Aufzeichnungen seiner täglichen Arbeit befasst. Die Kinder sah er kaum, und auch Helen hatte wenig von ihm. Sie führten in jeder Hinsicht ein traditionelles Familienleben. Im März 1936 eröffnete er der Geschäftsleitung der „Gesellschaft zur Verhinderung von Grausamkeiten an Kindern“ sein Vorhaben, in Rochester eine eigenständige Beratungseinrichtung zu eröffnen, die Dienste für Kinder und Jugendliche, aber auch therapeutische Angebote für Erwachsene bereitstellen sollte. Roosevelts Politik des „New Deal“ unternahm in diesen Jahren einen zweiten Anlauf und verabschiedete neue Sozialgesetze (1936: Social Security Act), nachdem die ersten Versuche in der Zeit zwischen 1933 und 1935 mit rein wirtschaftspolitischen Maßnahmen voranzukommen, sich als unzulänglich erwiesen hatten. Nun sollten soziale Neuerungen eingeführt werden. Rogers’ Pläne trafen somit auf eine günstige politische Großwetterlage. „Seine“ psychologische (!) Klinik sollte die vorhandenen sozialen Angebote in der Region fachlich vertiefen. Da es so etwas bislang nicht gab, fand die Idee Anklang, und es war klar, dass Carl Rogers dann der Leiter dieser Einrichtung werden sollte. So begann er eine Kampagne, um eine eigenständige psychologische „Child Guidance Clinic“ aufzubauen. Er kannte die Machtverhältnisse zwischen Psychologen und Medizinern aus seinen frühen Kämpfen genau. Seine Überlegungen waren deshalb pfiffig: Für eine psychologische Klinik brauchte der Leiter kein Mediziner zu sein, so argumentierte er in der Öffentlichkeit. Sein Vorsitz in dem Berufsverband der Sozialarbeiter half
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ihm dabei, ein Komitee einzurichten, das diese Idee in Rochester zu propagieren half. 5500 Teenager, die Rat, Aufklärung und Hilfe brauchten, hatte Rogers ermittelt. Darüber hinaus stellte er eine Versorgungslücke in der sozialen Betreuung der Jugendlichen im Alter von 16 bis 18 Jahren fest. Das neu zu gründende Zentrum sollte als psychologisches Zentrum aber auch Erwachsene und Paare z. B. bei Ängsten und Depressionen beraten. In der Planungsphase ging das Komitee davon aus, dass Erwachsene für diese Dienstleistungen bezahlen sollten.
Das erste Buch: ›The Clinical Treatment of the Problem Child‹ Es zeigte sich schnell, dass die geplanten Rahmenbedingungen des neuen psychologischen Zentrums von den Mitarbeitern des Projektes und den Befürwortern zwar leicht zu beschließen, aber nicht problemlos in die politische und institutionelle Realität umzusetzen waren. Der Führungsanspruch der Ärzte war stark. Rogers wurde von einem befreundeten Arzt empfohlen, an die Universität zurückzugehen, um dort Medizin zu studieren. Anschließend könne er ja Direktor dieses Instituts werden. Das kam für Rogers mit seinen 35 Jahren und als Ernährer seiner Familie natürlich nicht mehr in Frage, und so versuchte er, alle möglichen Argumente und Interessengruppen für dieses Projekt zu sammeln und hinter seinen ambitionierten Plan zu bringen. Den Kampf, den er mit den Medizinern um die Direktorenstelle dieses neuen Instituts ausfocht, hat er später als den wohl wichtigsten beruflichen Kampf seiner ganzen Laufbahn bezeichnet. Für sein Vorhaben schreibt Rogers in seiner Urlaubszeit im Sommer 1937 sein erstes Buch ›The Clinical Treatment of the Problem Child‹. Ganz in der Rolle des akademischen Psychologen gibt er darin einen nüchternen Überblick über die bisher vorliegenden Behandlungskonzepte der 1930er Jahre und stellt anschließend seine „Component Factor Method“ vor, mit der in einer diagnostischen Vorabklärung festgestellt werden kann, in welchem Bereich die größten Schwierigkeiten der Kinder zu finden sind, die eine gesunde Entwicklung behindern, und wo die einzusetzenden Hilfsmaßnahmen am intensivsten wirken können. Entsprechend dieser Einschätzung sollten gezielt fürsorgerische, pädagogische oder psychologische Maßnahmen eingeleitet werden. Die Rolle der Wissenschaft sah Rogers vor allem darin, die unterschiedlichen Arbeitsperspektiven der verschiedenen Berufsgruppen und ihre Behandlungsmethoden in einem problem- und fallorientierten Sinne zusammenzuführen und Entscheidungshilfen zu den Fragen anzubieten, wann welche Maßnahme warum als geeignet erscheint. Er plädierte für eine problem- und lösungsorien-
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tierte Perspektive. Die Arbeit der psychosozialen Beratungseinrichtungen sollte nicht bestimmt werden durch die Perspektive einzelner Psychotherapieschulen, z. B. durch die Methoden von Freud, Adler oder Jung und auch nicht allein von denen der Behavioristen. Rogers nimmt hier, mit seiner Rolle als wissenschaftlicher Testpsychologe, eine neutrale, aber übergeordnete Stellung ein. Alle methodischen Ansätze hätten ihre spezifischen Begrenzungen und nur (empirische) wissenschaftliche Untersuchungen könnten herausfinden, was nun gerade für dieses Kind oder für diese Familie geeignet sein könnte. Speziell auf die Maßnahme der Fremdplatzierung (ein Kind aus der Familie herauszunehmen, um es in ein Heim oder in eine Pflege- oder Adoptionsfamilie zu geben) geht er vertiefend ein und legt Studien und Erfahrungsberichte aus seiner eigenen Einrichtung vor. Das Buch wird ein mäßiger Erfolg, stattet Rogers aber mit akademischen Weihen aus und hilft ihm sehr bei seinem Kampf um die Leitungsstelle des neuen Zentrums.
Von den Sozialarbeitern lernen Seine weitgehend pragmatische, engagierte und zugleich doch auch wissenschaftsbezogene Vorgehensweise fand auch im Aufgabenbereich der Entwicklung neuer Beratungsmethoden Anerkennung bei einigen Sozialarbeiterinnen in Rogers’ Abteilung. Im Beratungsbereich verfügte er eher über wenig praktische Erfahrung und eigene Qualifikationen, war aber wohl bereit und interessiert, von Kollegen und Kolleginnen aus dem Bereich Sozialarbeit zu lernen. Besonders genannt werden sollen hier seine Kolleginnen aus der so genannten funktionalistischen Schule der Sozialarbeit, die den Fokus der Hilfegespräche auf persönliches Wachstum und die Entwicklung der Selbstständigkeit des Klientels legte: Elizabeth Davis, Jessie Taft und Virginia P. Robinson, die als Schülerinnen von Otto Rank eine eigene Behandlungsmethodik in ihrer Fallarbeit (case work) entwickelt hatten. Sie und ihr Kollege Frederick Allen hatten einen starken praktischen Einfluss auf Rogers’ Berufsleben als Berater, und ihre Interpretation der Ideen und Praktiken von Rank wie auch der gesamte Arbeitsstil dieser modernen Richtung der Sozialarbeit färbten langsam, aber sicher auf Rogers’ Überzeugung und klinisches Verhalten ab. Viele Jahre später würdigte Rogers öffentlich, dass er in der Entwicklung seiner eigenen Beratungsmethode in Jessie Tafts Schuld stehe. Er sei durch sie von den Rank’schen Ideen „infiziert“ worden, nämlich „… zu realisieren, dass das Individuum möglicherweise selbst-direktiv sein kann“. Ähnliche Ideen haben in der Geschichte der amerikanischen Sozial-
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arbeit durchaus eine eigene Tradition, die in das 19. Jahrhundert zurückreicht. Sie dienten der Bewältigung der sozialen Probleme der Einwanderer. So war die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg davon geprägt, dass Amerika zwar zur stärksten Agrar- und Industriemacht aufgestiegen war, zugleich aber hatte die Wirtschaftskrise von 1893 bis 1896 erhebliche strukturelle und soziale Mängel der allein vom Big Business geprägten Nation deutlich gemacht. Die Industrialisierung, das Stadtleben, die neuen technologischen Erfindungen und der rasante Fortschritt des Kapitalismus fanden ihr kritisches Gegenüber in einer breiten sozialen Reformbewegung, die in Amerika ebenso wie in Europa eine allgemeine (moralische) Erneuerung der Lebensführung und der politischen Institutionen des Gemeinwesens forderte. Das „progressive movement“ zeigte ihre Auswirkungen um die Jahrhundertwende in allen Lebensbereichen, in der Erziehung, im Gesundheitswesen, in Religion und Politik, geriet dann allerdings mit dem Ersten Weltkrieg in einen ersten und ernüchternden Stillstand.8 In dieser Zeit hatte sich in der Fürsorgeszene der Städte New York und Chicago eine neue Form der Selbst- und Gemeinschaftshilfe „von unten“ entwickelt. Mit den „Settlements“ konnte die amerikanische Sozialarbeit auf eine etablierte und bewährte Tradition der freiwilligen Gemeinschaftshilfe zurückblicken, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt hatten. Die Settlements waren Wohngemeinschaften von sozial eingestellten Akademikern, die in den Arbeiter- und Elendsvierteln der beiden Hafenstädte New York und Chicago versuchten, soziale Zentren aufzubauen, die speziell den Immigranten eine erste Orientierungshilfe in der Neuen Welt gaben. Die Settler halfen den neu angekommenen Immigranten und denjenigen, die keine Chance hatten, die amerikanische Staatsbürgerschaft legal zu erlangen und deshalb in den Elendsquartieren und ethnischen Gettos der Hafenstädten ihr Dasein fristen mussten, wo sie als Illegale von Kleinunternehmern ausgebeutet wurden. Zugleich waren die Settler aufgrund ihrer Vorbildung und ihres Engagements auch sozialpolitisch tätig und erstritten bei den Kommunen eine Verbesserung der Infrastruktur in den Elendsvierteln: Wasserversorgung, Müllabfuhr, Krankenversorgung, Hygiene, Verkehrsanbindung usw. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde 1919 in den USA das Alkoholverbot eingeführt und die Prohibitionszeit begann, die bis 1933 galt. 1920 wurde 8 Wie man an Rogers’ Biographie unschwer erkennen kann, blieben die „progressive education“ und das „progressive movement“ ganz allgemein in den Hochschulen, Universitäten und Ausbildungsstätten sehr lebendig. Rogers studierte die damals modernste und lebendigste Form der Theologie und der Pädagogik.
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das Wahlrecht für Frauen eingeführt und im Mai 1921 ein Einwanderungsbeschränkungsgesetz verabschiedet, um nur einige der Gesetzgebungsmaßnahmen zu nennen, mit denen die Regierung versuchte, die Situation einigermaßen in den Griff zu bekommen. Ende der 1920er Jahre führten die Auswirkungen des „Big Bang“ an der amerikanischen Börse zur Weltwirtschaftskrise. Dies hatte Arbeitslosigkeit, Hunger und soziale Not in den Städten zur Folge, die erneut eine verstärkte Binnenwanderung der Bevölkerung hervorrief. Darüber hinaus gab es auch weiterhin Ströme von Immigranten, die aus der ganzen Welt in den Häfen von New York und in Chicago legal und illegal eintrafen und auf eine neue Existenz hofften. Ein grundlegendes Bedürfnis dieser Menschen war die Sehnsucht nach einem Neuanfang, die Suche nach menschlicher Bejahung, nach Zugehörigkeit und nach existentieller Sicherheit. Für die sozialen Einrichtungen der Städte und Gemeinden der 1920er und der 1930er Jahre bedeutete dies die Aufgabe, neue Hilfeeinrichtungen aufzubauen und die etablierten Selbsthilfebewegungen mit den neuen staatlichen Fürsorgemaßnahmen zu verzahnen. Es bedeutete auch die Notwendigkeit zur Entwicklung von neuen Hilfeformen für die amerikanischen Arbeitslosen, Obdachlosen und Immigranten, die den Grundsätzen amerikanischer Lebensgestaltung entsprachen: absolute Freiheit des Einzelnen und möglichst große Freiheit gegenüber behördlichen und fürsorgerischen Maßnahmen. Es entstanden neben den losen Netzwerken unabhängiger sozialer Hilfen neue staatliche Einrichtungen und seit den 1930er Jahren auch ein neues Wechselspiel zwischen öffentlicher und freier Fürsorge (Müller 1988, S.105; Neuffer 1990, S.91). Mit der Casework-Methode hatte die amerikanische Sozialarbeit eine eigenständige Arbeitsweise entwickelt, die insbesondere in den 1930er Jahren von der Psychoanalyse beeinflusst und durchdrungen wurde. Neben der aktuellen Hilfe in äußeren Lebenssituationen nahm auch das Interesse an der inneren Erlebniswelt des Klientels zu. Durch enge Zusammenarbeit mit Ärzten und Psychiatern hatte sich die Sozialarbeit Zugang auch zu psychotherapeutischen Arbeitskonzepten von Freud und anderen Analytikern verschafft. Die Casework-Methode wurde so etwas wie die „Psychoanalyse für die Armen“. Speziell die Aspekte der Ich-Theorie, die Bedeutung der frühen Kindheit, der Einfluss der helfenden Beziehung und die Nutzung der Übertragungsvorgänge zur Aktivierung der Klienten zur Selbsthilfe waren wesentliche Beiträge der Psychoanalyse. 1930 erschien Virginia P. Robinsons Buch ›A Changing Psychology in Social Case Work Treatment‹, in dem diese neue professionelle Sichtweise zum Ausdruck gebracht wurde. In der Folge entwickelten sich auf dieser psychoanalytischen Basis zwei unterschiedliche methodische Schulen: Die dia-
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gnostische Schule, die von Gordon Hamilton 1937 repräsentiert wurde, und die funktionalistische Schule, die im gleichen Jahr von Virginia P. Robinson und Jessie Taft vorgestellt wurde. Die diagnostische Orientierung in der Sozialarbeit war dabei nichts prinzipiell Neues. Mit dem Konzept der „Social Diagnosis“ von Mary Richmond lag ein den Ärzten und Anwälten abgeschautes Verfahren der anamnestischen Erhebung aller sozialen Wirkungsfaktoren eines Falles als Arbeitsmethode bereits seit 1915 vor. Neu war jedoch der Ansatz der funktionalistischen Schule, die von Otto Ranks „Beziehungs- und Willenstherapie“ maßgeblich beeinflusst war. Rank war 1924 erstmals in den USA und lehrte als Erster, lange vor den europäischen Immigrantenkollegen in den 1930er Jahren, an der „School of Social Work“ in Pennsylvania eine ganz eigene und neue Version der Psychoanalyse, in der der Wille des Patienten als Ressource und die Beziehung zwischen Analytiker und Patient im Mittelpunkt standen. Der Fokus der Arbeit lag auf der Lösung des gegenwärtigen Problems und nicht so sehr im Verstehen der Einflüsse aus der vergangenen Kindheit. Die funktionalistische Methode grenzte sich von der diagnostischen Methode dadurch ab, dass sie eine Psychologie des Wachstums und der Persönlichkeitsentwicklung favorisierte und auf eine Diagnose von Störungen und Krankheiten weitgehend verzichtete. „Nur gemeinsam können Klient und Sozialarbeiter entdecken, was der Klient mit der angebotenen Hilfe anfangen kann. Die Aufgabe des Sozialarbeiters ist es dabei, seinen eigenen Anteil an dem Prozess der Beziehung zu kontrollieren, nicht aber für die Erreichung eines vorbestimmten Zieles zu sorgen“ (Smalley 1974, S. 97). Die soziale Arbeit lasse sich als helfender Prozess verstehen, der vom Sozialarbeiter so zu steuern sei, dass der Klient die Hilfemaßnahme auch optimal in seinem Sinne nutzen kann. Darüber hinaus verband Rogers den Einfluss aus den Methoden und Prinzipien der funktionalistischen Schule der Sozialarbeit mit dem Einfluss von Otto Rank und seiner Begeisterung für das Projektlernen seines Pädagogik-Lehrers William Heard Kilpatrick zu einer neuen Synthese. Und wahrscheinlich entwickelte und radikalisierte Rogers hier in Rochester auch seine Überzeugung, die er in der Pädagogik Deweys früher schon aufgenommen hatte, dass nämlich jedes Individuum die Fähigkeit besitzt, seine eigene Problemlösung selbst zu finden. In seinen späten Jahren in Rochester lernte er es auch zu akzeptieren, dass es therapeutisch ineffektiv ist, das Verhalten eines Klienten zu interpretieren. Wie man daran unschwer erkennen kann, liegt Rogers’ Verdienst nicht so sehr in der Erfindung einer neuen Methode, sondern eher im lernenden Aufgreifen der Ansätze, in deren Integration und später in der Verdichtung dieser unter-
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schiedlichen Elemente zu einem praktizierbaren, überprüfbaren und in sich schlüssigen Gesamtkonzept. In diese fruchtbare Zeit seiner Berufspraxis fällt auch der berühmte Vorfall mit der Mutter eines delinquenten jungen Menschen, der ein Schlüsselerlebnis für Rogers Behandlungskonzept werden sollte: Kaum einige Minuten, nachdem Rogers’ beschlossen hatte, die Therapie mit ihr zu beenden, da sie sich standhaft weigerte, seine vorsichtigen Interpretationen ihres Verhaltens gegenüber ihrem Sohn zu akzeptieren, wandte sie sich während der Verabschiedungszeremonie an Rogers und fragte, ob er auch Erwachsene therapieren würde. Als er diese Frage bejahte, zog sie ihren Mantel wieder aus, nahm auf dem selben Stuhl wieder Platz und erzählte ihm die Geschichte nochmals komplett von vorn, diesmal jedoch aus ihrem eigenen Erleben heraus, in ihren eigenen Worten und mit entsprechender gefühlsmäßiger Beteiligung. Sie war wie ausgewechselt und schilderte ihm ihre Verzweiflung und Probleme in ihrer Ehe. Für Rogers war dies ein Beweis dafür, dass Klienten selbst besser als der Therapeut wissen, wie sie vorangehen wollen und müssen. Später formulierte er daraus seine nicht-direktive Maxime: Es sei nicht die Aufgabe des Therapeuten, den Weg zu weisen oder eine Richtung vorzugeben, in der die Lösung des Problems zu finden ist, sondern der Behandelnde habe die Rahmenbedingungen im Gespräch dafür zu schaffen, dass sich die Selbstaktualisierungskräfte des Klienten entwickeln können. Diesen sei dann zu folgen (Rogers 1961: 11). Entgegen der damals üblichen Praxis beschäftigte sich Rogers auch in seiner beruflichen Tätigkeit weiterhin intensiv mit der wissenschaftlichen Durchdringung und Erforschung seiner Arbeit. Der einsame und ambitionierte Lerner und Forscher, der Rogers bereits seit seiner Jugendzeit auf der Farm war, konnte gar nicht anders, als auch hier alle möglichen Versuche zu unternehmen, um diese neuen Aufgabenbereiche und deren Bearbeitung gedanklich zu ordnen und in ihrer Effektivität zu messen und zu bewerten. In einer Zeit, in der die meisten anderen Kollegen vorwiegend alleine praktische Lösungen suchten und die therapeutische Arbeit noch in den Kinderschuhen steckte, zweifelten viele daran, dass sich für die Beratungs- und Psychotherapiearbeit ein wissenschaftlicher Zugang überhaupt eignen könnte. Als Forscher war Rogers absolut gegen diese Zweifel, obwohl er zugab, dass die Vorstellung, den therapeutischen Prozess eines Tages messbar machen zu können, auch für ihn „grässlich“ sei. Dennoch vertrat er die Auffassung, es sei die Verpflichtung des Therapeuten zu verhindern, dass sich Therapie langfristig nur in einer mystischen, geheimnisvollen oder undurchsichtigen Sphäre bewegen würde, in der allein Experten das Sagen haben (so sein Hauptvorwurf an die psy-
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choanalytische Praxis), sondern sie sollte fest in wissenschaftlichem Denken verankert und geerdet sein und ohne Rücksicht auf Vorbildung und beruflichen Stand von jedermann studiert, gelernt und angewendet werden können. So etwa lauteten die demokratischen Überzeugungen, die seiner Beratungs- und Therapiemethode zugrunde lagen. Man kann an dieser Stelle unschwer die missionarischen Ideale und Einflüsse aus seiner protestantischen Jugendzeit erkennen, für die Rogers später mit seiner wissenschaftlich begründeten Therapiemethode gegen die dogmatischen Amtsinhaber und Priester der Psychotherapie, gegen die Psychoanalytiker und Psychiater zu Felde zog – so wie Luther damals mit seinen Thesen zu Wittenberg gegen die katholische Kirche. In dieser Zeit war er noch skeptisch gegenüber den Behandlungsmethoden anderer und vertraute in klassisch testpsychologischer Manier lediglich seinen eigenen wissenschaftlichen Untersuchungen und Statistiken, die er umfangreich und sorgfältig angelegt hatte. Seine Berichte und Papiere, die er auch nach Feierabend noch schrieb, zeugen von dem Engagement und Ehrgeiz, mit dem er die Berufspraxis wissenschaftlich zu durchdringen suchte. Sowohl die Ergebnisse der Maßnahmen zur Unterbringung von Kindern in Pflegefamilien als auch die Ergebnisse der anderen Maßnahmen, die bei mehr als hundert Kindern eingeleitet wurden, korrelierte er mit den Ergebnissen, die er aus seinem Testverfahren hatte. Es zeigten sich deutliche Tendenzen, die er in der Zeitschrift des Berufsverbandes der Sozialarbeiter veröffentlichte und die ihm Einfluss und Ansehen in der regionalen Wohlfahrtsszene verschafften. So konnte er z. B. zeigen, dass Kinder, deren IQ mit „geringer als 80 Punkte“ gemessen war, den Wechsel in eine Pflegefamilie nicht verarbeiten konnten, wohingegen immerhin 71% dieser Maßnahmen erfolgreich waren, wenn Kinder mit einem IQ zwischen 80 und 100 Punkten betroffen waren. Noch 1934/35 war er den neuen therapeutischen Behandlungsverfahren gegenüber skeptisch, die Jessie Taft und Frederick Allen vorgestellt hatten. In Jessie Tafts Buch ›The Dynamics of Therapy in a Controlled Relationship‹ fanden sich 1933 bereits fast alle Ingredienzien für die nichtdirektive Beratungs- und Therapiemethode, die Rogers ab 1940 selbst propagierte. Rogers sagte später über das Buch, dass er es als ein kleines Meisterwerk des Denkens und Schreibens ansehe. In offener Ichform schreibt die Autorin darin von ihrer Erfahrung her: „Ich präsentiere eine Gelegenheit für das Kind, sich selbst in einer neuen gegenwärtigen Beziehung zu erleben, und zwar in einer gegenwärtigen Perspektive, nicht in einer vergangenheitsorientierten. Ich bin in einer Position, in der ich mit den Gefühlen, die das Kind mir gegenüber ausdrückt, umgehen kann.
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Ich kann seinen Kampf verstehen, ohne mich hineinziehen zu lassen. Ich kann sein Bedürfnis, mich nicht zu mögen, verstehen, ohne gekränkt zu sein und es auch nicht mögen müssen“ (Taft 1933: 76). Aber Rogers brauchte wohl noch eine gewisse Zeit und vermutlich auch das oben geschilderte Schlüsselerlebnis aus einem der Pflegekinderprojekte als Anstoß, um sich offensiv hinter diese neue Behandlungsmethode zu stellen und sie später zu seiner eigenen zu machen. Auch musste er dazu erst noch einen weiteren Schritt vollziehen und dieses Konzept, das in der Arbeit mit Kindern entwickelt wurde, auf die Behandlung von Erwachsenen beziehen.
Die nicht-direktive Beratung: 1940–1944 Der Universitätsprofessor in Ohio Rogers war sich sicher, dass er seine nächste Arbeitsstelle, seine erste Professur an einer Universität, der Veröffentlichung seines Buches ›The Clinical Treatment of the Problem Child‹ (Rogers 1939) zu verdanken hatte. Ohne seine Fähigkeit, schnell und überzeugend zu schreiben, hätte Rogers möglicherweise noch viele Jahre als Leiter der psychologischen Klinik in Rochester weitergearbeitet. Obwohl er sich hier eine angesehene Position erarbeitet hatte, zog es ihn hin zu einer intensiveren fachlichen Auseinandersetzung als klinischer Psychologe und zu empirischen Forschungsarbeiten. Auch wollte er gewiss die Anerkennung seiner akademischen Berufsgruppe wiedererlangen, von der er in den letzten Jahren inmitten der Sozialarbeiter doch so weit weg war. In seinen autobiographischen Texten schreibt er stets, dass er und seine Familie Rochester sehr ungern verlassen hatten. Carl war tief in das Leben der Gemeinde verwoben, er hatte gute berufliche Kontakte in der Region aufgebaut und er hatte seine erste „Schlacht“ mit den Medizinern um die Direktorenstelle an der neuen psychologischen „Child Guidance Clinic“ gewonnen, die er konzeptionell erfunden und berufs- und regionalpolitisch zusammen mit den Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen durchgesetzt hatte. Die Familie genoss den großen Freundeskreis und das soziale und kulturelle Leben in der Stadt. Die Kinder, David nun 14 und Natalie 12 Jahre alt, hatten ihre Freunde in der Schule, die natürlich auf Drängen beider Eltern eine Schule der „progressiv education“ war. Alle freuten sich im Sommer auf die Ferien in einem Ferienhaus in der Nähe des Seneca-Sees, das Rogers bereits 1932 mit zwei befreundeten Kollegen gekauft hatte. Ein Teil des Landes hatte sein Vater Walter ihm überraschend geschenkt, und die alten Spannungen und Konflikte aus der Zeit um Davids Geburt waren wieder einer durchaus wohlwollenden Atmosphäre gewichen. Alle Rogers-Familien trafen sich öfters auf diesem Feriengrundstück. Es ist interessant nachzulesen, wie die beiden Kinder die Zeit in Rochester und ihren Vater erlebt haben. An der Haley School fühlten sich beide gut aufgehoben und zu selbstständigem Lernen im Sinne der Projektmethode angehalten. In kleinen Lerngruppen von ca. 15 Schülern wur-
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den sie ermuntert, das zu tun, was ihnen auch in ihrem Elternhaus nahegelegt wurde, nämlich für sich selbst zu denken und einen eigenen Weg zu entwickeln. Natalie Rogers beschreibt ihren Vater in der Rochester-Zeit als scheu, zurückgezogen und strebsam und bestätigt auch die Aussagen, die Rogers über sich selbst und seine Beziehung zu seiner Familie machte: Er meinte, er sei wohl kein guter Vater gewesen, der viel am Leben seiner Kinder teilgenommen habe. Die Arbeit am „Child Guidance Center“ ließ ihm wenig Zeit. So kann sich Natalie kaum an Szenen erinnern, in denen Vater Carl mit den Kindern spielte. „In dieser Zeit seines Lebens war er ein sehr seriöser Intellektueller, der versuchte, Respekt und Ansehen zu erwerben, indem er öffentliche Ämter und Verantwortungen für seine Berufsgruppe übernahm. Ich erinnere mich an ihn als sehr streng und diszipliniert, obwohl er freundlich und sanft war. Manchmal erzählte er uns Gute-Nacht-Geschichten. Das waren dann stets wahre Geschichten, die er selbst als Junge auf der Farm in Illinois mit seinem Hund „Shep“ oder später als junger Mann auf der China-Reise erlebt hatte. (…) Er liebte uns sehr, da gab es keinen Zweifel. Aber seine Fähigkeiten, uns das auch zu zeigen, waren begrenzt. (…) Die meisten Leute denken, dass ich in einem ‚klient-zentrierten‘ Haushalt aufgewachsen bin, mit Eltern, die Experten in Empathie, Kongruenz und im Zuhören waren. So war es nicht. Meine Kindheit begann 1928. Als Carls Buch über nicht-direktive Beratung 1942 erschien, war ich 14 Jahre alt. So entdeckte ich erst in meiner High-School-Zeit, als er Professor an der Ohio State University war, seine Schriften über Empathie. Obwohl Carl gegen die sehr strenge religiöse Erziehung der Congregationalisten rebelliert hatte, prägte vieles davon immer noch sein Zusammenleben mit uns: Die Eltern waren eindeutig die Autorität, Regeln waren Regeln und ein „Nein“ meinte auch nein. Wir hatten das zu tun, was uns gesagt wurde, und das ohne Widerworte“ (Rogers, N. 1995: 187f.). Auch David konnte sich nicht an viele Situationen seiner Kindheit erinnern, in denen er mit seinem Vater zusammen war. Und wenn, dann standen nicht Gespräche, sondern konkretes handwerkliches Tun im Vordergrund. Reparatur- und Zimmermannsarbeiten auf dem Freizeitgrundstück am See im Urlaub, auch gemeinsame Hausarbeiten dort und natürlich auch das Studium der Nachtfalter. Auch er beschreibt seinen Vater Carl als scheu, liebevoll und zurückhaltend. Eine Situation fällt ihm ein, um Carl in dieser Zeit zu porträtieren. David ging auf eine Vorbereitungsschule für ein sehr berühmtes College. Die Eltern der anderen Schüler waren alle aus sehr wohlhabenden Kreisen. Im unmittelbaren Vergleich zu diesen Vätern war er damals nicht sehr stolz auf seinen scheuen und leisen Vater. Fast schämte er sich ein bisschen für Carl „in der Umgebung dieser ein-
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flussreichen, gut gekleideten und redegewandten Eltern, die den ‚Smalltalk‘ beherrschten, bedeutende Geschäfte besaßen, immer mehr zu sagen hatten und freudiger mit den Jugendlichen im Gespräch waren. Wenn ich jetzt zurückblicke, kann ich nur sagen: Wie habe ich mich doch geirrt!“ (Rogers, D. 1995: 275 f.). Mit seiner ersten Professur an einer Universität beginnt für Rogers auch eine bedeutende soziale Statusveränderung und eine Veränderung seines Umfeldes. Die wirtschaftliche Lage im Amerika dieser Zeit hatte sich deutlich stabilisiert. Die Reformen der Demokraten unter Franklin D. Roosevelt zeigten ihre Auswirkungen. Amerika befand sich in einer prosperierenden Situation, konnte aber seine strikte Neutralitätspolitik aus den Jahren 1935–1937 nicht mehr durchhalten. Die außenpolitische Situation spitzte sich vor dem Eintritt in den Zweiten Weltkrieg immer mehr zu. „Amerika hasst den Krieg“, wie Roosevelt in seiner Quarantäne-Rede im Oktober 1937 erklärt hatte, und: „Amerika hofft auf Frieden!“ Aber vergeblich: Die ersten Verwicklungen in den Zweiten Weltkrieg hatten sich bereits angebahnt. Die beiden Friedensbotschaften 1938 und 1939 an die faschistischen und totalitären Staaten Deutschland und Italien blieben ohne Wirkung. Über die Embargopolitik war Amerika langsam, aber sicher an die Grenze der Neutralität angelangt und konnte den demokratischen Staaten Europas langfristig seine Hilfe und Unterstützung nicht mehr verweigern. In seiner berühmten Rede vom Januar 1941 verkündete Roosevelt mit den „vier Freiheiten“ die Grundprinzipien der amerikanischen Außenpolitik. Danach trat Amerika nun ein für: 1. Die Freiheit der Rede und der Meinungsäußerung – überall auf der Welt. 2. Die Freiheit für jeden, Gott auf seine Weise zu verehren – überall auf der Welt. 3. Die Freiheit von Not – überall auf der Welt. 4. Die Freiheit von Furcht – überall auf der Welt. Diese Erklärung war ein demokratischer und ethischer Kontrapunkt zu den Zielen, die die diktatorischen Nationen verfolgten, die den Zweiten Weltkrieg schürten. Noch bevor Amerika aktiv in den Zweiten Weltkrieg eingetreten war, waren große Flüchtlingswellen deutscher Emigranten in den Staaten angekommen: politisch und religiös verfolgte Menschen, vor allem Juden, Künstler und Intellektuelle, die in einer zweiten Welle auch die Psychoanalyse „im Gepäck“ hatten. Speziell Psychologen, Psychoanalytiker und Psychiater suchten mit ihrem beruflichen Wissen Arbeit in den USA. Sigmund Freud hatte 1939, also viele Jahre nach seiner Amerikareise, noch in einem Brief an Dr. Charles Berg vermutet, dass die Psychoanalyse in dem puritanischen Amerika wohl nie heimisch werden würde – doch nun brach
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die Psychoanalyse im Amerika der 1940er Jahre als eine Mode- und Massenerscheinung aus. Ende dieses Jahrzehnts war es fast unmöglich, eine Zeitung oder ein populärwissenschaftliches Magazin aufzuschlagen, ohne auf „Tiefenpsychologisches“, ohne auf Freud und seine Schüler zu stoßen. Alfred Farau beschreibt die Situation so: „Plötzlich war alles anders! Fast über Nacht wurde Freud zur Legende und die Analyse zur nationalen Epidemie. … psychoanalytische Fachausdrücke schwirrten bei jeder Party durch die Luft, und Träume wurden zum Nachtisch interpretiert, wie man einst Nüsse knackte“ (Cohn/Farau 1984, S.179). Auch für Carl Rogers und seine Familie war dies eine Zeit des Umbruchs. Er ging nach Ohio an die dortige „State University“. Das Angebot, das er dort erhalten hatte, war zu verlockend, um es auszuschlagen, schreibt er in seinen autobiographischen Passagen. Dort war, nachdem Henry Goddard, ein Pionier der amerikanischen klinischen Psychologie, in den Ruhestand gegangen war, eine ordentliche Professur (Lehrstuhl) in klinischer Psychologie frei geworden. Es sollte unter der Leitung des jungen Professors ein völlig neuer Studiengang in der klinischen Psychologie eingerichtet werden. Zum ersten Mal in der Geschichte des Faches sollte an einer Universität ein praxisbezogener Studiengang mit dem Schwerpunkt Beratung und Therapie eingerichtet werden. Natürlich hatte sich Rogers auf diese Stelle beworben. Nicht zuletzt wegen seiner langjährigen klinischen Berufserfahrung als diagnostischer Fachmann, als Berater und als Leiter der Einrichtung in Rochester und auch wegen seines Buches über die Behandlung von Problemkindern war er für diese Stelle ein aussichtsreicher Kandidat. Die Szenerie hatte sich in diesen Jahren auch im Fach Psychologie gewandelt, und es gab nun auch innerhalb der akademischen Psychologie ein wachsendes Interesse an praktischen Beratungs- und Therapieaufgaben. Dies muss Carl mit großer Genugtuung erfüllt haben, nachdem er sich in den Jahren zuvor hatte sagen lassen müssen, dass er für einen akademischen Lehrauftrag im Fach Psychologie nicht als klinischer Psychologe akzeptiert werden könne. Darüber hinaus bot die neue Stelle in Ohio weitere erhebliche Vorteile. Er stieg hier direkt in die „Chefetage“ ein und musste sich nicht auf dem sonst üblichen Weg „hochdienen“. Die Universität bot ihm ein Gehalt von knapp 5000 Dollar. Im Dezember 1939 machte Rogers sich während eines gewaltigen Schneesturms mit seiner Familie auf den Weg zu seinem neuen Zuhause. Er verließ damit 14 Jahre ambitionierte Arbeit im Feld der Sozialarbeit und der Soziapädagogik mit Kindern, Jugendlichen und deren Familien. Er wechselte damit auch den Kollegenkreis und die Kontakte um sich herum und machte einen sozialen Aufstieg, der ihn, den Außenseiter, nun
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doch wieder an die Universität zurückbrachte. Hier hatte er nun allerdings eine andere Aufgabe zu bewältigen: Die Beratungserfahrungen, die er in der sozialen Arbeit gesammelt hatte, sollte er in dem neuen Studiengang so präsentieren, dass daraus ein Studiengang zur Beratungs- und Therapieausbildung an einer Universität entstehen konnte. Die Universität wollte damit eine neue Ausbildungsaufgabe für postgraduierte Studenten verschiedener Fachrichtungen übernehmen und so dem neuen Bedarf in der gewandelten Zeit entsprechen. Damit übernahm das Fach Psychologie auch zum ersten Mal die Verantwortung für die praktische Qualifizierung von Beratern und Psychotherapeuten, die bisher in psychoanalytischen Privatinstituten oder von den Psychiatern ausgebildet wurden. Rogers rückte mit diesem Studiengang auch ins Zentrum einer ersten Professionalisierungswelle, in der er die Interessen des Faches Psychologie vertrat. Da es hier nun aber vor allem um die Beratung und Therapie von Erwachsenen ging, war dies für Rogers gleichzeitig der Abschied von seiner Beratungs- und Therapiearbeit mit Kindern und Jugendlichen und deren (Multiproblem-)Familien – in gewissem Sinne ein Aufstieg in eine ganz andere „Szene“ von Klienten und psychosozialen Problemlagen. Seine neuen Klienten kamen vorwiegend aus der Mittelschicht, sie waren offen für Selbstveränderung, für Psychotherapie, und sie kamen freiwillig zur Therapie. Weil Rogers’ Eintritt in die professorale Welt gleich an der Spitze erfolgte, hatte er ideale Bedingungen für eine kreative Arbeit. Er sollte eine neue Abteilung und einen neuen Studiengang aufbauen, in dem Praxis, Forschung und Ausbildung in Beratung und Therapie gemeinsam stattfinden sollten. Die Ausstattung der Stelle war gut, er hatte eine ganze Reihe von Mitarbeiterstellen und fand eine gute technische Ausstattung vor. Rogers hielt gelegentlich Vorlesungen, veröffentlichte zahlreiche Artikel in seinem ersten Jahr, war in unterschiedlichen Ausschüssen tätig und richtete einen praktischen Lehrgang mit Praktika in Beratung und Psychotherapie ein. So konnte erstmals vom Fach Psychologie ausgehend an einer Universität Beratung und Psychotherapie als praktische klinische Ausbildung angeboten und durchgeführt werden. In dieser stimulierenden Umgebung und mit der Unterstützung vieler begeisterter Studenten dauerte es nicht lange, bis Rogers erkannte, dass es an der Zeit war, eine eigene unverkennbare Sichtweise in der Beratungsund Psychotherapiearbeit zu formulieren. Er hatte ausgedehnte Praxiserfahrungen, ein solides theoretisches Überblickswissen und in seiner Praxis in Rochester umfangreiche Aufzeichnungen und Fallbeispiele gesammelt und geordnet. In einem Aufsatz mit dem Titel ›Der Prozess der Therapie‹, den er 1940 für die Septemberausgabe des „Journal of Counseling
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Psychology“ geschrieben hatte, stellte er sein thematisches „Erstlingswerk“ vor: eine theoretische Fassung des Prozessablaufs einer Psychotherapie. Vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen aus der Beratungsarbeit in Rochester betonte er die Notwendigkeit, dass Therapie nur dann hilfreich werden kann, wenn sie nicht in das Leben der Klienten hinein interveniere, sondern ihnen helfe, sich sicherer, angstfreier und gestärkt zu fühlen. Er erläuterte diese Geschehen idealtypisch in sechs Schritten: 1. Therapie solle einen guten menschlichen Kontakt zwischen dem Therapeuten und dem Klienten herstellen, in dem der Klient sich sicher und akzeptiert fühlen kann. Der Therapeut müsse eine Balance finden zwischen Identifikation und Neutralität und solle sich nicht scheuen, emotionale Wärme zu zeigen. 2. Der Klient solle sodann seine Gefühle frei ausdrücken und auch ausagieren können. Da dies im Liegen auf der Couch nicht möglich sei, lehnte er das klassische Setting der Psychoanalyse ab und empfahl stattdessen das Setting des Gesprächs in der „face to face“-Situation. 3. Der Klient solle in einem solchen Gespräch dann in den vom ihm erlebten Gefühlen sein spontanes Selbst erkennen und akzeptieren. 4. Aufgabe des Therapeuten sei es, den Klienten anzuleiten, dass dieser verantwortliche Entscheidungen treffen kann. 5. Der Klient solle sodann zusammenfassende Einsichten aus dieser Arbeit gewinnen und formulieren (nicht der Therapeut!). 6. Am Ende dieser therapeutischen Erfahrung solle schließlich ein Erziehungsprozess oder auch Umerziehungsprozess stehen. Das heißt, der Therapeut stellt in dieser Phase unterstützende Informationen bereit, damit der Klient seinen Weg alleine weitergehen kann. Lange andauernde Therapien seien nicht nützlich (Rogers 1940). Man kann an dieser Konzeption die Grundlinien des nicht-direktiven Ansatzes erkennen, obwohl in diesem Beitrag auch sehr klar eine führende und prozessanleitende Aufgabe für den Therapeuten formuliert wird. Man kann auch erkennen, dass Rogers hier seine konzeptionellen Erfahrungen aus der Beratungsarbeit für die theoretische Beschreibung des therapeutischen Prozesses nutzt. Aus seiner prozessbeschreibenden Betrachterperspektive gibt es keine prinzipielle, allenfalls graduelle Unterschiede zwischen Beratungs- und Therapieprozessen. Der Aufsatz war Grundlage für eine Einladung, die er nach Minnesota erhielt, um dort am 11. Dezember 1940 vor einem ausgewählten akademischen Forum an der Universität einen Vortrag mit dem Titel „Neue Konzepte in der Psychotherapie“ zu halten. Das zu dieser Zeit sehr bekannte Minnesota-Programm für Beratung war eine Einrichtung der Psychologischen Gesellschaft, die auf sehr hohem Niveau und nur für geladene
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Gäste in einer monatlichen Veranstaltungsreihe die zentralen Fragen der Disziplin erörterte. Speziell für ausgewählte Studenten, Doktoranden und Fachleute der Wirtschaftswissenschaften und des Personalwesens war an der Universität von Minnesota dieser Austausch unter der Leitung des Dekan E. G. Williamson entwickelt worden. Williamson war eine berühmte Koryphäe im Bereich der Beratung von Mitarbeitern und der Personalführung. Im Rahmen dieser erlesenen Veranstaltungsreihe hatte z. B. zwei Monate zuvor der Psychologe Ernest P. Hilgard (Stanford University) gesprochen, und die Psychologin Charlotte Bühler (früher Universität Wien, dann Professorin am College St. Catherine) war für die Februartagung 1941 angekündigt. Rogers war mit dieser Einladung Teil der „crème de la crème“ seiner klinischen Fachkollegen. Ihm war das gelungen, wovon er in den letzten Jahren immer geträumt hatte: Die Kollegen der akademischen Welt wurden auf ihn aufmerksam und beachteten seine Arbeit. Später erklärte er dieses Datum und seinen dortigen Auftritt als die Geburtsstunde der klient-zentrierten Therapie (Kirschenbaum 1979: 112 f. und 1995: 17). Williamson selbst vertrat in seiner Beratungspraxis eindeutig einen direktiven Ansatz, in dem die Überredung des Patienten eine Methode der Wahl war. Er gab klare Anleitungen zur Einstellungsveränderung. Rogers hielt seinen Vortrag vor Williamsons Studenten der Wirtschaftswissenschaften und den auf der Tagung anwesenden Kollegen auch anderer Fächer. Der Hauptteil seines Beitrages stellte eine detaillierte Kritik der traditionellen Therapieformen dar, und Rogers ging mit der Methode „Ratschläge geben“ besonders hart um. Um seine These zu erläutern, zitierte Rogers ein Beispiel aus einem therapeutischen Interview, vermied es aber, seinen Zuhörern zu verraten, dass der Therapeut in diesem Beispiel genau der Vorsitzende der Versammlung war. Er benutzte Materialien aus Williamsons Interview, um zwischen direktivem und nicht-direktivem Vorgehen zu unterscheiden. Man kann sich zu Recht fragen, welcher Teufel Rogers geritten hat, solches Material, das Williamson ihm gerade kurz zuvor zur Verfügung gestellt hat, für diesen ersten Auftritt zu benutzen. Jedes beliebige andere Interview hätte seine Ausführungen genauso gut illustrieren können. Hier zeigte sich erneut, dass der im Privatleben so scheue und zurückhaltende Carl Rogers, wenn es um missionarische Überzeugungsarbeit ging, durchaus auch eine gewisse Lust an der Provokation und die notwendige Sicherheit im Auftreten hatte. Kirschenbaum beschreibt 1979 in der von Rogers autorisierten Biographie diesen Auftritt als „naive“ Präsentation einer wissenschaftlichen Arbeit. Rogers war, wie er selbst schreibt, offensichtlich nicht auf die heftigen
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Kontroversen vorbereitet, die sein Vortrag auslöste. Brian Thorne nennt es in seiner Biographie von 1992 „eine erstaunliche Demonstration persönlichen und professionellen Mutes“, und David Cohen als „kritischer“ Biograph schreibt: „Es war extrem aggressiv von Rogers, vertrauliches Material als Teil seiner Kritik zu verwenden“ (Cohen 1997: 97). Wie immer man die Bewertung vornimmt, es wird erneut sichtbar, dass Rogers’ Karriere durchaus von ehrgeizigen, zielstrebigen, beharrlichen und auch kämpferischen Motiven geprägt war. Seine bisherige Entwicklung auch in öffentlichen Ämtern zeigte, dass er auch politisch sehr geschickt sein konnte und ein sicheres Gefühl für effektive Strategien und Mobilisierungseffekte besaß. Dies steht in einem deutlichen Kontrast zu seiner eigenen Sichtweise, in der er sich gerne als bescheiden, zurückhaltend und verständnisvoll darstellt, als „sanfter Revolutionär“, der leise durchs Leben geht. Sein Kampf gegen Autoritäten oder gegen das, was er dafür hielt, sein Eintreten für die Freiheit des Individuums und für basisdemokratische und antiprofessionelle Überzeugungen zieht sich als roter Faden durch sein gesamtes Berufsleben. Brian Thorne schreibt speziell zu dieser Episode in Minnesota: „Ich bezweifele nicht, dass er damals im Dezember 1940 mit dem sicheren Wissen nach Minnesota ging, in seiner Tasche eine Art Zeitbombe mit sich zu tragen“ (Thorne 1992: 12). Nachdem er im ersten Teil seines Vortrags seine Kritik an den älteren Methoden erläutert hatte, ging Rogers im zweiten Teil seiner Ausführungen dazu über, die „neueren Praktiken“ zu beschreiben. Er sprach seine Anerkennung für das Konzept von Otto Rank aus, für die praktische Arbeit von Jessie Taft und Frederick Allen aus der Sozialarbeit und benannte auch die Einflüsse aus dem Feld der Spieltherapie (Psychodrama) und der Gruppentherapie. Er betonte, dass all diese neueren Konzepte von einer Gemeinsamkeit, der Nicht-Direktivität, gekennzeichnet seien. Der nichtdirektive Ansatz verfolge nicht das Ziel, Probleme zu lösen, sondern wolle den Individuen eine Hilfestellung in ihrem persönlichen Wachstumsprozess geben. Die selbstständige Problembewältigung erfolge dann aus diesem Wachstumsprozess der Persönlichkeit. Die gemeinsamen Faktoren der neueren Konzepte hob er wie folgt hervor: 1. Der nicht-direktive Ansatz betone die Bedeutung der Gefühle und Emotionen in der Beratungssituation. Der Berater solle nicht nur auf die kognitive Aspekte des Problems achten. 2. Der Fokus der Behandlung liege auf der Gegenwart des Klienten statt auf einer langwierigen Suche nach den Ursachen des Problems in der Vergangenheit. 3. Die therapeutische Beziehung werde von dem Klienten als wichtiges Elemente zur Förderung des Wachstums erlebt und erfahren.
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Die Reaktion auf seinen Vortrag war kontrovers. Er erhielt einerseits enthusiastische Anerkennung, andererseits aber auch deutliche Kritik. Die Heftigkeit der Reaktionen sah Rogers als Bestätigung dafür, dass er etwas Neues präsentiert und nicht nur die Arbeit anderer zusammengefasst hatte.
Das zweite Buch: ›Die nicht-direktive Beratung‹ 1942 erschien Rogers’ Buch mit dem Titel ›Counseling and Psychotherapy: Newer Concepts in Practice‹ (›Die nicht-direktive Beratung‹), was einer kleinen Revolution gleichkam. Speziell vor dem Hintergrund der berufsständischen Kämpfe, die Rogers mit den Psychiatern in Rochester bereits ausgestanden hatte, ist es auch als eine Kampfansage an diese Berufsgruppe zu verstehen: Beratung und Psychotherapie werden hier zusammen als ein und derselbe Prozess vorgestellt. Eine begriffliche Trennung wird von Rogers abgelehnt. Er erläutert schon auf den ersten Seiten, dass ein Unterschied zwischen Beratung und Psychotherapie allenfalls graduell, nicht aber prinzipiell gemacht werden könne, und wendet Selbstverständlichkeiten aus dem Beratungsalltag (Selbstverantwortung des Klienten) kritisch auf die gängige Praxis in der psychotherapeutischen Arbeit an. So taucht in diesem Buch der Begriff „Klient“ zum ersten Mal im Kontext der Psychotherapie auf. Rogers gibt die erste vollständige Mitschrift eines achtstündigen Beratungsprozesses („Der Fall Herbert Bryan“) Wort für Wort in dem Buch wieder.9 Auch die Veröffentlichung eines kompletten Falles glich einer Sensation: Rogers ging damit weit über die damals in der Sozialarbeit verbreiteten Methoden der Fallvorstellungen und Falldokumentationen hinaus. Mit der neuen Technik der Tonaufzeichnung und der Transkription dieser Aufzeichungen zeigte er sich auch als Beratungsund Therapieforscher auf dem neuesten Stand der damaligen Zeit! Die Reaktionen auf das Buch waren ähnlich heftig und polarisierend wie die auf Rogers’ Vortrag in Minnesota. Einige fanden es faszinierend, und für viele graduierte Beratungsstudenten der „Ohio State University“ wurde das Buch zur „Bibel“. Unter den praktizierenden helfenden Berufen wurde 9 Der dafür benötigte technische Aufwand lässt sich erahnen, wenn man sich daran erinnert, dass zu jener Zeit Tonaufnahmen noch einen erheblichen Geräteaufwand bedeuteten. Zwei Aufnahmegeräte mit Schellackschallplatten wurden verwendet, die je 78 Umdrehungen pro Minute machten. Die Platten mussten alle 3 Minuten ausgewechselt werden. Ein Gespräch dauerte 45 Minuten, d. h., es wurden, um ein Gespräch aufzuzeichnen, wenigstens 15 Schelllackplatten von zwei Aufzeichnungstechnikern bespielt.
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es rasch ein Bestseller. In der akademischen psychologischen Fachwelt fand es jedoch wenig Anklang und wurde von keiner der großen Fachzeitschriften besprochen. Rogers selbst glaubte, das Buch stelle eine besondere Bedrohung für diejenigen Psychologen dar, die ihre Expertenschaft über das Innenleben ihrer Klienten nicht aus der Hand geben wollten. Andererseits leuchtete aber auch vielen Psychologen die Wirkung der nicht-direktiven Interviewtechnik ein. Rogers führte diese in dem Interview mit Herbert Bryan eindrucksvoll vor. Dieses wurde nicht nur einfach abgedruckt, sondern von Rogers mit einem aufwendigen Apparat von Anmerkungen und Fußnoten minutiös didaktisch kommentiert. Hier zeigte sich das pädagogische Geschick von Rogers, dem Lehrer: Er ermöglichte es dem Leser, das Beratungsgespräch als Text zu verfolgen, und gab fast zu jeder Intervention des Beraters eine Fußnote, in der er die zugrunde liegenden Prinzipien und Intentionen erläutert. Dabei fällt auf, dass Rogers in seinen Kommentaren durchaus auch sein eigenes Verhalten kritisiert und auf Fehler hinweist, die dem Berater unnötigerweise in dieser Situation unterlaufen sind. Das Grundprinzip der Methode wird dem Leser damit sehr deutlich: In den ersten Sitzungen wird für den Klienten ein akzeptierendes und verständnisvolles Klima erzeugt, in dem erfahrbar wird, dass die Stunde für den Klienten da sein soll und nicht für den Berater. Es liegt sodann an dem Klienten, dieses Angebot für sich zu nutzen und neue Sichtweisen und Entscheidungen zu entdecken oder zu finden. Auch wird deutlich, dass Rogers sich nicht von „schwierigen Gesprächsinhalten“ beeindrucken lässt. Dafür ein Beispiel: „B 26: Dann haben Sie mit all dem einfach gelebt, und das seit einigen Jahren. Warum ist es jetzt schlimmer, oder warum wollen Sie jetzt unbedingt etwas dagegen unternehmen? K 26: Na ja, es hat den Punkt erreicht, an dem es einfach unerträglich wird. Ich wäre lieber tot, statt so weiter zu leben wie jetzt. B 27: Sie wären lieber tot, statt so weiter zu leben wie jetzt. Können Sie mir darüber etwas mehr erzählen? K 27: Nun, ich hoffe. Wir hoffen natürlich immer. B 28: Ja. K 28: Aber …, nein, ich habe nicht den bewussten Wunsch, mich umzubringen oder so was. Es ist nur …, rationell betrachtet spüre ich, dass ich …, dass ich in den roten Zahlen stehe, und so möchte ich nicht weiter leben. (Pause) B 29: Können Sie mir etwas ausführlicher erzählen, was … auf welche Weise Sie so blockiert, dass Sie manchmal wirklich das Gefühl haben, es wäre besser, Sie wären tot?“ (Roger 1942/1972 a, S. 236).
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Die kontinuierliche nicht-wertende und aufmerksam interessierte Zuwendung des Beraters wird deutlich, indem er die Aktivitäten dem Klienten überlässt und nicht eilig herbeispringt, um, angetrieben von seinen eigenen Angstphantasien, drohendes, aber ausgedachtes Unheil abzuwenden. Und andererseits kann man auch sehen, dass Rogers hier auch Fragen stellt und den Klienten dadurch ermuntert, die Inhalte des Unerträglichen weiter zu erforschen. Kaum hatte er sich innerhalb der Psychologie als Professor etabliert, war Rogers mit seinem neuen Konzept auch schon umstritten. Augenscheinlich ging von ihm und seinem wenig akademischen (nicht-direktiven) Führungsstil eine polarisierende Wirkung auch in dem universitären Lehr- und Verwaltungsbetrieb aus. Er konnte einerseits begeisterte Anhänger und eine immense Aufbruchstimmung unter den Studenten und Doktoranden erzeugen, mit erheblicher praktischer Relevanz Forschungsund Ausbildungsprojekte im Feld der Psychotherapie anstoßen und damit eine große öffentliche Resonanz in der Praxiswelt der helfenden und beratenden Berufe verbuchte, und andererseits erntete er gleichzeitig die kühle und distanzierte Ignoranz vieler seiner psychologischen Fachkollegen. Mit der Veröffentlichung des ersten Beratungsfalles, der zwar anonymisiert war und so die Vertraulichkeit der Klientenperson schützte, hatte Rogers zumindest zwei Tabus gebrochen. Erstens, indem er Beratungs- und Therapiesitzungen aufzeichnete und schriftlich objektivierte, zweitens war an dem faszinierenden Protokoll indirekt deutlich zu erkennen, dass es wohl Rogers selbst war, der hier als Berater des Herbert Bryan fungierte. Damit stellte er nicht irgendeine Beratungsarbeit mit dem gebührenden Abstand der wissenschaftlichen Neutralität vor, sondern erhob sein eigenes Beratungsverhalten demonstrativ zum Modell der nicht-direktiven Methode. Diese doppelte „Grenzüberschreitung“ war gewiss eine große Provokation für viele Wissenschaftler, die sich bemühten, die Psychologie als neutrale Naturwissenschaft zu entwickeln, und Rogers machte sich damit nicht nur Freunde. Aber es gab auch noch andere Gründe, die die Position von Carl Rogers an der Universität schwierig machten und dazu führten, dass Rogers selbst in seinem eigenen Fachbereich letzten Endes zum Außenseiter wurde. Bereits nach drei Jahren entzog ihm die Verwaltungshierarchie der Universität die Unterstützung. Obwohl Rogers’ „Spitzenstellung“ eine komfortable Grundlage für seine Arbeit war, zeigte sich auch das Beharrungsvermögen der akademischen Institution, an deren Regelungen und Rituale Rogers sich augenscheinlich nicht anpassen wollte. Er unterstützte und respektierte stets seine Studenten und behandelte sie als Gleichberechtigte. Er erlaubte ihnen sogar, ihre eigene Arbeit zu evaluieren und selbst zu be-
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werten. Er erzeugte ein Lernumfeld, in dem sie schnell Selbstvertrauen entwickelten und letztlich auch dadurch seine größten Anhänger wurden. Innerhalb der Hochschule, im Fachbereich und unter den Kollegen war Rogers nach drei Jahren in einer schwierigen Situation, zumal er in der Zeit zwischen 1942 und 1944 sehr viel außerhalb der Universität unterwegs war. Kirschenbaum führt den unerfreulichen Abgang von Rogers im Wesentlichen auf die Begeisterung zurück, die er unter den jungen Studenten und Graduierten auslösen konnte, die in seine Seminare strömten, die aber gleichzeitig den Neid der anderen und älteren Kollegen erregte. Als weiterer wichtiger Umstand kommt gewiss hinzu: Rogers war Anfang 1942 von einem Führungsoffizier des lokalen Militärflughafens darauf angesprochen worden, dass sehr viele angehende Piloten in den Prüfungen weit unterhalb ihrer Möglichkeiten blockierten und so ihre Ausbildung nicht abschließen konnten. Es waren inzwischen auch für die USA Kriegszeiten angebrochen. Die Japaner hatten mit ihrem Angriff auf Pearl Harbor im Dezember 1941 den Krieg sogar auf amerikanisches Territorium getragen, sodass jeder Soldat, speziell jeder hoch qualifizierte und hoch spezialisierte Pilot, gebraucht wurde. Der Kommandeur bat Rogers um Hilfe, und für Rogers begann damit eine zwei- bis dreijährige Konsultations- und Beratungszeit, in der er intensive Untersuchungen und Erhebungen für die Luftwaffe machte. Einige dieser Projekte waren streng geheim, was dazu führte, dass wenig aus diesen Arbeiten an die Öffentlichkeit drang oder gar publiziert wurde. Es war naheliegend, dass Rogers als Experte für Beratungs- und Therapieaufgaben von der Regierung darauf angesprochen wurde, ob er mit seiner nicht-direktiven Interview- und Beratungsmethode einzelnen Fliegerkandidaten im Flugexamen konkrete Hilfe geben könnte. So war Rogers u. a. als Berater in Sachen Prüfungsangst von Piloten unterwegs und half dem Militär auch in anderen Problemen, wenn es darum ging, emotionalen Konflikten und Blockaden auf die Spur zu kommen. In Rogers’ Nachlass finden sich schriftliche Aufzeichnungen eines Interviews mit einem Piloten, dem Rogers innerhalb von etwa 12 Stunden helfen konnte, seine Prüfungsangst zu verstehen und zu überwinden. Er konnte danach sein Fliegerexamen abschließen. Rogers untersuchte mit seiner nicht-direktiven Methode auch den Stress und die seelische Not, denen die Bomberpiloten und deren Kameraden an den Geschützen ausgesetzt waren. Rogers fasste die Erfahrungen aus seinen Gesprächen, in denen die Soldaten die Gelegenheit hatten, ihre Gefühle und Hemmungen frei zu äußern, in einem 90-seitigen Report zusammen. Er stellt darin „zentrale Fehler“ in Ablauf und Organisation und in der Behandlung der Soldaten fest und schlug Alternativen in der Personalführung vor.
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Auch in die Betreuungsprogramme der kriegsheimkehrenden Soldaten war Rogers und seine nicht-direktive Arbeit von Regierungsseite aus mit einbezogen. Viele Kriegsheimkehrer hatten erhebliche Umstellungsschwierigkeiten bei ihrer Rückkehr in das normale Leben als Zivilisten und konnten die erlebten Kriegstraumata nicht alleine verarbeiten. Viele wurden apathisch. Eben noch Kriegshelden, gelang es ihnen zu Hause als ein „Nobody“ nicht mehr, im zivilen Leben auf eigenen Beinen zu stehen. Auch hier war die nicht-direktive Beratungsmethode augenscheinlich ein effektives Werkzeug für konkrete Hilfe in seelischen und sozialen Nöten. Weil Rogers in diesen sehr praktischen Missionen viel unterwegs war, verschlechterten sich die Beziehungen zu seinen Kollegen im Fachbereich immer mehr. Rogers wurde in seinem Fachbereich mit der Zeit ein Außenseiter. „Er wurde in ein kleines Büro verbannt, seine Kurse wurde zu Unzeiten angekündigt, und er erhielt kaum noch Mittel für die Forschungsarbeiten, die er plante“ (Kirschenbaum 1995: 19).
Die Arbeit mit den Kriegsheimkehrern Rogers blieb nur vier Jahre lang an der „Ohio State University“. Während dieser Zeit wuchs unter den Studenten und in der professionellen Welt der helfenden Berufe seine Reputation als ein Mensch mit unerschöpflicher Energie und mit einem starken Drang nach Innovation. Er entmystifizierte die Vorgänge in der Beratungsarbeit und des helfenden Gesprächs und machte die Therapie lehr- und lernbar. Aber es drängte ihn mit seiner nicht-direktiven Beratungsmethode auch weit in Aufgaben- und Problemfelder, die, wie es die Arbeit für das Militär zeigt, noch weitgehend unerschlossen waren. Letzteres ist besonders wichtig, da es den außerordentlichen Einfluss der nicht-direktiven Methode in den folgenden Jahren erklärt. Als die „United Service Organization“ (USO) anfragte, ob er sich vorstellen könnte, ein Beratungsprogramm speziell für die Kriegsheimkehrer aufzubauen, sagte Rogers gerne zu und verließ die Universität für ein akademisches Jahr. Die Konflikte an der Hochschule hatten sich ohnehin verschärft, und die konkrete Arbeit mit der Not der Kriegsheimkehrer schien ihm sinnvoller zu sein als die Auseinandersetzungen mit den Kollegen im Fachbereich. Ein akademisches Freijahr stand ihm nach vier Jahren als Professor ohnehin zu, und so nutzte er dieses dafür, in den letzten Kriegstagen eine Hilfsorganisation aufzubauen. Die USO war eine Wohlfahrtsorganisation, die Freiwillige für soziale Dienstleistungen ausbildete und nun ein großes Programm auflegte, um
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Kriegsheimkehrer entsprechend zu beraten und ihnen zu helfen. Sie nahm Rogers gerne auf und setzte ihn an die Spitze ihres Hilfsprogramms. Es hatte seinen Standort in New York, und Rogers sollte von dort aus im ganzen Land Trainingslager einrichten, um Freiwillige in der nicht-direktiven Methode auszubilden. Rogers war begeistert, weil er gerne reiste und außerdem ein riesiges Publikum für seine neuen Ideen vor sich sah. Er war von der Vorstellung fasziniert, so seine Beratungsmethode Laienhelfern zugänglich zu machen, war es doch eines seiner Ziele, für die er sich sein ganzes Leben eingesetzt hat, die positiven Erfahrungen von Psychotherapie und Beratung zu demokratisieren und möglichst für jedermann zugänglich zu machen. Rogers organisierte umfangreiche Workshops, in denen er Laienhelfer sehr konkret auf die möglichen Probleme, Störungen und Nöte vorbereitete, die ihnen als Helfer in der Betreuung der Kriegsheimkehrer begegnen würden – so wie er dies selbst in seiner Vorbereitung auf das Amt des Seelsorgers am „Union Theological Seminary“ in den Praktika bei Professor Goodwin Watson erlebt hatte. Dazu fasste er seine nicht-direktive Methode in einer einfachen, aber prägnanten umgangsprachlichen Formulierung zu einem kurzen Anweisungstext zusammen. Rogers zeigte hier seine Fähigkeiten zum Schreiben in einer klaren und anschaulichen Sprache. Zusammen mit John Wallen erstellte er eine kleine Praxisbroschüre, die dem helfende Laien die nicht-direktiven Beratungstechniken praxisnah erläuterte: – „Versuche nicht die Rolle von Gott zu spielen. – Gib keine Anweisungen. – Wenn du versucht bist zu sagen: ‚Wenn ich du wäre‘…, solltest du dich erinnern, dass du keine Anweisung geben solltest. Du bist nicht diese andere Person.“ Auch nannte er eine ganze Reihe von Dingen, die der Berater nicht tun sollte: – „Diskutiere nicht mit dem Ratsuchenden. – Bewerte ihn nicht. – Lass dich nicht von Mitleid mitreisen. Mitleid hilft nicht. – Identifiziere dich nicht mit ihm. Wir müssen nicht mit den Menschen in dem selben emotionalen Durcheinander herumwaten, in dem sie sich selbst vorfinden. – Moralisiere nicht. – Sprich nicht zu viel. – Lass es die Stunde des Klienten sein und nicht deine“ (Cohen 1997: 117).
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Diese klaren und einfachen Regeln und die Verbreitung dieser Einsichten und Grundsätze im ganzen Land durch die Laienbewegung waren eine weitere wichtige Grundlage für den großen Bekanntheitsgrad, den Rogers in den folgenden Jahren erreichen konnte. Jessie Taft und Frederick Allen blieben mit ihren Beratungsbüchern unter sozialpädagogischen Fachleuten respektierte Vertreter der nicht-direktiven Beratungsmethode und der funktionalistischen Schule in der Sozialarbeit. Aber es war Carl Rogers, der junge Professor für klinische Psychologie, der nun plötzlich durch seine landesweiten Aktivitäten in der Laienorganisation zum Promoter einer neuen Beratungs- und Psychotherapiemethode wurde. Nach einem knappen Jahr verlor Rogers aber bereits wieder die Begeisterung für diese Arbeit. Sie bedeutete, land auf, land ab immer die selben Workshops zu machen. Rogers bemühte sich um einen baldigen Wechsel und nahm im Frühjahr 1945, kurz vor Kriegsende, ein Angebot der Universität in Chicago für eine Professur gerne an. Dort war sein Gehalt auf immerhin 8500 Dollar angestiegen. Anlass für den Wechsel war die Einladung von Ralph Tyler von der Universität von Chicago, der ihm vorschlug, dort ein neues Beratungszentrum zu gründen, in dem er völlig frei Forschungsarbeiten nach seinen eigenen Vorstellungen machen sollte. Rogers ging mit gemischten Gefühlen nach Chicago, wie er schreibt. Hatte er doch unter seinen graduierten Studenten in Ohio enorme Anhänger und die ersten späteren Mitarbeiter und Weggefährten gefunden: Virginia Axline, Arthur Combs, Charles Curran, Thomas Gordon, Victor Raimy, William Snyder und andere. Einige von ihnen konnte er schließlich für die Idee gewinnen, ihm nach Chicago zu folgen und dort am Institut weiterzuarbeiten. Später fragte sich Rogers oft, weshalb seine nicht-direktive Beratungsmethode so lange und so hartnäckig als simples Technik-Training missverstanden wurde und wieso es ihm kaum gelang, den Eindruck zu entkräften, er verbreite nur eine schlichte Gesprächstechnik, deren Kerngedanke darin bestünde, dass der Berater immer nur die letzten Worte des Klienten wiederholen soll. Nach meiner Einschätzung könnte er mit der frühen landesweiten Verbreitung seiner Methode unter den Laienhelfern, auch durch die „Laien-Broschüren“ der USO selbst, einen nicht unbedeutenden Beitrag dazu geleistet haben.
Die klient-zentrierte Psychotherapie: 1945–1957 Professor an der Universität in Chicago Rogers verbrachte insgesamt 12 Jahre als Professor für Psychologie an der Universität in Chicago. Für ihn waren das sicherlich die zwölf erfolgreichsten und kreativsten Jahre seiner akademischen Karriere. Er kaufte sich mit Helen ein Haus in der Stony Island Avenue, ganz in der Nähe der Universität, und konnte zu Fuß zur Arbeit gehen. Sein Sohn David studierte Medizin in New York, und die Tochter Natalie begann ihr Studium am „Stephens College“. Carl und Helen waren als Paar wieder alleine, und Carl kam in der Mittagspause oft zum Essen nach Hause. Im selben Jahr verlobte sich David Rogers mit Corky, und das Familienleben der Rogers erweiterte sich um die Beziehung zu einer Schwiegertochter. Es war die Zeit, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging und Amerika, seine Menschen und Institutionen damit beginnen konnten, sich wieder zu organisieren und die Kriegsfolgen zu beseitigen. Dieser Prozess sah in Amerika allerdings deutlich anders aus als auf dem europäischen Kontinent. Auch die USA hatten zwar schwere Belastungen durch den Krieg und die Folgen des Krieges zu ertragen, ihre politischen und gesellschaftlichen Institutionen waren allerdings funktionsfähig geblieben. Ein Traditionsabbruch, wie er z. B. in Deutschland durch den Faschismus und den Krieg herbeigeführt wurde, trat deshalb nicht auf. So konnte sich auch im kulturellen und wissenschaftlichen Leben der USA die Entwicklung in relativer Kontinuität vollziehen. Viele aus Europa emigrierte Wissenschaftler wurden integriert und wirkten bereichernd und anregend auf das kulturelle Leben. Nach dem Engagement, das Rogers bereits in den letzten Kriegsjahren in der Betreuung und Versorgung von Kriegsheimkehrern und in der psychologischen Beratung des Militärs gezeigt hatte, verfügte er mittlerweile über genügend Ansehen und Einfluss, um in der amerikanischen Psychologie eine wichtige Rolle zu spielen. Das Fach Psychologie war zu dieser Zeit in Amerika im Begriff, in verschiedene Strömungen auseinander zu driften. Von seinen Praxiserfahrungen und wissenschaftlichen Leistungen und Ambitionen aus gesehen stand Rogers geradezu im Mittelpunkt dieser zentrifugalen Tendenzen der akademischen Psychologie. Da gab es auf der einen Seite die naturwissenschaftlichen Laborforscher, die in Tierver-
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suchen streng kontrollierte Wahrnehmungs- und Verhaltensstudien durchführten und die den Beratern und klinischen Psychologen unterstellten, sie seien unwissenschaftlich und überflüssig. Dagegen behaupteten die klinischen Psychologen und Berater, dass die experimentellen Psychologen im Elfenbeinturm lebten und überflüssige Studien durchführten. Was sollte schon Wichtiges dabei herauskommen, wenn man studierte, wie Ratten lernen, verschiedene Farbwahrnehmungen zu unterscheiden, so fragten sie. Aber auch unter den psychologischen Beratern gab es unterschiedliche Sektionen und entsprechende Streitereien. Cohen zitiert (1997: 122) eine Studie aus Los Angeles von 1946, die zeigt, dass psychologische Gespräche, Beratungen und Psychotherapie auch zur damaligen Zeit bereits ein einträgliches Geschäft waren, wie schon die im letzten Abschnitt erwähnte These vom Ausbruch der Psychoanalyse als Mode und Massenphänomen anschaulich belegte. Mit 18% stand demnach die klassische Psychoanalyse an der Spitze der Behandlungsverfahren, mit 12% folgte die Analyse nach Jung und in weiteren 12% der Fälle tummelten sich die Anhänger einer spirituellen Psychoanalyse (zusammen 42%). Bereits 12% praktizierten Formen einer nicht-direktiven Beratung und Therapie, und die verbleibenden etwa 46% der befragten Berater bevorzugten alle möglichen Verfahren von Hypnose, Verhaltenstrainings, Rhetorikkurse, Lebensberatung usw. Mit seinen praktisch-helfenden und wissenschaftlich-diagnostischen Ambitionen hielt Rogers Kontakt zu beiden Fraktionen der Psychologen. Er kämpfte unter den Praktikern dafür, dass psychologisch-psychotherapeutische Tätigkeit wissenschaftlich zu sein habe, und hielt unter den Beratern die Fahne der wissenschaftlichen Forschung hoch. Durch seine damals noch streng naturwissenschaftliche und testpsychologische Orientierung war er auch in der Lage, mit den Labor-Psychologen ins Gespräch zu kommen. Robert Yerkes hatte sich als Testpsychologe bereits im Ersten Weltkrieg in Amerika einen Namen gemacht, als er das Militär davon überzeugen konnte, für bestimmte Laufbahnen und soldatische Tätigkeiten Eignungstests einzuführen. Jetzt am Ende des Zweiten Weltkrieges war er als großer alter Mann der amerikanischen Psychologie die vielleicht wichtigste Person in der Diskussion um die zukünftige Gestalt des Berufsverbandes der amerikanischen Psychologen (APA). Er unterstützte Rogers und sah in ihm eine zukünftige Leitfigur der neuen akademischen Psychologie. Es zeichnete sich sehr schnell ab, dass die Zerstrittenheit der Psychologen untereinander dazu führte, dass das Fach wenig öffentliche Anerkennung und auch kaum finanzielle Unterstützung für Forschungsmittel er-
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halten konnte. In vielen aufwändigen Verhandlungen und auf vielen Reisen nach New York und Washington gelang es Rogers, eine Übereinkunft zu erreichen, die daraufhin abzielte, dass die APA zukünftig eine Organisation sein wollte, die alle Psychologen zu vertreten gewillt war. Die Herausgeber der Zeitschrift „American Psychologist“ mahnten ihre Mitglieder, dass sie zukünftig lernen müssten, die jeweiligen Marotten und Vorlieben der anderen „Lager“ zu akzeptieren. Rogers, der zehn Jahre zuvor in Rochester noch Ämter und Funktionen im Berufsverband der SozialCarl Rogers als Präsident der APA arbeiter bekleidet hatte, engagierte 1947 (aus: American Psychologist, sich nun im Berufsverband der PsyVol. 2, Sept. 1947, S. 357, chologen. Es war vor allen Dingen Manuskript-Abteilung die Anerkennung für diese praktider Library of Congress, sche berufspolitische Tätigkeit, die Washington D.C., Box 4). dazu führte, dass Rogers 1946 Präsident der APA wurde. Er konnte sich als solcher in eine Reihe sehr berühmter Vorgänger einreihen: William James, McKeen Cattell, William McDougall. Rogers hatte mit der Übernahme dieser Funktion die Anerkennung seines Berufsverbandes nun mehr als erreicht, und es wurde deutlich, dass er immer stärker in der Öffentlichkeit als Sprecher einer so genannten „dritten Kraft“ in der Psychologie in Erscheinung trat. Diese „dritte Kraft“, später humanistische Psychologie genannt, kritisierte den Behaviorismus und die behavioristischen Methoden als zu eng und die Psychoanalyse als zu spekulativ und zu esoterisch und letztlich auch in ihrer pessimistischen Grundhaltung als ein bisschen zu unamerikanisch. Zusammen mit Abraham Maslow und Fritz Perls, dem Begründer der Gestalttherapie, wurde Rogers in dieser Zeit immer mehr zu einer Gallionsfigur der humanistischen Psychologie, die eine starke Verbindung zur Pädagogik hatte.
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Von der Praxis der Beratung zu Theorie und Forschung der Psychotherapie Seine Position am Beratungscenter der Universität in Chicago konturierte Rogers noch entschiedener nach dem basisdemokratischen Projektgedanken als zuvor in Ohio. Er bestand darauf, dass er nicht der Direktor des Zentrums sein wollte, sondern lediglich sein „Executive Secretary“. Er wollte so einerseits nicht mit allen möglichen Verwaltungs- und Entscheidungsproblemen belastet sein; andererseits lehnte er eine strenge hierarchische Führung ab und vertraute einer eher demokratischen und projektorientierten kollegialen Leitung. Sieben Jahre zuvor noch hatte er um den Direktorentitel der Beratungsstelle in Rochester als Psychologe aufs Heftigste kämpfen müssen. In Chicago war er nun dagegen in einer Situation, in der er seine Position sehr gelassen und überzeugend in kollegialer Weise gestalten konnte. Er tat dies, wie immer, radikal und konsequent und gab auch den Damen am Empfang, den Sekretärinnen und dem Hausmeisterteam ein Mitspracherecht, wenn es um die Belange des Beratungszentrums ging. In der Rekrutierung von Mitarbeitern bewies er ebenfalls eine sehr glückliche Hand. Neben Virginia Axline, die bereits damals als Kinderspieltherapeutin eine hohes Ansehen genoss, gelang es ihm auch, Nathaniel Cantor als Mitarbeiter anzuwerben, der einen guten Ruf im Bereich der Arbeitspsychologie hatte. Thomas Gordon kam aus Ohio mit. So hatte Rogers einen Mitarbeiterstab von hoch qualifizierten und innovativen Kollegen, wissenschaftlichen und praktischen Mitarbeitern und Studenten um sich versammeln können. Das Team bestand aus 12 Beratern, die sowohl hauptamtliches wissenschaftliches Personal an der Universität als auch Praktiker aus Beratungseinrichtungen waren und die durch Teilzeitverträge eingebunden waren. Darüber hinaus gab es eine Reihe von Doktoranden und graduierten Studierenden, die am Counseling-Ausbildungsprogramm teilnahmen. So wurde das Therapiezentrum sehr bald eine wertvolle und hilfreiche Anlaufstelle für die Studenten der Universität, aber auch für Menschen, die als Nicht-Universitätsangehörige die Hilfestellung der Einrichtung in Anspruch nahmen. Rogers’ projektorientierter, nicht-direktiver Führungsstil färbte rasch auf die Mitarbeiter des Beratungszentrums ab. Es entwickelte sich eine offene und pragmatische Umgehensweise im Team. Als die Räumlichkeiten des Beratungszentrums eingerichtet wurden, legte Rogers z.B. sehr großen Wert darauf, dass alle 12 Berater beim Streichen, Tapezieren und Einrichten der Räume mitarbeiteten. Einerseits machte das viel Freude, wie Rogers betonte, und andererseits war es auch ein Weg, ein Gemeinschafts-
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gefühl in der Gruppe zu erzeugen und jedem Mitarbeiter das Gefühl zu geben, dass er einen sicheren und festen Platz in dem Projekt ausfüllt. Der Kanzler der Universität, Lawrence Kimpton, ließ den neuen Professor in seinen ungewohnten Umgangsweisen gewähren. Es war von Rogers wiederum sehr klug, diese Art von kollegialer und demokratischer Führung zu praktizieren, weil dies ihm genügend Spielraum und Gelegenheit gab, sich außerhalb des Zentrums berufspolitisch oder auch auf wissenschaftlichen Tagungen und Kongressen zu engagieren. Das Team des Instituts arbeitete sehr rasch wirkungsvoll und effektiv: Thomas Gordon übernahm einen großen Teil der Verantwortung und Verwaltungsarbeiten, und Rogers genoss die Freiheit, seinen Beratungsraum als Laboratorium zu verstehen, in dem er seine Tonaufzeichnungen machen konnte und genügend Zeit zur Verfügung hatte, anhand dieser Aufzeichnungen zu lernen und zu forschen. Ihm reichten sieben bis zehn Kontakte in der Woche mit Klienten völlig aus, die er entsprechend nacharbeitete und intensiv für die Weiterentwicklung seiner Methode benutzten. Er erzeugte so eine Lernumwelt, in der alle Personen wuchsen und sich individuell weiterentwickelten. Die Forschung am Beratungszentrum blühte auf wie nie zuvor und neue klinische Erkenntnisse wuchsen. Rogers’ neue Herausforderung war es nun, das Konzept der nicht-direktiven Beratungsmethode zu einer psychologisch begründeten Psychotherapie weiterzuentwickeln und mit entsprechenden Studien und Forschungen aus der Psychologie zu untermauern. Die Zahl der zu Forschungs- und Ausbildungszwecken aufgezeichneten Interviews stieg in dieser Zeit von 4000 im ersten Jahr auf mehr als 11 000 Interviews im Jahr 1957. Damit verfügte das Beratungszentrum zur damaligen Zeit gewiss über die umfangreichste Material- und Datensammlung von Beratungs- und Psychotherapiegesprächen. Als Klienten kamen Menschen unterschiedlichen Alters, aus unterschiedlichen sozialen Schichten, mit verschiedenen Religionen, verschiedener ethnologischer Herkunft und Hautfarbe. Rogers konnte die Studierenden und deren Examensarbeiten gezielt auf die Forschungsvorhaben ausrichten und eine Menge an individuellen Forschungen und Publikationen anstoßen, die sich gegenseitig ergänzten und unterstützten. Allein aus diesen Zahlen wird klar, dass Rogers augenscheinlich ein großes Talent besaß, entsprechende Finanzmittel zu aktivieren. Die Aufzeichnung und Transkription der Gespräche eines Klienten kosteten mehr als 250 Dollar. Rogers hatte in den Verhandlungen mit der Universität sichergestellt, dass er einige finanzielle Rückendeckung für Forschungsarbeiten dieser Art erhalten würde und dass ihm auch die Universität dabei helfen würde, bei der Rockefeller und der Ford Foundation Gelder für
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Forschung zu erhalten. Er hatte dadurch einen Etat von über 50000 Dollar für diese Forschungsarbeiten zur Verfügung. An der „Ohio State University“ hatte sein Forschungsetat 1941 gerade mal 250 Dollar betragen (Rogers 1983: 9). Aber gleich, wie viel Geld eine einzige Transkription kostete: Diese Unterlagen waren ausgezeichnetes Studien-, Lehr- und Forschungsmaterial, und Rogers hatte – gerade durch seine vergleichenden Studien – auf dieser Basis intensive Einblicke auch in die therapeutische Arbeit anderer Kollegen. So konnte er sowohl sein eigenes Beratungs- und Therapieverhalten verbessern, indem er seine eigenen Bandaufzeichnungen studierte, als auch zunächst von den Aufzeichnungen der Kollegen am Institut und später auch von vielen anderen Aufzeichnungen befreundeter und bekannter Kollegen aus anderen Einrichtungen lernen.
Die ersten Debatten mit der Psychiatrie Am 15. Mai 1946 hielt Carl Rogers in der „Menninger Clinic“ in Topeka, Kansas, einen Vortrag, der in einen längeren kritischen Dialog mit Carl Menninger überging. Menninger war Psychiater. Er versuchte auf seine Weise, die Behandlungsstandards in den Anstalten der Psychiatrie zu verbessern und war in gewisser Hinsicht ein ebenso radikaler Denker wie Rogers. Aber in dem Maße wie Rogers ein grundlegender Optimist war, was die menschliche Natur anbetraf, war Menninger ein Pessimist. Wenn Menninger von seinen Patienten sprach, betonte er, dass sie krank waren und eine ärztliche Behandlung brauchten. Diese Sichtweise hat Rogers später als das medizinische Modell der Psychotherapie bezeichnet. Er selbst betonte mit seinem psychologisch-pädagogischen Modell, dass Klienten entwicklungsfähig seien und durch Katharsis und Einsicht zu Einstellungs- und Verhaltenänderungen kommen könnten. Sein Arbeitskonzept stellte er in Topeka wie folgt vor. Der Klient durchläuft in der klient-zentrierten Therapie drei Phasen: 1. Phase: Katharsis. Der Klient drückt seine gegenwärtigen Gefühle aus. 2. Phase: Rationale Auseinandersetzung mit den Problemen. Der Klient gewinnt eine entsprechende Problemeinsicht. 3. Phase: Arbeitsphase. Der Klient lernt konstruktive Entscheidungen über den weiteren Umgang mit der problematischen Situation zu treffen. Rogers betonte in seinen Ausführungen, dass in dem Klienten konstruktive Kräfte existieren, deren Stärke und Richtung bisher nicht richtig erkannt oder gewaltig unterschätzt worden seien. Menninger dagegen be-
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stritt als Psychiater vor dem Hintergrund seiner Erfahrung mit schizophrenen Patienten genau diese Sichtweise. Die Debatte zwischen ihm und Rogers wurde von beiden bis ins hohe Alter gepflegt. Rogers hat es dabei immer als seine Aufgabe betrachtet, die psychiatrische Sicht der Dinge vom klient-zentrierten Standpunkt aus zu agitieren. Sein Vortrag wurde 1947 unter dem Titel „Einige Beobachtungen über die Organisation der Persönlichkeit“ als Eröffnungsbeitrag des September-Kongresses des Psychologenverbandes APA in Philadelphia veröffentlicht. In der Sprache der Gestalt- und Wahrnehmungspsychologie machte Rogers seine Sichtweise theoretisch deutlich, nach der der Klient die Möglichkeit habe, nicht nur seine Wahrnehmung der Ereignisse draußen in der Außenwelt zu verändern, sondern dass er immer auch die Möglichkeit habe, sein eigenes Selbstbild und die Wahrnehmung seiner inneren Erlebniswelt in der Therapie zu verändern. Das nach außen hin sichtbare Verhalten, psychiatrisch oft als krank, neurotisch und fehlangepasst diagnostiziert, wird verständlich, so Rogers, wenn es in Abhängigkeit von dem inneren Bewertungsrahmen des Klienten verstanden wird. Eine solche Veränderung der Innenwahrnehmung könne aber nur der Klient selbst leisten, und deshalb sei auch nur der Klient in der Lage, sich zu verändern, indem er seine Wahrnehmung und damit auch seine Bewertung von sich selbst verändere. Diese Veränderungsarbeit könne ihm von keinem externen Behandelnden und Experten abgenommen werden, so argumentierte Rogers, an die Adresse der Psychiater und Psychoanalytiker gewandt. Als Psychologe stellte er damit bereits 1947 eine sehr radikale psychologische Sicht der therapeutischen Geschehnisse vor, die erst 50 Jahre später von neueren systemischen und konstruktivistischen Sichtweisen unter dem Begriff der „Autopoiese“ (Selbstentfaltung) wieder entdeckt wurde. Sein Vortrag und seine Präsidentschaft für die APA 1947 waren ein voller Erfolg. Rogers konnte mit seinen ersten theoretischen Arbeiten zur Psychotherapie für die noch immer junge Disziplin einige wichtige Pflöcke in das (heilkundliche) Territorium der Mediziner und Psychiater einschlagen und eine eigenständige, psychologische Sichtweise des psychotherapeutischen Geschehens vorstellen. Er versuchte sehr konsequent, die Geschehnisse in einer psychologischen Sprache zu fassen und die Terminologie der Psychoanalyse zu vermeiden. Obwohl er durch seine Verpflichtungen für den APA ein Semester in Chicago fehlte und zugleich eine Gastprofessur an der Universität in Kalifornien wahrnahm, ging die Arbeit im Beratungszentrum in Chicago erfolgreich weiter. Der Jahresbericht von 1946 bis 1947 zeigte, dass das Zentrum wuchs: In diesem Zeitraum wurden 1059 Klienten behandelt, zwei Drittel davon waren Studenten. 819 Personen nahmen am Beratungs- und
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Ausbildungsprogramm teil. Das Zentrum hatte eine flexible Entlohnungspolitik. Den Klienten wurde mitgeteilt, dass eine Sitzung 17,50 Dollar kostet, dass sie aber die Dienstleistung des Zentrums nach ihrer Selbsteinschätzung bezahlen könnten. Die meisten Klienten kamen zu ein oder zwei Sitzungen in der Woche. Es waren fünf Aufzeichnungsgeräte in den Beratungsräumen installiert (Cohen 1997:128). 1948 erschien eine kleinere, fast politische Schrift ›Dealing with Social Tensions‹. Rogers war zu dieser Zeit bereits von der Vorstellung fasziniert, dass die Effekte und die Essenz der nicht-direktiven Therapie genutzt werden könnten, um Konflikte zu minimieren. Jedenfalls wandte er hier die klient-zentrierten Prinzipien in der Paartherapie an und versuchte dieses Modell einer Streitschlichtung auch in den sozialen und politischen Raum hinein zu erweitern – eine Version, die ihn augenscheinlich seit seiner Chinareise in der Jugendzeit stets begleitet hatte und die er später in seinem Alterswerk offensiv in Angriff nahm. Amerika hatte nach dem Marshall-Plan von 1947, auch mit der Luftbrücke nach Berlin 1948 eine deutliche Position für die demokratischen Staaten bezogen, und in den Jahren des beginnenden Kalten Krieges teilte auch Carl Rogers den Traum einiger anderer großer Psychologen von Sigmund Freud über John B. Watson bis hin zu Gardner Murphy, dass eine psychologische Hilfestellung oder psychologische Beratung den Kalten Krieg in ein konstruktives Konfliktmanagement verwandeln können müsste. „Es wird von allen intelligenten Männern und Frauen erkannt, dass das Leben unserer Zivilisation in einer kritischen Balance steht“, so schrieb er und plädierte gleichzeitig dafür, dass die Menschen lernen müssten, ihre Spannungen, Enttäuschungen, Konflikte und Ängste im Gespräch aufzuarbeiten und zu überwinden, weil diese sie sonst unlösbar in konflikthafte soziale und kulturelle Gruppierungen trennt. Rogers war davon überzeugt, dass die nichtdirektive Therapie, die sich in den Hilfsmaßnahmen für die Kriegheimkehrer bereits bewährt hatte, auch in dieser sozialen Aufgabe einen wichtigen Beitrag leisten könne. Auch in der Bewältigung des gesellschaftlichen Grundkonfliktes in der Arbeitswelt zwischen Kapital und Arbeitnehmerschaft sei die Methode geeignet, um Konflikte handhabbar zu machen, indem sie herausarbeiten könne, worum es den am Konflikt Beteiligten tatsächlich gehe. 1948 konnte Rogers einen weiteren akademischen Triumph feiern. Er war zwischenzeitlich auch Mitherausgeber der Zeitschrift für Beratungspsychologie („Journal for Counseling Psychology“) und hatte die Kollegen davon überzeugen können, mit den Ergebnissen seiner Studien und Forschungen aus dem Beratungszentrum ein eigenes Themenheft (im Juni 1949) zu füllen. So konnte er einer breiten Fachöffentlichkeit vorstellen,
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wie effektiv die nicht-direktive und klient-zentrierte Therapiemethode arbeitete. In der Einleitung gab er zu bedenken, dass sein Standpunkt nicht objektiv sei, aber doch von wissenschaftlichen Bemühungen getragen. Er hoffe, dass sich die Psychotherapie in einer Weise weiterentwickeln werde, dass sie immer mehr eine Wissenschaft sein könnte, die kunstvoll angewandt wird, als dass sie eine Kunst sei, die nur den Anschein von Wissenschaftlichkeit zu erwecken versuche. Im Umfeld zunehmender Forschung wurde die klient-zentrierte Therapie immer deutlicher eine psychologisch klar beschreibbare und effektive Arbeitsweise. In einer vergleichenden Betrachtung von 115 verschiedenen Behandlungsstunden mit verschiedenen Therapeuten konnten Rogers und sein Team zeigen, dass sich in den Jahren von 1942 bis 1948 die nicht-direktive Arbeitsweise unter den Praktikern erfolgreich durchgesetzt hatte. Nur 15% der Statements der Therapeuten waren direktiv. Interpretationen waren sogar nur in 3% der Statements zu finden. Mit der Veröffentlichung dieser Papiere konnte Rogers die Rockefeller Foundation für eine weitere Finanzierung seiner Forschungsarbeiten gewinnen. Er unterschrieb 1949 den Vertrag für ein Buch, das den Namen ›Client-Centered Therapy‹ (deutsch: ›Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie‹) tragen sollte. Es erschien 1951 und wurde ein weiterer Meilenstein in der Entwicklung seines Therapiekonzeptes, aber auch im Kampf der unterschiedlichen Berufsgruppen um die Vorherrschaft im Feld der Psychotherapie. Mit diesem Werk erhob Rogers unabweislich den Anspruch, mit seiner klient-zentrierten Therapie einen eigenständigen psychologischen Arbeitsansatz im klinischen Feld entwickelt zu haben.
In den Fallstricken der nicht-direktiven Methode: Als Therapeut in einer Krise Bevor er den nächsten großen Entwicklungsschritt seines Konzeptes vorstellen konnte, musste Rogers zunächst selbst eine tiefe persönliche und berufliche Krise durchleben. In gewisser Hinsicht wurde er Opfer seiner eigenen Lehre und Ideologie: Das nicht-direktive Beratungskonzept predigte vor allem die Notwendigkeit von Empathie, Verständnis und Achtung für den Klienten und lief in seiner ideologischen Verkürzung darauf hinaus, dass ein guter Berater und Therapeut den Anspruch des Klienten auf eine verständnisvolle, warme, einfühlende und akzeptierende Beziehung immer und unter allen Umständen einlösen muss. Rogers hatte, wie er am Fall des Herbert Bryan gezeigt hatte, zwar eine solide Souveränität und Gelassenheit im Umgang mit „schwierigen Situationen“ erwor-
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ben, und er konnte deutlich machen, dass es nicht sinnvoll war, wenn ein Klient zum Beispiel begann, suizidale Gefühle und Wünsche zu explorieren, sich sogleich von Angst ergreifen zu lassen und hastig „Rettungsmaßnahmen“ einzuleiten, sondern dass es eher sinnvoll war, diese Gefühle und Stimmungen zu akzeptieren, die Verantwortung bei dem Klienten zu belassen und diese Gefühle in einer ruhigen Weise mit dem Klienten gemeinsam zu besprechen. Von Virginia Axlines Arbeitsstil mit Kindern und Jugendlichen war Rogers sehr beeindruckt. Sie verstand es in ihrer nicht-direktiven Weise, dem Klienten die Verantwortung für seine eigenen Lebensentscheidungen ganz existentiell in die Hand zu geben. An dem Fallbeispiel der Klientin Jill, die von Axline behandelt wurde, erläutert Rogers, dass er gelernt habe, noch stärker den Wachstumskräften im Klienten zu vertrauen und mit dem Klienten über alle beängstigenden Wünsche und Vorstellungen zu sprechen, ohne selbst einschreiten zu müssen. Der Klient sollte in jeder Hinsicht in der Therapiesituation als ein selbstständiges und selbstverantwortliches menschliches Wesen akzeptiert werden und die Freiheit der Wahl und die Freiheit zur Selbstbestimmung über sein eigenes Leben in der Therapiesituation erleben. Es zeichnete sich damit ab, dass die nicht-direktive Behandlungstechnik eine neue existentielle Tiefe und auch einen ethisch-moralischen Anspruch erhielt, der einerseits gewiss sehr effektiv und hilfreich in der Behandlung von Klienten war, der zugleich aber auch neue dogmatische Probleme aufwarf: Was sollte der Berater und Therapeut tun, wenn er in menschlicher Hinsicht seinem Klienten keine akzeptierende, verständnisvolle und einfühlsame, warme Beziehung anbieten konnte, sondern wenn er beim Zuhören von Ablehnungsgefühlen, Misstrauen und Zweifel beherrscht wurde? Was sollte er tun, wenn der Klient die konzeptionelle Dogmatik der nicht-direktiven Behandlungsmethode theoretisch kannte und von sich aus vom Therapeuten mehr an Zuwendung und Beachtung forderte, als es die Situation zuließ und dieser geben konnte? In eine solche Problematik ist Rogers in seiner Chicagoer Zeit augenscheinlich in der Arbeit mit einer Klientin hineingeraten, die er in Rochester schon einmal behandelt hatte, die inzwischen nach Chicago umgezogen war und nun wieder zu ihm zur Beratung kam. In der Zeit zwischen Oktober 1948 und Juni 1949 stürzte Rogers in eine sehr tiefe psychologische Krise und befürchtete für sich selbst, wahnsinnig zu werden. In seinen autobiografischen Schriften schreibt er davon, dass er in dieser Zeit, ausgelöst durch den Kontakt mit einer Patientin, die nach psychiatrischer Einschätzung als schizophren eingestuft werden konnte, das Vertrauen in seine eigene Wahrnehmung verlor und nicht mehr zwischen den Bedürfnissen der Klientin und seinen eigenen unterscheiden
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konnte. In seinem Beziehungsangebot schwankte er zwischen professioneller Distanz und menschlicher Wärme und Echtheit. Rogers schrieb: „Ich wollte, dass sie mich mochte, obwohl ich sie nicht mochte.“ Er hatte erhebliche Schwierigkeiten, seine eigenen Abneigungen der Klientin gegenüber in einer wirksamen Weise zu kommunizieren. Carl, der perfekte Zuhörer, konnte sich in diesem Fall nicht „richtig“ abgrenzen. Die Probleme der Klientin wurden größer, und sie bestand darauf, drei Sitzungen in der Woche von Rogers zu erhalten, der sich weiterhin verantwortlich und zuständig für ihr Leiden fühlte und immer tiefer in diese Falle hineinlief, die aus der nicht-direktiven Ideologie, der Dogmatik aus bedingungsloser positiver Wertschätzung, Fürsorglichkeit und Einfühlung und der speziellen seelischen Problematik der Klientin gebaut war. Hinzu kam die spezielle Problematik von Überforderung, Wertlosigkeit und Einsamkeitsgefühlen, die Rogers als Mensch in seinem Leben erfahren und erlitten hatte, und seine Unfähigkeit, diese negativen Gefühle zu überwinden. Rogers fühlte sich zunehmend ausgelaugt und benutzt, konnte dies aber nicht kommunizieren. Es beherrschten ihn aber Ansprüche, die er an sich selbst stellte: Zum Beispiel, dass er als „Startherapeut“ doch in der Lage sein müsse, trotz seiner eigenen Schwierigkeiten dieser Klientin zu helfen. Die Grenzen zwischen professionellem Hilfeangebot, zwischen klar deklarierten Therapiestunden einerseits und menschlicher Anteilnahme sowie laienhaften Hilfeversuchen andererseits gingen zunehmend verloren. „Ich konnte mein ‚Selbst‘ nicht mehr von ihrem unterscheiden“, schreibt Rogers (1972/1975, S. 31). Träume, die die Klientin ihm schilderte, wurden für ihn in seinem eigenen Leben bedeutungsvoll. Ein Kinofilm, den er mit Helen besuchte, löste Halluzinationen bei ihm aus, und Rogers begriff zunehmend, dass er diese Patientin eigentlich nicht weiter behandeln durfte. Gleichwohl blieb der Verantwortungsdruck bei ihm, ihr helfen zu müssen. Die Angst, einen Zusammenbruch zu erleiden und selbst in einen psychotischen Schub zu geraten, wuchs. Mit einem jungen Psychiater, Louis Cholden, verabredete er einen, wie er es nannte, „verzweifelten Trick“. Rogers bestellt Louis Cholden in seine Behandlungsstunde. Er sollte sofort und an Ort und Stelle seine Klientin übernehmen. Rogers verließ hilflos und fluchtartig den Raum. Später versuchte die Klientin Zugang in sein Haus zu erhalten und randalierte vor seiner Haustür. Rogers war von Panik beherrscht und erklärte Helen, dass er sofort die Stadt verlassen müsse. Innerhalb von einer Stunde waren beide zusammen unterwegs in ihr Ferienhaus am Seneca-See. Rogers hoffte, sich dort sicher fühlen zu können. Helen pflegte ihren Mann zehn Wochen lang und gab ihm psychische Unterstützung. Sie war zuversichtlich, dass er aus dieser Krise wieder her-
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aus kommen könne, wenn er in der Lage sei, mit ihr über alles zu sprechen. In dieser Zeit war Rogers in intensiver Weise von Helens Hilfe und Zuwendung abhängig. Sie sprachen viel miteinander und Helen hörte Carl einfühlsam zu. Sie wanderten am See, und sie lehrte ihn Malen und Zeichnen. Nach einigen Wochen fühlte Rogers sich in der Lage, wieder nach Chicago zurückzukehren. Das Wichtigste in dieser Zeit war, „dass Helen während dieser ganzen Periode überzeugt war, ich sei nicht wahnsinnig, und der Zustand würde vorübergehen, und dass sie in jeder Weise zeigte, wie sehr sie mich liebte“, schreibt Rogers später (1972/1975, S.32). Nach gut zwei Monaten hatte Carl den Höhepunkt der Krise wohl überschritten und sich wieder etwas beruhigt, war aber immer noch weit entfernt von seiner Normalverfassung. Oliver Brown, ein Mitglied seines Beratungsstabes, sprach ihn darauf an, dass er noch klar ersichtlich unter starkem Stress leide und bot ihm eine Therapie an. So kam Rogers selbst in die existentielle Situation „seiner“ Klienten und konnte die Wirkung der nicht-direktiven und klient-zentrierten Psychotherapie als Hilfebedürftiger am eigenen Leib erleben. Bisher war er als Forscher und interessierter Therapeut stets ein sensibler Beobachter und Betrachter der Prozessereignisse von außen gewesen, der sich bemühte, sich in die Klienten und deren Welt einzufühlen – nun war er sozusagen in der Wirklichkeit der anderen Seite angelangt. Die Therapie war erfolgreich. Rogers konnte in relativ kurzer Zeit deutliche Besserung und Stabilisierung erfahren und verlor auch einen großen Teil der Ängste und Selbstzweifel, die ihn seit seinen Kindertagen plagten und die bis dahin immer zwischen ihm und anderen Menschen gestanden hatten. So konnte er sich nun leichter anderen Menschen gegenüber öffnen und Nähe, Wärme und Zuneigung geben und vor allen Dingen auch sich selbst und sein Gewordensein akzeptieren.
Das dritte Buch: ›Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie‹ Aus dieser Krise ging Rogers seelisch und konzeptionell gestärkt hervor, und auch sein Behandlungskonzept erfuhr eine deutliche Stärkung und Akzentuierung in Richtung Psychotherapie und klinischer Arbeit. Rogers wusste nun aus eigener Erfahrung von der Wirksamkeit seines Verfahrens. Er hat es in einer Krise am eigenen Leib erlebt! Zum Glück, so schrieb er später, hatte er zwischenzeitlich genügend gute Helfer ausgebildet und konnte als Klient in eine klient-zentrierte Therapie gehen. Entsprechend offensiv konnte er nun sein Konzept bei der Weiterentwicklung und in der Öffentlichkeit vertreten. 1951 erschien
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sein drittes wichtiges Buch: ›Client-Centered Therapy‹. Es erreichte wiederum eine große und begeisterte Leserschaft. In der Einleitung hatte Carl Rogers einen sehr persönlichen Stil des Schreibens gewählt und man kann, wenn man als Hintergrund seine gerade durchlebte persönliche Krise kennt, besser verstehen, warum es ihm trotz der Einwände seines Verlegers gerade gegen diese Passage wichtig war, diese Formulierungen in der Einleitung zu schreiben. Wovon handelt das Buch? „Es geht in ihm um das Leiden und die Hoffnung, die Angst und die Beruhigung, die im Beratungszimmer jedes Therapeuten zum Ausdruck kommen. Es geht um die Einmaligkeit der Beziehung, die jeder Therapeut zu seinem Klienten herstellt, und um die gemeinsamen Elemente, die wir in all diesen Beziehungen feststellen. Es geht um die höchstpersönlichen Erfahrungen eines jeden von uns, um den Klienten, der vor mir sitzt und darum kämpft, er selbst zu sein, und der gleichzeitig tödliche Angst davor hat, er selbst zu sein – der versucht, seine Erfahrung zu sehen, wie sie ist, der diese Erfahrung sein will und sich dennoch davor fürchtet. Es geht um mich, wie ich mit diesem Klienten dasitze, ihn ansehe und an seinem Kampf so intensiv wie möglich teilnehme, wie ich versuche, seine Erfahrung und die Bedeutung, die sie für ihn hat, wahrzunehmen, wie ich verzage angesichts der menschlichen Unzulänglichkeit, mit der mein Verstehen dieses Klienten behaftet ist, wie ich glücklich bin, wenn ich Hebamme sein darf bei der Geburt seiner neuen Persönlichkeit und voll Erfurcht zusehe, wenn ein neues Selbst sichtbar wird, bei dessen Geburt ich eine wichtige und förderliche Rolle spielte. Es geht um den Klienten und um mich, wie wir staunend die mächtigen Kräfte wahrnehmen, die in dieser Erfahrung sichtbar werden, Kräfte, die tief im Universum verwurzelt zu sein scheinen“ (Rogers 1951/1972b, S.16). Das Buch selbst ist ein sehr umfangreiches akademisches Werk und nicht so persönlich geschrieben wie das Vorwort, in dem Rogers bereits weit über seinen eigenen theoretischen Standort hinausgeht und sehr person-zentriert einen gemeinsamen therapeutischen Prozess von zwei Personen beschreibt. Das Buch selbst ist noch ganz im Habitus des beobachtenden und vergleichenden Wissenschaftlers geschrieben, der Rogers aufgrund seiner durchlebten Krise nun eigentlich gar nicht mehr war. Trotzdem sind die Ausführungen wieder sehr konkret und sie geben durch viele Auszüge aus Therapiemitschriften einen anschaulichen Einblick in die Themen und Prozesse, die sich im Therapiezimmer entfalten. Es gibt einen erschöpfenden und weiten Ausblick auf die Weiterentwicklung der nicht-direktiven Beratungsmethode zum Konzept der klient-zentrierten Psychotherapie. Rogers schrieb dieses Buch unter Mithilfe seiner Mitarbeiterinnen und
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Co-Autoren, die sich als Spezialisten für die Anwendung dieser klientenzentrierten Prinzipien in unterschiedlichen Arbeitsfeldern profiliert hatten: Elaine Dorfman schrieb den Abschnitt über die Kinderspieltherapie, Nicholas Hobbs das Kapitel über die Anwendung der klient-zentrierten Prinzipien in der Gruppentherapie und Thomas Gordon formulierte das Kapitel über das Führen und Leiten von Gruppen im Management des Wirtschaftslebens und in der Verwaltung. Carl Rogers selbst fügte den grundlegenden Theoriekapiteln noch einen Beitrag über schüler-zentriertes Unterrichten und über die Ausbildung von Beratern und Therapeuten hinzu. Insgesamt wird die Richtung der Weiterentwicklung des Konzepts deutlich: Der bisher nicht-direktive Ansatz wird nun als ein offenes System von psychologisch begründeten Theorien und Hypothesen präsentiert, als eine neue und eigenständige Forschungsrichtung und ein Therapiekonzept „in progress“ (im Entstehen). Rogers betont den nachgeordneten Status seiner theoretischen Überlegungen. Es sind seine Versuche, die gemachten Erfahrungen und Beobachtungen begrifflich zu ordnen und zu systematisieren. Offene Fragen und „weiße Flecken“ in der Theorie durch geeignete Untersuchungen und Studien zu kennzeichnen und weitere Untersuchungen voranzutreiben. In dieser Absicht dienen Rogers sowohl seine eigenen Erfahrungen als Klient (über die er in diesem Buch nicht schreibt) als auch die unendlich vielen Mitschnitte aus Beratungsgesprächen als Anschauungs- und Belegmaterial, mit dem er die wirkungsvollen Einstellungen und Orientierungen des Beraters und die therapeutische Beziehung, wie sie von dem Klienten erlebt wird, sehr konkret und differenziert beschreiben kann. Im 4. Kapitel wird der Prozess der Therapie als ein von außen studierbares und beobachtbares Phänomen dargestellt. Es zeigt, wie es Menschen in diesem Prozess gelingt, sich ihren Erfahrungen und inneren Vorgängen gegenüber zu öffnen und gewohntes und vertrautes Abwehr- und Vermeidungsverhalten aufzugeben, um erlebte Gefühle und Ereignisse möglichst vollständig wahrzunehmen und sie damit erst wirklich zu eigenen persönlichen Erfahrungen zu machen. Erst dann können sie in das Selbstkonzept aufgenommen werden, das sich damit zu verändern beginnt und den Prozess der persönlichen Weiterentwicklung wieder ermöglicht. Rogers benennt in einem von ihm formulierten Kapitel auch Lücken und Schwächen des derzeitigen Wissensstandes und der derzeitigen Theoriebildung. In einem weiteren Kapitel geht er auf grundlegende Fragen ausführlich ein, die von Vertretern anderer Therapieorientierungen an das klient-zentrierte Konzept gestellt werden und erörtert Fragen zu den Phänomenen der Übertragung und zum Stellenwert der Diagnose und zur Anwendbarkeit des Konzepts in Grenzsituationen.
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Mit der Erörterung und Begründung seiner Ablehnung diagnostischer Vorgehensweisen in der Psychotherapie zettelte Rogers innerhalb der Psychotherapieschulen eine vehemente Grundsatzdebatte an, die bis heute anhält. Aus seiner Zeit in Rochester und aus der Zusammenarbeit mit Jessie Taft und anderen Vertretern der funktionalen Schule in der Sozialarbeit übertrug Rogers nun die wachstums- und ressourcenorientierten Prinzipien der Beratungsarbeit konsequent auf die klinisch-psychotherapeutische Arbeit im engeren Sinne. Das ist in dieser Radikalität neu und bleibt kontrovers. Nach seiner Meinung ist vom klient-zentrierten Standpunkt aus ein diagnostisches Vorgehen, wie es in der organmedizinischen Orientierung selbstverständlich und in unbestrittener Weise nützlich ist, in der psychotherapeutischen Arbeit aber wenig hilfreich. Für Rogers ist klar, dass im medizinischen Bereich der Grundsatz zu Recht gilt, dass „eine vernünftige Behandlung nicht geplant und durchgeführt werden kann, solange keine genaue Diagnose gestellt worden ist“ (Rogers 1951/ 1972 b, S. 205), aber er schränkt die Gültigkeit dieses Vorgehens auf die organmedizinische Expertenschaft der Ärzte ein. Seelische Vorgänge und psychisches Leiden sei nach diesem medizinischen Modell in „Krankheitsbildern“ nicht angemessen erfasst. Für die klient-zentrierte Beratung und Psychotherapiearbeit erscheint ihm eine diagnostische Orientierung eher störend und wenig hilfreich: „Unsere Erfahrung hat uns zu der vorläufigen Schlussfolgerung geführt, dass eine Diagnose der psychischen Eigentümlichkeiten nicht nur unnötig, sondern in mancher Hinsicht auch nachteilig oder unklug sein kann. Für diese Schlussfolgerung gibt es zwei Gründe. 1. Legt allein der Prozess der psychologischen Diagnose den Ort der Wertung so eindeutig in den Experten, dass er beim Klienten alle Abhängigkeits-Tendenzen steigern und in ihm das Gefühl wachrufen kann, dass die Verantwortung für das Verstehen und Verbessern der Situation in den Händen des anderen liegt (…). Der zweite grundsätzliche Einwand gegen die psychologische Diagnose und die sie begleitende Wertung des Klienten durch den Therapeuten ist, dass sie gewisse soziale und philosophische Implikationen enthält, die aufmerksam betrachtet werden müssen und die dem Autor nicht wünschenswert erscheinen. Wenn der Ort der Wertung als im Experten gelegen gesehen wird, dann scheint es, als gingen die weitreichenden sozialen Implikationen in Richtung auf eine soziale Kontrolle vieler durch wenige. Manchen mag diese Schlussfolgerung etwas weit hergeholt scheinen. Sicherlich trifft sie für den Bereich von organischen Schwierigkeiten nicht zu. Wenn ein Arzt bei seinem Patienten eine Niereninfektion diagnostiziert und ihm ein Medikament verschreibt, dann hat weder die Diagnose noch das Medikament irgendwelche generellen Folgen im Bereich der sozialen Philosophie. Aber wenn der Kliniker bei
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einem Klienten berufliche Ziele oder eheliche Beziehungen oder religiöse Anschauungen als, sagen wir, unreif diagnostiziert und auf eine Änderung dieser Umstände in Richtung dessen, was er für reif hält, hinarbeitet, dann hat diese Situation viele soziale Implikationen“ (Rogers 1951/1972 b, S. 109 f.). Aus diesen Zitaten wird deutlich, dass Rogers auch hier wieder sehr radikal und konsequent denkt und mit seinem psychologischen und klientzentrierten Modell an den Grundfesten der medizinischen Institutionen rüttelt. Die Arbeitsweise des klient-zentrierten Psychotherapeuten wird nun so gefasst, dass es seine Aufgabe ist, den Klienten in seinen Gefühlen, Entscheidungen und Handlungen aus dessen eigenem inneren Bezugsrahmen heraus zu verstehen. Auch dieser Bezugsrahmen (das Selbstkonzept) wird als der Niederschlag von biographischen Erfahrungen gefasst, der in einer zweiten oder dritten Reflexion und Aneignung sich verändern und modifizieren kann. Rogers übernimmt zur Beschreibung dieser inneren Vorgänge eine phänomenologische Sprache und die Begrifflichkeit der europäischen Gestalt- und Wahrnehmungspsychologie. Er vermeidet damit sehr konsequent das etablierte psychoanalytische und psychiatrische Begriffs- und Theoriesystem. In 24 Thesen versucht Rogers im Anhang des Buches einen ersten Entwurf zu einer Theorie der Persönlichkeit und des Verhaltens. Danach ist jedes Individuum Mittelpunkt in einer von ihm wahrgenommenen Wirklichkeit. Diese wahrgenommene Wirklichkeit ist selbstverständlich nicht identisch mit der „objektiv wirklichen“ Wirklichkeit. Sie ist allerdings für den Wahrnehmenden „Realität“, auf die hin er sein Handeln organisiert. Er oder sie verhält sich zu dem, was er oder sie wahrgenommen hat. Und was er oder sie wahrnimmt, ist wiederum abhängig von den Aufmerksamkeitsfiltern, die sein Selbstkonzept darstellen. Wird der Klient in der Therapie sein Selbstkonzept, also die ihm ganz eigene Art zu selektieren und zu bewerten, entdecken, kann er auch beginnen, dieses Selbstkonzept zu verändern. Das Selbstkonzept, das das Individuum im Laufe seiner biographischen Erfahrungen von sich entwickelt, kann sich entweder in weitgehende Übereinstimmung mit der organischen und biologischen Entwicklung des Gesamtorganismus befinden oder aber zu diesem in ein spannungsvolles Verhältnis von Inkongruenz geraten, so dass die Auffassungen von sich selbst wie ein Selektionsfilter wirken und bestimmte organisch fundierte Bedürfnisse ausblenden, negieren oder gar zu bekämpfen beginnen. Dies ist z. B. im Fall der Magersucht so evident zu beobachten. Hier gelingt es dem Selbstkonzept, also den inneren Vorstellungen von sich selbst, die Wahrnehmung der Signale des Organismus, z. B. Hunger und Appetit, erfolgreich zu unterdrücken und fast ganz auszublenden.
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Mit dieser theoretischen Weiterentwicklung der nicht-direktiven Beratungsmethode zu einer klient-zentrierten Psychotherapie durch den Entwurf einer Theorie der Entwicklung der Persönlichkeit, durch eine Theorie des Selbst und durch die von Kurt Goldstein formulierte Aktualisierungstendenz geht Rogers in eine schroffe Frontstellung gegen medizinisch-psychiatrische und psychoanalytische Dogmen der damaligen Zeit. Er versucht in der Tat im Rahmen des amerikanischen pragmatischen Denkens, des Projektlernens, der demokratischen Idee und unter Zuhilfenahme von gestaltpsychologischen Konstrukten einen theoretischen Neuentwurf einer psychologischen Psychotherapie, der sich eklektisch und pragmatisch auf phänomenologische und interaktionistische Konzepte stützt. Für diese theoretische Fassung des psychotherapeutischen Geschehens aus psychologischer Sicht hat Rogers sich in den 1950er und 1960er Jahren die Anerkennung „seiner“ Fachdisziplin erworben. Er war in der Tat weit und breit der einzige Psychologe, der einen eigenständigen und erfolgreich praktizierbaren psychologischen Ansatz in der Psychotherapie ausformuliert hat. Aber bald stellt sich heraus, dass Rogers weiteres Denken ihn auch zu seiner eigenen Fachdisziplin wieder in eine sperrige Opposition bringt.10 Das Buch ›Client-Centered Therapy‹ war für die Praktiker und Fachleute, die im Beratungs- und Psychotherapiebereich arbeiteten, wiederum ein Meilenstein in der Entwicklung ihres Berufstandes. Obwohl sich die psychologischen Fachzeitschriften immer noch mit konstruktiven Besprechungen schwer taten, wuchs der Einfluss und das Ansehen von Rogers gerade unter den praktizierenden Psychotherapeuten, und seine Position als Sprecher einer neuen humanistischen Psychologie gewann an Profil. Aber es gab zu dieser Zeit auch grundsätzlich kritische Stimmen. Diese bezogen sich nicht nur auf die neue klient-zentrierte Psychotherapie, sondern sie beschäftigten sich kritisch mit der Psychotherapie überhaupt. Eysenck publizierte 1952 sein grundlegend kritisches Werk gegenüber Psychoanalyse und Psychotherapie und versuchte nachzuweisen, dass Psy10 Diese humanistisch-phänomenologische Position von Rogers ist auch in der späteren Rezeption in Deutschland wenig verstanden worden. Hier, aber auch in Amerika, ist in diesem umfassenden und ambitionierten theoretischen Versuch von der akademischen Verhaltenspsychologie nur die nicht-direktive Methode der Gesprächsführung wiedererkannt worden, die sich jetzt klient-zentriert nannte. Dieses nur unzulänglich verstandene Konzept wurde sodann verhaltenstheoretisch „vertauscht“ und „verbessert“. Eine ernstzunehmende Übersetzung von Rogers’ Psychotherapietheorie erschien in der Deutschen Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie (GwG) erst 1987.
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chotherapie keinerlei heilende Wirkung habe, sondern, wenn überhaupt, eher eine gefährliche und schädliche. Er argumentierte, dass bei denjenigen Klienten, die sich trotz Psychoanalyse oder Psychotherapie besser fühlten, eine Spontanheilung erfolgt sei und dies nicht wegen, sondern eher trotz Psychoanalyse und Psychotherapie. Er zählte auch eine ganze Reihe von methodischen Fehlern auf, die in den bisher vorliegenden Psychotherapiestudien verbreitet waren und konnte in der Zeitschrift „Journal for Counseling Psychology“ erheblichen Eindruck in der Psychotherapielandschaft machen. Gerade auch die grundlegende Problematisierung der bisher vorliegenden Forschungsarbeiten und deren Unzulänglichkeiten brachten wichtige und neue theoretischen Herausforderungen. Für Rogers war es sicherlich eine große Aufgabe, die Thesen von Eysenck zu widerlegen. So befand er sich in dieser Zeit beruflich in einem Wirbel von neuen Aktionen, und es gab auch von ganz anderer Seite her unerwarteten Stress durch die „Empathie-Forderung“ aus der Gründerzeit: Sein Sohn David beklagte sich in einigen Briefen an die Eltern, dass seine Frau Corky sich von ihrer Schwiegermutter Helen abgelehnt fühlte, die sie, nachdem sie eine problematische Beziehung zu ihrer eigenen Mutter hatte, bewunderte. Helen konnte und mochte diese Bewunderung augenscheinlich nicht erwidern. David beschwerte sich unterdessen darüber, dass Helen absolutistisch gegenüber Corky auftrete und immer nur ihre Unordnung und ihre problematischen Seiten sehe. Er fühle sich in seiner Beziehung mit Corky weit weg von einer wohlwollenden und verständnisvollen Begleitung durch die Eltern. Diese, so schreibt er, waren in ihrer eigenen Ehe augenscheinlich so zufrieden und gefestigt, dass sie wenig Sinn und Aufmerksamkeit dafür hatten, dass andere Paare in ihrer Beziehung viele Schwierigkeiten und Kämpfe zu durchfechten hatten. „Vielleicht ist es so selten, dass zwei Personen Glück und Zufriedenheit finden wie ihr beide und dass dieses Glück so intensiv leuchtet, dass andere sich daneben klein und hässlich vorkommen“ (Cohen 1997: 144).
Zwischen Empirie und Phänomenologie: Kreativität als neue Orientierung Im Sommer 1952 waren Helen und Carl in Mexiko in Urlaub, und es gibt begeisterte Schilderungen in Briefen an David und Natalie wie auch an alle anderen Familienmitglieder, in denen Carl davon berichtete, wie er sich, weitab von Wissenschaft und Forschung, für kreative Schriftstellerei und Malerei begeisterte. In diesem Urlaub wurde der Grundstein dafür
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gelegt, dass sich Rogers auch mit einer Theorie der Kreativität befasste und dieses kreative Element später auch in seine Persönlichkeitstheorie aufnahm. Er entdeckte die europäischen Existentialisten Kierkegaard, Jean-Paul Sartre u. a. und bereitete sich auf diese Weise intensiv auf eine Konferenz vor, die vom 5. bis 8. Dezember 1952 in Granville, Ohio, stattfinden sollte. Der innengeleitete und selbstbestimmte Mensch, der sich nach seinen eigenen inneren Maßstäben entwickelt und ständig auf der Suche und ständig im Prozess des Werdens und der Weiterentwicklung ist, wird immer deutlicher als Bezugspunkt seiner persönlichkeitstheoretischen Annahmen. Der Künstler und das künstlerische und kreative Tun, das innengeleitet und nicht von äußeren Reizen und Bewertungen kontrolliert werden kann, erschien ihm als vorbildlich. Es klingt fast, als habe Rogers die Thesen der frühen europäischen Kunsterziehungsbewegung der Jahrhundertwende entdeckt und wolle sie wiederbeleben. (Er kannte sie sicherlich nicht!) Er beginnt in seinem Papier für diese Konferenz mit gesellschaftskritischen Überlegungen, in denen er schildert, in welcher Weise das amerikanische Leben sowohl im Geschäftsleben als auch im kulturellen Leben auf Konformität zielte. Kreativität und Originalität erscheine deshalb der Gesellschaft als gefährlich. Sie bleibe, nach Rogers’ Meinung, nur einigen privilegierten Individuen gesellschaftlicher Führungspositionen vorbehalten. Die einfachen Werktätigen hätten ihre Arbeit uniform und mechanisch zu verrichten. Um mit einem Blick in die gesellschaftliche Situation Amerikas den Hintergrund etwas zu verdeutlichen: Anfang der 1950er Jahre begann in den USA die Ära der von Senator McCarthy in Szene gesetzten Agitation gegen kommunistische Umtriebe. Amerika war im Begriff, seine demokratischen Tugenden in einer hysterischen Welle von Hass, Misstrauen und Despotismus zu verspielen. McCarthy, Senator in Wisconsin, also in dem Staat, in dem Carl am College in den 1920er Jahren so progressive Lehrer gefunden hatte, nutzte Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre die schlechte Stimmung im Land, die von den Rückschlägen der amerikanischen Ostasienpolitik im Koreakrieg und der zunehmenden Polarisierung des Kalten Krieges ausgelöst worden war, um mit großem demagogischen Geschick vom Mittleren Westen aus eine Kampagne gegen die „kommunistisch verseuchte“ Bundesregierung zu schüren. Dieses nahm tatsächlich die Form einer Massenbewegung an. Fast wahllos wurden Diplomaten, Geschäftsleute, Politiker, Gelehrte, Intellektuelle und Gewerkschafter mit phantasierten Beweismaterialien der kommunistischen Verschwörung bezichtigt. In dieser Zeit des blanken Antikommunismus argumentierte Rogers,
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dass die gesellschaftliche Situation das grundlegende menschliche Bedürfnis nach kreativer Entfaltung behindere. Jede Person habe das Bedürfnis, nicht nur irgendetwas oder irgendjemand zu sein, sondern vor allen Dingen auch in einem kreativen Prozess des Werdens und der Entwicklung sein Leben zu führen und etwas anzustreben und zu werden, was in ihm angelegt sei. Die Idee der kreativen Selbstverwirklichung wurde von Rogers mit dem Konzept der Offenheit für Erfahrungen verbunden: Menschen, die sich ihren Gefühlen, Erlebnissen und Erfahrungen aufgrund eines Konformitätsdrucks verschließen müssen, zerstörten ihre Fähigkeiten zur Kreativität und damit ihre humane Basis. 1953 legte Rogers diese Idee als das Konzept der optimal funktionierenden Person wiederum in einer Veranstaltung in der „Menninger Clinic“ vor. Es war nun eine Wiederholung und Verschärfung der Kontroverse, die bereits 1949 von beiden Seiten ausgetragen worden war: Rogers betonte die optimistische und entwicklungsorientierte Seite des Menschen, Carl Menninger hingegen betonte die dunklen, krankhaften und wahnhaften Seiten der menschlichen Existenz. Man kann daran erkennen, dass Rogers es sich in der Tat zur Aufgabe gemacht hatte, auch auf einem weiteren Gebiet, das von der Psychoanalyse dominiert wurde, nämlich dem der Kreativitätstheorie, dieser eine amerikanische, pragmatische und vor allem eine konstruktive Variante entgegen zu stellen. Der von der Psychoanalyse spekulativ behauptete Zusammenhang von Kreativität und Wahnsinn und die kulturpessimistische Auffassung von Freud verlangten in seinen Augen ganz einfach nach einer humanistischen Erwiderung. Aber es war auch Rogers als Person und als Wissenschaftler, der seine eigene Kreativität nun zu entdecken begann, die bis dahin unter der strengen und freudlosen Lebenseinstellung seiner Familie und einer fundamentalistischen Religion begraben war. 1954 gibt Rogers zusammen mit Rosalind Dymond das Buch ›Psychotherapy and Personality Change‹ heraus. Es enthält mehrere Studien, die den klient-zentrierten Ansatz nach dem Erscheinen des Grundlagenwerks 1951 verteidigten und erläuterten. Das Buch ging auf Kritik und Missverständnisse ein, und endlich reagierten auch die psychologischen Fachzeitschriften positiv. Man kann davon ausgehen, dass Rogers’ Veröffentlichungen und Forschungen zu jener Zeit einen großen Einfluss auf die gesamte Psychotherapie- und Beratungslandschaft hatten, die gespannt die weitere Arbeit des „Chicago Counseling Centers“ verfolgte. Von da an wurde es für Psychotherapeuten, Psychiater und Psychoanalytiker immer schwieriger, der Überprüfung und Evaluation ihrer Arbeit durch empirische Forschungen aus dem Wege zu gehen. Die amerikanische Psychologie hatte mit Carl Rogers eine kräftige Bastion im klinischen
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Feld errichtet. Darüber hinaus löste Rogers mit den vergleichenden Studien über unterschiedliche Behandlungsformen heftige Kontroversen und Debatten zwischen den psychotherapeutischen Schulen und Strömungen aus. Diese waren nunmehr gezwungen, auch im Licht der empirischen Forschung eine Überprüfung ihrer Lehrmeinungen zu veranlassen. Letztlich ist es Rogers mit seinen Arbeiten aus diesen Jahren zu verdanken, dass die spekulativen und sektiererischen Elemente in der therapeutischen Arbeit minimiert wurden und das Geschehen zwischen Therapeut und Klient einer wissenschaftlichen Durchdringung zugänglich wurde. Gleichwohl bleibt Rogers theoretisches und wissenschaftliches Werk ambivalent und in sich widersprüchlich. Es schwankt zwischen Empirie und Phänomenologie, zwischen übenden Verhaltenstrainings einerseits und lebendigem Projektlernen mit Ernstcharakter andererseits; es ist eklektisch und versucht doch eine theoretische Geschlossenheit. Es begründete eine klient-zentrierte „Bewegung“ und eine neue „Glaubensrichtung“ und lehnte eine solche Anhängerschaft gleichzeitig ab. Rogers wird in gewissem Sinne auch das Opfer der Geister, die er rief. Die Verkürzung der nicht-direktiven Methode auf ein technologisch anwendbares Skill-Training im verhaltenstherapeutischen Sinne war bereits intensiv im Umlauf und konnte von ihm, der sich doch weitgehend mit empirischen Forschern umgeben hatte, kaum noch aufgehalten werden. So wurde es für ihn sehr schwer, seine eigene persönliche Weiterentwicklung und auch die Weiterentwicklung seines Konzeptes in Richtung auf Kreativität, Einzigartigkeit der Persönlichkeit und auf die Dynamik des Begegnungsprozesses diesen Kollegen gegenüber zu kommunizieren und mitzuteilen. Seine persönliche Entwicklung vom „steifen“ Testpsychologen zum humanistischen und phänomenologisch orientierten Psychologen vollzog sich stärker in seinen Büchern und in seiner Therapiepraxis. In dem Austausch mit seinen Kollegen steckte er augenscheinlich in einer Kommunikationsfalle, die sicherlich auch aus seinem Unvermögen resultierte, in persönlich engen Beziehungen Kritik zu äußern. Thomas Gordon, einer seiner engsten und wichtigsten Mitarbeiter, schrieb einige Jahre später etwas verwundert über diese Nicht-Kommunikation: „Carl Rogers war für mich während der Zeit, die ich mit ihm verbrachte, zugleich zweiter Vater, enger Freund und Mentor und Inbegriff eines warmherzigen und großzügigen Menschen. Außerdem war er mir ein existentieller Lehrer und Therapeut – bevor er in seinen späteren Lebensjahren einer meiner Kritiker wurde. Als Rogers seine akademische Laufbahn 1940 in Ohio begann, hat er mich davon abgehalten, das Studium der Psychologie zugunsten der Medizin aufzugeben. Seine Lehrveranstaltungen bereicherten meine Vorstellungen von der Psychologie, die zuvor nur theoretisch und experimentell gewesen waren, mit
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einer humanistischen Komponenten. Er half mir, ein Forschungsthema für meine erste akademische Abschlussarbeit, die Masters Thesis, zu finden. Die Rogers wurden für mich zum Prototyp eines idealen Ehepaares und einer perfekten Familie. Carls Frau Helen war eine reizende, großzügige Frau und ihre Kinder David und Natalie entsprachen dem Ideal aller Eltern. (…) Carl äußerte erstmals Kritik an meiner Theorie, kurz nachdem mein „Parent Effektiveness Training“ (P.E.T.) landesweit Anerkennung fand und ich in etlichen bekannten Radio- und Fernseh-Talkshows aufgetreten war. Freunde erzählten mir von Carls Kritik, und er selbst schrieb mir einen langen Brief. Er beanstandete, dass das Effectiv-Elterntraining zu ‚kommerziell‘ sei, weil es sich um ein reines Verhaltenstraining handele, das nicht wirkungsvoll sein könne. Des Weiteren monierte er, dass ich es versäumt hätte, ihn in meinem P.E.T.-Buch zu zitieren oder anerkennend zu erwähnen. (….) In meinem Antwortbrief ging ich nur auf die letzten beiden Vorwürfe ein. (…) Carl hat nie auf meinen Brief reagiert, und ich muss wohl nicht eigens darauf hinweisen, dass ich zutiefst verletzt war. Ich konnte diese Vorwürfe einfach nicht ganz mit dem ganz und gar positiven Eindruck in Einklang bringen, den ich von ihm gewonnen hatte. Später las ich in seinem Buch ›Freiheit und Engagement. Personenzentriertes Lehren und Lernen‹, in dem er in aller Offenheit seine Vorbehalte gegenüber zwischenmenschlichem Kommunikationstraining artikulierte und die Vorliebe für seine Form der Gruppentherapie bekräftigte. Auf der selben Seite jedoch lobte er David Aspys und Flora Roebucks Studie über die positiven Aspekte ihres Fertigkeitstrainings als eines von zwei Büchern, die ‚Meilensteine auf dem Gebiet der Erziehungswissenschaft‘ seien. Carl widmete den bemerkenswert positiven Resultaten für Schüler und Lehrer 20 Seiten, und dennoch verspürte er offensichtlich ein Bedürfnis, das Verhaltenstraining zu kritisieren. Das war für mich sehr verwirrend“ (Gordon 1998, S.23ff.). Was für Rogers augenscheinlich immer klar war, musste durchaus nicht für seine engsten Mitarbeiter gelten. Die weltanschaulichen und politischen Implikationen der klient-zentrierten Therapie waren Rogers stets deutlich, gerade auch in der Abgrenzung zu weltanschaulich anders akzentuierten Auffassungen. Das streng wissenschaftliche Bemühen, die klientzentrierte Psychotherapie als psychologisch fundierte Konzeption auszuweisen, hielt die weltanschaulichen Wurzeln allerdings oft verdeckt. In den theologischen Kontexten der Pastoralpsychologie war Rogers allerdings immer bereit, auf diese Implikationen hinzuweisen. In seinem Nachlass fand ich ein Schreiben vom 8. Mai 1953 an William Schenk, in dem er deutlich darauf hinweist, dass die klient-zentrierte Therapie sich mit der hierarchischen Ordnung der katholischen Kirche nicht verträgt und in
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dem er davor warnt, Elemente aus seinem Konzept nur oberflächlich und technologisch in der katholischen Beratungs- und Seelsorgearbeit anzuwenden: „Deshalb will ich klar sagen, dass es geschehen kann, dass der Therapeut im Prozess seiner Arbeit etwas herausfinden kann, das für ihn wahr, aber im Konflikt zur Auffassung der Kirche steht. Und wenn das geschieht, dann wird sich ein deutlicher Konflikt entwickeln.“ Für Rogers selbst war die Verleihung des „Distinguished Scientific Contribution Award“ der amerikanischen Fachgesellschaft der Psychologen 1956 die Krönung seiner Arbeit. Rogers sah darin nicht nur die greifbare Anerkennung seiner ausführlichen Forschungen, die er und seine Kollegen über den therapeutischen Prozess durchgeführt hatten, sondern es war für ihn auch ein klares Zeichen dafür, dass seine Kollegen von der akademische Psychologie seine Arbeit nicht nur peinlich fanden, sondern auch ein Stück weit bewunderten. Später kommentiert er, dass diese Auszeichnung unter all denen, die er in seinem Leben erhalten hatte, für ihn persönlich die wichtigste war (Kirschenbaum 1979: 222). In der Zeit danach fühlte sich Rogers sicher genug für eine zusammenfassende theoretische Veröffentlichung, sie trug den Titel: ›Die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Persönlichkeitsentwicklung durch Psychotherapie‹. Diese theoretische Arbeit ist der erste Versuch in der Sprache der experimentellen Psychologie, eine Hypothese über therapeutischen Wandel in einer überprüfbaren Weise zu formulieren. Sie wurde von ihm in den folgenden Jahren um eine streng formalisierte Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehung ergänzt. Die umstrittenste dieser Hypothesen kommt bereits in der Überschrift dieses Beitrages zum Ausdruck: Rogers behauptet, bis zum Beweis des Gegenteils, die notwendigen und auch die ausreichenden Bedingungen für den Prozess einer Persönlichkeitsveränderung beschrieben zu haben: Mehr braucht es für eine erfolgreiche Psychotherapie nicht! Deshalb unterscheiden sich in den folgenden 30 Jahren die „Puristen“ und die „richtigen“ Rogerianer in Bezug auf dieses theoretische Konzept von denjenigen klient-zentrierten Psychotherapeuten, die, beeinflusst von der Verhaltenstherapie oder von anderen psychotherapeutischen Schulen, die Auffassung vertreten, dass die von Rogers umschriebene „psychologische Beziehung“ nur eine (wenn auch notwendige zwischenmenschliche) Basis für eine psychotherapeutische Arbeit abgebe, aber die „eigentliche“ therapeutische Arbeit der Veränderung durch zusätzliche Faktoren, Techniken und Methoden bewirkt werde (Tscheulin 1983). Rogers nennt in diesem Text sechs Bedingungen, die erfüllt sein müssen, um eine konstruktive Persönlichkeitsveränderung auszulösen und stellt
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einen kausalen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang her: Wenn „X“ erfüllt ist, dann tritt „Y“ ein. Der Prozess der Psychotherapie wird von ihm in Analogie zu einer chemischen Reaktion beschrieben, die nach einer ihr eigenen Gesetzmäßigkeit, sozusagen „naturwissenschaftlich“, abläuft, wenn gewisse Bedingungen erfüllt sind. „Damit sich konstruktive Persönlichkeitsveränderung ereignet, ist es notwendig, dass die folgenden Bedingungen gegeben sind und über eine gewisse Zeitspanne hinweg andauern: 1. Zwei Personen befinden sich in psychologischem Kontakt. 2. Die erste, die wir Klient nennen werden, befindet sich in einem Zustand der Inkongruenz, ist verletzbar oder ängstlich. 3. Die zweite Person, die wir Therapeut nennen werden, ist kongruent oder integriert in der Beziehung. 4. Der Therapeut empfindet eine bedingungslose positive Zuwendung dem Klienten gegenüber. 5. Der Therapeut empfindet ein empathisches Verstehen des inneren Bezugsrahmens des Klienten und ist bestrebt, diese Erfahrung dem Klienten gegenüber zum Ausdruck zu bringen. 6. Die Kommunikation des empathischen Verstehens und der bedingungslosen positiven Zuwendung des Therapeuten dem Klienten gegenüber wird wenigstens in einem minimalen Ausmaß erreicht. Keine anderen Bedingungen sind notwendig. Wenn diese sechs Bedingungen gegeben sind und über eine bestimmte Zeitspanne hinweg andauern, ist dies hinreichend. Der Prozess der Persönlichkeitsentwicklung wird folgen“ (Rogers 1957a, deutsch in: Rogers/Schmid 1991, S.168f.). Rogers verwendet viel Mühe darauf, genauer zu beschreiben, was mit dem Zustand von Inkongruenz auf Seiten des Klienten und dem Zustand von Kongruenz auf Seiten des Therapeuten im Einzelnen gemeint ist, und versucht diese Zustände mit einem neuen Messverfahren, das ein Kollege an der Universität Chicago 1953 neu entwickelt hatte, in eine operationale, d. h. der äußeren Beobachtung zugängliche Form zu bringen. Auf diesem Wege kann er sowohl die Kongruenz des Therapeuten als auch das Ausmaß an positiver Beachtung und Zuwendung und das Ausmaß an Empathie, das der Therapeut dem Klienten zeigt, einschätzen.11 11 Dieses Einschätzungsverfahren durch externe Beobachter (Rater) war für wissenschaftliche Untersuchungen brauchbar, nicht aber ohne Weiteres für Ausbildungszwecke übertragbar. Dort richtete es lange Jahre ein technologisches Selbstmissverständnis und viele Schäden an. Letztlich bleibt die exakte Messung des gezeigten Ausmaßes von Empathie, positiver Beachtung und Kongruenz des Therapeuten in seiner Wirkung davon abhängig, ob und wie es von dem Klienten
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Die weiteren Ausführungen über das, was mit diesen theoretischen Annahmen seiner Hypothese nicht behauptet wird, zeigen dann wieder Rogers in seiner Eigenschaft als Rebell und radikaler Denker und Provokateur. Die ganze normative „Sperrigkeit“, die die klient-zentrierte Auffassung im klinischen Feld der damaligen Zeit und weitgehend auch bis heute noch hatte, kommt hier zum Ausdruck. Rogers hebt fünf Argumente besonders hervor: Erstens: „Zum Beispiel wird nicht behauptet, dass diese Bedingungen für einen ganz bestimmten Kliententyp angewendet werden und dass andere Bedingungen notwendig sind, therapeutische Veränderungen bei anderen Kliententypen hervorzubringen. Wahrscheinlich ist keine Idee in der klinischen Arbeit heute so vorherrschend wie die, dass man mit Neurotikern auf diese, mit Psychotikern auf jene Weise arbeitet; dass bestimmte therapeutische Bedingungen für Zwangsneurotiker, andere wiederum für Homosexuelle geschaffen werden müssen usw. Wegen dieses schweren Gewichts der gegenteiligen klinischen Meinung geschieht es mit etwas „Furcht und Zittern“, wenn ich das Konzept vortrage, dass die wesentlichen Bedingungen der Psychotherapie in einer einzigen Konfiguration bestehen, selbst wenn der Klient oder Patient sie sehr verschiedenartig anwenden mag“ (ebd., S. 179). Es wird zweitens mit dieser Theorie nicht behauptet, dass diese sechs Bedingungen die wesentlichen Bedingungen speziell für eine klient-zentrierte Therapie seien, sondern sie gelten schulenübergreifend für jede psychotherapeutische Situation, in der sich eine konstruktive Änderung zeigt, gleich ob diese in der Psychoanalyse, der Verhaltenstherapie oder in einer Beratungsstunde nach einer ganz anderen Orientierung stattgefunden hat. Es wird drittens von Rogers weiterhin nicht behauptet, dass das psychotherapeutische Beziehungsgeschehen eine qualitative Eigenständigkeit besitze und nur dort vorkomme. Die Qualität dieser persönlichkeitsverändernden Prozesse und des konstruktiven Wandels sind nach seiner Auffassung gleichermaßen in einer Beziehung von Freunden zu finden, in der Familie und auch in pädagogischen Beziehunals Gegenüber in der Kommunikation wahrgenommen und interpretiert wird. Ganz gleich, wie die Beobachter das Verhalten des Therapeuten von außen einschätzen: Eine „objektive“ Bewertung kann nur die „subjektive“ Interpretation des Klienten sein. Ist diese Voraussetzung gegeben, dann wird sich mit dem Charakter von Naturgesetzen, ähnlich wie eine chemische Reaktion oder ein Wachstum in biologischen Prozessen, eine entsprechende Veränderung vollziehen. Aber es wird deutlich: Rogers kommt an diesem Forschungsgegenstand bereits damals an die Grenzen der positiven Wissenschaft und versucht, phänomenologische und subjektive Prozesse zu berücksichtigen.
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Schaubild: „Allgemeine Struktur unseres systematischen Denkens“ (aus: Rogers 1959/1987, S.19).
gen. Rogers macht viertens weiterhin deutlich, dass die Qualität des Beziehungsgeschehens nicht durch besondere „intellektuelle, professionelle Kenntnisse – psychologische, psychiatrische, ärztliche oder religiöse – “ hervorgerufen werden. Die besondere Beziehungsqualität entsteht nach seiner Auffassung aus der Erfahrung des Therapeuten und in seiner langjährigen Praxis und nicht aus seinem intellektuellen Wissen. Auch in dieser Hinsicht stellt er mit Unbehagen fest, dass er sich weitab vom „mainstream“ der klinischen Landschaft befindet. Und fünftens: Auch in seiner Auffassung über die Bedeutung der psychologischen Diagnose für den therapeutischen Prozess hebt er hervor, dass er sich weit von den verbreiteten professionellen Einstellungen entfernt habe. Er hält sie eher für störend und zum größten Teil für „eine kolossale Zeitverschwendung“. Er räumt allerdings ein: „… es gibt nur einen nützlichen Zweck, den ich im Hinblick auf Psychotherapie zu beobachten im Stande war. Einige Thera-
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peuten können sich nicht sicher fühlen in der Beziehung zum Klienten, wenn sie nicht solche diagnostischen Kenntnisse besitzen. Ohne sie fühlen sie Furcht vor ihm, fühlen sich unfähig, empathisch zu sein, unfähig, bedingungslose Zuwendung zu empfinden, und finden es notwendig, in der Beziehung einen Vorwand zu haben. Wenn sie im Voraus von Selbstmordimpulsen Kenntnis haben, können sie diese irgendwie besser akzeptieren. So kann die Sicherheit, die manche Therapeuten durch diagnostische Informationen spüren, vielleicht eine Basis dafür sein, dass sie sich selbst erlauben, in der Beziehung integriert zu sein und Empathie und volles Akzeptieren zu empfinden“ (ebd., S.181). Zwei Jahre später legt Rogers (1959) diese Theorie auch als ambitionierte Arbeit in einem Handbuchartikel vor und erfüllt damit eine „Hausaufgabe“, die ihm die Amerikanische Gesellschaft für Psychologie (APA) gestellt hatte: eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen in einer streng formalisierten Sprache vorzulegen, die auch für die naturwissenschaftlich orientierten Wissenschaftler aus seiner Disziplin verständlich ist. In Deutschland erscheint eine Übersetzung erst sehr spät (Rogers 1987). Das abgedruckte Schaubild aus dieser Arbeit gibt einen guten Eindruck von der systematischen und formalen Anstrengung, der Roger sich hier unterzogen hat.
Die Rogers-Skinner-Debatte 1956 Carl Rogers konnte mit dem Grad der Vervollkommnung, die seine klient-zentrierte Psychotherapie nun auch theoretisch erreicht hatte, seine Position als Sprecher einer neuen Bewegung in der Psychologie ausbauen und festigen. Zwischen der medizinisch geprägten Psychoanalyse auf der einen Seite und dem naturwissenschaftlich strengen Behaviorismus auf der anderen Seite sammelten sich immer deutlicher viele Stimmen, die mit beiden Modellen unzufrieden waren. Sie versuchten eine neue, konstruktive Sicht des Menschen, seiner Entwicklung und seiner Möglichkeiten zu präsentieren. Die „Humanistics“ verschafften sich zunehmend Gehör. Am deutlichsten ragt in dieser Hinsicht die große öffentliche Debatte hervor, die Carl Rogers und Burrhus F. Skinner von der Harvard-Universität 1956 öffentlich austrugen und 1958 und 1962 fortsetzten. Beide waren etwa gleich alt. Skinner 1904 geboren, Professor für Psychologie an der berühmten Harvard-Universität und nun die prominente Gallionsfigur des Behaviorismus, war der Erfinder und Promotor des operanten Konditionierens. Er hatte unter Anderem während des Zweiten Weltkriegs damit experimentiert, Tauben und andere Tiere so abzurichten,
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dass sie zuverlässig als Kriegswaffen eingesetzt werden konnten. Rogers, 1902 geboren, Professor für klinische Psychologie und Direktor des „Counseling Centers“ der Universität Chicago, hatte intensive Beratungsund Therapiearbeit geleistet, die eine „Befreiung“ des Menschen anstrebte, indem der Klient in einer therapeutischen Beziehung ermutigt werden sollte, den Ort und die Quelle seiner Bewertungen in sich selbst zu finden, um sich von äußeren Konditionierungen zu verabschieden. Beide vertraten innerhalb der zeitgenössischen amerikanischen Psychologie einander ausschließende Standpunkte. Beide hatten allerdings auch gemeinsame Interessen und Ambitionen. Eines dieser gemeinsamen Interessen lag im Bereich dessen, was in der amerikanischen Umgangssprache salopp „Social Engineering“ genannt wird. Es handelt sich dabei um Versuche, durch die Anwendung psychologischer Methoden und Techniken soziale Probleme zu lösen und die sozialen Verhältnisse zu verbessern. Skinner hatte mit seinem Grundlagenwerk ›Science and Behavior‹ (1953) seine wissenschaftliche Position klar und deutlich markiert. Er hatte darüber hinaus bereits fünf Jahre zuvor mit einer utopischen Novelle ›Walden Two‹ in anschaulicher Form einen Einblick in eine zukünftige wissenschaftsgeleitete Welt gegeben, in der die Menschen in einer kreativen und konfliktfreien Weise glücklich und produktiv zusammenleben konnten, weil sie in ihrer Erziehung entsprechend dem neusten Stand der operationalen Konditionierung behandelt worden waren.12 Die behavioristische Tradition weiterführend betonte Skinner, dass das Konzept des freien Willens zwar dem Menschen schmeichle, aber ein Irrtum sei. Menschliches Verhalten sei eine Reaktion auf Umweltreize, die das Verhalten konditionieren. Die Umwelt bestimme sein Verhalten. Mit vielen Tierversuchen war es Skinner eindrucksvoll gelungen, den mächtigen Einfluss solcher Konditionierungen zu zeigen und z. B. Tauben 12 Der Name ›Walden Two‹ weist auf die berühmte Reformschule hin, die Walden School, die 1915 von der Kunstpädagogin Margret Naumburg in New York gegründet wurde. Naumburg hatte an der Columbia University bei John Dewey studiert und ihren Schwerpunkt, ganz im Kontext der europäischen Kunsterziehungsbewegung, auf die Förderung der kreativen Ausdruckskräfte des Kindes gelegt. Sie war eine Exponentin der „progressive education“ und vertrat innerhalb dieser Bewegung einen radikal individualistischen Standpunkt. Sie hatte Maria Montessori in Rom besucht, deren Arbeit im Kinderhaus studiert und sich dort Anregungen für eine selbsttätige Erziehung geholt. Sie vertrat aber mit ihrem Konzept des dramatischen Rollenspiels und der künstlerischen Arbeit eine andere Auffassung vom Spiel und von der Kreativität als Montessori. Die Walden School war sozusagen die Umwelt, in der damals die Neue Erziehung stattfand. ›Walden Two‹ sollte diese Erziehungspraxis nach Auffassung von Skinner auf wissenschaftliche Füße stellen.
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solche Verhaltensweisen anzudressieren, die „unnatürlich“ zu nennen waren, weil sie nicht in ihrem Verhaltensrepertoire vorkamen. Auf der hohen Abstraktionsstufe von „Verhalten“ und „Lernen“ erschien zwischen menschlichen Handlungen und Lernprozessen einerseits und dem Verhalten von Tieren und deren Lernprozessen andererseits für den Behavioristen kein prinzipieller Unterschied. So gesehen war selbstverständlich auch menschliches Verhalten unter dem Einfluss von kontrollierten ReizReaktions-Techniken beliebig form- und kontrollierbar. Wie die Korrespondenz in Rogers’ Nachlass in der Bibliothek des Kongresses in Washington zeigt, hatte Skinner Rogers am 27. Dezember 1955 einen Autorendruck seiner jüngsten Veröffentlichung in der Zeitschrift „American Scholar“ zugeschickt und ihn zu einer kritischen Auseinandersetzung eingeladen. Er ging davon aus, dass Rogers mit seiner Auffassung nicht übereinstimmen würde und gab zu bedenken, dass eine Auseinandersetzung über die unterschiedlichen Sichtweisen und Standpunkte vielleicht finanziell einträglich und fachlich auch an der Zeit seien. Er schlug deshalb vor, diese Debatte auf dem nächsten Jahrestreffen der Amerikanischen Gesellschaft für Psychologie (APA) 1956 durchzuführen und eine dritte Person einzuladen, die die Debatte moderieren sollte, um das Missverständnis zu vermeiden, „dass es um eine persönliche Auseinandersetzung zwischen uns gehen könnte“. Zum Verfahren schlug er vor, dass jeder der beiden Redner 20 Minuten Zeit haben sollte, um ein Thesenpapier vorzutragen, das die andere Seite jeweils vorher zugeschickt bekommen sollte. Nach den beiden Vorträgen sollten die Kontrahenten jeweils zehn Minuten Zeit haben, um eine Erwiderung vorzutragen. Rogers stimmte diesem Verfahren zu und schlug vor, dass Skinner die Eröffnung machen sollte, so dass er selbst das Schlusswort hätte. Nachdem die Spielregeln dieses akademischen „Show-Kampfes“ abgesprochen waren, hatten beide 13/4 Jahr Zeit zur Vorbereitung. Anfang März konnte Rogers das Thema für die Debatte mit Skinner genauer festlegen und schickte es an den Vorsitzenden der APA. Das Motto der Debatte sollte lauten: „Die Kontrolle und Voraussage menschlichen Verhaltens“. Rogers beauftragte eine Reihe von Helfern und Mitarbeitern mit der Vorbereitung und Ausarbeitung von Details, um zu diesem Problemkomplex aus seiner humanistischen und klient-zentrierten Sichtweise fundiert Stellung nehmen zu können. Er erhielt auch Unterstützung von seinem Schwiegersohn Larry Fuchs (Natalie hatte in der Zwischenzeit geheiratet), einem jungen Politologen. Die gesamte Korrespondenz, die Rogers in dieser Sache führte, trug den Vermerk „vertraulich“. Sie durfte nur von der Person gelesen werden, deren Namen auf dem Umschlag vermerkt war.
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An den aufwändigen Vorbereitungen von Rogers kann man erkennen, mit welcher Akribie, Professionalität und Zielstrebigkeit Rogers diese öffentliche Debatte vorbereitet hat. Im Mai des nächsten Jahres war er sich sicher, dass es genügend öffentliches Interesse für das Thema und für diese Debatte geben würde, um die Medien einzubeziehen. Er lud den Radiosprecher Edwin P. Morgan ein, der in die Vorbereitung mit einbezogen wurde, um zu gewährleisten, dass die Kontroverse auch mediengerecht über den Sender gehen könnte. Am 30. Juni 1956 schickte Rogers den ersten Entwurf seines Papiers an Skinner zur Kenntnisnahme mit der Bitte um Rückmeldung. Er wollte wissen, ob Skinner damit einverstanden sei, dass Morgan vorab Kopien ihrer beiden Papiere bekommen sollte. Außerdem wies er darauf hin, dass das „Time Magazine“ dabei war, einen Bericht über das „Chicago Counseling Center“ zu schreiben, und dieses Magazin an Kopien der beiden Vortragspapiere sehr interessiert sei. „Ich weiß nicht, was Sie darüber empfinden, aber ich mache solche Schritte gerne“, schrieb Rogers an Skinner. „Ich bin nicht begierig hinter Publicity her, aber ich denke, es würde gut sein, wenn wir die Öffentlichkeit zum Nachdenken über diese Themen inspirieren könnten, und ich glaube, es würde auch gut für unsere Profession sein, weil es die Psychologen als eine bedeutsame Gruppe hervorhebt.“ Skinner antwortete am 9. August, dass er Rogers’ Überlegungen in Ordnung finde und sicher sei, dass das Symposion für die Öffentlichkeit einiges anzubieten habe. Er schlug vor, die Zeit für beide Redner auf 25 Minuten zu verlängern und jeweils 15 Minuten Zeit für die Gegenrede einzuräumen. Darüber hinaus bot er an, dass beide sich zwei Tage vor der Debatte zusammenfinden sollten, um die wichtigsten Punkte abzuklären, so dass sie sicher sein könnten, auch wechselseitig verstanden zu haben, was der andere jeweils mit seiner Position meint. So trafen sich also beide am 2. September, um einige grundlegende Missverständnisse auszuräumen, und versicherten sich, dass sie keine „billigen Punkte“ machen wollten. Am 4. September startete die Debatte. Es wurde ein fünfstündiges öffentliches Medienereignis vor einem großen Publikum im Ballsaal des Sherman-Hotels. Es wurde kein wirklicher Dialog. Beide Kontrahenten trugen ihre Manuskripte vor, ohne direkt und in freier Rede miteinander zu sprechen. Auch ihre Entgegnungen lasen sie vom Blatt ab. Trotzdem faszinierte diese Debatte das Publikum und eine breite Öffentlichkeit. In seiner Eröffnung nahm Rogers Skinner sehr freundlich gegen kursierende Gerüchte in Schutz, nach denen er seine Kinder in einer „SkinnerBox“ aufgezogen haben sollte. Er selbst finde Skinner liebenswürdig und nicht unheimlich, wie die Gerüchte über ihn behaupteten. Das zentrale Thema der Veranstaltung, nämlich die Voraussagen und Kontrolle
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menschlichen Verhaltens, lässt sich in der Geschichte der Psychologie bis auf ein Papier von 1913 zurückverfolgen, als John B. Urten versucht hatte, eine grundlegende behavioristische Sicht von der Psychologie als Wissenschaft zu entwerfen. Watson argumentierte dort, dass es aussichtslos sei, Introspektion als wissenschaftliche Methode anzuerkennen und zu verstehen, wie der Geist und die Seele des Menschen arbeiten. Stattdessen solle die Wissenschaft sich darauf konzentrieren, das beobachtbare Verhalten in den Mittelpunkt zu stellen. Dieses sei einer objektiven wissenschaftlichen Beobachtung zugänglich. Rogers stellte die Zielsetzung, Voraussage und Kontrolle menschlichen Verhaltens zu erlangen, nicht in Frage, sondern sah darin durchaus auch eine Übereinstimmung, aber er wollte wissen, wer zuständig für die Kontrolle sein sollte und von wem die Kontrolle durchgeführt würde. Rogers bezweifelte nicht grundsätzlich, dass die Konditionierungstechniken, die Skinner so eindrucksvoll in Tierversuchen einzusetzen wusste, auch im Umgang mit Menschen wirksam und effektiv sein konnten. Aber er legte den Finger auf ethische und politische Fragen. Zum Ersten: Wer sollte kontrolliert werden? Zum Zweiten: Wer würde diese Kontrolle ausführen? Zum Dritten: Welche Art von Kontrolle sollte ausgeführt und durchgeführt werden? Und Viertens: Zu welchem Ziel sollte die Kontrolle genutzt werden? Am Beispiel der Raketenforscher, die zuvor unter Hitler die V-Bombe entwickelt hatten und nun für die Vereinigten Staaten von Amerika arbeiteten, um zu helfen, die Sowjetunion zu zerstören, macht er deutlich, dass es ebenso Wissenschaftler gab, die von der Sowjetunion abgeworben wurden, um zu helfen, die USA zu zerstören. Indem Rogers dieser Fragestellung über die Voraussagbarkeit und die Kontrolle des menschlichen Verhaltens eine politische Dimension gab, wurde deutlich, wie kurzsichtig das zugrunde liegende behavioristische Konstrukt war. Obwohl Skinner zu Recht darauf hinwies, dass sein Roman ›Walden Two‹ nicht mit George Orwells kritisch-utopischem Roman ›1984‹ verwechselt werden sollte, in dem eine totalitäre Weltregierung ihre Bürger kontrolliert, bestraft und quält (Skinners Modell arbeitete schließlich nur mit positiver Verstärkung), blieb die ethische und politische Dimension der Kontrolle der Kontrolleure offen. Rogers schlug stattdessen sein eher „basisdemokratisches“ Konzept entsprechend seiner klient-zentrierten und selbst-direktiven therapeutischen Arbeit vor. Sein Ansatz eines klient-zentrierten Social Engineerings ging davon aus, dass es eine Methode gibt, die es dem Menschen ermöglicht, sich in einem Prozess der Selbsterkenntnis und der Selbstverwirklichung seiner Fähigkeiten und Interessen bewusst zu werden und so sein
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Leben nach einem eigenen inneren Maßstab zu leben; eine Person zu sein und sich als Persönlichkeit im Werden und Wachsen zu erleben, die immer mehr das wird, was sie in Wirklichkeit innerlich bereits ist. Er behauptete entsprechend der klient-zentrierten Hypothese, dass die Psychologie diejenigen Faktoren präzise formulieren kann, unter denen eine solche positive und konstruktive menschliche Selbst-Entwicklung sich ereignen und voraussagen ließe. Die einzige Autorität, die gebraucht würde, sei die Notwendigkeit, eine besondere Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen zu ermöglichen, denn wenn die Menschen in guten interpersonellen Beziehungen lebten, würden sie sich automatisch zum Besseren entwickeln. An seiner Erforschung der Prozesse, die in seinen Beratungs- und Therapiearbeiten auftraten, glaubte er zeigen zu können, dass Menschen sich in diesem besonderen Umfeld in Richtung auf höhere Verantwortlichkeit, mehr Flexibilität, mehr Kreativität, tieferes soziales und moralisches Verständnis, kurzum humaner entwickeln würden. Diese Entwicklung zur Selbst-Aktualisierung beschrieb er als Selbstläufer: Freie Menschen würden dazu tendieren, sich positiv zu entwickeln, und je freier sie seien, um so besser würden sie auch im humanistischen Sinne werden. Er kritisierte an ›Walden Two‹, dass dort die Verhältnisse zu eng seien, zu rigide und zu voraussagbar für die Einwohner dieser Welt, um kreativ aufzublühen und sich weiterzuentwickeln. Die öffentliche Debatte dieser Themen erreichte trotz der akademischsteifen Atmosphäre eine beträchtliche Popularität, auch in den Medien. Über „Radio ABC“ fasste Edwin P. Morgan die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten beider „Titanen“ zusammen und betonte, dass die Debatte weitergehen sollte. Über viele Jahre blieb sie ein Bezugspunkt im Selbstverständnis der Psychologenschaft in den USA. 1958 gab es eine Fortsetzung dieser Debatte, und 1962 kam es dann auch zu einem freieren Dialog der beiden herausragenden Wissenschaftler. Beide Vorträge und die jeweiligen Antworten darauf wurden im „Science Magazine“ veröffentlicht und avancierten schnell zu den am meisten nachgedruckten und zitierten Essays dieser Zeit. Auf der ersten Veranstaltung 1956 hatte Carl Rogers als Erster den neu eingerichteten Preis der Amerikanischen Gesellschaft für Psychologie, den „Distinguished Scientific Contribution Award“ der APA, erhalten. Für Rogers, der augenscheinlich Freude an dieser Auseinandersetzung mit Skinner hatte und der diese Auseinandersetzung auch als erfolgreich erlebte, war dies der Auftakt für eine ganze Serie von weiteren Gesprächen, die er in den nachfolgenden Jahren mit großen Persönlichkeiten der Humanwissenschaft führte, so u. a. der bekannte Dialog mit Martin Buber (1957), der mit Paul Tillich (1965), der mit Michael Polanyi (1966) und der mit Gregory Bateson (1975). Diese öffentlichen Auftritte waren
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geeignet, Rogers humanistisches Anliegen im öffentlichen Bewusstsein zu halten. So scheu, wie er im Privatleben war, so sehr genoss er diese professionellen Auftritte, Streitgespräche, Debatten und Dialoge.
Der Dialog mit Martin Buber Rogers’ Gespräch mit Martin Buber war zunächst weniger spektakulär. Gleichwohl hat dieser Dialog, wie Rogers späterer Lebensweg zeigt, unterschwellig langfristige und deutliche Spuren hinterlassen. Er wurde von ihm, wenn man seinen Aufzeichnungen und Korrespondenzen im Nachlass glauben kann, mit deutlich weniger Aufwand vorbereitet als die Debatte mit Skinner. Hinzu kommt, dass Rogers wegen widriger Verkehrsverhältnisse erst sehr spät am Ort des Geschehens in Ann Arbor, Michigan, eintraf. Martin Buber war 1957 auf einer Vortragsreise durch die USA, und die Universität von Michigan hatte eine philosophisch-theologische Tagung organisiert, die sich ausschließlich mit Bubers Werk beschäftigte. Ein Programmpunkt dieser Tagung war der Dialog mit Carl Rogers als exponiertem Vertreter der klient-zentrierten Psychotherapie. Die Konzepte des therapeutischen Gesprächs schienen viele Gemeinsamkeiten zu haben, und so hatten die Veranstalter sich überlegt, ein persönliches Treffen zwischen beiden zu organisieren. Martin Buber, 1878 in Wien geboren, war gut eine Generation älter als Rogers und entstammte als Professor für jüdische Theologie und als Philosoph des Dialogs und der existentiellen Begegnung einer ganz anderen religiösen Tradition und philosophischen Kultur. Er hatte seine Hauptschriften bereits in den 1920er und 30er Jahren in Deutschland veröffentlicht und war über die reformpädagogische Diskussion, an der er damals intensiv teilnahm, in einer tiefen Weise mit den Grundfragen zwischenmenschlicher Beziehungen und menschlicher Existenz vertraut. Als jüdischer Religionsphilosoph hatte er eine neue Bibelübersetzung in deutscher Sprache vorgelegt; er war aus einer mystischen jüdischen Tradition „ausgestiegen“ und hatte dieser seine Philosophie und Pädagogik der Begegnung entgegengestellt. Er vertrat sehr konsequent und authentisch ein „Leben in und aus der Begegnung“, religiös wie auch politisch, und suchte als Jude die Aussöhnung und den Dialog mit den Arabern in Palästina: „Alles Leben ist Begegnung“ und „Ich-werdend spreche ich Du“. Mit diesen prägnanten Formulierungen hatte er die grundsätzliche soziale Bezogenheit der menschlichen Existenz betont und dies auch in religiöser Hinsicht ausformuliert. Im Akt der Begegnung von Ich und Du öffne sich deren
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Weltbezug auch dem Transzendenten. Bereits 1925 hatte Buber auf einem internationalen Kongress der Reformpädagogen in Heidelberg eine sehr kritische Rede gehalten, in der er der Euphorie der kindzentrierten Wachstumspädagogen entgegenhielt, dass Erziehung sich nicht auf das bloße „Wachsenlassen“, auf die „Befreiung der inneren Kräfte“ und auf die „Freisetzung der Kreativität“ des Kindes beschränken dürfe. Er betonte, richtige Erziehung beginne erst mit und in der Begegnung, in der dem heranwachsenden Menschen ein anderes Du gegenübertritt, mit eigenen Forderungen, Ansprüchen und Zielen. Nicht die Freisetzung der kreativen Kräfte im Kind sei das Geschäft der Erziehung, sondern die Umfassung, Einbindung und Begegnung diese freigesetzten Kräften durch eine gegenübertretende dialogische Kraft. Mit dieser Rede hatte Buber auf der Tagung des „Weltbundes zur Erneuerung der Erziehung“ einen deutlichen Paradigmenwandel nicht nur in der deutschen reformpädagogischen Bewegung ausgelöst. In den Folgejahren fand hier eine Umorientierung statt, die die Pädagogik des Wachsenlassens und die Pädagogik der „Befreiung der kreativen Kräfte im Kinde“ kurzfristig zu einer Pädagogik der Begegnung werden ließ, die sich von da an in Deutschland zu einer fatalen Pädagogik der „Führung“ verwandelte (Röhrs 1982). Rogers hatte in der Vorbereitung auf diesen Dialog sicher einige Schwierigkeiten im Verständnis der Texte von Buber. Vor allem aber konnte er nicht erkennen, wo Buber sein tiefes existentielles Verständnis vom Wesen des Menschen und auch vom Wesen der zwischenmenschlichen Begegnung her haben konnte. Rogers vermutete bei Buber an dieser Stelle eher philosophische Spekulationen und war sich sicher, dass er selbst in seinem Verständnis über die Natur des Menschen und über die Natur einer hilfreichen zwischenmenschlichen Beziehung durch seine Beratungspraxis und durch seine wissenschaftlichen Untersuchungen dieser Praxis Buber gegenüber im Vorteil sei. Überraschenderweise entwickelte sich unter der hervorragenden Moderation von Maurice Friedmann für beide Gesprächspartner auf dem Podium ein wirklich offenes Gespräch und ein authentischer Dialog, dem das Publikum fasziniert folgte. Rogers versuchte, sein klient-zentriertes Therapiekonzept zu erläutern und Buber begreiflich zu machen, dass der optimale Ort des hilfreichen Therapeuten und Beraters ein partnerschaftlicher und gleichberechtigter sei – am besten an der Seite des Klienten, was Buber prinzipiell bestritt. Therapeut und Klient können nach seiner Auffassung nicht gleich sein, weil die helfende Situation jedem Gesprächspartner eine andere Aufgabe zuweise. Der Patient könne nicht an der vollen Gegenseitigkeit mit der Person der Therapeuten interessiert sein, sein Ziel ist die Lösung seines Problems/Leides. Wenn er in der Lage wäre, einen Dialog in kompletter
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Gegenseitigkeit zu führen und auch die Person des Therapeuten zu erkennen, wäre die Situation keine therapeutische mehr, so Bubers Argumentation, der Rogers wenig entgegenzusetzen hatte. Auch in der Einschätzung der menschlichen Natur zeigte sich ein deutlicher Unterschied. Rogers betonte sein auf Goldstein zurückgehendes Konzept der Aktualisierungstendenz, das ihm in der Beratungsarbeit mit Menschen in seelischen Nöten überwiegend Beispiele dafür zeige, dass die menschliche Natur dazu neige, sich konstruktiv und selbstverwirklichend zu entwickeln, und dass die menschliche Natur, ebenso wie die aller anderen lebendigen Schöpfungen in dieser Welt, in einem elementaren Sinne gut sei. Martin Buber entgegnete, die menschliche Natur sei gut und böse und es bedürfe der erzieherischen Hilfe und Bekräftigung, um die innere Wahl und Entscheidung des Einzelnen für das Gute zu sichern. An dieser Stelle konnte es zwischen diesen beiden sensiblen Kennern menschlicher Beziehungsarbeit keine Übereinstimmung geben. Stattdessen stimmten sie darin überein, dass sie nicht übereinstimmten. Während Buber betonte, dass den Menschen auch immer die Möglichkeit und die Neigung zur Entwicklung zum Bösen hin gegeben sei und deshalb die Aufgabe des Erziehers wie des Therapeuten darin zu bestehen habe, den positiven und guten Kräften im inneren Kampf des Menschen beizuspringen und seine positiven und guten Kräfte und Bestrebungen zu bestätigen und zu bekräftigen (confirmation ist sein Begriff), legte Rogers Wert darauf, dass es nach seiner Erfahrung völlig ausreiche, die widersprüchlichen und miteinander ringenden Tendenzen im Menschen, beide „gut“ und „böse“, zu akzeptieren, weil diese Akzeptanz dann nämlich eine Tendenz zu einer konstruktiven Entwicklung freisetzen würde (Rogers’ Begriff an dieser Stelle hieß acceptance). Man kann bei der Lektüre dieses Dialoges sehr gut nachvollziehen, wie Rogers auch in der Entwicklungsphase des klient-zentrierten Konzeptes Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre noch in einem vor-dialogischen Verständnis befangen war und es ihm tatsächlich darum ging, das Therapeutenverhalten so zu konturieren, dass der Klient sich entwickeln konnte. Diese Aufgabe meinte tatsächlich keine dialogische Situation. Der Therapeut sollte dem Klienten in seiner Aktualisierungstendenz folgen und seine eigenen Gefühle und Empfindungen zurückstellen. Das Gespräch, das Rogers mit Buber auf dem Podium in dieser Veranstaltung führte, kann allerdings mit vollem Recht als Dialog bezeichnet werden. Dies gerade auch im Unterschied zu der Auseinandersetzung, die Rogers mit Skinner zuvor geführt hatte. Für Rogers war der Dialog mit Buber sicherlich ein wichtiger Anstoß, um sein klient-zentriertes Konzept zu einem dialogischen Konzept zu er-
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weitern und den Therapeuten nicht nur als den perfekten Zuhörer zu konturieren. Die dialogische Perspektive stand im klient-zentrierten Konzept noch aus und wurde erst in den 1960er Jahren von Rogers mit der Erweiterung seines Konzeptes zum person-zentrierten Ansatz integriert. Umgekehrt hat dieser Dialog auch Martin Buber nicht unberührt gelassen. Wie der Moderator dieser Veranstaltung, Maurice Friedmann, in einer Schrift diese Begegnung noch einmal reflektierend kommentiert, war Buber von der Offenheit und Direktheit der Fragen von Rogers überrascht, so dass ein wirklicher Dialog entstehen konnte und nicht nur eine verabredete Aufführung. Martin Buber hat nach diesem Dialog Maurice Friedmann damit beauftragt, in der Neuausgabe von ›Die Elemente des Zwischenmenschlichen‹ die Schlusspassage zu korrigieren (Friedmann 1986). Dort hatte Buber aus prinzipiellen Gründen bezweifelt, dass unter solchen Bedingungen (Publikum, Ton, Aufzeichnung, Moderator usw.) überhaupt ein wirklicher Dialog zustande kommen kann. Bestenfalls, so führte er dort aus, könne so eine „als Hörstück aufgeführte Unterredung“ zustande kommen, aber kein echtes Gespräch (Buber 1973, S.297). So konnte Rogers, wahrscheinlich ohne es zu wollen und auch ohne es zu wissen, Buber zumindest in einer Sache überzeugen, der dieser bis dahin sehr kritisch gegenüberstand und die erstaunlicherweise gar nicht Gegenstand des Dialogs war, die aber zum Werk von Carl Rogers dazugehörte: die Anwendung von technischen Medien in einer Gesprächs- und Therapiesituation.
Eine neue Mission: Rogers’ Abschied von Chicago Es ist interessant darüber zu spekulieren, was möglicherweise geschehen wäre, wenn Rogers bis zu seiner Pensionierung in Chicago geblieben wäre. Es ist denkbar, dass dies viele Vorteile gehabt und der Zukunft der klient-zentrierten Therapie gute Dienste geleistet hätte. Rogers sollte später nie mehr mit einer so motivierten und engagierten Gruppe von Kollegen arbeiten. Als er 1957 seinen Abschied ankündigte, um eine Stelle an seiner ehemaligen Universität in Wisconsin anzunehmen, waren alle entsetzt. Dies veranlasste Rogers, einen langen Brief an seine Kollegen und Mitarbeiter zu schreiben und ihnen darin seine Entscheidung zu erläutern (Kirschenbaum 1979: 243f.). Der Brief gibt einen faszinierenden Einblick in Rogers’ Persönlichkeit. Der wichtigste Grund für seine Veränderung sei für ihn die Überzeugung, diese neue Aufgabe würde es ihm ermöglichen, einen noch größeren „Eindruck“ zu machen. Rogers wolle unbedingt Einfluss im Bereich des Ge-
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sundheitswesens und speziell in der Psychiatrie ausüben und war davon überzeugt, dass er wichtige Konzepte und eine wichtige Praxis zu vermitteln habe. „Es geht meiner Meinung nach gewiss nicht zu weit zu behaupten, dass in Rogers ein Missionar steckte, der in Wisconsin die Gelegenheit sah, seine Botschaft zu verbreiten. Die theologische Tradition seiner Kindheit steckte ihm noch immer im Blut, auch wenn die Richtung sich inzwischen etwas geändert hatte“, schreibt Brian Thorne in seiner Biographie über diese Zeit (1992:16). Die besondere Herausforderung der Stelle in Wisconsin war, dass Rogers glaubte, dort die Möglichkeit zu haben, sowohl in der psychologischen Abteilung wie auch in der psychiatrischen Abteilung zu arbeiten. So jedenfalls war das Angebot unterbreitet worden, und in seiner schwärmerischen Vision sah er gewiss gemeinsame Seminare und Forschungsprojekte der Studenten der Psychologie mit denen der Psychiatrie vor seinem geistigen Auge. Der Brief an seine Kollegen in Chicago betont diesen Aspekt, und Rogers glaubte sogar an die Chance, dass er die „Universität auf einer anderen, eher allgemeinen Art und Weise beeinflussen und verändern“ könne. Auch benennt er – mit etwas schlechtem Gewissen – die Attraktivität eines Lebens „an einem so wunderschönen Ort“ als Motiv, stellte aber vor allem die Chance in den Vordergrund, „einen signifikanten Beitrag in den nächsten 13–15 Jahren zu leisten, bevor ich in Ruhestand gehe“. Im Postskript des Briefes wird dieser missionarische Eifer noch einmal sehr deutlich. Rogers beschreibt sich als „mit den alten Pionieren verwandt“ und schon auf dem halben Weg zu seinem neuen Aufenthaltsort und bereit, seine vertraute Umgebung zu verlassen. Er fühle sich als Abenteurer, der sich danach sehnt, sich neuen Herausforderungen zu stellen, neue Gebiete zu erobern und Hindernisse zu überwinden. In diesem Schreiben tritt Rogers zum ersten Mal auch öffentlich als eine ehrgeizige Person mit hohen Ambitionen hervor, die unbedingt einflussreich sein wollte, auch wenn dies bedeutete, seine Freunde und Kollegen zurückzulassen und Mitarbeiter und Studierende zu enttäuschen, die sich auf seine Unterstützung verlassen hatten (Kirschenbaum 1995: 38).
Scheitern in Wisconsin: 1957–1963 Wieder Streit mit den Psychiatern Trotz der vielen Erfolge und seines großen Ansehens als Psychologe, Wissenschaftler und Psychotherapeut gerät seine „Landung“ in Wisconsin an seiner neuen beruflichen Wirkungsstätte überraschenderweise sehr schwierig und führt ihn bald in ein ziemliches Desaster. Der für Rogers attraktive Wechsel war von ihm bereits im Winter 1956 vorbereitet worden, als er mit Helen, David und Corky und deren Kindern im Urlaub war. Auf dem Rückweg machte er eine kurze Station an der „University of Wisconsin“. Die lokale Presse berichtete ausführlich über die Anwesenheit des berühmten Mannes, der der Universität seiner Jugend einen Besuch abstattete. Rogers hat diese Zeitungsberichte in seinem Nachlass aufbewahrt. Danach war die Fakultät sehr erfreut, Rogers als Gast unter sich zu haben, und die Universitätsspitze beschloss, ihm ein Angebot zu machen, das ihn langfristig von Chicago weg nach Wisconsin locken sollte. Virgil Herreck, ein Professor der Pädagogik, wurde ausgewählt, um mit Rogers vorläufige Verhandlungen zu führen. In den letzten Jahren in Chicago hatte sich für Rogers ein Thema sehr frustrierend entwickelt. Es betraf seine Auseinandersetzung mit der Psychiatrie und seine Anstrengungen, die klient-zentrierte Psychotherapie nicht nur auf die Behandlung von neurotischen Störungen zu begrenzen. Diese theoretische und allgemein berufsständische Debatte wurde für Rogers sehr persönlich und konkret, als einige Vertreter der Psychiatrie begannen, ihm massive Schwierigkeiten zu bereiten. Rogers arbeitete in Chicago nebenbei noch in dem psychiatrischen „Billings Hospital“, in dem er einige Patienten mit Sitzungen in klient-zentrierter Therapie betreute. Die dortigen Psychiater waren unzufrieden mit seiner Methode, und am 24. Oktober 1956 gab es eine heftige Auseinandersetzung zwischen Rogers und Dr. Aldrich, der ihm vorwarf, Rogers missachte den Ethikkodex des Berufsverbandes der amerikanischen Psychologen (APA). Rogers, in den zurückliegenden 1940er Jahren selbst Präsident der APA, musste sich nun anhören, dass er psychotherapeutische Behandlungen ohne die Hilfe und Kontrolle eines Arztes in Anspruch nehme. Dr. Aldrich hatte Rogers wegen dieser „illegalen Therapie“ bei der Universitätsleitung angeklagt. Rogers war aufgebracht: Er fühlte sich und seine Arbeit
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verleumdet und wies darauf hin, dass er gerade kurz zuvor wegen seiner Verdienste von staatlicher Seite als eine der fünf wichtigsten Personen im Bereich der psychischen Gesundheit (Mental Health) ausgezeichnet worden war. Seinem Schreiben an die Universitätsspitze legte er auch ein Schreiben eines führenden Neurologen bei, der die Arbeit von Rogers lobte. Er empörte sich darüber, dass er ja wohl nicht einerseits als einer der fünf führenden „Mental Health Men“ der USA angesehen werden könne und man ihm andererseits den Vorwurf mache, er würde illegale Behandlungen im Gesundheitswesen durchführen. In dem Maße, wie dieser Streit eskalierte und die psychiatrische Seite im „Billings Hospital“ sich uneinsichtig zeigte, wurde für Rogers klar, dass er so nicht länger im psychiatrischen Bereich arbeiten konnte. Er hatte in der Tat keine Genehmigung der Chicagoer Gesundheitsbehörde, und die allgemeine Situation im Gesundheitswesen hatte sich deutlich verändert: Die Psychiater waren spätestens seit Mitte der 1950er Jahre in den USA dabei, ihr in der Nachkriegszeit an die Sozialarbeiter und Psychologen verlorenes Territorium wieder zurückzufordern. Die große, expansive „Psychowelle“ der Nachkriegszeit, in der ein kreatives Zusammenfließen von pädagogischen und sozialarbeiterischen Methoden mit den orthodoxen Verfahren der Freud’schen Psychoanalyse eine neue und undogmatische „Tiefenpsychologie“ hervorgebracht hatte, war zu Ende. Zwar hatten an der Weiterentwicklung moderner und effektiver psychotherapeutischer Behandlungsverfahren und in der Bearbeitung der psychosozialen Kriegsfolgeschäden Sozialarbeiter, Psychologen, Pädagogen und Theologen mitwirken können; nun aber, in den späten 1950er Jahren, versuchten die Mediziner wieder klare Verhältnisse im Gesundheitswesen herzustellen und die anderen Berufsgruppen in ihre Schranken zu verweisen. Nicht zuletzt auch deshalb war für Rogers das Angebot der Universität von Wisconsin verlockend. Er sollte hier in beiden Instituten, im Psychologischen und Psychiatrischen Institut, eine feste Stelle erhalten. Auf diese Weise musste er nicht länger ein Außenseiter sein, der die Mediziner um Erlaubnis zu fragen hatte, wenn er mit ihren Patienten arbeiten wollte. So war es letztlich der Streit mit den Psychiatern und mit den Vertretern der Medizin, der einen wichtigen Teil seiner Motivation ausmachte, Chicago zu verlassen und das Angebot anzunehmen. Rogers fühlte sich zudem durch seine Erfolge der letzten Jahre gestärkt für diese neue Herausforderung: In Wisconsin konnte er ein Teil der Fakultät werden, die jährlich 33 junge Psychiater als psychotherapeutische Fachärzte ausbildete. Und er hatte die Hoffnung, dass er sie zu einer nicht-direktiven und klient-zentrierten Arbeitsweise bewegen konnte. Die „Mendota State Psychiatry“ war das der Universität angeschlossene „Praxisfeld“ und, so war es verab-
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redet, sie würde für ein größeres Forschungsprojekt Patienten, Räume und Personal zur Verfügung stellen. Dazu kam, dass er in Wisconsin seine Nebenverdienste nicht an die Universität abführen musste, sondern sie selbst behalten konnte. Im Herbst 1957 kauften die Rogers ein Haus nahe am See in Madison, Helen richtete es ein, und Carl begann mit der Ausarbeitung eines Forschungsprojektes über die Anwendung der klient-zentrierten Psychotherapie auf als schizophren diagnostizierte und in einer Anstalt hospitalisierte Patienten. Im Februar 1958 konnte er einen formalen Vorschlag für das „Mendota-Projekt“ vorlegen und neue Mitarbeiter für das Projekt gewinnen. So traten Eugen Gendlin, ein Philosoph, John Shlien, ein Psychologe, und Charles Truax, ein junger graduierter Student, in verantwortlichen Positionen in den Mitarbeiterstab.
Familienprobleme Das Projekt war von Anfang an auch von persönlichen Problemen innerhalb seiner eigenen Familie überschattet. Seinem Sohn David ging es in dieser Zeit sehr schlecht, er hatte oft Migräne und klagte über Depressionen. Davids Frau Corky hatte wieder begonnen zu trinken und Beruhigungsmittel zu nehmen. Die Beziehung zwischen beiden wurde zunehmend schwieriger. Carl führte lange Telefongespräche mit David und im Anschluss daran mit Corky. Von diesen Gesprächen machte er, wie von anderen Beratungsgesprächen auch, differenzierte Aufzeichnungen, die bei seinen persönlichen Papieren im Nachlass in Washington zu finden sind. Auch seine Schwägerin Ruth war in einer verzweifelten psychologischen Situation: Sie hörte Stimmen und glaubte, dass sie seit 12 Jahren in einen anderen Mann verliebt sei, den sie allerdings noch nie gesehen habe. Sie hatte sexuelle Phantasien, für die sie sich sehr schämte. Anfang 1958 wurde sie in eine psychiatrische Einrichtung eingeliefert, und Rogers beklagte, dass sie sofort Elektroschocks erhielt. Sie hatte noch nicht einmal einen Neurologen gesehen, der hätte abklären können, ob ihr Leiden auch tatsächlich organische Hintergründe besaß. In einem Brief von 29. April 1958 schreibt Rogers, dass Ruth behandelt würde wie ein Stück Vieh. Nachdem sie in eine Außenstation des „St. Luke’s Hospital“ verlegt worden war, war Rogers erschüttert über die schlechte Qualität der Pflege. Ruths Phantasien waren nicht besser geworden. Sie hatte Angst, dass ihr Haus niederbrennen, dass sie an Krebs sterben würde, und sie dachte, dass ihr Ehemann versuche, sie umzubringen. Rogers schrieb an den leitenden psychiatrischen Arzt, er solle mit Ruth eine Psychotherapie beginnen.
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Wenn er diese nicht selbst durchführen wolle, könne er geeignete Therapeuten vorschlagen. Nichts davon wurde verwirklicht. Ruths Zustand verschlechterte sich, und sie musste zurück ins Hospital. Sie fühlte sich weiterhin von einer fremden Macht besessen und war im Nachthemd aus der Außenstation der Einrichtung geflohen. Rogers hatte in dieser Zeit wenigstens drei Familienmitglieder, die in persönlichen Krisen waren. Er, der Fachmann, fühlte sich gefordert, verantwortlich und zugleich überfordert. Die Krise um Ruth eskalierte wiederholt. Sie wurde zurück in die Einrichtung verlegt, erhielt neue Elektroschockbehandlungen, und der Arzt schrieb, dass sie diese so lange erhalten müsse, bis sie sich beruhigt habe. Rogers war wütend und doch zugleich hilflos. Er versuchte wenigstens seinen Bruder John zu beruhigen, dass dieser sich keine Vorwürfe für Ruths Zusammenbruch machen müsste. Die familiären Belastungen blieben das ganze Jahr 1959 über. Im Dezember musste Helen schließlich wegen eines Infekts ebenfalls ins Krankenhaus, und auch Carls Gesundheitszustand war angeschlagen: Er litt unter Bluthochdruck und schwitzte sehr.
Probleme im Forschungsprojekt Aufgrund der vielen persönlichen Belastungen ist es nicht verwunderlich, dass es Rogers schwer fiel, sich auf die Arbeit in dem Mendota-Projekt zu konzentrieren. Gleichwohl hätte dieses Projekt seine Unterstützung ganz besonders gebraucht, weil die Arbeit mit psychotischen Menschen für die meisten Mitarbeiter – und auch für Rogers – ein eher ungewohntes Neuland war. In den zurückliegenden Jahren in Chicago hatte er es mit motivierten neurotischen Klienten zu tun, die durchaus in der Lage waren, ihren Alltag und ihr Leben selbstständig zu managen und ihre Arbeit zu behalten bzw. ihren Lebensunterhalt selber zu bestreiten. Ein anderer Teil seiner Klienten waren Studenten. Zwar hatte Rogers gelegentlich im Billings Hospital einige Patienten weiterbetreut, die vorher bei ihm in Behandlung waren, und hatte so einen Eindruck von den Problemen psychiatrischer Patienten gewinnen können – aber diese chronifizierten Menschen, die schon lange als Patienten in der Anstalt in Mendota lebten, waren ihm nicht vertraut. Viele waren apathisch, einige extrem feindlich, verwirrt, abhängigkeits- und drogenerkrankt, Alkoholiker und Psychotiker. Es gab Patienten, die versuchten, sich in ihrer Zelle zu erhängen, andere verweigerten das Sprechen, und wieder anderen Patienten fehlte jegliche räumliche und zeitliche Orientierung. Die Herausforderungen, denen sich Rogers mit seinem Team in der „Mendota Clinic“ zu stellen hatte, waren enorm. Sogar bei den Patienten, die sich auf eine Thera-
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piestunde einlassen konnten, erlebte Rogers überraschende Sicht- und Erlebensweisen. Ein Beispiel berichtet von einer Patientin Ann, für die Rogers die Sitzung extra um 20 Minuten verlängert hatte, um ihr das Gefühl zu geben, dass ausreichend Zeit für sie zur Verfügung stand. Der Effekt dieser Maßnahme war, dass die Klientin genau über diesen Sachverhalt und in diesen 20 Extra-Minuten in eine intensive Verwirrung geriet. Das fürsorglich gemeinte Angebot steigerte ihre Schuldgefühle und bedeutete für sie, dass sie augenscheinlich in ihrem Leben nie genug von etwas bekommen konnte. Sie steigerte sich in Selbstanklagen. Rogers’ Beziehungszusammenhänge wurden in dieser Zeit beruflich wie privat immer schwieriger, komplizierter und unsicherer. Auch im therapeutischen Team und im Mitarbeiterstab des Forschungsprojektes türmten sich die Schwierigkeiten der Kollegen untereinander. Es war ihm von Anfang an nicht gelungen, genügend Zeit und Aufmerksamkeit in die Zusammenstellung und in die Entwicklung des Teams zu investieren, und so waren hier, ganz anders als in der Zeit in Chicago, die Beziehungen zwischen den Teammitarbeitern brüchig, unsicher und von andauernden Konflikten bedroht. Es gab Rivalitäten und Meinungsverschiedenheiten, die Führungsstruktur war unklar. Rogers war von anderen Dingen absorbiert und hatte die Voraussetzung für eine zusammenwachsende freie und kreative demokratische Gemeinschaft nicht herstellen können. Die Mitarbeiter waren denkbar schlecht für eine erfolgreiche Expedition in das psychiatrische Territorium einer medizinischen Anstalt und für die jeweils individuellen therapeutischen Exkursionen und Behandlungen in „Schizophrenia-Land“ gerüstet. Die therapeutische Arbeit stagnierte, die Sitzungen mit den Klienten waren anstrengend und verliefen ganz anders als gewohnt. Im Team machten sich nach zwei Jahren bereits deutliche Anzeichen von „burn-out“ und Erschöpfung breit. Die klient-zentrierten Therapeuten gerieten in Gefahr, die komplizierten Beziehungen zu ihren Patienten und die geringen Effekte ihrer Arbeit persönlich zu nehmen und die „undankbaren Irren“ dafür zu verachten, dass diese die Hilfe der derzeit besten Psychotherapeuten nicht annehmen wollten; so fasst David Cohen die schwierige Situation zusammen (Cohen 1997: 166 f.). Darüber hinaus waren die Mitarbeiter des Forschungsprojektes in einem institutionellen Sinne, und was die Machtverhältnisse anbetraf, in einer Falle. Sie waren, wie die Patienten auch, Opfer der institutionellen Rahmenbedingungen des Anstaltsbetriebs und hatten keine Macht, die Situation in der Psychiatrie zu verändern. Es waren nicht die Psychologen, die die Einrichtung leiteten, sondern die Mediziner und Psychiater. Und diese waren nicht bereit, sich und ihre Arbeit von der klient-zentrierten Sichtweise in Frage stellen zu lassen und von ihren Behandlungsroutinen
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abzuweichen. Dort, wo sich das psychotherapeutische Team über minimale Fortschritte in der Behandlung der Patienten freute, wurde das auf medizinischer Seite oft als eine Verschlechterung eingeschätzt. Die Patienten würden „frecher“ und „aufsässiger“, und dies sei wohl kaum als Effekt von Verbesserung und Heilung zu betrachten. Aus heutiger Sicht, mit all dem Wissen, was wir 40 Jahre später über Supervision, Institution und Organisationsberatung haben, können einem die Haare zu Berge stehen über die Naivität, mit der dieses Projekt von Anfang an in eine Falle hineingeriet. Gerade wegen der ausschließlichen Fokussierung der Forschungsarbeit auf das psychologische Gespräch und auf das „face to face“-Beziehungsgeschehen und wegen der damit einhergehenden naiven Ausblendung der institutionellen Rahmenbedingungen hatte die Arbeit von Anfang an wenig Aussicht auf Erfolg. Rogers und sein Team waren weder in der Lage noch hatten sie die Macht, die institutionelle und organisatorische Dimension ihres Projektes zu durchschauen oder gar aufzulösen. Verschärfend kam hinzu, dass es nicht nur irgendwelche gut meinenden klient-zentrierten Psychotherapeuten und Psychologen waren, die hier versuchten, auf dem Gebiet psychiatrischer Einrichtungen neue Behandlungsformen auszuprobieren, sondern es war sozusagen die „crème de la crème“ der humanistischen Psychologie, die mit dem hohen Anspruch von Menschlichkeit und von Wissenschaftlichkeit daherkam und mit diesem Projekt die Effekte ihrer eigenen (guten) Arbeit mit wissenschaftlichen Mitteln überprüfen wollten. Sie hatten sich selbst sehr unter Erfolgsdruck gesetzt. So türmten sich auch von dieser Seite extreme Probleme auf, und es ist nicht verwunderlich, dass die Ergebnisse des Wisconsin-Projektes letztlich eher bescheiden waren. Rogers und die anderen Autoren hatten eher Mühe, die im Kontrast zu den hohen Erwartungen eher mageren Ergebnisse der Arbeit in dem Abschlussbericht in einem positivem Licht erscheinen zu lassen (Rogers u.a. 1967a). Hinzu kommt ein vehementer Konflikt mit einem Mitarbeiter, der Untersuchungsdaten gestohlen hatte und die Herausgabe der Daten davon abhängig machte, dass er mehr Einfluss im Projekt erhielt. Rogers konnte nicht glauben, was er hörte, und brauchte eine ganze Weile, um zu begreifen, dass hier wirklich eine ernsthafte Bedrohung der ganzen Arbeit auch aus dem Team heraus vorlag. Er konnte den Kollegen aus rechtlichen Gründen nicht von dem Projekt ausschließen und beschloss deshalb, nun seine Leitungs- und Führungsposition unmissverständlich zu besetzen und zu vertreten, was einen Wechsel in seinem Führungsstil von demokratischmitarbeiterzentrierten Arbeitsweisen zu autoritärem Führungsverhalten bedeutete. Das entspannte die Konflikte zwischen ihm und seinen Mitar-
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beitern allerdings nicht, sondern verschärfte sie eher. Die Arbeit im Psychiatrischen Institut und an dem Mendota-Projekt entwickelte sich zu einer schwelenden Dauerkrise. Rogers’ Vision von einer Ausweitung des Einflusses der Psychologie und der klient-zentrierten Psychotherapie auf das Gebiet der Psychiatrie wurde so nie erreicht. An der Verwirklichung dieses Traums, so muss man wohl zusammenfassend sagen, ist Rogers gescheitert.
Stress im Psychologischen Institut Auch mit den Kollegen des Psychologischen Instituts befand sich Rogers relativ rasch in einem tiefgreifenden Zerwürfnis. Rogers, der es stets gewohnt war, seinen Studierenden und Mitarbeitern Freiheit, Unterstützung und Vertrauen zu geben und ihren Lern- und Entwicklungsprozess fördernd zu begleiten, war in seiner selbst geschaffenen klient-zentrierten Umwelt das „normale“ hierarchische Klima, wie es zwischen Lehrenden und Studierenden an einem akademischen Psychologischen Institut „normal“ war, augenscheinlich nicht mehr vertraut. Vor dem Hintergrund seiner eigenen Führungsphilosophie und seiner klient-zentrierten Einstellung weitgehend allen Menschen gegenüber kam es ihm entsetzlich vor, dass in Wisconsin den Psychologie-Studenten mit Prüfungen, Tests und den, wie er es nannte, üblichen mathematisch-statistischen „Quälereien“ die Freude am Lernen und am Studium genommen wurde und sie sich so in einem Dauerzustand von Prüfungsangst und Kontrolle befanden. Er erlebte dies als versteckten Terror, an dem er sich nicht beteiligen mochte. Die Konflikte mit seinen Kollegen über den Umgang mit den Studierenden, über das allgemeine Studienklima und über die unterschiedliche Sichtweise zu psychologischen Fachthemen weiteten sich so weit aus, dass Rogers schließlich seine Arbeit am Institut für Psychologie ganz einstellte und nur noch am Psychiatrischen Institut beschäftigt war (was, wie bereits oben ausgeführt, ja auch sehr schwierig war). Über diese Situation am Psychologischen Institut, über die dortige Atmosphäre und die Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden schrieb Rogers einen kleinen Aufsatz, in dem er diese Dinge anklagte. Er formulierte eine bittere Kritik an der Arbeit in den graduierten Studiengängen des Faches Psychologie und wies auf den Widerspruch hin, dass die Psychologie doch genügend darüber wisse, was Prüfungsangst und ähnliche Phänomene bewirken können, dass sie auch genügend darüber wisse, wie diese Blockierungen zustande kommen, und dass man unter Fachleuten auch genügend darüber wisse, wie man solche Probleme vermeiden und
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beheben könne. Kurzum, es sei über die Themen Motivation und Lernen im Fach Psychologie genügend Wissen vorhanden, um eine effektive Lehre bereitzustellen und entsprechend freiheitliche Lernsituation zu ermöglichen. Nach seiner Einschätzung würden die Studenten unter den vorhandenen Gegebenheiten eher zu manipulierten Objekten dressierte, als dass selbstständige Personen auf dem Weg zu einer wissenschaftlichen Karriere gefördert würden. Rogers’ geäußerte pädagogische Auffassungen zum Lehren und Lernen waren radikal. So radikal, wie er sie in den 1920er Jahren von seinen akademischen Lehrern in der Theologie und in der Pädagogik gelernt und erfahren hatte. Und es war natürlich gleichzeitig auch die verzweifelte Empörung eines Betroffenen, der zu seinem Erschrecken in ein Umfeld geraten war, das ihn zu bestimmen und zu begrenzen drohte. Der eben noch gefeierte und berühmte Professor der Psychologie musste entdecken, dass er in der akademischen Welt und in seinem Fach mit seinen Überzeugungen plötzlich wieder sehr alleine war. Kein Wunder, dass es ihn umso mehr traf, dass die Zeitschrift „American Psychologist“ sich weigerte, seinen kritischen Beitrag zu drucken, und ihm das Manuskript zurückschickte. Eine solche Erfahrung hatte Rogers mit seinen erfolgreichen Veröffentlichungen bis dahin noch nie machen müssen. In späteren Jahren hat er dann einige Manuskripte, in denen er seine Gedanken und Erfahrungen zu pädagogischen Fragen ordnete, nur noch für sich selbst geschrieben, weil er wusste, dass sie zu weit weg von den geltenden Selbstverständlichkeiten des pädagogischen Betriebs waren. Die Hartnäckigkeit, mit der Rogers für seine Ansichten streiten konnte, und sein Stehvermögen, wie er solche „Niederlagen“ zu verarbeiten pflegte, zeigt die Reaktion auf die Ablehnung seines Manuskriptes. Er schrieb einen Leserbrief an die Herausgeber der Zeitschrift, den diese veröffentlichen mussten. Er schrieb, er habe gehört, dass sein Papier auf großes Interesse gestoßen sei, und er würde es gerne gegen 50 Cent Gebühr allen interessierten Kollegen als Kopie zuschicken. Ob überhaupt und wie viele Kollegen von seiner Offerte Gebrauch machten, ist aus den Unterlagen im Nachlass leider nicht zu ersehen. Wie dem auch sei, Rogers war in seiner Zeit in Wisconsin in vielerlei Hinsicht von Krisen umzingelt und am Rande seiner Möglichkeiten angelangt.
Das Forschungsprogramm an der „Mendota State Psychiatry“ Grundsätzlich hatte Rogers für das Forschungsprojekt wiederum eine anspruchsvolle theoretische Arbeit geleistet und, für die Verhältnisse der damaligen Zeit, ein aufwendiges empirisches Forschungsdesign entworfen.
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Es war ihm darüber hinaus gelungen, für dieses Vorhaben mehr als eine halbe Millionen Dollar Forschungsgelder von der Ford Foundation einzuwerben, und er konnte zahlreiche wissenschaftliche Mitarbeiter in seinem „Renommier-Projekt“ beschäftigen. Seit einigen Jahren schon war Rogers auch unabhängig von seinen andauernden berufspolitischen Kämpfen mit den Psychiatern neugierig, ob seine Hypothese von 1957 und 1959 über die notwendigen und ausreichenden Bedingungen für eine Persönlichkeitsveränderung sich auch in der Arbeit mit psychisch schwer erkrankten Menschen als tragfähig erweisen würde. Zudem lockte die stete Herausforderung auch in standespolitischer Hinsicht, den Kampf mit den Psychiatern und Psychoanalytikern auf diesem Feld aufzunehmen. In seinem Forschungspapier hatte er zusammen mit Eugen Gendlin ein aufwendiges Untersuchungsverfahren ausgearbeitet, das die zu erwartenden positiven Veränderungen der Patienten/ Klienten messbar machen sollte. Die zentrale Hypothese des Projekts war, dass „der therapeutische Prozess sich bei jenen Individuen in signifikant höherem Ausmaß einstellen würde, denen man eine Einzeltherapie anböte, als bei parallelisierten Kontrollpersonen, die lediglich dem allgemeinen therapeutischen Programm der Klinik unterzogen würden“ (Rogers 1977 a, S. 190). Das Projekt hatte sich damit selbst unter Erfolgsdruck gesetzt, und nun galt es zu beweisen, dass die klient-zentrierte Therapie ein hilfreiches Angebot für psychotisch und schizophren erkrankte Menschen sein konnte. Das Forschungsdesign sah vor, dass sich die klient-zentrierten Therapeuten nur mit solchen Personen psychotherapeutisch beschäftigen sollten, die medizinisch als schizophren diagnostiziert worden waren. In der Stichprobe wurde dann noch einmal unterschieden zwischen chronischschizophrenen, weniger chronisch-schizophrenen und einer Gruppe von Patienten, die als schizophren eingestuft, aber außerhalb des Krankenhauses in Betreuung leben konnten. Es wurde sorgfältig auf unterschiedliche Merkmale hinsichtlich von Alter, Geschlecht und Bildungsstand geachtet, und es wurde eine entsprechende parallele Kontrollgruppe eingerichtet, die nicht am Behandlungsprogramm teilnahm. Die Behandlungen wurden von acht Therapeuten durchgeführt. Jeder Therapeut hatte drei als schizophren diagnostizierte Patienten zu behandeln (chronisch, weniger chronisch und ambulant). Zusammen mit der Kontrollgruppe waren so 48 Patienten am Versuchsaufbau beteiligt. Alle Beratungsgespräche, aber auch die Interviews zwischen den Beratungsgesprächen und mit den Patienten aus der Kontrollgruppe wurden aufgezeichnet und ausgewertet. In den Regalen des Projekts stauten sich nach einiger Zeit mehr als 1800 Tonbänder.
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Zum einen wurden nach wie vor die bereits entwickelten „klassischen Instrumente“ zur Einschätzung des Therapeutenverhaltens durch fremde „Rater“ eingesetzt. So wurde beobachtet, inwieweit die Therapeuten in ihrer Beziehung zu dem jeweiligen Klienten eine Haltung/Einstellung von Akzeptanz, Empathie und Kongruenz realisieren konnten. Zum anderen hatte Rogers eine neue Prozessverlaufsskala in Zusammenarbeit mit Eugen Gendlin entwickelt, durch die es testdiagnostisch möglich wurde festzustellen, ob und in welchem Ausmaß bei dem Klienten eine Veränderung durch die Behandlung stattfand. Die Skala maß die relative Nähe des Klienten zu seinem inneren Erleben und wurde deshalb auch die „Experiencing-Skala“ genannt. Der neu entwickelte Grundgedanke war, dass man durch Beobachtung einschätzen kann, ob die Gespräche nur über allgemeine, abstrakte und unpersönliche Sachverhalte geführt werden (das war ein Extremwert der Prozessskala) oder ob der Klient von persönlichen Problemen berichtet und diese Probleme im Gespräch auch gegenwärtig emotional erlebt und erfährt (das war der andere Extremwert der Skala). Darüber hinaus wurden traditionelle psychologische Tests und Diagnoseverfahren vor Beginn der Behandlung und auch als „Outcome-Instrumente“ eingesetzt. Eugen Gendlin, der bereits in Chicago zu Rogers’ Team gestoßen war, initiierte und koordinierte das „Psychotherapy Research Project“ im „Mendota State Hospital“. Wie naiv diese Absprachen und die institutionelle Einbindung des Projektes in die Hierarchie der psychiatrischen Welt insgesamt waren, wurde schon an den zuvor geschilderten Krisen deutlich. Das Forschungsprogramm interessierte sich vorwiegend für die Beziehungsqualität der angebotenen Behandlung, und zwar in traditioneller Weise für die Einflüsse, die vom Therapeuten auf den Patienten wirkten. Es interessierte sich aber auch, und darin bestand die Weiterentwicklung und der Fortschritt in der Differenzierung der Fragestellung und der Messinstrumente, dafür, wie weit die Erfolge im therapeutischen Prozess durch Aktivitäten, Einstellungen und Einflüsse, die vom Klienten aus auf den Therapeuten wirken, mitbestimmt wurden. Mit dieser Dimension der Untersuchungsperspektive näherte sich das Team stärker einem interaktiven Verständnis des Prozessgeschehens in der Therapie an. Bis dahin hatte eine sehr eindimensionale und kausal-analytische Betrachtungsweise in technologischen Ursache- und Wirkungskategorien über das Prozessgeschehen in der klient-zentrierten Therapie vorgeherrscht: Wenn der Therapeut optimale Bedingungen realisiert und wenn der Klient auch wahrnimmt, dass der Therapeut optimale Bedingungen realisiert, dann muss zwangsläufig eine konstruktive Persönlichkeitsveränderung eintreten.
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Von Eugen Gendlin stammte eine neuere Fassung des in diesen Untersuchungen gebrauchten Empathiebegriffs und eine Theorie über die Elemente der inneren Erfahrungswelt des Klienten und seiner Fähigkeiten, diese unterschiedlichen Elemente seiner inneren Erfahrungswelt für seine Selbstexploration zu nutzen. Die Erwartung des Forschungsdesigns war, dass sich auf der neu entwickelten „Experiencing-Skala“ die als schizophren diagnostizierten Patienten am unteren Ende der Prozessskala bewegen würden (Klient spricht nur von anderen und äußerlichen Dingen, nicht von sich selbst, oder er spricht gar nicht). Als möglicher therapeutischer Fortschritt wurde eine Annäherung der Themen, über die der Klient spricht, an das persönliche Erleben erwartet, beispielsweise dass der Klient von sich selber spricht oder die Probleme, an denen er leidet, mit sich selbst in Beziehung bringt, respektive in eine aktive Selbsterforschung eintritt. Alles in allem konnte das Untersuchungsprogramm als ambitioniert bezeichnet werden, und nicht nur die psychologische Fachwelt blickte gespannt auf die zu erwartenden Ergebnisse des Projektes. Auf Ergebnisse mussten sie jedoch lange warten, und die von Rogers und seinen Mitarbeitern schließlich vorgelegten Ergebnisse waren wenig eindrucksvoll. Rogers beschrieb dieses Projekt später als das „zweifellos schmerzhafteste und qualvollste Projekt meines gesamten Berufslebens“ (Burton 1972: 62). Die Ergebnisse zeigten keinen signifikanten Unterschied zwischen der Therapiegruppe und der Kontrollgruppe, obwohl eine hohe Korrelation zwischen den therapeutischen Bedingungen der Kongruenz und der Empathie und der Verbesserung des Zustandes der Klienten zu finden war. Das Projekt brachte ein paar wenige „Beweise“ für Rogers’ Grundannahmen, die letztlich aber nicht eindeutig waren. Bedingt durch die Auseinandersetzung mit Charles Truax, der dem Team in erpresserischer Weise die von ihm bearbeiteten Daten vorenthielt, um sich damit mehr Einfluss im Projektmanagement zu sichern, gab es erhebliche Zeitverzögerungen. Viele Daten mussten neu erhoben oder durch Sekundäranalysen rekonstruiert werden. Die Veröffentlichung des Berichtes zog sich auch aus diesen Gründen in die Länge. Aber auch inhaltlich zeigte sich, dass das Team nicht in bester Verfassung war und im Therapiebereich so keine optimale Arbeit leisten konnte. Außerdem war das Projekt unter supervisorischen Gesichtspunkten betrachtet institutionell schlecht verortet, und die Rahmenbedingungen für die Arbeit stimmten nicht. Rogers schrieb, „dass sie sich nur zentimeterweise vortasten konnten“, und er versuchte in den von ihm verfassten Textbeiträgen zu retten, was zu retten war, indem er die Intentionen des
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Forschungsberichtes umdeutete. Es gehe in dieser Studie eigentlich weder um eine Studie über Schizophrenie noch über eine Studie über Psychotherapie, sondern es sei eine Studie über zwischenmenschliche Beziehungen. Die zusammenfassende Studie ›The Therapeutic Relationship and it’s Impakt: A Study of Psychotherapy with Schizophrenics‹ (625 Seiten) erschien aufgrund der Konflikte im Team erst 1967, also vier Jahre nachdem Rogers Wisconsin bereits wieder verlassen hatte. Sie wurde entgegen der bisherigen Erfolgsauflagen, die Rogers mittlerweile mit seinen Büchern stets erzielen konnte, nur in einer sehr geringen Anzahl verkauft und hinterließ wenig bleibenden Eindruck in der Fachwelt.
Aus der Erfahrung lernen: ›On Becoming a Person‹ Wie in Rogers’ Leben bereits mehrfach zuvor, entstand in der Krise und aus der Bewältigung des „Einbruchs“ neue Kraft. Rogers hat sich in diesen „Schizophrenie-Jahren“ augenscheinlich sehr bewusst mit seinen eigenen inneren Konflikten und Problemen auseinandergesetzt. Die einige Jahre zurückliegende Erfahrung als Klient hatte ihm ja bereits geholfen, eine persönliche Krise aufzuarbeiten und mit den unduldsamen, ablehnenden und zerstörerischen Gefühlen und Gedanken, die ihn seit Kindheitstagen begleiteten, Frieden zu schließen. Es entsteht der Eindruck, dass Rogers in den Jahren zwischen 1959 und 1960 mit dem Scheitern in Wisconsin das Schreiben als einen Weg zur Selbsttherapie für sich entdeckt hat. In Katastrophenzeiten, in denen er von Problemen familiärer und beruflicher Art umzingelt war, half ihm dies, sich auf sich selbst zurückzuziehen, um sich offen und ehrlich mit seinen Gefühlen, Ambitionen, Zielen und Neigungen auseinanderzusetzen. In diesen Zeiten wurde sein Schreibstil lebendiger und authentischer. Die persönlichen Aufzeichnungen aus dieser intensiven Krisenzeit sind als Selbstauseinandersetzung später dann zu einem autobiographischen Text geworden, den Rogers seinem neuen Buch voranstellt. Indem er seinen Werdegang rekapituliert und die zentralen Erfahrungen und Einsichten aus seinem bisherigen Leben auflistet und erläutert, schreibt er eine sehr persönliche Bilanz seines bisherigen Lebens. So heißt das erste Kapitel von Carl Rogers’ viertem Buch ›On Becoming a Person‹, das er 1961 veröffentlichte: „Das bin ich!“ (deutsch 1976: ›Entwicklung der Persönlichkeit. Psychotherapie aus der Sicht eines Therapeuten‹). Er wendet sich hierin mit seinen persönlichen Erfahrungen an ein großes Publikum und spricht von sich selbst, was in diesem Ausmaß neu ist. Carl, der zurückhaltende und scheue Mensch, der perfekte klient-zen-
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trierte Zuhörer, beginnt in diesem Lebensabschnitt und in der Bewältigung dieser beruflichen Krise, den Fokus auf seine eigenen Erfahrungen zu legen und die Kommunikation mit anderen Menschen dadurch zu suchen, indem er von sich spricht. Er tut dies später noch mehrfach und berichtet 1972 über seine Ehe, 1980 über das Altwerden und Wachsen im Alter und 1987, kurz vor seinem Tod im Alter von 85, gibt er einen ähnlichen Einblick in sein persönliches Leben. Mit seinem Buch ›On Becoming a Person‹ überschreitet Rogers die engen Grenzen der psychologischen Fachliteratur und wendet sich als Mensch an eine allgemeine Öffentlichkeit, indem er das Thema zwischenmenschlicher Beziehung nicht nur im strengen Sinne fachpsychologisch behandelt, sondern in einer universalen menschlichen Dimension. Er erlaubt sich, von sich selber zu sprechen, und lädt den Leser ein, an seinen Erfahrungen teilzuhaben und, angeregt von seinen Erfahrungen, über die eigenen Lebenserfahrungen nachzudenken. Rogers betritt mit dieser Art der autobiographischen und selbstreflektierenden Schreibweise eine neue Dimension als Autor: Wie er es als Therapeut in dem Schizophrenie-Projekt gelernt hat, dass Kontakt und Beziehung auch durch selbstöffnende Worte des Therapeuten ermöglicht werden können, so ermöglicht er nun durch Mitteilung seiner eigenen Erfahrungen einen persönlichen existenziellen Kontakt zwischen Leser und Autor. Die Reaktion auf dieses Buch war überwältigend. Im ersten Kapitel stellt er seinen persönlichen und beruflichen Werdegang vor, um dann eine vorläufige Bilanz in 12 Einsichten zu ziehen. Der Platz reicht an dieser Stelle nicht, um alle Einsichten darzustellen. Einige davon sollen aber im Folgenden ausführlicher zitiert werden, um deutlich zu machen, von welchem existentiellen Standpunkt aus Rogers schreibt: „In meinen Beziehungen zum Menschen habe ich herausgefunden, dass es auf lange Sicht nicht hilft, so zu tun, als wäre ich jemand, der ich nicht bin. Es hilft nicht, ruhig und freundlich zu tun, wenn ich eigentlich ärgerlich bin und Bedenken habe. Es ist nicht hilfreich, so zu tun, als wüsste ich die Antworten, wenn ich sie nicht weiß. Es hilft nicht, den liebevollen Menschen zu spielen, wenn ich im Augenblick eigentlich feindlich gestimmt bin …“ (Roger 1961/1976, S. 32, Hervorhebung im Original). Diese Einsicht ist ein schmerzvolles Plädoyer für Kongruenz und Echtheit, um die Rogers sein Leben lang ringen musste und die ihm, nun im Alter von fast 60 Jahren, immer wichtiger wird. Eine andere Lernerfahrung formuliert er so: „Ich habe es als äußerst wertvoll empfunden, wenn ich es mir erlauben kann, einen anderen Menschen zu verstehen. … Ist es notwendig, sich zu erlauben, einen anderen zu verstehen? Ich glaube, ja. Unsere erste Reaktion auf die meisten Feststellungen, die wir von anderen Menschen hören, ist
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eine sofortige Bewertung und Beurteilung, aber kein Verständnis. … Ganz selten erlauben wir uns, genau zu verstehen, was ihm die Aussage bedeutet.“ Eine andere Lernerfahrung heißt: „Ich kann meiner Erfahrung trauen. Eine der fundamentalen Einsichten, zu deren Erkenntnis ich lange Zeit brauchte und die ich heute noch zu begreifen lerne, ist die: Wenn ich bei einer Tätigkeit empfinde, sie sei in sich wertvoll oder wert, getan zu werden, dann ist sie es auch. Anders gesagt: Ich habe gelernt, dass das Gefühl, mit dem mein ganzer Organismus eine Situation wahrnimmt, verlässlicher ist als mein Intellekt“ (ebd., S. 38). Und diese Lernerfahrung wiederum „legt den Schluss nahe, dass das Urteil anderer für mich keine Leitlinie ist. (…) Erfahrung ist für mich die höchste Autorität“ (ebd., S.39). Die Zusammenfassung seiner Lebenserfahrung läuft darauf hinaus, dass Rogers sich selbst und damit auch andere Menschen ermuntern möchte, ihre private und persönliche Erfahrung ernst zu nehmen und für sie einzutreten bzw. Verantwortung dafür zu übernehmen, weil er davon überzeugt ist, dass gerade in den ganz persönlichen und einzigartigen Erfahrungen die Elemente zugleich enthalten sind, die uns in einer allgemeinen Weise als Menschen verbinden. (Das Einzigartige ist das Allgemeinste.) Das Buch befasst sich gerade nicht mit Rogers’ belastenden beruflichen Erfahrungen, die er in dieser Zeit des Wisconsin-Projektes machen musste, sondern es beschreibt die menschlichen Erfahrungen, die Rogers als Person aus seiner Entwicklung bis dahin gemacht hat. In seinem Bemühen, sich selbst Klarheit darüber zu verschaffen, wer er ist, welche Werte er wirklich in diesem Leben leben möchte, was seine Ziele sind und welche Erfahrungen er im Laufe seines Lebens bisher gemacht hat, drückt er seine Gefühle in einer kraftvollen und bewegenden Sprache aus, die ihn nun als fähigen Kommunikator und als einen mitreißenden Schriftsteller zeigen. Pädagogen, Therapeuten, Philosophen, Wissenschaftler, Künstler und unzählige „Männer und Frauen von der Straße“ wurden von diesem Buch angezogen. Rogers erhielt noch Jahre später viele Zuschriften und Anrufe von Menschen, denen er mit seinen Lebenserfahrungen aus der Seele gesprochen hatte und die sich von seinem Buch ermutigt und verstanden fühlten.
Auf dem Weg zum Person-Zentrierten Ansatz (PCA) Er war nach Wisconsin in der Absicht gegangen, Einfluss auszuüben, und er scheiterte mit diesem Vorhaben. Gleichzeitig schrieb er in dieser anstrengenden und verwirrenden Zeit des Scheiterns ein selbstreflektie-
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rendes Buch über sich, seine Werte, Ziele und Utopien und entdeckte, dass er damit plötzlich bei seinen Lesern eine intensive Resonanz auslösen konnte. Es war sicher auch der Erfolg als Schriftsteller, der ihn ermutigte, im Alter von 62 Jahren seine akademische Tätigkeit als Professor der Psychologie aufzukündigen und die Universität in Wisconsin zu verlassen. Er kehrte damit auch der akademischen Welt den Rücken, die ihm zu unbequem und zu eng geworden war. Seine Bücher brachten ihm ein sicheres Einkommen, er verfügte darüber hinaus über eine kleinere Altersabsicherung und hatte vor allen Carl Rogers 1958 Dingen nach den Erfahrungen mit (Foto aus dem Nachlass; dem Mendota-Projekt auch keine mit freundlicher Genehmigung der Library of Congress, Lust mehr, leitende VerwaltungsWashington D.C., Box 4). und Führungsaufgaben im Fachbereich der Universität und möglicherweise auch in ähnlich quälenden Forschungsprojekten zu übernehmen. Als Rogers seine Professur in Wisconsin niederlegte, erhielt er ein anerkennendes Schreiben vom Präsident der Universität, der bedauerte, dass die Hochschule nicht in der Lage sei, die Bedingungen zu bieten, die er für seine Arbeit brauche, so dass er in Ehren gehen konnte. Das gesellschaftliche Umfeld hatte sich in der Zwischenzeit dramatisch weiterentwickelt, Amerika war in einer Veränderungsperiode. 1959 wurden Hawaii und Alaska als Bundesstaaten neu aufgenommen, der sowjetische Ministerpräsident Chruschtschow hatte die USA besucht, es war ein Gesetz gegen die Rassendiskriminierung bei Wahlen verabschiedet worden, und John F. Kennedy führt seinen Wahlkampf unter dem Schlagwort der „New Frontiers“ (Aufbruch zu neuen Ufern) und unterbrach 1961 bis 1963 für eine kurze, aber intensive Zeit die Präsidentschaft der Republikaner. Junge, intellektuelle, demokratische Politiker versuchten, die amerikanische Gesellschaft zu modernisieren und zu demokratisieren. Die KubaKrise und der spätere Bau der Berliner Mauer waren Konflikte von weltpolitischer Dimension.
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Die „Amerikanische Akademie der Psychotherapeuten“ (AAP) hatte im Frühjahr 1961 zu einer ersten kollegialen Tagung aufgerufen, zu der alle progressiven Psychotherapeuten eingeladen waren, ihre Erfahrungen unter dem Motto „Das kontinuierliche Wachstum der Persönlichkeit des Psychotherapeuten“ vorzustellen und miteinander zu besprechen. Hinter dieser Einladung steckten die Gründer dieser Gesellschaft: die Psychotherapeuten Albert Ellis, Rollo May, Georg Dolger und Jerry Schneck. Auf der Tagung selbst wurden aufregende Versuche und Experimente vorgestellt: Georg Bachs 36-Stunden-Marathon-Gruppen, Fritz Perls Gestalttherapie, Carl Whitaker, John Warkentin und Richard Felder zeigten die „Experimental Therapy“, Ruth Cohn stellte ihre Gegenübertragungsworkshops vor. Alle diese unterschiedlichen psychotherapeutischen Ansätze verlangten nach einer anderen Psychologie als Wissenschaft, zumindest nach einer Organisation, in der die unterschiedlichen Auffassungen von Phänomenologen, Existentialisten, Humanisten, Holisten usw. einen angemessenen Platz haben konnten. So kam es 1961 zur Gründung der „Association for Humanistic Psychology“ (Amerikanischen Gesellschaft für Humanistische Psychologie) (AAHP), in der sich viele Außenseiter und Erneuerer, Rebellen und Unzufriedene zusammenschlossen. Carl Rogers war sicher einer der prominentesten Vertreter dieser bunt schillernden und kreativen Aufbruchsbewegung im Bereich der Psychologie. Neben ihm waren an der öffentlichen Gründung der AAHP Abraham Maslow, Gordon Allport, Charlotte Bühler, Rollo May, Kurt Goldstein, Vertreter der Gestaltpsychologen, Kurt Lewin sowie die Vertreter der phänomenologischen und der existentialistischen Bewegung maßgeblich beteiligt. Dass Rogers die erste Präsidentschaft der AAHP angetragen wurde, macht deutlich, wie groß sein Ruhm und sein internationales Ansehen mittlerweile geworden war. Er war unter den populär gewordenen Vertretern der „Humanistics“ sicherlich der profilierteste. Als seriöser Fachvertreter aus der testpsychologischen und empirischen Schule kommend, als Autor wissenschaftlicher Fachbücher, als Professor der Psychologie, neuerdings auch als Autor von populärwissenschaftlichen Büchern über Psychotherapie und als Debattenredner hatte er sich in vielen Bereichen hervorgetan. Darüber hinaus war er als Sprecher und Mitarbeiter in vielen nationalen Berufsorganisationen tätig und bekannt. Rogers lehnte die erste Präsidentschaft dennoch dankend ab, arbeitete aber als prominentes Mitglied sehr engagiert in dieser Vereinigung mit. Sein Weg führte ihn jetzt immer konsequenter aus den Institutionen und aus der Verbandsarbeit hinaus. Er setzte zunehmend auf das spontane persönliche Engagement der Menschen, die sich in freier Verantwortung für einzelne Ereignisse engagierten.
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Im Sommer 1963 hatte Richard Farson, ein ehemaliger Student, ihn eingeladen, sich dem 1959 gegründeten „Western Behavioral Sciences Institute“ (WBSI) anzuschließen. Ein solches Angebot kam Rogers gerade recht, und er ging mit Helen nach La Jolla, Kalifornien, um dort am WBSI zu arbeiten, einer nicht gewinnorientierten, aber privaten Organisation, die ihre Kenntnisse und Dienste aus der humanistischen Psychologie großen Firmen und Behörden, unter anderem auch der Regierung und den Kultusministerien, zur Verfügung stellte. Diese Einrichtung hatte sich in kurzer Zeit sowohl als humanistische wie auch als wissenschaftsbezogene Institution einen guten Namen gemacht. Hier gab es zahlreiche Projekte und Herausforderungen, die Rogers in sehr konkreter Weise als Dozent, Gruppenleiter und Berater anzogen und herausforderten. Rogers wurde damit als selbstständiger Psychologe, Psychotherapeut und Berater auf einem privaten Beratungsmarkt im Bereich der „Human Relations“ und des „Social Engineerings“ tätig. In seinem letzten akademischen Jahr unternahm Rogers zusammen mit seiner Frau Helen eine längere Ostasienreise. Logan Fox vom japanischen christlichen College in Ibaraki hatte ihm eine fast dreimonatige Vortragsund Workshop-Reise organisiert, auf der er japanischen Managern sein klient-zentriertes Konzept vorstellen konnte. Er war erstaunt über das Interesse der Japaner an seiner Arbeit und über ihre Aufgeschlossenheit für seinen Ansatz. In der Folge gewann er hier im Gefolge von Workshops, offiziellen Empfängen und Besichtigungen in Tokyo, Osaka und Kyoto viele Anhänger für seine Sichtweise und knüpfte wichtige Kontakte für spätere Projekte. So war in den Jahren des Scheiterns zugleich der Anfang für einen neuen Aufbruch angelegt.
In der Alternativbewegung: 1964–1979 Die neue Freiheit: Rogers’ Wechsel zum „Western Behavioral Sciences Institute“ Die neuen Freiheiten nach dem Universitätsleben versetzten Rogers in eine Art von Hochstimmung. Er und Helen fanden ein wunderschönes Haus in der Torrey Pines Road in La Jolla, mit einer fantastischen Aussicht auf den Pazifik. Er nahm sofort mit Begeisterung seine neue Tätigkeit im „Western Behavioral Sciences Institute“ (WBSI) auf. Ohne Einschränkungen durch die akademischen Institutionen war er nun frei, sich beruflich und persönlich zu entwickeln, und überraschte seine Freunde und seine Familie durch eine ungewohnte und auffallende Lebendigkeit. In dem neuen „Job“ war er Kollege unter Kollegen, die ähnliche Ziele verfolgten wie er, er war von Leitungs- und Führungsaufgaben entledigt und musste sich nicht mit den einschränkenden bürokratischen Auflagen einer großen Verwaltung herumschlagen. Sein Schritt aus der akademischen Welt war zugleich auch ein Schritt aus der klinischen Welt und der Welt der Psychotherapie im engeren Sinne. Es war, als hätte Rogers den steifen und angestrengten Wissenschaftler und Testpsychologen in der Universität zurückgelassen und könnte sich nun endlich als Privatperson unter die Leute mischen. In Amerika herrschte in den 1960er Jahren Aufbruchstimmung. Es formierten sich die Hippie- und Flower-Power-Bewegung, die studentische Protestbewegung gegen die Einmischung Amerikas in den Vietnamkrieg und auch die demokratische Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen, der Martin Luther King 1963 in triumphaler Weise einen radikal neuen Auftrieb verliehen hatte. „Say it, like it is, man!“ In diesem Spruch der Schwarzen drückte sich das Verlangen nach Authentizität und Direktheit im Umgang miteinander aus. Veränderungstendenzen zeigten sich überall: Mit langen Haaren und zerrissenen Jeans saßen die jungen Leute nicht mehr auf Stühlen, sondern auf dem Fußboden, spielten Gitarre oder Flöte, sangen von Liebe, Bewusstseinserweiterung, von Partnerschaft, Kreativität und Emanzipation. Alle und alles war „in“, und jedermann gehörte zur „Szene“. Alle diese gesellschaftlichen Entwicklungen kamen Rogers persönlichen Veränderungen entgegen. Er stieß mit seinen utopischen und gesell-
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schaftskritischen Sichtweisen „draußen“ auf eine breite soziale Bewegung, die seine Visionen teilte und zum Teil bereits lebte. Vieles mag ihn an die Aufbruchstimmung erinnert haben, die er in der Reformbewegung der 1920er Jahre, damals im progressiven und liberalen „Union Theological Seminary“ und auch am „Teachers College“ unter den Dozenten erlebt hatte. In den nächsten 16 Jahren bis zu Helens Tod ereigneten sich in Carls Leben so viele Dinge, dass es aussieht, als wenn das Leben jetzt, mit 61 Jahren, für ihn erst so richtig losging. In diese Zeit fällt die Entdeckung der Gruppe und die Erweiterung der klient-zentrierten Therapie zum person-zentrierten Ansatz. Rogers stellt den psychoanalytischen und gruppendynamischen Gruppenkonzepten mit der Entwicklung der EncounterGruppe ein eigenes person-zentriertes Gruppenmodell entgegen. Sein Engagement für eine person-zentrierte Pädagogik und für neue Formen des Zusammenlebens von Mann und Frau in Ehe und Familie wächst und artikuliert sich in vielen Aufsätzen und Vorträgen. Während dieser Zeit schreibt Rogers sechs Bücher, allesamt Bestseller, und ist als Berater, Consultant und Gruppenleiter in zahllosen Gruppen, Kursen sowie auf Tagungen und Veranstaltungen unterwegs. In der aufblühenden Psycho-Szene und in der neuen Alternativkultur wird Carl Rogers mit seiner Erweiterung der klient-zentrierten Therapie zum person-zentrierten Ansatz und mit der Ausdehnung seines Engagements auf fast alle Bereiche zwischenmenschlicher Kommunikation entgegen seinen eigenen erklärten Absichten zum „Guru“ in der Szene.
Die Entdeckung der Gruppe und die Entwicklung des person-zentrierten Ansatzes Seit 1939 hatte Rogers mehr als 20 Jahre intensiv als Berater und Therapeut gearbeitet und geforscht und sich dabei als Spezialist für die psychotherapeutische Arbeit im Setting der Einzeltherapie entwickelt. Ihm war bereits in den 1950er Jahren klar gewesen, dass es gute Gründe dafür gab, die therapeutischen Arbeitsprinzipien aus der Einzeltherapie auf die Arbeit mit Gruppen zu übertragen. In dem Buch ›Client-entered Therapy‹ hatte Thomas Gordon bereits 1951 die Anwendung der klient-zentrierten Prinzipien auf das Leiten und Führen von Gruppen verfasst. Jedoch war diese Arbeit und das damalige Verständnis im klient-zentrierten Ansatz in Absicht und Zielsetzung stärker als eine pädagogische Führungslehre konzipiert, die für die Leitung von Verwaltungs- und Wirtschaftsorganisationen bestimmt war. Von einer klient-zentrierten Gruppentherapie im
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klinischen Sinne konnte in diesem Zusammenhang nicht gesprochen werden. Solche klinischen Aktivitäten hatten sich aber bereits im Umfeld der psychoanalytischen Bewegung entwickelt. Es gab dort ein deutliches Bewusstsein dafür, dass „der Platz auf der Couch zu knapp war“, wie es Ruth Cohn anschaulich formulierte, um alle neurotischen und traumatischen Störungen dieser Welt zu behandeln und allen psychisch belasteten Menschen dieser Gesellschaft mit einem so aufwändigen individuellen Langzeitverfahren zu helfen. Deshalb wurde schon früh nach Wegen gesucht, die Gruppe als Medium und die Gruppentherapie als wirksame Alternative zur Einzeltherapie zu entwickeln. In der Zeit des Zweiten Weltkrieges und bereits davor waren viele jüdische, politisch und intellektuell Verfolgte auf ihrer Flucht vor dem Nazi-Terror nach Amerika gekommen und hatten die klinische Szene erheblich inspiriert. Sam Slavson hatte sich bereits 1948 in New York als Vater der Gruppentherapie mit seinen Arbeiten vorgestellt. Jacob L. Morenos Stegreiftheater, in dem zufällige Passanten auf der Straße zu „Patienten“ werden konnten, war zwischenzeitlich populär geworden und wurde von Hannah Weiner und James Saks als Gruppentherapie verbreitet. Auch vom Alfred-Adler-Institut ging über Asya Kadis ein wichtiger Beitrag zur gruppentherapeutischen Arbeit aus (Cohn/Farau 1984, S. 258). An dieser Stelle muss auch auf die Arbeiten von Kurt Lewin hingewiesen werden, der bereits unmittelbar in der Nachkriegszeit in Amerika sozialpsychologische Studien betrieben hatte und mit der „Erfindung“ der Trainingsgruppe (T-Gruppe) experimentierte, um die sozialpsychologische Dynamik von Gruppenprozessen zu ergründen. So war es nicht verwunderlich, dass Rogers, freigesetzt von seinen „engen“ Forschungsambitionen in der Einzeltherapie, nun auch offen und bereit war für die Themen, die sozusagen in der Luft lagen. Auch von ihm wurde die Gruppe als therapeutisches Medium entdeckt. Rogers begann verstärkt damit zu experimentieren, die Prinzipien aus der Einzeltherapie auf die Arbeit mit Gruppen zu übertragen und die Interaktionen und Begegnungen der Gruppenmitglieder untereinander für therapeutische Prozesse der Selbst-Aktualisierung zu nutzen. Im Unterschied zum klassischen klient-zentrierten Therapeuten der 1950er Jahre erweiterte Rogers in den 1960er Jahren sein Beziehungsangebot um die Dimension der existentiellen menschlichen Begegnung, wie dies von Martin Buber bereits in den 1930er Jahren ausformuliert worden war. Jetzt erst, nach dem Schizophrenieprojekt, war Rogers erfahrungs- und erkenntnismäßig auf dem Stand der Begegnungsphilosophie. Rogers konnte die zentralen Einsichten von Buber über den Dialog und das Phä-
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nomen der Begegnung aufgreifen und diese zugleich erweitern. In Bubers Konzept waren noch paternalistische und vordemokratische Reste zu finden, beispielsweise dass der wirksame therapeutische (ebenso wie der pädagogische) Dialog nur mit dem Therapeuten (oder dem Lehrer) stattfinden kann – gedacht als eine besondere Begegnungssituation mit einer besonderen Person. Diese Begegnung von zwei Individuen kann zwar in oder vor einer Gruppe (oder einer Schulklasse) stattfinden, aber es war hier nicht die Begegnung der Gruppenmitglieder untereinander gemeint. Rogers hingegen greift die Erfahrung auf, dass die Begegnung der „Patienten“ untereinander, von Person zu Person, wenn sie stattfinden kann, eine sehr viel wirksamere Hilfe sein kann. Weil der Therapeut nicht als Autorität „dazwischensteht“, kommen Prozesse von Gegenseitigkeit in Gang, in denen „Patienten“ sich nicht nur als hilfebedürftig erleben, sondern auch anderen Personen in der Gruppe etwas bedeuten und ihnen etwas geben können. In der person-zentrierten Gruppe (Encounter-Gruppe) kann prinzipiell jeder gleichberechtigt und nach seiner Entscheidung und Wahl frei an dem sozialen Austausch in unterschiedlichen Funktionen teilnehmen. Es können in einem offenen Prozess Leitungsimpulse von einzelnen Gruppenmitgliedern ausgehen, selbst der Leiter kann vorübergehend zum Gruppenmitglied werden. Er kann von seinem Innenleben berichten, aber auch Helfer und Zuhörer sein, und er kann sich, wie jedes andere Gruppenmitglied auch, auf eine Begegnungssituation einlassen. Roger war von diesen neuen Entwicklungen und Einsichten fasziniert. Die person-zentrierten Gruppen, die er nach diesem Konzept durchführte, brachten eindrucksvolle Erfahrungen für die Teilnehmer, aber auch für ihn selbst. Sie boten ihm die Gelegenheit, tiefe Einblicke in das Leben anderer zu gewinnen, aber auch umgekehrt über Möglichkeiten aus seinem Inneren zu berichten und Mitglied einer Gruppe zu werden. Stärker noch als es in der Einzeltherapie jemals möglich gewesen war, konnte die EncounterGruppe auch Carls ungestilltes Bedürfnis nach menschlicher Nähe befriedigen. Unter dem Eindruck der lebendigen und aufregenden Geschehnisse, die sich unter seinen Augen und gleichzeitig durch seine Mitwirkung abspielten, formulierte er später begeistert, dass „die Encounter-Gruppe vielleicht die wichtigste soziale Erfindung des 20. Jahrhunderts sei“. Schon wenige Jahre nach seiner Ankunft in La Jolla wurde er als einer der tragenden Pfeiler der Encounter-Bewegung angesehen. Nach den anstrengenden Erfahrungen mit psychisch schwer erkrankten Patienten im Rahmen des Schizophrenieprojekts in Wisconsin bot sich für Rogers nun die Möglichkeit, neue praktische Hypothesen zum Prozess der Persönlichkeitsentwicklung „draußen“, also außerhalb des klinischen Gettos im lebendigen Leben zu testen.
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Er begann der Weisheit der Kleingruppe genauso viel Vertrauen entgegenzubringen, wie er es zuvor den einzelnen Klienten gegenüber getan hatte. Gleichzeitig konnte er den Gruppenkontext für seine eigene Entwicklung nutzen und lernte, seine eigenen Gefühle deutlicher zu benennen und in der Beziehung zu anderen Gruppenmitgliedern das Risiko der Verwundbarkeit und der Beeinflussung einzugehen. Die Last, der Abstand und die Verantwortung eines leitenden Therapeuten wurden in der Gegenwart anderer Menschen leichter. Die Encounter-Gruppen wurden für Rogers sozusagen die Realität einer autoritäts- und expertenkritischen Philosophie, die er immer schon propagiert hatte: Die Weisheit der Steuerungsprozesse des Gruppengeschehens sollte basisdemokratisch von den Gruppenmitgliedern selbst und nicht von einem Gruppenleiter bestimmt werden. Der Weg der Gruppenmitglieder hin zu einem gemeinsamen Entscheidungsprozess zeigte sich als ein heilsamer Weg. Die Encounter-Gruppe war für Rogers das Medium für „Empowerment“: ein Feld, eine Zeit, ein Ort, wo Menschen freiwillig zusammenkamen, um sich selbst, die Situation in der Gruppe und auch die Begegnung mit anderen Menschen zu verstehen und zu erforschen und eine Stärkung ihres Selbstwertgefühls, ihrer Individualität und ihrer Lebensperspektive zu erfahren – geleitet von den Fragen: „Wer bin ich?“, „Wer will ich sein?“, „Welche Empfindungen und welche Kämpfe bestimmen mein Leben?“, „Welche Empfindungen versuche ich zu vermeiden und abzuwehren?“, „Für welche Werte und Ziele will ich leben?“, „Was denke ich über die menschliche Existenz, was über den Unterschied der Geschlechter, den Einfluss von Herkunft und Hautfarbe?“. Von der Kulturzugehörigkeit bis hin zu politischen und religiösen Themen konnte alles in den Gruppensitzungen in einer persönlichen, kognitiven und emotionalen Weise frei thematisiert werden und zu einem Anlass von persönlich bedeutsamen Begegnungen werden. Mit der Encounter-Gruppe begann in Rogers’ Leben ein neuer Entwicklungsabschnitt, in dem er auf neue Weise die Anwendung seiner klientzentrierten Therapie offensiv erweiterte und umbenannte. Er sprach jetzt nach der Integration der Begegnungselemente von dem „Person-zentrierten Ansatz“ (PCA), der auf alle Situationen des zwischenmenschlichen Alltags Anwendung finden konnte und nach dessen Philosophie das Zusammenleben der Menschen in gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen befriedigender gestaltet werden könnte: in Institutionen der Religion, des Bildungswesens, der Arbeitswelt, des Gesundheitswesens oder der Politik und Verwaltung. Mittlerweile waren sehr viele „klient-zentrierte“ Fachkollegen an der Weiterentwicklung beteiligt, die das Konzept stets auch unabhängig von
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der Person Carl Rogers als eine offene Forschungshypothese in Entwicklung betrachtet hatten und die, ebenso wie Rogers selbst auch, Personenkult ablehnten. Die Weiterentwicklung der klient-zentrierten Therapie einerseits und die persönliche Entwicklung, die Carl Rogers in diesen Jahren nahm, begannen sich nun deutlich zu unterscheiden. Hatte Rogers auf seinem Entwicklungsweg zur klient-zentrierten Therapie in den 1950er Jahren die Sozialarbeiter und die non-direktive Methode zurückgelassen, so ließ er nun Mitte der 1960er Jahre mit seinem Schritt zum personzentrierten Ansatz wiederum Kollegen zurück, die diese neue Entwicklung kritisch betrachteten. John Shlien, ein Mitarbeiter von Rogers noch aus der Chicagoer Zeit, später Professor für Beratungspsychologie in Harvard, erläutert den Werdegang der Theorie nach dem Projekt mit den Schizophrenie-Patienten in Wisconsin und schreibt dazu: „Auf jeden Fall bereiteten solche Fehlschläge auch den Boden für Veränderungen. Rogers und seine Kollegen suchten an unterschiedlichen Orten Zuflucht und gingen oft sehr verschiedene Wege. Für Rogers war das La Jolla, ein kleiner Ort an der kalifornischen Küste. Er befasste sich ab diesem Zeitpunkt weniger aktiv mit Einzeltherapie und wandte sich in weitaus stärkerem Maße der Gruppentherapie, einschließlich recht großer „Gemeinschafts“-Gruppen, sowie institutionellen Änderungen, Fragen der Erziehung, der allgemeinen Kultur und politischen Aktivitäten zu. Die Bezeichnung für Personen, die wir als ‚Therapeuten‘ zu bezeichnen pflegten, änderte sich in ‚facilitator‘ oder sogar ‚convener‘, d. h., sie bezeichneten jemand, der nur die Verantwortung für die Einberufung der Gruppe trägt. Die übrigen Aufgaben oblagen der Gruppe als Ganzes. (…) In dieser Version der historischen Entwicklung wird die klient-zentrierte Therapie, obwohl sie in der zeitlichen Aufeinanderfolge früher und von der Theorie her beinahe vollständig war, zu einem Teilbereich des person-zentrierten Konzepts. Somit erlebte seltsamerweise die klient-zentrierte Therapie einen Rückschlag, als sie sich weiter ausdehnte. Einen Rückschlag, was ihre Klarheit und Deutlichkeit anbetraf …“ (Shlien 1988, S. 7). Und an anderer Stelle: „Der eine Begriff beschreibt ein ziemlich vollständiges Therapiesystem mit begrenzter Anwendbarkeit in dem Bereich, für den es konzipiert und entwickelt wurde. Der andere bedeutet eine Verhaltensform (approach) mit einer ganzen Reihe von Anwendungsmöglichkeiten. Es gibt dafür nur eine sehr begrenzte theoretische Grundlage und praktisch keine Grenzen“ (ebd., S. 9).
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Als Berater bei Caltech Wie die neue Idee der Encounter-Gruppe die weitere Arbeit von Carl Rogers beeinflusste, zeigte sich auch in seiner Tätigkeit als Berater des großen Wissenschaftsinstituts „California Institute of Technology“. Caltech war eine dieser neuen Intelligenz- und High-Tech-Einrichtungen des modernen Wissenschaftsbetriebs in Amerika. Bereits seit 1964 war Rogers dort an zwei Tagen im Monat mit einem sehr freien Beratungsauftrag tätig: Er sollte im Wesentlichen am Campus-Leben teilnehmen und in Kontakt mit den Studierenden und Wissenschaftlern das soziale und emotionale Klima in der Einrichtung beobachten. Dieser Auftrag ging auf die Idee des Leiters Robert F. Bacher zurück, der damit Sit-ins und ähnliche studentische Aktionen vorbeugend vermeiden wollte. Rogers war für diesen Job eine gute Wahl. Er hatte, obwohl er Psychologe war, unter den technologie- und naturwissenschaftlich geprägten Wissenschaftlern immerhin so viel Ansehen, dass sie ihn und seinen Auftrag respektieren konnten. Zum Caltech-Institut gehörte Roger Sperry, der Pionier der neurologischen Gehirnforschung, der sich mit den unterschiedlichen Funktionsweisen der linken und rechten Gehirnhemisphäre beschäftigte, außerdem auch Richard Feynman, der später den Nobelpreis für Physik erhielt. Das Kollegium war, wie andere Kollegien in dieser Zeit auch, gespalten durch die neuen Fragen und Diskussionen, die von der 1968er-Alternativbewegung aufgeworfen wurden. Vor allem die Frage, inwieweit die Wissenschaft und die Wissenschaftler selbst eine soziale Verantwortung für Folgen ihrer Forschungen zu übernehmen hätten, spaltete die Gemeinschaft in die Fraktionen der Traditionalisten und der Progressiven. Auch die Studenten von Caltech führten diese Debatten kontrovers. In diesem aufgeheizten Klima wurde die erfolgreiche Karriere eines jungen Wissenschaftlers schnell als stromlinienförmig denunziert. Auch unter den Studierenden, gerade unter den Ambitioniertesten und Intelligentesten, herrschte eine erhebliche progressive Aufbruchstimmung, die mit Rogers’ Visionen gut zusammengehen konnten: „Wir müssen Träume haben“ und: „Wir sollten uns mit der Zukunft beschäftigen und darüber nachdenken, wie die Erziehung in 20 Jahren aussehen könnte“, so lauteten Denkanstöße von Carl Rogers. Er fühlte sich von diesen Diskussionen mit den jungen Nachwuchswissenschaftlern angeregt und herausgefordert. Die Frage, die unter der Führung von Feynman im Kollegium und auf dem Campus diskutiert wurde, war, ob das Technologiezentrum mit seinen herausragenden Wissenschaftlern und Studenten sich entscheiden sollte, sich für alle drei großen Geheimnisse dieser Welt zuständig zu fühlen: Den Mikrokosmos, wie er mit der Kernspaltung und der subatomaren Welt
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erforscht wurde, den Makrokosmos, den Aufbruch der Menschheit in das Weltall, und die Natur der Psyche und des Geistes. Speziell der letzten Fragestellung gegenüber war die Fraktion der „Traditionalisten“ eher skeptisch eingestellt. Sie befürchtete eine Einschränkung ihrer hoch gehaltenen naturwissenschaftlichen Standards, wenn damit begonnen würde, sich mit solchen spekulativen Fragen zu befassen. In Roger Sperry fand Carl Rogers einen Verbündeten, der ebenfalls ein Interesse daran hatte, die Administration von Caltech zu bewegen, sich den gegenwärtigen öffentlichen Diskussionen und den Zeitfragen zu öffnen. Aber auch er war skeptisch, wenn es darum ging, Rogers’ Vorschlägen zu folgen, die darauf hinausliefen, die politischen und weltanschaulichen Diskussionen unter den Studierenden und den Mitarbeitern des Instituts im Setting einer Encounter-Gruppe zu führen. Schließlich gelang es Rogers doch, am 11. und 12. November 1965 mit Mitarbeitern der Fakultät eine zweitägige Encounter-Gruppe durchzuführen, die allerdings wenig Veränderung bewirkte. Die meisten der Anwesenden waren nicht bereit, in diesem Rahmen über ihre Ziele, Ideale und vor allem über ihre inneren Gefühle zu sprechen. Gleichwohl auf einer mehr kognitiven Ebene zeigte sich, dass in der Diskussion eigentlich zwei unterscheidbare Themen und Aufgabenstellungen miteinander vermischt waren: einerseits die Frage, ob Caltech sich als modernes Technologiezentrum entschließen sollte, auch die Human- und Sozialwissenschaften zukünftig zu ihrem Aufgabengebiet zu zählen, und andererseits, wie die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Arbeitsbeziehungen des Kollegiums untereinander zu stabilisieren und zu verbessern seien. Rogers hatte darum gekämpft, seinen Beratungsauftrag in der Diskussion mit dem Kollegium so auszuweiten, dass beide Fragestellungen zusammen diskutiert werden konnten. Er hätte damit gewiss eine lebendige Diskussion und Auseinandersetzung angezettelt, aber möglicherweise wenig dazu beigetragen, die Beziehungen des Kollegiums untereinander zu stabilisieren. In einem abschließenden und ausführlichen Brief an Robert F. Bacher begründete er seine Entscheidung, seine Dienste als Consultant bei Caltech einzustellen. Die gesellschaftspolitische Debatte um die Aufgaben der Wissenschaft und um die soziale Verantwortung der Wissenschaftler sowie um eine demokratische Kontrolle von Wissenschaft und Forschung begann allmählich auch die breite Öffentlichkeit zu polarisieren. Die Vorstellung, solche Debatten nicht nur kontrolliert, rational oder politisch-strategisch, sondern offen, existentiell und humanistisch auszutragen, muss Rogers sehr fasziniert und angetrieben haben. Seine Erfahrungen in Encounter-Gruppen zeigten ihm immer wieder erneut, wie sich Standpunkte und Kontro-
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versen zwischen Personen ideologisch festfuhren oder polarisierten, so lange sie nur intellektuell und rational vorgetragen wurden. Auch erlebte er immer wieder, wie solche Kontroversen in dramatischer Weise eine inhaltliche Veränderung erfuhren, wenn es den Gruppenleitern gelang, eine Atmosphäre zu erzeugen, in der die Teilnehmer nicht nur auf ihren Sichtweisen und Standpunkten beharrten, sondern ihre persönlichen Gefühle und Bedürfnisse mitteilen konnten, die sie dazu geführt hatten, diese Standpunkte einzunehmen. Eine wichtige und neue Einsicht, die bereits im Einzelgespräch der non-direktiven Beratung gewonnen worden war, wiederholte sich sozusagen auch auf der Ebene der Gruppe im zwischenmenschlichen Austausch von kontroversen Standpunkten, dass nämlich festgehaltene Gefühle und unartikulierte Bedürfnisse in zwischenmenschlichen Beziehungen Konflikte eher verhärten oder eskalieren lassen. Es ist leicht nachvollziehbar, dass Rogers, der zwischenzeitlich vom „Time Magazine“ als „Elder Statesman der Encounter-Gruppen“ bezeichnet wurde, sich ermutigt fühlte, in allen Debatten und Konflikten nachdrücklich Wert auf Transparenz, gefühlsmäßige Beteiligung und die Offenlegung der persönlichen Bedürfnisse zu legen. Dass er damit an vielen Stellen aneckte und unbequem wurde und – im Nachhinein gesehen – sicherlich auch vieles in seinem neuen Eifer und mit seiner neuen Begeisterung überzog, gehört gewiss auch in diese lebendige und gleichermaßen schwierige Zeit, in der das gesellschaftliche Gefüge insgesamt und besonders das Verhältnis der Generationen zueinander in eine neue Phase der Auseinandersetzung eintrat.
Kontroversen zu Hause Die Erfahrungen aus den Encounter-Gruppen waren für Rogers nicht nur positiv und verlebendigend, sondern zugleich auch schmerzhaft und verwirrend. Die Debatte mit den Wissenschaftlern von Caltech hatte Carl auch innerhalb der Familie mit seinem Schwiegersohn Larry auszutragen, der ihn früher, beispielsweise bei der Vorbereitung der Skinner-Debatte, intellektuell unterstützte hatte. Nun nahm er zu den Projekten eine eher kritische Haltung ein. Er glaubte, in Rogers’ neuem Ansatz eine neue Form von „Reduktionismus“ zu erkennen, der darin bestehe, dass er nunmehr Gedanken und intellektuelle Standpunkte auf Gefühle reduziere. Als Politikwissenschaftler konnte Larry mit Rogers übereinstimmen, dass Gedanken und Gefühle miteinander verbunden sind und dass es wichtig sei, diese Verbindungen zu sehen und zu verstehen. Aber er betonte
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gleichzeitig die Notwendigkeit, Texte von Karl Marx, Max Weber usw. zu lesen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, ohne zu wissen, vor welchem gefühlsmäßigen Hintergrund diese zu ihren Gedanken und Theorien gekommen seien. Zu allem Überfluss kam hinzu, dass die Ehe zwischen Larry und Natalie im Scheitern begriffen war und Natalie verzweifelt versuchte, sich von ihrem Mann und vor allem von ihrer Rolle als aufopfernde Mutter und fürsorgliche Gattin zu emanzipieren. Von schweren Depressionen, Todesphantasien und starken Schuldgefühlen getrieben, so schrieb sie später in ihrem Buch, war sie in eine Situation gelangt, in der sie sich das Leben nehmen wollte. Sie suchte therapeutische Hilfe auf.13 Die Auseinandersetzung zwischen Natalie und Larry konnte von professionellen Paarberatern nicht aufgefangen werden. Natalies Einzeltherapie führte dazu, dass sie sich rasch erholte, was zugleich die Trennung und die Auflösung der Ehe bedeutete. So gab es auch innerhalb der Familie Rogers die Debatte, die Rogers außerhalb in der Polarisierung von Akademikern und humanistischen Psychologen führte. In einer Notiz über die Auseinandersetzung mit Larry hielt er diese Meinungsverschiedenheit fest: „Ich kann alle möglichen Gefühle und Empfindungen von Larry akzeptieren, aber ich will seine Ideen nicht mit ihm diskutieren müssen, wenn er sie nicht in einen explizierten Kontext von seinen eigenen Gefühlen und Emotionen einbezieht.“ Die Auswirkungen der Encounter-Bewegung hatte auch deutliche Veränderungen in der Beziehung zwischen Carl und Helen zu Folge. Während Carl in seinen Aktivitäten zusammen mit den jungen begeisterten Anhängern aufblühte und eine neue Aufgabe und neue Herausforderungen gefunden hatte, war Helens Leben als Ehefrau und Mutter in den letzten Jahren schmerzhaft leer geworden. Bis Anfang und Mitte der 1960er Jahre hatte sie Carl noch auf den Fernostreisen begleitet, sie hatten zusammen Urlaub gemacht und alles sah wunderbar aus, aber nun begannen sich die Dinge langsam, aber deutlich zu verändern. Beide hatten unterschiedliche Einstellungen zur sexuellen Revolution, die ein Bestandteil sowohl der Encounter-Bewegung als auch der gesamten jungen Alternativbewegung 13 Eine ausführliche Darstellung der Entdeckung von „Was es heißt, ich zu sein“ findet sich in dem Buch von Natalie Rogers, das sie nach dem Tod ihrer Mutter Helen 1980 veröffentlichte: ›Ich hab ein Recht auf mich‹ lautet der Titel der deutschen Ausgabe 1983. Carl Rogers stellt die Struktur der Ehe- und Paarproblematik von Natalie und Larry als einen sehr typischen Verlauf bereits 1972 unter dem Pseudonym von Jennifer und Jay dar (Rogers 1972/1992, S. 19 ff.): Der Verlust des Selbst, so lautete seine Diagnose dieser Paarbeziehung.
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war. Auch führte Natalies Krise mit Larry zu einer engeren Beziehung zwischen Vater und Tochter, während sich die Beziehung zwischen ihr und Helen merklich abkühlte. Neben den familiären Beziehungen eskalierte auch die intellektuelle Auseinandersetzung. Larry wurde dem person-zentrierten Ansatz gegenüber sehr kritisch, weil Richard Farson in einem Artikel Caltech mit Auschwitz verglichen und die dort Studierenden als „Nigger“ und „Sklaven“ bezeichnet hatte. Larry hielt diesen Vergleich für mehr als unangemessen, Rogers dagegen trat dafür ein, dass der Artikel die wirklichen Gefühle Farsons zum Ausdruck brachte. Die Auseinandersetzung eskalierte schließlich, als Larry die Erfahrungen der Encounter-Gruppe als eine Chance für „tiefe Beziehungen ohne Verantwortung“ kritisierte. Nachdem auch noch Sohn David eine Herzattacke erlitten hatte, bilanzierte Rogers 1968 als ein alles in allem schreckliches Jahr. Auch im folgenden Jahr hielten die familiären Belastungen an: Carl fühlte sich insbesondere zuständig, David zur Seite zu stehen, der sich in seiner Beziehung zu Corky zunehmend unglücklich fühlte und zugleich unfähig schien, die Beziehung aufzulösen. Carls Blutdruck stieg wieder an, Helens Arthritis wurde schlimmer, und sie musste ins Krankenhaus. Dass schließlich der Republikaner Richard Nixon 1969 zum Präsidenten gewählt wurde und die Demokraten die Meinungsführerschaft in den Staaten verloren, machte die Aussichten für die unmittelbare Zukunft nicht rosiger.
Das „Center for the Studies of the Person“ (CSP) Im WSBI hatte sich eine inhaltliche und politische Neuorientierung abgezeichnet. Farson hatte sein Amt als Direktor aufgeben. Der Physiker Paul Lloyd hatte als Mitbegründer und Finanzier des Instituts nun die Direktion übernommen und setzte neue Führungsstrukturen durch. Er beendete damit das humanistische Wissenschaftsexperiment. Aller Protest half nichts und Rogers zog mit 25 Kollegen vom WBSI aus, um seinen basisdemokratischen Vorstellungen eine neue Gestalt zu geben. Er gründete mit ihnen das „Center for the Studies of the Person“ (CSP). Rogers blieb diesem bis heute existierenden Zentrum bis zu seinem Tod im Jahr 1987 als „Resident Fellow“ verbunden. Das Zentrum zählte bald 40 Mitglieder aus unterschiedlichen Fachrichtungen. Die Gründungsmitglieder waren sich in ihrem paradoxen Motiv einig, eine Organisation in einer legalen Rechtsform zu gründen, deren inneres Wesen eine „Nicht-Organisation“ sein sollte. Alle Mitglieder der Organisation sollten die gleiche Stimme in der Leitung der Organisation
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haben, und die notwendigen Vertretungen nach außen sollten von dem Posten eines „Nicht-Direktors“ erledigt werden, der nach dem Rotationsprinzip temporär von jedem Mitglied besetzt werden sollte. Die Aufgabe des CSP sollte darin bestehen, die Mitglieder in ihrer erfahrungsbezogenen Erforschung der menschlichen Entwicklung zu unterstützen und soziale Projekte anzuregen und zu betreiben, die von den Mitgliedern ins Leben gerufen wurden und mit denen sie auch als „Non-Profits“ ihren Lebensunterhalt bestreiten wollten. Das Zentrum ist die institutionelle Gestalt für die utopischen und basisdemokratischen humanistischen Ideen und Visionen, die Rogers immer angetrieben haben. Viele sehr unterschiedliche Projekte wurden in ganz individueller Verantwortung der jeweiligen Mitglieder ins Leben gerufen: Innovationen in der Erziehung und im Erziehungswesen, Drogenmissbrauch bei Jugendlichen, das La-Jolla-Programm zur Ausbildung von Gruppenleitern, das Projekt für interkulturelle und multiethnische Begegnungen, das Zentrum für Forschungsdesigns, das Carl Rogers Peace Project usw. Allein auf die Faszination der Projektideen und auf die Kreativität und das persönliche Engagement der Mitarbeiter gestellt, entwickelten diese umfangreiche soziale, politische und humanistische Aktivitäten. Mit dem CSP als kollegialer Basis konnte Rogers noch weitere 20 Jahre lang beruflich aktiv bleiben. Von hier aus gingen, in der Zeit nach Helens Tod, schließlich auch seine weltweiten Friedensaktivitäten und seine Missionsarbeit für eine person-zentrierte Lebensweise aus. Der große Vorteil von Rogers’ Arbeit am „Center for the Study of the Person“ war der informelle Charakter und die persönliche Vertrautheit der Kollegen untereinander, aber auch, dass Rogers die meisten seiner Projekte und Aktivitäten auch von zu Hause aus betreiben konnte. In der 1970er Jahren verschlechterte sich Helens Gesundheitszustand nach einem Magen- und Darmdurchbruch zunehmend, so dass Carl neben seinen Projekten nun auch „rund um die Uhr“ mit der Krankenpflege ausgelastet war. Er selbst hatte nach wie vor zu hohen Blutdruck, eine Infektion am Auge und in der letzten Zeit begonnen, vermehrt Alkohol zu trinken. Gleichwohl brachte er die Energie auf, auch 1970 ein weiteres Buch zu veröffentlichen: ›Carl Rogers: On Encounter Groups‹ (deutsch: ›Encounter-Gruppen. Das Erlebnis der menschlichen Begegnung‹, 1974). Er gibt darin einen erlebnisnahen und praktischen Einblick in das Prozessgeschehen der Encounter-Gruppe. Er erläutert die Leitungsprinzipien, stellt Forschungsergebnisse vor und benennt die Anwendungsbereiche, die er für die Encounter-Gruppen sieht. Der Blick in die Zukunft schließt auch die Erziehung und Pädagogik ein. Die Ausbildung von geeigneten Gruppenleitern ist ihm wichtig, und er formuliert auch die
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Helen und Carl Rogers 1972 (aus: J. Wood, 1970, S. 19; Foto J. Wood).
ersten Gefahren und Schwächen der in den letzten Jahren populär gewordenen Encounter-Bewegung: „Ich habe bereits gehört, dass Gruppen, die sich auf persönliches Wachsen konzentrieren, Teilnehmer zugunsten jener Gruppen einbüßen, die sich auf das Charisma ihres Leiters berufen oder Gelegenheit zu körperlichem Kontakt mit Mitgliedern beider Geschlechter bieten. In dem Maße, in dem diese Entwicklung den Vortritt hat, kann der Begriff ‚Encounter-Gruppe‘ zu einem Schimpfwort werden, ähnlich wie es vor Jahren dem Begriff der ‚progressiven Erziehung‘ erging. Es lohnt sich vielleicht, diese Parallele näher zu betrachten. Da progressive Erziehung ungemein populär wurde und immer mehr von Extremisten und Leuten mit wenig oder gar keinem Verständnis für die grundlegenden Prinzipien vertreten wurde, tat die Öffentlichkeit sie in Acht und Bann, und keine Schule wollte etwas damit zu tun haben. Heute wüsste ich keinen Erzieher, der öffentlich zugeben würde, dass er für eine progressive Erziehung eintritt. Daher ist sie scheinbar ausgestorben. Aber fast jede Veränderung, die in den letzten Jahrzehnten im Erziehungsbereich stattgefunden hat, lässt sich auf das Denken von John Dewey und auf die Prinzipien zurückführen, die der progressiven Erzie-
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hung zugrunde liegen. Ich kann mir gut vorstellen, dass es den Encounter-Gruppen, dem Sensitivitäts-Training und allen anderen Gruppen ähnlich ergehen könnte. Man würde sie verdammen, und damit stürben sie aus. Aber die wichtigsten Elemente – die Entstehung von Vertrauen in kleinen Gruppen, das Mitteilen des Selbst, das Feedback und der Sinn für Gemeinschaft – würden bleiben und unter anderen Bezeichnungen zu jenen Veränderungen und zu jener Kommunikation führen, die wir alle so dringend brauchen“ (Rogers 1970/1974, S. 154 f.). Diese weise Voraussage trat schließlich wie befürchtet ein: Die Kommerzialisierung der Gruppenbewegung und die autoritäre Rückentwicklung der Gruppenbewegung zu leitungszentrierten Show-Veranstaltungen waren von Rogers als Gefahr zu Recht benannt worden. Auch dieses Buch von Rogers verkaufte sich blendend. Es gingen sehr rasch mehr als 250 000 Exemplare über den Ladentisch. Rogers war damit nun auch als Schriftsteller populärer psychologisch-pädagogischer Bücher ein prominenter Autor geworden.
Für eine person-zentrierte Pädagogik John K. Wood fragte Rogers in einem Interview 1970, was er denn, wenn er heute 17 Jahre alt wäre, tun würde: „Ich würde irgendwie ein Sozial-Aktivist sein; irgendwie ein Rebell, vermute ich. Gegen das Establishment. Ich glaube nicht, dass ich mit Drogen experimentieren würde, das wäre gegen meine Bedürfnisse, mich unter Kontrolle zu haben. Ich glaube, vielmehr würde ich heute mehr gegen Erziehung rebellieren, als ich es damals gemacht habe“ (Wood 1970: 20). Von diesem Thema fühlte sich Rogers in diesen Jahren sehr stark angesprochen. Er war immer schon begierig darauf, mit seiner klient-zentrierten Hypothese auch im Schul- und Bildungswesen Einfluss zu nehmen. Speziell die Erfahrungen in den Encounter-Gruppen, dass nämlich unter den Teilnehmern eine wachsende Offenheit, ein wachsendes Verständnis füreinander und eine zunehmende Bereitschaft, sich entwickelnde Konflikte in einer konstruktiven Weise zu klären, wollte er für die Humanisierung der Erziehung in den Schulen nutzen. Nach aufwändigen Planungen und engagierten Diskussionen gelang es Rogers und seinen Mitstreitern tatsächlich, ein Schulsystem zu finden, das sich auf einen solchen Prozess der Erneuerung einlassen und entsprechende Sponsoren und Geldmittel einwerben wollte, so dass ein Mitarbeiterstab des CSP sich in einem größeren Schulverband längerfristig engagieren konnte. Es war ein Schulkomplex des Ordens der „Schwestern des un-
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befleckten Herzens“ in Los Angeles. Carl Rogers und 20 Kollegen des CSP waren über mehrere Jahre hinweg damit beschäftigt, in diesen Schulen und mit der Lehrerschaft Encounter-Gruppen durchzuführen und humanistisch inspirierte Trainings- und Fortbildungsmaßnahmen zu veranstalten. Was ursprünglich ein Traum war, so schreibt Rogers, „ist nun zu einem Projekt geworden, das dabei ist, in die harte Realität umgesetzt zu werden“ (Rogers 1969/1974, S.315). Ein ähnliches Projekt wurde von Newman Walker und Karl Foster in Louisville, Kentucky, im öffentlichen Schulsystem gestartet, mit dem Ziel, einen selbstbestimmten Wandel und neue Motivation in den bankrotten städtischen Schulen zu initiieren. Rogers erhielt eine Einladung als Consultant und besuchte Louisville öfter, um sich mit dem Kollegium, den Verwaltungsbeamten der Schulaufsicht und den Studenten und Schülern zu treffen. Eine gute Einsicht in Rogers’ Vorstellungen von Pädagogik bieten seine Essays und Vortragsschriften der damaligen Zeit. Ein Vortrag, der in dem Handbuch ›Humanizing education‹ 1967 veröffentlicht wurde, beginnt mit einer provokanten Feststellung: „Und zwar glaube ich schlicht, dass Lehren eine weitgehend überschätzte Tätigkeit ist. (…) Nachdem ich eine solche Behauptung aufgestellt habe, greife ich hastig zum Lexikon, um zu sehen, ob ich auch wirklich meine, was ich sage. Lehren bedeutet ‚Unterweisen‘. Ich für meinen Teil interessiere mich nicht dafür, einen anderen darin zu unterweisen, was er denken und wissen sollte. ‚Wissen oder Können übermitteln‘. Meine Reaktion darauf ist: Warum nicht gleich viel effektiver sein und ein Buch oder programmiertes Lernen verwenden? ‚Dazu bringen, etwas zu wissen‘. Hier stehen mir die Haare zu Berge: Ich habe kein Verlangen danach, irgendjemand dazu zu bringen, etwas zu wissen. ‚Anweisen, führen, lenken‘. So wie ich die Dinge sehe, sind viel zu viele Menschen angewiesen, geführt und gelenkt worden. So komme ich zu dem Schluss, dass ich tatsächlich meine, was ich sage. Für mich ist Lehren eine ziemlich unwichtige und weitgehend überbewertete Tätigkeit“ (Rogers 1969, 1974, S. 104). Er geht in seinen Ausführungen sogar noch weiter und kritisiert, dass die Orientierung am Lehren „die falschen Fragen“ stellt, nämlich „Was sollen wir lehren?“, „Was muss der andere wissen?“. Schließlich, so meint er, kommt dazu auch noch die „lächerliche Frage nach dem Stoffpensum“. Dass Rogers damit die zentralen Bastionen der Schulpädagogik und vor allem der für die Lehrerausbildung zuständigen Didaktik angreift, war ihm selbst unheimlich. Das Argument, mit dem er alle diese zentralen Fragen eines ganzen Berufsstandes beiseite schiebt, ist die, nach seiner Meinung falsche, Annahme, „dass das, was gelehrt, auch gelernt, dass das, was da geboten, auch ver-
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arbeiten wird. Ich kenne keine so offensichtlich falsche Annahme. Man braucht keine Untersuchungen, um den Beweis zu liefern, dass sie falsch ist. Man braucht sich nur mit ein paar Studenten zu unterhalten“ (ebd., 105). Wie stark sich sein soziales Engagement in den letzten Jahren entwickelt hatte, zeigt sich in der zusammenfassenden Schrift, die er 1969 veröffentlichte und in der er sehr offensiv im Erziehungsbereich für seine humanistischen Utopien warb: ›Freedom to Learn: A View of What Education Might Become‹ (deutsche Ausgabe: ›Lernen in Freiheit. Zur Bildungsreform in Schule und Universität‹, 1974). Seit seiner Tätigkeit im WBSI und auch durch seinen Beratungsauftrag bei Caltech, vor allem aber durch die unmittelbare Nähe und Auseinandersetzung mit den jungen Menschen in Kalifornien und durch die Erfahrungen in den Encounter-Gruppen hatten sich Rogers’ Auffassungen über Erziehung noch einmal deutlich radikalisiert. Als Lehrer und Missionar, der er immer schon war, fühlte er sich in dieser besonderen Zeit kritischer Erneuerung zuständig und verantwortlich, schnell Konzepte und Methoden zur Veränderung des Erziehungswesens anzubieten. „Das fiel besonders meiner tüchtigen Sekretärin, Fräulein Wetlaufer, auf. Sie stellte fest, dass der Termin, zu dem jedes Kapitel getippt sein sollte, eigentlich schon ‚vorgestern‘ war! Mir selbst war diese Eile rätselhaft. Hatte ich denn das Gefühl einer Mission, irgendeine Vorstellung, dass ich die Erziehung ‚retten‘ könnte?“, schreibt Rogers dazu in seinem Vorwort. Im Buch stellt er seine Auffassung von persönlich bedeutsamem (signifikantem) Lernen vor. Er erläutert an konkreten Praxisbeispielen von Lehrern aus amerikanischen Schulen, aber auch an Beispielen von Hochschulkollegen aus akademischen Veranstaltungen, wie Lehr-Lern-Situationen in person-zentriertem und schüler-zentriertem Kontext aussehen können, und er nennt die neuen Herausforderungen, die der gesellschaftliche Wandel auch für die Erziehung und für das Erziehungswesen bedeutet: „In der Welt, mit der wir es bereits zu tun haben, muss es das Ziel der Erziehung sein, Individuen zu entwickeln, die dem Wandel gegenüber offen sind. Nur solche Persönlichkeiten können konstruktiv den Schwierigkeiten einer Welt begegnen, in der Probleme schneller entstehen werden als die Antworten darauf. Das Ziel der Erziehung muss eine Gesellschaft sein, in der die Menschen mit der Veränderung zufriedener leben können als mit starren Gegebenheiten. In Zukunft wird es wichtiger sein, sich gegenüber Neuem angemessen verhalten zu können, als Altes zu wissen und zu wiederholen. Ein solches Ziel schließt aber wiederum mit ein, dass die Erzieher selbst offen und flexibel sind, dass sie selbst an den Veränderungsprozessen effektiv teilnehmen. (…) Es muss ein Weg gefunden werden, um in-
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Carl Rogers als Sprecher auf der Library College Conference (CSP) im Palace Hotel, San Francisco; Thema: „Bringing together Ideas and Feelings“ (aus: Rogers 1972a).
nerhalb des gesamten Bildungssystems und seiner einzelnen Bereiche ein Klima zu entwickeln, das Persönlichkeitsentfaltung fördert, in dem Innovationen keine Angst auslösen, in dem die kreativen Kräfte von Administratoren, Lehrenden und Lernenden eher unterstützt und freigesetzt als unterdrückt werden“ (Rogers 1969/1974, S. 291). Einen Erfolg versprechenden Weg zur Verbesserung der Lernsituation von Kindern in der Schule sieht Rogers darin, Gedanken und Gefühle im Lernprozess zusammenzubringen. Er wirbt für diese Idee in zahlreichen Vortragsveranstaltungen. Einen entsprechenden Aufsatz veröffentlicht er 1972 in der Zeitschrift „Learning Today“. Es ist die Intensivgruppe, die Encounter-Gruppe, für die Rogers im Schlusskapitel des Buches wirbt, wenn es darum geht, ein Programm für einen institutionellen Wandel vorzulegen. Die Intensiv-Gruppe preist er an als Instrument und Mittel auch und gerade für die pädagogische Arbeit in den Schulen, um die, wie er meint, konservativste aller gesellschaftlichen Einrichtungen, das Erziehungs- und Bildungswesen, zu flexibilisieren und zu modernisieren. In seiner Begeisterung für die Gruppe als neues Medium sozialer Veränderungen schlägt er folgende Gruppen vor: eine Intensiv-Gruppe für Direktoren und Administratoren, eine IntensivGruppe für Lehrer, eine Encounter-Gruppe für die Schulklasse, eine Intensiv-Gruppe für Eltern und eine Intensiv-Gruppe vertikaler Art, in
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der Personen aus der gesamten Bandbreite der Schulhierarchie Teilnehmer sind. Das Buch selbst ist ein eindringliches Plädoyer für ein selbstbestimmtes und erfahrungsbezogenes Lernen. Es erweitert seine bisherigen Ausführungen zu John Deweys Projekt-Lernen und die Methode des von Rogers bereits 1951 vorgestellten schüler-zentrierten Unterrichts um die Dimension der Selbsterfahrung und um die Dimension des sozialen Lernens in zwischenmenschlichen Beziehungen im Stil der Encounter-Gruppe. Wie die meisten seiner Werke finden seine Ausführungen unter den praktizierenden Pädagogen reißenden Absatz und eine begeisterte Aufnahme und stoßen gleichzeitig bei den Fachleuten und den Verantwortlichen für das Schul- und Bildungswesen eher auf Zurückhaltung, bei Akademikern und Gelehrten gelegentlich gar auf beißende Kritik. Die Erfahrung von Lehrern, die Rogers als Beispiele vorstellt, sind nicht neu. Die Geschichte der Schule und der Schulpädagogik ist voll von engagierten Einzelprojekten und reformpädagogischen Handlungskonzepten, mit denen es engagierten Lehrerinnen und Lehrern vor Ort, in ihrer besonderen Situation und mit ihrem speziellen Wissen und Können, immer wieder neu gelingt, trotz des normierenden Einflusses von Schulaufsicht und Schulbürokratie lebendiges Lehren und signifikantes Lernen mit ganz unterschiedlichen Konzepten möglich zu machen. In gewisser Weise, so gesteht Rogers auch in der Einleitung von ›Lernen in Freiheit‹ zu, seien viele seiner Vorschläge eine Wiederentdeckung bekannter Lehr- und Lernformen aus der Reform-Pädagogik von John Dewey, die augenscheinlich von den konservativen Institutionen Schule und Universität immer wieder „vergessen“ und „verdrängt“ worden seien. Die Aufforderung an die Lehrer, die Rogers von seinem person-zentrierten Ansatz aus formuliert, geht jedoch ein Stück weiter: „Vergiss, dass du Lehrer bist! – Carl Rogers sagt dir warum!“, so heißt die prägnante Zusammenfassung seiner neuen Botschaft, mit der er die Lehrer ermuntern will, aus ihrer Rolle hervorzutreten und zu den Kindern eine persönliche Beziehung aufzubauen. Speziell Grundschullehrern und Grundschullehrerinnen schlägt er vor, ihre Aufgabe als „Facilitating Learning“ (das Lernen fördern) aufzufassen: Sie sollen den Kindern dabei zu helfen, ihre Neugier zu stillen, die Schule als ihre eigene zu erleben und Gefühle von Aggression und Wertlosigkeit zu überwinden.
Vom Fluch und Nutzen des Ruhms Alle diese Aktivitäten führten dazu, dass Rogers auch Anfang der 1970er Jahren rund um die Uhr aktiv und geschäftig war. An seinem 70. Geburtstag berichtete er seiner Familie und seinen Freunden, wie ein
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typischer Arbeitstag für ihn aussieht. Er besteht aus zahlreichen, z. T. endlosen Telefonanrufen von Menschen, die entweder Teilnehmer seiner Encounter-Gruppen waren oder seine Bücher gelesen hatten und ihm etwas „Wichtiges zu sagen hatten“, oder es gab Verehrerpost, Verhandlungen mit den Herausgebern und Verlagen, Filmemachern, Radiostudios. Außerdem hatte er Helen zu umsorgen und arbeitete gerne im Garten. Wenn es ihm gelang, mit Helen abends zum Essen oder ins Kino auszugehen, konnte es gut passieren, dass nach 23.00 Uhr noch jemand anrief und seine gegenwärtigen Gefühle über ›On Becoming a Person‹ oder über sein Buch ›Carl Rogers: On Encounter Groups‹ mit ihm teilen wollte. War Rogers außerhalb unterwegs, dann leitete er Encounter-Gruppen, die oft auf Video aufgezeichnet wurden oder im Fernsehen in Ausschnitten gesendet wurden, er gab Demonstrationssitzungen seiner person-zentrierten Therapie mit Freiwilligen vor einer größeren Zuhörerschaft usw. Anfang der 1970er Jahre hatte die Zeitschrift „Psychology Today“ etwas mehr als eine Million Leser, und Rogers’ Bücher erreichten ebenfalls ähnliche Auflagenhöhen. Helen begann sich darüber zu ärgern, dass alle Anerkennung nur noch ihm galt. Er wurde beweihräuchert und geehrt und war bald ein „Guru“ in der Encounter-Bewegung. Rogers selbst hat in seinen persönlichen Aufzeichnungen einige Inhalte dieser familiären Auseinandersetzungen festgehalten: Natalie mache sich zunehmend Sorgen darüber, dass ihr Vater zu viel Alkohol trank. Helen lästerte, dass die jungen Anhänger Carl „fast wie einen Gott“ behandelten. Aber Carl nutzte seinen Ruhm auch, um für die humanistischen Anliegen zu streiten. Er war noch immer Mitherausgeber der „Zeitschrift für Humanistische Psychologie“, und er engagierte sich zunehmend für soziale und politische Probleme. Auch mit seiner Kritik an den etablierten Berufs- und Fachverbänden hielt er nicht hinter dem Berg. 1972 war er eingeladen, auf dem Jahrestreffen des amerikanischen Berufsverbandes der Psychologen (APA) in Honolulu einen zentralen Vortrag zu halten. Der „Verband der Humanistischen Psychologie“ (AAHP) hatte im gleichen Zeitraum, ebenfalls in Honolulu, sein 10. Jahrestreffen. Auch hier sollte Rogers einen Vortrag halten. Er nutzte beide Auftritte souverän. Als „Elder Statesman“ rechnete er in seinem Vortrag „Neue Herausforderungen“ mit seinen Kollegen von der akademischen Seite ziemlich gnadenlos ab. Hat die Psychologie als akademische Wissenschaft den Mut, sich den Verlockungen des naturwissenschaftlichen und des medizinischen Paradigmas zu entziehen, um sich zu einer neuen Wissenschaft vom Menschen weiterzuentwickeln?, fragte er. Und: Bringt sie den Mut für neue Entwürfe und gesellschaftsveränderndes Engagement auf, oder wird sie nur bestehende Ausbildungstraditionen pflegen, sich an den Medizinern orientieren und Pfründe besetzen wollen?
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Rogers’ Kritik in dieser Sache war wie immer radikal! Sein Vorschlag lief darauf hinaus, den eingeschlagenen Kurs der Professionalisierung des Psychologenberufs zu stoppen und andere, wie er meinte, geeignetere Wege zur „Qualitätssicherung“ einzuschlagen als die tradierten Examensformen, die fachspezifischen Promotionsrituale und ähnliche Prüfungsformen, dies in der Hoffnung, dadurch Kompetenz und Scharlatanerie voneinander trennen zu können: „1947, als ich Präsident der ‚American Psycholocial Association‘ (APA) war, war ich daran beteiligt, den ABEPP (‚American Board of Examiners in Professional and Psychology‘), wie er damals genannt wurde, zu gründen. Meine Gefühle damals waren zwiespältig. Heute wünschte ich, ich hätte mich dagegen gestellt. (…) Sobald wir Prüfungsbestimmungen erlassen, sei es für klinische Psychologen, NTL-Gruppenleiter-Trainer, Eheberater, Psychiater, Psychoanalytiker oder, wie ich neulich erfuhr, für psychische Heiler – der erste und größte Effekt ist der, dass der Beruf auf ein Vergangenheitsimage festgelegt wird. Dieses Ergebnis ist unvermeidlich. Was kann man für die Prüfungen heranziehen? Offensichtlich die Fragen und Tests, die in den letzten ein- oder zwei Jahrzehnten benutzt wurden. Wer ist klug genug, um Prüfer zu sein? Offensichtlich derjenige, der 10 oder 20 Jahre Erfahrung hat und der deshalb seine Ausbildung vor 15 oder 25 Jahren begonnen hat. Ich weiß, wie sehr diese Leute versuchen, auf dem Laufenden zu bleiben, aber sie hinken immer hinterher. (…) Den zweiten Haken an der Sache sehe ich mit Sorge. Es gibt eben so viele geprüfte wie ungeprüfte Scharlatane und Ausbeuter. (…) Der dritte Haken an der Sache ist, dass der Drang nach Professionalisierung eine starre Bürokratie hervorruft. (…) Bürokratische Regeln werden zum Ersatz für ein vernünftiges Urteil. Jemand wird abgewiesen, weil er ‚nur‘ 150 Stunden Lehrtherapie hat, während ein anderer zugelassen wird, weil man 200 braucht. Der Effektivität eines Therapeuten oder der Qualität seiner Arbeit oder der Qualität seiner Supervision wird keinerlei Bedeutung geschenkt“ (Rogers 1977/1980, S.163f.). In seinen weiteren Ausführungen macht sich Rogers stark für eine Qualität der Hilfe, die aus der unmittelbaren personalen Begegnung und aus den unmittelbaren menschlichen Fähigkeiten zur Gestaltung einer solchen Beziehung resultiert. Er scheut sich nicht, auf dem Podium eines Berufsverbandes darauf hinzuweisen, dass er viele „Laienhelfer“ kennengelernt habe, die in vielen Bereichen, seien dies Drogenprobleme, Ehe- und Familienstreitigkeiten, Sexualberatung, eine gute und effektive Arbeit geleistet hätten, ohne ein akademisches Diplom vorweisen zu können. „Ich denke auch an meine Erfahrungen in Gruppen, wo die so genannten ‚naiven‘ Teilnehmer im Umgang mit schwierigen Personen oder Situationen oft eine innere Weisheit besitzen, die weit über meine oder diejenige jedes
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professionellen Helfers hinausgeht. Dies ist eine ernüchternde Erfahrung. Oder, wenn ich an die besten Leiter von Ehepaar-Gruppen denke, dann fallen mir ein Mann und eine Frau ein, von denen keiner auch nur den geringsten Qualifikationsnachweis in Form eines Stückes Papier vorweisen konnte“ (ebd., S. 164). Er empfiehlt im Weiteren, der Berufsverband der Psychologen solle sich darauf konzentrieren, diesen in besonderer Weise hervorragenden Personen Unterstützung und Hilfe zu geben, statt eine Bürokratie und entsprechende Prüfungsrituale aufzubauen, die solche Menschen ausschließen. „Wenn wir uns fragen, wie die amerikanischen Ärzte zu dem Ruf gekommen sind, geldgierige Reaktionäre zu sein, … dann kommen wir kaum um die Erkenntnis der Tatsache herum, dass die ‚American Medical Association‘ (AMA) dieses Image selbst langsam, wenn auch unbeabsichtigt in der Öffentlichkeit geschaffen hat. Dennoch war das ursprüngliche Ziel der AMA, qualifizierte Ärzte zu beglaubigen und zuzulassen, die Öffentlichkeit vor Quacksalbern zu schützen. Es tut mir weh, wenn ich sehe, dass die Psychologie den gleichen Weg einschlägt“ (ebd., S. 165).
›Becoming Partners‹ oder: Die offene Ehe Seine therapeutischen, persönlichen und familiären Beziehungserfahrungen der letzten Jahre verarbeitete Carl in einem 1972 erschienenen Buch mit dem Titel ›Becoming Partners: Marriage and its Alternatives‹ (deutsch: ›Partnerschule. Zusammenleben will gelernt sein. Das offene Gespräch mit Paaren und Ehepaaren‹, 1975). Es erschien im selben Jahr wie das Buch des Anthropologenehepaars Nena und George O’Neill. Unter dem Titel ›Die offene Ehe. Konzept für einen neuen Typus der Monogamie‹ stellte das Ehepaar darin einen psychologischen Ratgeber vor, in dem in acht „Richtlinien“ konkrete Ratschläge und Empfehlungen gegeben werden, wie eine traditionelle Ehe in eine offene verwandelt werden kann. In der „Szene“ wurde Rogers’ Buch als die konservative Variante zu O’Neills Werk betrachtet. Beide Bücher erreichten rasch traumhafte Auflagenzahlen von weit über 250 000 Exemplaren allein in den USA.14 Mit In Deutschland fand das Werk der O’Neills einen ebenfalls reißenden Absatz: als Taschenbuch in drei Jahren 190 000 Exemplare. Rogers’ Werk kam dagegen im Kindler-Verlag 1975 in der Übersetzung und in der äußeren Form behäbig und ein wenig schulmeisterlich daher. Der deutsche Titel ›Partnerschule. Zusammenleben will gelernt sein. Das offene Gespräch mit Paaren und Ehepaaren‹ verlieh dem Werk eine pädagogisch-moralisierende Attitüde. 14
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dem Abstand von 30 Jahren tritt heute deutlich hervor, wie viel existenzieller und ehrlicher, aber auch offener und sensibler Rogers dieses zerbrechliche und kostbare Thema der Paarbeziehung vor dem Hintergrund der Erfahrungen in seiner Ehe, in den Ehen seiner Kinder und in den Ehen anderer Menschen, die er in Encounter-Gruppen oder als Paarberater kennengelernt hatte, thematisiert. Es ist keine schnelllebige Ratgeberliteratur, wie es der damaligen Szene und der amerikanischen Lebensform erst recht entsprochen hätte. Rogers verführt nicht zu der naiven Haltung, dass in sieben Schritten und mit zwölf Übungen ein Paar zu einer offenen Kommunikation geführt werden könne. Stattdessen zeigt er, wie in allen seinen Büchern, anhand von Gesprächsprotokollen und Briefen, die er erhalten hat, an eigenen Erfahrungen, die er mit Helen gemacht hat, wie unterschiedlich Menschen mit ihrem Zusammenleben umgehen und wie sie ihr Zusammenleben gestalten, Krisen bewältigen, Gemeinsamkeiten finden und Schmerzen bearbeiten. Er erweitert die Thematik durch Fallberichte und Beobachtungen von anderen Ehen, von Menschen, die Teilnehmer in Encounter-Gruppen waren und die die Auswirkungen dieser Gruppenerlebnisse auf ihre Partnerschaft in diesen Briefen reflektierten. Er thematisiert, dass in einer modernen und sich verändernden Welt auch die Institution Ehe und damit das Zusammenleben der Geschlechter wie auch die Aufzucht der Kinder sich ändert, und zeichnet diesen Prozess im subjektiven Erleben der Personen nach. Rogers steckte in vielerlei Hinsicht zwischenzeitlich selbst tief in krisenhaften Beziehungskonstellationen und hat vieles, von dem er schreibt, auch selbst durchlebt.15 Wie immer enthält sich Rogers jeglicher Ratschläge, was zu tun sei. Und trotzdem bleibt er als Autor für den Leser als eine konkrete Person in der ihn kennzeichnenden Weise spürbar. Es ist interessant, Überlegungen darüber anzustellen, wie unterschiedlich 15 Rogers versucht sich als der Autor Klarheit und Distanz zu diesen Verwicklungen zu verschaffen. In gewissem Sinne bewegt er sich als Psychologe, der er ist, wie ein anthropologischer Feldforscher „in der Szene“, die ihn berührt und von der er sich berühren lässt, um seine Eindrücke und Erfahrungen zu ordnen und zu systematisieren. Er hat es anderen überlassen, einen psychologischen Ratgeber zu verfassen. Es ist typisch für die Offenheit der damaligen Zeit, dass die Grenzen der wissenschaftlichen Fachdisziplinen transparent und in Frage gestellt wurden. Im revolutionären Aufbruch und unter der humanistischen Idee vom ganzen Menschen, der prinzipiell nicht von Einzeldisziplinen erforscht werden kann, war es nichts Ungewöhnliches, dass ein Psychologe in und mit den Methoden der Anthropologie arbeitete (ohne davon ein methodisch entwickeltes Bewusstsein zu haben) und ein Anthropologe seine Betrachtungen plötzlich zu psychologischen Ratschlägen ausformulierte (ohne methodisch zu merken, was er da eigentlich macht).
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die existentielle Ausgangsposition der Autoren der beiden genannten Bücher war und inwieweit diese in die Konzeption und die Inhalte der Texte hineinwirkte: Die O’Neills schrieben Anfang der 1970er Jahre ihr Buch als ein Paar, das bis dahin bereits 28 Jahre verheiratet war. Sie waren etwa 20 Jahre, also fast eine Generation, jünger als Carl und Helen Rogers und hatten zu dieser Zeit zwei erwachsene Kinder (Söhne), die bereits aus dem Hause waren. Sie erfüllten die Voraussetzungen für eine partnerschaftliche Ehe: Als Anthropologen übten sie ihren Beruf aus und verfolgten in einem gemeinsamen Forschungsprojekt gleiche Interessen. Sie interviewten Paare über mehrere Jahre hinweg, um herauszufinden, wie sich die gesellschaftlichen Veränderungen auf das Zusammenleben von Mann und Frau und ganz besonders auf die Institution Ehe im engeren Sinne auswirkten. Von ihren eigenen Erfahrungen, ihrem eigenen Eheleben, eigenen Beziehungskrisen usw. erfährt der Leser nichts. Ein Kapitel berichtet zwar über offene und transparente Kommunikation, was aber nicht bedeutet, dass dieses auch für das Verhältnis von Autoren und Lesern gilt. Das Buch ist mit Fallbeispielen und Praxisproblemen zwar praxisnah, lebendig und gut lesbar geschrieben und in der Verwendung von Interviewausschnitten dem Buch von Rogers sehr ähnlich; aber die Autoren bleiben als Schriftsteller sehr traditionell in der Expertenrolle, werben für ihre Idee und Sicht der Dinge und bleiben sowohl als Paar und als auch als Einzelpersonen unsichtbar. Ganz anders die Situation, in der Carl Rogers sein Buch verfasste: Er schrieb als 70-jährige Einzelperson, die seit fast 50 Jahren in einer Ehe und Partnerschaft lebte, die von eher traditionellen Strukturen geprägt ist: Carl verfolgte als Mann zielstrebig seine Karriere im Beruf, Helen gab mit der Ankunft des ersten Kindes als Frau ihre eigene Berufsperspektive auf, kümmerte sich um das Kind und unterstützte ihren Mann in seiner Karriere. Sie blieb dabei im Hintergrund und war für die Familie, die Kinder und für ein ausgeglichenes Seelenleben ihres Mannes zuständig. Rogers gibt im Buch, ganz anders als die O’Neills, einen detaillierten Einblick in sein Zusammenleben mit Helen, beschreibt Krisen, in denen beide sich unterstützen konnten: Als Carl infolge der therapeutischen Arbeit mit einer psychotischen Patientin im Zeitraum zwischen Oktober 1948 und Juni 1949 in der Befürchtung, wahnsinnig zu werden, Panikattacken erlitt, hatte ihn Helen gepflegt und ihm das Gefühl gegeben, dass er nicht wahnsinnig sei und diese Anfälle wieder vorübergehen würden. Oder: Carl hatte Helen umgekehrt helfen können, als diese ihre Mutter in ein Pflegeheim geben musste und an heftigen Schuldgefühlen zu leiden begann. Er beschreibt seine sexuelle Probleme Anfang der 1940er Jahre oder auch, wie beide ihre eigenen sexuellen Probleme in der frühen Zeit ihres Ehelebens bewältigen konnten. Kurzum, Carl konnte bis in die 1970er Jahre auf eine
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glückliche und von gegenseitiger Unterstützung getragene liebevolle Partnerschaft in seiner Ehe zurückblicken. Aber in den späteren Jahren nahmen die Turbulenzen zu, die gesellschaftlichen Verhältnisse veränderten sich dramatisch. Um Carl und Helen herum, aber auch innerhalb der Familie nahmen die Belastungen zu und die Ehe geriet in schwierigeres Fahrwasser. Die größten Schwierigkeiten in diesen Jahren begannen damit, dass Helen mit einem Magen-Darm-Durchbruch 1972 ins Krankenhaus eingeliefert wurde und auf der Intensivstation einige Wochen in Lebensgefahr schwebte. Als sie nach Hause entlassen werden konnte, war sie körperlich sehr schwach und depressiv gestimmt. In dieser Situation kam die Beziehung zwischen beiden in eine Schieflage: Helen war pflegebedürftig und Carl ging in neuen sozialen Aktivitäten mit den jungen Leuten der „flower-power“- und der „make love not war“-Generation auf. Wie sich Beziehungen von zusammenlebenden Paaren im Laufe der Zeit durch unterschiedliche Faktoren entwickeln, wie sie Belastungen erfahren und wie es Paaren ge- oder misslingt, Belastungen zu verarbeiten, wie sie Krisen erleben und solche durchstehen und bewältigen usw., all dieses bildete für Rogers, der zugleich auch die Krisen und Belastungen in den Ehen seiner beiden Kinder Natalie und David miterlebte, den erlebnismäßigen und anschaulichen Erfahrungshintergrund für sein Buch ›Becoming Partners‹. Natalies Ehe mit Larry war zwischenzeitlich geschieden, und das Strukturproblem des Konflikts, an dem diese Ehe letztlich scheiterte, wurde von Carl aus seiner Sicht als ein Beispiel neben vielen anderen unter dem Pseudonym der Ehe von Jay und Jennifer dargestellt. Wie der „kritische“ Biograph David Cohen es darstellt, schäumte Larry Fuchs vor Wut, als er diese Textpassage 1972 las und seine Beziehung mit Natalie darin wiedererkannte. Nach seiner Darstellung stellte er Rogers schriftlich zur Rede und verlangte eine Erklärung, die Rogers aber verweigert habe.16 Die familiären Konflikt- und Belastungsereignisse begannen sich wieder zu häufen. 16 Nach meinen Recherchen dramatisiert hier Cohen, wie an anderen Stellen auch, um sein Rogers-Bild zu stützen. Das Schreiben Larrys vom 4. Februar 1973 ist natürlich eine Beschwerde: „Es macht mich traurig, dass ich Dir diesen Brief schreiben muss, aber es muss einfach heraus (…) Ich bin tief verletzt, dass Du über mich und speziell über meine Gefühle geschrieben hast, ohne mich vorher zu fragen.“ Er stellt zu Recht fest, das Rogers persönlich anvertraute Gefühle nicht ohne Einverständnis und Zustimmung des Betroffenen, auch wenn anonymisiert, veröffentlichen dürfe. Gleichwohl endet der Brief auch versöhnlich: „Vieles, was Du über die Beziehung geschrieben hast, ist substanziell richtig, aber nicht die Passagen über meine Gefühle in den letzten Jahren unsere Ehe. (…) Ich fühle mich nach wie vor
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Etwa um die gleiche Zeit, als Helen krank zu Hause war, starb Carls Bruder Lester, und sein Bruder John bat ihn, die Begräbnisansprache zu halten, was Carl, sicherlich auch wegen der religiösen Meinungsverschiedenheiten und dem Zerwürfnis zwischen ihm und seiner Familie, ablehnte. Beide einigten sich darauf, dass Rogers eine Ansprache schriftlich verfassen würde, die von einem anderen Familienmitglied am Grab vorgelesen werden sollte. Ohnehin spitzte sich 1972 und 1973 bis weit in das Jahr 1974 hinein die private Belastung Carls extrem zu. Helens Gesundheitszustand wurde zunehmend schlechter. Vom 23. Mai 1972 an musste sie im Rollstuhl sitzen, wodurch Rogers in seiner Bewegungsfreiheit sehr eingeschränkt wurde. Gegen Ende des Jahres wurde die Scheidung zwischen David und Corky formal vollzogen. David war dadurch wieder „frei“, aber Corkys Zustand verschlechterte sich dramatisch. Sie kam mit der Scheidung, der Trennung und mit dem Leben alleine nicht zurecht und beging am 5. Februar 1973 Selbstmord. Helen unterzog sich Anfang 1973 einer Hüftoperation. Im Juli erfuhr Rogers von seinem Sohn, dass sein Augenleiden altersbedingt war und die Ärzte an dieser Stelle nichts mehr für ihn tun konnten. Seine wichtigste Stütze, seine Frau Helen, die ihm in solchen Krisen stets geholfen hatte, war nun selbst pflegebedürftig. Rogers war extrem belastet, sehr alleine und begann verstärkt Alkohol zu trinken. So beschloss er im Spätsommer 1974, sich einige Tage eine Auszeit in einer einsamen Hütte am Simson Beach zu gönnen, um aufzutanken und zu sich selbst zurückzufinden17. Die Auszeit half ihm in vielerlei Hinsicht, so dass gut mit der Liebe, die du und ‚Mom‘ mir entgegengebracht haben. Aber das musste gesagt werden! Sincerely Larry.“ Der zweite Brief, den Larry am 15. März schreibt, bleibt augenscheinlich in der Tat unbeantwortet. Larry will Carl wissen lassen, dass er trotz der Trennung von Natalie und der vielen bitteren Gefühle der letzten Jahre an der Beziehung zu Carl hänge und wolle mit dem letzten Brief die Beziehung nicht abschneiden (Library of Congress, Washington D.C., Box 2 /4). 17 Und auch in dieser Krisenzeit gelingt es ihm, sich selbst mit einer Erweiterung seiner Sichtweise wieder zu stabilisieren, um mit neuen Einsichten und mit neuem Schwung aus der Krise wieder aufzutauchen. In diesen Tagen der Abgeschiedenheit, der Stille und in einer Zeit des Einklangs mit der Natur hatte er neue kreative und tiefergehende Einsichten über Fakten, die ihm eigentlich schon lange bekannt waren, die sich nun in seinem Prozess signifikanten Lernens zu einem neuen Sinnzusammenhang fügten. Er schrieb in dieser Zeit den Essay: „Brauchen wir eine Realität?“, der zu einem weiteren Wendepunkt in seinem Spätwerk wurde. Er breitet substanziell eine konstruktivistische Perspektive aus, ohne dass Rogers zu Theorie und Begrifflichkeit des radikalen Konstruktivismus Zugang hatte. Er brachte diesen Text erst vier Jahre später, 1978, zur Veröffentlichung.
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er im September 1974 in guter Verfassung und einer relativ entspannten Familienatmosphäre die goldene Hochzeit mit Helen feiern konnte. Aber alles in allem müssen diese Jahre für Carl sehr dunkle und belastende Zeiten gewesen sein, die er augenscheinlich auch dank der „Ablenkung“ durch seine Arbeit, seine sozialen Projekte und sein missionarisches Engagement bewältigen konnte. 1975 wurde er von der Zeitschrift „Education“ mit einer Goldmedaille als der Pädagoge der 1970er Jahre ausgezeichnet. Die humanistische Psychologie begann in dieser Zeit als Bewegung ihre eigenen Institutionen zu gründen und im öffentlichen Leben verstärkt Einfluss auszuüben. Das CSP war geschäftig und mit vielen Projekten erfolgreich. Die Zeitschrift „Humanistische Psychologie“, zu deren Herausgeber Rogers gehörte, organisierte unter seiner Mitwirkung in Tucson eine große Konferenz über die Zukunft der Humanistischen Psychologie. Kurz nach dieser Konferenz verschärften sich die Krisen und Konflikte in Rogers’ Privatleben erneut. Rogers lernte während einer EncounterGruppe im August 1975 eine 50-jährige Frau kennen, in die er sich verliebte. Er war nun selbst 73 Jahre alt. Bernice Todres war eine Frau, die nach ihrer Scheidung auf dem Weg war, Psychotherapeutin und Schriftstellerin zu werden. Sie experimentierte während der Encounter-Intensivgruppen mit ihrer neuen Freiheit in Beziehungen und besonders im Umgang mit Männern. David Cohen hat aus den Tagebuchaufzeichnungen von Rogers ein intensives und detailreiches Bild über diese letztlich unglückliche Liebe rekonstruiert. Wie es in den Intensivgruppen üblich war, führten beide sehr schnell sehr nahe und persönliche Gespräche. Carl erzählte ihr von den Problemen in seiner Ehe und dass er seit 2 1/2 Jahren keine Sexualität mit Helen mehr erleben konnte. Er bekannte, dass er gelegentliches Verlangen nach einer sexuellen Außenbeziehung spüre, dass dies aber Helen sehr bedrohen würde. Bernice hingegen berichtete ihm von ihrer Scheidung und ihren bisherigen Erfahrungen mit Männern. Der Abend endete mit dem „besten Zungenkuss, den ich jemals hatte“ (Cohen 1997: 210). Aber letztlich wollte Rogers augenscheinlich von Bernice mehr als sie von ihm, so dass er sich relativ rasch wie ein Jüngling in zwiespältigen Gefühlsstürmen erlebte. Einerseits wünschte er sich vor allem auch eine intensive sexuelle Beziehung mit ihr, andererseits wollte er sie aber nicht bedrängen. Bernice genoss zwar augenscheinlich die psychologische und körperliche Nähe, wollte aber keine sexuelle Beziehung. Rogers spürte dadurch sein unerfülltes sexuelles Verlangen umso deutlicher. Hinzu kamen Schuldgefühle Helen gegenüber. Am letzten Tag der Encounter-Gruppe konnte Bernice, die augenscheinlich selbst eine Krise durchlebte, sich an Rogers Schulter ausweinen und wurde von ihm getröstet. Er aber blieb unerfüllt zurück.
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In den kommenden Jahren trafen sie sich einmal in New York zu einem romantischen Abendessen, schrieben sich dazwischen Briefe und telefonierten gelegentlich. Rogers’ Sehnsucht wuchs und Bernices Weigerung, mit ihm zu schlafen, schmerzte ihn immer mehr – obwohl er sich, wie er seinen Aufzeichnungen anvertraut, keinen Illusionen über seine Manneskraft hingab: „Ich bin nicht einmal sicher, ob ich wirklich mit ihr den Beischlaf vollziehen will/könnte“ (ebd.: 213). Als klar wurde, dass Bernice nie mit ihm schlafen würde, entschied sich Rogers dafür, sich ein sexuelles Abenteuer mit einer anderen Partnerin zu suchen. Er erlebte eine sexuell befriedigende Affäre, die in eine gute Freundschaft überging. Rogers hasste sich für seine Gefühle von Abhängigkeit und Ängstlichkeit. Seine Liebe und Schwärmerei für Bernice stand nun zusätzlich zwischen ihm und Helen. Seine weiterhin aufkommenden Gefühle von Verzweiflung und Überforderung versuchte er mit Wodka zu ertränken. Natalie machte sich Sorgen um den steigenden Alkoholkonsum ihres Vaters. Im Mai 1976, nachdem Rogers lange genug verzweifelt und apathisch an dieser Beziehung gelitten hatte und zunehmend arbeits- und liebesunfähiger wurde, suchte er einen Kollegen auf, bei dem er eine Therapie begann. Er musste sich mit der Tatsache abfinden, dass Bernice ihn wohl auf ihre Art liebte und dass ihre Art nicht mit seinen Wünschen und Erwartungen übereinstimmten. In dem Maße, wie Rogers sich in der Therapie wieder mit seinen inneren Gefühlen und Bedürfnissen beschäftigen konnte, entdeckte er einen tiefen Schmerz, der weit zurückreichte: Er erkannte, dass er nie wirklich vom innersten Empfinden her ein monogames Leben aus Überzeugung führte. Im Alter von 74 Jahren fühlte er sich nun um all diese sexuellen Beziehungen beraubt, die er hätte haben können: „Nun lebe ich mit einer Person in einer Beziehung, deren Körper zerstört ist, deren Geist depressiv geworden ist und die an ihrer Beziehung mit mir klammert. Es ist nicht mehr die Frau, die ich geheiratet habe oder die ich geliebt habe und die Belastung, mit ihr zusammen zu sein, wird zu groß. Ich kann mich mit dem Gedanken an ihr Sterben versöhnen, weil ich spüre, dass es eine Erleichterung für alle um sie herum sein wird, wenn sie kann“ (ebd.: 214). Die Therapie half ihm, Zugang zu seiner Liebesfähigkeit zu finden, was er als eine Bereicherung seines Lebens annehmen konnte. Gleichzeitig musste er sich mit den Folgen auseinander setzen, einer Abhängigkeit, die ihn krank machte. Er spürte deutlich, dass er Helen nicht mehr liebte, fühlte sich aber weiterhin für sie verantwortlich und wollte versuchen, mit ihr in einer befriedigenden Weise für den Rest ihrer Tage zusammenzuleben. Aber er wollte auch Verantwortung übernehmen für seine ungestillten Bedürfnisse und war entschlossen, wenn Bernice sich weiterhin so ablehnend
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ihm gegenüber verhalten würde, dass er dann sexuelle Beziehungen mit anderen Frauen eingehen wollte, selbst wenn diese nicht von einer großen Liebe getragen seien. Letztlich musste sich Rogers im Alter von 74 Jahren noch mit den Problemen abmühen, die er in seinem Buch ›Becoming Partners‹ 1972 so eindrucksvoll im Gespräch mit anderen Paaren behandelt hatte. Ende des Jahres veranstaltete Carl einen Workshop in Sagamore. Helen wollte ihn zu diesem Workshop begleiten, aber Carl lehnte dies ab. Stattdessen begleitete ihn Natalie, und Helen fühlte sich erneut ausgeschlossen und zurückgelassen. Zwischen Streit und vergeblichen Versuchen, beziehungsklärende Gespräche zu führen, wuchs die Spannung zwischen beiden. Rogers hielt intensive Zwiesprache mit seinem Tagebuch und machte viele persönliche Notizen, um auf diesem Weg wenigstens für sich seine Gefühle und Einstellungen zu klären. Das Jahr 1976 ging für Carl und Helen sehr unbefriedigend zu Ende. Selbst in der Neujahrsnacht hatten sie wieder Streit. Helen ging um sieben Uhr ins Bett, Rogers um halb neun. Im Februar 1977 erreichte die Auseinandersetzung einen erneuten Höhepunkt und leitete einige Klärungen ein. Helen eröffnete ihm, dass sie von ihrer Seite aus die Situation mit verursacht habe, weil sie sich ihm gegenüber sexuell verweigert habe, und dass sie nun einsehe, dass sie an seinen sexuellen Bedürfnissen nicht vorbeisehen könne. Sie erklärte, dass sie es deshalb akzeptiere, wenn er sexuellen Kontakt mit anderen Frauen habe. Rogers fühlte sich erleichtert, und das Zusammenleben zwischen beiden entspannte sich etwas. Ein paar Wochen später, im März, gab es ein weiteres Gespräch zwischen beiden, in dem Helen Carl eröffnete, dass sie etwa 1962 damit begonnen habe, eifersüchtig und ihm gegenüber zurückhaltend zu werden. Diese Gefühle seien über die Jahre hinweg intensiver geworden, und sie habe lange gebraucht, bis sie deutlich gespürt habe, wie ärgerlich sie eigentlich sei. Letztlich habe sie sich immer nach seinen Karrierebedürfnissen ausrichten müssen. Beispielsweise habe sie es gehasst, nach Chicago zu ziehen. Ihr sexuelles Zusammensein sei von Rogers eindeutig bestimmt worden, indem er die Entscheidung getroffen habe, dass sie nicht abends, sondern morgens Sex miteinander haben sollten. Seine „Regeln über Sex“ seien der Grund, weshalb sie sich von der Sexualität dann völlig abgewendet habe. Helen hatte, wie sie zugab, Angst vor all diesen negativen Gefühlen, die aber augenscheinlich ihr Leben in den letzten Jahren beherrschten und aus ihr eine verbitterte alte und kranke Frau gemacht hatten. Sie schlug vor, dass sie sich irgendwie im selben Haus arrangieren sollten, wusste dabei aber auch, dass ihre Beziehung nie mehr so werden könnte, wie sie einmal war. Die Versuche, in einer abgeklärten Weise zusammenzuleben, waren ein
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wohlgemeinter Vorsatz. Die Umsetzung ging jedoch über Helens und Carls Kräfte hinaus. In den nächsten Monaten gab es weiterhin oft Streit und Bitternis, welche sich insbesondere am Thema Sexualität entzündeten und die ihre Ursache in der unterschiedlichen Bedeutung der Sexualität für Männer und für Frauen hatten. Auch hier blieb Rogers seinem Verfahren treu, im Tagebuch seine eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu erforschen und die Ergebnisse festzuhalten. In seinen „personal notes“ vom 25. 4. 1977 schreibt er unter der Überschrift „Wie ich in unserer Beziehung sein möchte!“ an Helen adressiert: „Ich möchte meine Gefühle so ausdrücken, wie sie sich zeigen. Ich war in der Vergangenheit darin nicht sehr gut. Mein Weg, damit umzugehen, war zu zurückhaltend aus Furcht davor, verletzend zu sein. (…) Ich habe sexuelle Gefühle und sexuelle Bedürfnisse. Ich weiß nicht, ob du das als Fakt anerkennen kannst. Zurzeit versuche ich diese Gefühle und Bedürfnisse vor dir komplett zu verstecken, weil ich nicht dafür verurteilt werden will. Ich empfinde sehr viel für Bernice – ich kann nicht genau erklären, warum eigentlich –, aber ich werde diese Beziehung fortsetzen. Ich glaube nicht, dass dies unsere Beziehung beeinträchtigt. Ich genieße es, von Rachel geliebt zu werden, obwohl ich spüre, dass sie mich mehr liebt als ich sie“ (Library of Congress, Washington D.C., Box 3/4). Rogers übte sich nun darin, sich „o. k.“ zu fühlen, indem er Teile seines Lebens außerhalb seiner Beziehung zu Helen hielt. Er konnte verstehen und auch einsehen, dass sich ihr Zusammenleben sehr ungleich und unvorteilhaft für Helen entwickelt hatte, aber nun war es augenscheinlich zu spät, um diese Entwicklung rückgängig zu machen. Im August schreibt er auf, was er für sich selbst tun möchte: Kontakt mit anderen Menschen aufnehmen, einen Nachmittag freimachen, sich um seine Sachen und Pläne zuerst kümmern, lernen, einfach nur aus Spaß und Freude etwas spielen zu können, sich selbst mehr gern zu haben. Er leidet ganz offensichtlich daran, sich als einen zurückgezogenen Einzelgänger zu erleben. Die Aufarbeitung dieser Problematik nahm trotz der Anstrengung und der vielen Debatten sehr viel Stress von Rogers’ Seele, der ihn in den letzten Jahren niedergedrückt hatte. Natalie freute sich, dass Carl wieder begann, besser auf sich aufzupassen, und in der Lage war, sich stärker für persönliche und intime Gefühle zu öffnen. In einem Brief vom 23. 4. 1977 sprach sie den Wunsch aus, dass er mit dem Trinken aufhören sollte. Auch Helen ging es danach langsam wieder etwas besser. Die Versuche, alles miteinander in der Beziehung zu teilen, musste als gescheitert eingestanden und verarbeitet werden. Mit etwas Abstand voneinander konnten jedoch beide wieder genesen. 1977 führte Carl eine Reihe von größeren Workshops in Brasilien
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durch. Zum Teil waren über 800 Personen anwesend, die davon schwärmten, dass Rogers eine innere Gelassenheit und heitere Weisheit ausstrahlte. Er war nach wie vor der perfekte Zuhörer und angetan von seiner missionarischen Idee, seine person-zentrierten Beziehungsideale auch außerhalb Amerikas zu verbreiten. Als er in diesem Jahr seinen Aufsatz über das „Älter-Werden und Wachsen“ schrieb, betonte er, dass er viel mit den Menschen in den Encounter-Gruppen gelernt hatte und eine Reihe von persönlich nahen und intimen, aber platonischen Beziehungen mit Frauen dabei eine große Rolle gespielt hätten. Wie David Cohen genüsslich hervorhebt, war diese Aussage nicht die ganze Wahrheit. Aber auch mit dieser Formulierung hatte Helen schon erhebliche Schwierigkeiten und verbot ihm die Veröffentlichung des Aufsatzes. Rogers respektierte ihren Wunsch. Seine Arbeit erschien erst 1980, nach Helens Tod.
Die gesellschaftspolitische Dimension des PCA Mitte der 1970er Jahre bahnte sich für Rogers eine neue Einsicht über die politische Bedeutung seiner Arbeit in den Encounter-Gruppen an. Er fühlte sich sehr früh verantwortlich dafür, die Effekte der EncounterGruppen vor dem Vorwurf des Eskapismus und der narzisstischen Selbstbespiegelung zu schützen und auf die Wachstumspotentiale und die Potentiale zur Konfliktregulierung und Konfliktbewältigung hinzuweisen. So wurde eine der ersten Encounter-Gruppen mit explizit politischer Zielsetzung mitten im irischen Krisengebiet in Belfast in einem Filmstudio durchgeführt. An ihr nahmen ausgewählte englische und irische Protestanten sowie englische und irische Katholiken teil, die in die politischen und terroristischen Auseinandersetzungen sowohl aktiv als auch passiv als Opfer verwickelt und verstrickt waren. Wie der Film zeigte18, konnte in dieser Gruppe die gegenseitige Feindschaft der Teilnehmer deutlich reduziert werden, und es gelang immer wieder, eine Kommunikation von Person zu Person zu ermöglichen. Die Beteiligten tauschten nicht abstrakte Standpunkte, Urteile, Bewertungen und Verurteilungen aus, sondern sprachen von ihren persönlichen Empfindungen und Gefühlen und Visionen. Als Alan Nelson 1973 in einem Interview Rogers nach den politischen Implikationen des person-zentrierten Ansatzes fragte, ergriff dieser die Gelegenheit, seine Arbeit, die er bisher vorwiegenden als psychologischpsychotherapeutische begriffen hatte, nun auch unter politischen Vorzeichen zu sehen: In Encounter-Gruppen wollte er Menschen ermuntern, 18
Der Film „The Steel Shutter“ ist beim CSP ausleihbar.
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selbst-direktiv zu werden, für ihre Gefühle, Empfindungen und Überzeugungen aktiv und öffentlich einzutreten und ihre Empfindungen und Einstellungen nicht nur im privaten Raum zu kommunizieren. Die Bürgerrechtsbewegung, die Friedensbewegung, die Studentenbewegung, die Frauenbewegung, all diese sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre teilten eine ähnlich basisdemokratische Haltung: „Power to the People!“ Rogers fand sich und seine Arbeit eingebettet in diese neue Aufbruchstimmung, die von der Bewegung der jungen Leute und der „Graswurzeldemokratie“ ausging. In all diesen gesellschaftlichen Veränderungen erkannte er das elementare menschliche Bedürfnis nach Authentizität und direkter Kommunikation und sah dies als eine Bestätigung seiner eigenen politischen Überzeugungen an, nach der die Menschen zunehmend unwillig waren, sich in tradierter Weise von Hierarchien und deren Experten, von religiösen oder staatlichen Institutionen und Organisationen lenken und leiten zu lassen. Er glaubte fest daran, dass die Menschen lieber offensiv dafür eintraten, ihre Belange selbst und unabhängig, d. h. person-zentriert zu regulieren. Diese neue politische Sichtweise seines person-zentrierten Ansatzes wurde die Botschaft seines nächsten Buches, das 1977 mit dem Titel ›On Personal Power. Inner Strength and its Revolutionary Impact‹ erschien. Die deutsche Ausgabe folgte bereits 1978 unter dem Titel ›Die Kraft des Guten. Ein Appell zur Selbstverwirklichung‹. Dieser Titel „kastriert“ das Buch um die politische Dimension seiner Botschaft, die Rogers gerade selbst erst in seiner Arbeit entdeckt hatte: „Ich brauchte Jahre, um zu erkennen, dass der erbitterte Widerstand gegen eine klient-zentrierte Therapie nicht nur auf deren Neuheit und auf die Tatsache, dass sie von einem Psychologen und nicht von Psychiatern ausging, zurückzuführen war, sondern in erster Linie darauf, dass sie der Macht des Therapeuten einen so ungeheueren Schlag versetzte. Der bedrohlichste Aspekt waren ihre politischen Implikationen“ (Rogers 1977/1978, S.27). In kritischer Abgrenzung zu Freuds kulturpessimistischer Sichtweise vom Menschen betont Rogers, „dass der menschliche Organismus im tiefsten Grunde vertrauenswürdig sei; dass die menschliche Natur nicht nur etwas ist, wovor man sich fürchten, sondern etwas ist, das man im verantwortlichen Selbstausdruck freisetzen soll – dass eine kleine Gruppe (in der Therapie oder im Klassenzimmer) in verantwortlicher und sensitiver Weise konstruktive zwischenmenschliche Beziehungen herstellen und vernünftige individuelle und Gruppenziele wählen kann; dass all das Genannte erreicht werden kann, wenn es einem Helfer oder Förderer (facilitator) gelingt, ein Klima der Echtheit des Verständnisses und der Anteilnahme zu schaffen“ (ebd., S. 29).
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Rogers erläutert ausdrücklich, dass er mit seiner klient-zentrierten Therapie hier eine Vorreiterrolle übernommen hat: „Im Laufe der Jahre haben die Freud’schen Analytiker ihre Auffassungen, was die Politik der Therapie betrifft, gemildert und modifiziert. Zusammen mit den Gestalttherapeuten, Jungianern, rational-emotiven Therapeuten, Transaktionsanalytikern und vielen anderen neuen Richtungen vertreten sie jetzt einen gemäßigten Standpunkt. Der Fachmann ist zuweilen definitiv eine Autorität (wie etwa der Gestalttherapeut, der sich mit der Person auf dem ‚heißen Sitz‘ befasst), aber es wird auch das Recht des Individuums anerkannt, für sich selbst verantwortlich zu sein. Es wurde kein Versuch unternommen, diese Widersprüche zu rationalisieren. Diese Therapeuten nehmen eine paternalistische Haltung ein oder folgen dem medizinischen Modell, das heißt, sie glauben, dass die Kontrolle zeitweilig in den Händen des Therapeuten sein sollte und dass Kontrolle und Verantwortung in anderen Augenblicken (über die der Therapeut zu entscheiden hat) in die Hände des Patienten bzw. des Klienten zu legen seien“ (ebd.). In dieser radikalen Ablehnung von expertokratischen Führungsansprüchen fühlt Rogers sich einig mit anderen Autoren, die einen ähnlich radikalen Standpunkt vertreten. Er bezieht sich explizit auf Roland D. Laing, ›The Politics of Experiencing‹ (1968), John W. Perry, ›The Far Side of Madness‹ (1974), und Thomas S. Szasz, ›The Myth of Mental Illness‹ (1974). Auch auf seine Übereinstimmungen mit der Arbeit von Paulo Freires ›Pädagogik der Unterdrückten‹ weist er in einem Kapitel hin. Diese wurde 1968 in portugiesischer Sprache veröffentlicht und 1970 ins Englische übersetzt. Rogers’ Buch ›Lernen in Freiheit‹ erschien 1969. „Es gibt kein Anzeichen, dass er etwas über mein Werk gehört hatte, und ich wusste nichts von dem seinen. Ich wandte mich an Schüler und Studenten in verschiedenen Bildungseinrichtungen. Er berichtete über seine Arbeit mit verängstigten, unterjochten Bauern. Ich bemühte mich um einen Stil, der Schüler und Lehrer ansprechen sollte. Freire suchte die Kommunikation mit Marxisten. Ich führe gerne konkrete Beispiele an. Er schreibt fast völlig abstrakt. Doch die Prinzipien, auf denen seine Arbeit aufbaut, gleichen den Grundsätzen von ›Lernen in Freiheit‹ so genau, dass ich nicht aus dem Staunen herauskam“ (Rogers 1977/78, S.123f.). Im zusammenfassenden Schlusskapitel sieht Rogers das Heraufkommen eines neuen Menschen, der die vorderste Front einer stillen Revolution bildet. Eine anwachsende person-zentrierte Lebenseinstellung erkennt er als die vorantreibende Kraft des gesellschaftlichen Veränderungsprozesses. Er kann den „neuen Menschen“ in den Begriffen beschreiben, in denen er schon früher in seiner Persönlichkeitstheorie des Konstrukt der vollentwickelten Persönlichkeit umrissen hat: Diese Men-
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schen sind selbst-direktiv, an der eigenen Erfahrung als Quelle der Bewertung orientiert und erfahrungs- und veränderungsoffen. Sie verstehen sich als eine Person im Werden, bemerken, dass die überlieferten Institutionen und politischen Orientierungen zunehmend unpassender werden. Er bezieht sich auf John Vasconcello, einen kalifornischen Abgeordneten, der 1975 begann, von einer neuen politischen Kraft zu träumen, die nicht mehr als Partei, sondern als ein humanistischer Zusammenschluss von Menschen aller Parteien gedacht ist, der die Bedeutung der Person im Prozess des politischen Handelns in den Mittelpunkt stellt. Auch hier zitiert Rogers erstaunt und ausgiebig aus dem Gründungsdokument dieser Bewegung, in der die person-zentrierten Prinzipien augenscheinlich die zentralen politischen Wertorientierungen sind.
Die Zeit um Helens Tod: Zwischen Konstruktivismus und New Age Eine weitere Arbeit zeigte wiederum, wie eindrucksvoll es Rogers auch im hohen Alter immer noch gelang, aus Krisen und Erschütterungen seines Lebens durch intensive Selbstexploration und Offenheit den eigenen Erlebnissen und Gefühlen gegenüber grundsätzliche Erfahrungen zu machen. ›Brauchen wir eine Realität?‹, heißt seine erneute Standpunktbestimmung aus dem Jahre 1974, die er sich allerdings erst 1978 zu veröffentlichen traute. Sie zeigt eindringlich, wie stark es Roger in seinem Alterswerk gelingt, sich auf seine Intuition und sein implizites Wissen zu verlassen und sozusagen ganz von der inneren Erfahrung her zu schreiben. Sie zeigt zugleich, dass er sich längere Zeit scheut, diese Einsichten einem größeren Leserkreis zugänglich zu machen. In dem Buch ›A Way of Being‹ schreibt Rogers etwas darüber, wie und wo dieser Aufsatz entstanden ist. Danach geht die Entstehung dieses Textes zurück in den Herbst 1974, als Rogers komplett überfordert war und sich für zehn Tage eine Auszeit genommen hatte. Er hatte sich in eine Hütte am Strand abgesetzt und genoss es, kein Telefon zu sehen und für sich ganz alleine zu sein, um ein paar Bücher zu lesen, so wie er es sich vorgenommen hatte, seine Träume aufzuschreiben und seine Gedanken frei ziehen zu lassen. „Es war eines Nachts, als ich auf dem Dach der Hütte saß, als der Anfang dieses Papiers in meinem Kopf entstand. Der Aufsatz unterscheidet sich irgendwie komplett von dem, was ich bis dahin geschrieben habe. Er hat ein bisschen die Qualität von Tagträumereien, die ich liebe. Keine dieser Tatsachen, die ich hier vorstelle, sind neu, aber die Bedeutung dieser Tatsachen sind überraschend, wenn man sie ernst nimmt“ (Rogers 1980: 96). Der daraus hervorgehende Text ist eine Zusammenfassung von Gedan-
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kengängen, die Rogers eigentlich bereits in den 1950er Jahren seiner klient-zentrierten Therapie zugrunde gelegt hatte: Einsichten und Hypothesen darüber, wie die „Wirklichkeit“ wirkt. In seinem Buch ›Client-Centered Therapie‹ (Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie) von 1951 war er in seinen Thesen über die Entwicklung der Persönlichkeit von der fundamentalen Geltung einer „subjektiven Wirklichkeit“ ausgegangen. Das Individuum steht danach im Mittelpunkt seines von ihm selbst strukturierten Wahrnehmungsfeldes. Sein Verhalten ist zu verstehen als Reaktion auf diese Wahrnehmungen, so wie sie sind. Die wahrgenommene Realität ist nicht weniger wirklich (im Sinne von Wirken) als die „objektive“, so hatte er damals sinngemäß formuliert, um deutlich zu machen, dass der Weg der Empathie der einzige sein kann, um ein Individuum und sein Verhalten wirklich zu verstehen. Nun wendet er diese Einsicht auch auf das soziale Zusammenleben der Menschen an: „Von jeher hat entweder der Stamm oder die Gemeinschaft oder die Nation oder der ganze Kulturkreis festgelegt, was die wirkliche Welt ist. Gewiss konnten verschiedene Stämme oder verschiedene Kulturen in ihrer Definition voneinander abweichen, aber es gab jeweils eine große, relativ einheitliche und gesellschaftliche Gruppe, die sich ihres Wissens von der Welt und vom Universum sicher und von der Richtigkeit ihrer Auffassung überzeugt war. Deshalb beargwöhnte, verdammte, verfolgte, ja tötete die Gemeinschaft diejenigen, die nicht mit ihrer Auffassung übereinstimmten, jene, die die Wirklichkeit unterschiedlich wahrnahmen. (…) Die Geschichte ist eine ununterbrochene Folge von Beispielen dafür, welchen ungeheuerlichen Preis jene zahlen, die in ihrer Sicht der Wirklichkeit nicht der gesellschaftlich akzeptierten Norm folgen. (…) Heute sehen wir uns vor eine andere Situation gestellt. Die Leichtigkeit und Schnelligkeit weltweiter Kommunikation führt dazu, dass jeder von uns sich eines Dutzends ‚Wirklichkeiten‘ bewusst ist; und selbst wenn wir einige dieser Wirklichkeiten für absurd halten – wie die Wiedergeburt – oder für gefährlich – wie den Kommunismus –, so bleibt uns doch nichts anderes übrig, als sie trotzdem wahrzunehmen. (…) Deshalb möchte ich eine für mich sehr ernste Frage stellen: Können wir uns heute den Luxus noch leisten, ‚eine‘ Wirklichkeit zu haben? Können wir den Glauben aufrechterhalten, dass es eine wirkliche Welt gibt, über deren Definition wir uns alle einig sind? Ich bin überzeugt, dass wir uns diesen Luxus nicht leisten können, dass wir diesen Mythos nicht länger anhängen sollten“ (Rogers 1980/1981, S. 180 f.). Erst vier Jahre später traute Roger sich, diese Arbeit über seine Sicht der Dinge zu publizieren. Eine Sichtweise, die wir heute (2001) konstruktivistisch nennen würden und die seit den 1980er Jahren von vielen systemi-
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schen Theoretikern ebenfalls propagiert wird und die Rogers’ Werk mit seiner Fundierung in der subjektiven Wahrnehmung eigentlich bereits seit 1951 durchzieht. Diese Sichtweise ist auch die Basis der Haltung des Therapeuten, der sich emphatisch um Verständnis bemüht, weil er die Wirklichkeitskonstruktionen eines anderen Menschen anders nicht erkennen kann. So war Rogers in den letzten Jahren neben der persönlichen Auseinandersetzung in der Beziehung mit Helen, mit Helens bevorstehendem Sterben, in seiner unglücklichen Liebe zu Bernice, aber auch in den wiedergefundenen nahen familiären Beziehungen zu Natalie und David zu neuen Einsichten gelangt und hatte sich als Person auch deutlich verändert. Er konnte nun leichter von seinen eigenen Erlebnissen und Empfindungen sprechen und zu seinen Gefühlen und Bedürfnissen stehen. Etwas von diesem steifen calvinistischen Umhang, der ihn früher stärker von seinen Mitmenschen trennte, war von ihm abgefallen, und er wurde offener. In diese Zeit fällt dann auch eine neue Offenheit für spirituelle und transzendente Phänomene. Die Encounter-Bewegung und ihre politische Bedeutung erhielt durch die neueren Experimente und Forschungen, die von der humanistischen Psychologie und ihrem Interesse an Ausnahmezuständen des Bewusstseins angestoßen wurden, eine neue Dimension: die der menschlichen Fähigkeiten zur Wahrnehmung übersinnlicher Phänomene. Eine transpersonale und spirituelle Erweiterung der humanistischen Psychologie kündigte sich an. Das Phänomen alternativer Bewusstseinszustände, die experimentellen Studien über die Wirkung von bewusstseinserweiternden Drogen und deren möglicher Einsatz in der Psychotherapie, die außergewöhnlichen Leistungen von Fakiren, z. B. das menschliche Schmerzempfinden völlig abzustellen, und die Zeugnisse von religiösen Mystikern aus anderen Kulturen, kurzum alles dieses, was das menschliche Bewusstsein außerhalb des „normalen“ Zustandes ist und sein kann, wurde in diesen Jahren in einer neuen Aufgeschlossenheit Gegenstand experimenteller Forschungen. In ihnen trafen sich sehr verschiedene Wissenschaftsdisziplinen: Neurologie, Psychologie, Biologie, Physik, Phänomenologie. In diesen Tendenzen sieht Rogers das Heraufkommen eines neuen Typus von jungen Menschen mit offenen und freien Einstellungen, die die Welt in der Zukunft positiv verändern werden. „Nur die jüngere Generation kann uns, glaube ich, helfen, die schreckliche Entmenschlichung zu erkennen, die wir in unserem Bildungssystem hervorgebracht haben, indem wir das Denken, das allgemein akzeptiert wird, getrennt haben vom Fühlen, das wir letzten Endes als animalisch betrachten. Vielleicht können die Jungen uns noch einmal zu ganzen Menschen machen. Wir müssen weiß Gott wieder ganzheitliche Organismen sein, emp-
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fänglich für alles in uns selbst und in unserer Umgebung“ (Rogers 1980/ 1981, S. 170). In den letzten fünf Jahren vor Helens Tod entwickelte Rogers zusammen mit ihr auch eine neue Offenheit für parapsychologische Phänomene und fand sich bei einem Medium in Situationen wieder, die eine Kommunikation mit Gestorbenen möglich machen konnte. Seinem Aufsatz über das Älter-Werden und Wachsen fügt er nach Helens Tod 1979 eine Ergänzung hinzu, die Auskunft über diese Zusammenhänge gibt: „Helen war sehr skeptisch im Bezug auf übersinnliche Phänomene und ein Weiterleben nach dem Tode. Doch auf Einladung besuchten wir einmal ein Medium, eine absolut ehrliche Frau, die kein Geld annehmen wollte. Dort nahm Helen in meiner Gegenwart ‚Kontakt‘ mit ihrer verstorbenen Schwester auf, wobei Tatsachen eine Rolle spielten, die das Medium unmöglich wissen konnte. Die Botschaften waren unerhört überzeugend, und sie kamen alle durch die Kippbewegungen eines stabilen Tisches zustande, der mit diesem Klopfzeichen verschiedene Buchstaben signalisierte. Als das Medium später in unser Haus kam und mein eigener Tisch in unserem Wohnzimmer Botschaften klopfte, blieb mir nichts anderes übrig, als mich diesen unglaublichen und ganz sicher nicht auf Betrug abzielenden Erfahrungen zu öffnen“ (Rogers 1980/1981, S.56). In den letzten Tagen vor ihrem Tod hatte Helen Visionen eines inspirierenden weißen Lichtes, das sich ihr näherte, sie vom Bett aufhob und dann wieder zurücklegte. So war das Sterben von Helen für Carl einerseits von intensiven persönlichen Auseinandersetzungen und Konflikten und andererseits von außergewöhnlichen parapsychologischen Erfahrungen geprägt, die beide auch wieder zusammenführten. Rogers berichtet, dass Helen im Krankenhaus dem Sterben oft sehr nahe war und doch nicht sterben konnte: „Eines Tages, als sie dem Tod sehr nahe war, erfasste mich eine innere Aufwallung, die ich mir überhaupt nicht erklären konnte. Als ich wie gewöhnlich im Krankenhaus eintraf, um ihr das Abendessen einzuflößen, sprudelte es plötzlich aus mir heraus, wie sehr ich sie geliebt hätte, wie viel sie in meinem Leben bedeutet habe, wie viele positive Initiativen sie zu unserer langen Partnerschaft beigetragen habe. Ich wusste, dass ich ihr all diese Dinge schon früher gesagt hatte, aber an diesem Abend hatten meine Worte eine Intensität wie nie zuvor. Ich sagte ihr, sie solle sich nicht verpflichtet fühlen, weiterzuleben, ihrer Familie gehe es gut, und sie könne sich frei fühlen, weiterzuleben oder zu sterben, wie sie es wünsche. Ich sagte auch, ich hoffe, das weiße Licht werde an diesem Abend wiederkommen. Offenbar hatte ich sie von dem Gefühl befreit, weiterleben zu müssen – für andere. Ich erfuhr später, dass sie nach meinem Weggang die Schwestern der Station zusammenrief und ihnen allen für ihre Hilfe dank-
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te und dass sie ihnen mitteilte, sie werde nun bald sterben. Bei Tagesanbruch lag sie im Koma, und am folgenden Morgen starb sie sehr friedlich, die Hand unserer Tochter haltend, in Gegenwart von mehreren Freunden und von mir“ (Rogers 1980/1981, S.57). Am Abend hielten Freunde von Rogers mit dem bereits erwähnten Medium eine seit langem vereinbarte Sitzung ab, und sie konnten sehr rasch Kontakt zu Helen herstellen, die ihnen viele Fragen beantworten konnte. So ließ sie mitteilen, „sie habe alles gehört, was gesagt wurde, während sie im Koma lag, sie habe das weise Licht wiedergesehen und Geister, die sie holen kamen; sie sei im Kontakt mit ihrer Familie; sie habe die Gestalt einer jungen Frau, ihr Sterben sei sehr friedlich und ohne Schmerzen gewesen“ (ebd.). Rogers, nun im Alter von 77 Jahren und getreu seiner Überzeugung, dass er nur der eigene Wahrnehmung und der eigenen Erfahrung trauen will, ist nach diesen metaphysischen Erlebnissen auch bereit, diese Phänomene in sein Weltbild einzubeziehen. Er stellte Bezüge seines personzentrierten Ansatzes zur New-Age-Philosophie her. Die Arbeiten von John Lilly, der die Kommunikation von Delfinen erforscht hatte, interessierten ihn sehr. Lilly war früher einer der herausragenden Wissenschaftler bei Caltech, und Rogers kannte ihn aus dieser Zeit. Die Veröffentlichungen von Stanislaw Grof über die Experimente mit Psychotherapie und LSD und die Phänomene veränderter Bewusstseinszustände faszinierten ihn ebenso wie die Berichte von Unfallopfern, die Begegnungen mit dem Tod hatten und wieder reanimiert wurden. Alle diese neuen und aufregenden Phänomene, denen sich die neue Alternativkultur und deren Wissenschaftsinteresse zuwandte, faszinierten Rogers sehr und unterstützten ihn in seinen eigenen Visionen und Utopien von einem neuen Menschen und einer positiveren Zukunft. Er konnte selbst auch in seinem Arbeitsgebiet, in den intensiven Begegnungen in den Encounter-Gruppen, solche Phänomene gesteigerter Wahrnehmung beobachten. Wenn Menschen in der Begegnungssituation sich sehr nahe kamen und zugleich ihrem eigenen inneren Selbst sehr nahe waren, schienen sich Dinge zu ereignen, die mit der rationalen Vernunft nur schwer in Einklang zu bringen waren. In seinem Spätwerk fühlte sich Rogers ermutigt, die drei förderlichen Einstellungen des Beraters und Therapeuten, die er in seiner frühen Psychotherapieforschung als die entscheidenden Wachstumsbedingungen herausgearbeitet hatte, nämlich Akzeptanz, Empathie und Kongruenz, um eine vierte zu erweitern, die er Präsenz (Gegenwart/Anwesenheit) nannte. Er konnte und wollte dieses intuitive Element nicht mehr mit den Mitteln der empirischen Forschung untersuchen und erfassen und beschrieb es deshalb phänomenologisch von seinem Erleben her: „Wenn ich als Gruppenleiter in
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meiner besten Form bin, entdecke ich ein weiteres Charakteristikum. Ich stelle fest, dass von allem, was ich tue, eine heilende Wirkung auszugehen scheint, wenn ich meinem inneren, intuitiven Selbst am nächsten bin, wenn ich gewissermaßen mit dem Unbekannten in mir in Kontakt bin, wenn ich mich vielleicht in einem veränderten Bewusstseinszustand befinde. Dann ist allein schon meine Anwesenheit für den Anderen befreiend und hilfreich“ (Rogers 1980/1981, S. 80). Helens Tod war ein ebenso wichtiger und markanter Einschnitt in Carl Rogers’ Leben wie die Zeit, als sie ihm vor 54 Jahren ihr Jawort gab. Nach langen harmonischen und partnerschaftlichen Ehejahren, nach einigen schwierigen Jahren von Krankheit, Belastung, Streit und Auseinanderentwicklung und den intensiven Versuchen von beiden, trotz dieser Schwierigkeiten miteinander in Kontakt und in Beziehung zu bleiben, fühlte Rogers sich nach ihrem Tod „einsam und wie von einer Last befreit“ (Zitat aus dem Film: „Die Kraft des Guten – Wege zum Menschen“). Folgerichtig konnte er nach dieser schwierigen Zeit im Mai 1979 auch damit beginnen, die Beziehung zu Bernice zu beenden. Er hatte einen von ihr geleiteten Workshop besucht, und er traute sich erst nach dessen Ende, wieder zurück und alleine zu Hause, die ganzen Enttäuschungen, die er in diesen sieben Tagen in der Beziehung zu ihr erlitten hatte, aufzulisten und auch die Abhängigkeit, in die er durch diese Beziehung geraten war, auszusprechen. Er hatte sich ihr augenscheinlich so weit geöffnet, dass ihre Zurückweisung und auch ihre Kritik an seiner Person ihn tief verletzbar machten und sogar sein Magengeschwür seit 40 Jahren sich erstmals wieder regte. Er begann darum zu kämpfen, Bernice aus seinem eigenen Lebenssystem zu verbannen: „Ich will nicht weiterhin meine Liebe einer Person anbieten, die sie total zurückweist. Ich fühle mich heftig verwundet, aber ich bin sicher, dass ich in einiger Zeit darüber hinweg sein kann“, schrieb er in seinen persönlichen Aufzeichnungen. Im Dezember 1979 hatte es Carl dann geschafft, sich aus der Beziehung zu Bernice zu befreien. So hatte er zu Beginn der 1980er Jahre den Tod, das Sterben von Helen und damit auch den Verlust einer wichtigen unterstützenden menschlichen Beziehung überlebt, die Kränkung und Zurückweisung einer bizarren und verwickelten und letztlich platonisch gebliebenen Liebesbeziehung überstanden und sich daraus befreit und mit der Lösung dieser Probleme auch die Neigung seiner letzten Jahre, seinen Kummer im Wodka zu ertränken, überwunden. Rogers war 78 Jahre alt, als er damit begann, neue Liebesbeziehungen zu knüpfen. Er fühlte sich in der Beziehung zu seinen Kindern verstanden und blickte hoffnungsvoll in die Zukunft. In der Krise der zurückliegenden Jahre hatte er erneut eines seiner zentralen Lebensthemen begreifen müssen: „Ich erkannte, dass ich,
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um zu überleben, mein Leben leben musste und dass dies an erster Stelle zu kommen hatte, obwohl Helen so schwer krank war. Ich wende mich nicht gleich an andere, aber ich bin mir jetzt viel deutlicher bewusst, dass ich nicht alles allein bewältigen kann. Ich pflege meine Person jetzt besser als früher“ (Rogers 1980/81, S.48).
In weltweiter Friedensmission: 1979–1987 Nach Helens Tod 1979 war Rogers nach 53 Ehejahren wieder alleine und auf sich gestellt. Er führte aber weder das typische Leben eines Witwers noch das eines Pensionärs. Seinen 78. Geburtstag feierte er im Januar 1980 mit einer Geburtstagsparty in liebevoller Atmosphäre mit Freunden, die er sehr genießen konnte. Helens Tod hatte ihn von einer großen Last befreit, von seiner inneren Zerrissenheit zwischen seinen Absichten, zu Helen auch in diesen schwierigen Zeiten zu stehen und sich verantwortungsvoll um sie zu kümmern und seinen Bedürfnissen nach persönlicher und beruflicher Unabhängigkeit. „Die Auflösung ihrer Beziehung war achtsam gewesen, aber komplett“, schreibt Kirschenbaum, und Rogers „kehrte mit Freuden in das Leben zurück“ (1995: 85). Diese Anspannungen lagen seit März 1979 ein dreiviertel Jahr zurück, und Rogers nutzte die Zeit, um sich über seine neue Lage klar zu werden. In einer Ergänzung zu seinem Aufsatz ›Alt werden oder: Älter-Werden und Wachsen‹ berichtete er 1979 von seinen parapsychologischen Erfahrungen im Zusammenhang mit Helens Sterben. Er betonte zum Abschluss seiner Ausführungen, dass er sich glücklich schätze, dass es ihm nun im Alter von 78 Jahren gelungen sei, Beziehungen herzustellen und einzugehen, in denen seine Bedürfnisse nach Sinnlichkeit und Sexualität einen bewussten Ausdruck finden können. Seinen Prozess des Alterns beschrieb er 80-jährig: „Ich empfinde mich als älter werdend und wachsend“ (Rogers 1980/81, S.61). Howard Kirschenbaum wird in seiner Biographie von 1995 noch etwas konkreter in dieser Angelegenheit. Danach gestaltete Rogers sein neues Liebes- und Beziehungsleben in den letzten Jahren sehr bewusst: Es wurde seine person-zentrierte Alternative zur Institution der monogamen Ehe, die er jungfräulich mehr als ein halbes Jahrhundert mit Helen gelebt hatte: Er entwickelte und pflegte nun gleichzeitig zu drei Frauen (Kolleginnen) intime Beziehungen. Sie begleiteten ihn auf seinen Workshops oder besuchten ihn in La Jolla, so wie es die Zeit zuließ. Auf diese Weise war er jeweils für eine bestimmte, aber begrenzte Zeit mit einer Frau zusammen. Alle Beteiligten wussten voneinander und akzeptierten diese Beziehungen wechselseitig. Rogers’ Arbeitseifer ließ indes nicht nach. Im Gegenteil, er schien sich endlich den Aufgaben voll widmen zu können, die ihn immer schon beschäftigt hatten. Die letzten Jahre seines Lebens waren inhaltlich von sei-
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nem persönlichen Engagement für die Friedensarbeit bestimmt. Frei von familiären Belastungen und auch freundlicher und entspannter im Umgang mit sich selbst, ging Rogers in den letzten acht Jahren seines Lebens im Engagement für diese Zielsetzung auf. Seit Helens Tod oder vielleicht auch wegen ihres Todes fühlte sich Rogers frei für neue Herausforderungen, und seine Reisetätigkeiten und seine internationalen Workshops nahmen zu. Als 80-Jähriger absolvierte er trotz einiger körperlicher Beschwerden, wovon sein nachlassendes Sehvermögen bestimmt die gravierendste war, eine lange Liste von Veranstaltungen auch im Ausland. Dazu zählte ein Lehrerseminar in Venezuela, ein Workshop in der Nähe von Rom, ein Lehrgang für Gruppenleiter in Paris, eine Seminar auf Long Island, eine Encounter-Gruppe in Princeton mit vielen ausländischen Teilnehmern, ein Workshop in der Nähe von Warschau und ein Workshop über „Life Transitions“ (Übergangsstadien) in der Nähe von New York. Gleichzeitig schrieb er auch in dieser Zeit wieder eine Reihe von Aufsätzen, die er zusammenfassend in seinem Buch ›A Way of Being‹ 1980 publizierte (deutsch: Rogers/Rosenberg: ›Die Person als Mittelpunkt der Wirklichkeit‹, 1980). In den autobiographischen Passagen stellt er fest: „Ich bin nicht mehr aktiv in Einzeltherapie oder empirischer Forschung. (Ich stelle fest, dass, wenn man die 70 hinter sich hat, den eigenen Tätigkeiten physische Grenzen gesetzt sind.) Ich beschäftige mich weiter mit Encounter-Gruppen, wenn ich annehmen kann, dass sie eine soziale Bedeutung haben“ (ebd., S. 51, Hervorhebung N. G.). Und so wurden diese bereits im Alter von 76 Jahren geschriebenen Einsichten das Programm für die 1980er Jahre seines Lebens. In der Mission, soziale Konflikte in politischen Krisengebieten mit dem Medium der Encounter-Gruppe zu entspannen und durch die Freisetzung der Gefühle, die hinter den Feindseligkeiten liegen, und durch die Bewusstmachung und Akzeptanz der dahinter unklar gebliebenen persönlichen Bedürfnisse wollte Rogers den Menschen helfen, zu einer verständnisvolleren und friedlicheren person-zentrierten Form des Zusammenlebens zu kommen. Diese Mission prägte Rogers’ Aktivitäten. Roger reiste nach Brasilien, Mexiko, Spanien, England, Irland, Italien, West-Deutschland, Österreich, in die Schweiz, nach Ungarn, Finnland, Venezuela, Japan, Südafrika und Russland mit einem Stab von Mitarbeitern und Kollegen des CSP, um dort in unterschiedlichen Kontexten eine lebendige Gruppenerfahrung zu demonstrieren, die den Kern seiner Überzeugung von den konstruktiven Möglichkeiten der Menschen erfahrbar machen sollte. In einer Zeit, in der die amerikanischen Psychotherapiemethoden und die Bewegung der humanistischen Psychologie zum Exportschlager geworden waren, erreichte Rogers mit seinen welt-
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weiten Veranstaltungen Tausende von Menschen, die die Gelegenheit wahrnehmen wollten, dem „Meister“ von Akzeptanz, Empathie und Kongruenz bei der Arbeit zuzuschauen und sich damit auch in eigene Prozesse der Selbstaktualisierung zu begeben. Rogers’ Veranstaltungen waren im Einzelnen höchst unterschiedlich in Intensität, Qualität und Wirkung, und es ist schwierig, diese überaus vielfältigen internationalen Aktivitäten zusammenfassend darzustellen. Die Biographen Kirschenbaum (1995) und Thorne (1992) verzichten ganz auf eine inhaltliche Darstellung dieser Friedenarbeit, Cohen (1997) behandelt sie höchst unfair auf zwei Seiten, allein in Stipsits’ Arbeit von 1999 ist darüber mehr zu finden. Es gibt als offizielle Publikationen die Reiseberichte von Rogers selbst, die im Carl-Rogers-Reader von 1990 abgedruckt sind, und die Einzelbeiträge seiner Mitarbeiter, in denen auch kritische Aspekte benannt werden. Die amerikanische „Zeitschrift für Humanistische Psychologie“ hat diesen Projekten ein Themenheft gewidmet. Zudem gibt es unterschiedliche informelle Erfahrungsberichte von Teilnehmern und Mitorganisatoren (Stipsits 1999), die GwG-Zeitschrift (1982) und verschiedene Telefonrecherchen, die ich in der letzten Zeit unternommen habe. Hinzu kommen verstreute „Geschichten und Gerüchte“, die ich als Resonanz in der deutschen person-zentrierten Szene hören konnte.
Rogers in Deutschland Einige Auftritte und Aktionen von Rogers waren Veranstaltungen mit sehr hochgesteckten und weitreichenden Zielen von internationaler Relevanz. Daneben gab es solche, in denen Rogers eine ganz „normale“ Gruppe in einem ganz normalen örtlichen Fortbildungsprogramm leitete. So berichtete er in einem Schreiben an meine Frau Ariane vom 19. März 1984, dass er gerade von einem Workshop, den er für eine Gruppe von Montessori-Lehrern in Mexiko durchgeführt hat, zurückgekommen sei. Er habe dabei erstaunt festgestellt, wie ähnlich seine und Montessoris Ideen seien (von Gottberg-Knabe 1984, S. 219). Es gab weitere Veranstaltungen, sozusagen „auf der Durchreise“ zu höheren Zielen, die Rogers mit mäßigem Erfolg und eher bescheidener Resonanz durchführte. Reinhold Stipsits beschreibt die von ihm mitorganisierte Veranstaltung in Wien 1984 sogar als einen „Flop“ (1999, S.84). Rogers’ Versuche, in Deutschland sein Konzept und seine persönliche Sicht der Dinge zu etablieren, gestalteten sich schwierig. Reinhard und Annemarie Tausch hatten Rogers bereits früh in den 1960er Jahren in den USA besucht und waren seit dieser Zeit mit Carl und Helen befreundet.
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Sie hatten die nicht-direktive und klient-zentrierte Orientierung mit nach Deutschland gebracht und sich hier für deren Verbreitung engagiert. In der Folge hatte sich daraus in Deutschland mit der „Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie“ (GwG) ein mitgliederstarker Fachverband entwickelt, der in den Gründerjahren offen für alle Berufsgruppen war und später unter der Führung der Psychologen, die mit der Radikalität, dem Idealismus, dem antiprofessionellen Denken und missionarischen Engagement von Carl Rogers deutliche Schwierigkeiten hatten, eher zu einer Standesorganisation für Psychologen und Mediziner wurde. Beide Berufsgruppen engagierten sich stark für die Kassenanerkennung des Verfahrens. In den Gründerjahren gab es eine sehr große Nähe zur „Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie“ (DGVT) und vielfältige inhaltliche Versuche, eine verhaltensmodifikatorische „Nachbesserung“ des Ansatzes von Rogers anzustreben. Rogers war von diesen Entwicklungen nicht sehr begeistert. Dass sich die Deutschen für den Terminus „Gesprächstherapie“ entschieden hatten (engl.: Talk Therapy), missfiel ihm ebenfalls. Eine Institutionalisierung seiner Arbeit hatte er sowieso stets abgelehnt, wie er uns 1984 schrieb. Die offene Encounter-Gruppe blieb für ihn das beste Erfahrungsfeld für die Vorbereitung und Ausbildung von Therapeuten und Beratern. In den 1980er Jahren war sein Engagement für person-zentrierte pädagogische und politische Initiativen ungleich größer als für die Weiterentwicklung der Psychotherapie. Gleichwohl nahm er interessiert zur Kenntnis, dass mit der „Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie“ ein sehr großer und mitgliederstarker Verband entstanden war, der die „Psychoszene“ in den 1970er und 1980er Jahren mitbestimmte. Am ersten „Europäischen Kongress für Gesprächspsychotherapie“, der 1974 in Würzburg stattfand, musste Rogers seine Teilnahme kurzfristig absagen und schickte statt dessen Grüße und eine Tonbandansprache: „In den letzten drei Monaten habe ich hart gearbeitet, in Workshops, in Gesprächen und auf Reisen, und ich war von der Erschöpfung überrascht, die das alles bei mir hervorrief. Ich verstand, dass – mit fast 73 Jahren – meine Europareise zu viel für mich sein könnte. Und dann, als ich mir das Programm anschaute, das ich geplant und dem ich zugestimmt hatte und das zum Teil 18 oder mehr Gespräche und Treffen in 9 Städten in 32 Tagen enthielt, einen langen Flug über den Atlantik vor- und hinterher eingeschlossen, da wurde mir klar, dass es ganz einfach unsinnig wäre, wenn ich das versuchen würde. Darum entschloss ich mich, vernünftig zu sein und zu versuchen, auf Carl Rogers aufzupassen. Vermutlich würde ich gerne sagen, dass meine Gesundheit in Wirklichkeit gut ist, aber es ist mir klar, dass ich einer solchen Reise nicht gewachsen bin, und darum möchte ich
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Ihnen meine Grüße senden“ (Library of Congress, Washington D. C., Box 53/10).19 So gab es in Deutschland erst sehr spät, nämlich 1981, eine erste relativ große Veranstaltung mit Carl Rogers in Bonn-Königswinter. Er führte hier auf Einladung des „Bonner Zentrums für person-zentrierte Psychologie“ einen zehntägigen Workshop durch, zu dem etwa 300 Teilnehmer kamen. Das Forum war mit vielen Professionellen besetzt. Fachkollegen aus der GwG nutzten die erste Gelegenheit für eine persönliche Erfahrung mit der Encounter-Gruppe, und Rogers’ nichtstrukturiertes Vorgehen wurde heftig und intensiv diskutiert. Er war mit Valerie Henderson, Douglas Land und Andrew Auw als Mitarbeiter vom CSP angereist, und Karl Peter Breuer, Günther Kretzer und Reinhard Tausch waren von deutscher Seite als Facilitatoren mit im Team. Im harten Kern der deutschen akademischen Psychologen blieb Rogers’ Arbeitsweise bis zum Schluss umstritten, der Respekt vor seiner Person wuchs aber in diesen Tagen auch bei denen, die für seine person-zentrierte Sicht nicht zu gewinnen waren. Bereits in der Auftaktveranstaltung zeichnete sich ab, dass Rogers es in West-Deutschland nicht leicht haben würde. Die „Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie“ bezog sich zwar allgemein auf Rogers als Begründer des Konzeptes, legte aber großen Wert auf eine eigenständige und kritische Distanz und auf eine professionelle Weiterentwicklung des Konzepts. Rogers machte umgekehrt auf einer Podiumsdiskussion mit Vertretern des Vorstandes der GwG 1982 keinen Hehl aus seinen Vorbehalten gegenüber einer solchen Zielsetzung: „Das ist auch in den USA eine wichtige Frage, wer kann über die Versicherungen abrechnen und so weiter. Meine ehrliche Meinung dazu ist, dass ich den Grad der Professionalisierung bedauere, der sich einschleicht. Professionalisierung führt auch zu Kommerzialisierung, wer verdient das meiste Geld usw. Ich bin besorgt über unqualifizierte Therapeuten. Auch bei uns gibt es eine Anzahl von Therapeuten mit Zertifikat, die nicht qualifiziert sind. Ein Zertifikat zu haben, bedeutet nicht gleichzeitig 19 In seinem inhaltlichen Vortrag führt Roger aus, dass er sehr erstaunt über die weite Verbreitung seines Ansatzes sei und sucht nach Erklärungen für dieses Phänomen. Er glaube, dass er mit dem klient-zentrierten Therapiekonzept und der damit zugrunde liegenden Hypothese einer konstruktiven Sicht des Menschen etwas ausgesprochen habe, das in der Luft lag und gebraucht das Bild vom der flachen Oberfläche eines Sees, auf der ein kleiner Steinwurf weite Wellen hervorrufen kann. Aber er benennt in diesem Vortrag auch klar seine Wertorientierungen und Kämpfe: gegen die Psychoanalyse, gegen den Behaviorismus und gegen die traditionelle Psychiatrie. Der Text wurde später veröffentlicht (Rogers/Rosenberg 1980, S. 35–52).
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auch qualifiziert zu sein“ (Rogers 1982 b, S. 21). Und er setzte noch ein weiteres Argument drauf: „Ich freue mich sehr, dass Sie das sagen. Ich selbst finde, dass jeder, der eine akademische Berufsausbildung hat, eine Menge zu verlernen hat, ehe er Psychotherapeut wird. Insbesondere müssen die Psychologen und Psychiater verlernen. Ein Grund, weshalb ich mich nie intensiv darum bemüht habe, die klient-zentrierte Ausbildung in die Universität einzubinden, war, dass ich finde, es würde ihr Wesen zerstören“ (ebd., S.23). Im Sommer 1982 machte Rogers erneut Station in Deutschland. Er war auf der Durchreise und konnte von Reinhard Tausch gewonnen werden, an der Universität in Hamburg eine große Veranstaltung durchzuführen, die auch zugleich von der GwG zu einem überregionalen Ausbildertreffen genutzt wurde. Rogers hatte dort am Vorabend das oben zitierte Gespräch mit dem Vorstand und hielt im Audimax der Universität seinen Vortrag zum Thema „Gedanken eines amerikanischen Psychologen über den Atomkrieg“. Auf dem Ausbildertreffen „im kleineren Kreis“ (etwa 60 Personen) führte er eine Demonstrationssitzung mit einer „Klientin“ durch, und es folgte eine intensive Diskussion. Rogers traf in Hamburg auch auf viele Anhänger, Freunde und Personen aus der Friedensbewegung und der „alternativen und antiautoritären Szene“. Gleichwohl war der Vortrag nach meiner persönlichen Einschätzung in seinen unmittelbaren Auswirkungen eher langatmig, zum Teil schlecht übersetzt, die ganze Szenerie in der Mischung aus akademischem Vortrag und person-zentrierten Äußerungen eher etwas zerfahren und chaotisch. Seine Rede im Kongress-Zentrum Hamburg wurde für ein deutsches Publikum in der GwG-Zeitschrift (Rogers 1982 a) abgedruckt. Rogers veröffentlichte sie 1982 in der amerikanischen „Zeitschrift für Humanistische Psychologie“. Sie machte jedoch zunächst keinen großen Eindruck, weil sie keine wirklich neuen Einsichten oder Zusammenhänge präsentierte, sondern eher das praktische und humanistische Engagement von Rogers zeigte, in dieser Sache Verantwortung zu spüren und aktiv werden zu wollen. Die Rede war für ihn so etwas wie der Auftakt für sein neues politisches und soziales Engagement in den 1980er Jahren. Es wird deutlich, dass Rogers’ Ruhm und Einfluss mittlerweile so groß war, dass sein Name ausreichte, um in vielen Ländern dieser Welt Personen, die in psychosozialen Berufen arbeiteten, aber auch viele Personen, die ehrenamtlich in Laien- und Selbsthilfegruppen engagiert waren, wie ein Magnet anzuziehen. Viele Menschen wollten Rogers als Person und zugleich als Sprecher einer Bewegung, als Gallionsfigur der person-zentrierten Psychologie erleben. Es war bekannt, dass Carl diese Rolle hasste und ablehnte. Trotzdem oder genau deshalb schwärmten
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viele für ihn, und er hatte als alternative Identifikationsfigur eine intensive Wirkung. Für mich, der ich als „junger GwG-Ausbilder“ an diesem Treffen teilgenommen hatte und Carl Rogers zum ersten Mal live erlebte, waren zwei Dinge von besonderer Bedeutung: Zum einen hat mich die Schlichtheit, Zurückhaltung und Redlichkeit dieses alten Mannes berührt, der in akzeptierender und auch sehr konzentrierter Weise sich selbst, seine Fähigkeiten und Erfahrungen einem ihm doch fremden Teilnehmerkreis sehr offen zur Verfügung stellte. Ich war natürlich auch wegen des „berühmten Namens“ und seines mittlerweile weltweit angewachsenen Ruhmes nach Hamburg gekommen und hätte eigentlich sehr viel lieber einen „wirklichen“ und mitreißenden Guru der humanistischen Bewegung erlebt. Dieser Erwartung entsprach Rogers in seinem Auftreten gewiss nicht. Er war weder brillant noch mitreißend, er faszinierte das Publikum nicht und beherrschte es auch nicht. So erschien mir Carl Rogers damals höchstens als „kleiner Guru“, und ich war anfangs enttäuscht. Andererseits beeindruckte es mich sehr, wie es ihm während der Demonstration gelang, eine komplett andere Stimmung in der Gruppe hervorzurufen, und wie alle Anwesenden höchst beteiligt und aufmerksam-konzentriert sein Gespräch mit der Demonstrationsklientin verfolgten. Diesen Effekt kannte ich aus meinen eigenen Ausbildungsgruppen, als ich die Gesprächstherapie selbst kennen lernte, und auch später als Ausbilder, als ich selbst kleine Ausbildungsgruppen betreute. In einem so großen Forum hatte ich diesen Effekt in dieser Intensität allerdings noch nicht erlebt. Das Klima von Verständnis, Akzeptanz und persönlicher Nähe, das von Rogers ausging, beeindruckte mich dann allerdings doch sehr.
Ansichten eines Psychologen über den Atomkrieg In seinem Vortrag führte Rogers aus, dass zu Anfang der 1980er Jahre ein drohender Atomkrieg wie eine schwarze Wolke über der heranwachsenden Generation, aber natürlich auch über allen anderen Menschen schwebte und deren Seelenleben mit Angst erfüllte. Der Ost-West-Konflikt hatte sich verschärft, und die Nato hatte mit dem „Doppelbeschluss“, einerseits mit der Sowjetunion zu verhandeln und gleichzeitig in Europa mit Atomraketen aufzurüsten, eine harte Verhandlungslinie eingeschlagen. Deutschland war als Stationierungsgebiet für die Pershing-2-Raketen mit Atomsprengköpfen vorgesehen und die Menschen, nicht nur in Deutschland, hatten sehr konkrete Ängste. Unter den Überschriften „Was können wir tun?“ und „Wie können wir mit sozialen Spannungen umge-
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hen?“ plädierte Rogers für den Einsatz von Facilitatoren, also Gesprächshelfern und Gruppenleitern, die Menschen, die in feindselige Konflikte verwickelt sind, helfen, ihre Bedürfnisse zu klären und Vereinbarungen zu finden, in denen beide Seiten ihr Gesicht wahren können. Er berichtet von seiner Arbeit in Belfast und der intensiven Encounter-Gruppe dort im Krisengebiet und von den Erfolgen und Annäherungen, die dort zwischen den Protestanten und Katholiken stattgefunden hatten. Ebenso wies er auf seine Erfahrungen aus dem Workshop in El Escorial in Spanien hin, wo sich 170 Menschen aus 22 Nationen in einer Cross-Cultural-Veranstaltung mit ihm und seinen Mitarbeitern vom CSP getroffen hatten, um ihre politischen und religiösen Meinungen und Einstellungen auszutauschen und zu untersuchen: „Das Spektrum reichte politisch von Marxisten bis zu konservativen Kapitalisten, von Priestern bis zu Atheisten, von Alt bis Jung. Feindseligkeiten im Bezug auf Nationalität und Rassenzugehörigkeit traten klar hervor, besonders Feindseligkeiten gegen die ‚imperialistische Politik‘ der Vereinigten Staaten. Und doch begannen bei diesem 10 Tage dauernden Workshop die Mitglieder in dem förderlichen Klima sich allmählich gegenseitig anzuhören, dann schrittweise zu verstehen und zu respektieren“ (Rogers 1982a, S.43). Rogers zog auf der Grundlage dieser Erfahrungen aus den Cross Cultural Workshops einen Vergleich zur Ebene der internationalen Politik und analysierte die Ereignisse des Friedensprozesses, der in Camp David zwischen Sadat und Begin unter der helfenden Begleitung von Präsident Carter stattfand. Nach Rogers’ Überzeugung hatte sich dort in diesen 12 Tagen der Camp-David-Verhandlungen ein Prozess entwickelt, der den Regeln der Encounter-Gruppe folgt: Am Anfang gab es feindselige Haltungen zwischen den Beteiligten, es gab eine hilfreiche Begleitung von außen, die in der Lage war, die feindselig geäußerten Standpunkte ernst zu nehmen und in den Streitfragen klärend in dem Sinne einzuwirken, dass die vorher hochemotionalisierten Standpunkte nun sachlich zusammengefasst und mit den Akteuren angemessener verhandelt werden konnten. Es gab darüber hinaus Vereinbarungen über die Verschwiegenheit und Privatheit dieser Veranstaltung. Es gab keine Zuschauer; Reporter und die Öffentlichkeit waren nicht zugelassen, und die Akteure konnten unabhängig von ihren Funktionen, Ämtern und Aufgaben als Personen miteinander in Kontakt treten. Diese intensive Kleingruppenerfahrung blieb nicht ohne Auswirkungen: „Zu Anfang standen sich Begin und Sadat fast gewalttätig und feindselig gegenüber. Nach Ablauf der 12 Tage hegten sie sogar warmherzige Gefühle füreinander, so dass sie sich in aller Öffentlichkeit vor den Fernsehkameras umarmten. Dies ist ein sicherer Beweis dafür, dass derselbe Prozess zwi-
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schen Weltpolitikern wirken kann, der in Workshopgruppen abläuft“ (ebd., S. 47). Rogers forderte die Weltöffentlichkeit und vor allen Dingen auch seine eigene Regierung auf, mit der UdSSR in ein Gespräch einzutreten und die wechselseitigen Abneigungen und Vorurteile des Kalten Krieges zur Seite zu legen. „Es gibt also guten Grund zu glauben, dass viele Millionen Menschen in vielen Ländern Frieden ersehnen. Wenn große Massen für diese Sehnsucht ihre Stimme erheben, können sie die beiden Regierungen an ihrem zerstörerischen Kurs hindern. Wir haben Beweise dafür in meinem Land. Schließlich war es der öffentliche Protest, der den Vietnamkrieg beendete“ (ebd., S. 45). „Die gegenwärtige Haltung der amerikanischen Regierung muss geändert werden. Wir müssen mit dem russischen Volk kommunizieren. Wir müssen versuchen, ihren Standpunkt zu verstehen. Wir müssen ihnen helfen, unseren Standpunkt zu verstehen. Wir müssen einen Dialog mit ihnen führen, auf offiziellen und inoffiziellen Ebenen. Das wird nicht leicht zu erreichen sein. Aber wir müssen den Dialog fördern, sei es bei Treffen von offiziellen Regierungsvertretern, bei Fachkonferenzen oder bei Geschäftsverhandlungen“ (ebd., S. 46). Abschließend betonte er: „Es bleibt uns sehr wenig Zeit. Dies ist eine Frage von Leben und Tod an uns alle. Können wir das Zutreiben auf die Zerstörung verhindern? Wir alle tragen Verantwortung bei der Beantwortung dieser Frage. Ich habe meinen persönlichen Anteil an dieser Verantwortung getragen, in dem ich in so deutlicher Weise gesprochen habe. Ich will damit weitermachen. Ich hoffe, Sie – und Millionen andere – werden sich mir anschließen in der Bemühung, unseren entsetzlichen Wahnsinn zu beenden – das Hintreiben zum Atomkrieg“ (ebd.). Niemand der Anwesenden und sehr wahrscheinlich auch nicht Carl Rogers selbst hätte es für möglich gehalten, dass diese programmatische Rede solche praktische Folgen haben könnte. Vier Jahre später ist Rogers mit seinem Mitarbeiterstab in der Lage, in Moskau und in Tiflis genau solche Workshops durchzuführen. Auch im hohen Alter von 80 bis 85 Jahren war er noch zu unglaublichem praktischen Engagement in der Lage und ließ dieser Proklamation weltweit konkrete und praktische Taten folgen. Nicht zuletzt wegen seiner Workshops 1986 in Moskau wurde er 1987 für den Friedensnobelpreis nominiert. Die dritte Veranstaltung in Deutschland war erneut auf Einladung des Bonner Zentrums eingefädelt und von der Deutschen Bewährungshilfe im September 1983 in Bad Godesberg organisiert worden. Diesmal handelte es sich allerdings nur noch um einen Zwei-Tage-Workshop, den Rogers auf der Durchreise absolvierte. Es zeichnete sich nach der ersten Diskussion mit den Fachkollegen der GwG und deren Vorstand deutlich ab, dass
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die unterschiedlichen Auffassungen zu weit auseinander lagen. Rogers konterkarierte mit seiner strikt antiprofessionellen und antiinstitutionellen und antiakademischen Sicht der Dinge, mit der er ja auch das Verständnis seines eigenen Psychologenverbandes in Amerika schon sehr strapaziert hatte, das Bestreben, die klient-zentierte Psychotherapie in Deutschland als „wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie“ durch einen eigenen Fachverband berufsständisch abzusichern. Er befürchtete, dass es dann der klient-zentrierten Therapie so ergehen werde, wie es der Psychoanalyse ergangen war: Ein unkritisierbares Dogmen- und Aufsichtsgebäude war im Laufe der Zeit an die Stelle einer zuvor sehr kreativen und lebendigen Such- und Lernbewegung getreten. Macht, Prestige und Geld waren seiner Meinung nach wichtiger geworden als konkrete menschliche Hilfe. Im Verlauf des Workshops in Bad Godesberg nahm Rogers wieder die Gelegenheit war, sein Beratungskonzept und seine klient-zentrierte Therapietheorie vor einer Versammlung von etwa 130 Personen vorzustellen und dieses sodann nach einer Pause durch eine Demonstrationssitzung mit einer freiwilligen „Klientin“ aus dem Publikum zu veranschaulichen. Die Klientin im Rahmen dieser Veranstaltung, Gila Galitzine, thematisierte in diesem Gespräch ihre Ängste vor dieser atomaren Bedrohung, die plötzlich in Deutschland überall zu spüren war, und beschrieb, dass sie sich von diesen Ängsten gelähmt und handlungsunfähig erlebte. Erst gegen Ende des Gesprächs fand sie ihre Hoffnung wieder und die Richtung einer Handlungsperspektive zurück.20 Das Gespräch hatte allerdings Langzeitauswirkungen: 1984 organisierte sie selbst einen internationalen Friedensworkshop „Living Now for Peace“, an dem dann auch Mitarbeiter des CSP-Carl Rogers Peace Project teilnahmen. Alles in allem, so berichtet der damalige Veranstalter Karl Peter Breuer, war die zweite Veranstaltung für die deutschen Organisatoren wirtschaftlich nur ein (mäßiger) Erfolg, und es zeichnete sich ab, dass weitere Folgeveranstaltungen vom Bonner Zentrum nicht mehr organisiert werden konnten. Und auch die GwG zeigte augenscheinlich kein Interesse daran, Rogers für weitere Veranstaltungen in Deutschland zu gewinnen. So blieben die Initiativen von Carl Rogers in Deutschland person-zentrierte Impulse, die durchaus ihre Wirkungen und Folgen hatten, die aber von keiner 20 Rogers war von den Inhalten des Gesprächs sehr beeindruckt und bezog sich in seinen Veröffentlichungen und Vorträgen oft darauf. So hatten interessierte Menschen in den USA Einblick in die Ängste der deutschen Bevölkerung in dieser Zeit. Wie Frau Galitzine berichtete, war dieses Gespräch einigen amerikanischen Teilnehmern des Ost-West-Konflikt-Workshops 1984 in Ungarn gut bekannt.
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Carl Rogers in der Wohnung von Sigmund Freud in Wien, Berggasse, 1981 (Foto: Reinhold Stipsits).
Organisation unterstützt wurden. Trotzdem blieb Rogers in seiner Friedensmission weltweit aktiv. 1982 war er in Texas, in Mexiko, in Südafrika, in der Sowjetunion, in Moskau und Tiflis und veröffentlichte jeweils in der „Zeitschrift für Humanistische Psychologie“ die Aktivitäten. So vielfältig und so unterschiedlich wie die Anlässe und die konkreten Projekte und Tagungen vor Ort waren, so unterschiedlich waren auch deren Verlauf und Erfolg. Noch immer war der Gesundheitszustand für einen 80-Jährigen erstaunlich gut, für ein solches Mammutprogramm reichte seine Vitalität aber kaum mehr aus. Reinhold Stipsits berichtet als Mitveranstalter und Teilnehmer einer Wiener Veranstaltung 1984 von einem „Flop“: „Schon der Ankunftsabend in Wien verläuft wenig enthusiastisch. In Wien ist Rogers, wie auch die Veranstalter, der Vorstand ‚apg‘21, jene österreichische Vereinigung für die Ausbildung von Psychotherapie nach Rogers, dem ich damals noch angehörte, zu selbstsicher, dass sein Name alleine zählt. Im Studio Molière findet neben einer Präsentation verschiedener klient-zentrierter Referenten ein öffentlicher Vortrag von Rogers statt, genau am 20. Juni 1984. Die Sache endet wenig ermutigend, zerfahren und fast er21 Die apg, Arbeitsgemeinschaft für personenzentrierte Gesprächsführung und Beratung, ist eine von drei der Gesellschaften, die in Österreich das klient-zentrierte Konzept vertreten.
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bärmlich. Rogers ist sichtlich gealtert, den Strapazen seines anstrengendes Lebens dieser Tage nicht ganz gewachsen. Er orientiert sich merklich an Eingebungen von Ruth Sanford, die ihrerseits wohl Erfahrungen mit Rogers vor einem zustimmenden Auditorium gemacht hat, aber keinen Weg findet, auf kritische Fragen bezüglich der vitalistischen Komponenten im PCA und gesellschaftspolitischen Implikationen Raum oder Antworten zu geben. Statt der vorgesehenen Plenumdiskussionen gerät das ganze in eine nichtgeordnete, nichtdefinierte Begegnung, die von den idealiter beschriebenen Prozessen einer geglückten Encounter-Gruppe so weit weg ist, wie Rogers in diesem Moment von seinen kalifornischen Lebensgewohnheiten. Nachträglich stellt sich als angenehm heraus, zumindest zur Reduktion der Peinlichkeit, dass die eingeladenen Journalisten ohnehin nicht gekommen sind“ (Stipsits 1999, S.85). Die Veranstaltung ein paar Tage zuvor in Genf muss hingegen ein voller Erfolg gewesen sein: Beate Hofmeister als Demonstrationsklientin berichtet, das Interview mit Carl Rogers habe ihr als Klientin geholfen, ihre Unfruchtbarkeit zu beenden. Das Publikum der öffentlichen Veranstaltung war begeistert, und Rogers kam, getragen auf dieser Welle von Zustimmung und Sympathie, in Wien an, wo die Veranstaltung dann augenscheinlich floppte. Der unglaublichen Vielfalt der Anlässe und der Unterschiedlichkeit des jeweiligen Publikums vor Ort, nicht nur in kultureller, nationaler und sprachlicher Hinsicht, sondern auch den unterschiedlichen Standards und Erwartungen der jeweils einladenden Organisationen hätte Rogers auch nicht gerecht werden können, wenn er noch die Mentalität eines 40-Jährigen gehabt hätte. Auch seine eigene nicht-direktive Arbeitsweise konnte wenig dazu beitragen, die unterschiedlichen Erwartungen zu klären. Es gab die Teilnehmer, die akademischer und professioneller Herkunft waren und die von Rogers und seinem weltweiten Ruhm vor allen Dingen brillante intellektuelle Auseinandersetzungen erwarteten (und entsprechend enttäuscht und frustriert wurden), und es gab Teilnehmer aus Laien- und Selbsthilfebewegungen, basisdemokratischen „Graswurzel“-Organisationen sowie aus dem kirchlichen und spirituellen Raum, die sich gerne von Rogers inspiriert auf persönliche Begegnungen und Auseinandersetzungen im Stil der Encounter-Gruppe einließen. Aber dies alles zugleich und in verschiedenen Sprachen konnte dann auch leicht aus dem Ruder laufen. Insgesamt gesehen waren jedoch sehr viele Veranstaltungen gelungen und erfolgreich, was die Demonstration der zentralen person-zentrierten Hypothese anbetraf, und Rogers konnte viele Menschen mit seiner Botschaft erreichen. Obwohl Rogers in den 1980er Jahren die spirituelle Dimension in sein Konzept aufgenommen und sich mit seiner Arbeit im Umfeld der „sanf-
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ten Verschwörung“ der New-Age-Bewegung wiedererkannte (Ferguson 1982; Capra 1981), so maß er diesen spirituellen Dingen doch augenscheinlich keine übermäßig große Bedeutung zu und hat bei der Ausrufung der neuen „Transpersonalen Psychologie“ keine aktive Rolle gespielt. Sein aktives Engagement, seine konkreten Taten und Aktionen im hohen Alter galten eher handfesten „irdischen“ Zielen, nämlich das person-zentrierte Konzept und speziell die Verfahren der person-zentrierten Begegnung und der person-zentrierten Gruppe als Instrument zur Lösung politischer Konflikte und sozialer Krisen zu nutzen. Seine Weiterentwicklung der klient-zentrierten Psychotherapie zum person-zentrierten Ansatz war auch im CSP nicht unumstritten geblieben, und einige Kollegen waren nicht bereit, diese neue Entwicklung mitzutragen. Sie kritisierten die grenzenlose Ausdehnung des therapeutischen Konzeptes auf alle Lebensbereiche als eine Wiederkehr von weltanschaulichen und Gesinnungs- und Glaubensfragen und wollten die klient-zentrierte Therapie von solchen Effekten freihalten (Coulsen 1972/1981a, Shlien 1984/ 1988). Rogers hingegen hatte den Schwerpunkt schon immer darauf gelegt, dass seine Therapie aufgrund bestimmter innerer Einstellungen und einer durchgehenden Lebenshaltung wirke, die man nicht professionell für 45 Minuten als Therapeut an- oder ablegen könne. Die Verbreitung dieser Haltung als einer speziellen Weise zu sein, war ihm in seiner eigenen persönlichen Entwicklung im Alter die wichtigste Aufgabe geworden.
Das „Carl Rogers Institute for Peace“ Um die konstruktive Kraft der Encounter-Gruppen auch für politische und soziale Fragen nutzen zu können, gründet Rogers innerhalb des CPS zusammen mit Gay Swenson (heute Gay Barfield) 1984 das „Carl Rogers Institute for Peace“, indem er versucht, seine vielfältigen Aktivitäten, seine weltweiten Kontakte und die Früchte seiner „humanistischen Missionstätigkeit“ unter einem Dach zusammenzufassen und zu einer eigenständigen Organisation auszubauen. In ihm wollte Rogers seine vielfältigen Initiativen, Kontakte und Aktivitäten in Richtung Friedensarbeit sammeln und diesen eine effektivere Stoßrichtung und eine solidere Finanzierung geben. „Es sieht ein bisschen naiv aus, in meinem Alter von 82 Jahren ein Friedensprojekt starten zu wollen. Aber ich fühle wie viele andere auch in der gegenwärtigen Zeit, dass die Aufgabe, einen nuklearen Holocaust zu verhindern, oberste Priorität hat: in meinem Denken, in meinem Herzen und in meiner Arbeit. Deshalb bin ich ein Anhänger dieses Projektes“ (Barfield 1998, S. 7 f.). In
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einem späteren Schreiben klang diese Absicht ähnlich deutlich: „… meine wichtigste Aufgabe sind die Aktivitäten des Carl Rogers Friedensprojektes … Meine Arbeit in Richtung Frieden war das zentrale Thema in meinem Leben für eine ganze Reihe von Jahren, und ich will dies fortsetzten, und das Friedensprojekt ist das wichtigste Ergebnis dieses Wunsches“ (ebd., S. 8). Wie die Agenda seiner Reisen in den letzten sieben Lebensjahren zeigt, waren die Orte und Themen der Veranstaltungen weltweit so gewählt, dass Rogers speziell in sozialen Krisengebieten seine humanistische Mission durchführte. Das gilt für das Spannungsfeld der politischen Konflikte in Zentralamerika, für die Workshops und Veranstaltungen, die er in einem noch von der Apartheitspolitik geprägten Südafrika durchführte, und für seine Reisen in die damals noch bestehende Sowjetunion, in der sich mit der neuen Politik von Gorbatschow erste Risse im fest gefügten totalitären System zeigten. Einer Erneuerung von innen, einem Umschwung, der von den konkreten Menschen in einer veränderten Öffentlichkeit und von den Veränderungen einer globalen Kommunikation getragen wurde, traute Rogers mehr zu als der Veränderungskraft der etablierten politischen Institutionen, den gewählten Interessenvertretern und den politischen Funktionären. Insofern sind seine Aktivitäten von vielen Kritikern als naiv befunden worden, wie er – ohne Abstimmung mit anderen politischen Vereinigungen lediglich „Kraft seiner Person“ (und natürlich seines mittlerweile erworbenen Ruhmes) – persönliche Kontakte nutzte, um in diesen vordemokratischen Ländern seine Gruppentherapie, seine EncounterGruppen und seine Einzeltherapie vorzustellen, die nach seiner Auffassung einen emanzipatorischen und demokratisierenden Effekt auslösen. Er vertraute diesen unmittelbaren erfahrungsbezogenen Begegnungen eher als den engagierten öffentlichen „Austauschveranstaltungen“, wie sie von Kirchen und Gewerkschaften und anderen nationalen Organisationen durchgeführt wurden, und er versuchte ihnen eine person-zentrierte Alternative an die Seite zu stellen.
Der Rust-Workshop: „The Central America Challenge“ So kam – angeregt von seinem Carl-Rogers-Friedensinstitut – der Workshop in Rust, einer kleinen Ortschaft in Österreich nahe der Grenze nach Ungarn, in der Zeit vom 1. bis 4. November 1985 zustande, eine Friedenskonferenz zu den Konfliktthemen der zentralamerikanischen Staaten.
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Die Vorarbeiten für dieses Projekt waren bereits 1984 angelaufen. Rogers hatte versucht, für sein Friedensprojekt die Unterstützung einer Reihe von Politikern und Diplomaten und Entscheidungsträgern aus der Wirtschaft zu gewinnen. Die Zielsetzung war, dass sich die etwa 50 Teilnehmer des Workshops als Personen treffen sollten und nicht in ihren Funktionen. Es waren Botschafter, ehemalige Präsidenten, Senatoren, Buchautoren und Professoren. Sie kamen aus 17 verschiedenen Nationen, um sich mit der politisch krisenhaften Entwicklung in Mittelamerika zu beschäftigen. Es sollte keine Medienveranstaltung mit öffentlichen und großen politischen Erklärung sein, sondern ein privates Treffen in einem angenehmen Hotel. Der persönliche Austausch der Menschen über die politischen Probleme der Länder und die persönliche Begegnung sollten im Mittelpunkt stehen. Rogers reiste mit zehn Mitarbeitern aus dem „Center for the Studies of the Person“ an. Die Administration und Leitung lag bei Gay SwensonBarfield und ihm selbst. Die Teilnehmer kamen aus Costa Rica, Honduras, El Salvador, Nicaragua, Kolumbien, Venezuela, Mexiko, Chile, den Vereinigten Staaten, aber auch aus Schweden, West-Deutschland, Indien, Polen, Ungarn, den Philippinen und aus der Schweiz. Es nahm ebenso ein Palästinenser aus Jerusalem teil. Die Veranstaltung wurde finanziell gefördert von der UN-Friedensuniversität von Costa Rica, von dem „Center for the Studies of the Person“ (CSP) und von Rodrigo Carazo, früherer Präsident von Costa Rica und Präsident der Friedensuniversität. Darüber hinaus gab es eine Unterstützung von einer Wiener Bank, die die Kosten für die Hotelunterbringung am Seehotel übernommen hatte, eine Spende in Höhe von 25 000 Dollar der „Carnegie Cooperation“ und etwa 30 000 Dollar aus einer anonymen Einzelspende. Rogers hatte eine Reihe von Hollywoodstars überzeugen können, diese Mission zu unterstützen. Die Ziele der Veranstaltung waren klar. Unter dem Arbeitstitel „The Central America Challenge“ sollten politisch einflussreiche Persönlichkeiten aus den unterschiedlichen Ländern des Krisengebietes in persönlichen Dialogen Spannungen und Konflikte reduzieren. Ähnlich, wie das bereits in der Encounter-Gruppe in Belfast und in Südafrika gelungen war, sollten die hochrangigen Entscheidungsträger für einen ganzheitlichen und verständnisvollen Umgang mit den politischen Spannungen gewonnen werden. Das Forum bot den Teilnehmern die Möglichkeit, die kritische Situation in Zentralamerika zu thematisieren, und die Gelegenheit, Gefühle, Meinungen und Einstellungen zu diesen Vorgängen mit Hilfe der Facilitatoren frei auszudrücken – in der Hoffnung, dass sich auch in dieser Encounter-Gruppe Annäherungen und Verständnisprozesse zeigen. Es sollte ein Prozess in Gang gesetzt werden, der Vertrauen bilden und kreative
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Friedenskonferenz in Rust, Österreich, 1985, Eröffnungsveranstaltung (Foto: Gay Swenson-Barfield).
Initiativen hervorbringen kann, so dass die Personen dieser Nationen neue Wege finden, um weniger feindlich miteinander umzugehen. Rogers gab später einen differenzierten Bericht über den Ablauf der vier Tage. Er versuchte den Prozess vom Standpunkt eines Psychologen, der an Gruppenprozessen und deren Studium interessiert ist, zu beschreiben. Dabei war ihm klar, dass es andere Beschreibungsperspektiven gibt, etwa eine politische Perspektive oder eine rein persönliche. Seine Perspektive in dem Bericht gilt dem Gruppenprozess und seiner Entwicklung. Obwohl die Atmosphäre am Anfang schwierig und etwas steif war, gelang es allmählich, zu persönlichen Begegnungen vorzudringen und die Gruppensituation offener zu gestalten und Spannungen zu reduzieren. Als Beleg für die positiven Veränderungen kann Rogers eine Woche später aus einer Reihe von Briefen und Zuschriften von Teilnehmern zitieren, die ihn in seiner Auffassung bestärkten, dass der Rahmen der EncounterGruppe ein Instrument sein kann, auch mit diplomatischem Personal Einstellungsveränderungen zu bewirken. In der Situationsbeschreibung von Stipsits (1999), der als einer der Teilnehmer aus Österreich an dieser Konferenz teilnahm, wurden auch die Anstrengungen, Überforderungen und Anspannungen sichtbar, die sicherlich diese Veranstaltung für Carl Rogers mit sich brachte. Rogers kam unglücklicherweise stark verkühlt und erheblich gehandikapt zu dieser Ver-
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anstaltung. Durch ein Schleudertrauma bedingt musste er eine Halskrause tragen, die ihn ungewollt ‚befangen‘, jedenfalls seltsam starr sein ließ. „Rogers ist mit seinem so wichtigen Projekt nicht restlos erfolgreich. Allein das Zusammenbringen von ca. 50 Teilnehmern aus zum Teil verfeindeten Staaten an einem Konferenztisch und die Unterstützung durch erfahrene Gruppenleiter ist jedoch ambitioniert und verdienstvoll zu nennen“ (Stipsits 1999, S. 87). In der „Zeitschrift für Humanistische Psychologie“ finden sich 1987 ausführliche Berichte. Insbesondere die Rust-Konferenz war ein wesentlicher Anlass für seine spätere Nominierung für die Verleihung des Friedensnobelpreises. Auch wenn die Effekte der persönlichen Begegnungen ihre Wirkungen nicht unmittelbar entfalteten, so kann man doch davon ausgehen, dass diese Aktivitäten einiges an Nachdenken und Umorientierung bewirken konnten. Immerhin war es der Präsident von Costa Rica, nämlich Oscar Arias Sánchez, der 1987 für eben diese Friedensbemühungen in Zentralamerika den Friedensnobelpreis in Empfang nehmen konnte. Es fand später unter der Leitung von Gay Swenson-Barfield und dem „CSP-Peace-Project“ noch eine Nachfolgekonferenz in Costa Rica statt. Zu diesem Zeitpunkt war Rogers allerdings bereits gestorben und die finanzielle Unterstützung der Arbeit dadurch fast zum Erliegen gekommen. Allein die Spende eines der Erben der McDonald’s-Restaurantkette über 100 000 Dollar verhalf dem fast schon in den Konkurs geratenen Unternehmen noch einmal zum Erfolg. Danach zeigte sich freilich, dass ohne Carl Rogers als prominente Galionsfigur, ohne seinen persönlichen Einsatz, sein stetiges Engagement und ohne seinen Ruhm und seine weltweiten Kontakte und Verbindungen solche person-zentrierten Friedensunternehmungen für das Carl Rogers Institute for Peace nicht mehr zu realisieren waren.
Die Workshops in der Sowjetunion 1986 Über die Vermittlung von Francis Macy von der „Association for Humanistic Psychology“ kam nach längeren Vorarbeiten 1986 eine Reihe von Workshops in der damals noch existierenden Sowjetunion zustande, die Rogers die Gelegenheit gaben, einen Einblick in die Welt sowjetischer Akademiker und deren Lebensbedingungen zu nehmen, und die ihm auch die Gelegenheit boten, seinen person-zentrierten Ansatz als eine zentrale Methode der humanistischen Psychologie vorzustellen. Eine Serie von Veranstaltungen wurde vom 25. September bis 15. Oktober durchgeführt. Carl Rogers wurde, wie in den letzten Jahren oft, von Ruth Sanford begleitet. Auch Francis Macy gehörte zum Mitarbeiterstab. Auf sowjetischer
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Seite wurde diese Initiative von Dr. Alexis Matyushkin, dem Direktor des Instituts für allgemeine und pädagogische Psychologie der Universität Moskau, vorangetrieben. Im Auditorium des Instituts waren etwa 350 Personen versammelt, 50 weitere Zuhörer befanden sich in einem separaten Raum. Carl und Ruth wechselten sich in den anfänglichen Vortragsaufgaben ab, und auch hier konnte im Auditorium relativ rasch die Bereitschaft für eine Demonstrations-Therapie erzeugt werden. „Die englischsprechende Klientin und ich saßen uns auf der Bühne gegenüber, jeder mit einem Mikrofon. Hinter jedem von uns stand eine Übersetzerin, die jede Bemerkung ins Russische übersetzte. Alles wirkte so künstlich, dass es schwer zu glauben ist, wie intensiv und tief ein solches Interview sein kann. Die Klientin erzählte von ihren Schwierigkeiten mit ihrem Ehemann, ihrem 17-jährigen Sohn … Ich bemühte mich, ein verstehender Begleiter für sie zu sein, während sie ihre Beziehungen und ihr Selbst explorierte. Am Ende des Interviews zog sie zumindest in Erwägung, ihre Gefühle in der Beziehung offen auszudrücken. Es gab viel Diskussion über das Interview und die Zuhörer schätzen diese Möglichkeit sehr. Mir und der Klientin wurden Fragen gestellt, es wurden Kommentare und Interpretationen gegeben. Ich musste die Klientin vor übereifrigen und ‚tiefschürfenden‘ Interpretationen schützen“ (Kirschenbaum/Henderson 1990 a: 480). Später gab es ein weiteres öffentliches Treffen an der Moskauer Universität, an dem ungefähr 900 Studenten und andere Fakultätsmitglieder teilnahmen. Auch hier gab es ein Demonstrationsinterview und die „übliche“ offene und kontroverse Diskussion nach dieser gemeinsamen Erfahrung. Das Interview selbst war schwieriger, weil die Klientin sehr hartnäckig Ratschläge für ein konkretes Problem ihres Leben erwartete und erst, als sie die Bühne verließ, damit Frieden schließen konnte, dass sie, statt einen Ratschlag zu erhalten, selbst eine Entscheidung treffen müsste. Rogers bilanziert in der Auswertung dieser Reise für einen Beitrag der „Zeitschrift für Humanistische Psychologie“, dass sie in diesen drei Wochen ca. 2000 Menschen erreichen konnten. Und er schildert detailliert die unterschiedlichen Situationen im Plenum, in der Großgruppe sowie auch in den kleineren Dreier-Übungsgruppen, in denen die Teilnehmer in den Workshops in wechselnden Rollen person-zentrierte Beratung am eigenen Leib mit eigenen Themen durchführen konnten. Das erste Treffen der Moskauer Intensivgruppe mit etwa 50 Teilnehmern war am 1. Tag sehr feindselig und emotionalisiert. Die Teilnehmer fielen mit wechselseitigen Anschuldigungen und Anklagen übereinander her, und erst am 2. Tag begann eine drastische Veränderung im Klima zum Positiven, am 3. und 4. Tag wurden die Beiträge persönlicher und intensiver. Dies war vor allem durch die Arbeit
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in den Triaden möglich. Die Teilnehmer thematisierten Familienprobleme, Probleme im Umgang mit den eigenen Kindern aus erster und zweiter Ehe, und Rogers fiel auf, dass es für das sowjetische akademische Personal Normalität war, zum ersten, zweiten oder dritten Mal verheiratet zu sein und sich mit den daraus ergebenden Verwicklungen, was Erziehungsfragen anbetraf, nicht zurechtzufinden. Das Klima in der gesamten Veranstaltung veränderte sich kontinuierlich hin zu mehr Offenheit, so dass persönliche Erfahrungen, Erlebnisse und Eindrücke ausgetauscht werden konnten. Die Intensität des Zuhörens stieg beträchtlich. Als zwei Tage später ein evaluatives Treffen mit dem wissenschaftlichen Beirat durchgeführt werden sollte, erhielt dass Team Zustimmung für den Vorschlag, dass die Gruppenmitglieder selbst sprechen und erklären, was dieser Workshop für sie bedeutet habe. So kamen zu dieser evaluierenden Versammlung immerhin 500 Personen, die etwas über den Workshop hören oder selbst von ihren Erfahrungen sprechen wollten. Die Versammlungsleitung bot an, dass, wer sprechen wollte, seinen Namen auf einen Zettel schreiben sollte, um ihn am Podium abzugeben. Jeder Sprecher sollte fünf bis maximal zehn Minuten Zeit für sein Statement haben. 30 Zettel wurden gereicht. Letztlich konnten nicht alle Teilnehmer gehört werden, aber die Zahl zeigt das immense Interesse. In seinem Beitrag stellt Rogers einige Aussagen der Teilnehmer wortwörtlich vor. Aufgrund dieser Darstellung kann man sagen, dass die Veranstaltung ein voller Erfolg war im Bezug auf die Verbreitung einer person-zentrierten humanistischen Perspektive, für die Reduktion von sozialen Spannungen und im Bezug auf die Steigerung der Sensibilität für wirkliches Zuhören und eine nicht an Bedingung gebundene Zuwendung. Einige der anwesenden Psychotherapeuten und Psychiater berichteten in ihren Statements, dass sie am nächsten Tag ihren Klienten auf eine andere Art und Weise zuhörten als zuvor und dass damit jenseits des Eisernen Vorhangs ein konstruktiver Prozess bei vielen Menschen angestoßen werden konnte. „Wir fuhren fort in der Hoffnung, dass es eine nächste Reise in die Sowjetunion geben wird, die eine große Anzahl hochrangiger amerikanischer Bürger einbeziehen könnte, mit allen Varianten politischer Meinungen, um in einer intensiven Gruppe mit einer ebenso großen Anzahl hochrangiger Sowjet-Bürger zusammenzutreffen. Es wäre ein Privileg, eine solche Begegnung begleiten zu dürfen. Wir könnten nun als nächstes mit einem ausgewählten Kreis von sowjetischen Facilitatoren zusammenarbeiten, wenn ein solches Programm realisierbar ist. Das ist eine Entwicklung, die inständig erwünscht ist“ (Kirschenbaum/Henderson 1990 a: 501). Mit diesen Worten schloss Rogers den Bericht über seinen wohl letzten
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großen Workshop in Sachen Friedensarbeit. Insgesamt scheint es Rogers in seinen späten Jahren noch gelungen zu sein, seine zentrale Hypothese in praktischer Weise sehr vielfältig einer Bewährung auszusetzen und damit auch seinen Kritikern zu zeigen, dass die Encounter-Gruppe ein praktisches politisches Potential in sich birgt. Der Einfluss der klient-zentrierten Bewegung im Bereich der Psychotherapie wurde allmählich rückläufig. Mit dem Zusammenbrechen des „Eisernen Vorhangs“ und der Mauer in Westberlin änderte sich auch die weltpolitische Situation entscheidend, und es fanden auch in der Protestund Alternativkultur, den Bewegungen der „Graswurzeldemokratie“ usw. Neuorientierungen statt. Viele Früchte der person-zentrierten Philosophie und des person-zentrierten Kommunikationsverhaltens sind von der Gesellschaft aufgenommen und aufgesaugt worden und dort zu Selbstverständlichkeiten geworden. Stipsits erzählt noch von einer zweiwöchentlichen Veranstaltung des „Cross Cultural Communication Workshops“, auf dem sich Rogers von seinen europäischen Kollegen verabschiedet: „Unvergessen bleibt, wie er sich während des Workshops in einer Diskussion mit John Shlien über sein spirituelles Weltbild äußerte, ebenso, wie er mit Begeisterung in einer Diskothek Csardas und Rock ’n’ Roll kombiniert. Von den Mitgliedern des Staffs des Workshops verabschiedet er sich, unaufdringlich, mit Stil und Dezenz. In einer privaten Mitteilung vom Dezember 1986 berichtet Rogers stolz und bewegt über den Erfolg der Veranstaltungen in Moskau, dankt für die Arbeit in Ungarn im Sommer zuvor“ (Stipsits 1999, S.89f.).
„I will die young“ Auch in der Art, wie Rogers Leben zu Ende ging, zeigt sich sein Bestreben, lebendig und beweglich zu bleiben. Einige Wochen nach einer großen Feier zu seinem 85. Geburtstag unternahm Carl mit Freunden einen Ausflug ins „sündige“ Las Vegas, dessen Glitzerwelt bis dahin nie ein Anziehungspunkt für ihn gewesen war. Er besuchte mit seinen Freundinnen und Freunden einige Bars, sie tanzten und hatten einen ausgelassenen Abend. In der Nacht, als Carl von dort wieder nach La Jolla zurückkam, stürzte er auf dem Weg ins Bad und zog sich einen Oberschenkelhalsbruch zu. Dieser konnte in der Klinik gut versorgt werden, in der Nacht nach der Operation erlitt er jedoch eine Herzattacke und fiel ins Koma. In diesen Tagen traf die Mitteilung seiner Nominierung für den Friedensnobelpreis ein. Gay Barfield schreibt: „Mit Traurigkeit und mit Freude zugleich lasen wir diese Ankündigung Carl an seinem Krankenbett vor, als er im Koma lag
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Carl Rogers 1986, letzter öffentlicher Aufritt (mit John Vasconcello) (Foto: Leslie Goldman, Nov. 1986).
und dann am 4. Februar 1987 starb. Ich bin mir gewiss, dass er uns und unsere Nachricht verstanden hat“ (1998, S. 8). Da Carl Rogers, wie er zuvor immer erklärt hat, nicht das Sterben als solches fürchtete, sondern eher Angst vor einem langen würdelosen und nicht mehr selbstbestimmten Dahinsiechen hatte, wurden die lebenserhaltenden Apparate nach seinem testamentarischen Willen und im Einverständnis mit seinen Kindern nach drei Tagen abgeschaltet. Carl Rogers starb in Anwesenheit seiner Familienmitglieder und engen Freunde. Er widerlegte und bestätigte damit zugleich die Voraussagen aus seinen Kindertagen, in denen man ihm prophezeit hatte, er werde jung sterben.
Carl-Rogers-Biographie im Überblick 1902, 8. Jan. 1919
Geboren in Chicago, Illinois Immatrikulation an der Universität von Wisconsin in Madison für Landwirtschaft 1922, Feb. bis Aug. Reise nach China 1922, 22. Okt. Verlobung mit Helen Elliott 1924, 23. Juni Bachelor of Arts (B.A.) in Geschichte, Universität von Wisconsin in Madison 1924, 28. Aug. Heirat mit Helen Elliott 1924 Eintritt in das „Union Theological Seminary“, New York 1925, Sommer Praktiziert als Gastpastor in Dorset, Vermont 1926 Verlässt das „Union Theological Seminary“; Immatrikulation an der Columbia University am „Teachers College“ 1926, 17. März Geburt von David Elliott Rogers 1927, 1. Juni Master of Art (M. A.) der Columbia University, „Teachers College“ 1928 Erste Anstellung als Kinderpsychologe bei der „Rochester Society for the Prevention of Cruelty to Children“ (RSPCC) 1928, 9. Okt. Geburt von Natalie Rogers 1929 Direktor des „Child Study Department“ 1931, 20. März Promotion als klinischer Psychologe an der Columbia-Universität, „Teachers College“ 1939 1. Buch: ›Die klinische Behandlung des Problem-Kindes‹ 1940 Ordentlicher Professor für klinische Psychologie an der Ohio State University 1940, 11. Dez. Geburtsstunde der klient-zentrierten Therapie; Rogers Vortrag an der Universität von Minnesota 1942 2. Buch: ›Die nicht-direktive Beratung: Counseling and Psychotherapy‹ 1945 Wechsel als Professor an die Universität von Chicago; Eröffnung des „Counseling Center“ 1946–1947 Präsident der „American Psychological Assoziation“ (APA) 1951 3. Buch: ›Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie‹ 1956 Auszeichnung durch die Amerikanische Gesellschaft für Psychologie (APA) mit dem Distinguished Scientific Contribution Award 1957 Wechsel zur University of Wisconsin in Madison; Professur für Psychologie und Psychiatrie 1961 4. Buch: ›Die Entwicklung der Persönlichkeit‹
204 1964, Jan. 1968 1968–1977 1967 1969 1970 1972 1977 1980 1983 1977 bis 1986 1979, 29. März 1985 1986 1986 1987, 30. Jan. 1987, 4. Febr.
Carl-Rogers-Biographie im Überblick Umzug nach La Jolla, Kalifornien; Rogers wird Mitglied im „Western Behaviorial Sciences Institute“ (WBSI) Gründung des „Center for the Studies of the Person“ (CSP) Arbeit mit Encounter-Gruppen und großen Organisationen 5. Buch: ›Von Mensch zu Mensch‹ (Person to Person) 6. Buch: ›Lernen in Freiheit‹ 7. Buch: ›Carl Rogers: Encounter-Gruppen‹ 8. Buch: ›Partnerschule‹ (Becoming Partners) 9. Buch: ›Carl Rogers: On Personal Power‹ 10. Buch : ›A Way of Being‹ 11. Buch: ›Freedom to Learn for the 80’s‹ Ausgedehnte Reisen nach Übersee, Verbreitung des personzentrierten Ansatzes durch Workshops Tod von Helen Rogers Workshop in Rust: „Central America Challenge“ Workshops in der Sowjetunion: Moskau und Tiflis Workshop in Südafrika Nominierung für den Friedensnobelpreis durch den Kongressabgeordneten Jim Bates Tod in La Jolla, Kalifornien
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Personen und Institutionen Adler, Alfred 67 Aichhorn, August 54 Allen, Frederick 67, 72, 81, 88 Allport, Gordon 141 American Board of Examiners in Professional and Psychology (ABEPP) 162 American Medical Association (AMA) 163 Amerikanische Akademie der Psychotherapeuten (AAP) 141 Amerikanische Gesellschaft für Psychologie (APA) 64, 90f., 95, 111, 115, 117, 120, 126, 161f. Arias Sánchez, Oscar 198 Aspys, David 110 Association for Humanistic Psychology (AHP) 141, 161, 198 Auw, Andrew 186 Axline, Virginia 88, 92, 98 Bach, Georg 141 Bacher, Robert F. 149f. Barfield (früher: Swenson), Gay Lea 8, 194, 196, 198, 201 Bates, Jim 204 Bateson, Gregory 120 Beauvoir, Simone de 17 Beratungszentrum in Chicago 95 Berufsverband der Sozialarbeiter 91 Bettelheim, Bruno 17 Billings Hospital 126f., 129 Breuer, Karl Peter 186, 191 Brown, Oliver 100 Bryan, Herbert 82ff., 97 Buber, Martin 121ff. (Kapitel), 145 f. Bühler, Charlotte 80, 141
California Institute of Technology 149 Caltech 149f., 153, 158, 179 Cantor, Nathaniel 92 Carazo, Rodrigo 196 Carl Rogers Institute for Peace 194ff. (Kapitel) Carnegie Cooperation 196 Carter, Jimmy 189 Center for the Studies of the Person (CSP) 153ff. (Kapitel), 168, 183, 186, 189, 194, 196, 198 Child Guidance Clinic/Center 65, 74f. Cholden, Louis 99 Cohen, David 17, 41, 81, 130, 166, 168, 172, 184 Cohn, Ruth 12, 141, 145 Columbia University 46 Combs, Arthur 88 Curran, Charles 88 Darwin, Charles 47 Davis, Elizabeth 67 Deutsche Bewährungshilfe 190 Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT) 185 Dewey, John 42, 44, 70, 116, 155, 160 Dickens, Charles 33 Dolger, Georg 141 Dorfman, Elaine 102 Dymond, Rosalind 108 Ellis, Albert 12, 141 Erickson, Milton H. 9 Eysenck, Hans J. 105f. Farau, Alfred 77 Farson, Richard 142, 153 Felder, Richard 141 Feynman, Richard 149
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Personen und Institutionen
Ford Foundation 93 Fosdick, Harry Emerson 42 Foster, Karl 157 Fox, Logan 142 Freire, Paulo 174 Freud, Sigmund 20, 45, 52, 54, 67, 76f., 96, 108, 192 Friedmann, Maurice 122, 124 Fuchs, Larry 117, 151ff., 166 ff. Galitzine, Gila 191 Gendlin, Eugen 128, 134ff. Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie (GwG) 185ff., 191f. Gesellschaft zur Verhinderung von Grausamkeiten an Kindern 56 f., 65 Goddard, Henry 77 Goldstein, Kurt 105, 123, 141 Gorbatschow, Michail 195 Gordon, Thomas 88, 92f., 102, 109, 144 Grof, Stanislaw 179 Hamilton, G. V. 49, 51, 70 Healy, William 54 Hemingway, Ernest 19 Henderson, Valerie 186 Herreck, Virgil 126 Hilgard, Ernest P. 80 Hobbs, Nicholas 102 Hofmeister, Beate 193 Hollingworth, Leta 52f. Humphrey, George 34
King, Martin Luther 143 Kirschenbaum, Howard 16, 56, 80, 85, 182, 184 Kohut, Heinz 9 Kretzer, Günther 186 Land, Douglas 186 Laing, Roland D. 174 Lewin, Kurt 141, 145 Lilly, John 179 Lloyd, Paul 153 Luther, Martin 34f., 72 Marx, Karl 152 Maslow, Abraham 91, 141 Matyushkin, Alexis 199 May, Rollo 141 Macy, Francis 198 McCarthy, Joseph R. 107 McDougall, William 91 McGiffert, Arthur, C. 45f., 48, 51 McClelland, David 27 Medor, Bruce 8 Mendota State Psychiatry/Hospital 127, 129, 133ff. (Kapitel) Menninger, Carl 94, 108 Montessori, Maria 21, 116 Moreno, Jacob L. 145 Morgan, Edwin P. 118, 120 Murphy, Gardner 96 Naumburg, Margret 116 Nelson, Alan 172 Newcomb, Theodore 46 Nixon, Richard 153 Nohl, Herman 20
Institute of Child Guidance 53f. James, William 39, 91 Jung, Carl Gustav 17, 45, 52, 55, 67 Kadis, Asya 145 Key, Ellen 20 Kierkegaard, Sören 107 Kilpatrick, William Heard 42f., 70 Kimpton, Lawrence 93
Ohio State University 77, 86 O’Neill, George und Nena 163, 165 Orwell, George 119 Perls, Fritz 12, 17, 91, 141 Perry, John W. 174 Poe, Edgar Allan 33 Polanyi, Michael 120
Personen und Institutionen Raimy, Victor 88 Rank, Otto 58, 63, 70, 81 Richmond, Mary 70 Robinson, Virginia P. 67, 69f. Rochester Society for the Prevention of Cruelty to Children 56f., 65 Rockefeller Foundation 93, 97 Roebuck, Flora 110 Rogers, Corky (Carls Schwiegertochter) 89, 106, 126, 128, 153, 167 Rogers, David (Karls Sohn) 50, 74f., 89, 106, 110, 126, 128, 153, 177 Rogers (Elliott), Helen (Carls Ehefrau) 27 f., 34, 36, 40f., 48ff., 55, 89, 99f., 106, 110, 126, 128f., 144, 152ff., 161, 165ff., 177ff. Rogers, John (Carls Bruder) 26, 129, 167 Rogers, Julia (Carls Mutter) 21, 25, 28, 50 Rogers, Julia (Carls Schwester) 25 Rogers, Lester (Carls Bruder) 25, 167 Rogers, Natalie (Carls Tochter) 8, 55, 74 f., 89, 106, 110, 152f., 161, 166, 169ff., 177 Rogers, Ross (Carls Bruder) 25 Rogers, Ruth (Carls Schwägerin) 128 Rogers, Walter (Carls Vater) 28, 50, 74 Rogers, Walter (Carls Bruder) 26 Roosevelt, Franklin D. 65, 76 Rousseau, Jean-Jacques 20 Rugg, Harold Ordway 43 Saks, James 145 Sanford, Ruth 193, 198f. Sartre, Jean-Paul 17, 107 Schenk, William 110 Schmid, Peter F. 8 Schneck, Jerry 141 School of Social Work 70 Shlien, John 128, 148 Skinner, Burrhus F. 27, 115ff., 121 Slavson, Sam 145 Snyder, William 88 Sperry, Roger 149f.
213
Stephens College 89 Stipsits, Reinhold 17, 184, 192, 197f., 201 Szasz, Thomas 174 Taft, Jessie 67, 70, 72, 81, 88, 103 Tausch, Annemarie 184 Tausch, Reinhard 8, 184, 186f. Teachers Training College 42ff., 51ff., 144 Thorndike, E. L. 43, 52 Thorne, Brian 16, 38, 56, 81, 125, 184 Tillich, Paul 120 Todres, Bernice 168f., 171, 177, 180 Truax, Charles 128, 136 Tyler, Ralph 88 Union Theological Seminary 40ff., 50, 87, 144 United Service Organization (USO) 86 Universität von Wisconsin 33, 124f. Universität Chicago 88, 92 Urten, John B. 119 Vasconcello, John 175 Walden School 116 Walker, Newman 157 Wallen, John 87 Warkentin, John 141 Watson, Goodwin 46, 53, 87 Watson, John B. 27, 46, 96 Weber, Max 23, 152 Weiner, Hannah 145 Weltbund zur Erneuerung der Erziehung 122 Western Behaviorial Sciences Institute (WBSI) 142f., 153, 158 Whitaker, Carl 141 Williamson, E. G. 80 Wisconsin 139f. Wood, John K. 31, 156 Wyclif, John 34f., 55 Yerkes, Robert 90 YMCA 35f.