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German Pages [364] Year 2013
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525350355 — ISBN E-Book: 9783647350356
Analysen und Dokumente Band 35
Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU)
Vandenhoeck & Ruprecht
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Bühne der Dissidenz und Dramaturgie der Repression Ein Kulturkonflikt in der späten DDR
Herausgegeben von Lutz Niethammer und Roger Engelmann
Vandenhoeck & Ruprecht
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Umschlagabbildung: Auftritt von Liedehrlich und Stephan Krawczyk im Botanischen Garten Gera am 17.5.1983. Fotograf Andreas Bley (ThürAZ, Privatarchiv Hans-Peter Jakobson)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-35035-5 ISBN 978-3-647-35035-6 (E-Book)
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: e Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Inhalt Lutz Niethammer Einleitung .......................................................................................................... 7 Jeannette van Laak Bühne der Dissidenz Kulturpolitische Konflikte in der Provinzhauptstadt Gera in den 1980er Jahren ........................................................................................... 55 Matthias Braun Dramaturgie der Repression – Der ZOV »Bühne« ......................................... 121 Katharina Lenski unter Mitarbeit von Agnès Arp Die Hauptamtlichen der Stasi Schattenriss einer Parallelgesellschaft.............................................................. 237 Martin Morgner Zusammensetzen des Zersetzten oder Heilung vom Akten-Aussatz .......................................................................... 319 Abkürzungen ........................................................................................................ 347 Zu den Autoren ..................................................................................................... 351 Bildteil ................................................................................................................. 352
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Lutz Niethammer
Einleitung Wir Autoren widmen diesen Band dem Andenken an seinen wahren Urheber Andreas Bley (1951–2011)
Diese Einleitung 1 stellt das am Historischen Institut der Friedrich-SchillerUniversität Jena gemeinsam mit der Abteilung Bildung und Forschung des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR unternommene und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt »Bühne der Dissidenz und Dramaturgie der Repression. Kulturkampf in der Provinz der späten DDR« vor. Wir nennen das Projekt kurz »Bühne DDR«. Es handelt sich um eine beispielhafte Fallstudie zu Konflikten zwischen Sicherheitsorganen der DDR und Protagonisten der alternativen Kulturszene in einer grenznahen Bezirksstadt der DDR, unserer Nachbarstadt Gera 2 in den Jahren 1982 bis 1985. Ich gliedere diese Einleitung in drei Teile. Im ersten Teil »Vorgeschichte« erzähle ich, wie es zu diesem Projekt gekommen ist und warum wir es als eine Fallstudie angelegt haben. Im zweiten Teil, der »Projektgruppe und Untersuchungsverlauf« überschrieben ist, berichte ich über die Beteiligten und warum sie kein Autorenkollektiv sind sowie über die Durchführung des Projekts: was wir im Untersuchungsverlauf gelernt haben und auch umstellen mussten bzw. nicht erzielt haben und charakterisiere dabei, welche Aufgaben von den BearbeiterInnen der folgenden vier Abschnitte der Untersuchung übernommen worden sind. Dann fehlt ein Teil, wie ihn heute der schnelle Leser vom Herausgeber eines Sammelbandes erwartet, um sich die Lektüre der eigentlichen Untersuchungen ersparen zu können, in dem nämlich diese als Abstracts zusammengefasst werden. Als Projektleiter möchte ich aber die Lektüre unserer Ergebnisse nicht erübrigen, zumal sie spannend zu lesen sind und sie auch aus divers geprägten Sichtweisen und unter Verwendung unterschiedlicher Methoden vorgetragen werden und sich nur überwiegend, aber eben nicht ganz treffen. Je mehr sich die Untersuchung der Quellenfülle eines eng begrenzten Beispielfalles nähert, umso klarer tritt ihre Unschärferelation hervor, also die Anhängig1 Ich danke Jeannette van Laak, Roger Engelmann und Katharina Lenski für ihre kritischen Hinweise zur Verbesserung dieses Textes. 2 Manchmal anonymisieren Autoren von Fallstudien ihre Akteure oder sogar die Orte (aber fast nie die Zeit) des von ihnen beobachteten Geschehens. Sie wollen damit zeigen, dass sie einem Geheimnis bis über alle Grenzen des Schicklichen oder Justiziablen, vielleicht auch nur des Dokumentierbaren hinaus auf der Spur waren. Sie können sich dadurch Scherereien mit Akteuren vom Halse halten und dem Verdacht zuvorkommen, dass es sich doch um die individualisierende Sicht einer Heimatgeschichte handelt, aus der man nichts Verallgemeinerbares entnehmen kann. Das machen wir hier nicht. Unser Gera-Projekt ist eine Fallstudie, aber sie ist auch ganz aus den Quellen und zwar so geschöpft, wie wir die Quellen der DDR mit Anstand und auch de jure zu lesen vermögen.
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keit der Befunde von den Methoden und Erkenntnisinteressen der Forscher. Anstatt diese mit unlauteren Mitteln zum Verschwinden zu bringen, überantworte ich sie lieber den Leserinnen und Lesern, die daraus für künftige Forschungen ihre eigenen Schlüsse ziehen mögen. Das heißt aber nicht, dass sich der Herausgeber billig aus der Affäre ziehen will. Ich möchte meine reflexive Dienstleistung nur auf einer anderen und, wie mir scheint, dienlicheren Ebene erbringen. Ich schließe deshalb mit einem kleinen Glossar von Begriffen und skizziere darin, welche Werkzeuge des Verstehens sich in unserer Fallstudie als nützlich erwiesen haben und welche nicht. Das reicht zwar scheinbar von A bis Z, aber dazwischen klaffen viele Lücken wie in einem alten Gebiss. Mancher Zugriff verstand sich von selbst, andere brauchten wir gar nicht für unseren Fall und wieder andere hatten wir nicht zur Verfügung. Die Arbeit am Begriff ist für Historiker und andere Empiriker immer eine unabschließbare Sisyphus-Aufgabe, ohne deren begleitende Reflexion die Bedeutung der Befunde freilich nicht greifbar würde.
1. Vorgeschichte einer Fallstudie oder Das Exemplarische im Wirklichen Wissenschaftliche Projekte haben meist zwei Vorgeschichten: eine »wahre« und eine wirkliche. In der Regel wird in der Einleitung zur Veröffentlichung der Ergebnisse die erste erzählt und zwar gleichsam noch einmal in Antragsprosa: Es wird dann ein Stand der einschlägigen Forschung rekapituliert und daraus werden genau diejenigen Fragen als offene oder Desiderata der Forschung herauspräpariert, die in der folgenden Untersuchung beantwortet werden – nicht mehr und nicht weniger. Als hätte der Weltgeist selbst gehandelt. Jeder Kundige weiß freilich, dass Einleitungen zum Schluss geschrieben werden und deshalb der Kunst und auch den Zwängen der Rationalisierung gehorchen. Diesen Zwängen können auch wir uns hier nicht ganz entziehen. Also wurde auch diese Einleitung zum Schluss geschrieben und das gleich in doppelter Weise: Erstens nachdem zu guter Letzt genug Kapiteltexte vorlagen und zweitens von dem mit Abstand ältesten Mitglied des Untersuchungsteams, dessen Alterszipperlein dann die Endredaktion noch weiter verzögerten. Ansonsten wollen wir uns jedoch als Historiker nicht an die höhere Wahrheit, sondern an die erfahrene Wirklichkeit halten und also in dieser Einleitung berichten, ›wie es eigentlich gewesen‹. Ein solcher zugleich bescheidener und offenherziger Zugang scheint mir einem Projekt angemessen, das sich als Case-Study versteht. Denn so eine Fallstudie ist ja in den Sozial- und Kulturwissenschaften etwas zugleich Bescheidenes und äußerst Anspruchsvolles. Sie bescheidet sich mit einem überschaubaren, gut dokumentierbaren Fall, den sie ziemlich genau in Ort und Zeit zu situieren vermag, aber den sie nicht um seiner selbst willen erforscht und in den Bahnen bewährter Paradigmen
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Einleitung
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erklärt, sondern den sie auf exemplarische Weise neu aufklären will, um für die künftige Erforschung anderer Fälle neue Fragen, Methoden und Perspektiven aufzuwerfen, die dann dort erneut ihre Fruchtbarkeit erweisen mögen. Ob eine Untersuchung in der historischen Forschung zu einer solchen, über sich selbst hinausweisenden Case-Study taugt oder ob sie zu einem heimatgeschichtlichen Genrebild wird, entscheidet sich meist erst im Nachhinein. Insofern hat es immer etwas Kitzliges, eine Lokaluntersuchung von vornherein als Case-Study zu planen. Wenn man das tut, muss man gute Gründe haben, die meist im Ungenügen mit dem Stand eines an sich entwickelten Forschungsfelds und seinen gesellschaftlichen und kulturellen Bedeutungshorizonten gründen. Erst solche Frustration legitimiert den Sturz in die anspruchsvolle Bescheidenheit, um in der Verdichtung eines einzelnen Falls oder Orts die beteiligten Faktoren noch einmal neu zu erfassen und das Verhältnis von Ursache und Wirkung und ihre möglicherweise ganz anderen Verschränkungen noch einmal genau unter die Lupe zu nehmen. Von den Höhen der Wahrheit in die Niederungen der Wirklichkeit abzutauchen, fällt nicht leicht, denn gegenüber den hehren Ansprüchen der Bedeutung erscheinen solche lebensnäheren Niederungen oft irgendwie peinlich, obwohl sie doch nur die wirklichen Fundamente der Wahrheit zur Anschauung bringen. Eine Case-Study kann darauf nicht verzichten, denn wenn die Ebene der Wahrheit ausgereizt ist, muss man sich wieder der Wirklichkeit versichern und wenn man sie als Case-Study untersucht, befindet man sich zwischen beiden Ebenen. Denn sie will auf exemplarische Weise die Wirklichkeit auf der Ebene der Wahrheit zur Geltung bringen – oder zumindest zur Herausforderung machen. Martin Morgner und Andreas Bley Unser Projekt hat mehrere Wurzeln, von denen im Folgenden berichtet werden soll. Zwei Bewegungsfaktoren kann man sogleich benennen. Der eine war Martin Morgner, eine angejahrte Erscheinung aus der alternativen Szene der späten DDR, die damals wie eine erzgebirgische Replik von John Lennon aussah und mir Anfang dieses Jahrhunderts als Senior-Student begegnete. 3 Nach einem Ersatzwehrdienst als »Bausoldat« und Studien der Ökonomie und später der Theaterwissenschaften – und nach vielfachen Verwicklungen in der Praxis u. a. als Mitglied einer artistischen Landkommune, als Puppenspieler, Dichter und Dramaturg – hatte der 1948 in Stollberg Geborene im neuen Jahrtausend noch einmal Geschichte zu studieren 3 Von seinen Erfahrungen berichtet Morgner, Martin: Deckname »Maske«. Die Künstlergemeinschaft Mecklenburg 1980/81. Berlin 1995; Ders.: Zersetzte Zeit. Lied der Marionette. Jena 2004; Ders.: Gehzeiten. Gedichte und Graphiken. 2. Aufl., Jena 2008. Im Rahmen der zeitgeschichtlichen Selbsterforschung unserer Hochschule hat er dann den politischen Aspekt seiner Dissertation DDR-Studenten zwischen Anpassung und Ausrasten. Disziplinfälle an der Friedrich-Schiller-Universität Jena von 1965 bis 1989. Leipzig 2012 in biografischen Studien anschaulich gemacht. Ders.: In die Mühlen geraten. Porträts von politisch verfolgten Studenten an der Friedrich-Schiller-Universität Jena zwischen 1967 und 1984. Weimar 2010.
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begonnen. Sein entbehrungs- und entdeckungsreiches Studium auf Hartz-IV-Basis hat er jetzt mit einer Doktorarbeit über Exmatrikulationen an unserer Hochschule in der Ära Honecker abgeschlossen. In den frühen 1980er Jahren war er in der benachbarten Bezirkshauptstadt Gera, wo er an einem umtriebigen Puppentheater arbeitete, zuerst allein und dann zusammen mit anderen (übrigens durchweg von der offiziellen Kulturpolitik der DDR kurz zuvor ausgezeichneten) Akteuren der Geraer alternativen Kulturszene Observierungs- und Zersetzungsmaßnahmen der Stasi ausgesetzt, die diese in hoch aufwendig bürokratischer Form als »operative Vorgänge« unter so einfallsreichen Decknamen wie »Puppe« oder »Bühne« organisiert hatte. Auffällig ist dabei, dass der operative Vorgang »Bühne« – obwohl er nur lokale Schausteller und Musiker betraf – als ZOV inszeniert wurde, also als »Zentraler Operativer Vorgang«, der administrativ dadurch definiert ist, dass in ihm mehrere regionale Dienststellen der Geheimpolizei zusammenarbeiten sollen. Dazu muss man jedoch wissen, dass ein ZOV für »Tschekisten«, wie sich die Bürokraten der Stasi in Anspielung auf die bolschewistischen Terrororgane im nach-revolutionären Bürgerkrieg gerne nannten, hier in der Provinz so etwas wie (akademisch gesprochen) die Habilitation bedeutete: endlich nicht mehr im Sumpf regionaler Aufsässigkeit ohne wirkliche Bedeutung versinken, sondern ein bedrohliches Ereignis aufdecken, dessen Bedeutung die Bezirksgrenzen sprengt und Gera zum Zentrum eines auch für die Zentrale erheblichen Vorgangs macht. Anders konnte man sich nicht in deren Wahrnehmung hineindrängen. Auch nach mehrjähriger Recherche konnten wir nicht klären, ob dieser ZOV seine herausragende bürokratische Auszeichnung deshalb gewann, weil die MfS-Bezirksverwaltung Gera einige Auskünfte aus anderen Bezirken benötigte oder weil in Gera einfach sonst nichts los war, womit sich karrieresüchtige MfS-Offiziere hätten profilieren oder rehabilitieren können, nachdem ihnen einige Jahre zuvor die Kontrolle der Jugendkultur im benachbarten Jena völlig aus dem Ruder gelaufen war. Von diesem ZOV »Bühne« hatte sich ein ganzer Aktenberg in der Außenstelle Gera der seinerzeitigen »Birthler-Behörde« erhalten, wie mir ihr Leiter Andreas Bley bei seinem ersten Besuch im Historischen Institut der Uni Jena 2003 erzählte. Dass er damit zu mir kam, der ich wenig zur Stasi-Forschung beigetragen hatte, 4 war wohl eher seiner Freundschaft mit Martin Morgner, den ich bei seinen Studien beriet, geschuldet. Vielleicht war sein Besuch auch nur eine institutionelle Kontaktaufnahme mit der nächstbesten Hochschule, denn ich war damals Institutsdirektor 4 Im Wesentlichen meinen Aufsatz: Die SED und »ihre« Menschen. Versuch über das Verhältnis zwischen Partei und Bevölkerung als bestimmendem Moment innerer Staatssicherheit. In: Suckut, Siegfried u. a. (Hg.): Staatspartei und Staatssicherheit. Zum Verhältnis von SED und MfS. Berlin 1997, S. 307–340. Aber ich hatte die Debatten um die Stasi mit einer gewissen Skepsis verfolgt, denn ich sah im MfS nicht den Kern, sondern die wichtigste Randbedingung der DDR, und meine Faszination wurde auch dadurch in Grenzen gehalten, dass diese (im Verhältnis zur Kleinheit des Staates) weltgrößte Geheimpolizei aller Zeiten alle grundlegenden Krisen der DDR ohne die prognostische Sensibilität einer tüchtigen Intelligence verschlafen hatte.
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Einleitung
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bei den Jenaer Historikern. Obwohl ich kurz vor der Emeritierung stand, ließ ich mich von Bley und seinem Fund, dem größten einschlägigen Aktenbestand über einen Kulturkonflikt in dieser Randprovinz der DDR, verführen, diesen Schatz zum Ausgangspunkt eines Forschungsprojekts zu machen. Andreas Bley ist also der eigentliche Initiator dieses Projekts und hat viel zu seiner besonderen Ausrichtung als kulturelle Fallstudie und zu ihrer praktischen Ermöglichung beigetragen. Er wollte auch ein Kapitel über die oppositionelle Kulturszene Geras in der Ära Gorbatschow für dieses Buch schreiben, was er später jedoch wegen seiner Überlastung zurückstellen musste.5 Aber das kann ich ihm nun nur noch wehmütig nachrufen, denn er ist im März 2011, als ich diese Einleitung begann, mit 59 Jahren plötzlich in Gera auf der Straße zusammengebrochen und verstorben. Er kam von einer Sitzung mit Schulbehörden, auf der auf seine Initiative hin endlich vereinbart worden war, künftig gemeinsam attraktivere Unterrichtseinheiten zur DDR-Geschichte zu entwickeln. Im Nachruf der Lokalzeitung hieß es: »Er war ein Hartnäckiger der sanften Art.« 6 Diesen Eindruck hatte auch ich bald von ihm gewonnen und er gefiel mir sehr. Insofern kamen wir gut voran, als es darum ging, die Erforschung dieses paradigmatischen Kulturkonflikts in der Provinz der späten DDR zu entwerfen. Bevor ich jedoch diese Grundgedanken umreiße, sollte ich kurz einräumen, dass es uns in den anfänglich häufigen gemeinsamen Sitzungen in Jena oder Gera sehr viel schwerer fiel, aus diesen Gedanken auch ein mach- und finanzierbares Projekt zu formen, das notwendige Förderer überzeugte: Wir mussten uns mit trial and error vortasten. Dabei hatte es doch vielversprechend angefangen. Damals gab es in dem kulturell und wirtschaftlich jetzt eher stagnierenden Gera mit einer der größten postkommunistischen Wählerschaften im Land Ansätze einer kulturellen Aufbruchsstimmung, die mit der Ausgestaltung des neuen Stadtmuseums zusammenhing, für das wir in Kooperation mit einer fulminanten Museumsleiterin einen besonderen Abschnitt zur Geschichte Geras in der späteren DDR am Beispiel des Bühne-Konflikts entwerfen wollten. Vor Ort gab es einen Verein, der in der Innenstadt einen Gedenkort der Stasi-Repression ausbauen wollte, und wir kooperierten auch mit ihm, um bei der bundeseigenen Stiftung Aufarbeitung (der SED-Diktatur) Gelder für diesen Verein Amthordurchgang, für unser Projekt und auch für Martin Morgner locker zu ma5 Weil dieser Bericht leider entfallen musste, hat Matthias Braun abschließend einen Überblick gegeben, was sich zwischen dem ZOV Bühne und dem Ende der DDR in Gera zugetragen hat. 6 Wiesner, Katrin: Stiller Mann der ersten Stunde: Geraer Chef der Stasi-Behörde gestorben. In: OTZ v. 4.3.2011. Andreas Bley war 1951 in Zwickau geboren und hatte Maschinenbau studiert. Der kunstsinnige Ingenieur und autodidaktische Fotograf arbeitete seit den 1970er Jahren in Gera bei einem Werkzeughersteller und einer Konservenfabrik und engagierte sich in der oppositionellen Kunst- und Kirchenszene. 1990 war er als Mitglied des Bürgerkomitees bei der Auflösung der Stasi/Nasi in Gera aktiv und arbeitete dann in der Außenstelle Gera des BStU, seit 1994 als ihr Leiter und zeichnete sich weit über die oft prekären Aufgaben der Verwaltung der regionalen Stasi-Überlieferung hinaus durch eine seltene Mischung aus kultureller Kreativität, sozialer Initiative und politischer Besonnenheit aus.
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chen. Alles ging schief: Die fulminante Museumsleiterin verschwand plötzlich in Bayern, anstatt den steinigen Acker der Geraer postkommunistischen Kultur zu pflügen, und ihre Stelle wurde zuerst mit einem Intellektuellen unter unseren Jenaer Historikern besetzt und dann (in den ersten Tagen seiner Amtswaltung gegen alle Erwartung und Zivilisation) sofort wieder gestrichen und mit ihr auch der Stasi-, oder vielleicht sollte ich eher sagen: der kulturelle Konflikt-Schwerpunkt zur späten DDR. Auf Bundesebene lief es nicht besser: Weder der Verein Amthordurchgang noch unser Projekt fanden bei der Stiftung Aufarbeitung Gnade 7, und auch für Martin Morgner blieb es bei Hartz-IV, aufgestockt mit Bruchteilen einer HiwiStelle, die ich aus Ritzen meines Lehrstuhls und danach aus einem Honorar für ein industrielles Drittmittelprojekt verfügbar machen konnte. Ich hatte nicht den Eindruck, dass wir ein schlechtes Projekt vorgetragen hätten, aber irgendwie passte unser Mix nicht in die etablierten Strukturen der DDR-Aufarbeitung. Neuaufstellung Nach diesem Debakel haben wir uns »neu aufgestellt« und wurden im zweiten Anlauf und in einem anderen Szenario förderungswürdig. Mit der sanften Hartnäckigkeit Andreas Bleys begann sich die Abteilung Bildung und Forschung der BirthlerBehörde für unser Vorhaben zu interessieren, und wir wurden ein Pilotprojekt akademischer Zusammenarbeit mit der BStU unter universitärer Federführung und stellten einen Antrag an die Deutsche Forschungsgemeinschaft, der schließlich auch genehmigt wurde. Gut Ding will eben Weile haben, und bevor ich nun über unsere neue »Aufstellung« samt ihren Ressourcen und Problemen berichte, sollte ich auf die Philosophie des Projekts »Bühne DDR« zurückkommen, wie sie sich in den Gesprächen zwischen Bley und mir und mit prospektiven Mitarbeitern des Projekts entwickelt hatte und in die Anträge eingegangen war.
7 Die Absage der Stiftung Aufarbeitung vom 14.12.2004 auf unseren Antrag »Kulturkampf in der Provinz der späten DDR. Voraussetzungen, Verflechtungen und Folgen des Geraer ZOV ›Bühne‹« vom 30.8.2004 war kompliziert, insofern einerseits akademische Forschungsprojekte grundsätzlich von der Förderung ausgeschlossen sein sollten, es sei denn – und darauf hatten wir spekuliert – dass es sich nach Abs. 5 (2) 2 der Förderungsgrundsätze um ein Kooperationsprojekt mit Institutionen der gesellschaftlichen Aufarbeitung handele, und das war in unserem Falle der Verein Gedenkstätte Amthordurchgang in Gera, dessen Antrag aber weder inhaltlich noch formal förderungswürdig erschienen war, weshalb wir automatisch mit verklappt wurden. Da uns von allen Seiten signalisiert worden war, dass man für solche Forschungen kaum Geld erwarten könne, hatten wir den extrem bescheidenen Gesamtaufwand auch noch auf 2 weitere in der Region und im Bereich der europäischen Geschichte tätige Stiftungen verteilt (förderungspolitisch ein ziemlicher Fehler, wie ich heute einräumen muss) und bekamen im nächsten Jahr von überall her Absagen.
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Einleitung
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Motive für eine Fallstudie Akademische Fallstudien entstehen wie gesagt oft aus diffuser Frustration. 8 Wenn man glaubt, dass in der Wissenschaft etwas Wichtiges falsch gemacht worden ist, dann kann man eine Kritik, eine Widerlegung, eine Polemik schreiben oder im Extremfall ein Gegenprojekt lancieren. Aber man muss keine aufwendige und zieloffene Fallstudie unternehmen, denn man glaubt ja zu wissen, was schiefgelaufen ist. Wer in einem Feld hoher Forschungsintensität eine Fallstudie unternimmt, will nichts widerlegen, sondern sucht oft anhand von Ahnungen oder bloßen Vermutungen einen neuen Ansatz oder auch einen Ausweg aus einem Dilemma. Nach einem Jahrzehnt intensivster Erforschung und medialer Thematisierung des StasiProblems, ausgiebigen Diskussionen um Diktaturenvergleich und einem Tsunami an öffentlich geförderter und meist von Westdeutschen geleiteter Detailforschung zur DDR, der in einem beispiellosen Bestarbeitereinsatz alle Versäumnisse der Vergangenheitspolitik der Ära Adenauer wettmachen sollte, fanden wir beispielsweise in Jena kaum noch Studenten, die sich mit der DDR beschäftigen wollten, besonders wenn es dabei um die Stasi ging. Sie fühlten sich mit diesem Thema überfüttert und von der denunziatorischen und triumphalistischen Art seiner Behandlung in der Öffentlichkeit angewidert, besonders wenn sich ehemalige westdeutsche Linksradikale nunmehr zu Gesinnungswächtern in Ostdeutschland aufwarfen. Ich erinnere mich eines Seminars, das wir damals zur regionalen Zeitgeschichte angekündigt hatten, in dessen Vorbesprechung fast alle Studierenden aufstanden und gingen, als wir konkretisierten, dass die Tätigkeit der Stasi in der Region an exemplarischen Fällen untersucht werden sollte. 9 Derweil arrondierten sich die Wahlerfolge der 8 Bevor ich hier zu sehr generalisiere, sollte ich einräumen, dass aus einer gewissen Distanz und ethnologischen Neugier auch Case-Studies unternommen werden, bei denen sich der frustrative und korrektive Motivationshintergrund in Grenzen hält. Ein gutes Beispiel ist das Buch des Kanadiers Bruce, Gary: The Firm. The Inside Story of the Stasi. Oxford 2010, das parallel zu unserem Projekt entstanden ist und sich ebenfalls für die Rolle des MfS in der Provinz interessiert, allerdings im norddeutschen Kleinstadtmilieu von Gransee und Perleberg, das er mit lokalen Stasi-Quellen und 20 Interviews mit Bürgern und 13 mit ehemaligen Stasi-Offizieren (von über 400) vom Zweiten Weltkrieg bis 1989 durchforstet. Ich will meinen Neid auf diese 13 Interviews, obwohl sie die Komplexität der Stasi in dieser langen Zeit auch nicht annähernd aufnehmen können, nicht verbergen und frage mich, warum ein ziemlich beschlagener Kanadier im Gegensatz zu einer ähnlich beschlagenen Französin aus unserem Team hier wenigstens Teilerfolge erzielen konnte. Ich vermute, dass das daran lag, dass seine kleinstädtischen Untersuchungsorte noch nicht einmal nachgeordnete Konfliktzentren waren und auch dass Bruce zu dem Ergebnis kommt (und wahrscheinlich auch bereits im Feld diese Bonhomie ausgestrahlt hat), dass alles am System und eigentlich nichts an den Menschen läge. Am Ende erwägt er das Lernpotenzial seiner Studie für die Gegenwart und warnt z. B. vor den Observationskameras nach 9/11 in den USA. Solche Vergleiche haben seinen Interviewpartnern aus der Stasi sicher die Zunge gelöst. 9 Später haben wenig überzeugende Untersuchungen argumentiert, dass das Desinteresse junger Ostdeutscher an der Geschichte der DDR seine Ursachen in einer in Ostdeutschland grassierenden Ostalgie und im Versäumnis der Hochschulen habe, den repressiven Charakter der DDR in ihren Lehrveranstaltungen zu präsentieren. Zuletzt Deutz-Schröder, Monika; Schröder, Klaus: Soziales Paradies oder Stasi-Staat? Das DDR-Bild von Schülern – ein Ost-West-Vergleich. München 2008. Das Problem lag nicht auf der Angebots-,
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postkommunistischen Partei, die kurz nach dem Ende der DDR auch im Osten Deutschlands ein Schattendasein geführt hatte, zu einem Viertel, wenn nicht – wie in Gera – zu einem Drittel der Wählerschaft. Wir hatten das Gefühl, dass in der Aufarbeitung der DDR-Geschichte etwas tiefgreifend schiefgegangen sein musste. Am schieren Umfang der Forschung (fast tausend Projekte waren damals von öffentlichen Händen gefördert worden) konnte es nicht gelegen haben, wohl aber an deren Ausrichtung und vor allem ihren lebensweltlichen Kontexten. Unter dem Berg an Spezialliteratur zur DDR fand sich damals weder eine zusammenfassende Geschichte der sowjetischen Besatzung noch eine Parteigeschichte der SED (der immerhin ein Fünftel der Bürger der DDR angehört hatte), und der spezielle Förderungsbereich der DFG zur Erforschung der »volkseigenen« Wirtschaft wurde wegen mangelnder Nachfrage bald wieder geschlossen. 10 Während also die Grundtatsachen von Herrschaft und Wirtschaft aus dem Blick gerieten oder im Ungefähren verblieben, blühte der meist eher in seinen Zuschreibungen als in einer strengen vergleichenden Analyse ergiebige Diktaturenvergleich mit dem Dritten Reich und die an sich verdienstvolle Erforschung von Resistenz und Opposition wurde in Kompendien kanonisiert, deren Kontinuitätskonstruktionen und Verallgemeinerungen zuweilen dem Ideologiegehalt der offiziellen Selbsteinschätzung der DDR vom »einheitlichen revolutionären Prozess« oder von der Herrschaft der Werktätigen wenig nachstanden, freilich mit umgekehrten Vorzeichen. In Wirklichkeit gehört es jedoch zur Tragik der Opposition in der DDR, dass sie sich wegen der Flucht-, Abschiebe- und Freikaufpraktiken in Deutschland anders als in Polen oder Ungarn immer wieder neu und in anderen Figurationen finden musste, wenig Kontinuität entwickeln konnte und erst am Ende der DDR zu einem gemeinsamen Forum fand. Zwar wurden in der Forschung auf der einen Seite auch viele Facetten des Alltagslebens beleuchtet und auf der anderen Seite immer wieder das ganze Instrumentarium eines »Unrechtsstaates« samt Mauer, Grenzregime und überhaupt die Unterbindung des freien Verkehrs von Menschen, Informationen und Meinungen beschrieben. Aber in der medialen Repräsentation erschien der Alltag dermaßen von Mangel und Terror durchherrscht, dass viele Ostdeutsche ihre Erinnerungen damit nicht in Beziehung setzen konnten und zum wachsenden Angebot an nostalgischen sondern auf der Nachfrageseite und war nicht aus politischer Anhänglichkeit an die DDR zu erklären, sondern aus der Unglaubwürdigkeit des hegemonialen Redens über sie in den beherrschenden Medien. 10 Diese wichtigsten Lücken wurden mittlerweile durch die Jenaer Habilschrift von Satjukow, Silke: Besatzer. »Die Russen« in Deutschland 1945–1994. Göttingen 2008 sowie von Malycha, Andreas; Winters, Peter Jochen: Die SED. Geschichte einer deutschen Partei. München 2009 geschlossen. Im industriellen Defizitbereich wurden in Jena Studien zu Zeiss und seiner infrastrukturellen Situierung und Entwicklung im Dritten Reich und in der DDR von Rüdiger Stutz, zum Frauentextilbetrieb »Spinne« in Leipzig von Annegret Schüle (die dann zum Büromaschinenkombinat Sömmerda und schließlich mit noch einmal einer ganz anderen Tiefendimension zu Topf & Söhne, den Erfurter Spezialisten für Krematorien des Holocaust, weitergeforscht hat) sowie sozialgeschichtliche Studien zum sowjetisch-deutschen Atom-Konzern Wismut von Andrew I. Port und von Juliane Schütterle betreut.
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Einleitung
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Memorabilia griffen. Nur wenigen Autoren öffentlichkeitswirksamer Darstellungen wie Stefan Wolle in »Die heile Welt der Diktatur« oder Charles Maier in »Dissolution« 11 gelang es, die Sphären von Herrschaft und Alltag, Ökonomie und Opposition so aufeinander zu beziehen, dass sich die Erfahrungssubjekte darin wiederfinden konnten und zeitgeschichtliche Aufklärung erinnerungsfähig wurde. Im Gegensatz zur Mehrheit der Forschung hatten sich diese beiden Bücher auch frühzeitig der zweiten Hälfte der DDR-Geschichte zugewendet, an die sich die meisten Zeitgenossen aus eigenem Erleben erinnern konnten, in der aber nur die allerwenigsten Zeitgenossen die Endkrise der Gesellschaften sowjetischen Typs hatten kommen sehen. Die Herausforderung der Stasi-Akten Die Stasi war auch über das erste Jahrzehnt nach der deutschen Vereinigung hinaus das beherrschende Thema ostdeutscher Vergangenheitspolitik und Geschichtsdiskurse. Hier waren in einer umfänglichen institutionellen Grundlagenforschung die wesentlichen Informationen über »die Firma« erschlossen worden und diese waren – anders als bei vielen allgemeinen Themen der DDR-Geschichte – auch für Westdeutsche nicht nur im Detail, sondern genuin neu. Auch diejenigen, die wie ich erhebliche Bedenken gegen die Übergriffe der Politik in die Öffentlichkeit, Wissenschaft und Bildung hatten und vor einem demokratischen Totalitarismus warnten, wie er heute die politische Kultur Ungarns zerstört und in Polen überwunden erscheint, mussten im deutschen Fall anerkennen, dass in dieser Grundlagenforschung jenseits aller politischen Fraktionen und akademischen Schulen Infrastrukturen des Wissens über diese relativ größte Geheimpolizei der Welt erschlossen worden waren. Die Erkenntnisse über die Struktur, Geschichte, Aufträge und Wirkungsweisen der Staatssicherheit differenziert aufzuarbeiten und in Handbüchern und Standardwerken bekannt zu machen, war unstreitig ein großes Verdienst vor allem der Abteilung Bildung und Forschung jener Behörde mit dem umständlichen Namen, den alle Welt nicht mit dem offiziellen Kürzel BStU, sondern mit den Namen ihrer Chefs abkürzte. 12 In der Sicherung und Erschließung der kafkaesken Stasi-Überlieferung war die Behörde in den Amtszeiten von Joachim Gauck und Marianne Birthler (mit Ausnahme der weitgehend vernichteten oder entwendeten Auslandsspionage des MfS) gut vorangekommen, um zunächst die beiden pragmatischen Hauptaufgaben 11 Wolle, Stefan: Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971–1989, zuerst Berlin 1998, div. Neuaufl., auch als TB und 1999 als Bd. 349 in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; Maier, Charles S.: Dissolution. The Crisis of Communism and the End of East Germany, zuerst Princeton UP 1997, div. Neuaufl., dt. als »Das Verschwinden der DDR und der Untergang des Kommunismus«. Frankfurt/M. 1999, seit 2000 auch im TB. 12 Zur Einzelwürdigung verweise ich auf den eingehenden Forschungsbericht zur Stasi-Forschung am Anfang des Beitrages von Matthias Braun in diesem Band. Ihr Gesamtertrag ist jetzt kodifiziert in: Engelmann, Roger u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon: Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR. Berlin 2011.
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dieser Sondereinrichtung der Übergangszeit leisten zu können. Nämlich erstens den Repressionsopfern, soweit diese das wünschten, die über sie geführten Akten des MfS, soweit diese auffindbar waren, einschließlich der Namen der Täter und Spitzel, soweit diese enttarnt werden konnten, zugänglich zu machen und dabei die informationelle Selbstbestimmung Dritter (durch Schwärzung diesbezüglicher Aktenteile) nicht weiter zu beschädigen. Zweitens Kandidaten des öffentlichen Dienstes sowie des öffentlichen und besonders des politischen Lebens daraufhin zu überprüfen, ob und ggf. wie und in welchem Umfang sie als Mitarbeiter oder Zuträger für das MfS gewirkt hatten. In keiner anderen postkommunistischen oder überhaupt post-diktatorialen Gesellschaft sind diese pragmatischen Hauptaufgaben des BStU in solcher Schnelligkeit und Gründlichkeit und in den wenigsten überhaupt angegangen und umgesetzt worden. Während die erste Aufgabe (Akteneinsicht) eine überwiegend stille und politisch mehr oder weniger konsensuale Praxis hervorbrachte, zumal sie die ehemals Ausgespähten und Repressierten eher weiter vereinzelte und rechtlich meist folgenlos blieb oder nur zu späten und geringen Entschädigungen führte, war dies bei der zweiten Aufgabe (Überprüfung) anders. Sie war nach Art, Umfang und Folgen von Anfang an umstritten und ständig von öffentlichen Enthüllungen und Anfechtungen begleitet, zumal sie zu sofortigen und nachhaltigen Sanktionen (Verlust des Arbeitsplatzes oder der Prominenz) führen und erhebliche Gerechtigkeitsprobleme aufwerfen konnte. Die wichtigsten davon waren, dass die politische Personalsäuberung in einer Gesellschaft stattfand, in der zeitgleich sehr viel mehr Menschen aus ökonomischen Gründen ihre Arbeit verloren und in der ausgerechnet zwei Stützen des vormaligen Regimes, die Lehrerschaft und die Polizei, am wenigsten unter Entlassungen zu leiden hatten. In den Führungspositionen und den funktionalen Eliten war die Umsetzung der Sanktionen (anders als in den meisten postkommunistischen Ländern) überhaupt nur möglich, weil aus Westdeutschland entsprechend qualifizierter Ersatz rekrutiert werden konnte. Andere Machtpositionen in der DDR waren wesentlich schwieriger dokumentierbar als diejenigen bei der Stasi und wer wirklich mächtig gewesen war, hatte am Ende der DDR meist noch seine Kaderakte selbst säubern können, um so der erwarteten politischen Säuberung zu entgehen oder ihr die Beweisgrundlage zu entziehen. Bei den hauptamtlichen Mitarbeitern des MfS handelte es sich jedoch wegen Wegfalls des Arbeitgebers nicht eigentlich um eine »politische Säuberung« oder gar um eine ostentative Strafmaßnahme, sondern eher um so etwas wie eine betriebsbedingte Kündigung. Die Entlassung wurde wie eine sozialplanmäßige Abwicklung mit Übergangsgeldern zur Erleichterung des Übertritts in private Beschäftigungsverhältnisse gehandhabt und sogar die StasiUnterlagen-Behörde schien anfangs auf gar nicht so wenige ehemalige Mitarbeiter des MfS angewiesen, um sich in dessen Hinterlassenschaften zurechtzufinden. Alle diese unübersichtlichen Komplikationen führten dazu, dass sich die öffentliche Debatte bei der Aufarbeitung der Geschichte der DDR von den eigentlichen
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Macht- und Systemfragen ab- und in Gestalt der Spitzel (»Inoffizielle Mitarbeiter« 13) Gesinnungs- und Moralfragen im persönlichen Umfeld zuwandte und damit einer Kategorie von Menschen am Rande der Macht, die teils aus untergeordneter Funktion an deren Missbrauch teilhaben wollten, in vielen Fällen jedoch auch zu ihren Zuträgerdiensten erpresst worden waren. Der Schock, als sich 1990 herausstellte, dass in den Führungen aller oppositionellen Bürgerbewegungen inoffizielle Mitarbeiter saßen und zum Teil sogar die Repräsentanten dieser Bewegungen vom MfS platziert worden waren, hat sicher (ähnlich wie das Wahlergebnis vom 18.3.1990) dazu beigetragen, die Oppositionskräfte, die sich erst am Ende der DDR politisch formiert hatten, alsbald zu spalten, ihr Selbstbewusstsein zu brechen und ihre gestaltende Kraft zu schwächen. Denunziantentum beschränkt sich nicht auf totalitäre Regime, sondern gehört wie ein gemeiner Schimmelpilz zur Fäulnis aller Polizeistaaten, aber meist wandern seine anonymen Anzeigen und sein missgünstiges und wichtigtuerisches Getuschel beim Sturz selbsternannter Potentaten in den Papierkorb der Geschichte. Erst durch die planmäßige Züchtung, Verwaltung und Archivierung dieses Schrifttums durch das MfS und durch seine »Entheimung« im Zuge der Aktenöffnung konnte die IM-Hysterie die Vergangenheitspolitik und -diskurse nach der DDR über mehr als ein Jahrzehnt in eine privatistische und deprimierende Sackgasse ziehen. Es ist nur zu verständlich, wie sehr es faszinieren und entsetzen musste, dass Freunde und Kollegen, ja sogar Familienmitglieder, alle persönlichen Loyalitäten aufkündigend, für ein paar Mark oder einige Streicheleinheiten vom Unteroffizier einer Bürgerkriegsbehörde ihre Nächsten denunzierten oder sich zu systematischem Vertrauensbruch erpressen ließen. 14 Ebenso kann man verstehen, dass viele Betroffene nach Jahren falschen Vertrauens und zugleich eines im Nahbereich undefinierbaren Verfolgungsverdachts die Dokumente ihrer Observierung und Zersetzung kennenlernen wollten, um wieder einen Zugriff auf die Wirklichkeit zu bekommen, und dass sie oft auch aus der bürokratisierten Aufmerksamkeit und aus ihrer Feinderklärung in der Stasi-Überlieferung neues Selbstbewusstsein zogen: Waren sie wirklich für den vergangenen Staat so gefährlich gewesen, wo sich doch der gegenwärtige Staat so wenig für sie interessierte? Man kann das alles gut verstehen und doch ist es vermutlich noch zu früh, um sich ein Urteil darüber zu bilden, ob oder bis zu welchem Grad der deutsche und protestantische Sonderweg des Abschieds vom Kommunismus weise war und wie seine Kosten gewichtet werden müssten. 13 Zur Spitzelstrategie des MfS siehe Müller-Enbergs, Helmut: Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, Bd. 1: Richtlinien und Durchführungsbestimmungen. 3. Aufl., Berlin 2001; Bd. 3: Statistik, Berlin 2008 und zu einer paradigmatischen Analyse Kerz-Rühling, Ingrid; Plänkers, Thomas: Verräter oder Verführte. Eine psychoanalytische Untersuchung Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi. Berlin 2004. 14 Van Laak, Jeannette: Orte des Verrates. Zur Nutzung konspirativer Wohnungen bei der Überwachung Andersdenkender durch das MfS. Erfurt in den 1980er Jahren. In: Best, Heinrich u. a. (Hg.): Geheime Trefforte des MfS in Erfurt. Erfurt 2006, S. 52–106.
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Für mich wäre dies zunächst einmal eine empirische Frage an diejenigen, die Erfahrungen mit der Lektüre ihrer Akten gemacht haben. In unserem Projekt haben wir diese Frage an Martin Morgner gerichtet, der seine Akten studiert und über diese Erfahrung am Ende dieses Buches berichten wird; aber es scheint mir ein Symptom der Wirkungen solcher Selbstbegegnungen im Zerrspiegel von StasiAkten, dass er sich bis zuletzt gesträubt hat, dieses Studium auch auf die Erfahrungen seiner Freunde und Schicksalsgenossen mit ihren Akten auszudehnen. 15 Auf eine andere Weise müsste diese Frage nach den vergangenheitspolitischen Kosten auch an mich als Leiter dieses Projektes gerichtet werden, denn ich gehöre zu den westlich geprägten Ersatzkadern, nachdem ihre Vorgänger aus der DDR »abgewickelt« worden waren. 16 Ich versuche diese Frage an mich zunächst einmal dadurch zu beantworten, dass ich hier einen nach Kräften getreulichen und transparenten Projektbericht erstatte, der auch unsere Vorurteile und subjektiven Einschätzungen nicht verbirgt. 17 Da die persönliche Vorprägung bei der erfahrungsgeschichtlichen 15 Da Katharina Lenski erst in der Schlussphase am Projekt Bühne mitgewirkt hat, haben wir diese Frage nicht auch an sie gerichtet; sie hat aber über die Verstörung, die bei ihr das Studium ihrer Stasi-Akten zunächst hervorgerufen hat, in dem Aufsatz Lenski, Katharina: »Der zerbrochene Spiegel«. Methodologische Überlegungen zum Umgang mit Stasi-Akten berichtet. Demnächst in einem von Joachim von Puttkamer, Stefan Sienerth und Ulrich Wien hg. Tagungsband zur Securitate in Siebenbürgen (Studia Transylvanica 45). 16 Um der Transparenz willen berichte ich: Ich bin 1939 in Stuttgart in einer Familie von Gebrauchsgrafikern geboren und in der katholischen Familie meiner modernistischen Mutter, einer Malerin, aufgewachsen. Meinen Vater, einen »unpolitischen« Nazi, lernte ich erst mit 11 Jahren kennen, als er 1951 aus der Kriegsgefangenschaft in der Ukraine zurückkehrte. Ich habe zuerst evangelische Theologie und Geschichte studiert und mir mein Studium als Rundfunkautor verdient; als meine Zweifel kurz vor dem Examen unüberwindlich wurden, habe ich mit Geschichte und Sozialwissenschaften weitergemacht und 1971 mit einer Studie über »Entnazifizierung in Bayern« in Heidelberg promoviert. Seit 1968 war ich Assistent in Bochum, seit 1973 Professor für Neuere Geschichte an der neuen Gesamthochschule in Essen, später an der noch neueren Fern-Universität in Hagen und seit 1989 gründete ich im Auftrag der Landesregierung NRW das »Kulturwissenschaftliche Institut im Wissenschaftszentrum NRW« in Essen, nachdem ich 1987 mit Freunden wohl die einzige westdeutsche Oral History Untersuchung in drei proletarischen Hochburgen der DDR (Eisenhüttenstadt, Bitterfeld, Chemnitz) unternehmen konnte. 1993 bin ich dann einem Ruf nach Jena gefolgt, wo ich in den 1990er Jahren auch Begleitforschungen zur Erneuerung der Gedenkstätte Buchenwald betrieben und die Bundesregierung bei der Entschädigung der Zwangsarbeiter des Dritten Reiches beraten habe und – seit 2005 emeritiert – noch immer Forschungsprojekte und Doktoranden betreue. Derzeit bin ich Senior Advisor im neuen Jenaer Imre Kertész Kolleg für die Geschichte Osteuropas im 20. Jahrhunderts, versuche dort unter den überwiegend osteuropäischen Fellows zu Ost-West-Vergleichen beizutragen und genieße die Osterweiterung meines Bewusstseins. In meiner Jugend fuhr ich mit frühen Studentengruppen nach Israel und dann auch nach Polen und verbrachte im Zuge der Recherchen für meine Doktorarbeit ein halbes Jahr in den USA, später interessierte mich die europäische Nachbarschaft und ich besuchte als Gastwissenschaftler meistens für ein Jahr Oxford, Paris, die beiden Berlins des späteren Kalten Kriegs, danach Basel, Florenz, Wien und Warschau. 17 Über meine Vorerfahrungen als Westdeutscher mit und in der DDR habe ich berichtet in der Einleitung zu Niethammer, Lutz u. a.: Die volkseigene Erfahrung. Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR. Berlin 1991, S. 9 ff. (Glasnost privat 1987) u. bes. 34 ff. Wiederabgedruckt in Niethammer, Lutz: Ego-Histoire? Und andere Erinnerungs-Versuche. Wien 2002, S. 17 ff. u. 281 ff. um 3 aktualisierende Anmerkungen erweitert, nachdem Rainer Eckert Aktenstücke zur Genehmigung unseres Oral-HistoryProjektes im ZK der SED und zum Widerspruch des MfS dagegen aufgefunden hatte. Hier S. 103–192 auch die titelgebenden autobiografischen Skizzen und Reflexionen. Zu meinen Kontakten mit ostdeutschen
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Deutung von Zeitgeschichte und ihrer Kommunizierbarkeit mit denen, die diese Geschichte erlebt haben, eine wichtige Rolle spielen, wurde bei der Zusammensetzung unserer Forschungsgruppe viel Wert auf die Vorerfahrungen zu DDR-Zeiten gelegt. Und ich möchte noch eine traurige Anekdote hinzufügen: Da ich der Dienstälteste unter den neuen Lehrstuhlinhabern für Zeitgeschichte in Ostdeutschland war, habe ich in den 1990er Jahren einmal alle Kollegen nach Jena eingeladen. Dabei stellte sich heraus, dass alle Inhaber von Dauerstellen Westdeutsche waren – nicht etwa die Mehrheit oder viele, sondern alle. Den Einzelnen war nichts vorzuwerfen, aber strukturell hielt ich diesen Befund für eine erstrangige kulturpolitische Dummheit und darüber hinaus für eine epistemologische Verfehlung. Mittlerweile scheinen sich die Verhältnisse hie und da etwas auszugleichen. 18 Auch Protagonisten der ehemaligen DDR-Opposition nahmen seit den späteren 1990er Jahren zunehmend die Kosten des deutschen Sonderwegs in der Vergangenheitspolitik wahr, nicht zuletzt an ihrer eigenen Marginalisierung. Die Reste ihrer Bewegungen, soweit sie sich nicht in die bereitwillig angebotenen Sättel der Westparteien schwangen und dort – mit bemerkenswerten Ausnahmen wie Merkel oder Thierse, die beide nicht zu den Aktiven der Opposition gehört hatten – in der Regel bald im Tross verschwanden, zogen sich aus der Öffentlichkeit zurück. Auf der anderen Seite entstanden geschichtliche Basisinitiativen oder bereits bewährte drängten vermehrt in die Öffentlichkeit, wie bei uns in Ost-Thüringen das ThürAZ (Thüringer Archiv für Zeitgeschichte), die Jenaer Geschichtswerkstatt oder der Geraer Verein Amthordurchgang. In diesen Initiativen waren Stasi-Opfer besonders aktiv und insofern wurde nun interessant, ob sie die IM-Hysterie weiter befeuern oder gegensteuern würden. Man musste schon genauer hinsehen, denn die Signale waren nicht eindeutig: einige, die in den politischen oder medialen Raum drängten, rissen die Initiative zu populistischem Denunziantentum an sich, während andere – und in unserem Fall galt dies erfreulicherweise für Bley, ThürAZ und Verein Amthordurchgang – in der Umkehrung des Denunziantentums keine Zukunft sahen und gegensteuern wollten. Dazu lautete nun die Devise, die Stasi sei vielleicht nicht ganz so wichtig oder jedenfalls nicht selbstständig, sondern nur »Schild und Schwert der Partei«, mithin ein gefügiges und präzises Instrument des eigentlichen Machthabers gewesen. Diese Formel entsprach zwar der Beschlusslage der SED, aber sie hatte einige andere Nachteile: Erstens kam diese Erinnerung ein wenig spät und es erwies sich als schwierig, die Adepten der Krimis rund um die inoffiziellen Mitarbeiter zurück auf den Weg der Vernunft und zu den eigentlichen Machthabern zu weisen. Zweitens waren die SED, ihre Blockpartner und ihre Nachfolgeorganisationen ein ungleich Historikern vor 1989 siehe Sabrow, Martin: Der Streit um Verständigung. Deutsch-deutsche Zeithistorikergespräche in den 1980er Jahren. In: Bauerkämper, Arnd u. a. (Hg.): Doppelte Zeitgeschichte. Deutschdeutsche Beziehungen 1945–1990. Bonn 1998, S. 113–130. 18 So ist kürzlich Silke Satjukow als – soweit ich sehe – erste Ostdeutsche auf einen Lehrstuhl für Zeitgeschichte in Ostdeutschland (Magdeburg) berufen worden.
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gewichtigerer und vergangenheitspolitisch präsenterer Akteur als das aufgelöste MfS; und ihr Mitgliederstamm war ungefähr zehnmal so umfänglich wie das Personal, das vom MfS auf seinen Gehalts- und Bestechungslisten geführt worden war, was diese kristallisierte Bürgerkriegsinstitution immer noch zur relativ größten Geheimpolizei aller Zeiten macht. 19 Die SED und ihre Nachfolger unmittelbar haftbar machen zu wollen, erwies sich als sehr viel schwieriger als das mittlerweile zum Mythos diffundierte MfS. Drittens war aber auch die SED nie der eigentliche Machthaber der DDR gewesen, sondern ein Exekutor von Macht im Rahmen der Vorgaben und Interessen des eigentlichen Machthabers, der Sowjetunion. 20 Insofern verweist die Frage nach der Legitimität der SED nicht auf die Werktätigen Ostdeutschlands, die nie wirklich um ihre Meinung gefragt worden waren und am 17. Juni 1953 ungefragt kurz, aber deutlich Nein gesagt hatten, sondern auf Hitler, dessen Regime und Menschheitsverbrechen die Sowjetunion in die Mitte Deutschlands gebracht hatten. Derartige Grundsatzerwägungen gingen natürlich weit über den Rahmen unseres Geraer Konflikts hinaus; aber sie stellten Fragen hinsichtlich der Beziehung zwischen der Stasi und der SED oder wer nun immer der eigentliche Souverän der DDR gewesen sein mochte. War die Stasi nur ein Instrument der SED oder ihrer Führung oder hatte sie ein Eigenleben entfaltet, das sich möglicherweise zu einer erheblichen Belastung für ihre eigentliche Bestimmung als politisch beherrschbares Instrument auswachsen konnte?
2. Projektgruppe und Untersuchungsverlauf oder Kontextualisierung der Akten und Rückverweis auf sie Nachdem wir mit unseren ersten Ideen, die Finanzierung unseres Gera-Projektes auf viele Schultern zu verteilen, gescheitert waren, rafften wir uns zu einem professionellen Vorgehen im Rahmen der üblichen Wege der Forschungsförderung auf, das einerseits der Gewichtigkeit unserer beabsichtigten Fallstudie entsprach, andererseits die praxeologischen Erweiterungen zur Förderung des lokalpolitischen Erinnerungsprozesses abhängte. Schlichter gesagt: In dem Maße, wie wir uns den Usancen der Forschungsförderung näherten, entfernten wir uns aus der lokalen Öffentlichkeit 19 Zuletzt hatte das MfS über 90 000 hauptamtliche und 170 000 inoffizielle Mitarbeiter, was es im Verhältnis zur schwindenden Bevölkerung der DDR zum relativ größten Geheimdienst der Weltgeschichte macht. Auf einen hauptamtlichen Mitarbeiter kamen 1989 in der DDR 180 Einwohner, 1990 in der Sowjetunion 595 Einwohner und im Dritten Reich (in den Grenzen von 1937) kamen auf einen Gestapo-Beamten rund 8 500 Einwohner. Insgesamt summieren sich im Laufe seiner Geschichte die hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS auf ca. 250 000 Personen (darunter 100 000 Zeitsoldaten in seinen Wachkompanien) und die Spitzel auf ca. 625 000 inoffizielle Mitarbeiter. 20 Darauf habe ich beispielhaft in einer Miszelle aufmerksam zu machen versucht in Niethammer, Lutz: Nachdenken über posthistorische Sprachregelungen – am Beispiel »Aufarbeitung der SED-Diktatur«. In: Gibas, Monika u. a. (Hg.): Couragierte Wissenschaft. FS Jürgen John. Jena 2007, S. 364–372.
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unseres Untersuchungsortes. Allerdings bildeten wir insofern immer noch einen Sonderfall, als wir nun unsere Zusammenarbeit mit der Abteilung Bildung und Forschung der Birthler-Behörde formalisierten, ein gemeinsames Forschungsteam bildeten und einen Antrag an die DFG für zwei halbe Stellen für wissenschaftliche Mitarbeiterinnen sowie Reise-, Hilfskraft- und andere notwendige Sachmittel auf den Weg brachten. 21 Die Birthler-Behörde stellte für diese erstmalige Kooperation einen besonders in diesem kulturellen Bereich erfahrenen Mitarbeiter frei, sodass wir zusammen zwei Stellen wissenschaftlicher Mitarbeiter und einige Sachmittel zunächst auf zwei Jahre zur Verfügung hatten und die Frist wurde später im Rahmen des Üblichen noch ein wenig verlängert. 22 Dadurch war nun auch eine institutionelle Kooperation zur Forschungsabteilung der BStU zustande gekommen, für die innerhalb dieser Behörde Dr. Roger Engelmann zunächst als Sachgebietsleiter und später in der Funktion eines Projektleiters (verschiedener Projekte zu dem Bereich »Herrschaft und Gesellschaft in der DDRProvinz«) verantwortlich zeichnete, als der er nun mit mir gemeinsam die Ergebnisse unseres Kooperationsprojektes herausgibt. Seine Zuständigkeit war eine glückliche Fügung für unser Projekt, nicht nur weil wir uns über seine früheren Chefs am Münchener Institut für Zeitgeschichte, Martin Broszat, und an der Berliner BStUForschungsabteilung, Klaus Henke, zwei von mir besonders geschätzten und engen Kollegen, bereits kannten und er sich wie ich schon an ganz unterschiedlichen regionalen Forschungen (früh zum italienischen Faschismus, jetzt zur Gesellschaft der DDR und hier besonders an einer Längsschnittstudie zur Rolle der Stasi im Kreis Halberstadt) engagiert hatte und im Gegensatz zu mir bereits ein ausgewiesener Kenner der Geschichte der Stasi war. 23 Engelmann war als Sohn eines deutschen 21 Die Arbeit eines Projektleiters wird bei öffentlich geförderten Forschungsprojekten an Hochschulen in der Regel ehrenamtlich erbracht. Meine Hochschule muss ich in diesem Zusammenhang lobend und dankbar erwähnen, weil sie meine weitere Tätigkeit in der Forschung jenseits der Altersgrenze mit Räumen und Dienstleistungen großzügig unterstützt hat, sodass ich im Dachgeschoss eines ihrer Seminargebäude durch Aufstellung meiner zeitgeschichtlichen Spezialbibliothek quasi ein kleines Institut einrichten und hier noch Doktoranden und mehrere Forschungsprojekte unter günstigen Bedingungen betreuen kann. Ich selbst sitze auf meine alten Tage im ehemaligen Thüringer Oberlandesgericht im Zimmer des einstigen Direktors der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität der 1950er Jahre und kann es noch immer nicht fassen, wie hier die Erinnerungsorte auf mich herniederprasseln und mir im Alter das größte und schönste Büro meiner ganzen Uni-Karriere bescheren. Gewiss, wir haben diesen Erinnerungsort erforscht. Jana Woywodt hat eine schöne Dissertation über die A & B-Fakultät der FSU geschrieben, aber leider ist sie, die nun die Kultur- und Sozialarbeit der Thüringer Studentenwerke koordiniert, damals einem Dissertationsdrucker aufgesessen, der ihre Arbeit mit einem absurden Verkaufspreis eher verheimlicht als veröffentlicht hat. Jana Woywodt: Die Arbeiter- und Bauern-Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena 1949–1963. Eine Geschichte der ABF aus Sicht ihrer Dozenten und Studenten. Hamburg 2009. 22 Wir hatten auch Mittel für einen Workshop bekommen, mit dem wir am Ende unsere Ergebnisse in die regionale Konfliktforschung zur DDR einspeisen und zur Diskussion stellen wollten; indessen verlief das Projekt etwas anders als gedacht und wir mussten den Workshop streichen und die Mittel umwidmen, weil wir am Ende dringlicheren Bedarf erkannten. 23 Engelmann, Roger: Provinzfaschismus in Italien. Politische Gewalt und Herrschaftsbildung in der Marmorregion Carrara 1921–1924. München 1992 war seine Dissertation. Danach arbeitete er am IfZ an
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Physikers bei Euratom vom Kindergarten bis zum Abitur in Frankreich und Italien aufgewachsen, nach einem Studium der Geschichte, Germanistik und Sozialkunde in München aus dem bayerischen Schuldienst in die Forschung geflohen und betrachtete Regional- und Mikrostudien völlig unromantisch mit einem zugleich distanzierten und sehr genauen Blick, galt sein Hauptinteresse doch in Italien wie in Deutschland der Nahsicht auf die politische Beherrschung der Gesellschaft durch diktatorische Bewegungen und Einrichtungen. Als Mitherausgeber verband er Langmut, Sachkompetenz und Qualitätsbewusstsein mit einer zähen Verteidigung der Persönlichkeitsrechte gerade auch jener, die diese bei anderen nie geachtet hatten: den Mitarbeitern des Stasi-Apparates. Um nichts haben wir im Zuge der Herausgabe dieses Bandes intensiver und detailgenauer miteinander diskutiert, als um das Verhältnis zwischen unserer historischen Aufklärungsaufgabe und der Achtung der Rechte unterlegener Täter, wobei es ihm nicht allein um die pflichtgemäße Anwendung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes ging – das gewiss auch. Es geht ihm vielmehr um die Entwicklung einer Zivilisation der Aufklärung, die sich eindeutig von den rechtlosen »Aufklärungs«-Praktiken diktatorischer Bewegungen und Regime abgrenzt. Zielstellung Unsere Absichten mit diesem Kooperationsprojekt hatten wir in der jedem Drittmittelantrag voranzustellenden Zusammenfassung für die Nicht-Spezialisten so formuliert: »Das Projekt ›Bühne DDR‹ bezweckt eine Case-Study zu Kulturkonflikten in der Provinz der späten DDR. Am überschaubaren Beispiel der Bezirkshauptstadt Gera werden eine Reihe repressiver Eingriffe in die dissidentische Popularkultur exemplarisch untersucht. Hierzu existieren umfängliche Unterlagen des sog. ZOV ›Bühne‹ der MfS-Bezirksverwaltung Gera, die (in Zusammenarbeit mit der Abteilung Bildung und Forschung der Birthler-Behörde von Dr. Matthias Braun) aufgearbeitet werden. Das Projekt will die vorherrschende politische Engführung solcher Konflikte in der Stasi- und Oppositionsforschung im dualen Wahrnehmungsmuster Täter/Opfer bzw. Diktatur (Stasi) vs. Opposition (Künstler) überwinden. Unter Einbeziehung umfangreicher Archivrecherchen sowie durch Oral-History-Interviews werden einem experimentellen Zeitzeugenprojekt mit politischen Funktionsträgern und Experten (siehe Ders. mit Erker, Paul: Annäherung und Abgrenzung. Aspekte deutsch-deutscher Beziehungen 1956–1969. München 1993) und hat in der BStU zunächst ein Gutachten zum Wert der MfS-Akten für die seinerzeitige EnqueteKommission des Bundestages zur DDR angefertigt und dann mit Karl Wilhelm Fricke zwei Bücher zu Kernproblemen der 1950er Jahre veröffentlicht: Dies.: »Konzentrierte Schläge«. Staatssicherheitsaktionen und politische Prozesse in der DDR 1953–1956. Berlin 1989; Dies.: Der »Tag X« und die Staatssicherheit. 17. Juni 1953 – Reaktionen und Konsequenzen im DDR-Machtapparat. Bremen 2003. Er ist Hg. von Kommunismus in der Krise – Die Entstalinisierung 1956 und die Folgen. Göttingen 2008 und Mit-Hg. von Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Berlin 2000; Grundsatzdokumente des MfS. Berlin 2004 sowie MfSLexikon. Berlin 2011.
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die Darstellungen in den Stasi-Akten hinterfragt, um die komplexen Motiv-, Verantwortungsund Konfliktstrukturen in den Verwaltungs- und Parteieliten zu rekonstruieren. Bezogen auf die Kulturpolitik der DDR und die Ausbildung und Zersetzung einer alternativ-dissidentischen Kulturszene der jüngeren Generation soll damit eine dichte Beschreibung dieser Konflikte erfolgen. Durch eine erweiterte Institutionen-Wahrnehmung und die Berücksichtigung erfahrungs- und kulturgeschichtlicher Gesichtspunkte (Generationenprägung, Kulturanalyse) lassen sich die kreativen Potenziale und die diktatorische Signatur der späten DDR-Kultur abbilden.«
Da die fiktiven Terminpläne von Forschungsprojekten in der Durchführung meist mit individuellen Qualifizierungsabläufen konkurrieren, mussten wir uns erst einmal zusammenfinden, und da wir nun ein Kooperationsprojekt begannen, war die Synchronisation noch schwieriger, insofern unser Partner von der Birthler-Behörde erst noch ein größeres Buch abschließen musste. Aber auch in Jena lief nicht alles wie geplant, sodass wir unsere Zugriffe auf unser Studienobjekt weder zeitgleich noch in jener methodischen Pluralität umsetzen konnten, wie wir sie im Antrag entworfen hatten, sondern eher wie einzelne Vortriebe beim Bau eines Tunnels, von denen noch ungewiss ist, ob und wann sie sich treffen. Das gibt mir nun Gelegenheit, die Mitwirkenden am Projekt – jenseits von Andreas Bley, Martin Morgner und den Herausgebern, die ich schon eingeführt habe – in ihren Funktionen und nach ihren Vorerfahrungen vorzustellen. Ich betone diesen gelebten Pluralismus etwas mehr als in Drittmittelprojekten üblich, in denen sonst oft nur der Projektleiter sichtbar ist und ansonsten davon ausgegangen wird, als wäre »die Ausstattung« ein anonymer exekutiver Funktionsmechanismus. So habe ich Teamwork in der Forschung allerdings nie erlebt; vielmehr hing das Ergebnis immer sowohl von einem kreativen Gruppenprozess als auch von den Voraussetzungen und den Leistungsbedingungen der einzelnen Beteiligten ab. Der Projektleiter tritt nach außen eher weniger in Erscheinung, ist aber mit mehr oder weniger verschwiegenen Interventionen auf beiden Ebenen ständig gefragt. In unserem Projekt war dies noch ein wenig stärker akzentuiert, weil wir ganz bewusst sehr pluralistisch zusammengesetzt waren und auch mit objektiven Problemen bei der Einlösung der je individuellen Aufgabe zu kämpfen hatten. Auch forderten Alter und Gesundheit des Projektleiters am Ende noch ihren Tribut, sodass sich der Abschluss der Arbeiten vor allem meinetwegen verzögerte. Die Arbeitsgruppe Ich beginne mit unserem Kooperationspartner von der seinerzeitigen BirthlerBehörde, Dr. Matthias Braun, dem wohl erfahrensten empirischen Forscher für den Komplex Stasi und Kultur, den er bisher vor allem auf der Ebene der zentralisierten Hochkultur der DDR erforscht hatte. Unsere Kooperation beruhte auf der Vereinbarung, dass wir in Jena ihm Untersuchungen jenseits der MfS-Quellen liefern könnten, während er als behördeneigener Forscher– ohne die für alle auswärtigen Forscher geltenden Beschränkungen – die Stasi-Überlieferung zunächst uneinge-
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schränkt erforschen konnte und erst bei der Darstellung überlegen musste, was aus datenschutzrechtlichen und ähnlichen Rücksichten im Einzelnen veröffentlicht werden konnte. Dieser Deal war in der Praxis nicht immer ganz einfach, aber aufs Ganze hat er sich doch bewährt. Denn alle externen Benutzer der Stasi-Akten wissen, dass sie oft eine lange Einarbeitungszeit brauchen, bis sie mit dieser monströsen Überlieferung und ihren besonderen Nutzungsregelungen zurechtkommen und entsprechend bedient werden. Bis zur Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes vom Dezember 2006 machte die Schwärzung von Erwähnungen Dritter eine realistisch kontextualisierende Forschung im Einzelnen oft schwierig. Dies war die Sachlage in der Konzeptions- und Anfangsphase unseres Projekts. Doch auch die neue Gesetzeslage mit der grundsätzlichen Zugangsmöglichkeit für externe akademische Forscher zum ungeschwärzten Material beseitigte nicht alle organisatorischen und datenschutzrechtlichen Hürden. Insbesondere bei komplexeren Forschungsvorhaben fallen diese durchaus noch ins Gewicht. Es war für das Projekt daher hilfreich, dass Recherche und Auswertung im Bereich der operativen Akten der Staatssicherheit von einem hauseigenen Forscher der BStU übernommen wurden. Hinzu kamen die persönlichen Ressourcen des Bearbeiters. Matthias Braun ist 1949 in Berlin geboren und als Brecht-Forscher apostrophiert er das damalige Berlin in seinem Lebenslauf mit Worten Bert Brechts als den »Schutthaufen bei Potsdam«. Er war in der Schulzeit weder Pionier noch FDJ-Mitglied und erhielt auch nicht die Jugendweihe, sondern die Konfirmation, engagierte sich in der evangelischen Jugendarbeit und machte dann zugleich Abitur und einen Facharbeiterabschluss, präzise 1968. Danach beteiligte er sich an einer Exkursion nach Auschwitz, damals in beiden Deutschlands eine noch selten ergriffene Möglichkeit konkreter Wahrnehmung geschichtlicher Verantwortung. Dann kommen einige Semester Studium evangelische Theologie, aber das Nischenstudium befriedigte ihn nicht und da er sich nicht einfach für ein anderes Fach einschreiben konnte, musste er zur Bewährung in die Produktion: Bühnenarbeiter, aber immerhin beim »Berliner Ensemble«, dem aus Brechts Tradition damals interessantesten Theater Mitteleuropas. Danach kann er Theater- und Literaturwissenschaft in Leipzig und Berlin studieren, über die Aneignung der Brecht'schen Theaterästhetik in der DDR promovieren und Mitarbeiter, später sogar stellvertretender Archivleiter im Bertolt-Brecht-Archiv werden. Er schreibt viel über das Theater und Brecht. Nach dem Ende der DDR wird er Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Theatergeschichte und hat verschiedene Lehraufträge in Ost und West, Vortragsreisen führen ihn quer durch Europa und in die USA. Seit 1992 arbeitet er in der Forschung der Gauck-Behörde: Nach einer Untersuchung über den Kampf der Stasi gegen das Heiner-Müller-Stück »Die Umsiedlerin« wird er mit Forschungen über die Hintergrundarbeit des MfS in den TopUnternehmen der DDR-Kultur betraut und seine Bücher über den Stasi-Einfluss bei der Literaturzeitschrift »Sinn und Form« und in der Akademie der Künste, in
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denen er bereits auf die begrenzten Einwirkungsmöglichkeiten des MfS hinwies, werden Standardwerke. 24 Als er zum Projekt »Bühne DDR« kam, war die Forschungsabteilung der StasiUnterlagen-Behörde in einer Phase der Umorientierung. Nachdem die grundlegenden Arbeiten über die Zentrale des MfS und über die in Berlin zentralisierte Politik und Kultur der DDR geleistet waren, wandte sie sich u. a. mikrohistorischen Perspektiven zu, um die konkreten Bezüge der Stasi zu den anderen Akteuren im gesellschaftlichen Feld erforschen zu können. Für Matthias Braun bedeutete diese Orientierung den Abschied von der Hochkultur der Metropole und die Hinwendung zur Popularkultur der Grenzprovinz. Nachdem er sich die Akten vornahm, wurde er schnell von seinen professionellen Instinkten davongetragen. Er konnte dabei an Jeannette van Laaks Befunde anknüpfen, die mit ihren Forschungen über die alternative Szene und die Kulturfunktionäre der SED in Gera vorausgeeilt war und fand mehr in den Akten als ursprünglich angenommen. Zunächst hatte er nämlich vermutet, dieser ganze ZOV sei vielleicht nur ein einziger Bluff von ein paar provinziellen Wichtigtuern, die aus einer Fliege einen Elefanten machen wollten, um endlich wahrgenommen zu werden. Diese Hypothese ist übrigens, wie mir scheint, angesichts der Tatsache, dass es für diesen großen Aktenvorgang weder einen belegbaren Auftrag noch ein erfolgreiches Ende gab, keineswegs aus der Welt. Aber in Brauns Beitrag kann man nachlesen, wie genau er jetzt aus seinem riesigen Aktenberg auch den kulturellen Ingrimm dieser Stasi-Offiziere in ihrem Kampf gegen die Kulturexperimente der SED, deren Instrument sie doch angeblich sein sollten, herauszupräparieren vermag. Das lenkt den Focus unserer Kooperation auf ihren Jenaer Teil zurück. Jeannette van Laak, die davor unter ihrem früheren Namen Michelmann publiziert hatte, war in gewisser Weise hier die tragende Säule unseres Projekts. Sie stand am frühesten zur Mitarbeit zur Verfügung, sie brachte zuerst herausfordernde Befunde zutage und sie griff bereitwillig immer wieder Anregungen zur Überarbeitung dieser Befunde auf. Sie war ein Aufruf an uns alle anderen, rüberzukommen mit Ergebnissen. Sie hatte schnell verstanden, worum es ging, und hatte dann ohne weitere Umstände mit ihren Archivstudien und Oral-History-Interviews begonnen. Jeannette ist 1970 in Weimar geboren und kommt – wenn ich sie richtig verstanden habe – weder aus einem SED-begeisterten noch aus einem widerständigen Haus, sondern aus der Mitte der DDR-Gesellschaft. Sie hat 1989 Abitur gemacht und seit 1991 bei uns in Jena Geschichte, Philosophie und Germanistik studiert und 1995 ihr Lehrerexamen und dann auch noch einen Magister gemacht. Ihre Abschlussarbeit erkundete eine Erfurter Ökogruppe des Kulturbunds in der späteren DDR und deren Zersetzung durch die Stasi und war so gut, dass sie später mit einem öffentlichen Zuschuss als 24 Braun, Matthias: Die Literaturzeitschrift »Sinn und Form«. Ein ungeliebtes Aushängeschild der SED-Kulturpolitik. Bremen 2004; Ders.: Kulturinsel und Machtinstrument. Die Akademie der Künste, die Partei und die Staatssicherheit. Göttingen 2007.
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ein kleines Buch erscheinen konnte. 25 Ihre Dissertation erforschte die antifaschistischen Ausschüsse 1945 in den von der Roten Armee besetzten Gebieten Deutschlands, deren oft anders geartete Parallelen im Westen bereits 1976 untersucht worden waren 26 und all das tat sie zügig, wenn man bedenkt, dass sie zwischenzeitlich auch noch eine Familie gründete. Danach ging sie ins Referendariat und erwarb ihre Qualifikationen als Lehrerin, arbeitete als Lektorin, freie Historikerin sowie bei der Erstellung des ersten Berichts zur Lage der SED-Opfer in Thüringen. Unsere zweite Mitarbeiterin, Agnès Arp-Pilleul (auch sie war in der Familiengründungsphase, weshalb auch sie bei uns auf einer halben Stelle arbeitete), kam aus derselben Altersgruppe, aber aus Paris, genauer gesagt aus einer Familie von Lehrern und Kulturfunktionären und sie hatte dort Politische Wissenschaft und Germanistik studiert und Carl Schmitts »Staat – Bewegung – Volk« übersetzt und kommentiert. In der Folge wurde ihr Leben zur französisch-deutschen ›histoire croisée‹: Sie studierte in Jena und dann wieder in Paris, mischte sich in verschiedene deutsche Szenen in Berlin, im Osten und in Hamburg, wo sie ihren Mann traf. Schließlich zog sie mit ihm nach Jena und erforschte in einer innovativen Oral-HistoryUntersuchung den Niedergang, aber auch die ausharrende Kompromissbereitschaft kapitalistischer Kleinunternehmer in der DDR. Die französisch geschriebene Dissertation wurde in Paris und Jena verteidigt; auf Deutsch erschien bisher nur eine ausführlich eingeleitete Dokumentation von Interviews. 27 Seither hat sie an einer ganzen Reihe von Jenaer Projekten zur Geschichte der Oral History, zur Lage der Opfer der DDR in Thüringen, zur Erfahrungsgeschichte des Verschwindens der DDR als Heimat und jetzt zur Rekonstruktion der Heimerziehung in der DDR mitgearbeitet. Ins Projekt »Bühne DDR« hatten wir sie wegen ihrer großen OralHistory-Erfahrung geholt und auch weil wir hofften, dass sie, die auch nach all den Jahren ihrer »histoire croisée« mit einem aparten Akzent Deutsch spricht, ein faires und unwiderstehliches Angebot an die Stasi-Mitarbeiter, die wir zum Sprechen bringen wollten, werden könnte, weil sie weder den Stereotypen einer Wessi entsprach noch einem ostdeutschen Erfahrungstyp. Aber es wurde ein totaler Reinfall. Agnès‘ Geschick erlaubte ihr, überall in Ostdeutschland mit einigen Stasi-Offizieren ins Gespräch zu kommen, nur in Gera, dem verdichteten Ort unserer Fallstudie, biss sie auf Granit. 28 Kein einziger der ehemals am ZOV »Bühne« beteiligten Offi25 Michelmann, Jeannette: Verdacht Untergrundtätigkeit. Eine Erfurter Umweltschutzgruppe und die Staatssicherheit. Weimar 2001. 26 Michelmann, Jeannette: Aktivisten der ersten Stunde. Die Antifa in der Sowjetischen Besatzungszone. Weimar u. a. 2002. 27 Arp-Pilleul, Agnès: VEB – Vaters ehemaliger Betrieb. Privatunternehmer in der DDR. Leipzig 2005. Sie promovierte 2006 in Paris und Jena mit der Arbeit »Les patrons de petites et moyennes entreprises en RDA: partir ou rester? Ètudes comparées de parcours biographiques«. 28 Wegen des Case-Study-Charakters unseres Projekts, seiner regionalen Besonderheiten und der self selecting group, die beim sampling am Rande einer überwiegend zum Schweigen disponierten Veteranengruppe entsteht, haben wir darauf verzichtet, externe Interviews als Typen in unser Projekt hereinzutragen. Auf diesem Wege sind früh durchaus Erkenntnisse gewonnen worden. Siehe z. B. Wilkening, Christina: Staat im
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ziere konnte zu Auskünften und zum öffentlichen Nachdenken über sein Leben gewonnen werden. In Gera, dessen Atmosphäre durch seine damalige Lage an der Grenze zum Westen und im sowjetischen Atom-Gebiet der Wismut mehrfach verschärft war, galt auch jetzt noch das alte autoritäre Schweigegebot, bei dem offenbar ein ehemaliger Stasi-Oberst vor Ort die Strippen zog. Was geschieht also, wenn man alle Hoffnung fahren lassen muss, dass das wohl erwogene Vorgehen nicht in eine Sackgasse führt? Die Antwort gefiel uns nicht, war aber eindeutig: Man untersucht die Stasi nicht mit weichen, für die Selbstdeutung der Subjekte offenen Methoden, sondern man untersucht, welche Informationen die Stasi über ihr eigenes Personal gesammelt und wie sie das zugerichtet hat. Das kann und muss aber nicht heißen, dass man dieses Material im selben Geist auswertet, wie es gesammelt wurde, also mit all jenem Brimborium, das die tschekistische Folklore an ideologischem Schmu aus Feindphantasien, Selbstkompensation, Selbstermächtigung und Zersetzungswut bereithält, sondern einfach so, wie sich die in diesen Akten festgehaltenen Verhältnisse einem anthropologisch geschulten Auge darbieten. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz erlaubt ein solches Eindringen in den Herrschaftsraum der Stasi über ihr eigenes Personal, ohne dieses zum Freiwild zu machen – das entsprach auch unseren eigenen Überlegungen: Die Aufklärung über die Stasi soll nicht mit deren Methoden betrieben werden, kann sich aber der MfS-internen Materialien bedienen. 29 Hätten die Betroffenen ihren ehemaligen Dienstherrn besser kennen können, um unserem Zugriff auf ihre durchherrschte Subjektivität durch eine erinnernde Deutung zuvorzukommen? Jedenfalls taten sie das nicht, denn sie glaubten wohl, dass Subjektivität ein Reservat des Gegners sei, während die ihre im Schutz der Firma aufgehoben sei. Weit gefehlt: Eine Behörde des vorgeschossenen Misstrauens, die in jeder kreatürlichen Regung bereits das unkontrollierbare PotenStaate. Auskünfte ehemaliger Stasi-Mitarbeiter. Berlin, Weimar 1990. Jetzt versucht ein Projekt des Chemnitzer Soziologen Uwe Krähnke (»Im Dienst der Staatssicherheit. Individuelle Lebensarrangements für die MfSMitarbeit in der DDR«) über Interviews in die Selbstdeutung ehemaliger Stasi-Offiziere einzudringen und hat dafür Panels in Chemnitz und Rostock gebildet. Allerdings ist hier die Rücklaufquote (ca. 10 %) ernüchternd, weil man so nur einige Außenseiter vom Rand einer Schweigekultur vor das Mikro bekommt. Außerdem glaubt Krähnke offenbar auch jene Auskünfte, die sich teils auf die Ideologie der Stasi selbst, teils auf die nachmalige Standard-Ausflucht (»ein Geheimdienst wie jeder andere«) beziehen und die unter Anwendung des (wegen seiner Hyperkomplexität und psychoanalytischen Untiefen kaum zu operationalisierenden) Habitus-Begriffs Pierre Bourdieus zu einer scheinbaren Wirklichkeit befördert werden. 29 Wir haben deshalb die Namen der MfS-Beschäftigten nur dort genannt, wo es sich um dienstliche Angelegenheiten handelt. Die Personalakten geben jedoch auch einen weitgehenden Einblick in das Milieu, die Verwandtschaft und die persönlichen Verhältnisse der Betroffenen (einschließlich Beziehungen, Gesundheit, Abhängigkeiten, Vergehen etc.); wir haben solche Angaben stets von der einzelnen Person abgelöst und nur beispielhaft und in anonymisierter Form wiedergegeben, um die inneren Verhältnisse dieser Parallelgesellschaft zu schildern. Es lagen uns übrigens auch die Portraits aller am ZOV Bühne beteiligten Offiziere aus ihren Kaderakten vor und wir haben uns nach langen Abwägungen auch hier dafür entschieden, auf ihren (auch anonymisierten) Abdruck zu verzichten und nur beispielhaft anhand einiger Führungsfiguren (als sog. Personen der Zeitgeschichte) den Überlieferungsweg solcher Abbildungen zu charakterisieren und von denjenigen für Kulturfunktionäre (meist über die Medien) und erst recht für die Protagonisten der Alternativszene (über freundschaftliche Kontakte) zu unterscheiden.
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zial »feindlich-negativer« Elemente witterte und jenseits allen Rechts rechtskräftig dingfest machen durfte, hat auch gegenüber ihrem eigenen Personal weder Recht noch Gnade gekannt. Es sind scheußliche Akten einer mafia-artigen Binnenkontrolle, in denen nichts, und sei es auch noch so privat, vergessen, aber alles, was künftig gegen den Ankläger verwertet werden könnte, peinlich protokolliert und auf Dauer bewahrt wird. Sogar auf jene Dauer, in der sich alle herrschaftlichen Selbstverständlichkeiten verkehrt haben würden. Für uns waren diese peinlichen Kaderakten, die Agnès dann zu erschließen begann, bevor sie selbst krank wurde und ihre Arbeit abgeben musste, Quellen zweiter Wahl. Ihr ganzer Entstehungszusammenhang war illegitim und die in ihnen dokumentierte Wahrnehmung hochgradig ideologisch und verzerrend, wie in allen StasiAkten. Kurz vor dem Schluss unseres Projektes hatten wir dann das Glück, dass Katharina Lenski einsprang und die von Agnès aufgefundenen Akten mit ihrer großen archivalischen Erfahrung ergänzte und auf eine neue Weise zum Sprechen brachte. Katharina arbeitet bei uns an der Erweiterung einer innovativen und minutiösen Magisterarbeit über das Vorgehen der Stasi an unserer Hochschule in der Ära Honecker 30 zur Dissertation. Diese Arbeit hat sie für uns mit einem schnellen Werkvertrag unterbrochen und blieb dann, wie übrigens alle Mitarbeiter an diesem Projekt, weit über die bezahlte Zeit hinaus dafür tätig engagiert. Für diese Aufgabe brachte sie mindestens drei je für sich seltene und in dieser Kombination nachgerade einzigartige Voraussetzungen mit. Sie erfuhr die Zerrüttung der Nahbeziehungen durch diesen Stasi-Apparat in ihrer Jugend, als sie, eine Pfarrerstochter mit einem Einser Abitur, in Halle Medizin studieren wollte und – oh Wunder! – damit auch beginnen konnte. Weil ihr geistlicher Herr ohne ihr Wissen, aber ihretwillen sich darauf eingelassen hatte, sich von der Stasi abschöpfen zu lassen. Katharinas Temperament entsprach aber nicht der Disziplin von Teufelspakten und also wurde sie schon bald wegen Widerspruchs im ML-Unterricht und Verweigerung der Ausbildung an der Waffe aus der Hochschule relegiert, begann zu töpfern und verbrachte ein gutes Jahrzehnt diesseits und jenseits der sog. Wende in der alternativen Szene Mitteldeutschlands, lange Zeit in einer alternativ kunstgewerblich-intellektuellen Landkommune in Thüringen, wo sie ihren Sohn aufzog. Zusammen mit ihrem damaligen Partner und später allein mit wenigen engagierten Kollegen betreute sie dann die Sammlung eines der wenigen und sicher eines der bedeutendsten oppositionellen Gesellschaftsarchive Mitteleuropas, das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte »Matthias Domaschk« (ThürAZ) in Jena und trat mit einer ganzen Reihe sorgfältig recherchierter Veröffentlichungen, darunter zu Kultur-
30 Darüber hat sie in einem Aufsatz berichtet: Lenski, Katharina: Durchherrschter Raum? Staatssicherheit und Friedrich-Schiller-Universität. Strukturen, Handlungsfelder, Akteure. In: Hoßfeld, Uwe u. a. (Hg.): Hochschule im Sozialismus. Studien zur Friedrich-Schiller-Universität Jena (1945–1990), 2 Bde. Köln u. a. 2007, S. 526–572.
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konflikten im Bezirk Gera in der späten DDR hervor. 31 Die dritte Ressource, mit der sie – um mit Bourdieu zu sprechen – ihr kulturelles Kapital bereicherte, war ihr Impetus, im mittleren Lebensalter noch einmal nicht das zu studieren, was ihr verweigert worden war (Medizin), sondern dem auf den Grund zu gehen, was sie erfahren hatte – Geschichte. Obwohl die beiden ganz unterschiedliche Typen waren, verband sie das in unserer kleinen Gruppe mit Martin Morgner und ich gesteh's, ich war erbaut, ja stolz, dass solche Menschen, die mir etliches voraus hatten an Erfahrungsdichte und Standhaftigkeit und bereits Akteure in der Öffentlichkeit waren, gleichwohl glaubten, bei uns Historikern doch noch etwas über Geschichte lernen zu können. Aus Agnès‘ ergänzten und neu gelesenen Materialien entwickelte Katharina ein eindringliches Bild der Hauptamtlichen der Stasi am Beispiel der am ZOV »Bühne« beteiligten Offiziere in dieser in Sachen Sicherheit angeschärften Provinz. Wir nannten ihren Befund dann eine »herrschende Parallelgesellschaft«, abgeschottet von der normalen Intelligenz und Lebendigkeit dieser Gesellschaft in einer Wagenburg voll persönlicher Kompensationen für entwurzelte und in ihrem militärischen Geltungsdrang frustrierte Lebensgeschichten, umwölkt mit Tscheka-Folklore und pseudomilitärischem Brimborium, wohinter sich ein Alltag von familiären Seilschaften, Suff und Sucht nach projizierten Gegnern und der Inszenierung des Verrats im Klein-Klein verbarg. Sie hat diese Typologie in drei Kohorten gefasst, aber ich will hier nicht ihre Ergebnisse, die Anregungen für eine künftige, sozial- und kulturwissenschaftlich bewusstere Stasi-Forschung enthalten, vorwegnehmen. Ich will nur einen Befund aufgreifen, weil er allgemeinere Fragen an die Sozialkultur des »Realsozialismus« stellt: Außer unter den jüngsten MfS-Offizieren, die überwiegend aus der Dienstklasse stammten, aber in unserem Fall keine Rolle spielten, war die große Mehrheit der Stasi-Offiziere unmittelbar aus der Arbeiterschaft rekrutiert worden, d. h. sie stammten meist aus Arbeiterfamilien und hatten selbst zunächst einen Facharbeiterberuf erlernt. Was bedeutet das? Machte sie das zu Agenten des Proletariats oder waren sie durch steile soziale Mobilität und eine völlige Veränderung des Tätigkeitsfelds und der Herrschaftsposition, durch paramilitärische Disziplinierung und soziale Selbstsegregation gerade dem wirklichen Leben in der Mehrheitsgesellschaft und besonders in der Arbeiterschaft zunehmend entfremdet und bedurften ideologischer Kompensationen? Während mir fast alles für das Letztere zu sprechen scheint, dürfte für unseren Geraer Konflikt jedoch eine Erbschaft ihrer »arbeiterlichen« Herkunft eine besondere Bedeutung gewonnen haben, nämlich der in der 31 Lenski, Katharina u. a. (Hg.): So bestehet nun in der Freiheit, zu der uns Christus befreit hat … Die »andere« Geschichte. Erfurt 1993; ThürAZ (Hg.): Losgehen und Ankommen. Jugendkultur in der DDR Ende der 1970er Jahre am Beispiel der Jugendgroßveranstaltungen JUNE 78/JUNE 79 in Rudolstadt. Erfurt 1999; Lenski, Katharina u. a.: Zwischen Utopie und Resignation: Vom Bleiben und Gehen. Jugendkultur in den 1980er Jahren am Beispiel der Großveranstaltung »Jugend 86« in Rudolstadt. Jena 2003; Lenski, Katharina; Merker, Reiner: Zwischen Diktat und Diskurs. Oppositionelle Handlungsräume in Gera in den 1980er Jahren. Erfurt 2006.
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Arbeiterschaft (und erst recht in den Sicherheitsorganen) weit verbreitete Hass auf alles Spielerische und Anarchische, Unangepasste und Provokative, auf das Undisziplinierte und Postmaterielle 32 künstlerischer und intellektueller Alternativkulturen. Unschärferelation Zum Schluss dieses Berichts über unsere Untersuchungsgruppe und ihr Vorgehen möchte ich unseren Leserinnen und Lesern noch einen Rat geben: genießen Sie unseren Pluralismus! Dies ist ein Projekt, das ziemlich unterschiedliche Erfahrungen, Talente und Schreibstile zusammengebracht und sicher nicht gerade nahtlos verzahnt hat. Wenn Sie nun all Ihre Aufmerksamkeit darauf verschwendeten, die unterschiedlichen Herangehensweisen an Kultur und Stasi und überhaupt die differenten Wissenschaftsstile – sagen wir – von Matthias Braun und mir, die unterschiedlichen Bewertungen der SED-Kulturpolitik von Jeannette van Laak und Katharina Lenski oder den nachhaltigen Widerstand Martin Morgners gegen unseren Wunsch, er möge seine Individualisierung sozialisieren, aufzudecken, so hätten Sie viele offene Türen eingerannt. Sie sollen das ruhig bemerken und sich doch wundern, dass wir zusammengeblieben sind, weil wir eine gemeinsame Aufgabe sahen und in der arbeitsteiligen Rollenverteilung unserer jeweiligen Forschungen voneinander lernen konnten. Wir hatten kein Über-Ich, dem wir uns alle hätten fügen müssen und als Projektleiter wüsste ich auch nicht warum. Wir hatten einen gemeinsamen Focus auf einen Kulturkonflikt in der Provinz der späten DDR und wir haben Schneisen geschlagen, um aus unterschiedlichen Richtungen einen Zugriff auf ein ziemlich kafkaeskes Geschehen zu gewinnen. Wir haben dabei unterschiedliche Erkenntnisweisen benutzt, wohl wissend, dass die zuerst von Werner Heisenberg in der Quantenphysik formulierte »Unschärferelation« zu den wichtigsten epistemologischen Einsichten des 20. Jahrhunderts gehört. Sie legt nahe, dass es im strengen Sinne keine objektive Erkenntnis gibt, weil die Instrumente der Beobachtung und Messung das Gemessene verändern wie überhaupt die Art der Erkenntnisgewinnung immer mit der Erkenntnis verknüpft bleibt, sie einschränkt und spezifiziert. Wenn man aus unterschiedlichen Positionen mit differenten Instrumenten oder Quellen eine Sache beobachtet, so erhält man letztlich unterschiedliche Bilder. Diese Unterschiede sollten wir nicht vergessen, aber ebenso wenig, dass es sich nicht um völlig gegensätzliche Bilder handelt, sondern um eine Unschärferelation, die man bei genauerer Betrachtung verstehen und dadurch relativieren kann, auch wenn sich ihre Differenz nicht aufheben lässt.
32 Im Westen würde hier noch die Dimension des Luxurierenden hinzugehören, während im Osten der postmaterielle Trend der Alternativszenen eher in ihrer Genügsamkeit als Voraussetzung ihrer Undisziplinierbarkeit lag.
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3. Begriffliche Erwägungen oder Aus dem Wörterbuch einer Fallstudie Was ist das Ergebnis einer Fallstudie? Die Rekonstruktion eines Falls? Die Widerlegung einer herrschenden Lehre? Oder die Einlösung des Historiker-Traums von einer Histoire totale, in der alle Grenzen historischen Arbeitens und besonders die Tatsache, dass alle historischen Quellen nur Spuren und Fragmente vergangenen Geschehens sind, aufgehoben wären und der Erzähler wie ein Romancier des 19. Jahrhunderts mit naturalistischem Geltungsanspruch über die Geschichte bis in ihre intimsten Details verfügte? Oder die Reflexion darüber, welche methodischen Zugänge und begrifflichen Werkzeuge sich an diesem Fall bewährt haben und über welche anderen man neu nachdenken könnte oder sollte? Ich möchte hier dafür plädieren, dass sich eine Fall-Geschichte weder in der Geschichte ihres Falls erschöpft noch in der Falsifizierung entgegenstehender allgemeinerer Annahmen. Als historische sollte sie sich auch der Verführung zur fiktionalen Ergänzung im Stile vieler Doku-Filme des Fernsehens verweigern und stattdessen auf die diskursive Ebene zurückkehren, allerdings gesättigt von den Einsichten und Problemen des untersuchten Falls. Das soll hier im dritten Teil dieser Einleitung durch einige Erwägungen zur Geschichte und Treffsicherheit einschlägiger Leitbegriffe geschehen. Arbeiterliche und Zivilgesellschaft In den Jahren, als wir über die Herausforderungen des ZOV »Bühne« nachzudenken begannen, war der vergangenheitspolitische Diskurs über die DDR durch ein Buch von Wolfgang Engler über die Ostdeutschen belebt worden. 33 Neben vielen treffenden und anregenden Beobachtungen trug darin der Autor, ein zugleich weltoffener und am Prenzlauer Berg verwurzelter Stichwortgeber eines ostdeutschen Sonderbewusstseins, ein provokatives Sprachspiel vor. Er nannte nämlich die DDR eine »arbeiterliche Gesellschaft« und das war zunächst einmal ein Kontrast zu den Traditionen der Bürgerlichen Gesellschaft in Europa. Durch diese Unterscheidung konnte er in der Tat seine Beobachtungen zum egalitären Stil und nivellierten Erscheinungsbild der ostdeutschen und überhaupt der Gesellschaften sowjetischen Typs einordnen. Englers Begriffsschöpfung ist alsbald auf entschiedene Kritik aus den Reihen der ehemaligen Opposition der späten DDR getroffen, am markantesten vielleicht in einer Rezension von Konrad Weiß 34, der ihm illegitime Verallgemeinerungen, Beschönigung von Unrecht und Privilegienwirtschaft vorwarf sowie die Fortsetzung 33 Engler, Wolfgang: Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land. Berlin 1999, S. 173 ff. Der Verf., 1952 in Dresden geboren, lehrt als Soziologe an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« und ist seit 2005 deren Rektor. 34 Im SFB Radio Kultur vom 18.10.1999, http://www.bln.de/k.weiss/tx_ostd.htm. Weiß sah in Englers »Arbeiterlicher Gesellschaft« eine Neuauflage der impressionistischen Sicht von Günter Gaus auf die DDR als Nischengesellschaft kleiner Leute.
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des Selbstbilds der SED, wonach die Gesellschaft der DDR durch soziale Gleichheit, ökonomische Unabhängigkeit und existenzielle Sicherheit integriert worden sei. Ich würde den Stil von Englers soziologischen Erinnerungsskizzen eher protektiv als apologetisch bezeichnen, aber sein zunächst augenfälliger Leitbegriff »arbeiterliche Gesellschaft« scheint mir mindestens ebenso viel zu verbergen als er zu beleuchten erlaubt. Der Begriff wurde in der Zeitgeschichte z. B. von Andrew Port in seiner Saalfelder Case-Study zu Konflikt und Stabilität im Arbeitermilieu der »grumble society« aufgenommen und darauf hingewiesen, dass die arbeiterliche Gesellschaft vor allem in der frühen DDR zwar ihre eigenen Machtdemonstrationen und Verweigerungshaltungen entwickelte, die Zugeständnisse der Herrschenden erzwangen und dadurch dialektisch zu einer gewissen Stabilisierung des ungeliebten Systems beitrugen. 35 Er verweist aber zugleich auf die begrenzte Reichweite der arbeiterlichen Gesellschaft und ihrer Aktionsradien, sodass sich nachwachsende Generationen nach anderen Ausdrucks- und Konfliktformen umsehen mussten und sie schließlich eher im Rahmen der Zivilgesellschaft fanden. Jetzt hat der in Jena lehrende, aus der Kölner Schule stammende liberale Sozialwissenschaftler Heinrich Best die umfangreichen von ihm betriebenen und betreuten empirischen Studien zu den funktionalen Eliten der DDR anhand ihres rekonstruierten Kaderdatenspeichers in einem Essay 36 zusammengefasst und gegenüber dem nivellierten Erscheinungsbild einer »arbeiterlichen Gesellschaft« ein komplexeres Begriffs- und Messinstrumentarium für soziale Ungleichheit in Stellung gebracht, das vor allem ihre autoritären Machtstrukturen und deren Auswirkungen auf soziale Mobilität und Differenziale sowie auch die politischen Exklusionen aus Chancengleichheit und Teilhabe berücksichtigt. In einer solchen Analyse verfliege der Grauschleier der Gleichheit, denn sie bringe ein Ausmaß von sozialer Ungleichheit zur Anschauung, die sich durchaus mit demjenigen westlicher bürgerlicher Gesellschaften messen könne. Seit der Aufklärung – und mithin seit der Erfindung der Urmuster von Soziologie, bürgerlicher Gesellschaft und Revolution – hatte »Bürgerliche Gesellschaft« als Leitbegriff in der Tradition liberaler Demokratien zunehmend eine Doppelbedeutung angenommen: in der programmatischen Perspektive die der sich selbst regierenden Staatsbürgergesellschaft aller Citoyen und in der Kritik ihrer Praxis die einer von den vermögenden Bourgeois des Besitz- und Bildungsbürgertums durchherrsch-
35 Port, Andrew I.: Die rätselhafte Stabilität der DDR. Arbeit und Alltag im sozialistischen Deutschland (zuerst amerik. 2006). 2. Aufl., Berlin 2010, S. 347 ff. 36 Best, Heinrich u. a.: Die DDR-Gesellschaft als Ungleichheitsordnung. Soziale Differenzierung und illegitime Statuszuweisung (MS, 29 S. 2011). Es handelt sich um einen Essay-Entwurf im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 580 »Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch: Diskontinuität, Tradition, Strukturbildung« der Universitäten Halle und Jena für dessen Abschlussbericht.
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ten Klassengesellschaft. 37 Zwar hatte schon Marx den »Ouvrierismus« der frühsozialistischen französischen Genossenschaftsbewegung kritisiert, aber die marxistische Linke hatte in der Folge meist die Verfassungs- und Rechtsvorstellungen einer Staatsbürgergesellschaft als Illusion und ihre rechtsstaatliche Institutionalisierung von Gleichheit als Vernebelung der Klassenjustiz bürgerlicher Gesellschaften angegriffen. Dazu gab es zwar in der Weimarer Republik unter sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Juristen deutliche Gegengewichte auch in der Linken, aber die Bolschewiki konnten nach ihrem Putsch in Russland die Grundvorstellungen des internationalen Kommunismus prägen. Sie haben die in der Arbeiterbewegung verbreitete Kritik an der Klassenjustiz extremisiert und mit allen liberaldemokratischen Rechts- und Verfassungsvorstellungen der Moderne ebenso gebrochen wie zuvor schon mit der marxistischen Revolutionstheorie: Weder die bürgerliche Gesellschaft noch der liberale Rechtsstaat waren im Zarenreich praktische Wirklichkeit gewesen, sodass ihre eigene Durchsetzungsmacht den Bolschewiki Recht zu geben schien. Parallel zu den Vordenkern des Faschismus (»Identität von Herrschenden und Beherrschten«) preschten sie nun zu einer definitiv postbürgerlichen Identität von Demokratie und Diktatur (»Demokratischer Zentralismus«) vor, griffen im Strafrecht und beim Staatsschutz intuitiv auf feudale und vorbürgerliche Rechtspraktiken zurück und übernahmen vielfach Prozeduren aus der Militärjustiz und besonders aus der Inquisition. 38 Die seitherigen Fortschritte in der Rechtskultur – im Kern verfassungsrechtlich die Kontrolle des Gewaltmonopols des Staates und die Gewaltenteilung sowie im Strafrecht die Verankerung rechtsstaatlicher Prinzipien und Verfahren gegen autoritäre Oktrois und populistische Scherbengerichte – waren dem politisch religiösen Selbst- und Zukunftsvertrauen in der kleinen Herrschaftselite der Kommunisten (jedenfalls vor Stalins Großem Terror auch gegen sie selbst) fremd. Sie stellten vielmehr Staatsterror und Bürgerkrieg institutionell auf Dauer, und selbst wenn sie der Sowjetunion eine große Strafrechtskodifikation bescherten, haben sie in deren Zentrum als Freibrief für die Geheimpolizei Gummiparagrafen zur Verfolgung unspezifizierten politischen Verdachts eingesetzt. 39 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden dieses nur dem Anschein nach demokratie- und rechtsförmige Diktatursystem und die innere Feindverfolgung nach dem Vorbild 37 Die umfängliche Literatur zu allen Varianten bürgerlicher oder Zivilgesellschaft wird erschlossen und kenntnisreich diskutiert im Einleitungsaufsatz von Kocka, Jürgen: Zivilgesellschaft als historisches Problem und Versprechen. In: Hildermeier, Manfred u. a. (Hg.): Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West. Begriff, Geschichte, Chancen. Frankfurt/M., New York 2000, S. 13–39. 38 Siehe die diesbezüglichen Erwägungen von Karin Hartewig in der Einleitung zu Niethammer, Lutz (Hg.): Der »gesäuberte« Antifaschismus. Die SED und die roten Kapos von Buchenwald. Berlin 1994, S. 146–167, bes. 163 ff., die hier Anregungen von Riegel, Klaus-Georg: Konfessionsrituale im MarxismusLeninismus. Graz u. a. 1985 aufnimmt und mit zahlreichen Referenzen weiter ausarbeitet. 39 Es handelt sich dabei um den berüchtigten § 58 des Strafgesetzbuches der RSFSR von 1934, der auf einen Rohentwurf Lenins vom Mai 1922 über »Konterrevolutionäre Verbrechen« zurückgeht und erklärtermaßen dem Roten Terror eine institutionelle Form geben und ihn auf Dauer stellen sollte. Baberowski, Jörg: Der Rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus. München 2003.
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der Tscheka mit geringen Abweichungen auf alle Staaten im nunmehr gewaltig erweiterten sowjetischen Einflussbereich übertragen und machten zusammen mit der Parteiherrschaft, der weitgehenden Verstaatlichung der Ökonomie, der Planwirtschaft und der Erfassung der Gesellschaft durch Massenorganisationen den Kern der Regime sowjetischen Typs aus. Dagegen hatte die spätere dissidentische Opposition gegen das Sowjetsystem mit seinen weitgehend verstaatlichten Gesellschaften in Osteuropa einen alten Begriff neu erfunden: die civil society oder Zivilgesellschaft. Während frühere Formen antiund innerkommunistischer Opposition nationalen und demokratischen Leitbildern folgten oder einen »Dritten Weg« suchten, ist das Auftauchen und die Konjunktur des Leitbilds Zivilgesellschaft einerseits im Osten, wo nach dem Abwürgen des Prager Frühlings kaum noch Hoffnungen auf einen Dritten Weg oder überhaupt eine Reformierbarkeit des kommunistischen System bestanden, unverkennbar eine Folge des KSZE-Prozesses mit seiner systemübergreifenden Betonung von Menschen- und Bürgerrechten, unter deren Schirm die Dissidenten vorstaatliche Freiheitsräume einklagten und wie in der Solidarność-Bewegung in Polen auch machtvoll beanspruchten. 40 Dabei hatte der neue Leitbegriff »Zivilgesellschaft« in einigen Sprachen den taktischen Vorteil, anders als »Bürgerliche Gesellschaft«, nicht sogleich Rückgriff auf eine Tradition der bürgerlichen Epoche zu nehmen, während in anderen und gerade in der damals wichtigsten ein solcher Anklang gar nicht bestand, weil der Begriff im Polnischen von vornherein unmissverständlich vom »Staatsbürger« und nicht vom »Bourgeois« abgeleitet war. Die Resonanz der »Zivilgesellschaft als letzte Ideologie der Intelligenziya« (Klaus von Beyme) wurde andererseits dadurch gestärkt, dass in derselben Phase im Westen gegensätzliche neoliberale und kommunitaristische Ansätze sich ebenfalls auf diesen Begriff bezogen, teils um sozialstaatliche Tendenzen zu bekämpfen, teils um die Selbstorganisationskräfte multikultureller Gesellschaften zu entfalten. 41 Besser als die societé des citoyen oder gar die ebenso wirkmächtige wie missverständliche »Bürgerliche Gesellschaft« sollte der Rückgriff auf die civil society signalisieren, dass es sich um eine Gesellschaft ohne die Uniformierten und eigentlich überhaupt ohne den Staat handeln sollte. Das aktuelle Modell von Gesellschaft in den postsowjetischen Ländern war also nicht die zugegebenerweise missverständliche Bürgerliche Gesellschaft, sondern die Zivilgesellschaft der 40 Nach ersten Skizzen bei Timmer, Karsten: Vom Ausbruch zum Umbruch. Die Bürgerbewegung in der DDR 1989. Göttingen 2000, S. 43 ff. zu Havel, Konrad und Michnik u. 63 ff. zur »Civil Society in den Farben der DDR« jetzt für das wichtigste Land eingehend Arndt, Agnes: Intellektuelle in der Opposition. Diskurse zur Zivilgesellschaft in der Volksrepublik Polen. Frankfurt/M., New York 2007. Der Zusammenhang zwischen Neuer Ostpolitik und dem Aufbruch in Polen wird jetzt anhand von Interviews mit politischen Akteuren differenziert herausgearbeitet von Hofmann, Gunter: Polen und Deutsche: Der Weg zur europäischen Revolution 1989/90. Berlin 2011. 41 Siehe vom Beyme, Klaus: Zivilgesellschaft – Karriere und Leistung eines Modebegriffs sowie Hann, Chris: Zivilgesellschaft oder Citizenship? Skeptische Überlegungen eines Ethnologen. In: Hildermeier u. a.: Europäische Zivilgesellschaft (Anm. 37), S. 41–55 bzw. 85–109.
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Citoyens, die sich aus der Verstaatlichung der Gesellschaft befreien und jene Freiheitsrechte für sich in Anspruch nehmen wollten, die von den bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts eingefordert worden waren. Wenn seit den 1990er Jahren Zivilgesellschaft zu einem Codewort einerseits gegen den Sozialstaat, andererseits für eine säkulare Politik multikultureller Anerkennung geworden ist, sollte man sich daran erinnern: In der Phase seiner größten Geschichtsmächtigkeit legitimierte dieser Kampfbegriff die Autonomie einer freien Gewerkschaftsbewegung, einer kulturell beherrschenden Kirche und der politischen und intellektuellen Freiheit der Öffentlichkeit gegen die kommunistische Verstaatlichung der Gesellschaft und die Verhängung des Kriegsrechts. Sein Gegenteil war nicht eine arbeiterliche Gesellschaft, sondern der Untertan. Die spätere Entdeckung einer »arbeiterlichen Gesellschaft« betonte einen aparten Gegensatz zur traditionellen bürgerlichen Gesellschaft und konnte dabei die wahre aktuelle Herausforderung der Zivilgesellschaft und ihrer rechtlichen Sicherung verschwinden lassen. Dissidenz und Opposition 42 Um die Begriffe, wie das abweichende Verhalten von DDR-Bürgern zu bezeichnen sei, wird in der Wissenschaft seit nunmehr 20 Jahren gerungen. Man spricht von »Widerstand«, »Opposition«, von »Resistenz«, »Eigensinn« oder »Dissidenz«. 43 Gemeinsam ist all diesen Begriffen ihre politische Implikation, die auf Abgrenzung zum politischen System der DDR abhebt und zunächst noch wenig Zukunft erkennen lässt. Dabei wird meist auf Ergebnisse der Forschung zu Widerstand und Resistenz gegen den Nationalsozialismus 44 oder auf politikwissenschaftliche Studien zum Begriff der Opposition Bezug genommen. 45 Dabei wird hervorgehoben, dass sich 42 Dieser Abschnitt wurde in Zusammenarbeit mit Jeannette van Laak formuliert. 43 Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR, 1949–1989. Bonn 1997; Ders.; Auerbach, Thomas: Es kann anders werden: Opposition und Widerstand in Thüringen 1945–1989. Köln u. a. 2005; Henke, Klaus-Dietmar: Opposition und Widerstand in der DDR. Köln u. a. 1999; Veen, HansJoachim u. a. (Hg.): Lexikon Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur. Berlin 2000; Gieseke, Jens: Der Mielke-Konzern. Die Geschichte der Stasi 1945–1990. Stuttgart, München 2001; Kowalczuk, IlkoSascha: Von der Freiheit, Ich zu sagen. Widerständiges Verhalten in der DDR. In: Poppe, Ulrike u. a. (Hg.): Zwischen Anpassung und Selbstbehauptung, Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR. Berlin 1995, S. 85–115, hier 97; Jarausch, Konrad: Die Umkehr, Deutsche Wandlungen 1945–1995. München 2004, S. 257; Lüdtke, Alf (Hg.): Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien. Göttingen 1999; Lindenberger, Thomas (Hg.): Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR. Köln u. a. 1999. 44 Klieber, Rupert: »Widerstand«, »Resistenz« oder »widerwillige Loyalität«. Das Ringen der katholischen Ordinariate um die religiösen Vereine und Vereinigungen der »Ostmark« (1938–1941). Frankfurt/M. 1998; Ueberschär, Gerd R. (Hg.): Der deutsche Widerstand gegen Hitler. Wahrnehmung und Wertung in Europa und den USA. Darmstadt 2002. 45 Vgl. hierzu zusammenfassend van Laak, Jeannette: Orte des Verrates. Zur Nutzung konspirativer Wohnungen bei der Überwachung Andersdenkender durch das MfS Erfurt in den 1980er Jahren. In: Best, Heinrich u. a. (Hg.): Geheime Trefforte des MfS in Erfurt. Erfurt 2006, S. 52–106, hier 59 ff.
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Opposition nicht in der individuellen Resistenz gegenüber den Anforderungen des herrschenden Regimes erschöpfe; vielmehr verständigten sich Oppositionelle über ihre politische Stoßrichtung gegen das Regime und öfter auch über ein Alternativprogramm. Dieser Prozess wirke integrierend auf die Mitglieder der Opposition zurück und gebe ihrer Positionierung gegenüber den Machthabern gemeinsamen Rückhalt und Perspektive. Solch klare Frontstellungen sind jedoch für die Geschichte der DDR kaum tragfähig, weil es für die längste Zeit ihrer Existenz nur in Ansätzen zu solchen Verständigungsprozessen und Zusammenschlüssen kam, die immer wieder unterbrochen wurden. Erst in ihrer Endphase kam es zur formellen Ausbildung von Oppositionsgruppen und ihrem lockeren Zusammenschluss im Neuen Forum. Der Oppositionsbegriff verstellt den Blick auf die Vielfältigkeit, wie Menschen in der DDR das geforderte konforme Verhalten aufkündigten und sich anders verhielten. Die Zahl derer, die aus politischen Grundpositionen heraus den Konflikt mit den Mächtigen in der DDR wagten, hatte seit dem Mauer-Bau abgenommen. Nach der Biermann-Ausbürgerung 1976 schien es erst einmal vollends »still« zu werden, zumal zahlreiche Künstler und Intellektuelle ihm folgten. Erst allmählich wuchs danach die Zahl derer, die sich den zugemuteten Anpassungsleistungen in der Organisationsgesellschaft (Detlef Pollack) und dem damit verbundenen Konformitätsdruck zu entziehen begannen. Dabei ging es ihnen weniger um unmittelbar politische Fragen, als vielmehr um Spielräume der Individualität und um solche gesellschaftlichen Liberalisierungstendenzen, wie sie sich in den 1960er und 1970er Jahren auch in der Bundesrepublik und anderen westeuropäische Ländern durchsetzten und in vielen östlichen Nachbarländern von den Dissidenten beansprucht wurden. 46 Spätestens ab 1988 bezeichneten sich diejenigen, die sich »abweichend« oder eben nicht konform zum politischen und gesellschaftlichen System verhielten, als »Andersdenkende«. Dies war zwar nicht frei von politischen Implikationen, doch mit dem Rückgriff auf ein klassisches Rosa-Luxemburg-Zitat 47 signalisierten sie den SEDMächtigen ihre Selbstverortung in der DDR und ihren Traditionen. Ihr AndersDenken und Anders-Handeln richtete sich gegen die von den Herrschenden zugemuteten Verhaltensanpassungen und sinnlosen oder verlogenen Zustimmungsrituale. Mit dieser Selbst-Bezeichnung als Andersdenkende bewegten sie sich oft noch in
46 Herbert, Ulrich: Liberalisierung als Lernprozess. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte. Eine Skizze. In: Ders. (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastungen, Integration, Liberalisierung, 1945–1980. 2. Aufl., Göttingen 2003, S. 7–49, hier 46; Pollack, Detlef; Wielgohs, Jan (ed.): Dissent and Opposition in Communist Eastern Europe. Origins of Civil Society and Democra-tic Transition. Aldershot UK/Burlington, Vt. 2004. 47 Dissidenten zitierten mit Vorliebe die Einsicht der jüdisch-polnischen Mitgründerin des deutschen Kommunismus »Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden«.
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den Traditionslinien eines »Dritten Weges«, womit sie sich freilich zwischen alle Stühle setzten. 48 Im Folgenden soll nun gefragt werden, ob dieses »Andersdenken« und »Andershandeln« in die europäische Diskussion um Dissidenz eingebettet werden kann, die in den 1970er und 1980er Jahren auch in Westeuropa bekannt war und in diesen knapp 20 Jahren einen Boom erlebte. 49 Dieser Begriff wurde verwendet, um das Agieren und Verhalten von Zeitgenossen zu beschreiben, die die Begrenztheit ihrer politischen und gesellschaftlichen Systeme wahrnahmen und öffentlich infrage stellten. 50 Als Dissidenten galten im Westen etwa Rudi Dutschke oder Noam Chomsky; sehr viel weiter verbreitet war der Begriff aber für prominente Dissidenten im Osten wie Andrej Sacharow, Alexander Solschenizyn, Adam Michnik oder Václav Havel 51 sowie in der DDR für Robert Havemann oder Rudolf Bahro, die ungeachtet des persönlichen Risikos auf Missstände und Probleme in den sowjetisch dominierten Ländern aufmerksam machten, Öffentlichkeit suchten und Grundrechte einklagten. In der Folge solcher Auseinandersetzungen emigrierten viele Dissidenten oder wurden unter Kuratel gestellt, oder das politische System reagierte in einem längerfristigen Liberalisierungsprozess flexibel auf diese Form von Kritik. Hier bewiesen vor allem westeuropäische Demokratien ihre Konfliktfähigkeit. 52 Während Dissidenten im Westen als »Außenseiter« oder als »Abweichler« bezeichnet wurden, disqualifizierten sie die Machthaber in den osteuropäischen Staaten als »Querulanten«. 53 Die westlichen Medien hingegen bezeichneten sie als »Dissidenten« oder als »Systemkritiker« 54. Die Vielzahl der Begriffe verweist bereits auf 48 Lee, Dong-Ki: Option oder Illusion? Die Idee einer nationalen Konföderation im geteilten Deutschland 1949–1989. Berlin 2010 hat u. a. gezeigt, dass Projekte des Dritten Weges zwar nur in kleinen Gruppierungen, aber weit über ihre bisher wahrgenommene Konjunktur in den 1960er Jahren verfolgt und neu ausgestaltet wurden. 49 Siehe z. B. Buchfeld, Ingrid u. a.: Anpassung und Dissidenz. Hg. v. d. Frankfurter Frauenschule, Königsstein 1997, S. 9–34; Mielczarek, Zygmunt (Hg.): Flucht und Dissidenz. Außenseiter und Neurotiker in der Deutschschweizer Literatur. Frankfurt/M. 1999, S. 7–9. Andere verwenden zwar den Begriff der Dissidenz, definieren ihn aber nicht wie Haarmann, Lutz: »Die deutsche Einheit kommt bestimmt!« Zum Spannungsverhältnis von Deutscher Frage, Geschichtspolitik und westdeutscher Dissidenz in den 1980er Jahren. Berlin 2005, S. 7 ff. bzw. 59–86 oder erweitern ihn zu einer allgemeinen Kategorie des Liberalen wie Ackermann, Ulrike: Kreative Dissidenz, perlentaucher.de, Essay v. 10.12.2009. Für die rückblickende Analyse am anregendsten der psychoanalytische Zugang bei Schneider, Christian; Simon, Annette u. a. (Hg.): Identität und Macht. Das Ende der Dissidenz. Gießen 2002. Historisch-politisch differenzierend Lutz, Annabelle: Dissidenten und Bürgerbewegung. Ein Vergleich zwischen DDR und Tschechoslowakei. Frankfurt/M., New York 1999. 50 Veen, Hans-Joachim: Einführung. In: Ders. u. a. (Hg.): Wechselwirkungen Ost-West. Dissidenz, Opposition und Zivilgesellschaft 1975–1989. Köln u. a. 2007, S. 7–16, hier 12. 51 Havel, Václav: Versuch, in der Wahrheit zu leben. Reinbek 1980, S. 50; Beyrau, Dietrich: Intelligenz und Dissenz. Die russischen Bildungsschichten in der Sowjetunion 1917–1985. Göttingen 1993. 52 Schneider; Simon: Identität (Anm. 49). 53 Veen: Wechselwirkungen (Anm. 50), S. 13. 54 Vgl. hierzu Jarausch: Umkehr (Anm. 43), S. 262 f. Wobei Jarausch keine Begriffsklärungen vornimmt, sondern die Zuschreibungen so verwendet, wie sie in der bisherigen Literatur vorliegen und dem Selbstverständnis einiger »Andersdenkender« entsprachen.
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das »politische Ungefähr« 55 und noch in den frühen 1990er Jahren umschrieb Christoph Kleßmann dissidentisches Verhalten ganz allgemein als »ein schwer fassbares Phänomen der Verweigerung«. 56 Psychoanalytiker um Christian Schneider und Annette Simon haben nun herausgearbeitet, dass sich dissidentisches Verhalten dann ausbreitet, wenn die Gesellschaft in ihren politischen und gesellschaftlichen Strukturen erstarrt und von ihren Mitgliedern vorwiegend ein konformes Eingliedern abgefordert wird und ihnen autonome Spielräume zur freien Entfaltung, Gruppenbildung und Mitwirkung verweigert werden. 57 Erstarrte und starre Regime produzieren geradezu Dissidenz und dissidentisches Verhalten und zwar als existenzielle Verweigerung und Reaktion auf zugemutete Normen und Vereinnahmungsversuche. Deshalb klingt in dem Begriff, wie wir ihn hier verwenden, zwar die historische Selbstbezeichnung der intellektuellen »Dissidenten« nach, wir wollen ihn aber in einer viel breiteren Bedeutung als analytischen Begriff verwenden, der eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für Opposition bezeichnet und jenseits der Verweigerung gegenüber dem System viele existenzielle Ressourcen und soziale Perspektiven umfassen kann. In dieser Begriffsfassung, die übrigens ähnlich doppelt kodiert ist wie der Widerhall der Résistance im Begriff der »Resistenz« gegen den Nationalsozialismus, kann Dissidenz die Vielfältigkeit der »Andersdenkenden« und »Andershandelnden« in der DDR erfassen, die mit ihrem Verhalten und Handeln darauf aufmerksam machten, dass sich die Ansprüche des erstarrten Systems kaum mehr mit ihrer individuellen Lebensdynamik vereinbaren ließen. Ein solcher zugleich systemischer und existenzialistischer Begriff von Dissidenz hat darüber hinaus den Vorteil, dass man mit ihm sowohl die blitzartigen Resonanzen von beispielhaften Tabubrüchen etwa von Künstlern in der Öffentlichkeit als auch das für viele Künstler nach der DDR so schwer zu verarbeitende Verschwinden solcher Resonanzen mit dem System verstehen kann. Dissidenz auf einer ersten Ebene als zunächst einmal nonkonformes Verhalten zu bezeichnen, würde an die Beobachtung anschließen, wonach sich auch und gerade etliche westliche Dissidenten zunehmend als apolitisch verstanden, 58 was erst recht für viele Andersdenkende in der DDR zutraf; hier aber war ihre Subjektivität nicht entscheidend, vielmehr wurde ihr Andersdenken ein objektiv politischer Faktor in der Delegitimierung des Systems. Damit würden jene Interpretationen abgeschwächt, die das abweichende Verhalten von DDR-Bürgern in ähnlicher Weise politisieren wie dies einst die Staatssicherheit betrieben hat. 59 Darüber hinaus wird 55 Diese Oppositionsbegriffe erstreckten sich von dem der Inneren Emigration während der NS-Zeit über eine existentialistische Kulturkritik bis hin tatsächlichen revolutionären Kämpfern. Schneider; Simon: Identität (Anm. 49), S. 11 f. 56 Kleßmann, Christoph: Opposition und Dissidenz in der Geschichte der DDR. In: APUZ (1991)51, S. 52–62, hier 52 f. 57 Vgl. Schneider; Simon: Identität (Anm. 49), S. 30 f. 58 Ebenda, S. 31. 59 Vgl. etwa Veen: Wechselwirkungen (Anm. 50), S. 14 f.
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auch verständlich, dass die Differenz zwischen Leben und System in den 1980er Jahren in einer Weise zugenommen hatte, dass auch die versuchte Öffnung der Strukturen, etwa durch die Einführung von Reisefreiheit oder Meinungsvielfalt, im Herbst 1989 den Untergang des Systems nicht mehr aufzuhalten vermochte. Generation, Geschlecht und Milieu Das Kürzel DDR wurde vielfach wie ein besitzanzeigendes Fürwort benutzt und Berufsbezeichnungen, Gruppennamen oder Einrichtungen vorangestellt, als seien sie alle Eigentum dieses Staates und als sei dies das Wichtigste an ihnen. Dieser Sprachgebrauch gehörte zu dem wenigen, was die Deutschen in der Teilung einte 60 und hatte zunächst seinen Grund im sonderstaatlichen Minderheitencharakter der DDR, deren Herrschaft nicht das Allgemeine – die deutsche Herkunft – sondern das Besondere dieses Staates betonte und zu einem neuen Allgemeinen machte. Demgegenüber musste das, was den Menschen sonst in der Regel erst einmal wichtig ist, ihr Geschlecht, ihr Alter, ihr Beruf, Milieu oder ihre Heimat zurückstehen und wurde von diesem linguistischen Signal der Zweitrangigkeit in einer zunehmend verstaatlichten Gesellschaft markiert. Natürlich wurde das Leben der Menschen in der DDR trotzdem zunächst einmal durch ihr Geschlecht, ihr Alter, ihr Milieu und ihre Arbeit bestimmt und doch ist dieses quasi besitzanzeigende Fürwort DDR, wodurch das Bestimmende der staatlichen Differenz allen anderen sozialen und anthropologischen Differenzierungen vorgeordnet wird, keine bloße Ideologie, weil die weit in die Gesellschaft vorgeschobene Organisationsmacht des parteistaatlichen Regimes durch nachhaltige Regulierungen z. B. bei den Einrichtungen zur Kinderversorgung ebenso wie durch chronische Mangelerscheinungen oder Freiheitsbeschränkungen tatsächlich die Lebensverhältnisse eindringlich prägte. In beispielhafter Zuspitzung könnte man sagen, dass die Geschlechterdifferenz eine abhängige Variable der staatlichen Differenz wurde. Das könnte erklären, warum der allergrößte Teil der Erforschung der DDR ihrem Regime und nicht ihrer Gesellschaft 61 gewidmet wurde, und dies – entgegen allen Trends in der neueren Geschichtswissenschaft – auch teilweise rechtfertigen. 60 Allerdings nur in Bezug auf die DDR. Der Sprachgebrauch war als gemeinsamer nicht umkehrbar. Wenn jemand z. B. einen Hamburger Schauspieler einen BRD-Künstler nannte, wusste man sofort, dass der Sprechende aus dem Osten kam. Zwar war die Bundesrepublik auch ein Separatstaat, aber umfasste Dreiviertel des deutschen Erbes und konnte sich deshalb erlauben, sich als Quasi-Nationalstaat mit seiner Lässigkeit gegenüber den Besonderheiten seiner Einwohner und der Selbstverständlichkeit ihrer staatlichen Zugehörigkeit zu gebärden. 61 Wir wollen nicht versäumen, einige der Standard-Referenzen unserer methodologischen Freunde aufzurufen, die ja oft wichtiger für unser Denken als viele Einzelverweise sind: Bessel, Richard; Jessen, Ralph (Hg.): Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR. Göttingen 1996; Lüdtke, Alf; Becker, Peter (Hg.): Akten, Eingaben, Schaufenster. Die DDR und ihre Texte. Erkundungen zu Herrschaft und Alltag. Berlin 1997; Lindenberger (Hg.): Herrschaft und Eigen-Sinn (Anm. 43); Wierling, Dorothee: Geboren im Jahr Eins. Der Jahrgang 1949 in der DDR, Versuch einer Kollektivbiographie. Berlin 2002.
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Aber eben nur teilweise. Ich habe den Eindruck, dass die Forschung mit diesem konservativen (oder vom Kommunismus enttäuschten) Historikern ohnehin eingefleischten Blick nach oben allzu häufig den kompensatorischen Ideologisierungen regimeverbundener Akteure und der Redundanz ihrer Quellenproduktivität aufgesessen ist. Natürlich konnte sich auch totalitäre Herrschaft, oder was davon unter den Bedingungen eines dependenten Regimes, des Helsinki-Prozesses und in den Mühen der Ebenen übriggeblieben war, nur teilweise durchsetzen und produzierte immer mehr kontraproduktive Reaktionen in der (unausrottbaren) Gesellschaft, also das, was wir hier vorschlagen, Dissidenz zu nennen. Der sozialanthropologische Blick nach unten – oder sollte man besser von Umsicht sprechen? – ist aber nicht nur auf den zum Teil provokanten, oft witzig verschlüsselten Eigensinn der Dissidenz zu richten, weil er sonst in einer Ethnologie der Unangepasstheit steckenbliebe, die man ähnlich (und doch durch die elastischere Herrschaftsform auch anders) in den Neuen Sozialen Bewegungen im Westens erkennen kann. Vielmehr sollte dieser Blick in mindestens zwei weitere Richtungen gerichtet werden. Erstens auf die Milieus im Unterbau der Herrschaft und zweitens in deren Interaktion untereinander und mit der dissidentischen Szene. Dabei bewähren sich in der Regel die Fragen nach der Generation, dem Geschlecht und der Klasse, spezifiziert nach dem sozialen und regionalen Milieu. 62 Dem möchte ich nun noch die Frage nach den Anforderungen und Disziplinen der jeweiligen Herrschaftsdomäne hinzufügen. Wir haben in unserem provinziellen Szenario erhebliche Unterschiede zwischen den Apparatlogiken und den soziokulturellen Handlungsressourcen der Stasi und der SED entdeckt. Grob gesprochen wollten zu dieser Zeit Anfang der 1980er Jahre viele SED-Kulturfunktionäre auf allen Ebenen sich für neue Trends in der Jugendkultur öffnen und sie integrieren, während die StasiOffiziere (zumindest im polarisierten Klima dieser Region) in der Autonomie der jugendlichen Alternativkultur eine der vielen Variationen des Gegners sahen und entschlossen diesen Integrations- und Öffnungskurs der Partei bekämpften. Die entscheidende Frage ist, warum sich die provinzielle Stasi zwar letztlich nicht durchsetzen, aber doch die kulturelle Alternativszene frustrieren, wenn nicht völlig zersetzen und damit die halbherzige kulturelle Öffnungs- und Integrationspolitik der SED an die Wand fahren und völlig unglaubwürdig machen konnte. Soviel in diesen begriffsgeschichtlichen Abbreviaturen zu Regionalität und Interaktion. Verbleibt ein kurzer Kommentar zu den anthropologischen Grundkategorien des Geschlechts und der Generationalität. Geschlecht scheint zunächst angesichts der frustrierten militärischen Aspirationen unserer durchweg männlichen Stasi-Akteure und ihrer prekären Kompensationen in einer quasi-militärischen 62 Diese Dimensionen bestimmten das Innovationspotenzial unserer Oral History-Befragungen in der späten DDR. Niethammer: Volkseigene Erfahrung (Anm. 17); siehe auch meinen Entwurf »Erfahrungen und Strukturen. Prolegomena zu einer Geschichte der Gesellschaft der DDR«. In: Kaelble, Hartmut u. a. (Hg.): Sozialgeschichte der DDR. Stuttgart 1994, S. 95–115.
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Kommandohierarchie und einem hoch verregelten, aber durch seine Gummiparagrafen zu Allmachtsphantasien gegen jedwede soziale Gegner herausfordernden Dienst eine klare Karte. Aber das greift zu kurz. So wie alle Stasi-Akteure in diesem ZOV Männer sind, so sind es auch alle darin Observierten aus der alternativen Kulturszene. 63 Der wichtigste Kontrast erscheint nicht so sehr die Einstellung zur Politik oder spezieller zur SED, deren Mitglied jeder MfS-Offizier, aber auch der eine oder andere unter den Observierten ist; vielmehr geht es im Modus des Militärischen um polarisierte Lebensstile und -entwürfe: So wie die Bürgerkriegsbürokraten sich einem paramilitärischen Corpsgeist und Mummenschanz hingeben und ihre Unbildung mit viel politischem Elite-Geschwafel kompensieren, so steht das Militär und die Übergriffe der Militarisierung auf das zivile Leben unter den »jungen Wilden« für das, was sie ablehnten, was sie als Bausoldaten zu umgehen versuchten und doch erst recht erfahren mussten oder was sie in langen Militärzeiten mit Schrecken am eigenen Leib erlebten. 64 In der egalitären, spontanen und undisziplinierten Szene der Alternativkultur spielen Frauen eine große Rolle und die Geschlechterbeziehungen erscheinen hier als das genaue Gegenbild zu der bei den MfS-Angehörigen vom Dienst auf die Familien und das Privatleben ausgreifenden extremen Kontrolle. Im Zwischenbereich der kulturellen Institutionen und der SED-Kulturpolitik vor Ort wirken Männer und Frauen auf ähnlicher Ebene zusammen, wobei Frauen häufiger auch führende Rollen übernehmen. Aber die Vermittlungsversuche dieser Partei, eine in der Zentrale fast total männlich und gerontokratisch beherrschte, aber vor Ort und besonders im kulturellen Erscheinungsbild eher geschlechtlich ausgewogene Agency, scheitern in diesem Kampf zwischen den aggressionsgeladenen Spießern in der MfS-Bezirksverwaltung und ihren Herausforderern aus der lokalen Alternativkultur. Weder können sie die Stasi bremsen, noch die Dissidenz gewinnen. In der Frage der Generationalität 65 haben wir grob gesprochen folgenden Befund. Die alternativen Akteure sind meist ungeratene Kinder der DDR, die viele Bil63 Das soll hier natürlich nicht verallgemeinert werden: Zwar waren Frauen sowohl im MfS als auch unter den Repressierten selten, aber bekannte Fälle wie Freya Klier oder Vera Lengsfeld, um nur zwei der bekannten Namen zu nennen, belegen die selbstständige und zuweilen führende Rolle von Frauen in der Dissidenz und Opposition. In Gera galt dies z. B. für die Dramaturgin am Stadttheater Gabriele Damm, deren OPK »Medea« noch im Winter 1989/90 weiterbearbeitet wurde. Allerdings kommt Martin Morgner in seiner Kriminologie relegierter Studenten in der Ära Honecker (Studenten, vgl. Anm. 3) ebenfalls zu dem Ergebnis, dass politische Opposition im engeren Sinne unter Studenten erstens sehr selten und zweitens ganz überwiegend ein männliches Verhalten war. Relegationen wegen einem Verhalten, das allgemein dem Typ Dissidenz zugeordnet werden kann, betrafen zwar auch mehrheitlich männliche Studierende, aber hier waren weibliche Studierende in einigen Deliktgruppen bis zu einem Drittel betroffen. 64 Siehe dazu Tellkamp, Uwe: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Frankfurt/M. 2008. 65 Die Frage der Generationalität (siehe dazu Reulecke, Jürgen (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert. München 2003) ist für die DDR ausführlich erörtert in dem Sammelwerk Schüle, Annegret; Ahbe, Thomas; Gries, Rainer (Hg.): Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur. Leipzig 2006. Darin wird in mehreren Beiträgen der von Karl Mannheim geprägte Begriff
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dungschancen des Arbeiter-und-Bauern-Staats wahrgenommen, aber sich ganz anders entwickelt haben, nach Ausdrucksmöglichkeiten für ihren kulturellen Schub suchen und zum Teil im Zuge der neuen kulturellen Integrationspolitik der SED auch finden. Die SED-Kulturfunktionäre, die diesen Weg befördern, aber vor einem Konflikt mit den regionalen Tschekisten zurückschrecken, sind im Durchschnitt etwas älter und noch immer auf den Generationendeal zwischen den alten Genossen und der HJ/FDJ-Generation fixiert, in dem ihnen zwar lokale Spielräume eröffnet wurden, die sich im Konfliktfall aber schließen, zum Teil durch vorauseilenden Gehorsam. Unter den regionalen Stasi-Akteuren korrespondiert in der Regel das Dienstalter mit der Kommandostufe, und das heißt auch, dass die am wenigsten Gebildeten das Sagen haben und die institutionelle Disziplin ebenso wie die Bestimmung der gesellschaftlichen Gefahrenherde beherrschen. 66 Parallelgesellschaften im späten Staatssozialismus? Der Begriff Parallelgesellschaft wurde nach 1990 von dem Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer erfunden, um im Rahmen der Migrations- und Minderheitenforschung die in den Zielländern der Migration sich ausformenden Herkunftskulturen, die sich der Anpassung an das neue gesellschaftliche Umfeld verweigern oder sie nicht vermögen, hinsichtlich der Strukturen und Logiken ihrer soziokulturellen Reproduktion zu erforschen. In aller Regel handelt es sich dabei um Phänomene der Verarbeitung soziokultureller Ausgrenzung und Diskriminierung durch Rückbezug auf andere als in der Mehrheitsgesellschaft gültige Normen und soziale Einrichtungen oder deren Neuerfindung. Seit 9/11 und dem Attentat auf den islamkritischen Filmemacher Theo van Gogh in Holland 2004 ist die ursprünglich eher hypothetische Begriffsbildung in die Medien gekommen und zu einer wissenschaftsförmigen Keule im Kampf gegen die türkischen Minderheiten in Mittel- und Westeuropa geworden. Entsprechend scharf haben dann Anwälte des Multikulturalismus zurückgeschlagen und die Modernität und Anpassungsbereitschaft der türkischen Einwanderer betont.
der Generation als politische Deutungselite nach Umbruchzeiten, den ich in diesem Band rekonstruiert habe, erweitert auf häufiger wechselnde Lebensstil-Kohorten. Das ist durchaus eine Bereicherung. Am Ende der DDR zeigte sich aber erneut, dass diese Lebensstilkohorten vergleichsweise zweitrangig waren gegenüber einer sich in der jüngeren Generation ausbreitenden Dissidenz und dass dabei alles zur jüngeren Generation zählen konnte, was die Pubertät hinter und die Rente noch vor sich hatte – so viel Jugend war nie. Die Masse der Ausreisenden aus der Prager deutschen Botschaft in die BRD waren davon eine Avantgarde meist in ihrem dritten Lebensjahrzehnt. 66 Die jüngste Kohorte von MfS-Hauptamtlichen, die in unserer Fallstudie nicht vorkommt, wäre ein interessantes Studienobjekt, da sie öfter aus Familien der Dienstklasse rekrutiert wurde und durch vermehrte Disziplinkonflikte auffällt. Während sich insofern in den Voraussetzungen gewisse Gemeinsamkeiten mit Angehörigen der jugendlichen Alternativszene abzeichnen, fügt sich der gewählte Lebensplan und -stil dem Modell polarisierter Generationseinheiten in Karl Mannheims Begriff der Generation.
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Dennoch scheint mir der Begriff mehr analytisches Potenzial zu haben, besonders wenn er von der Fixierung auf muslimischen Unterschichtkulturen in Deutschland oder überhaupt auf aktuelle Migrationsdiskussionen abgelöst wird. Seinen wahren Reiz entwickelt dieser Begriffsvorschlag erst, wenn er etwas abstrakter gefasst wird, um Phänomene der (Selbst-)Segregation vergleichend in den Blick zu nehmen. Dann kann man fragen, wie es um Gesellschaften europäischen Typs steht, wenn sich in ihnen effektiv Teilgesellschaften mit eigenem Normsystem und besonderen Herrschafts- und Fürsorgestrukturen zu etablieren vermögen, die nicht nur – wie alle Ausdrucksformen und Netzwerke soziokultureller Differenz – von den Gebräuchen der Mehrheitsgesellschaft abweichen, sondern auch das staatlich gesetzte Recht negieren, verletzen oder unterlaufen, teilweise unter Rekurs auf andere Normsysteme. 67 So gefasst lädt dies dazu ein, die allgemein unter dem Begriff Mafia ursprünglich in Italien, aber dann auch in den USA, später der Ex-Sowjetunion und dann weltweit diskutierten Probleme als herrschaftliche Form einer Parallelgesellschaft in den Blick zu nehmen und den Missbrauch dieses Begriffs zur pauschalen Agitation gegen Fremde und insbesondere Andersgläubige zu bekämpfen. Soweit ich sehe, ist dieser Begriff bisher nicht auf die Zersetzungsphänomene der späten Gesellschaften sowjetischen Typs angewandt worden. Ob die Versuche zu einer Selbstorganisation dissidentischer Netzwerke und alternativer Szenen einer solchen begrifflichen Fassung entsprechen, ist eine offene Frage, schon weil sie das ganze Problem der Legitimität der Rechtssetzung der staatssozialistischen Regime impliziert. Dissidenten aller Art hielten erhebliche Teile der bei ihnen herrschenden Vorschriften für illegitim und als bloße Erzwingungsordnung für sie nicht bindend und bezogen sich bei ihrer Umgehung oder ihrem Bruch auf Menschenrechte und Zivilisationsstandards. Insofern genügen sie dem hier skizzierten Begriff einer Parallelgesellschaft, als sie über den Anspruch auf kulturelle Autonomie und Differenz hinaus ein Eigenrecht gegen das gesetzte oder praktizierte (Un-)Recht des Staates beanspruchten. Schon eine solche Zuordnung lässt erkennen, dass die (Selbst-) Segregation in Parallelgesellschaften weder von vornherein etwas Schlechtes noch etwas Gutes ist. Vielmehr hängt ihre Qualität von der Qualität der umgebenden Herrschaftsordnung, ihren Normen und effektiven Praktiken ab. In schlechten Regimen kann sie durchaus ein Reservat des Guten und Entwicklungsfähigen sein und ihr Wachstum kündigt dann den Zerfall des Regimes an. Vor allem ist aber in der bisherigen Diskussion – trotz gelegentlicher Hinweise auch in der seriösen Literatur auf »Mafia«-Strukturen als Parallelgesellschaften 68 – nicht erwogen worden, ob auch ein Herrschaftsmilieu, das sich jenseits der Gebräuche der Mehrheitsgesellschaft und der für sie geltenden Rechtsvorschriften selbst 67 Erst dieser eigenrechtliche Anspruch einer soziokulturellen Formation gegen die gesetzten Normen des Staates begründet das Phänomen einer »Parallelgesellschaft« und unterscheidet sie von Subkulturen, Szenen, Milieus, Lebensstilen oder Religionsgemeinschaften. 68 So z. B. in dem kriminologischen Standardwerk Kröber, Hans-Ludwig u. a.: Handbuch der forensischen Psychiatrie. Bd. 4, o. O. 2009, S. 224 f.
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segregiert, sinnvoll mit dem Begriff der Parallelgesellschaft beschrieben werden kann. Dabei muss von vornherein betont werden, dass dieser Begriff nicht eine soziale Organisationsform meint, die völlig von der umgebenden Mehrheitsgesellschaft oder anderen weniger segregierten Teilgesellschaften abgeschottet wäre, denn ohne Austauschbeziehungen, Teilintegrationen und ein halblegales Doppelleben könnten ihre Angehörigen gar nicht existieren; vielmehr geht es um die souveräne Selbstdeutungsmacht einer besonders geschützten Einrichtung oder eines geheimen Netzwerks, deren Privilegien, Gewalttätigkeit und Eigenrecht nicht mit allgemein geltenden Normen übereinstimmen und sie sogar gröblich verletzen mögen. Ein solches Beschreibungsmodell scheint mir für unterschiedliche Erscheinungsformen des organisierten Verbrechens, die heute meist unter dem Namen »Mafia« zusammengefasst werden, im Verhältnis zu den sie umgebenden Gesellschaften vielversprechend. Weil es sich nicht um bloße Schmarotzer von Herrschaft, sondern um diese selbst handelt, soll hier zugespitzter gefragt werden, ob dies auch für die durch eine quasi-religiöse Selbstdeutung ermächtigte und durch Sonderrechte und Privilegien segregierten Herrschaftsmilieus sowjetischen Typs gilt, also z. B. für die Nomenklatura 69 oder besondere Ausschnitte wie das Politbüro der jeweiligen kommunistischen Partei oder die Reisekader oder das größte und mit extrakonstitutionellen Gewaltprivilegien ausgestattete Organ, die Staatssicherheit. 70 Nach unseren Befunden über die Hauptamtlichen der Stasi in diesem kleinen, aber beispielhaften Fall aus Gera haben sie eine solche Parallelgesellschaft gebildet. Das verdient genauere Überprüfung und Vergleich, aber ich liste hier schon einmal aus unseren regionalen und fallbezogenen Einsichten die wichtigsten Verdachtsmomente. Sie waren Aufsteiger aus der Arbeiterschaft oder Entwurzelte aus vertriebenen oder sonst kriegsfolgegeschädigten Familien; während ein solcher Hintergrund für die Kaderakte zur proletarischen Herkunft geadelt wurde, war sie in Wirklichkeit ein Motiv der Dankbarkeit, durch die Aufnahme in eine totale Institution aus der Maloche und der Wurzellosigkeit befreit und in den Dienst genommen zu werden. Die meisten wollten eigentlich zum Militär oder zur Polizei, aber waren dafür ungeeignet. Von der Stasi bekamen sie dann – um das Opfer der Selbstachtung – eine sehr viel schnellere Karriere in einem paramilitärisch verbrämten bürokratischen Observationsapparat angedient. Ohne jede Vorbildung und entgegen aller militärischen Gebräuche wurden sie ratzfatz in Offiziersgrade übernommen und alsbald entsprechend dem Dienstaltervorschub befördert. Außer durch weit überdurchschnittlichen Alkoholismus konnte kaum einer scheitern. Die gegenüber dem steigenden Bildungsniveau der Gesellschaft massiven Bildungsdefizite der StasiOffiziere wurden durch Weiterbildungsschnellbleichen in Einrichtungen, die keine 69 Voslensky, Michael S.: Nomenklatura. Die herrschende Klasse der Sowjetunion. Wien 1980. 70 Für vergleichende Informationen greift man jetzt am besten zu Kaminski, Lukasz; Persak, Krzysztof; Gieseke, Jens (Hg.): Handbuch der kommunistischen Geheimdienste in Osteuropa 1944–1991 (zuerst poln.). Göttingen 2009.
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wirklichen Bildungsqualifikationen vermittelten, und ansonsten durch ideologisches und elitäres Geschwafel kompensiert, auf dessen unsinnige Inhalte einzugehen sich nicht lohnt. Die Stasi-Offiziere erhielten neben diesen unglaublichen Karrieren Privilegien der Versorgung und der Kohabitation in Neubauten, die aber mit einer Verdoppelung der institutionellen durch die kollektive Sozialkontrolle verbunden waren und dieses mit allen legitimen und illegitimen Mitteln der Ausforschung ausgestattete Ohr des Regimes an der Basis und vor allem an den Rändern der Gesellschaft vermutlich zum dümmsten und uninformiertesten Teil der Gesellschaft der DDR machte. Nach allem, was wir feststellen konnten, waren sie offenbar die einzigen, die sich an die Informationsverbote des Regimes (weder mediale noch persönliche Kontakte mit dem Westen) wirklich hielten und den ganzen Alarmismus über ständig wachsende Gefahren, die den Stasi-Apparat in den Zeiten der Entspannungspolitik zu verdoppeln halfen, glaubten und bürokratisch umsetzten. An sich sind Geheimdienste dazu da, als Früherkennungssystem für Gefährdungen des Systems oder des Landes zu dienen, und ich sollte einräumen, dass sie in der Regel ohne ein gewisses Maß legalisierter Illegalität nicht auskommen. Markus Wolfs Auslandsspionage gehorchte diesen Maßgaben und erzielte, völlig integriert in die Kultur des Kalten Krieges und ihre Feindbestimmungen, anscheinend ungewöhnliche Erfolge in der externen Aufklärung. Die heimatliche Stasi hat aber weniger Feinde entdeckt als produziert und dies immer mehr, je mehr die DDR ihrem Ende zuging. Ich möchte deshalb hier, angeregt von unseren fall- und lokalspezifischen Einsichten, die These zur Diskussion stellen, dass die Stasi, die ohnehin auch nach den Kriterien der Staaten sowjetischen Typs völlig überdimensioniert war und eigengesetzlich wucherte, kaum »Schild und Schwert der Partei«, was immer solche Metaphern am Ende des 20. Jahrhundert bedeuten sollten, sondern der wichtigste Faktor zur Delegitimierung des Regimes der DDR war. Totalitarismus und Unrecht Bekanntlich kommt der Begriff Totalitarismus aus dem Selbstverständnis des frühen Faschismus in Italien und wurde dann zunächst von dessen sozialdemokratischen Gegnern als Kampfbegriff gegen zentralisierte Macht und illiberale und antidemokratische Diktatur ausgebaut. 71 Vor und dann wieder nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieser Kampfbegriff auf die Nazi-Diktatur in Deutschland und den sowjetischen Stalinismus ausgeweitet und gewann in der Hochphase des Kalten Krieges eine besondere Konjunktur unter westlichen Liberalen, aber auch Konservativen 71 Zum Folgenden nützlich Wippermann, Wolfgang: Totalitarismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute. Darmstadt 1997; Seidel, Bruno; Jenkner, Siegfried (Hg.): Wege der Totalitarismusforschung. Darmstadt 1968; Jesse, Eckhard (Hg.): Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung. Baden-Baden 1996.
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und Sozialdemokraten in der Analyse und Abwehr der Sowjetunion und ihrer Satellitenregime. Ideologie und Terror waren nunmehr sein Inbegriff geworden und die Strukturanalyse hob insbesondere auf die Verstaatlichung der Gesellschaft, die Hyperzentralisierung aller Macht in der Partei- und Staatsführung sowie auf den Verfall der Sphären des Rechts, der Öffentlichkeit und aller gesellschaftlicher Autonomie und Selbstorganisation ab. Seit den ersten Schüben einer Entspannungspolitik zwischen den Blockführungsmächten des Kalten Krieges welkten indessen auch die westlichen Totalitarismustheorien. Das hatte nicht nur politische Gründe, denn mit der Entstalinisierung hatte das Ende des Archipel GULag begonnen (während der Fortbestand weit größerer Lagerregime in China dessen Wahrnehmung im Westen wesentlich weniger prägte) und damit schwand die Aktualität jenes Vergleichspunkts mit dem KZSystem des Dritten Reiches, der den Kern der Empörung über die Totalitarismen ausgemacht hatte. Auch vom einstigen ideologischen Zukunftsschwung blieb in der bürokratischen Erstarrungsphase Breschnews nur die autoritäre Verrieselung immer unglaubwürdigerer Slogans. Wenn freilich Ideologie und Terror als Kern der totalitären Gemeinsamkeit ihre politische Aktualität verloren, blieb auch vom Rest nicht viel übrig. Vor allem hielten die diversen Totalitarismus-Theorien der erst in den 1960er Jahren ernsthaft in Gang gekommenen historischen Erforschung des Dritten Reiches, aber auch des Stalinismus nicht stand, denn sie deuteten darauf hin, dass die hier verglichenen Regime in ihrer Eigendynamik mindestens ebenso viele, wenn nicht mehr Unterschiede als strukturelle, kontextuelle und ideologische Gemeinsamkeiten aufwiesen und das je länger desto mehr. Während diese Mobilisierungsdiktaturen in der Phase des Zweitens Weltkriegs noch eher mit Gewinn hinsichtlich ihrer Herkunft und Struktur verglichen werden konnten und hier Hannah Arendts »Ideologie und Terror« etwas Wesentliches eingefangen hatte (obwohl die großen Massenvernichtungen mit dem Begriff des Terrors eher verharmlost als in ihrer epochemachenden Signatur erkannt wurden), waren sie damals nicht als Totalitarismen thematisiert worden, weil damals ja der Westen mit Stalin verbündet war. Umso mehr wurde im Zuge der Abschwächung des Kalten Krieges der Vergleich dieser Menschheitsverbrechen mit den Fürsorgediktaturen in den späteren Gesellschaften sowjetischen Typs und deren polizeistaatliche Versuche, alle eigentümlichen Regungen in ihren Gesellschaften in Schach zu halten, zunehmend absurd und jedenfalls immer weniger glaubwürdig. Seit den späteren 1970er Jahren schienen die Totalitarismus-Theorien in der Wissenschaft passé. Seit 1989 kamen sie politisch machtvoll zurück und hatten in Deutschland den sichtbaren Sinn, den Abschied vom Kommunismus mit der Erinnerung an Auschwitz moralisch zu dramatisieren. 72 Überall wurden Projekte zum Diktaturen72 Wippermann, Wolfgang: Dämonisierung durch Vergleich: DDR und Drittes Reich. Berlin 2009. Es ist wohl ein Ausdruck dessen, was Christian Meier nach 1990 als »Dementia transitoria« diagnostiziert hat,
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vergleich aufgelegt, aber noch selten war so viel Geld in der Wissenschaft so schlecht investiert, jedenfalls langfristig. Die Situation eines diskutierbaren Vergleichs Moskau – Berlin in der Ära Hitler/Stalin war politisch vor dem Kalten Krieg undenkbar, in ihm angesagt, aber unglaubwürdig und nach ihm passé. Jetzt ging es um die Zukunft der postsowjetischen Länder. Und da differenzierte sich das Bild. In Deutschland wurde am meisten unter der Devise »Vergleichen heißt nicht gleichsetzen« geforscht: Das politische Ergebnis ist dann gleich null, das wissenschaftliche darf man empirisch loben, 73 muss es allerdings in seiner öffentlichen Geltung noch etwas geringer einschätzen, da die öffentliche Resonanz des offiziellen AntiTotalitarismus sich in Ostdeutschland als kontraproduktiv herausgestellt hat und wohl zu jenen Impulsen gezählt werden muss, denen die postkommunistische Partei ihre Rückkehr aus der Marginalisierung in die Sperrminorität eines Drittels verdankt. Die Mitlebenden finden es überwiegend wenig überzeugend bis grob irreführend, wenn ihr Leben in den letzten Jahren der DDR durch den TotalitarismusBegriff in einen Verantwortungszusammenhang mit den großen Menschheitsverbrechen in der Epoche des Zweiten Weltkriegs, besonders dem Holocaust, gezogen wird. Das bedarf m. E. in der Tat einer Klärung, auf die ich gleich zurückkommen will. In Ostmitteleuropa hat der Begriff eine ganz andere Funktion: Er bedeutet hier zunächst einmal, dass alles Böse von den Deutschen und den Russen kommt und hat im Kern eine ungemein entlastende Funktion für den parochialen Nationalismus: keine Kollaboration, kein Antisemitismus wären dann der Erinnerung wert und z. B. Polen könnte einfach seine ideologische Märtyrerrolle aus dem 19. Jahrhundert weiter in Anspruch nehmen. Aber auch das funktioniert vor allem für wenig informierte Minderheiten, die sich als Vertreter des Ganzen stilisieren, aber (jenseits dramatischer Ereignisse wie in Smolensk) sich der Gesellschaft und insbesondere ihrer Jugend nur noch schwer mitteilen können. 74 Wer aber den polnischen Diskurs
dass die Totalitarismustheorie im Moment ihrer Widerlegung neue Geltung erlangte, denn sie hatte ja in ihrer Frühzeit wesentlich prognostiziert, dass totalitäre Herrschaft nicht von innen her überwunden werden kann, weshalb es eines Weltbündnisses mit einer gespaltenen Moral eigener Art bedurfte, um das Dritte Reich zu besiegen und zu befreien. Egal ob man das Ende der Regime sowjetischen Typs in Europa als Implosion oder als Friedliche Revolutionen versteht, mit einer der Spielarten der Totalitarismus-Theorien kann man sie jedenfalls nicht erklären. 73 Das zeigen die besten Zusammenstellungen des Ertrags bei Schmiechen-Ackermann, Detlef: Diktaturen im Vergleich. Darmstadt 2002; Heydemann, Günther; Oberreuter, Heinrich (Hg.): Diktaturen in Deutschland – Vergleichsaspekte. Bonn 2003; auf Dauer anregender wird wohl bleiben Maier, Hans; Schäfer, Michael (Hg.): Totalitarismus und Politische Religion. Konzepte des Diktaturenvergleichs, 2 Bde. Paderborn u. a. 1996/97. 74 Das mag eine zu optimistische Einschätzung sein, z. B. wenn man die kulturellen Verwerfungen in Orbans Ungarn betrachtet. Differenzierende Anschauungen vermitteln Sammelbände wie Knigge, Volkhard; Mählert, Ulrich (Hg.): Der Kommunismus im Museum. Formen der Auseinandersetzung in Deutschland und Ostmitteleuropa. Weimar, Köln, Wien 2005; Troebst, Stefan (Hg.): Postdiktatorische Geschichtskulturen im Süden und Osten Europas. Bestandsaufnahme und Forschungsperspektiven. Göttingen 2010.
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wirklich verfolgt, nimmt eine andere Dimension der Totalitarismus-Diskussion 75 als nur diesen Externalisierungsimpuls wahr. Sie liest sich wie das Gegenbild der Totalitarismus-Theorien des Kalten Krieges. Es ist hier nämlich nicht mehr von den Zentralisierungsmodi der Herrschaft und ihren ideologischen Sinnerwartungen die Rede, sondern von der Zersetzung der Seelen derer, die diesen in seinen Spätformen brüchig und selbst für Adepten absurd gewordenen herrschaftlichen Zumutungen ausgeliefert waren. Eine Klärung des geschichtskulturellen Labyrinths um den Totalitarismus-Begriff sollte zunächst aussprechen, dass das Problem in Mitteleuropa durch die Anerkennungskonkurrenz von Opfergruppen vor allem des Nationalsozialismus und des Kommunismus aktuell gehalten wird. Dadurch wird der Blick auf die historischen Paradoxien des Diktaturenvergleichs behindert. Die Nazi-Diktatur war eine dynamische, autonome, mehrheitlich und durch die traditionellen Eliten unterstützte Herrschaft, die in einer kurzen Zeit die verheerendsten Menschheitsverbrechen der bisherigen Geschichte beging und dauernde Verantwortung insbesondere für den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust trägt. Gegenüber dem Ausmaß des Unheils, das die Nazis über Europa brachten, gehorchte ihre Herrschaftsform zwar sicher auch den Prinzipien von Ideologie und Terror, aber sie war in ihrer Aggressivität rassisch gestuft, verband als Dual State herkömmliche Staatsqualitäten mit rechtlosen Mobilisierungs- und Ausmerzungsmaßnahmen und erzielte ihre Dynamik nicht primär aus Verstaatlichung, Zentralismus und Planwirtschaft, sondern aus innerer Konkurrenz, auch zwischen privaten, staatlichen und parteilichen Akteuren. Die kommunistische Diktatur in Ostdeutschland ist als Folge der internationalen Niederkämpfung des Dritten Reiches und des Auseinanderfallens der Anti-HitlerKoalition danach im Besatzungsgebiet der Sowjetunion weitgehend nach deren Vorbild und unter deren Schutz errichtet worden. Durch schrittweise Zentralisierung der politischen Herrschaft, Ausschaltung der traditionellen Eliten, Verstaatlichung der Gesellschaft und den besonderen Ausbau umfänglicher Sicherheitsorgane (über die Besatzungstruppen hinaus) wurden die Grundlagen einer dependenten totalitären Herrschaft geschaffen. Sie hatte nie eine mehrheitlich aktive Zustimmung der Bevölkerung, die sich aber, besonders nach dem Mauerbau, mehrheitlich mit den Gegebenheiten der politischen Ordnung arrangierte und dazu durch eine Vielzahl von sozialen Maßnahmen, die Erfassung in Massenorganisationen und geheimpolizeilichen Terror gegen Opposition und abweichendes Verhalten angehalten wurde. Im Kern dieser sozialen Integration stand die Parteiherrschaft, deren wichtigstes Bindemittel oft steile soziale Mobilität aus der Arbeiterschaft war und die etwa ein Fünftel der Bevölkerung für seine besondere Loyalität mit Statusvorteilen belohnte. Die Struktur dieser Ordnung hat sich über vier Jahrzehnte nicht wesent75
Spiewak, Pawel (Hg.): Anti-Totalitarismus. Eine polnische Debatte. Frankfurt/M. 2003.
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lich geändert, wenn sie auch nach der Überwindung der Nachkriegsnot akzeptabler zu werden schien, aber zugleich ihre Unreformierbarkeit erwies. Insofern könnte man im Vergleich sagen, dass strukturell die Gesellschaft der DDR totalitärer »durchherrscht« war als die Deutschen im Dritten Reich, das seine monströsesten Verbrechen außerhalb oder in Ausweitung der Reichsgrenzen verübte. Ähnlich könnte man sagen, dass das Dritte Reich mehr rechtsstaatliche Elemente in seinem Dual State ererbt hatte als die DDR, die wie alle Regime sowjetischen Typs die Rechtsfortschritte der Neuzeit letztlich negierte und im Zweifelsfall Macht vor Recht ergehen ließ. Das Paradoxon besteht aber darin, dass totalitäre Strukturmerkmale und die Verantwortung für Menschheitsverbrechen nicht kongruent sind und auch nicht notwendig auseinander folgen. Je mehr wir – wie in dieser Studie – über den polizeistaatlichen Charakter auch der späten DDR erfahren, umso klarer wird, dass die vielen Einzelverbrechen, die vor allem von der Stasi begangen wurden, nicht mit den systematischen Ausrottungs- und Versklavungsmaßnahmen der Nazis gegenüber Juden, Sinti, und in etwas weniger pauschaler Form auch vielen slawischen Ethnien verglichen werden können. 76 Insofern muss man wohl einsehen, dass der Diktaturenvergleich in Deutschland kein Königsweg einer moralisch reflexiven Geschichtskultur ist. Und die zusätzliche Einsicht, dass Menschheitsverbrechen etwas viel Schlimmeres sind als bloßes Unrecht, ist überhaupt kein Grund, das Unrecht nicht zu erforschen und sich seinen Opfern zuzuwenden. Zersetzung und Zerfall Am Anfang unserer begrifflichen Erwägungen stand der vielfach aus dem Alltagsbewusstsein, aber auch der herrschenden Ideologie des »Realsozialismus« überlieferte Eindruck, dass dieser trotz aller sonstigen Beschränkungen doch ein Hort sozialer Gleichheit, Sicherheit und Integration gewesen sei, was Wolfgang Engler auf den Begriff »arbeiterliche Gesellschaft« gebracht hatte. Damit wurde das größte Defizit dieser Regime, ihr Mangel an zivilgesellschaftlicher Freiheit, Rechtmäßigkeit und Dynamik, in den Hintergrund gerückt und statt dem diktatorischen Regime dem Habitus der Arbeiterschaft angelastet. Tatsächlich hat sich die soziale Sicherheit als lang hinausgezögerte und für viele in einer chaotischen Katastrophe endende Illusion, die Herstellung relativer wirtschaftlicher Gleichheit durch Deckelung und gigantische Subventionen als unbezahlbare Entwicklungs- und Produktivitätsbremse und die soziale Integration allenfalls als geducktes Erscheinungsbild einer tief zerklüfteten und zerfallenden Gesellschaft herausgestellt. Dagegen waren das zivilgesellschaftliche Defizit und die Unfähigkeit zu produktivem und tolerantem Konfliktaustrag real.
76 Ein Vergleich zwischen dem Dritten Reich und der stalinistischen Sowjetunion würde zu einem anderen Ergebnis kommen und das ist in einem europäischen Gedächtnisraum nicht belanglos.
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Ich möchte nun abschließend erwägen, ob und inwiefern das Leitmotiv der Staatssicherheit in der Stagnationsperiode, die Dissidenz zu »zersetzen«, den Zerfall der staatssozialistischen Ordnung in Parallelgesellschaften gebremst oder befördert hat. Bekanntlich ging das MfS zur systematischen Zersetzung von dissidenzverdächtigen Gruppen und Personen im Jahre 1976 über, um das öffentliche Bekenntnis der DDR zu den Menschenrechten im Zuge ihrer Unterzeichnung der UN-Charta und der KSZE-Schlussakte, was die Abkehr von Terrorprozessen und die Reduktion der Zahl politischer Gefangener nahe legte, geheimdienstlich zu unterlaufen. Zur Umsetzung der neuen Strategie, die aus der Psychologischen Kriegsführung adaptiert wurde, wurden die Stasi-Mitarbeiter vollends unverblümt außerhalb der Rechtsordnung der DDR gestellt und mit der systematischen Begehung von Straftaten beauftragt, indem z. B. schon im ersten Erlass als Formen der Zersetzung aufgelistet wurden: »systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufes, des Ansehens und des Prestiges auf der Grundlage miteinander verbundener wahrer, überprüfbarer und diskreditierender, sowie unwahrer, glaubhafter, nicht widerlegbarer und damit ebenfalls diskreditierender Angaben; systematische Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Misserfolge zur Untergrabung des Selbstvertrauens einzelner Personen; […] Erzeugung von Zweifeln an der persönlichen Perspektive; Erzeugen von Misstrauen und gegenseitigen Verdächtigungen innerhalb von Gruppen […]; örtliches und zeitliches Unterbinden bzw. Einschränken der gegenseitigen Beziehungen der Mitglieder einer Gruppe […] z. B. durch […] Zuweisung von örtlich entfernt liegender Arbeitsplätze [sic!]«.77
Zersetzungsmaßnahmen, deren Betroffene nach Zehntausenden geschätzt werden, wurden oft vorbeugend auf bloßen Verdacht gegen »feindlich-negative Kräfte« von den hauptamtlichen MfS-Strukturen eingeleitet, die sich dabei besonders inoffizieller Mitarbeiter bedienen und mit Parteikadern im Staatsapparat und anderen Einrichtungen konspirativ kooperieren sollten, um die Steuerung der Maßnahmen durch die Stasi zu verbergen. Dies hat in der Folge zur Aufblähung der Zahl der Stasi-Offiziere und ihrer Spitzel geführt. Es gehört zu den Grundtatsachen der Geschichte der DDR, dass sie als Antwort auf die Entspannungspolitik, in der sie die an sich schon verfassungsgemäß zugesicherten Grundrechte noch einmal unverklausuliert in internationalen Verträgen garantieren musste, ihren geheimen Sicherheitsapparat fast verdoppelte und ihn damit beauftragte,78 durch systematische Verletzungen auch ihres eigenen Rechts auf 77 Richtlinie Nr. 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge (vom Januar 1976). In: Engelmann, Roger; Joestel, Frank: Grundsatzdokumente des MfS (MfS-Handbuch, Teil V/5). Hg. BStU. Berlin 2004, S. 287. 78 Es scheint mir bisher noch unklar, ob die Partei- und Staatsführung der SED/DDR die Folgen der Zersetzungsstrategie des MfS voll übersah oder ob sie die Selbstermächtigung von Mielkes Firma nur gewähren ließ. Jedenfalls waren diese Wirkungen dramatisch. Mit der Aufblähung des Apparats und seiner neuen Vorgehensweise wurde seine Praxis immer unfassbarer und unkontrollierbarer und veränderte sich auch in seiner sozialen Zusammensetzung. Während die Hauptamtlichen bis dahin im Wesentlichen aus der Arbeiter-
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geheime Weise die Wahrnehmung dieser Rechte durch interessierte Bürger zu verhindern. Das ist eine neue Qualität in der Selbst-Delegitimierung der Ordnung der DDR und ihrer Glaubwürdigkeit als Staat und internationaler Akteur. Von da aus muss man unsere Frage nach dem Beitrag der Zersetzungsstrategie zum Zerfall der staatssozialistischen Gesellschaft in zwei Richtungen getrennt erörtern, weil die Wirkungen auf das Sicherheitsmilieu nicht notwendig dieselben waren wie diejenigen auf die Dissidenz. Die Wirkungen auf das Milieu der Stasi sind einfacher einzuschätzen, weil hier die Tendenzen zur Selbstsegregation in einer herrschenden Parallelgesellschaft eindeutig vorangetrieben wurden. Das MfS arbeitete nicht mehr vor allem daran, Oppositionelle zu kriminalisieren und wegen der Verletzung von DDR-Gesetzen vor Gericht zu bringen. Vielmehr stand jetzt im Vordergrund, Gruppen und Personen, die im Verdacht standen, diese verbriefte Rechtsordnung in Anspruch nehmen zu wollen, vorbeugend in den Wahnsinn und die Selbstzerfleischung zu treiben. Deutlicher kann man den Zerfall einer Gesellschafts- und Rechtsordnung und die Heraushebung eines massiv ausgebauten Staatsorgans als eigengesetzliche Agency gar nicht charakterisieren, als wenn dieses einen letztlich unkontrollierbaren Generalauftrag erhält, systematisch mit heimtückischen und manifest gesetzwidrigen Mitteln die Persönlichkeit und Soziabilität von Bürgern zu zerstören, die im Verdacht stehen, verbriefte Grundrechte dieses selben Staates in Anspruch nehmen zu wollen. Die in der Eigengesetzlichkeit des Apparats und seiner sozialen Ausbildung als Parallelgesellschaft liegenden Faktoren habe ich bereits in der diesbezüglichen Begriffserwägung behandelt, sodass hier nur zusammenzufassen ist, dass die Stasi gerade in der Spätphase des Staatssozialismus nicht etwa als dessen letzter Ordnungshüter, sondern als das absurdeste Fraktal seines gesellschaftlichen Zerfalls zu betrachten ist. 79 Sehr viel schwieriger ist die Erwägung unserer Frage in Bezug auf die Dissidenz. Jedenfalls dann, wenn sie als eine herrschaftssoziologische und nicht bloß als eine moralische verstanden wird. Denn als moralische ist von vornherein klar, dass die schaft und den Entwurzelten der Nachkriegsgesellschaft rekrutiert worden waren, kamen sie nun immer öfter aus der Dienstklasse der DDR und waren Kinder aus ihrem selbstsegregierten Sicherheitsmilieu. Auf der anderen Seite war mit der Zersetzungsstrategie eine Delegitimierung der eigenen Rechtsordnung als bloße Regelungsattrappe verbunden, die jeder rechtsstaatlichen Regelung des staatlichen Gewaltmonopols Hohn spricht. 79 Wenigstens als Anmerkung möchte ich dem hier die unsere Fallstudie überschreitende Frage anschließen, wie man verstehen soll, dass die sowjetischen Tschekisten im KGB, die aufs Ganze der SU gesehen nun wirklich weit mehr Verbrechen als die Stasi zu verantworten hatten, in der Endkrise des Staatssozialismus im dritten Anlauf in dem vergleichsweise jungen Michael Gorbatschow, obschon er effektiv das Steuer des berstenden Schiffs auch nicht mehr auf einen rettenden Hafen hin herumreißen konnte, einen Helden der Öffnung, der Selbsterforschung und des imperialen Rückzugs an die Macht brachten, während in Deutschland stalinistische Extremisten aus der Weltwirtschaftskrise wie Mielke noch immer das Sagen hatten und alles taten, um Glasnost und Perestroika in der DDR zu verhindern und deren kreative Geister zu frustrieren, zu zersetzen oder außer Landes zu treiben. Stattdessen bereitete das MfS Verhaftungslisten und Internierungslager für Opponenten vor. Diesen Widerspruch müssen und können wir hier nicht bearbeiten, aber ein solches Glossar dient ja auch dem Hinweis auf überschüssige Fragen, die andere lösen mögen.
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Tätigkeit der Stasi in der Phase der Zersetzung eine einzige antihumane und rechtlose Sauerei war und die lange Fixierung vieler Opfer der Zersetzung auf die Agency ihrer Depersonalisierung und Desozialisierung nur allzu verständlich macht. In der Kühle der Herrschaftssoziologie stellt sich aber eine andere Frage, nämlich ob die Stasi in ihrem aufgeblähten Endstadium mit ihrer perfiden Zersetzungs-Strategie erfolgreich war oder ob sie die Desintegration der Gesellschaft und die Delegitimation des Regimes befördert hat. In meiner Analyse war die Strategie der Stasi kontraproduktiv. Zuerst jedoch das Gegenargument. Es geht von der Effizienz der Zersetzungsstrategien aus und behauptet, dass die »Zersetzung« die Masse möglicher Regimegegner sozusagen aus dem Verkehr gezogen habe. Damit wären sie für die Gesellschaft der DDR und ihre Dissidenz verloren. In unserer Fallstudie haben alle Betroffenen erhebliche Beeinträchtigungen durch diese Interventionen aus dem Dunkel erlebt, aber in den meisten Fällen hat es ihre Spontaneität und Kreativität eher berührt als gebrochen. Mehrere sind danach im DDR-Kulturbetrieb aggressiv und erfolgreich geblieben, andere haben sich zurückgezogen, sind aus der Szene ausgestiegen oder sind so bald als möglich in den Westen gegangen. Auf dieser Ebene könnte man also der Stasi einen allerdings nur sehr partiellen Erfolg bescheinigen. Das umgekehrte Argument für die Forcierung des Gesellschaftszerfalls der DDR durch die Stasi-Zersetzungen müsste davon ausgehen, dass jede Gesellschaftsordnung von der grundsätzlichen Glaubwürdigkeit ihrer fundamentalen Setzungen lebt. Ein Staat, der sein ohnehin schon mächtigstes Staatsorgan zusätzlich ermächtigt, alle seine Gesetze außer Kraft zu setzen, um marginale Gesellschaftsangehörige, die sich möglicherweise auf seine eigenen Normative berufen wollen könnten, in ihrer Personalität und Sozialität zu vernichten, hat bereits die Geltungskriterien seiner eigenen Normen völlig dementiert und deren Integrationskraft aufgegeben. Das exorbitante Wachstum der Geheimpolizei und ihrer Aktivität in einer Phase, von der man allgemein in Ost und West eine Liberalisierung der Lebensverhältnisse erwartete, war ein eklatanter Widerspruch, der trotz aller Geheimnistuerei vielfach wahrnehmbar war. So wurden viel mehr inoffizielle Mitarbeiter und Amtsträger im Staatsapparat zu Mitwissern der Zersetzungsmaßnahmen, es entstanden immer mehr über private Kommunikationsnetze sich mitteilende Informationen der Dekonspiration von Erpressten und Zeugnisse hunderttausendfacher Konflikte um Ausbürgerung und Ausreise. Deshalb muss man von einem sozusagen gestauten Multiplikatoreffekt der Delegitimierung der partei-staatlichen Ordnung ausgehen. 80 Diese sich aufstauende Delegitimierung hat andererseits die Resonanz der Alternativkultur erhöht und das dissidentische Potenzial in einem Umfeld herausfordernder transnationaler 80 Siehe dazu die Studien in Ansorg, Leonore u. a. (Hg.): »Das Land ist still – noch!« Herrschaftswandel und politische Gegnerschaft in der DDR (1971–1989). Köln u. a. 2009, darin übrigens für unseren Untersuchungsort Merker, Reiner: Handlungsfeld Öffentlichkeit. Opposition in den siebziger/achtziger Jahren in Gera, S. 249–265.
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Medienpräsenz ausgeweitet. Dabei sind freilich die Zersetzungsmaßnahmen nur ein Faktor und andere wie die Perspektivlosigkeit der Jüngeren, der wirtschaftliche Verfall, die vorbildhaften Konflikte in Polen, die Perestroika in der Sowjetunion und der selbstmörderische Versuch der SED-Führung, sich von ihr abzuschotten, wurden dann im weiteren Verlauf der 1980er Jahre ebenso oder noch gewichtigere Faktoren des gesellschaftlichen Zerfalls und der politischen Delegitimierung. Erst ganz zum Schluss kündigte die arbeiterliche Mehrheitsgesellschaft der DDR, die schon lange gegrummelt, aber nicht aufbegehrt hatte, angesichts des kommenden Bankrotts der DDR-Wirtschaft und des ganzen staatssozialistischen Blocks ihre ambivalente Loyalität auf und ersetzte den Ruf der Dissidenten nach Autonomie »Wir sind das Volk! Keine Gewalt!« durch den Ruf nach einem neuen Subventionsgeber, dem kapitalistischen Sozialstaat: »Wir sind ein Volk!« Was sich als geschichtsmächtig, aber für die meisten persönlich zunächst einmal als wenig zielführend erwies. Aber langfristig eröffneten sich andere Perspektiven. Nach unserem Vorschlag zum Verständnis der Dissidenz ist deren Wachstum in der Stagnationsperiode der staatssozialistischen Regime das Produkt der fortgesetzten, quasi totalitären Zumutung sozio-kultureller Nivellierung, politischer Unterordnung und schizoider Anpassungsrituale in einem internationalen Umfeld zunehmender Individualisierung und Pluralisierung von Lebensstilen. Diese unzeitigen Zumutungen trafen auf existenzielle Abwehr, wofür – sei es in öffentlich wahrnehmbarem Aufbegehren oder im Rückzug ins Private – jene inneren Ressourcen mobilisiert wurden, die existenziell oder traditionell verfügbar waren und in Netzwerke investiert wurden, die sich auf öffentlich geduldetes oder ambivalentes Terrain wie informelle Jugendkulturen, kulturelle Szenen, Religionsgemeinschaften mit versammlungsfähigem Grundbesitz oder Initiativen für Frieden und Umwelt beziehen ließen. Das mögen nur Engagements des Übergangs sein. Aber für die Zukunft der post-diktatorialen Demokratie waren sie gerade deshalb wichtig, weil sich danach zeigte, dass die Bewährung in einer Gegenkultur gegen eine Diktatur einerseits und im Alltag institutionalisierter Demokratie andererseits zwei sehr verschiedene Herausforderungen sind. Schon nach 1945 sind binnen weniger Jahre die meisten überlebenden Protagonisten des aktiven Widerstands im Dritten Reich in der eitlen Profilierungs- und Kompromissmaschinerie des demokratischen Alltags gescheitert. Nach 1990 war das nicht so viel anders. Sicher gibt es noble Ausnahmen wie Václav Havel oder Adam Michnik in ihren jeweiligen Bereichen, aber aufs Ganze gesehen hat es die politische Opposition gegen die DDR eher weniger als die weitere Dissidenz, zu deren Vielfalt einst auch Jochen Gauck und Angela Merkel gehörten, in die demokratische Machtelite geschafft. Allerdings wollten das auch diejenigen aus der Opposition, die ich kennenlernte, nicht. Sie konnten schon im Staatssozialismus die Kompromissbildungen der Macht nicht ausstehen und sie
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fanden deren Geschmack im Danach nicht viel verlockender. Jens Reich, der es immerhin zu einer alternativen Kandidatur zum Amt des Bundespräsidenten gebracht hat und zuvor koordinierender Sprecher der DDR-Opposition im Neuen Forum gewesen war, hat solchen Rückzug am überzeugendsten formuliert. 81
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Reich, Jens: Spiel Raum Sprache. Göttingen 1998.
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Jeannette van Laak
Bühne der Dissidenz Kulturpolitische Konflikte in der Provinzhauptstadt Gera in den 1980er Jahren
Einführung Zehn Jahre nach der friedlichen Revolution in der DDR zog der ehemalige 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden, Hans Modrow, seine Lebensbilanz. 1 Obgleich der Titel »Ich wollte ein neues Deutschland« auf enttäuschte Hoffnungen nach 1989/90 schließen lassen könnte, bezieht er sich auch und vor allem auf das Credo seiner politischen Arbeit in der sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR. Modrow schildert seinen Lebensweg vom jungen Wehrmachtssoldaten über die Antifa-Schule der sowjetischen Kriegsgefangenschaft zum Parteifunktionär der SED. Nach verschiedenen Auseinandersetzungen mit Erich Honecker wurde er schließlich 1973 nach Dresden geschickt. Als 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden war Modrow für die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und geistigkulturellen Belange in »seinem« Bezirk verantwortlich. Ausführlich schildert er seine Aufgabenbereiche und sein Engagement für diesen und für die Stadt. Dabei kommt er auch auf das besondere Verhältnis von Kunst und Kultur in der DDR zu sprechen. Rückblickend konstatiert er: »Als Politiker hat man einen anderen Blick auf die Kunst als die Künstler selbst. Man ist mit einem Grundzug von Subversivität konfrontiert, der die praktische Politik auf jeden Fall stört: Diese Subversivität der Kunst wirkt auf die Gegenwart, aber entzieht sich doch gleichzeitig dem, was Politik immer wieder versucht: alles Gedachte und Gefühlte in nutzbare Aktualität aufzulösen. Das ist der Widerspruch, in den Künstler und Politiker gemeinsam verstrickt sind: Immer ist Kunst Kompensation dessen, was einer Gesellschaft fehlt; immer erliegt Politik der Gefahr, diesen auf künstlerische Weise bewusst gemachten Mangel ausgerechnet mittels der Künstler schönfarbig übermalen zu lassen.« 2
Dem besonnenen Modrow gelingt es in der Rückschau, die strukturellen Spannungen zwischen seiner Partei, der SED, und den Künstlern in der DDR noch einmal evident werden zu lassen. Selbstverständlich habe sich seine Partei in den 40 Jahren 1 Modrow, Hans: Ich wollte ein neues Deutschland, mit Hans-Dieter Schütt. 2. Aufl., München 1999. Vgl. hierzu van Laak, Jeannette; Leo, Annette: Erinnerungen der Macht, Erinnerungen an die Macht. SED-Funktionäre im autobiographischen Rückblick. In: DA 41(2008)6, S. 1060–1067. 2 Modrow: Neues Deutschland (Anm. 1), S. 204 f.
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DDR des Transmissionsriemens »Kunst und Kultur« bedient. Nicht zuletzt um auf diese Weise deren »Subversivität« in staatlich gewollte Bahnen zu lenken. Doch was die besondere Aufgabe von Kunst und Kultur in der DDR ausmachte, konnte Modrow nicht erklären. Die Stigmatisierung »subversiv« wirkt deshalb beinahe wie ein Euphemismus: als hätten sich Kunst und Künstler eben doch etwas Unkontrollierbares bewahren können. Interessant ist Modrows Definition von Kunst: »Immer ist Kunst Kompensation dessen, was einer Gesellschaft fehlt.« 3 Mit diesem Kunst-Verständnis, das auf politische Intentionen verzichtet, scheint sich Modrow, der frühere SED-Funktionär, zehn Jahre nach dem Ende der DDR dem westlichen Kunstverständnis anzunähern, das Kunst als die »ästhetische Form der Aneignung des Fremden« definiert. 4 Dass die SED-Funktionäre nicht immer so verständnisvoll auf die Kunst und die sie erschaffenden Künstler geblickt haben, belegen die MfS-Akten hierzu in der »StasiUnterlagen-Behörde« oder auch die Berichterstattung bundesdeutscher Medien vor und nach 1989/90. Worin das spezifische Verhältnis zwischen Künstlern und Staatsführung bestand, das in den letzten 20 Jahren so viel Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich gezogen hat, man denke an den Fall Janka, den Fall Biermann, den Fall Heym, den Fall Christa Wolf, den Fall Hermlin, den Fall Loest, soll im Folgenden an einem Beispiel jenseits der hauptstädtischen Fokussierung konkretisiert werden. Hierfür fiel unser Blick auf den 1952 nach der Auflösung der Länder neu gegründeten Bezirk Gera. Bis 1918 hatte die Stadt Gera lediglich über die Verwaltungsstrukturen einer Residenzstadt verfügt. Überregionale Verwaltungsstrukturen entstanden erst mit der Bezirksbildung. Damit verfügte der Bezirk Gera über gute Voraussetzungen, ein sozialistischer Bezirk mit einer entsprechenden idealtypischen Bezirksstadt zu werden, denn Industrie und Arbeiter, die dem Selbstverständnis der SED nach die eigene Hauptklientel bildeten, trafen hier konzentriert aufeinander. Und auch auf kulturellem Gebiet wurde einiges für diese »idealtypische Entwicklung« getan, wie wir im Folgenden sehen werden.
1. Gera als Bezirkshauptstadt Der Bezirk Gera war flächenmäßig der zweitkleinste Bezirk der DDR, der 1952 mit der neuen Verwaltungsordnung entstanden war, die fortan »Bezirke« statt »Länder« kannte. Zu ihm gehörten bis 1989 die Stadtkreise Gera und Jena sowie elf Landkreise. Im Bezirk lebten bis 1989 ca. vier Prozent der DDR-Bevölkerung, wobei die Mehrheit in den Städten Gera, Jena, Greiz, Rudolstadt, Saalfeld und
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Ebenda. Erdheim, Mario: Das Fremde und das Eigene. In: Psyche (1992)8, S. 734.
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Pößneck wohnte, 5 konzentrierten sich hier doch die meisten Industriebetriebe, die Arbeitssuchende anzogen. Im ersten Nachkriegsjahrzehnt war die SDAG Wismut ein gewichtiger Arbeitgeber. 6 Sie bot nicht zuletzt Kriegsflüchtlingen Arbeit und Wohnraum. Weitere Arbeitgeber waren die VEB Kondensatorenwerke Gera, der VEB Werkzeugmaschinenfabrik Union, der VEB Modedruck sowie andere textilverarbeitende Firmen, die als »arbeitsintensive« Industrien bezeichnet wurden. Das Wirtschaftsgebiet Jena hingegen beheimatete mit der feinmechanischen und optischen, der Glas- und keramischen sowie der pharmazeutischen Industrie die »intelligenzintensiven« Zweige, die alsbald den Rang von »Schlüsseltechnologien« erhielten, mit denen der industrielle Fortschritt sicherzustellen war. 7 Ungeachtet der bekannten prekären wirtschaftlichen Lage der DDR, die sich mit den Milliardenkrediten aus der Bundesrepublik in den 1980er Jahren offenbarte, wurde für die industrielle Bruttoproduktion des Bezirkes Gera konstatiert, dass diese in den 1980er Jahren »deutlich über dem DDR-Durchschnitt« lag. 8 Auch wenn die Stadt innerhalb des neuen Bezirkes verhältnismäßig dezentral lag, wurde Gera wohl vor allem deshalb Bezirksstadt, weil in Ostthüringen Uranvorkommen lagerten, für die sich die sowjetische Besatzungsmacht bereits unmittelbar nach Kriegsende interessiert hatte. 9 Somit blieb Geras Industriestadt-Charakter, der sich Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts herausgebildet hatte, auch nach den alliierten Bombenangriffen vom April 1945, die einen Großteil der Altstadt und des Bahnhofes zerstörten, erhalten. Vor allem die Ansiedlung der SDAG Wismut führte in den 1950er Jahren zu einer raschen Bevölkerungszunahme, sodass Gera bereits
5 Beger, Katrin: Der Bezirk Gera. In: Best, Heinrich; Mestrup, Heinz (Hg.): Die Ersten und Zweiten Sekretäre der SED-Bezirksleitungen. Machtstrukturen und Herrschaftspraxis in den thüringischen Bezirken der DDR. Weimar u. a. 2003, S. 42–53, hier 43 f. 6 Die SAG (Sowjetische Aktiengesellschaft) wurde 1946 in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands gegründet, um unter anderem Uran in Sachsen und Thüringen für die sowjetische Atomindustrie abzubauen. 1953 wurde die SAG aufgelöst und die Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft (SDAG) Wismut neu gegründet. Als SDAG Wismut entstand ein Bergbauunternehmen, das zwischen 1946 und 1990 zu den drei größten Uran-Produzenten der Welt gehörte. Nach 1990 wurde die Urangewinnung eingestellt. Die Nachfolgefirma Wismut GmbH betreibt vor allem die Renaturalisierung in den ehemaligen Fördergebieten. Vgl. Schütterle, Juliane: Kumpel, Kader und Genossen: Arbeiten und Leben im Uranbergbau. Die Wismut AG. Paderborn u. a. 2010; Karlsch, Rainer: Uran für Moskau. Die Wismut – Eine populäre Geschichte. Berlin 2007; Beleites, Michael: Altlast Wismut: Ausnahmezustand, Umweltkatastrophe und das Sanierungsproblem im deutschen Uranbergbau. Frankfurt/M. 1992. 7 Beger: Bezirk Gera (Anm. 5), S. 46 sowie Mestrup, Heinz: Alltag und Selbstverständnis. In: Best; Mestrup: Erste und Zweite Sekretäre (Anm. 5), S. 205–324, hier 222. 8 Vgl. Behnen, Michael (Hg.): Lexikon der deutschen Geschichte von 1945–1990. Ereignisse – Institutionen – Personen im geteilten Deutschland. Stuttgart 2002, S. 247. 9 Eine wissenschaftliche Gesamtdarstellung zu Geras Geschichte liegt bislang nicht vor. Vgl. hierzu auch von Plato, Alice: Ein »Fest der Volksgemeinschaft«. Die 700-Jahr-Feier von Gera (1937). In: von Saldern, Adelheid; Seegers, Lu (Hg.): Inszenierter Stolz: Stadtrepräsentation in drei deutschen Gesellschaften. Wiesbaden 2005, S. 83–114, hier 83.
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1959 Großstadt wurde. 10 Gera blieb bis in die 1980er Jahre hinein eine stark wachsende Industrie- und Verwaltungsstadt. 11 Kulturhistorische Prägungen wie der Residenzstadtcharakter, auch wenn diese sich erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts etablierten und sich in der bürgerlich frühneuzeitlichen Stadtarchitektur sowie in der industriebürgerlichen Villen- und Fabrikarchitektur um 1900 spiegelten 12, wurden durch die SED vereinnahmt und genutzt, was zu ihrem allmählichen Verschwinden führte. Seit 1952 besetzten die Bezirksleitung der SED, der Vorsitzende des Rates des Bezirkes mit seinen Gremien und zugeordneten Verwaltungen sowie die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit zentrale Punkte in Gera und drückten damit Gera ihre Vorstellungen einer Bezirksstadt auf. Die SED machte ihre Ansprüche in der Stadt auf verschiedene Weise geltend: So setzte sie sich beispielsweise äußerst symbolträchtig durch, indem sie erhaltene und instandgesetzte Gebäude aus der Vorkriegszeit für eigene Zwecke umnutzte, wie etwa die Orangerie. Zwischen 1957 und 1964 beherbergte das barocke Gebäude am Küchengarten das Museum für die Geschichte der Arbeiterbewegung des Bezirkes Gera. 13 Durch den Krieg zerstörte Straßen wurden ab 1958 in mehreren Etappen umgestaltet. 14 In den 1970er Jahren entstand der Plan für ein repräsentatives, zentral gelegenes Großgebäude, ähnlich dem Berliner Palast der Republik. Obgleich dieses Gebäude von der Berliner Zentralinstanz nicht genehmigt worden war, wurde es – de facto als Schwarzbau – 1981 als Kultur- und Kongresszentrum auf dem zentralen Platz in Gera eingeweiht. 15 Für das Innere des Gebäudes wurde eine Reliefwand konzipiert, das »Lied des Lebens«, eine Gemeinschaftsproduktion von 25 Bildhauern des Bezirkes. Zu den kulturellen Höhepunkten der 1980er Jahre zählten die 20. Arbeiterfestspiele 1984 sowie die 750-Jahr-Feier Geras 1987. Für diese Feierlichkeiten wurden endlich die Baulücken geschlossen, die der Bombenangriff vom April 1945 hinterlassen hatte. Unterstützung erhielten die Geraer Genossen dabei durch Erich Honecker, 10 Beger: Bezirk Gera (Anm. 5), S. 45. 11 Brandler, Gotthard u. a. (Hg.): Architekturführer Bezirk Gera. Berlin (Ost) 1982, S. 8. 12 Flegel, Silke; Hoffmann, Frank: Umprägung der Erinnerung – Zum Umbruch in Theater und Museum in der jungen Bezirksstadt Gera. In: Timmermann, Heiner (Hg.): Historische Erinnerung im Wandel. Neuere Forschung zur deutschen Zeitgeschichte unter besonderer Berücksichtigung der DDR-Forschung. Berlin 2007, S. 398–416, hier 403. 13 Ebenda, S. 412 ff. 14 Im Architekturführer liest sich das so: »Der Bereich mit dem Haus der Kultur, der Dr.-RudolfBreitscheid-Straße, der Ernst-Thälmann-Straße und der Straße der Republik bildet in Verbindung mit der historischen Altstadt das moderne Zentrum der Bezirksstadt. […] Zur Förderung und Entwicklung sozialistischer Arbeits- und Lebensbedingungen entstanden neue städtebauliche Grundstrukturen.« Brandler: Architekturführer (Anm. 11), S. 9. 15 Vgl. Beger: Bezirk Gera (Anm. 5), S. 51 sowie Niemann, Mario: Die Sekretäre der SED-Bezirksleitungen 1952–1989. Paderborn 2007, S. 386.
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der neben Berlin auch die Bezirksstädte gefördert sehen wollte. 16 Die 750-Jahr-Feier 1987 lehnte sich in der Erinnerung der Funktionäre hauptsächlich an das Berliner Vorbild an. Doch Programm und Durchführung dieser Feierlichkeit verwiesen auch auf die 1937 durchgeführte 700-Jahr-Feier der Stadt. Schon damals hatte es eine feierliche Eröffnung im Rathaus, ein Volksfest und einen Festumzug gegeben, um nur einige Beispiele zu nennen. 17 Auch das seit 1979 ausgetragene Kinderfilm- und -fernsehfestival »Goldner Spatz« zählt zu Geras kulturellen Höhepunkten. Dabei handelte es sich um eine jener DDR-eigenen Kulturveranstaltungen, die seit Mitte der 1970er Jahre im ZweiJahres-Rhythmus stattfanden und neben der Kulturförderung vor allem der Förderung der Jugend dienten. 18 Diese Aufgaben wurden auch dem Bezirks- und dem Kreiskulturkabinett übertragen, die vor allem Laienensembles schulten und das Musikinteresse der Jugend in geordnete Bahnen lenken sollten. Dabei wurden den Jugendlichen vor allem Instrumente und Proberäume zur Verfügung gestellt. 19 Eine der Institutionen der Kulturkabinette waren die Singeklubs oder auch Singegruppen. Sie boten jungen Musikern die Gelegenheit, sich »musikalisch und auch politisch in Auseinandersetzung mit anderen zu orientieren, sich eine Einstellung zu erarbeiten, eine Meinung zu bilden. Singeklubs, die einen hohen qualitativen Anspruch für sich erhoben, wurden schnell zu Podien für talentierte und kreative junge Menschen.« 20
Mitte der 1970er Jahre gründete sich hier beispielsweise der Singeklub »Patria«, der sich inhaltlich und musikalisch stark an seinem Berliner Vorbild, dem »Oktoberklub«, orientierte. 21 Diese Kabinette unterstanden selbstredend der kulturpolitischen Anleitung der SED. Darüber hinaus gelang es den Geraer SED-Funktionären, ein Puppentheater anzusiedeln. 1957 boten sie der Puppenbühne »Oestreich-Ohnesorge« an, sich in 16 Bis in die 1970er Jahre hinein wurde vor allem Jena gefördert, damit die Stadt mit dem Vorzeigeunternehmen VEB Carl-Zeiss aufschließen konnte. Erst mit Honeckers Machtantritt konnten die in der Schublade liegenden Baupläne zur Stadtbebauung Geras umgesetzt werden. Vgl. Mestrup: Alltag (Anm. 7), S. 222 sowie Stutz, Rüdiger: »Durchbruchstellen des technischen Fortschritts« – Walter Ulbricht und die Umgestaltung der Jenaer Innenstadt (1967–1971), Beilage zu: Diers, Michael u. a. (Hg.): Der Turm von Jena, Architektur und Zeichen. Jena 1999. 17 Zu den Gemeinsamkeiten der urbanen Feste vergleiche von Plato: Fest der Volksgemeinschaft (Anm. 9), S. 89. 18 Weitere DDR-spezifische Kulturevents waren das Poetenseminar in Schwerin, die Chansontage in Frankfurt/O. oder das Leipziger Folkfestival. 19 Kirchenwitz, Lutz: Folk, Chanson und Liedermacher in der DDR. Chronisten, Kritiker, Kaisergeburtstagssänger. Berlin 1993, S. 43 f.; Wicke, Peter: Rockmusik und Politik. Berlin 1996; Rauhut, Michael: Beat in der Grauzone. DDR-Rock 1964 bis 1972 – Politik und Alltag. Berlin 1993, S. 205 ff. 20 Möller, Katrin: Liedkultur in der DDR – Ausgleich für nicht funktionierende gesellschaftliche Öffentlichkeit. Schkeuditz 2003, S. 104. 21 Kirchenwitz, Lutz (Hg.): Lieder und Leute. Die FDJ-Singebewegung der DDR. Berlin 1982, S. 30; Ders.: Folk (Anm. 19), S. 27 ff.; Möller: Liedkultur (Anm. 20), S. 99 ff.
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einem festen Haus in Gera niederzulassen. 22 Hierbei orientierten sich die Funktionäre und Puppenspieler vor allem am Moskauer Puppentheater, das 1950 mit »zehn Waggons und 50 Leuten« erfolgreich durch die DDR gereist war, in Moskau aber über ein festes Haus verfügte. 23 Auch in Chemnitz und Dresden wurden ähnliche Anstrengungen unternommen, um das fahrende Volk der Puppenspieler in Kollektivensembles einzubinden. Dies wurde als sozialer und künstlerischer Fortschritt interpretiert, sicherte er doch den Puppenspielern ein festes monatliches Einkommen und Räumlichkeiten, sich künstlerisch auszuprobieren. 1962 wurde die Puppenbühne »Oestreich-Ohnesorge« als Sparte in die Städtischen Bühnen Gera aufgenommen und 1967 erhielt sie erstmals eigene Räumlichkeiten am Gustav-HennigPlatz, wo das Puppentheater bis heute zu Hause ist. Zunächst teilten sich die Puppenspieler das Haus mit der Abteilung Kultur des Rates der Stadt und mit dem Kreiskulturkabinett, womit sich die kurzen Wege innerhalb der Verwaltungsstrukturen offenbaren. Diese Verbindungen bestanden vermutlich weiter, auch nachdem beide Institutionen auszogen und die Puppenbühne deren Räumlichkeiten erhielt. Hatte die Puppenbühne »Oestreich-Ohnesorge« mit vier Puppenspielern begonnen, so wurden in Hochzeiten 24 Spieler und Mitarbeiter gezählt, zum Ende der DDR gab es 18 Puppenspieler und Mitarbeiter. 24 Trotzdem war und blieb Gera alles andere als eine aus traditioneller Zentralörtlichkeit entstandene Großstadt, deren breite bürgerliche Vermittlungsschicht auch unter DDR-Verhältnissen Ansätze zu einer lokalen Öffentlichkeit und einen gewissen urbanen Charme hätte evozieren können. Dies war wohl eher die Stadt Jena, die durchaus als Geras größte Konkurrentin bezeichnet werden kann. Hier waren neben der Friedrich-Schiller-Universität auch der VEB Carl Zeiss Jena und das Kombinat der Schott-Werke beheimatet. 25 Dieser Konkurrenz versuchten die SEDFunktionäre zu begegnen, in dem sie die kulturellen Einrichtungen der Bezirksstadt renovieren ließen und ein pompöses Kultur- und Kongresszentrum bauten. Das Jenaer Theaterhaus hingegen erhielt weder ein eigenes Ensemble noch wurde viel für die bauliche Substanz des Hauses getan. So wurde das Theaterhaus Jena 1965 vom Deutschen Nationaltheater Weimar bespielt und ab 1965, als die Stadt Jena das 22 1929 hatten sich unabhängig voneinander zwei Puppenbühnen in Sachsen und Thüringen gebildet: Hierbei handelte es sich einmal um die Wanderbühne »Miniatur Landesbühne Sachsen«, die Herbert Oestreich leitete, und um die »Oberländische Handpuppenbühne«, der der Geraer Hoftheaterspieler Anton Pörsch vorstand. Da sich Pörsch den Nationalsozialisten nicht unterordnen wollte, belegten diese ihn mit Spielverbot. Unter dem Pseudonym »Puppenbühne Ohnesorge« spielte er jedoch weiter. Nach dem Tode Pörschs 1950 übernahm Rosemarie Tschirner diese Puppenbühne. Aufgrund der schweren finanziellen Lage nach dem Krieg schlossen Herbert Oestreich und Rosemarie Tschirner sich bereits 1951 zur Puppenbühne »OestreichOhnesorge« zusammen. Vgl. Haase, Baldur: Kaspar kontra Mielke. Die Geraer Puppenbühne und die unabhängige Friedensbewegung um 1985. Erfurt 1999, S. 9. 23 Vgl. Singer, Mandy u. a.: Das Puppentheater Gera in der ehemaligen DDR. Kasper kontra Stasi oder Kunst als Waffe. Seminarfacharbeit, unveröffentlicht. Gera 2002, S. 54. 24 Ebenda, S. 55. 25 Beger: Bezirk Gera (Anm. 5), S. 51; Mestrup: Alltag (Anm. 7), S. 222.
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Theater übernahm, von den Städtischen Bühnen Geras, dem Theater Rudolstadt und Greiz sowie von anderen kleinen Bühnen. Trotz dieser und anderer Bemühungen, das kulturelle Leben auf »Kreisniveau« 26 zu reduzieren, blieb gerade für Künstler Jena die interessantere Stadt. 1973/74 gründete Lutz Rathenow einen privaten Literaturzirkel, der sich wenig später dann als »Arbeitskreis Literatur und Lyrik Jena« im Kulturhaus in Jena-Neulobeda etablieren konnte. 27 Die unkonventionellen Lesungen und Themen 28 sowie die sich zunehmend exponierenden Mitglieder wie Lutz Rathenow 29 selbst, Jürgen Fuchs 30, Bernd Markowsky 31 oder Wolfgang Hinkeldey 32, zogen zum einen andere junge Künstler des Bezirkes Gera wie etwa Matthias Biskupek 33 an. Zum anderen erregte der Lesekreis zunehmend auch die Aufmerksamkeit parteilicher und geheimdienstlicher Stellen. Im Zusammenspiel von SED und MfS wurde der Lesekreis bereits 1975 wieder aufgelöst. Nachdem die Kulturszene ein offizielles Podium verloren hatte, wandten sich die künstlerisch und politisch interessierten jungen Menschen zunehmend an die Kirche, konkret an die Studentengemeinde Jenas. Einige bildeten später die Jenaer Friedensgemeinschaft. Zahlreiche Mitglieder der Gemeinschaft wurden 1983 nach einer Friedensdemonstration binnen 48 Stunden in die Bundesrepublik abgeschoben. 34 In ähnlich rigider Weise waren SED und MfS bereits in den Jahren 1976 und 1977 mit dem Schriftsteller Reiner Kunze umgegangen. Damals war Reiner Kunze sowohl mit der Kulturbürokratie als auch mit anderen staatlichen 26 »Kreisniveau« meint an dieser Stelle, dass kulturelle Highlights vor allem in der Bezirksstadt stattfinden und interessante und vor allem politisch engagierte Künstler sich eher dort niederlassen sollten. Lücke, Detlev: Zwischen Tradition und Moderne. In: Kaiser, Paul; Petzold Claudia: Bohemé und Diktatur in der DDR. Gruppen, Konflikte, Quartiere 1970–1989. Berlin 1997, S. 269–286. 27 Ebenda, S. 273 ff. 28 Detlev Lücke über die Themen des Jenaer »Arbeitskreises für Literatur und Lyrik«: »Besorgte Gesellschaftsdiagnose und wohlgemeinte Kritik, die nicht auf radikale und vollständige Abschaffung des Sozialismus gerichtet ist, sondern die Vermenschlichung seines Antlitzes will: Ausdruck einer kollektiven Utopie«. Ebenda, S. 273. 29 Lutz Rathenow, geboren 1952, Studium Germanistik und Geschichte an der FSU Jena, 1973–1975 Gründer des »Arbeitskreises Literatur und Lyrik Jena«, 1976 Protest gegen Biermann-Ausbürgerung, Verhaftung, Anfang 1977 Exmatrikulation von der FSU, seither freiberuflicher Autor. 30 Jürgen Fuchs, geboren 1950, 1971 Studium Sozialpsychologie an der FSU Jena, 1973 Arbeitskreis Literatur und Lyrik Jena, 1976 Verhaftung nach Protesten gegen Biermann-Ausbürgerung, 9 Monate Haft, 1977 Ausreise in die Bundesrepublik, 1999 gestorben. Vgl. Scheer, Udo: Jürgen Fuchs, ein literarischer Weg in die Opposition. Berlin 2007. 31 Bernd Markowsky, Mitarbeit im »Arbeitskreis Literatur und Lyrik Jena«, Fotograf. 32 Wolfgang Hinkeldey, geboren 1952, ursprünglich Elektriker, Mitarbeit im »Arbeitskreis Literatur und Lyrik Jena«, nach Protesten gegen Biermann-Ausbürgerung verhaftet. 33 Matthias Biskupek, geboren 1950, 1969–1973 Studium Technische Kybernetik an der TH Magdeburg, Besuch von Literaturzirkeln, 1973–1976 Systemanalytiker im Chemiefaserwerk Schwarza bei Rudolstadt, 1974/75 Mitglied im »Arbeitskreis Literatur und Lyrik Jena«, 1976 Dramaturg am Theater Rudolstadt, ab 1979 bis 1983 Dramaturg am Kabarett Fettnäppchen Gera, ab 1982 freiberuflicher Autor. 34 Vgl. Lücke: Zwischen Tradition und Moderne (Anm. 26), S. 276 sowie Scheer, Udo: Vision und Wirklichkeit. Die Opposition in Jena in den siebziger und achtziger Jahren. Forschungen zur DDRGesellschaft. Berlin 1999, S. 199 ff.
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Institutionen in einen solchen Konflikt geraten, dass er für sich und seine Familie einen Antrag auf ständige Ausreise in die Bundesrepublik stellte, den die Geraer Behörden innerhalb von drei Tagen genehmigten. 35 So versammelten sich auch im Bezirk Gera immer wieder Künstler, die sich nur schwer in das Bild der arbeiterlich geprägten Bezirkshauptstadt einfügen ließen. Die Absolventenklausel der Hochschulen und Universitäten der DDR verpflichtete die Studienabgänger dazu, die ersten drei Jahre ihres Arbeitslebens in einer Stadt oder Region zu verbringen, in denen sie dringend gebraucht wurden, in denen es unbesetzte Stellen gab, nicht selten deshalb, weil diese für Berufsanfänger weniger attraktiv waren. 36 Sie brachten in der Regel »frischen Wind« in die Regionen, zumal wenn es mehrere Absolventen einer Universität oder gar eines Faches waren. So kamen zum Beispiel 1975/76 mit dem Regisseur Klaus Fiedler eine Reihe von jungen Schauspielern an das Rudolstädter Theater, wo sie, angeleitet und unterstützt von ihrem Regisseur, aktuelle Probleme in neuen künstlerischen Formen auszudrücken versuchten.37 Mit einigen Produktionen wurden sie republikweit bekannt. 1977 erhielt Fiedler gar den Kunstpreis des Bezirkes Gera. Trotzdem rieben sich lokale Kulturfunktionäre schon bald an der unkonventionellen Art der Künstler und ihres Regisseurs, die sich nicht an Vorgaben zur Probenzeit oder an festgelegte Spielplanthemen hielten. Nach nur wenigen Jahren nahm der Regisseur ein anderes Engagement an. 38
2. Zur Kulturpolitik der SED in den 1970er und 1980er Jahren oder Die Aufkündigung der politischen Funktion von Kunst Nicht nur ehemalige SED-Funktionäre wie der bereits zitierte Hans Modrow betonten bis 1989 aber auch danach den besonderen Stellenwert von Kunst und Kultur für das Leben in der DDR. Auch in der Literaturwissenschaft und Geschichtsschrei-
35 Vgl. Kunze, Reiner: Deckname »Lyrik«. Eine Dokumentation. 3. Aufl., Frankfurt/M. 2003. 36 Wierling, Dorothee: Geboren im Jahr Eins. Berlin 2002, S. 358. 37 Vgl. 1. Interview mit Matthias Biskupek am 10.5.2006, Transkript, S. 3. Klaus Fiedler, geboren 1938, Ausbildung zum Kartografischen Zeichner, Arbeit als Bühnentechniker, Schauspielschule, Schauspieler, Theaterkarriere vom Regieassistent, Schauspielregisseur, Oberspielleiter zum Schauspieldirektor in Rudolstadt, 1977 Kunstpreis des Bezirkes Gera, ab 1979 Gastdozent an Schauspielschulen in der DDR, bis 1987 freier Regisseur, 1987–1989 Berufsverbot, seit 1990 Regisseur und Dozent. Vgl. http://www.klausfiedler.net/pageID_2915580.html [18.6.2009]. 38 Vgl. 1. Interview mit Matthias Biskupek am 10.5.2006, Transkript, S. 61 sowie die literarische Verarbeitung der Rudolstädter Ereignisse: Biskupek, Matthias: Eine moralische Anstalt. Roman mit richtigen Requisiten, letzten Vorhängen und Theaterblut. Berlin 2007.
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bung wurde immer wieder darauf verwiesen. 39 Der Terminus technicus »Sozialistische Kultur« orientierte sich vor allem an den Künsten, ungeachtet des Umstandes, dass in der Regel stets von »Kunst und Kultur« gesprochen wurde. Diese Paraphrase impliziert zwar Komplexität, doch im allgemeinen Verständnis wurden die Begriffe Kunst und Kultur von den Kulturfunktionären tendenziell synonym verwendet. So führte Kurt Hager 40 auf der 6. Tagung des ZK der SED im Juli 1972 Folgendes aus: »Die sozialistische Kultur schließt das gesamte intellektuelle, sittliche, ästhetische und emotionale Entwicklungsniveau der Menschen ein, die Gesamtheit seines Wissens, seiner Fähigkeiten, Talente, Verhaltensweisen, Einstellungen, Überzeugungen, seiner sozialen Gewohnheiten und Genüsse. Alle diese Momente werden in kulturellen Bedürfnissen zum Ausdruck gebracht. [...] Wir können weder auf die Entdeckungen der Wissenschaften noch auf die Entdeckungen der Künste verzichten. In der Kulturpolitik sollte es um die Förderung einer lebendigen, reichen und vielgestaltigen sozialistisch-realistischen Kunst gehen.« 41
Damit wurden die vorhandenen Distinktionen zwischen Kunst und Kultur sowie zwischen Kunst und Wissenschaften aufgehoben, und die für die Funktionäre nicht greifbaren Phänomene »Kunst« und »Wissenschaft« dazu gedrängt, vorrangig politisch-affirmative Funktionen auszufüllen. 42 Die SED-Kulturfunktionäre forderten und förderten vor allem jene Künstler, die in ihren Kunstwerken die Ideologie und den Herrschaftsanspruch der Partei legitimierten, die Massen im parteipolitischen Sinne mobilisierten und erzogen 43 sowie dem Ansehen der DDR im Ausland zuträglich sein konnten. Bis Mitte der 1960er Jahre hatten die Parteifunktionäre, allen voran Walter Ulbricht, der Kunst eine gewisse Achtung und Anerkennung entgegengebracht, weil sie sich von einer Kunst für Arbeiter eine Hebung des arbeiterlichen Bildungsniveaus 39 Vgl. hierzu stellvertretend Braun, Matthias: Kulturinsel und Machtinstrument. Die Akademie der Künste, die Partei und die Staatssicherheit. Göttingen 2007, S. 17. 40 Über Kurt Hager als ZK-Sekretär für die Kunst- und Kulturpolitik der SED vgl. Ackermann, Joachim: Der SED-Parteiapparat und die Bildende Kunst. In: Offner, Hannelore; Schroeder, Klaus (Hg.): Eingegrenzt – Ausgegrenzt. Bildende Kunst und Parteiherrschaft in der DDR 1961–1989. Berlin 2000, S. 15–87, hier 21 ff. 41 6. Tagung des ZK der SED vom 6. bis 7.7.1972; Kurt Hager »Zu Fragen der Kulturpolitik der SED«, Referat auf der 6. Tagung des ZK der SED, zit. nach: Hager, Kurt: Erinnerungen. Leipzig 1996, S. 323. 42 Göschel, Albrecht: Kontrast und Parallele – kulturelle und politische Identitätsbildung ostdeutscher Generationen. Stuttgart 1999, S. 23; Hammerthaler, Ralph: Die Positionen des Theaters in der DDR. In: Hasche, Christa u. a. (Hg.): Theater in der DDR. Chronik und Position. Berlin 1994, S. 151–261, hier 250 f.; Rehberg, Karl-Siegbert: Die verdrängte Abstraktion. Feind-Bilder im Kampfkonzept des »Sozialistischen Realismus«. In: Ders.; Kaiser, Paul (Hg.): Abstraktion im Staatssozialismus. Feindsetzungen und Freiräume im Kunstsystem der DDR. Weimar 2003, S. 15–67. 43 Göschel: Kontrast (Anm. 42); Emmerich, Wolfgang: Die Risiken des Dafürseins. Optionen und Illusionen der ostdeutschen literarischen Intelligenz 1945–1990. In: Hanuschek, Sven u. a. (Hg.): Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im Kalten Krieg. Tübingen 2000, S. 269–284, hier 279; Goeschen, Ulrike: Vom sozialistischen Realismus zur Kunst im Sozialismus. Die Rezeption der Moderne in Kunst und Kunstwissenschaft der DDR. Berlin 2001, S. 13 u. 15 ff.; Malycha, Andreas; Winters, Peter Jochen: Die SED. Geschichte einer deutschen Partei. München 2009, S. 243 ff.
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versprachen, 44 so wie sie es selbst in den 1920er Jahren in den Arbeiterbildungsvereinen erfahren hatten. Darauf und auf der von der Partei gehegten Erwartung, dass Künstler fortan Kunstwerke schufen, die dem angestrebten Staatsideal in der Art der künstlerischen Umsetzung eine zusätzliche politisch-ideologische Legitimation verliehen, basierte die soziale und gesellschaftliche Anerkennung der Künstler. Nachdem die »Kunst« im Rahmen des Bitterfelder Wegs als Produktivkraft entdeckt worden war, hatte auch sie ihren Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Dafür stand die von der SED praktizierte »Auftragskunst«, die den Kulturschaffenden in der Regel gute Verdienstmöglichkeiten bot. In dieser Weise sozial abgesichert und gesellschaftlich anerkannt fanden Künstler und Intellektuelle mit den Jahren Zeit und Muße, das von der SED vorgegebene Projekt »Sozialismus« weiterzudenken. In der Analyse und Reflektion dessen nahmen sie wahr, dass sich vor allem Forderungen nach sozialer Absicherung, die das sozialistische Projekt in der DDR lebenspraktisch bestimmt hatten, mit den Jahren erfüllt hatten. 45 Noch immer nahmen die Künstler an, dass es im Interesse der Partei läge, die »Produktivkraft Kunst« auch weiterhin für die Gesellschaft einzubringen. Deshalb gingen sie dazu über, in den Kunstwerken aufzuzeigen, dass sich die Idee »Sozialismus« veränderte, dass an die Stelle einstiger Bedürfnisse und Erwartungen neue traten. Diese zu formulieren wollten Künstler und Intellektuelle auch als Kritik, vor allem aber als einen Dienst für ihr Land, die DDR, verstanden wissen. 46 Die Parteiführung hingegen verharrte auf ihren Positionen. Auf ihren Machterhalt bedacht, ignorierten die führenden Funktionäre den Wandel von Projekten und Ideen. Aus der Erfahrung, eigene Interessen kämpferisch umzusetzen, schien es ihnen unmöglich, einen Dienst anzunehmen, den sie nicht explizit eingefordert hatten. So verwundert es kaum, dass sie die von den Künstlern und Intellektuellen angebotenen Dienste, die sie in ihrem Selbstverständnis eher zu verunsichern schienen, nicht würdigen konnten, wie es die Biermann-Ausbürgerung einmal mehr offenbarte. Nicht zuletzt deshalb verkamen seit Honeckers Machtübernahme Äußerungen zu »Kunst und Kultur« mehr und mehr zu inhaltsleeren Floskeln, begleitet von der weitgehenden Gleichgültigkeit des neuen Generalsekretärs der SED, Erich Honecker. 47 Ab Mitte der 1970er Jahre wurden kulturelle Aktivitäten vor allem in Form von Volks- und Heimatfesten organisiert, die auf große Resonanz in der Be44 Mittenzwei, Werner: Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945–2000. Berlin 2003, S. 264. 45 Dieser Forderungskatalog sozialer Absicherung konzentrierte sich auf das Recht auf Arbeit, womit eine konjunkturbedingte Arbeitslosigkeit ausgeschlossen wurde, auf bezahlbaren Wohnraum, auf medizinische und schulische Grundversorgung sowie auf geringe Lebenshaltungskosten. Die sich in der Bundesrepublik in ähnlicher Weise entwickelnde Grundversorgung und die daraus erwachsenden neuen Bedürfnisse und Möglichkeiten wurden in der DDR bewusst ausgeblendet oder als konsumorientierte Oberflächlichkeit abgetan. 46 Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. München 2009, S. 147 ff. 47 Mittenzwei: Die Intellektuellen. (Anm. 44).
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völkerung stießen, zum einen weil sie vom Staat großzügig materiell und ideell unterstützt wurden, 48 zum anderen, weil sie mehr auf Unterhaltung als auf Bildung abzielten. Als sich Anfang der 1980er Jahre zeigte, dass die jüngeren Künstler ebenfalls dem Ideal der Weggegangenen nachstrebten und gesellschaftliche Zustände, die ihnen kritikwürdig erschienen, aufzeigten und eine Besserung mehr oder weniger anmahnten, 49 erfuhr die Kulturpolitik der SED eine zur damaligen Zeit kaum wahrgenommene Neuerung. Fortan fielen an Künstler adressierte Kampagnen wie etwa der Bitterfelder Weg, die sie bis dahin zur gesellschaftlichen Mitarbeit aufgefordert hatten, weg. 50 Im Januar 1981 definierte Kurt Hager die Bedeutung von »Kunst und Kultur« in einer neuen Qualität. In der Akademie für Gesellschaftswissenschaften erklärte er, dass Kunst nicht länger für den »gesellschaftlichen Entwicklungszustand« zuständig sei. 51 Ausdrücklich betonte er, dass »ein Kunstwerk kein Lehrbuch« sei. Kunst solle unterhalten. Eine »einseitige Politisierung« lehnte Hager deshalb ab, weil Kunst nun zeitlos sei. Insgesamt argumentierte er recht behutsam und, wenn man so will, vor einem exklusiven Publikum. Er vermied den offenen Affront, indem er einräumte, dass Kunst in der DDR nicht gänzlich unpolitisch sein könne. Doch er machte unmissverständlich klar, dass Kunst kein politisches Programm in sich berge. »Aber man muss doch beachten, dass Kunst nur das ihr Gemäße leisten kann. Sie ist weder Wissenschaft noch Agitation, noch Propaganda.« 52 Diese Argumentation rüttelte an dem Grundverständnis, mithilfe der Kunst Menschen für das Projekt DDR zu mobilisieren. Dieses hatten sowohl die Genossen Funktionäre als auch die Künstler über Jahrzehnte verinnerlicht. Mit dieser Kehre in der Kulturpolitik der SED wurde den Künstlern zwar nicht ihr Betätigungsfeld als solches genommen. Sie büßten aber mit dieser Volte einen Teil ihres sozialen Status' ein, denn sie verloren ihre Bedeutung und damit ihre Bedeutsamkeit, nämlich ihr Prestige des anerkann48 Marina Moritz hob hervor, dass um 1975 »Volks- und Heimatfeste zum Objekt staatlich verordneter Kulturpolitik, von Staatspolitik schlechthin wurden«. Vgl. Moritz, Marina: Zur Rezeption volkskultureller Tradition in der DDR. Der Versuch einer vorläufigen Bilanz. In: Jahrbuch für Volksliedforschung. 36(1991), S. 13–17, hier 13. Vgl. auch BArch DR 101, 6; Referat des stellvertretenden Ministers für Kultur, Dr. Friedhelm Grabe, am 12.5.1986, Bl. 18; DR 1, 9409, Vorlage Nr. 50/81 für die Dienstbesprechung am 10.8.1981, Bl. 4. 49 »Seit dreißig Jahren gibt es keine das Leben materiell gefährdende Not mehr. Daraus folgt ein Motivationsverlust, der die Autorität des zivilisatorischen Apparates erschüttert, denn sie ist auf der Not aufgebaut. Die arbeitsteilig isolierten und spezialisierten Dienste, die dieser kannibalisch gebliebene Apparat aber fordert, lassen weder Notwendigkeit noch einen anderen menschlichen Sinn erkennen. Er steht zwar im Ganzen, zwischen der Not und den Menschen, zeigt sich aber, statt Mittel zu sein, zum Selbstzweck entfremdet.« Anderson, Sascha; Erb, Elke (Hg.): Berührung ist nur eine Randerscheinung. Neue Literatur aus der DDR. Köln 1985, S. 15. 50 Jäger, Manfred: Kultur und Politik in der DDR, 1945–1990. Köln 1994, S. 199; Mittenzwei: Intellektuelle (Anm. 44), S. 347. 51 Jäger: Kultur und Politik (Anm. 50); Hager, Kurt: Beiträge zur Kulturpolitik, Bd. 2. Berlin 1987, S. 191: »[...] eine einseitige Politisierung der Kunst wird es bestimmt nicht mehr geben, denn die Kunst weist Elemente auf, die in gewisser Hinsicht zeitlos sind.« 52 Hager: Beiträge (Anm. 51), S. 192.
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ten Partners für Partei und Staat. Gleichwohl kann Hager durchaus zugute gehalten werden, mit diesen Ausführungen Künstler vor allzu unbeweglichen, misstrauischen und somit überall Gefahr witternden Funktionären geschützt zu haben, indem er betonte, dass Kunst Kunst sei und kein politisches Programm. Einen Verbündeten besaß Hager dabei im Minister für Kultur. Hans-Joachim Hoffmann argumentierte im Februar 1983 in einer Beratung des Ausschusses für Kultur der Volkskammer der DDR ähnlich wie Hager. Hoffmann forderte vor allem, dass Kunst und Kultur andere Funktionen als Agitation und Propaganda zu erfüllen hätten. Vielmehr sollten sie Aufgaben der »Lebenshilfe« übernehmen. 53 Dabei schien er zumindest intuitiv um das den Kunstwerken innewohnende Potenzial zu wissen, das er geschickt als eine »Suche nach einer sozialistischen, kommunistischen Welt von morgen« interpretierte: »Literatur und Kunst haben mit ihren spezifischen Mitteln eine wesentliche Erkenntnisfunktion zu erfüllen […] Und sie treffen auch auf neue Generationen, für die die Fragen der älteren Generation schon keine Fragen mehr sind, sondern Selbstverständlichkeiten.« 54 Nun könnte an dieser Stelle eingewendet werden, dass der Kulturminister Hagers Linie umsetzen musste, weil die Partei die führende Rolle beansprucht und rigide durchgesetzt habe. Hoffmanns Wortwahl lässt das jedenfalls bezweifeln, zumal sich mehr und mehr die Erkenntnis durchsetzt, dass die Genossen in ihrem Meinungsspektrum vielfältiger und vor allem flexibler waren, 55 als bislang angenommen. Sollte die Kunst der SED in den 1950er und 1960er helfen, die Menschen für das als fremd empfundene Herrschaftssystem zu mobilisieren, so schien es, als betrachteten die Funktionäre diese Aufgabe in den folgenden Jahren als erfüllt. Jedenfalls vertrat Hager nun die Auffassung, dass Kunst sich neben den erzieherischen Funktionen vor allem auf ihre Unterhaltungsfunktion besinnen möge. Als »Transmissionsriemen« schienen »Kunst und Kultur« nicht mehr vonnöten, weshalb Hagers Volte durchaus als eine »Entpolitisierung« der Kunst interpretiert werden könnte. Vielleicht wollte er sich aber auch nur unliebsamer Unruhegeister entledigen.
3. Personenkonstellationen in Gera Es wurde lange überlegt, in welcher Weise das Geraer Personal vorgestellt werden könnte. Denkbar war eine Darstellung, die sich an den Hierarchien parteipolitischer Funktionen des Geraer Personals orientierte, oder eine generationenspezifischen 53 Vgl. Volkskammer der DDR, Stenografisches Protokoll, Beratung des Ausschusses für Kultur am 16./17.2.1983, Bl. 14 f.; BArch DA 1/15422. 54 Ebenda, Bl. 18. 55 Vgl. Port, Andrew I.: Die rätselhafte Stabilität der DDR. Arbeit und Alltag im sozialistischen Deutschland. Bonn 2010.
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Darstellung. Doch eine Einordnung in die Generationengefüge des 20. Jahrhunderts ist nicht leicht. 56 Das liegt vor allem daran, dass die Zuschreibungen zu einer Generation in der Regel nach den Geburtsjahren und/oder nach den Phasen erfolgen, in denen wichtige Sozialisationen stattgefunden haben. Die Forschung orientiert sich in diesen Zuschreibungen an der entwicklungspsychologischen Annahme der »Entwicklungsaufgaben«, die darin bestehen, dass »sich Kinder, Jugendliche und Erwachsene, Letztere bis ins Alter hinein, mit bestimmten kultur- und altersspezifischen Herausforderungen auseinanderzusetzen haben«. 57 Aus generationenspezifischer Sicht hätten wir es demnach mit Folgenden zu tun: Die führenden Parteifunktionäre des Bezirks, zu ihnen gehören Herbert Ziegenhahn 58 als 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Gera, Horst Pohl 59 als Oberbürgermeister Geras und August Paczulla 60 als Sekretär der Abteilung Wissenschaft, Volksbildung und Kultur der SED-Bezirksleitung, entstammen den Geburtsjahrgängen um 1920. Damit könnten sie den »Alten«, der »HJ-Generation« 61 bzw. der »AufbauGeneration« 62 zugeordnet werden. Die SED-Funktionäre der mittleren Ebene rekrutieren sich aus den Jahrgängen vor und nach 1940. Zu ihnen gehören Hans Kathe als Leiter der Abteilung Kultur des Rates des Bezirkes, seine beiden Mitarbeiter, Lothar Toepel und Gitta Heil, der stellvertretende Intendant der Städtischen Bühnen, Eberhard Kneipel, der Schauspieldirektor Dietrich Kunze, der Leiter des Puppentheaters Erhard Oestreich, die Oberspielleiterin des Puppentheaters Ingrid Fischer sowie Konrad Gosewinkel 63 als Mitarbeiter von August Paczulla. Ahbe und Gries zufolge handelt es sich bei den Genannten um Vertreter der »funktionierenden Generation« 64, die aktiv die »Aufbau-Generation« in der DDR unterstützte. Sie können aber auch als »Kriegskin-
56 Fulbrook, Mary: Generation und Kohorten in der DDR. Protagonisten und Widersacher des DDRSystems aus der Perspektive biographischer Daten. In: Schüle, Annegret u. a. (Hg.): Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive: Eine Inventur. Leipzig 2006, S. 113–130, hier 115. 57 Ahbe, Thomas: Deutsche Generationen nach 1945. In: APuZ 03/2007, S. 1–11, hier 1. 58 Herbert Ziegenhahn (1921–1993). 59 Horst Pohl, geboren 1923, lebt in Gera. 60 August Paczulla (1926–1998). 61 Mestrup: Alltag (Anm. 7), S. 210. Alexander von Plato rechnet alle zwischen 1919 und 1931 Geborenen der HJ-Generation zu. (von Plato, Alexander: The Hitler Youth generation and its role in the post-war German states. In: Roseman, Mark (Hg.): Generations in Conflict. Youth Revolt and Generation Formation in Modern Germany 1770–1968. Cambridge 1995, S. 210–226, hier 211). Rolf Schörken hingegen bezeichnet die Mitglieder dieser Jahrgänge als 45er-Generation, deren »Schlüssel-Erlebnis« im Zusammenbruch des Dritten Reichs liege. (Schörken, Rolf: Die Niederlage als Generationserfahrung Jugendlicher nach dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft. Weinheim u. a. 2004). 62 Ahbe, Thomas; Gries, Rainer: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte. Theoretische und methodische Überlegungen am Beispiel der DDR. In: Schüle: DDR (Anm 56), S. 475–571 u. 520 ff. 63 Der Name wurde aus datenschutzrechtlichen Gründen pseudonymisiert. 64 Ahbe, Thomas; Gries, Rainer: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte. Theoretische und methodische Überlegungen am Beispiel der DDR (Anm 56), S. 522.
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der« 65 oder als »Kinder des Dritten Reiches« 66 bezeichnet werden, haben sie doch den Krieg mittel- und unmittelbar erlebt und nicht selten einen Elternteil dabei verloren. Nicht selten verloren sie darüber hinaus ihre Heimat, womit einige von ihnen auch als »Vertriebene« gelten können. Zu guter Letzt sind da die Künstler, die nach dem Krieg geboren wurden. Dorothee Wierling bezeichnet die Jahrgänge nach 1949 als »Generation Eins« 67, Mary Fulbrook als »erste FDJ-Generation«. 68 Ahbe und Gries zufolge können sie auch als Vertreter der »Integrierten Generation« 69 bezeichnet werden. Ihnen ist gemeinsam, dass sie mit dem Versprechen ihrer Eltern aufwuchsen, dass es ihnen besser gehen sollte und dass sie den Krieg nur aus den elterlichen Erzählungen her kennenlernen werden. In Gera gebärdeten sich vor allem die jungen Künstler, zu denen Stephan Krawczyk, Kay Frotscher, Herbert Mitschke, Martin Morgner, Astrid Griesbach und Peter Müller zählen, nicht selten als »Junge Wilde«, was ebenfalls als Generationenzuschreibung dienen könnte. Aufgrund der hier nur kurz skizzierten Schwierigkeiten in der Generationenbezeichnung entschieden wir uns, das Geraer Personal nach seiner Berufszugehörigkeit und nach seinen Interessenslagen vorzustellen. Dabei unterscheiden wir zwischen den lokalen SED-Politikern, den SED-Kulturfunktionären der mittleren Verwaltungsebene sowie zwischen den Künstlern, die innerhalb ihrer Kultureinrichtung Leitungsfunktionen übernommen, und denjenigen, die sich gerade diesen gegenüber verweigert hatten.
3.1 »Ich hab gemacht, was man mir sagte.« – Führende Bezirksfunktionäre und ihre Kulturpolitik Die »Ersten« im Bezirk Gera Im Januar 1963 hatte Herbert Ziegenhahn die Funktion des 1. Sekretärs der SEDBezirksleitung Gera übernommen. Gemeinsam mit ihm trat auch Horst Pohl sein Amt als Geraer Oberbürgermeister an. Beide übten ihre Leitungstätigkeit bis Ende der 1980er Jahre aus. Pohl übergab sein Amt 1988 an Horst Jäger, während Ziegenhahn erst im Herbst 1989 zurücktrat. 65 Bode, Sabine: Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen. 12. Aufl., München u. a. 2009. 66 Fulbrook: Generationen (Anm. 56), S. 115 f. 67 Wierling, Dorothee: Wie (er)findet man eine Generation? Das Beispiel des Geburtsjahrganges 1949 in der DDR. In: Reulecke, Jürgen (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert. Oldenburg 2003, S. 217–228, hier 225 f. 68 Fulbrook: Generation (Anm. 56), S. 126. 69 Ahbe; Gries: Gesellschaftsgeschichte (Anm. 62) S. 532.
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Beide waren um 1920 geboren und hatten vor ihrem Kriegseinsatz eine berufliche Ausbildung abgeschlossen, Ziegenhahn als Maurer, Pohl als Industriekaufmann. Beide waren in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten und hatten dort die AntifaSchule besucht. Damit war der Grundstein für ihre spätere Parteikarriere gelegt. Es folgte der Eintritt in die KPD bzw. SED. Pohl wurde in der Antifa-Schule Mitglied der KPD und trat 1947 in die SED ein. Ziegenhahns Parteieintritt erfolgte 1949. Nach ihrer Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft übernahmen sie Aufgaben im öffentlichen Leben der sowjetischen Besatzungszone bzw. im neu gegründeten Staat DDR: Ziegenhahn wurde 1949 erst Gemeindevertreter und wenig später Bürgermeister seiner Heimatstadt Dankerode im Harz. Pohl, ursprünglich in Breslau beheimatet, folgte 1948 seiner Frau nach Eisenberg und übernahm dort bald leitende Funktionen in einer Ziegelei. In seinen Erinnerungen an diese Zeit betonte er, dass er sich nach dem Leitungsposten der Ziegelei nicht gedrängt habe, sondern er ihm vielmehr von der Partei angetragen worden sei, nachdem der Ziegeleibesitzer seinen Wohnsitz in eine der westlichen Besatzungszonen verlegt hatte.70 Der weitere Aufstieg beider Funktionäre verlief geradlinig: Ziegenhahn wurde 1952 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Quedlinburgs, während Pohl den Stillstand der Produktion während des Arbeiteraufstands vom 17. Juni 1953 dazu nutzte, die eigene Produktion in der vom ihm kommissarisch geleiteten Ziegelei voranzubringen. Dies tat er jedoch weniger aus parteipolitischen Motiven, als vielmehr aus dem Ehrgeiz, die Ziegelei gewinnbringend zu führen. 71 Damit wurden seine Parteifunktionäre auf ihn aufmerksam. Noch im gleichen Jahr übertrugen sie ihm das Amt des Eisenberger Bürgermeisters. 1955 stieg er zum Vorsitzenden des Rates des Kreises Rudolstadt auf. Ziegenhahn und Pohl waren in parteipolitischen Fragen zunächst nur mäßig qualifiziert. Für höhere Aufgaben bedurfte es einer zusätzlichen Schulung. Während Ziegenhahn ein Fernstudium zum Diplomgesellschaftswissenschaftler an der Parteihochschule abschloss, wurde Pohl zwischen 1958 und 1962 zum Direktstudium an die Parteihochschule »Karl Marx« delegiert. Darauf war Pohl sehr stolz, bedeutete es für ihn doch eine besondere Anerkennung seiner Leistung. Er konnte sich auf Staatskosten weiterbilden, eine Möglichkeit, von der der vaterlos aufgewachsene Pohl kaum zu träumen gewagt hatte. 72 1962 warteten neue Parteiaufträge auf die beiden Parteisoldaten: Pohl sollte als Parteisekretär nach Pößneck wechseln. Mit dieser in Aussicht gestellten Funktion in höchstem Maße unglücklich, nahm er das »Ausweichangebot« an, als Oberbürgermeister nach Gera zu gehen. Beide Positionen waren für ihn keine Wunschpositio70 Vgl. Interview mit Horst Pohl am 11.4.2007, Transkript, S. 12. 71 In einer anderen Darstellung zu Pohl heißt es bezogen auf die Ereignisse des 17.6.1953: »Es entsprach seiner Auffassung (gemeint ist Horst Pohl – JvL), dass die Versorgung der Bevölkerung und der Wirtschaft Vorrang in seiner Tätigkeit als Betriebsleiter hatte.« Domkowsky, Günter: Oberbürgermeister der Stadt Gera. Begebenheiten – Anekdoten – Wissenswertes. Gera 2007, S. 48. 72 Interview mit Horst Pohl am 11.4.2007, Transkript, S. 16.
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nen; er wollte lieber nach Rudolstadt zurück. 73 Da er sich nicht als Parteisekretär sah, nahm er den Oberbürgermeisterposten an, hatte er doch bereits vor der Parteischule kommunalpolitische Erfahrungen gesammelt. Gera bedeutete in dieser Hinsicht ein Stück Kontinuität und eine »enorme Herausforderung«. 74 Die hier skizzierten politischen Berufsbiografien von Herbert Ziegenhahn und Horst Pohl korrespondieren mit der von Mario Niemann erstellten Kollektivbiografie der Sekretäre der SED-Bezirksleitungen. Zu den biografischen Gemeinsamkeiten der Jahrgänge der um 1920 geborenen späteren KPD/SED-Mitglieder gehören ihre Sozialisation vor und während des Kriegs, die Antifa-Schulen der sowjetischen Kriegsgefangenschaft 75 sowie der verhältnismäßig rasche Ämterwechsel bis Anfang der 1960er, sodass die Funktionäre meist nur wenige Jahre die ihnen übertragenen Funktionen ausfüllen konnten. Erst nach Abschluss der Parteihochschule, die die Funktionäre ab 1955 mit dem Diplom als Gesellschaftswissenschaftler abschlossen, zog Kontinuität in die Ämter ein. Jedoch kehrten wohl nur die wenigsten in die einstigen Funktionen zurück. Meist wurden sie innerhalb der Nomenklatur mit neuen Funktionen betraut. 76 Ob Kunst und Kultur eine besondere, im Sinne einer über das Amt hinausgehenden Rolle für den 1. Sekretär gespielt hatte, muss dahingestellt bleiben. Sein Interesse lag vor allem in der Anerkennung durch führende Funktionäre seiner Partei. 77 So führte einer seiner damaligen Mitarbeiter, auf Ziegenhahn angesprochen, spontan aus: »Wir wollten immer […] ins Politbüro.« 78 Damit wird deutlich, dass der BezirksErste keineswegs ein willen- oder zielloser Funktionär war. Doch kulturpolitische Fragen schienen eine wenn nicht unter- so doch nebengeordnete Rolle im politischen Alltagsgeschäft zu spielen. 79 Außerdem verdeutlicht dieser Satz, der im Inter-
73 Ebenda, S. 18. 74 Ebenda. 75 Antifa-Schulen wurden ab 1942/43 in sowjetischen Kriegsgefangenenlagern eingerichtet, um gefangen genommene deutsche Soldaten zu Antifaschisten umzuerziehen. Vgl. Morré, Jörg: Hinter den Kulissen des Nationalkomitees: Das Institut 99 in Moskau und die Deutschlandpolitik der UdSSR 1943–1946. München 2001, S. 117 ff.; Foitzik, Jan: Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) 1945– 1949. Berlin 1999, S. 195 ff. 76 Vgl. Niemann: Sekretäre (Anm. 15), S. 373 u. 377; Bauerkämper, Arnd: Die Sozialgeschichte der DDR. München 2005, S. 40 ff.; Zimmermann, Hartmut: Überlegungen zur Geschichte der Kader und der Kaderpolitik in der SBZ/DDR. In: Kaelble, Hartmut u. a. (Hg.): Sozialgeschichte der DDR. Stuttgart 1994, S. 322–356, hier 324 f. 77 Vgl. zur Position der »Ersten« in den Bezirken Mestrup, Heinz; Gebauer, Ronald: Die Thüringer Bezirke und ihre Ersten Sekretäre. In: Richter, Michael; Schaarschmidt, Thomas (Hg.): Länder, Gaue und Bezirke. Mitteldeutschland im 20. Jahrhundert. Halle 2007, S. 191–212; Rowell, Jay: Der Erste Bezirkssekretär: Zur Scharnierfunktion der »Bezirksfürsten« zwischen Zentrum und Peripherie. In: Richter; Schaarschmidt: Länder, S. 213–230. 78 Interview mit Horst Jäger am 4.4.2007, Transkript, S. 22. 79 Vgl. hierzu auch Scherzer, Landolf: Der Erste. 2. Aufl., Berlin 1997.
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viewzusammenhang reflexartig geäußert wurde, die hohe Identifikation der Parteigenossen mit den Wünschen und Anliegen Ziegenhahns. Ungeachtet dessen erhielt der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Gera regelmäßig Berichte über kulturelle Ereignisse im Bezirk. Inwieweit Ziegenhahn diese las, muss ebenso dahingestellt bleiben wie die Frage, ob er über den jeweils aktuellen kulturpolitischen Kurs der Berliner Zentrale informiert war. Auf einer Bezirksaktivtagung im Mai 1983 zur Vorbereitung der 20. Arbeiterfestspiele 1984 jedenfalls bezog er sich ausdrücklich auf eine Kulturtagung der KPD vom Februar 1946. 80 Die darin definierten zweckgebundenen Aufgaben der Kunst und Kultur unterstrichen das an praktischen Lebensfragen orientierte Weltbild der Funktionäre, das sich wiederum mit dem »Bildungsstreben der frühen sozialistischen Bewegung« verbunden hatte. Viele Kommunisten kannten die »Standards der bürgerlichen Kultur« und hatten sich deren »Hochkultur« angeeignet. 81 Auch wenn die beiden hier genannten ehemaligen Funktionäre diese Erfahrungen aufgrund ihres Alters noch nicht gemacht hatten, wurden ihnen diese Ansichten in den erwähnten Parteischulungen doch vermittelt. Vielleicht basierte die allgemeine Unsicherheit über die jeweils aktuelle kulturpolitische Linie der eigenen Partei auf diesem Mangel an Erfahrung. In der Wortwahl schwingt zudem der Reflex auf den sozialistischen Realismus in Kunst und Kultur mit, wie er 1946 in der Sowjetunion und ab 1951 dann auch in der DDR umgesetzt wurde. Shdanow und später Semjonow hatten sich gegen Dekadenz und Formalismus der bürgerlichen Kultur gewandt und ihr vorgeworfen, keine »große volksverbundene« Kunst mehr hervorzubringen und sich der offensichtlichen Verständigung zu entziehen. In der Folge wurde auf das Erbe der Klassik gesetzt, das dann im »sozialistischen Realismus« seine Fortsetzung fand. 82 Vielleicht, so kann vermutet werden, hatten die Funktionäre ab den 1970er Jahren, mit der zunehmenden außenpolitischen Anerkennung der DDR, ihre ursprünglichen Ideen aus dem Blick verloren. Vielleicht waren ihnen die Ideen abhanden gekommen, 83 womit der Rückgriff auf ursprüngliche Direktiven ebenso erklärbar wird. Ziegenhahn jedenfalls beschwor im Januar 1985 die Geraer Genossen aus Kunst und Kultur »mit den Mitteln von Kunst und Kultur noch nachhaltiger sozialistische Überzeugungen und Verhaltensweisen [auszuprägen], die entscheidend auf die Erhöhung des Leistungsbeitrages
80 Vgl. Judt, Matthias (Hg.): DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse. Berlin 1998, S. 295. 81 Vgl. Dietrich, Gerd: Zwischen Klassikmythos und Proletkult. Zur Kulturpolitik der KPD 1945/46. In: UTOPIE kreativ (1996)64, S. 71–76, hier 72; Rehberg, Karl-Siegbert: Verdrängte Abstraktion. Feindsetzung und Freiräume im Kunstsystem der DDR. Weimar 2003, S. 27 f. 82 Mittenzwei: Intellektuelle (Anm. 44), S. 86. 83 Vgl. van Laak; Leo: Erinnerungen (Anm. 1), S. 1067.
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wirken, Werte und Ideale des Sozialismus [zu] vermitteln, die immer stärker Denken, Fühlen und Handeln bestimmen, Freude, Optimismus und Wohlbefinden fördern«. 84
Am Ende des Gesprächs erinnerte der 1. Sekretär die Künstler an ihre ursprüngliche Aufgabe: »Stärker gilt es, mit den Mitteln von Kunst und Kultur die Menschen anzusprechen, sie zu motivieren und zu begeistern.« 85 So enthusiastisch dies klingen mag, so hilflos wirkt es, wenn man bedenkt, dass solche Beschwörungsformeln kaum als etwas anderes wahrgenommen wurden. Dass Ziegenhahn in diesen Reden lediglich die Ansichten seiner ihm zuarbeitenden Genossen wiedergab, kann ausgeschlossen werden, denn einer seiner früheren Mitarbeiter erzählte, dass Ziegenhahn seine Redenschreiber erst dann aus ihrer Pflicht entließ, wenn er inhaltlich mit dem zufrieden war, was sie geschrieben hatten. 86 Bilddokumentationen zu kulturpolitischen Höhepunkten wie den 20. Arbeiterfestspielen oder der 750-Jahr-Feier Geras zeigen jedenfalls einen 1. Sekretär der SEDBezirksleitung, der seine Gäste stolz durch die Stadt führt und auf das Erreichte verweist. 87 Zudem ist er des Öfteren in der ersten Reihe von kulturellen Massenveranstaltungen zu sehen, auf denen meist Volkskunst dargeboten wurde. Damit kam er zum einen seiner repräsentativen Funktion und zum anderen vermutlich auch seinen Interessen nach. Dass diese eher im Volkskunstbereich lagen, bestätigen ehemalige Mitarbeiter der SED-Bezirksleitung. Einer dieser Mitarbeiter erzählte, dass sich Ziegenhahn zu Jahresabschlussveranstaltungen der SED-Bezirksleitung meist den FDJ-Singeklub, Laien-Tanzgruppen oder einen ihm genehmen Kabarettisten für das Kulturprogramm wünschte. Jeder neue Programmpunkt wurde mit einem kleinen Tusch angekündigt. Beendet wurden diese Veranstaltungen mit dem Volkslied »Muss i' denn, muss i' denn, zum Städtele hinaus«. War das Lied beendet, verließ der »Erste« die Feier. Seine Mitarbeiter glaubten, es ihm gleichtun zu müssen und gingen ebenfalls auseinander. Ein Weiterfeiern ohne den »Ersten« schien ihnen undenkbar. 88 Kann aus einem solchermaßen beschriebenen Kulturprogramm ein Kunstverständnis abgelesen werden? Wenn Ziegenhahn sich für ein solches entschied, wollte auch 84 ThStA Rudolstadt, SED-BPA Gera A 8703, Bl. 2. 85 Ebenda, Bl. 5. 86 Horst Jäger: »Und nichts war schlimmer, als wenn Herbert auf dem Plenum des Zentralkomitees sprechen musste. Da haben wir tagelang Reden geschrieben, Reden geschrieben, Reden geschrieben.« Interview mit Horst Jäger am 4.4.2007, Tranksript, S. 22. 87 Dies korrespondiert mit den Erkenntnissen Albrecht Göschels über das Kunstverständnis von Altfunktionären, die hauptsächlich auf symbolische Produkte abhoben, die sich für ihre Sache vereinnahmen ließen. »Kunst bleibt daher beschränkt auf eher äußerliche, dekorative oder explizit affirmative Zwecke, sie bleibt Zierrat, Fassade oder Kulisse«. Vgl. Göschel: Kontrast (Anm. 42), S. 61. 88 Interview mit Gosewinkel am 17.1.2008, Transkript, S. 65 f.
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er unterhalten werden: ein bisschen Singeklub, dessen Repertoire einstige Kampfaufträge besang, ein bisschen Tanz, Volkslieder – kurz: etwas Bekanntes und vielleicht »Hübsches« für Auge und Ohr. 89 Der frühere Oberbürgermeister, Horst Pohl, machte aus seinem persönlichen Interesse für Kunst und Kultur kein Hehl. So erzählte er, dass er in der sowjetischen Kriegsgefangenschaft dem Lagerchor beigetreten war. Als Parteischüler nutzte er die Gelegenheit für Theaterbesuche in der Hauptstadt. Seine Abschlussarbeit an der Parteihochschule wollte er ursprünglich zur Ring-Parabel Lessings vorlegen, musste dieses Vorhaben jedoch zugunsten eines erneuten Parteiauftrags zurückstellen. Als Oberbürgermeister blieb ihm dann nicht mehr viel Zeit für Kunst und Kultur. Trotzdem nahm er sein Theateranrecht wahr und ermunterte auch seine Mitarbeiter zu regelmäßigen Theaterbesuchen. Dies verstand er nicht nur als Pflicht. Darüber hinaus war es »schön«, Beethovens »Neunte« am Silvesterabend zu hören. Nicht zuletzt machte es einen guten Eindruck, der Theaterpremiere beizuwohnen, auch wenn er einem Stück wie »Einer flog über das Kuckucksnest« inhaltlich nichts abgewinnen konnte. Diese Aussagen korrespondieren mit den Ausführungen von Siegfried Lorenz, 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Chemnitz: »Und es gehörte für uns immer zu einer schönen Gewohnheit, ins Theater zu gehen oder Konzerte zu besuchen, uns mit Künstlern zu treffen.« 90 Damit scheint es, als hätten führende SED-Funktionäre im lokalen Raum zunehmend bürgerliche Verhaltensweisen wie Theater-, Konzert- oder Ausstellungsbesuche übernommen. Der Oberbürgermeister und sein Amtsnachfolger, Horst Jäger,91 nahmen vor allem diejenigen Kunstprojekte ernst, von denen sie den Eindruck hatten, dass sie in ihrer Umsetzung für die Ideale des Sozialismus warben. Sie verstanden sich als Förderer von Kunst und Kultur und vertraten damit in gewisser Weise ein parteiliches Mäzenatentum. Sie gefielen sich in der Haltung des Gönners. Zu den kulturellen Höhepunkten für den 1988 aus dem Amt scheidenden Oberbürgermeister Pohl gehörten die 20. Arbeiterfestspiele 1984 und die 750-Jahr-Feier Geras 1987, die sich am großen Vorbild Berlin orientierte. 92 Horst Jäger übernahm 1988 das Amt des Oberbürgermeisters. Der 1940 Geborene wurde zunächst Lehrer für Mathematik und Physik, bald stellvertretender und dann Schuldirektor. Im Anschluss daran folgte die Ernennung zum Stadtschulrat und Anfang der 1980er Jahre schließlich die Ernennung zum Sekretär für Wissen89 So hatte sich Ziegenhahn etwa 1986 eine Mädchenband gewünscht, die jedoch nur sehr zögerlich zustande kam und deren Mitstreiterinnen oft wechselten. Vgl. ThStA Rudolstadt, SED-BPA Gera, Nr. A 8703, Interview mit Herbert Mitschke am 15.8.2006. 90 Lorenz, Siegfried: Die Faust leider nur in der Tasche. In: Zimmermann, Brigitte; Schütt, HansDieter: Ohnmacht. DDR-Funktionäre sagen aus. Berlin 1992, S. 144–158, hier 152. 91 Horst Jäger besuchte die Parteihochschule zwischen 1983 und 1987 und schrieb seine Abschlussarbeit über den Geraer Verband Bildender Künstler. Hierzu und infolge: Interview mit Horst Jäger am 4.4.2007. 92 Domkowsky: Oberbürgermeister (Anm. 71), S. 49.
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schaft, Volksbildung und Kultur bei der SED-Kreisleitung Gera. In dieser Funktion etablierte Jäger die »Sammlung Handzeichnungen der DDR« im Bezirk Gera. 93 Hierfür gewann er Betriebe und Kombinate, die Handzeichnungen bekannter Maler und Grafiker aufkauften. Auf die Aufstellung von verschiedenen Plastiken im Stadtgebiet Gera war und ist er stolz. Kunst diente ihm vor allem als schmückendes Beiwerk, das die Parteilinie unterstreichen und illustrieren sollte. Nach 1989/90 übernahm er den Aufbau von Druckereien westdeutscher Großverlage in Ostthüringen. Die »Ersten« hatten, wie bereits angedeutet, in ihrer Stadt ganz andere Aufgaben – vordringlich kommunalpolitische – zu bewältigen, als sich ein differenziertes Kunst- und Kulturverständnis anzueignen und darüber zu reflektieren. »Kunst und Kultur« diente ihnen vor allem zur Unterhaltung und zur Entspannung. Sie sollten vor allem »schön« sein. »Kein Sektierertum zulassen!« – Die Kulturfunktionäre der SED-Bezirksleitung Zu den Kulturfunktionären der mittleren Verwaltungsebene gehören die Sekretäre für Wissenschaft, Volksbildung und Kultur der SED-Bezirksleitungen und deren Mitarbeiter, der Leiter der Abteilung Kultur des Rates des Bezirkes und seine Mitarbeiter sowie der Stadtrat für Kultur. Die drei genannten Abteilungen waren angehalten, das kulturelle Leben im Bezirk Gera und konkret in der Bezirkshauptstadt zu koordinieren und zu gestalten. Es wurde bereits ausgeführt, dass die uns bekannten, dem 1. Sekretär der SEDBezirksleitung zuarbeitenden Kulturfunktionäre an der kulturpolitischen Linie der 1950er und 1960er Jahre festhielten. Daran schienen auch die halbjährlich stattfindenden Schulungen durch die obersten Kulturfunktionäre der Partei nichts zu ändern. Nach dem X. Parteitag versuchte sich Kurt Hager im Januar 1982 an der weiteren Vermittlung seiner »liberaleren« Kunstansichten. 94 Doch schienen die Geraer Kulturfunktionäre ihren Berliner Chef zunächst nicht zu verstehen. Die erhaltenen Notizen vermitteln stattdessen, dass die zentrale Kulturpolitik beizubehalten sei, dass Kunst und Kultur nach wie vor als Mittel zum Zweck verstanden würde. August Paczulla, Sekretär für Wissenschaft, Volksbildung und Kultur bei der SED-Bezirksleitung, hielt unter dem Punkt »Literatur und Kunst« als Erstes fest: »Sind Waffen im Friedenskampf, die genutzt werden müssen«, weiter unten heißt es: »Es kommt darauf an, die Kultur unserer Zeit zu gestalten. Entdeckungsfunktion 93 Vgl. Ebenda, S. 50 sowie Gillen, Eckhardt; Haarmann, Rainer (Hg.): Kunst in der DDR. Berlin 1990, S. 455. 94 ThStA Rudolstadt, BL der SED Gera, Nr. A 8228. Bei dieser Quelle handelt es sich um eine stichpunktartige Mitschrift der Beratung zwischen Kurt Hager und den Sekretären für Wissenschaft, Volksbildung und Kultur der SED-Bezirksleitungen durch August Paczulla, der diese Funktion für die SED-Bezirksleitung Gera bekleidete. An dieser Stelle kann also nicht ausgeführt werden, was Kurt Hager tatsächlich gesagt hatte. Hierüber können nur Rückschlüsse aus dem gezogen werden, was Paczulla von dem Gesagten für notierenswert gehalten hatte.
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der Literatur muss sich auf die Arbeiterklasse und den Alltagsheroismus vieler Werktätigen orientieren.« 95 In der Diskussion wurde die herkömmliche Kunst- und Kulturauffassung unter anderem durch Egon Krenz noch einmal unterstrichen, der die Erziehungsfunktion von Kunst betonte. 96 Auch für Hager wird offensichtlich gewesen sein, dass die Kulturfunktionäre die bisherigen Kunst-Auffassungen nicht so einfach aufgaben. Deshalb plädierte er in seinen Schlussbemerkungen behutsam, aber hartnäckig für (s)ein »liberaleres« Kunstverständnis. Paczulla kam am Ende seiner Aufzeichnungen nicht umhin festzuhalten: »Jede Enge und Einschränkung z. B. auf politisches Theater usw. vermeiden. […] Über Funktion von Literatur und Kunst, Werte des Lebens sprechen. Ideelle Funktionen der Kunst beachten. […] Spezifische Möglichkeiten jedes Genres nutzen und mit neuen Formen verbinden. Nicht alles und jedes politisieren.« 97
Und jungen Künstlern wurde zugestanden: »Jawohl, sie haben ein Recht, unvernünftig zu sein.« 98 Im gleichen Atemzug wurden erfahrene SED-Funktionäre zur Kontrolle der Jüngeren abgeordnet. Dieses Lavieren und Taktieren zwischen größeren Spielräumen und altem Kontrollanspruch offenbart einmal mehr, wie schwer ein anderer kulturpolitischer Kurs umzusetzen war. Auch Ursula Ragwitz, Hagers Stellvertreterin, plädierte dafür, sich der Kunst gegenüber zu öffnen. Sie wählte hierfür den den Genossen bekannten Parteijargon. 99 So hielt Paczulla im Februar 1982 in Bezug auf den Komponistenverband der DDR fest: »Kein Sektierertum zulassen!« 100 Unklar muss an dieser Stelle bleiben, ob sich Ragwitz damit auf die Linie Hagers begab, zumindest die Wortwahl lässt hieran Zweifel. Zwar forderte sie von den Funktionären, dass sie die Parteilinie mittrügen und räumte selbstkritisch ein, dass die nachwachsende Generation andere Grunderlebnisse habe als die »alte Garde«: »Haben die jungen Leute oftmals wie im Reservat behandelt.« Doch statt einer Öffnung dieser »Reservate« bestärkte sie die »Alten« darin, ihrem Erziehungsauftrag nachzukommen: »Es gilt einfach mehr von ihnen [den Jungen – JvL] abzufordern und strengere Maßstäbe anzulegen.« 101 Ob sie mit dieser Vorgabe jedoch dazu beitrug, den »Jüngeren« gegenüber milder und nachsichtiger zu urteilen, sei dahingestellt. Statt wie bisher auf die politische Funktion der Kunst abzuheben, konzentrierten sich Ragwitz' Ausführungen auf die Betonung der Massenmobilisierung, die Kunst und Kultur nun leisten sollten. Somit kamen die 95 Ebenda, Bl. 7. Hervorhebungen im Original. 96 »Kunst und Kultur haben große Bedeutung für kommunistische Erziehung im breitesten Sinne.« Ebenda, Bl. 14. 97 Ebenda, Bl. 16. 98 Ebenda, Bl. 18. 99 ThStA Rudolstadt, BL der SED Gera, Nr. A 8228. Hierbei handelt es sich um eine weitere stichpunktartige Mitschrift der genannten Beratung durch Paczulla oder einen seiner Mitarbeiter. 100 Ebenda, Bl. 2. Hervorhebung im Original. 101 Ebenda, Bl. 3 f.
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Kulturfunktionäre nicht umhin, die Aufgaben von Kunst und Kultur zu erweitern: »Neue Formen und Methoden entwickeln: Angebotsmesse, Musenmarkt, Jahreskulturpläne in den Territorien fördern u. a.« 102 Sie sollten vor allem der Unterhaltung und der Zerstreuung dienen. Ob die Geraer Kulturfunktionäre der SED-Bezirksleitung verstanden, dass nach wie vor ein kulturpolitischer Zick-Zack-Kurs zu beschreiten war? »Kein Sektierertum zulassen« bedeutete schließlich nichts anderes, als der Bevölkerung und damit auch den Künstlern entgegenzukommen, sich kooperativ und verständnisvoll in Auseinandersetzungen jeglicher Art zu geben. 103 Leicht wird das den Geraer Funktionären nicht gefallen sein, wenn man sich der Auseinandersetzung mit Reiner Kunze in den 1970er Jahren erinnert. Reiner Kunze war damals vor allem für sein Buch »Die wunderbaren Jahre«, das 1976 in der Bundesrepublik erschienen war, von der offiziellen Kulturbürokratie angefeindet worden, was im Oktober 1976 schließlich zu seinem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband der DDR und 1977 zu seiner Ausreise in die Bundesrepublik geführt hatte. 104 Auch in den 1980er Jahren waren die Geraer Kulturfunktionäre nicht an »Jenaer Zuständen« interessiert, mit denen sie den Lesekreis von Lutz Rathenow und Jürgen Fuchs und später die Aktionen der Jenaer Jungen Gemeinde in Zusammenhang brachten. Zudem kann konstatiert werden, dass Paczulla selbst einem politischinstrumentellen Kunst- und Kulturverständnis anhing. 105 So erwartete Paczulla im März 1986 von den Geraer Künstlerverbänden »Bücher, Theaterstücke, Hörspiele, Bilder, Kabarettszenen, neue Programme der Unterhaltungskunst, die mit ihren Mitteln die historische Bedeutung des Sozialismus als dem einzigen Weg zur Lösung der Menschheitsprobleme bewusst machen, indem sie seine Werte, seine Errungenschaften und Ideale, seine Leistungen und noch zu lösenden Probleme verdeutlichen. […] Wir brauchen Kunstwerke, die das zu Bewahrende, Schöne uns zeigen und die Kraft darstellen, die der Menschheit Zukunftsgewissheit gibt – die Arbeiterklasse.« 106
Doch die traditionsbildende oder auch die erzieherische Aufgabe 107 von Kunst war nicht der Hauptpunkt des Referats. Die Hauptaufgabe von Kunst und Kultur be-
102 Ebenda, Bl. 5. 103 Weißgerber, Ulrich: Giftige Worte der SED-Diktatur: Sprache als Instrument von Machtausübung und Ausgrenzung in der SBZ und der DDR. Berlin 2010, S. 294 ff. 104 Neubert, Ehrhart; Auerbach, Thomas: »Es kann anders werden«: Opposition und Widerstand in Thüringen 1945–1989. Köln u. a. 2005, S. 107 ff. 105 »Zu einer schönen Wohnung gehören Bilder, Keramiken, Schallplatten, Bücher usw. usf. Zur schönen Wohnumwelt zählen wir interessante Fassadengestaltung, Plastiken – kurz, die architekturbezogene Kunst und ein reges Kulturleben.« ThStA Rudolstadt, BL der SED Gera, A 9250, Bl. 12. 106 ThStA Rudolstadt, BL der SED Gera, A 9250, Bl. 11 f. 107 Tugenden wie Parteilichkeit, hohe Moral, Sittlichkeit sowie vorbildliche Verhaltensweisen »können Kunst und Kultur entwickeln helfen. In diesem Sinne erwarten wir auch Spitzenleistungen vom Theater, den Museen und Musikschulen, vom Haus der Kultur, den Bildenden Künstlern genauso wie von den Orchestern.« ThStA Rudolstadt, BL der SED Gera, A 9250, Bl. 14.
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stand darin, »Kräfte im Menschen frei[zu]setzen und ihn mit den Mitteln der künstlerischen Phantasie für unseren Kampf [zu] mobilisieren«. 108 Erinnern wir uns wichtiger Aspekte der in diesem Abschnitt zitierten SEDKulturpolitik, so fällt das dem Militärischen entnommene Vokabular auf: Kunst und Kultur wurden als »Waffen« verstanden, sie hatten »Kräfte zu mobilisieren«. Kunst und Kultur wurden also nach wie vor in einem nicht näher definierten Kampf benötigt. Gegen wen sich dieser Kampf richtete, führte Paczulla nicht aus, stattdessen verwies er auf eine ebenfalls nicht näher beschriebene »Zukunftsgewissheit«, die bestätigen würde, dass sich der Kampf lohne. Doch wie stand es um die »Kampfmoral« der Geraer Künstler? Im Dezember 1981 konstatierte Paczulla Folgendes: Die Mitarbeiter des Geraer Theaters dachten gar nicht daran, ihre Kunst als eine »Waffe« instrumentalisieren zu lassen oder gar »Kräfte für einen Kampf« zu mobilisieren, der nicht der ihre zu sein schien. Stattdessen tauschten sie sich über Ängste, Resignation oder Pessimismus aus und diskutierten entsprechende Ausdrucksvarianten für die Bühne. Diese so ganz und gar unkämpferischen, vielmehr Unsicherheit ausdrückenden Gefühle sollten aus Sicht der Geraer SED nicht auf den Bühnen dargestellt werden, nicht nur weil die Funktionäre dies als eine grundsätzliche Kritik am Sozialismus missverstanden, sondern weil dieses Kunstverständnis angeblich demoralisierend wirkte. 109 »Es muss begriffen werden, dass auch in der Wahl der theatralischen Mittel das sogenannte ›Moderne‹ nur eine Berechtigung haben kann, wenn es unseren Erziehungszielen dient. Wir brauchen keine Ästhetik des Hässlichen, Obszönen und der Brutalität.« 110
Schon die Nationalsozialisten hatten sich in ähnlich unmissverständlicher Weise die Entscheidung vorbehalten, bestimmen zu können, was »gute«, »richtige« Kunst sei und was nicht. Und auch Kaiser Wilhelm II. werden ähnliche Ansichten nachgewiesen. 111 In welche Traditionslinien stellten sich die Geraer Kulturfunktionäre mit solchen Äußerungen? Klarer wurde in einem Parteipapier jedenfalls selten formuliert, dass Kunst schön zu sein und der Erziehung zu dienen habe. Ein halbes Jahr später, im Juni 1982, legte die Abteilung Wissenschaft, Volksbildung und Kultur eine interne Analyse »zur politischen Arbeit mit den Künstlern des Bezirkes« vor: »Im Bereich des künstlerischen Schaffens erfolgte in unserem Bezirk ein sichtbarer Aufschwung.« Dieser basierte auf der »politisch-ideologischen Arbeit«, auf dem »ideologisch-ästhetischen Meinungsstreit« und auf der »zielstrebigen politischen Führungstätigkeit« der Geraer Genossen. 112 Wie begrenzt der Erfolg dieser 108 ThStA Rudolstadt, BL der SED Gera, A 9250, Bl. 11. 109 ThStA Rudolstadt, BL der SED Gera IV/D-2/9.2/442, Bl. 210. 110 Ebenda, Bl. 210 f. 111 Penzler, Johannes (Hg.): Die Reden Kaiser Wilhelms II. Bd. 3: 1901 bis Ende 1905. Leipzig o. J., S. 60–62. 112 ThStA Rudolstadt, BL der SED Gera, Nr. 8228, Bl. 1. Diese Textbausteine wurden vermutlich ebenfalls früheren kulturpolitischen Rechenschaftsberichten entnommen.
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Maßnahmen gewesen war, kann daran abgelesen werden, dass nur die Arbeit des Verbands der Komponisten und Musikwissenschaftler, Tanzveranstaltungen aus dem Bereich der Unterhaltungskunst sowie das Kabarett als kulturpolitisch vorbildlich gelobt wurden. Auch muss dahingestellt bleiben, ob Veranstaltungen wie »Junge Leute um 18«, »Für Dich, für uns, für alle« oder »Bälle der Bestarbeiter, Rationalisatoren und Neuerer«, die nach Meinung der Kulturfunktionäre zur »Unterhaltung, Erholung und Geselligkeit« nach »sozialistischen Wertmaßstäben« 113 beitrugen, tatsächlich als Publikumsmagneten wirkten. Die hier ausgewerteten Analysen der SED-Bezirksleitung offenbaren vor allem die Schwierigkeiten der Kulturfunktionäre, den Künstlern künstlerische Anforderungen und politische Leitlinien zu vermitteln. Theaterstücke wie »Einer flog über das Kuckucksnest«, »Sendestörung« oder »Die Prinzessin mit dem Echo« entsprachen jedenfalls nicht den auf Kampf, Vorwärtsschreiten und Zukunftsgewissheit gerichteten »künstlerischen Konzeptionen«, die die Funktionäre »als Bereicherung der Kunst« akzeptieren wollten. 114 Schwierigkeiten bereitete es ihnen auch, den Künstlern politisch brisante Ereignisse wie die Aufrüstung oder die Verhängung des Ausnahmezustands in Polen argumentativ nahezubringen. 115 Wie hilflos die Funktionäre in diesen Diskussionen waren, belegt ihre Wortwahl: So mussten sie zusehen, wenn erfolgversprechende Talente zwischen die »Fronten der Klassenauseinandersetzungen« gerieten, »Erscheinungen bürgerlicher Unterhaltungskunst« kopierten oder etwa die »politischen Aufgabenstellungen des Chansons völlig unbeachtet« ließen. 116 Wie schwierig eine Verständigung zwischen Kulturfunktionären der SEDBezirksleitung und den Künstlern gewesen sein mochte, verdeutlicht die Kritik, dass die geforderten politischen Streitgespräche oft gar nicht stattgefunden hatten. 117 Paczullas Leipziger Kollege Roland Wötzel, Sekretär für Wissenschaft, Volksbildung und Kultur im Bezirks Leipzig, formulierte es so:
113 Bei den genannten Veranstaltungen handelte es sich um eine Disco sowie um Tanzveranstaltungen für die Überdreißigjährigen, wie man heute sagen würde. Vgl. ThStA Rudolstadt, BL der SED Gera, Nr. 7759, Bl. 14. 114 Ebenda, Bl. 4 f. Zu den Inszenierungen siehe S. 105 f. 115 Dem Papier zufolge hatten die Künstler ihre Sorgen zum Beispiel darüber geäußert, dass die militärische Aufrüstung auf Kosten der Sozialpolitik ginge. Andere kritisierten, dass es noch immer Bücherverbrennungen gäbe. Wieder andere wollten keinen Zusammenhang zwischen dem verhängten Ausnahmezustand in Polen und dem Wirken der Katholischen Kirche oder gar des Papstes sehen. Und Geraer Puppenspieler prangerten an, dass Soldaten der NVA das Töten lernen müssten. (Ebenda, Bl. 2 f.) Außerdem hatten Bildende Künstler versucht, »mit pazifistischen Auffassungen im Kreistag Gera-Land« aufzutreten. Ebenda, Bl. 15. 116 ThStA Rudolstadt, BL der SED Gera, Nr. 7759, Bl. 14. 117 Trotz des Verweises auf die vielfältigen politischen Streitgespräche kamen die Mitarbeiter der SEDBezirksleitung nicht umhin, festzustellen, dass mit einigen Künstlern, unter ihnen zahlreiche Bildhauer und Maler, bereits länger als 8 Monate kein Gespräch mehr stattgefunden hatte. Ebenda, Bl. 8 f.
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»Die Arbeit mit den Künstlern erforderte individuelle Arbeit. Man musste sich einzeln mit ihnen unterhalten, wenn man die Parteiarbeit im Sinne des Paulus aus der Bibel richtig verstand. Es ging um das Ringen um Köpfe und um den Geist.« 118
In Wötzels Ausführungen wurden das »Militärische«, das Kämpferische auf die Vokabel des »Ringens« abgemildert. Trotz des Bibelverweises scheinen das Militärische und damit verbunden das Kämpferische noch immer durch. Individuelle Gespräche wurden notwendig, weil die offiziellen Kampagnen fehlten, um die Künstler in das Projekt Sozialismus einzubinden. Zudem offenbart diese Einschätzung ein zunehmendes Kommunikationsproblem zwischen den Parteifunktionären und den Künstlern. Um den Problemen in der Kulturpolitik begegnen zu können, wurde ab Mitte der 1980er Jahre in der SED-Bezirksleitung Gera das Sekretariat »Wissenschaft, Volksbildung und Kultur« aufgeteilt in die Bereiche »Wissenschaft und Volksbildung« sowie »Kultur«. In Gera gab der »Multifunktionär« Paczulla sein komplexes Sekretariat nicht so schnell aus der Hand. Hier wurde erst 1988 ein weiterer SEDSekretär für Kultur eingeführt. 119 Seine Etablierung könnte als ein Bedeutungsgewinn von »Kunst und Kultur« interpretiert werden. Da eine öffentliche Wahrnehmung dieses Sekretariats nicht bekannt ist und auch die befragten Funktionäre und Künstler nicht auf diese Einrichtung verwiesen, scheint es jedoch weitgehend bedeutungslos geblieben zu sein. 120 Alles in allem signalisierten die Kulturfunktionäre mit ihren Analysen und in den im Anschluss formulierten Schlussfolgerungen dem 1. Sekretär, alles unter Kontrolle zu haben. Da sie allerdings auch weiterhin vorrangig mit der Rechenschaftslegung, mit der Organisation kultureller Massenveranstaltungen für ihre Partei sowie mit dem Bestreiten von Parteiversammlungen in Kultureinrichtungen beschäftigt waren, wurden die Referenten und Mitarbeiter der Abteilung Kultur des Bezirksrates sowie die Mitarbeiter der SED-Kreisleitungen mit diesen Künstler-Gesprächen beauftragt. 121 Damit erfolgte eine Delegierung der Auseinandersetzung mit den Künstlern. Dies könnte auf eine erstarrte Haltung der SED-Kulturfunktionäre hindeuten, muss doch dahingestellt bleiben, inwieweit sie die Rechenschaftslegung und die Organisation innerparteilicher Veranstaltungen tatsächlich in Anspruch genommen haben. Wurden im vorangegangenen Kapitel der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung sowie der Oberbürgermeister biografisch kurz vorgestellt, soll dies auch für das Sekretariat Wissenschaft, Volksbildung und Kultur der SED-Bezirksleitung erfolgen. August Paczulla gehörte, wie aus seinen Arbeitspapieren und Einstellungen geschlossen werden kann, ebenfalls zu der HJ-Generation bzw. den »Alten«. 118 119 120 121
Zit. nach: Niemann: Sekretäre (Anm. 15), S 44. Ebenda. Vgl. Ebenda, S. 45. HStA Rudolstadt, BL der SED Gera, Nr. 7759, Bl. 16 f.
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Wie groß die Kaderprobleme der SED noch in den 1950er Jahren gewesen waren, kann an dem Werdegang eines gelernten Betonfacharbeiters zum Kulturfunktionär für Massenarbeit abgelesen werden. Konrad Gosewinkel 122 wurde 1939 in der Nähe von Leipzig geboren. Sein Vater, vor dem Krieg Speditionskaufmann, war im Zweiten Weltkrieg verschollen. Die Mutter hatte als früheres SPD-Mitglied nach Kriegsende eine Stelle als Sekretärin beim lokalen SPD-Büro angenommen. Konrad schloss 1955 die Mittelschule ab und lernte zunächst Betonfacharbeiter. 1957 starb die Mutter. Als Vollwaise trat Gosewinkel 18-jährig in die Partei ein und ging nach der Berufsausbildung zur Nationalen Volksarmee. Nach der militärischen Grundausbildung wurde Gosewinkel im Januar 1958 Mitglied in einem Soldatenchor der Grenztruppen: »Ich bin nicht an die Grenze gekommen, sondern bin gelandet in einem zentralen Ensemble der deutschen Grenzpolizei und hab dort drei Jahre als Chorsänger praktisch meinen Dienst abgeleistet. Und von der Sache her kam ich in den kulturellen Bereich rein und zwar als Fachmethodiker für Musik- und Chorwesen in ein Kreiskulturhaus, und zwar in Lobenstein. Und habe im Anschluss als Leiter dort bis ’64 gearbeitet. Und dann landete ich ganz einfach in der dortigen [SED-]Kreisleitung. Auch wieder in den kulturellen Bereich als Instrukteur für Kultur von ’64 bis ’72. ’72 kam ich zur Bezirksleitung in den Sektor Kultur bis ’83. War dann die letzten zwei, drei Jahre Sektorenleiter«, 123
wofür ihn zwei Fernstudien qualifizierten. Nach seinem Verhältnis zu Kunst und Kultur befragt, verwies Gosewinkel – in dieser Reihenfolge – auf den Soldatenchor der Grenztruppen sowie auf das Schifferklavier, das ihm sein Vater geschenkt hatte. Seine Vorbilder waren die literarische Figur Oleg Koschowoj aus »Neuland unterm Flug« von Michail A. Scholochow sowie Olga Benario 124: »Das waren so Ideale. Wo man gesagt hat, das sind Kerle, die im tatsächlichen Leben existiert haben, oder die auch in der Literatur einfach widergespiegelt wurden, die es sicherlich an vielen Ecken auch in der Realität gegeben hat.« 125
War es dieses Verständnis von Kunst, das ihn für die Arbeit als Kulturfunktionär empfahl? Gosewinkel fuhr als Propagandist in die südthüringische Grenzregion, um mit einem Übertragungswagen Parolen gegen den Klassenfeind zu senden. Er fertigte kulturpolitische Expertisen an, in denen das stand, was seine Vorgesetzten lesen wollten bzw. was er glaubte, dass seine Vorgesetzten es lesen wollten. Nicht selten habe er aus alten Vorlagen und Programmen abgeschrieben und lediglich den
122 Der Name wurde aus datenschutzrechtlichen Gründen pseudonymisiert. 123 Von 1964 bis 1969 absolvierte er die Fachschule für Klubleiter in Meißen-Siebeneichen. 10 Jahre später, von 1974 bis 1979, besuchte er neben seiner Arbeit in der SED-BL Gera die Parteihochschule. Interview mit Konrad Gosewinkel am 17.1.2008, Transkript, S. 2. 124 Werner, Ruth: Olga Benario. Die Geschichte eines tapferen Lebens. Berlin 1961. 125 Interview mit Konrad Gosewinkel am 17.1.2008, Transkript, S. 46.
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»Touch vom Bezirk«, wie er es nannte, beigefügt. 126 Probleme mit Andersdenkenden, mit Künstlern, Intellektuellen konnte er sich nicht erklären. Er merkte aber an, dass er zu dem uns interessierenden Zeitraum schon nicht mehr im Machtzentrum Geras tätig war. 1983 musste er in Saalburg die Leitung des SED-eigenen Erholungsheimes übernehmen – ein kränkender Statusverlust, den er jedoch nicht reflektierte. Nach drei Jahren in dieser Position kündigte er mit Einverständnis des »Ersten« und übernahm dann bis 1989/90 einen Referenten-Posten beim Rat des Bezirkes Gera. Die Ereignisse von 1989/90 verunsicherten ihn, er wickelte die SEDBezirksakademie mit ab und nach mehreren Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wurde er schließlich Rentner. Wie typisch diese Karriere und die damit verbundenen Rückschläge für SEDKulturfunktionäre waren, mag zunächst dahingestellt bleiben. Im Falle dieses Kulturfunktionärs war die Hinwendung zu Kunst und Kultur eng mit der Erfahrung beim Militär verbunden. Das Besondere dieser Fügung bestand darin, dass Gosewinkel selbst kaum militärische Ausbildung genoss, wurde er doch relativ bald zum Soldatenchor beordert. Der Soldatenchor in seiner doppelten Eingebundenheit ins Militärische und in die Partei hingegen gab ihm stellvertretend das, was er in der Kriegs- und Nachkriegszeit verloren hatte: Gosewinkel selbst nennt es an anderer Stelle »Heimat«. 127 Dass kulturpolitische Forderungen mit dem Vokabular des Militärischen verbunden wurden, war für ihn kein Widerspruch. Außerdem deutet die berufliche Entwicklung Gosewinkels vom Betonmischer zum Kulturfunktionär auf eine intellektuelle Differenz zwischen Kulturfunktionären und Künstlern hin. Es relativiert das Bild vom kommunistischen Kulturfunktionär, der sich kenntnisreich durch die Kulturpolitik bewegt und verständnisvoll und souverän auf die Belange der Künstler zu reagieren vermag. Die Mitarbeiter der Abteilung Kultur des Rates des Bezirkes Gera Aufgrund der geschilderten Kunst- und Kulturauffassung der Funktionäre der SEDBezirksleitung brauchte es eine Institution, die zwischen den Ansichten der Partei und denen der Künstler vermittelte. In Gera fand sich diese zum Beispiel in der Abteilung Kultur des Rates des Bezirkes. Diese hatte im Allgemeinen »Pläne zur kulturellen Perspektive des Bezirkes« und entsprechende »Jahreskulturpläne« zu erarbeiten, verschiedene Kultureinrichtungen wie Theater, Museen, Bezirksbibliotheken, die Konzert- und Gastspieldirektion, die Kunstgalerie und das Bezirkskabinett für Kulturarbeit zu leiten sowie mit den Künstlerverbänden und Kunsteinrich126 »Also wenn mal eine Sekretariatsvorlage gemacht werden musste zu, was weiß ich, zur Entwicklung der Kunst im Bezirk Gera, da wurden die Probleme, die es eben gab, so von der Formulierung her gestreckt, dass es denjenigen, die es dann am Ende gelesen haben, angenehm war.« (Interview mit Gosewinkel am 17.1.2008, Tranksript, S. 10). 127 Interview mit Gosewinkel am 17.1.2008, Transkript, S. 34.
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tungen, aber auch mit Berufs- und Laienkünstlern zusammenzuarbeiten. 128 Im Besonderen hatten sich die Mitarbeiter dieser Abteilung um die in Gera und im Bezirk lebenden Künstler zu »kümmern«. Hier arbeiteten diejenigen Funktionäre, die nach allen Seiten hin vermittelten. 129 Jeder künstlerischen Sparte stand mindestens ein Referent oder eine Referentin zur Verfügung. Diese hielten die Verbindungen zu den Künstlern, ganz gleich ob Musiker, Schriftsteller, Maler, Schau- oder Puppenspieler. Als Mitarbeiter des Staatsapparates vermittelten diese Referenten zwischen den kulturpolitischen Vorgaben ihrer Partei und den Interessen der Künstler. Für sie galt vor allem »Kein Sektierertum zulassen!«, sich also den Künstlern gegenüber flexibel und kompromissbereit zu geben. So waren vor allem sie es, die den Spagat zwischen den kulturpolitischen Direktiven und den ästhetischen Auffassungen der Künstler vollführten. Nach dem Verhältnis zur SED-Bezirksleitung gefragt, führte eine Mitarbeiterin der Abteilung Kultur des Rates des Bezirkes Folgendes aus: »Darüber haben wir uns ja das zehnte Mal gar keine Gedanken gemacht, das war ja alles schon so selbstverständlich. [...] Das war eben die Dienstberatung und dann haben wir Order gekriegt, was in dieser Woche, was in diesem Monat, was im nächsten halben Jahr [passiert]. Welche Höhepunkte werden sein. Gibt es eine neue Ausstellung? Gibt es eine neue Theaterpremiere? Gibt es ein Festival? [...] Etwa die 750-Jahr-Feier in Gera. Oder dann '87 das deutsch-sowjetische Festival. Arbeiter-Festspiele '84. '79 Bezirkskunstausstellung. [...] Und die Partei hat das sicher unseren Sektorenleitern [weitergegeben] bzw. Hans Kathe [hat] das so vermittelt und so musste das dann gemacht werden.« 130
In dieser Abteilung waren neben dem Leiter, Hans Kathe, verschiedene sogenannte Sektorenleiter tätig, die den »Sektor« Geistig-kulturelles Leben sowie den »Sektor« Kunst betreuten. In den »Sektoren« arbeiteten Referenten, zum Beispiel für Literatur, für Theater, für Musik oder für Bildende Kunst. Ein Großteil von ihnen war Mitglied der SED. 131 Hans Kathe (geboren 1943) stand für ein Interview leider nicht zur Verfügung. 132 Dennoch soll an dieser Stelle der Versuch unternommen werden, den Leiter der Abteilung Kultur des Rates des Bezirkes Gera vorzustellen. Bekannt ist, dass Kathe ursprünglich Traktorist gewesen war und über die Kaderpolitik der Partei in den Rat des Bezirkes kam. Was ihn befähigte, der Kulturabteilung eines Bezirkes vorzustehen, konnten wir nicht in Erfahrung bringen. Naheliegend sind seine Mitgliedschaft in der SED und seine Fähigkeit, Dinge in Bewegung zu setzen und nach Möglichkeit in Bewegung zu halten. Darüber hinaus wird ihm ein Faible für alles 128 Vgl. Rickers, Eva: Aufgaben und Struktur der Bezirkstage und der Räte der Bezirke in der DDR 1952–1990/91 am Beispiel des Bezirkes Cottbus. Frankfurt/M. u. a. 2007, S. 190 f. 129 Vgl. Bauerkämper: Sozialgeschichte (Anm. 76), S. 43. 130 2. Interview mit Gitta Heil am 21.6.2007, Transkript, S. 33. 131 Von mindestens zwei Referenten ist bekannt, dass sie regelmäßige inoffizielle Gespräche mit der Staatssicherheit führten. Siehe Matthias Braun in diesem Band, S. 137 bzw. 149. 132 Mehrmalige Nachfragen und Vermittlungsversuche anderer Zeitzeugen blieben erfolglos.
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Künstlerische nachgesagt. Kathe war seit etwa Mitte der 1970er Jahre im Bezirksrat tätig. Unbekannt ist, ob er an der Auseinandersetzung zwischen Pazculla und dem Schriftsteller Reiner Kunze beteiligt war, von ihr gehört haben wird er sicherlich. Kathe schien vor allem ein Macher gewesen zu sein. Es gelang ihm, das Kinder- und Jugendfilmfestival nach Gera zu holen. Beim Bau des Kultur- und Kongresszentrums wusste er alle Hebel in Bewegung zu setzen. Auch die Arbeiterfestspiele 1984 oder die 750-Jahr-Feier der Stadt organisierte er mit. Hierbei half ihm sicherlich sein kurzer Draht zur SED-Bezirksleitung und zu den Mitarbeitern der Stadtverwaltung. Darüber hinaus verstand es der ehemalige Traktorist, sich mit qualifizierten Mitarbeitern zu umgeben, die ihm nicht selten Brücken zu vielversprechenden Künstlern innerhalb des Bezirkes zu bauen verstanden. So kannte Kathe den 1976 nach Rudolstadt kommenden Regisseur Klaus Fiedler oder den im Singeklub »Patria« mitwirkenden Stephan Krawczyk. Die Arbeiten beider schien er eine Zeit lang zu schätzen und zu fördern. Aus dieser Wertschätzung sollte jedoch keine dauerhafte Loyalität den Künstlern gegenüber erwachsen. Gefährdet wurde diese Loyalität stets dann, wenn Kathe weniger als kunstsinniger Privatmensch auftrat, sondern als ein seiner Partei verpflichteter Funktionär. 133 Zu seinen Mitarbeitern gehörten unter anderem Lothar Toepel und Gitta Heil. Toepel stammte aus Gera, verfügte aber über zahlreiche auswärtige Verbindungen, da der väterliche Teil der Familie ursprünglich in Antwerpen beheimatet war. Toepels Vater war bis 1945 in der Industrie tätig und von 1945 bis 1953 Stadtrat und Bürgermeister in Gera, danach übernahm er die Leitung des Städtischen Museums Gera. 134 Der Sohn Lothar Toepel wurde 1935 geboren und teilte wie seine Geschwister das väterliche Interesse an Heimat- und Kunstgeschichte, weshalb er 1954 die Fachschule für Heimatmuseen besuchte. Nach einer kurzen Assistentenzeit am Greizer Heimatmuseum wechselte Toepel 1961 in den Rat des Bezirkes, Abteilung Kultur, und wurde Kandidat der SED, in die er 1963 als Mitglied aufgenommen wurde. Zunächst hauptsächlich als Referent angestellt, stieg er 1971 zum Sektorenleiter auf. Hierfür hatte ihn sein 1966 abgeschlossenes Fernstudium als Diplomhistoriker an der Humboldt-Universität qualifiziert. Als Sektorenleiter unterstanden ihm die Referenten für Musik, Theater, Literatur und eine Mitarbeiterin für Bildende Kunst. So wie sein Vater sich seinen Traum vom Heimatmuseum verwirklicht zu haben schien, gelang auch Toepel die Umsetzung eines Traums: 1989 übernahm er die Leitung der Geraer Kunstsammlung in der Orangerie. 135 Im Interview wies er
133 Vgl. hierzu Biskupek: Moralische Anstalt (Anm. 38); Krawczyk, Stephan: Der Narr. Zürich 2003 sowie Interview mit Matthias Biskupek, Gitta Heil. 134 Interview mit Lothar Toepel am 24.10.2006, Transkript, S. 2. 135 Interview mit Gitta Heil am 21.6.2007, Transkript 2, S. 21. Irritierend wirkt der Umstand, dass Toepel selbst diesen Berufswechsel nicht erwähnte.
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sich als leidenschaftlicher und engagierter Kenner der Kunst und Malerei aus und verwies auf seine Bekanntschaft mit Otto Dix. 136 1975 wurde Toepel eine junge Mitarbeiterin zugeteilt. Gitta Heil, 1943 in Dresden geboren, erwarb nach einer Ausbildung zur Sekretärin im VEB Carl Zeiss Jena die Hochschulreife an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät Jena. Hier trat sie in die SED ein. Von 1963 bis 1967 studierte sie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. 1967 schloss sie das Studium zunächst mit dem Staatsexamen für die Fächer Deutsch und Russisch ab, ein Jahr später erwarb sie das Diplom in Germanistik. Im Anschluss daran arbeitete sie als Assistentin in der Sektion Literatur- und Kunstwissenschaft der FSU Jena, um 1978 in Vergleichender Literaturwissenschaft zu promovieren. Bereits 1975 hatte sie die Universität verlassen und war in die Abteilung Kultur des Rates des Bezirkes Gera als Kunstreferentin eingetreten. 1987 wurde sie Sektorenleiterin in der Abteilung Kultur des Rates des Bezirkes, die sie dann 1991 auch auflösen musste. Nach dieser »Abwicklung« erhielt sie eine Anstellung im neugegründeten Thüringer Ministerium für Wissenschaft und Kunst. Seit 1995 arbeitete sie beim Museumsverband Thüringen e.V. als Museumsberaterin und trat schließlich 2008 in den Ruhestand. Mit dem im Grund fachfremden beruflichen Einsatz schien sich Gitta Heil zu arrangieren, mochte sie doch eigenen Aussagen nach die Arbeit mit Menschen, gleichzeitig konnte sie ihrem Interesse, der Malerei, nachgehen. 137 Als Referentin für Bildende Kunst oblag es ihr, Künstler im Bezirk Gera anzusiedeln. Hierfür stellte der Bezirk Atelierwohnungen sowie ein Großatelier in Gernewitz zur Verfügung. Gitta Heil war im Gespräch mit den Künstlern. Noch heute wird vor allem ihr Name genannt, wenn es um Fragen der Kulturpolitik in den 1980er Jahren ging. Sie förderte die in Gera und im Bezirk lebenden Künstler nach bestem Wissen und Gewissen, woran ihre Erzählungen, aber auch die befragten Künstler keinen Zweifel lassen. 138 Um die Vorgaben der Auftragskunst zu erfüllen, ermunterte sie die Bildhauer, Maler und Grafiker dazu, die von der SED-Bezirksleitung vorgegebenen Themen »in ihre Ecke« zu ziehen, sie nach ihrem Verständnis zu interpretieren und zu gestalten. Auch sie selbst versuchte neue Ausstellungsformate wie Pleinairs zu etablieren. In Dienstberatungen ihrer Abteilung wehrte sie sich dagegen, Kunst in Planvorgaben zu pressen und es gelang ihr, dass die Künstler sie als ihre Interessenvertreterin akzeptierten. 136 Toepels Vater hatte sich in den 1960er Jahren an den Maler gewandt, um ihm mitzuteilen, dass Gera ihm die Ehrenbürgerschaft übertragen wollte. Interview mit Lothar Toepel am 24.10.2006, Transkript, S. 29 f. 137 Vgl. im Gegensatz dazu Dorothee Wierling, die eine Studie aus dem Jahre 1977 zum Berufseinstieg von Hochschulabsolventen auswertete. Danach war nur ein Fünftel der befragten 1 400 Studenten der KMU Leipzig mit ihrer Tätigkeit zufrieden und nur knapp 40 % ausbildungsadäquat eingesetzt. Wierling: Jahr Eins (Anm. 36), S. 358. 138 Interview mit Gitta Heil, mit Biskupek, mit Horst Pohl am 11.4.2007.
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Nach ihrem Verständnis von Kunst, konkret von Bildender Kunst gefragt, führte sie aus, sich seit jeher in ihrer Freizeit mit Gemälden beschäftigt zu haben. Auch die Literaturwissenschaft habe etwas mit Bildern zu tun: »Ich habe einen sehr guten Blick, ja, immer schon gehabt. Und die Literaturwissenschaft hat natürlich etwas, was auch die Kunst in sich birgt. Und man muss ja Bilder aufschließen können.« 139 Die von der SED-Bezirksleitung übertragene Vermittlungsaufgabe zwischen Partei und Künstlern war keine einfache Sache für die Mitarbeiter des Rates des Bezirkes. Das Arbeitsklima schien durch zwei Aspekte geprägt zu sein: Zum einen waren die Mitarbeiter, soweit wir wissen, in der Regel alle Mitglieder der SED. Zum anderen oblagen ihnen Verwaltungsaufgaben, die nicht selten darin ausuferten, die Auftragskunst an die Künstler zu bringen und auch deren Lebensbedingungen zu organisieren, indem die Künstler ein Atelier, eine Wohnung erhielten. Auch beim Erwerb oder Umbau eines Hauses erfuhren die Künstler staatliche Unterstützung. Musste dieses erst hergerichtet werden, dann organisierten Heil und ihre Kollegen angesichts der Mangelwirtschaft auch mal eine Fuhre Baumaterial und Ähnliches. Formal waren sowohl Toepel als auch Heil Staats- und Verwaltungsangestellte. Als Mitglieder der SED waren sie aber auch der Parteilinie verpflichtet. Wie schwer sich dieser Spagat in der täglichen Arbeit gestaltete, lässt die Erzählung Gitta Heils nur ahnen: »Es war auch innerhalb der Abteilung, da gab es schon kontroverse Diskussionen mit denen da vorne, mit den Häuptern, und mit uns hinten. Wir haben das schon mal ganz anders gesehen. Also mit uns im Sektor, sage ich jetzt mal. Und da haben wir nicht hinter dem Berg gehalten. Und da haben wir eben zu dritt in dem Zimmer gesessen. Da hieß es ›Spinner, was die sich da so ausdenken!‹« 140
Gitta Heil bezeichnete die vorgesetzten Genossen in diesem Zusammenhang hier als »Spinner«. Damit meinte sie sowohl die Abteilungs- und Sektorenleiter der Abteilung für Kultur als auch die Kulturfunktionäre der SED-Bezirksleitung. Indem sie hier keine Unterscheidung vornimmt, wird deutlich, wie schwer den Mitarbeitern des Rates die Unterscheidung zwischen beruflicher Funktion und parteilichen Vorgaben fiel. Vermutlich unterschieden die Mitarbeiter der mittleren Verwaltungsebene in den 1980er Jahren nicht mehr zwischen diesen Positionen. An anderer Stelle erzählt Frau Heil über ihre Verunsicherungen hinsichtlich ihrer Stellung zwischen beruflicher Funktion und dem Verhältnis zu den Künstlern. Vor allem in den 1980er Jahren gaben sie ihr hin und wieder zu verstehen: »›Also in die Richtung, da gehen wir nicht mit dir mit.‹ Und dann habe ich [GH] natürlich angefangen nachzudenken. [...] Trotzdem war die Kunst (für mich) an bestimmten Stellen auch ein Ruhepunkt. Da habe ich mich argumentativ ausstatten können. [...] Und mit dem Wissen, dass sie [die Künstler – JvL] alle diese gleiche Meinung dann haben, wie wir sie zu139 2. Interview mit Gitta Heil am 21.6.2007, Transkript, S. 13. 140 Ebenda, Transkript, S. 15.
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sammen herausgearbeitet haben, [...] da war ich gestärkt. Da habe ich mir gedacht [...]. Wenn ihr [die Kollegen Funktionäre – JvL] das nicht akzeptiert, dann akzeptiert ihr das eben nicht.‹ [...] Ich war mir dann meiner Sache sicher.« 141
Es ist an dieser Stelle festzuhalten, dass sich die Funktionäre im Rat des Bezirkes ein nicht ganz so starres Verständnis ihrer Tätigkeit leisten konnten wie ihre Kollegen in der SED-Bezirksleitung, wollten sie mit den Künstlern im Gespräch bleiben. Dies schien den Erzählungen Heils und Toepels zufolge funktioniert zu haben. Damit waren sie so etwas wie »Broker« oder »Vermittler«, die die je verschiedenen Ansichten zwischen Partei und Künstlern kommunizierten. Doch das Bild der Zusammenarbeit zwischen den Mitarbeitern des Bezirksrates und den Bildenden Künstlern kann nicht ganz so harmonisch beschrieben werden, wie es aus den Interviews zunächst erscheinen will und wie es Publikationen zur Kunst im Bezirk Gera in den 1980er Jahren vermitteln. 142 So verneint Toepel die Frage, ob noch in den 1980er Jahren Bilder in Ausstellungen wieder abgehängt worden seien, wenn sie den Kulturfunktionären der SED nicht gefielen. Heil hingegen räumt unumwunden diesbezüglich Aktivitäten und die damit einhergegangenen Spannungen ein, vermeidet es aber, diejenigen namentlich zu nennen, die das Abhängen von Bildern angeordnet hatten. 143 Dass Bilder abgehängt wurden, thematisiert sie dann vor allem unter dem Aspekt, dass ihre Funktionärs-Kollegen die Künstler und deren innovative Leistungen, respektive deren kreativen Ansatz, nicht verstanden hätten. So erzählt sie, wie ein Bild von Elke Hopfe 144 1988 abgenommen wurde, denn »es musste passen. Es musste schön sein, es musste ansehbar sein.« Aber das war es eben nicht, jedenfalls nicht im Verständnis der höheren Kulturfunktionäre. 145 Doch es gab nicht nur Künstler in Gera zu betreuen. Auch in der Umgebung der Universitätsstadt Jena lebten und arbeiteten Maler, Grafiker, Bildhauer. Diese vermieden es zum Teil, sich in der großen »Familie« des »Verbandes der Bildenden Künstler« heimelig einzurichten, nicht zuletzt weil der Künstlerverband sie gängelte. So forderte etwa der Verband vom Malerehepaar Eve und Frank Rub 1980, drei Bilder in einer Ausstellung abzuhängen, die sie zusammen mit Lutz Leibner organisiert hatten. 146 Auch zwischen 1986 und 1988 fanden in Jena alternative Kunstausstellungen, sogenannte »Jenaer Hofvernissagen« statt, die von den staatlichen Insti-
141 Ebenda, Transkript, S. 17. 142 Kunst im Bezirk Gera, hg. vom Staatlichen Museum Schloss Burgk, Burgk 1985; Maler, Grafiker, Plastiker im Bezirk Gera, hg. vom Verband Bildender Künstler der DDR, Bezirk Gera, Gera 1988; Die Kunst der Zeichnung im Bezirk Gera, hg. vom Staatlichem Museum Schloss Burgk, Burgk 1982. 143 2. Interview mit Gitta Heil am 21.6.2007, Transkript, S. 24. 144 Biografie Elke Hopfe vgl. Blechen, Camilla: Person und Befindlichkeit. Der Zeichner Gerhard Kettner. In: Gillen, Eckhardt; Hartmann, Rainer (Hg.): Kunst in der DDR. Berlin 1990, S. 262 f. 145 2. Interview mit Gitta Heil am 21.6.2007, Transkript, S. 24 f. 146 Kaiser; Petzold: Bohemé (Anm. 26) S. 277.
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tutionen nicht gern gesehen waren. 147 Nach solchen »Zwischenfällen« gefragt, verwies Heil auf Toepel als ihren unmittelbaren Vorgesetzten. Toepel führte also als Sektorenleiter die »unangenehmen« Gespräche und setzte sich mit den schwierigeren, in der Regel meist jungen Künstlern auseinander. Die Erinnerungen der Funktionäre Auffällig wenig ehemalige SED-Funktionäre aus Gera waren zu einem Interview bereit. Schriftlich, aber auch telefonisch nachgefragte oder über andere ehemalige Funktionäre oder Künstler vermittelte Gespräche kamen nur zögerlich zustande. Dabei kristallisierte sich heraus, dass die früheren Funktionäre, die kommunalpolitisch tätig gewesen waren, sich gesprächsbereiter zeigten als etwa Funktionäre der ehemaligen SED-Bezirksleitung. Aber auch unter den Kommunalpolitikern äußerte sich die Gesprächsbereitschaft unterschiedlich. So waren die beiden letzten Oberbürgermeister Geras zu DDR-Zeiten, Horst Pohl und Horst Jäger, sofort zu einem Interview bereit, während der ehemalige Stadtrat für Kultur ablehnte. Führende Mitarbeiter der Geraer SED-Bezirksleitung wie Herbert Ziegenhahn als 1. Sekretär oder August Paczulla als Sekretär für Wissenschaft, Volksbildung und Kultur, sind in den 1990er Jahren verstorben. Andere Mitarbeiter aus Paczullas Sekretariat sagten ab. Lediglich ein Mitarbeiter ließ sich interviewen, gab aber gleich zu Beginn an, dass er in dem uns interessierenden Zeitraum gar nicht mehr in der Geraer SED-Bezirksleitung tätig gewesen sei. Von den Mitarbeitern der Abteilung Kultur des Rates des Bezirkes ließ sich zwar der frühere Abteilungsleiter nicht auf ein Gespräch ein, doch zwei seiner Mitarbeiter waren zu einem Interview bereit. Über ihre Mitgliedschaft in der SED und damit verbunden über ihre Motivation, der SED beizutreten, erzählten die meisten Kulturfunktionäre von sich aus. Die Gründe reichten von Überzeugung 148, Selbstverständlichkeit und/oder Opportunismus, ausgedrückt in der Formel »Weil es dazu gehörte« 149, bis zum Heimatersatz. Vor allem letzter Aspekt ist aufschlussreich. Konrad Gosewinkel führte hierzu fast etwas trotzig aus: »Ja, eigentlich war das meine Heimat, muss ich sagen. Zu Hause war ja nichts mehr. Und ich sag's mal so, so trocken: Die Partei ist dann eigentlich auch meine Heimat geworden. Also, kann man drüber denken, wie man will. […] Ich hab vom Prinzip nichts anderes kennenge-
147 Ebenda, S. 307–316. 148 »Ich war ja auch von vielem überzeugt, das will ich doch überhaupt nicht leugnen. Und ich wusste, dass irgendwo Sozialismus etwas für die Menschen ist. Und da haben wir auch versucht, das immer wieder auch mit anderen Mitteln zu machen. Auch wenn man in der Partei war.« 2. Interview mit Gitta Heil am 21.6.2007, S. 28. 149 »Also, als ich 1961 beim Rat des Bezirkes angefangen habe, äh, war ich noch nicht Mitglied der SED, aber es wurde mir anheim gestellt, den Antrag zu stellen.« Interview mit Lothar Toepel am 24.10.2006, Transkript, S. 18.
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lernt im Leben, in meinem Leben, als für den Staat was zu machen. Und das war – das war – das war unser Leben.« 150
Der junge Gosewinkel hatte mit 18 Jahren seine Familie und damit sein Zuhause verloren: Der Vater war im Krieg geblieben und die Mutter war gestorben. »Zu Hause war ja nichts mehr.« Mit dem Eintritt in die SED und den Erfahrungen der Gemeinschaft im Soldatenchor konnte er diesen Verlust auf seine Weise kompensieren. Dieser Befund, den nicht alle Interviewten so klar ausführten, ist deshalb wichtig, weil er für viele Aspekte des Lebens in der DDR analog gesehen werden kann. Gosewinkel spricht von Heimat und verbindet damit vor allem das Aufgehobensein in einer großen Familie. Somit hatten für ihn Partei und Staat unmerklich familiäre Funktionen übernommen, 151 was am ehesten in der damals häufig im Munde geführten Formulierung vom »Vater Staat« deutlich wird, die erst seit 1989/90 aus dem ostdeutschen Alltagsgebrauch verschwunden zu sein scheint. Uwe Johnson hatte schon in den 1970er Jahren darauf hingewiesen: »So reden Kinder von ihren Eltern. So reden Erwachsene von jemand, der einst an ihnen Vaterstelle vertrat.« 152 Dorothee Wierling konstatiert in diesem Zusammenhang eine »Familiarisierung von Politik« 153, auf die auch Ahbe und Gries hinweisen. 154 Psychoanalytiker sprechen gar von einer »Familiarisierung der Kultur«, weil private und gesellschaftlichinstitutionelle Ebenen aufgehoben wurden. 155 Eindrucksvoll führt Wierling aus, wie Männer, wenn sie Funktionen innerhalb von Staat und Partei übernahmen, zu »Staatsvätern« 156 wurden. Auch Horst Pohl kann als ein »Staatsvater« bezeichnet werden, nicht nur innerfamiliär, worüber er fast nicht sprach. Vielmehr erzählte er, zum Teil stolz, zum Teil »väterlich«, zum Teil noch immer ein wenig ungläubig, mit welchen Problemen er sich in den Bürgersprechstunden auseinandersetzen musste. 157 Pohl sah sich mit Eheproblemen, Anspruchsdenken, vereinsamten Rentnern, zu früher Mutterschaft konfrontiert, um nur die aufzuzählen, über die er selbst berichtete. 158 Er beschäftigte drei Genossen, die die Eingaben an den Oberbürgermeister bearbeiteten. Auf Nachfrage räumte Pohl ein, dass die ihm von den Bürgern vorgetragenen Dinge nichts mit seiner Arbeit als Oberbürgermeister zu tun gehabt hätten und ihn oft eigentlich auch gar nichts angegangen wären. Doch dies den Leuten zu 150 Interview mit Gosewinkel am 17.1.2008, Transkript, S. 34. 151 Vgl. hierzu Brunner, José: Editorial. In: Ders. (Hg.): Mütterliche Macht und väterliche Autorität. Elternbilder im deutschen Diskurs. Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 2008, S. 9–25 hier 9 f.; Johnson, Uwe: Versuch, eine Mentalität zu erklären. In: Ders.: Berliner Sachen. Frankfurt/M. 1975, S. 52 ff. 152 Johnson: Versuch (Anm. 151), S. 55. 153 Wierling: Jahr Eins (Anm. 36), S. 103 ff. 154 Ebenda; Ahbe; Gries: Gesellschaftsgeschichte (Anm. 62), S. 519. 155 Schneider, Christian u. a. (Hg.): Identität und Macht. Das Ende der Dissidenz. Gießen 2002, S. 147. 156 Wierling: Jahr Eins (Anm. 36), S. 80 ff. 157 Interview mit Horst Pohl am 11.4.2007, Transkript, S. 27–29. 158 Interview mit Horst Pohl am 11.4.2007, Transkript, S. 27 ff. sowie Domkowsky: Oberbürgermeister (Anm. 71), S. 49.
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sagen, schien undenkbar. Vielmehr schickte er seine Mitarbeiter los, ihm dringlich erscheinende Fälle zu regeln. Darin sah er seine Verantwortung und seine Pflicht. 159 Dass er damit so etwas wie eine »familiäre Funktion«, eine Vaterfunktion für andere übernommen hatte, reflektierte Horst Pohl dabei nicht. Es kann ebenso ausgeschlossen werden, dass Bürger, die mit ihren in der Regel privaten Nöten und Anliegen vom Oberbürgermeister väterlichen Beistand erhofften, absichtlich elterliche Funktionen an einen Repräsentanten des Staates übertrugen. Dies waren vielmehr unbewusste Prozesse, die der Psychoanalytiker Joachim Maaz 1990 in seinem Buch »Der Gefühlsstau« zu beschreiben versuchte. 160 Maaz argumentierte, dass viele Menschen in der DDR ihre durch die leiblichen Eltern nicht eingelösten Bedürfnisse auf »Vater Staat« übertragen hatten. 161 Dessen Autorität erkannten die Bürger an, weil sie, durch Krieg und Nachkriegszeit vielfach vaterlos aufgewachsen, kaum zwischen staatlicher und väterlicher Autorität zu unterscheiden wussten. 162 Wenn dem Staat so etwas wie »väterliche Funktionen« übertragen worden waren, so stellt sich, um in der Familienbeziehung ausdrückenden Metapher zu bleiben, auch die Frage nach denjenigen Institutionen oder Einrichtungen, die »mütterliche Funktionen« übernahmen. Für Joachim Maaz waren das die Kirchen und Parteien. 163 Stefan Wolle bezeichnete die SED etwa als die »Mutter der Massen«. 164 Dorothee Wierling verwies auf die besondere Bindekraft von Kollektiven und Gemeinschaften. 165 Folgt man diesen Ansätzen, so könnte etwas überspitzt konstatiert werden, dass die Funktionäre, aber auch andere SED-Mitglieder sich von ihrer Partei »bemuttern« ließen. Die Partei selbst wird diese »Mutter-Rolle« nicht zuletzt deshalb wahrgenommen haben, sicherte sie ihr doch zusätzliche Kontrolle und Einflussnahme. Zu Konflikten zwischen der Partei und den Mitgliedern kam es, wenn Erstere ihre Zuständigkeit überdehnte oder die Parteimitglieder mit parteipolitischen Entscheidungen, die sie selbst betrafen, nicht einverstanden waren. Die Art der Konfliktbewältigung war verschieden: Horst Pohl blieb das »Nein« zu seiner geplanten 159 Zur paternalistischen Fürsorge vgl. Bauerkämper: Sozialgeschichte (Anm. 76), S. 67. 160 Maaz, Joachim: Der Gefühlsstau. Berlin 1990. 161 Ebenda, S. 61 ff. Über ähnliche Übertragungen vgl. Krejci, Erika: Innere Objekte. Über Generationenfolge und Subjektwerdung. Ein psychoanalytischer Beitrag. In: Jureit, Ulrike; Wildt, Michael (Hg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs. Hamburg 2005, S. 80–107, hier 102 f.; Simon, Annette: Vor den Vätern sterben die Söhne. In: Dies.; Faktor, Jan: Fremd im eigenen Land. Gießen 2000, S. 7–26, hier 14; Dies.: Zwei Seiten einer Medaille. Über den Umgang mit Schuld. In: Dies.: »Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.« Versuch über ostdeutsche Identitäten. Gießen 2009, S. 7–30, hier 28. 162 Kraft, Andreas: Über Väter und Großväter – Die Lehre von der Ambivalenztoleranz in der deutschen »Generationenliteratur« nach 1945. In: Brunner: Mütterliche Macht (Anm. 151), S. 165–181, hier 166 ff.; Schulz, Hermann u. a. (Hg.): Söhne ohne Väter. Berlin 2004; Stierlin, Helm: Individuation und Familie. Studien zur Theorie und therapeutischen Praxis. Frankfurt/M. 1989, S. 181 ff. 163 Maaz: Gefühlsstau (Anm. 160). 164 Wolle, Stefan: Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971–1989. Bonn 1999, S. 97 ff. 165 Wierling: Generation Eins (Anm. 36), S. 117.
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Versetzung als Parteisekretär nach Pößneck sprichwörtlich im Hals stecken, er erkrankte an einer Angina. 166 Konrad Gosewinkel brauchte drei Jahre, ehe er die Kraft fand, seinem »Ersten« gegenüberzutreten und den Posten als Heimleiter des SEDErholungsheimes Saalburg für eine verhältnismäßig ungewisse berufliche Zukunft aufzugeben. In beiden Fällen bedeutete es für die Parteisoldaten eine enorme Kraftanstrengung, ihre Interessen gegenüber den Partei-Interessen zu artikulieren und durchzusetzen. Gitta Heil fand in der Kunst »die Insel« und unter den Künstlern eine neue »Gemeinschaft«, die es ihr ermöglichte, eigene Befindlichkeiten zu pflegen und sich gegen parteipolitische Inanspruchnahme ansatzweise abzugrenzen. 167 Diese »Insel« erschloss sie sich im Rahmen ihrer Zuständigkeit für das Ressort »Bildende Kunst«, womit sie sich indirekt und unmerklich aus der »familiären Obhut« des Staates und der Partei befreite und in die Geborgenheit der Künstlergemeinschaften, die ähnlich familiäre Aufgaben übernahmen, wechseln konnte. Diese Entwicklung, die als eine Emanzipation interpretiert werden kann, ermöglichte es ihr, so mancher durch die Genossen an sie herangetragenen Zumutung wenn schon nicht abzuwehren, so ihr doch entgegenzutreten: »Und da bin ich in einer Dienstberatung schon sehr angegangen worden. Und da hab ich gesagt ›Wenn ihr denkt, dass man die Kunst so planen kann‹ [...] Da habe ich gesagt ›Es tut mir leid, man kann Kunst nicht in so ein Korsett zwingen.‹ Und da habe ich diese Dienstberatung dann damals verlassen. Da bin ich wutschnaubend raus, weil ich das so anmaßend fand.« 168
Heil agierte in diesem Konflikt vordergründig nicht für sich, sondern für »ihre« Künstler. Damit befand sie sich in einem Rollenkonflikt, wurden doch unterschiedliche und vor allem gegensätzliche Erwartungen an sie herangetragen. Darüber hinaus ist diese Reaktion beachtlich, weil sie innerhalb ihrer Abteilung für die Gegenposition, die Künstler entschieden hatte. Vielleicht sind viele Parteimitglieder ihrer Ersatzfamilie »DDR«, bestehend aus »Vater Staat« und »Mutter Partei«, letztere verstanden als »Gemeinschaft«, deshalb bis in die Gegenwart in Loyalität verbunden, weil diese elementare Bedürfnisse, wie das Gebrauchtwerden oder Fürsorge befriedigen und zugleich auch so etwas wie Schutz und Geborgenheit bieten konnten. Wie tiefgehend diese Loyalitäten internalisiert sind, kann daran abgelesen werden, dass die ehemaligen Funktionäre kaum über Konflikte erzählten. Wurden sie sich beim Erzählen bewusst, dass sie doch Konflikte schilderten, unterbrachen sie die eigene Erzählung oder wechselten innerhalb der Erzählung das Thema. Die interviewten ehemaligen Funktionäre aus Gera wahrten, ganz im Gegensatz zu den seit den frühen 1990er Jahren erschienenen 166 Interview mit Horst Pohl, 11.4.2007. Horst Pohl erwähnte diese Erkrankung im Interview selbst und beschrieb sie ausführlich. Zu dieser Episode gehört auch die Schilderung, was ihn wieder genesen ließ: Der Besuch eines höheren Parteifunktionärs, der ihm dann das Amt des Geraer Oberbürgermeisters antrug. 167 2. Interview mit Gitta Heil am 21.6.2007. 168 Ebenda, Transkript, S. 17.
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Autobiografien führender SED-Funktionäre, 169 einstige Haltungen gegen ihre Mitgenossen. Hierzu zählten Loyalität, Miteinander und Solidarität gegenüber anderen Genossen. Nur vereinzelt ließen die ehemaligen Genossen erkennen, dass es zum Teil heftige Spannungen, Konflikte und Auseinandersetzungen untereinander gegeben hatte.
3.2 Die Geraer Künstlerszene Im Folgenden werden die Künstler vorgestellt, die zwischen 1980 und 1985 auf und hinter den Geraer Theaterbühnen tätig waren. Zuerst werden die Intendanten kurz eingeführt. Zu ihnen gehörten Heinz Schröder, Herbert Oestreich sowie dessen Sohn, Erhard Oestreich. Ihnen folgen in der Vorstellung diejenigen Künstler, die seit den frühen 1980er Jahren berufliche und/oder politische Verantwortung innerhalb ihres Theaters oder andere künstlerische Einrichtung übernommen hatten und damit zwischen der Theaterleitung und der »Basis« agierten. Zum Schluss werden die »jungen Wilden« vorgestellt, denen es vor allem darum ging, »anders« zu sein, anders als das Gros der Gesellschaft. Die Intendanten als »Verwalter« Auf die Einführung des Intendanten der Städtischen Bühnen Geras, Heinz Schröder, muss an dieser Stelle verzichtet werden, denn wir haben kein Interview mit ihm geführt. Interviewte Künstler erzählten, dass Heinz Schröder zunächst im Ministerium für Kultur tätig gewesen war und dort die Theaterarbeit der Republik betreute. Die Übernahme der Intendanz der Städtischen Bühnen Gera kann als Auszeichnung seiner im Ministerium geleisteten Arbeit verstanden werden. Sein Interesse galt vor allem Uraufführungen in den verschiedenen Sparten seines Hauses und dem politisch korrekten Auftreten nach außen. 170 Herbert Oestreich hatte die Puppenbühne »Oestreich-Ohnesorge« in den 1950er Jahren in ein staatliches Puppentheater überführt, nachdem er in sowjetischer Kriegsgefangenschaft das sowjetische Puppentheater kennengelernt und sich vom Entwicklungspotenzial eines Kollektivspiels hatte überzeugen lassen. 171 Nach seinem Tod ging 169 Vgl. van Laak; Leo: Erinnerungen der Macht (Anm. 1), S. 1066. 170 Vgl. beispielhaft ThHStA Rudolstadt, SED-BL Gera, Nr. A 7759, Bl. 35; BL der SED Gera, Nr. A 9250, Bl. 28 ff.; SED-BL Nr. IV/D-7/065/001, Bl. 6. Rezensionen in: »Theater der Zeit«: Schneider, Elke: Das Ballett findet statt. »Das Gespenst von Canterville« in Gera uraufgeführt. In: TdZ 11/1981, S. 17; zur »Legende vom Glück ohne Ende« von Ulrich Plenzdorf in Gera siehe TdZ 1/1986, S. 21. Außerdem »Umfrage bei Theaterleitern« in: TdZ 9/1988, S. 38–40. 171 Ebenda, S. 54.
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die Leitung der Puppenbühne »Oestreich-Ohnesorge« an Erhard Oestreich über. Erhard übernahm ein mittlerweile etabliertes Theaterhaus, das in den 1960er Jahren DDR-weit beachtet wurde. 172 Erhard Oestreich wurde 1933 geboren und wollte ursprünglich Autoschlosser werden. 173 Da dies nicht möglich war, absolvierte er nach dem Krieg eine Ausbildung als Mechaniker und Elektriker. Bereits ein Jahr nach der Gründung der Puppenbühne »Oestreich-Ohnesorge« holte ihn der Vater zu sich. Die »Kollektivierung« der Puppenbühnen erlebte der Sohn unmittelbar. Das Ensemble hatte sich von einer freien Bühne mit unsicheren finanziellen Einkünften zu einem etablierten Haus mit festen Einkünften für die Puppenspieler entwickelt. Die Anerkennung ihrer künstlerischen Leistungen durch Preise und Auszeichnungen taten ein Übriges, um die Verstaatlichung insgesamt als Fortschritt für das Puppenspiel zu bewerten. Dass der Sohn das Puppentheater übernehmen würde, stand für ihn selbst außer Frage. Politisch gab es keinen Einwand, war er doch 1967 in die SED eingetreten, und das MfS hatte bereits seit 1964 Vertrauen in ihn. 174 Für den alten Oestreich schien das jedoch nicht so naheliegend zu sein. Auf den Gedanken, den Sohn mit den Leitungsaufgaben innerhalb des Puppentheaters vertraut zu machen, kam er während seiner Amtszeit jedenfalls nicht. So erzählt der Sohn über die Übernahme dieser Aufgabe: »Bloß war ich damals unbeleckt für das Ganze [die Leitung des Puppentheaters – JvL], weil mein Vater und die Rosemarie Tschirner haben die ganzen geschäftlichen Dinge erledigt und jeder hatte seinen Aufgabenbereich, sein Ressort. Und ich habe da keinen Einfluss gehabt. Ich hatte das ja noch nie gemacht und ich musste mich dann so recht und schlecht da hineinfinden.« 175
Erhard Oestreichs Faible zur Puppenspielkunst entwickelte sich erst allmählich. So wollte er »als junger Mann nie Theater spielen«. Deshalb war Erhard zunächst als Beleuchter und Elektriker tätig; allmählich führte ihn der Vater ins Puppenspiel ein. »Und es ist so, wenn man einmal geschnuppert hat, man vom Puppenspielen nicht wieder loskommt.«176 Der Sohn hoffte vergeblich, einmal unter dem Vater den »Kasper« spielen zu können. 177 Sein wichtigstes Stück war »Die Wunschlaterne«, das auf dem UNIMA-Festival 1984 in Dresden gespielt wurde. In der Erinnerung der Puppenspieler reiste Oestreich vor allem mit nach Dresden, um die Spieler zu kon-
172 Singer: Puppentheater Gera (Anm. 23), S. 55. 173 Ebenda, S. 58. 174 Vgl. hierzu Haase: Kaspar (Anm. 22), S. 15 f. 175 Singer: Puppentheater Gera (Anm. 23), S. 53. 176 Ebenda. 177 Doch nur der »Prinzipal« spielte den Narren. Zwar entwarf der Sohn heimlich sein eigenes Kasperstück, er konnte es jedoch nur zweimal heimlich aufführen. Erhard vermutete: »Er [der Vater – JvL] hat mir das wahrscheinlich nicht zugetraut.« Ebenda, S. 55.
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trollieren, damit die »verbotenen Sätze« auf der Bühne auch tatsächlich nicht gesagt wurden. 178 Die »Macher« Ingrid Fischer wurde 1941 in Görlitz geboren. Bis zum Frühjahr 1945 hatte ihr Vater, Dr. Johannes Fischer, die Geschäftsführung einer Hefefabrik in Görlitz inne, in der er auch Gesellschafter war. Als Kind erlebte sie die Internierung des Vaters durch sowjetische Truppen, anschließend die Evakuierung der Familie. Die Mutter musste drei Kleinkinder allein versorgen, auch als der Vater schwerkrank zurückgekehrt war. Fischer absolvierte nach dem Abitur eine Lehre zur Buchhändlerin. Der Vater wollte, dass die Kinder einen »richtigen« Beruf erlernten. Seit ihrer Jugend hatte es sie zum Theater gezogen. Zwischen 1960 und 1966 spielte sie im »Studio« der Bühnen der Stadt Gera mit. Zwar bestand sie verschiedene Aufnahmeprüfungen an den Schauspielschulen des Landes, aber sie erhielt keine Immatrikulation, wohl weil sie kein »Arbeiterkind« war. Schließlich gelang es ihr, zur Ausbildung als Puppenspielerin nach Prag delegiert zu werden, was sich jedoch mit dem Prager Frühling 1968 zerschlug, weil die DDR-Führung ihre Staatsbürger aufforderte, in die DDR zurückzukehren. Gezwungenermaßen wechselte sie deshalb nach Leipzig und studierte Theaterwissenschaften, da das Fach Puppenspiel in der DDR noch nicht angeboten wurde. Nach ersten Erfahrungen in Berliner Theatern kehrte sie um 1978 an das Geraer Puppentheater zurück, wurde 1980 Oberspielleiterin und 1982 stellvertretende Direktorin der Puppenbühne. In dieser Zeit trat sie der SED bei, weil sie die Idee »Sozialismus« für eine gute Idee hielt, die sich der Parteinahme lohne. 179 Auch Dietrich Kunze ist ein Kriegskind. Er wurde 1943 in Dresden geboren. Seine Eltern waren Anhänger des Nationalsozialismus, weshalb es zu einem Bruch mit den Großeltern mütterlicherseits kam. Nach der englischen Kriegsgefangenschaft arbeitete der Vater zunächst in einer Möbelfabrik und von 1949 bis 1953 als Bergarbeiter bei der SDAG Wismut. Nach der Genesung von einer schweren Silikoseerkrankung absolvierte der Vater dann mit fast 50 Jahren ein Ingenieursstudium an der Bergakademie Freiberg. Diese Qualifizierung ermöglichte ihm eine berufliche Position beim Geologischen Dienst Jena. Dietrich Kunze studierte nach dem Abitur 1961 zunächst Chemie und engagierte sich im Studententheater. Nach nur einem Semester wechselte er zur Germanistik. 1969 erhielt Kunze ein erstes Engagement als Regieassistent an den Städtischen Bühnen Geras, später wurde er Regisseur und 1983 Schauspieldirektor. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre trat er in die SED
178 Vgl. Interview mit Astrid Griesbach am 22.2.2008, mit Ingrid Fischer am 14.7.2007; Singer: Puppentheater Gera (Anm. 23), S. 46. 179 Vgl. Interview mit Ingrid Fischer am 14.7.2006 und am 30.6.2007.
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ein, der er bis 1989 angehörte. 1986 wurde Kunze freischaffender Regisseur und inszenierte unter anderem in Schwerin, Weimar und Leipzig. 180 Eberhard Kneipel, 1939 geboren, studierte Musikerziehung und Germanistik und wurde Lehrer. Während der Armeezeit, 1963 bis 1964, wurde ihm eine militärische Karriere angeboten. Doch Kneipel wollte weder Lehrer bleiben noch Offizier werden. 1964 wurde er stellvertretender Direktor und Fachmethodiker für den Bereich der Chormusik am Bezirkskabinett für Kulturarbeit. 1965 ging Kneipel als wissenschaftlicher Mitarbeiter an die Friedrich-Schiller-Universität Jena. Dort wurde er 1974 promoviert, Oberassistent, Fachbereichsleiter Musikwissenschaft und später Wissenschaftsbereichsleiter Kunstwissenschaften/Kulturtheorie an der Sektion Literatur- und Kunstwissenschaften.Weil ihm die Universität keine weiteren Entwicklungsmöglichkeiten bot, ergriff er das Angebot der Städtischen Bühnen Geras: Das war »insofern verführerisch, dort haben sie alle sechs Wochen mal ein Erfolgserlebnis gehabt. Wenn Sie so (in) ne' Produktion reingehen und machen dafür eine Konzeption, sitzen mit der Truppe zusammen, erarbeiten das und haben dann die Premiere [...] dann ist das gut.« 181
Kneipel wurde 1983 Erster Stellvertreter des Intendanten und im Herbst 1989 Intendant. Anton Grau 182 wurde 1944 geboren. Sein Vater galt im Zweiten Weltkrieg als vermisst. Die Mutter zog die älteren Schwestern und den Sohn allein auf. Nach dem Abitur wollte Grau Journalist werden, erhielt hierfür jedoch keine Studienzulassung, sodass er den Umweg über den Beruf des Schriftsetzers wählte. Während seiner Ausbildung in der Druckerei wurde er FDJ-Sekretär und trat bald in die SED ein. Nach seinem Grundwehrdienst 1968/69 wurde er Redakteur bei einer Bezirkszeitung und absolvierte ein Fernstudium am Literaturinstitut »Johannes R. Becher« in Leipzig. Seit Ende der 1970er Jahre leitete er hauptberuflich eine Kulturorganisation in Gera. Er selbst beschreibt sich als ein »an politischen Dingen stark Interessierter«, dem die Partei nicht zuletzt ein Vaterersatz wurde. 183 Als Erstes fällt bei der Vorstellung dieser Künstler auf, dass sie verhältnismäßig lange ihrem Berufsideal nachgestrebt und Umwege hierfür in Kauf genommen haben. Hatten sie einen Arbeitsplatz innerhalb der staatlich zugelassenen Kulturbetriebe gefunden, etablierten sie sich mit einer mehr oder weniger konventionellen Kunst, die sowohl auf Unterhaltung als auch auf die Schilderung sozialer Problemlagen innerhalb der DDR-Gesellschaft zielte. Sie waren an »guter Kunst«, verstanden als
180 181 182 183
Vgl. Interview mit Dietrich Kunze am 26.11.2006. Interview mit Eberhard Kneipel am 8.12.2006, Transkript, S. 70. Der Name wurde aus datenschutzrechtlichen Gründen pseudonymisiert. Interview am 7.9.2006, Transkript, S. 13 f.
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»Handwerk«, interessiert. 184 In den Interviews betonen sie, dass ihnen ihre Arbeit Neigung und Berufung zugleich gewesen sei. Sie erzählen, wie es ihnen gelang, trotz zahlreicher Hindernisse in dem angestrebten Metier Fuß zu fassen, wie sie das Theater oder das Schreiben seit Kindheit oder Jugend anzog, wie sie in Laiengruppen erste Erfahrungen sammelten oder sich als Wandzeitungsredakteure in den Schulen betätigten. Und sie berichteten auch, wie sie ihr Ziel nicht oder nur in besonderen persönlichen Umständen aus den Augen ließen. Es fällt zweitens auf, dass diese Künstler, als solche verstanden sich auch Kneipel und Grau, zwischen allen Stühlen gesessen haben mussten. Denn sie waren es, die am Theater oder in Kulturorganisationen zwischen den staatlichen und parteilichen und den künstlerischen Interessen vermittelten. Für Ingrid Fischer und Dietrich Kunze kann festgehalten werden, dass sie vornehmlich aufseiten der Künstler standen. Dies führen sie in ihren Erzählungen nicht explizit aus, aber es schwingt in der Darstellung ihrer Theaterarbeit mit. Die Position von Eberhard Kneipel und Anton Grau in dieser Auseinandersetzung kann nicht so eindeutig bestimmt werden. Grau betonte vielleicht ein wenig zu offensiv, stets das Beste für die Künstler und die Kunst gewollt zu haben. 185 Hinzu kommt, dass die Aussagen anderer Künstler Zweifel daran aufkommen lassen. 186 Somit befanden auch sie sich in einer ähnlichen Position wie Gitta Heil, Marianne Daudert 187 oder Lothar Toepel: Sie waren so etwas wie Vermittler. Gemeinsam mit den Genannten ist ihnen die generationelle Stellung, die ebenfalls zwischen allen (bisherigen) Zuschreibungen zu liegen scheint: Sie wurden während des Krieges geboren. Somit war ihre Kindheit von Kriegsfolgen geprägt: Verlust des Vaters, der Heimat, Neuanfang. Schon früh übernahmen sie innerfamiliäre Verantwortung, meist wenn der Vater für immer oder doch zumindest für lange Zeit abwesend war. 188 Das Ausmaß dieser Übernahme erwachsener Positionen mag unterschiedlich gewesen sein, prägend war es allemal. Vor diesem Hintergrund erzählen sie folgerichtig ihr Leben in der DDR, das in manchen Fällen auch als eine Verantwor-
184 Vgl. hierzu Frevert, Ute: Der Künstler. In: Dies.; Haupt, Heinz-Gerhard (Hg.): Der Mensch des 19. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 1999, S. 292–323 sowie Göschel: Kontrast (Anm. 42), S. 123 f. 185 Vgl. Interview am 7.9.2006. 186 Hierzu ist anzumerken, dass sich die Zeitzeugen untereinander nicht gegenseitig denunziert haben. Sie übten vielmehr Zurückhaltung gegenüber denjenigen, denen sie eine inoffizielle Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit zutrauten. 187 Marianne Daudert (1925–1984) war Referentin für Theaterarbeit. Deren Positionierung kann nicht ganz so eindeutig ausfallen, hatte sie sich doch zu einer inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS verpflichtet. Vgl. Matthias Braun in diesem Band, u. a. Anm. 128 u. 145. 188 Vgl. Bode: Vergessene Generation (Anm. 65).
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tungsübernahme für die Versäumnisse oder die Schuld der Eltern interpretiert werden kann. 189 Als Drittes kann hervorgehoben werden, dass sie zwar nicht vordergründig nach verantwortungsvollen Positionen strebten, die ihnen angebotene Karriere jedoch annahmen. Aus ihren Erzählungen klingt durchaus Stolz auf die ihnen damit übertragene Verantwortung, auf das Vertrauen, das ihnen von »Vater Staat« und »Mutter Partei« entgegengebracht wurde. Sie bewarben sich meist dann um die etwas verantwortungsvolleren Stellen, wenn sie ausdrücklich von Kollegen in Leitungsfunktionen, die zudem in der Regel auch Mitglieder in der SED waren, aufgefordert wurden. 190 Ingrid Fischer, Dietrich Kunze, Eberhard Kneipel und auch Anton Grau kannten zudem das Dilemma: von vorgesetzter Stelle zur Verantwortung gezogen zu werden, wenn etwas nicht war, wie es sich die vorgesetzte Seite vorstellte. Zu einem bestimmten Zeitpunkt mussten sie sich zudem entscheiden, welche Interessen sie vertreten: die der Funktionäre oder die der Künstler. Und sie mussten sich befragen, wo ihre eigenen Interessen lagen und blieben? Die hier vorgestellten Künstler in leitenden Funktionen versuchten den Nachwuchs zu fördern und sie bewahrten sich die Nähe zu den Künstlern an der Basis, also zu denjenigen, die allabendlich die Bühnen betraten und spielten. Das bedeutete auch, dass sie für die »Jungen« und deren Aktionen einstanden. Sie bildeten in der Regel einen gewichtigen Part, wenn nicht gar den stabilisierenden Teil in den Kollektiven, den Gemeinschaften, der für die »Generation Eins« so bedeutsam wurde. 191 Die Interviews verdeutlichen, wie wichtig es den hier vorgestellten Künstlern war, Dinge in ihren Bereichen in Bewegung zu setzen und zu halten. Hierfür arbeiteten sie vor allem mit jüngeren Künstlern zusammen, die dem Neuen gegenüber aufgeschlossen waren. In ihrer Vermittlerposition unterstützten sie nicht zuletzt die Aktionen junger Künstler, die für die Funktionäre durchaus gewöhnungsbedürftig waren. So erzählte Dietrich Kunze ausführlich über die Aktionen junger Schauspieler wie Leander Hausmann und Uwe Dag Berlin, die Mitte der 1980er Jahre an den Städtischen Bühnen Geras spielten und die er gegenüber der Theaterleitung verantwortete. 192 Ingrid Fischer befürwortete, dass Martin Morgner Theaterwissenschaften und später Peter Müller Puppenspiel studieren konnten. 193 Eberhard Kneipel unter189 Vgl. hierzu Chiarloni, Anna: Nachdenken über Christa Wolf. In: Stillmarck, Hans-Christian (Hg.): Rückblicke auf die Literatur der DDR. Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Bd. 22. Amsterdam u. a. 2002, S. 115–154. 190 Vgl. Zimmermann: Kader (Anm. 76), S. 324 f. 191 Vgl. Wierling: Generation Eins (Anm. 36), S. 346 u. 354 ff. 192 Vgl. Interview mit Dietrich Kunze am 26.11.2006, Transkript, S. 12 f. 193 1. Interview mit Ingrid Fischer am 14.7.2006, Interview mit Martin Morgner am 15.7.2006, Interview mit Peter Müller am 4.9.2006.
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stützte Herbert Mitschke, indem er ihn in die Vorbereitung der Tage der zeitgenössischen Musik in Gera einbezog. Und Anton Grau versuchte – eigenen Aussagen zufolge – das Misstrauen staatlicher Sicherheitsorgane gegenüber denjenigen, die ihm anvertraut waren, zu zerstreuen. 194 Auf ihre Arbeit und ihr Selbstverständnis hin angesprochen erzählte Ingrid Fischer, dass ihre Stücke ihr wichtig erscheinende Botschaften enthielten und enthalten sollten. Das war ihr wichtig: »Also mir lag es nie [...], einfach nur so ganz lockere, lustige Sachen [zu] machen.« 195 Auch Dietrich Kunze positioniert sich hier. Seine Theaterarbeit verstand und versteht er als »wider den Stachel löcken«. Er wollte zur politischen Meinungsbildung beitragen, die sich an der SED-Linie behutsam anlehnte, den Handlungsspielraum aber erweiterte. Auch Grau wollte, dass die Kunst die Gesellschaft voranbrachte. Fischer, Kunze und Grau halten zum Teil bis heute an der Utopie des »wahren Sozialismus« bzw. an der Hoffnung auf einen »Dritten Weg« fest. Sie hofften, in der Partei etwas für das Land und speziell für ihre Kunst verändern zu können, deshalb waren sie in die SED eingetreten. 196 Ihrem KunstVerständnis liegt eine Ernsthaftigkeit zugrunde, die andeutet, dass viele Facetten ihrer Stücke schwer erarbeitet werden mussten, manches schien regelrecht erkämpft worden zu sein. 197 Ingrid Fischer und ihr Team betrachteten es als Herausforderung, sowohl für Kinder als auch für Erwachsene zu inszenieren. Ingrid Fischer hierzu: »Ich hatte das Konzept, bis heute, immer mehrschichtig zu inszenieren. Das heißt, wenn wir Stücke für kleine Kinder machen [...], ist immer was […] für Erwachsene [dabei], [...] denn die Erwachsenen schicken die Kinder. Ja, da war oft was mit Ironie oder mit Kritik oder mit irgendwas zu hinterfragen oder so drin. Und das war damals so und ist für mich heute auch noch so.« 198
Der Anspruch, das Publikum zum kritischen Hinterfragen anzuregen, enthält durchaus eine erzieherische und aufklärende Komponente. 199 Die »jungen Wilden« 200 Bei den »jungen Wilden« handelt es sich zum Großteil um »Kinder der DDR«, die zunächst kein anderes Land, keine andere Staatsform kennengelernt hatten als eben die der DDR. Die »Kinder der DDR« waren, ähnlich wie ihre Geschwister in der 194 Interview am 7.9.2006. 195 2. Interview mit Ingrid Fischer 30.6.2007, Transkript, S. 21. 196 2. Interview mit Ingrid Fischer 30.6.2007, Transkript, S. 36, Interview mit Dietrich Kunze am 26.11.2006, Transkript, S. 17 u. 23. 197 Göschel: Kontrast (Anm. 42), S. 100. 198 1. Interview mit Ingrid Fischer am 14.7.2006, S. 18. 199 Vgl. hierzu auch Meyen, Michael; Fiedler, Anke: Die Grenze im Kopf. Journalisten in der DDR. Berlin 2011. 200 Zur geheimdienstlichen Bearbeitung der »jungen Wilden« siehe ausführlich die entsprechenden Kapitel von Matthias Brauns Beitrag »Dramaturgie der Repression – Der ZOV »Bühne« in diesem Band.
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Bundesrepublik, mit dem Versprechen der Eltern aufgewachsen, dass es ihnen besser gehen sollte, dass sich an ihnen die Visionen der Alten erfüllen sollten, dass die Welt ihnen gehören würde. 201 Das Duo »Görnandt & Rönnefarth« 202 Matthias Görnandt wurde 1951 geboren. Sein Vater war Pfarrer, die Mutter Hausfrau. 203 Zur Kunst gelangte Görnandt über Umwege, das Theologiestudium brach er ab, jobbte dann bei einem Restaurator und wurde Mitte der 1970er Jahre als freischaffender Künstler im Verband Bildender Künstler aufgenommen. Davor hatte er einen Antrag auf Ausreise in die Bundesrepublik gestellt, diesen ein paar Jahre später jedoch wieder zurückgezogen. Görnandt haderte mit diesem Entschluss nicht, vielmehr beschloss er auf der Klaviatur des Systems auf seine Weise zu spielen. 1984 übernahm er beispielsweise den Vorsitz der Sektion Lied und Kleinkunst des staatlichen Komitees für Unterhaltungskunst, der er bis 1989 vorstand. Bernd Rönnefarth lernte den damals als Grafiker tätigen Görnandt über einen Freund kennen. Rönnefarth, 1952 in eine Apothekerfamilie hineingeboren, hatte Medizin studieren wollen, jedoch einen Studienplatz für Chemie erhalten. Der zwei Jahre jüngere Bruder war mit dem Staat in Konflikt geraten und nach seiner Inhaftierung in die Bundesrepublik gegangen. Der jüngeren Schwester schließlich wurde das Medizinstudium gewährt. Rönnefarth hatte als Kind Geige spielen gelernt. Auf einer Vernissage kam er mit Görnandt ins Gespräch. Sie unterhielten sich über dieses und jenes, auch über Musik, und es entwickelte sich die Idee, gemeinsam Musik zu machen. Johannes Schlecht wurde 1948 in Südthüringen geboren, studierte nach dem Abitur zunächst Theologie und parallel dazu an der Franz-Liszt-Hochschule in Weimar zusätzlich Klavier, Orgel und Komposition. Ab 1975 lebte er als Freier Komponist in Berlin und gründete zusammen mit Görnandt und Rönnefarth »CIRCUS LILA«. 204 Alle drei Musiker entstammten »bürgerlichen Verhältnissen«, wie es Rönnefarth selbst bezeichnete. 205 Sie hatten die sich ihnen bietenden Möglichkeiten der Qualifikationen so genutzt, dass sie in den 1980er Jahren von ihrer Kunst leben konnten. Es ging ihnen dabei nicht um eine Anerkennung von Staat oder Partei. Sie wollten Musik machen, Geld damit verdienen und sich nicht groß verbiegen. Die Nische 201 Wierling: Wie (er)findet man eine Generation? (Anm. 67), S. 225 f. Vgl. außerdem Lenski, Katharina; Merker, Reiner: Zwischen Diktat und Diskurs: oppositionelle Handlungsräume in Gera in den 80er Jahren. Jena 2006. 202 Siehe Matthias Braun in diesem Band, S. 158 ff. 203 Kleßmann, Christoph: Kinder der Opposition: Berichte aus Pfarrhäusern in der DDR. Gütersloh 1993, S. 27–33, hier 30 f. 204 http://www.johannes-schlecht.de/biografie.php [13.11.2009]. 205 Interview mit Bernd Rönnefarth am 26.3.2007, Transkript, S. 2.
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des Kinder-Musik-Theaters bot dazu den notwendigen Raum. Hier war die Konkurrenz gering 206, und auch der Westen entdeckte gerade den Musikmarkt für Kinder. 207 Rückblickend ließe sich konstatieren, dass sie die sich ihnen bietende Bühne genutzt hatten, um nach eigenen Ansprüchen weitgehend unbehelligt zu leben. Görnandt verstand sich in diesem Sinne als ein Grenzgänger. 208 Sie wollten auch keine »sozialistisch« genannte Idee weiterentwickeln. Sie wollten Musik machen und anders sein, deshalb wurden sie als »junge Wilde« hier aufgenommen, obwohl sie auch als »Macher« charakterisierbar wären. »Liedehrlich« Kay Frotscher, Stephan Krawczyk und Jürgen Quarg 209 hatten sich im Singeklub »Patria« kennengelernt. Auch sie wurden in den 1950er Jahren geboren, Frotscher 1952, Quarg und Krawczyk 1955. Krawczyks Eltern hatte es in der Nachkriegszeit aus Schlesien nach Weida, einer mittelgroßen thüringischen Stadt, verschlagen. Krawczyk besuchte die zehnklassige Schule in Weida und legte zwei Jahre später das Abitur in Gera ab. Als 15-Jähriger entdeckte er die Gitarre für sich, deren Spiel er sich in der Folge autodidaktisch aneignete. Zudem schloss er sich dem Singeklub »Patria« an. Während der Armeezeit reifte bei Krawczyk der Entschluss, den Studienplatz für Mathematik und Physik zurückzugeben, zumal er die gewünschte Studienrichtung Sport/Biologie nicht erhalten hatte, und sich stattdessen im Kulturbetrieb umzusehen. Außerdem trat er in die SED ein. Nach einer »Probezeit« als Reinigungskraft erhielt er eine Planstelle im Geraer »Klub der Jugend und Sportler«. Wenig später übernahm er ein Weiterbildungsprogramm für Laienmusiker und studierte einmal wöchentlich an der Franz-Liszt-Hochschule in Weimar das Fach Konzertgitarre. Seine Entwicklung vom Mitglied der Singebewegung der FDJ über den Folkloremusiker zum Liedermacher erklärte er im Interview so: »Mir ging es darum, Musik auszuüben. Das war ein Ensemble, wo schon Gitarristen gespielt haben und für mich war das natürlich eine Herausforderung, da hab ich bestimmte Dinge natürlich gelernt [...] und gerade die Lieder von ideologisierendem Gehalt her waren für mich 206 Lakomy, Reinhard: Es war doch nicht das erste Mal. Erinnerungen. Berlin 2000; Zahlmann, Stefan: Autobiographische Verarbeitungen gesellschaftlichen Scheiterns. Die Eliten der Amerikanischen Südstaaten nach 1865 und der DDR nach 1989. Köln u. a. 2009, S. 235, 248 u. 251. Gerhard Schöne, geboren 1952 in Coswig, Eltern Pfarrer, nach der Lehre zum Korpusgürtler diverse Tätigkeiten, 1974–1978 Fernstudium Unterhaltungsmusik an der Musikhochschule »Carl Maria von Weber« in Dresden, 1976 Umzug nach Berlin, 1977 und 1983 Preise zu den Chansontagen in Frankfurt/O., 1978–1979 NVA-Bausoldat, ab 1979 freischaffend. Vgl. Kirchenwitz: Folk (Anm. 19), S. 185. 207 Erinnert sei an Rolf Zuckowski oder Fredrik Vahle. 208 Kleßmann: Kinder der Opposition (Anm. 203), S. 33. 209 Ein biografischer Werdegang zu Jürgen Quarg kann nicht gegeben werden, da es uns nicht gelang, mit ihm in Kontakt zu treten.
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nicht fragwürdig, weil die DDR für mich ein System war, gewissermaßen, das für mich zur damaligen Zeit naturgegeben war. [...] Aber für mich stand die Ausübung von Musik im Vordergrund.« 210
Während sich Krawczyk hier ganz als Künstler präsentiert, hatte er Anfang der 1990er Jahre noch ein weiteres Motiv ausgeführt: »Wir wollten ehrliche Lieder singen, uns – schon im Titel – abgrenzen von den Lügen, die in uns ihre Mutationen bereits hinterlassen hatten.« 211 Kay Frotscher wurde 1952 geboren, beide Eltern waren Opernsänger. Da er als Sechsjähriger den Vater verlor, verbrachte Kay Frotscher den Großteil seiner Schulzeit in kirchlichen Kinderheimen. Die Mutter animierte ihn zum Klavierspiel, später wechselte er zur Gitarre. Frotscher wollte Journalist werden und versuchte seinem Ziel auf dem Umweg als Schriftsetzer näherzukommen. In der SED-eigenen Druckerei Pößneck fühlte er sich fremd, die Mitgliedschaft in gesellschaftlichen Organisationen war ihm suspekt. Auch er arbeitete nach der Armeezeit zunächst beim Kreiskabinett für Kulturarbeit. Nach internen Auseinandersetzungen kündigte er. Zahlreiche Bewerbungen scheiterten trotz anfänglicher Zusagen, weshalb er sich an den Leiter des Puppentheaters, einen Freund der Familie, wandte. Erhard Oestreich vermittelte ihm daraufhin eine Stelle als Techniker am Puppentheater Gera. Seit Anfang der 1980er Jahre war er mit Krawczyk und Quarg als freischaffender Musiker unterwegs. Die Folklore lag ihm, damit fühlte er sich wohl und das von den DDR-üblichen Strukturen unabhängige Leben kam ihm sehr entgegen. Als Stephan Krawczyk innerhalb der Gruppe eine Weiterentwicklung anregte und neben den einstigen Soldatenliedern zunehmend neue Lieder spielen wollte, kam es zu Spannungen unter den Musikern. 212 Frotscher und Quarg wollten bei der Folklore bleiben, weshalb die drei sich Ende 1983 offiziell trennten. Frotscher und Quarg spielten weiterhin bis 1987 unter dem Namen »Liedehrlich« zusammen, zunehmend auch Lieder von Freunden wie Martin Morgner, bis Kay Frotscher von einer Besuchsreise in die Bundesrepublik nicht zurückkehrte. Herbert Mitschke, geboren 1954, gehörte ebenfalls zur Musikerszene Geras in den 1980er Jahren. Sein Vater hatte in den 1920er und 1930er Jahren in Südamerika gelebt und dort unter anderem als Fakir gearbeitet. Nach seiner Rückkehr nach 210 Interview mit Stephan Krawczyk am 5.10.2006. 211 Krawczyk, Stephan: Sie haben mit nichts zu tun (ich, die kunst, deutschland). In: Ders.: Schöne wunde Welt. Berlin 1990, S. 148. 212 »Ich habe schon immer politische Lieder gesungen, ob in der Singebewegung oder in der FolkloreZeit, d. h., ich habe die Lieder nach ihrer politischen Aussage bewertet und gesucht. Ich glaube aber, dass man die Menschen besser provozieren kann, wenn man etwas ihnen auch aktuell Naheliegendes behandelt. In der Gegenwart gibt es Themen und Probleme, die neu sind, die man auf dem Umweg über die Folklore nicht bewältigen kann.« Aus Werkstattgespräch mit Stephan Krawczyk. Vgl. Morgner, Martin: Zersetzte Zeit. Lied von der Marionette. Jena 2004, S. 263.
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Deutschland diente er in der Wehrmacht. Nach 1945 freundete er sich schnell mit dem sozialistischen System an. Die Mutter zog acht Kinder auf. Wie die Musiker von »Liedehrlich« lernte auch Herbert Mitschke autodidaktisch verschiedene Musikinstrumente, angefangen mit Querflöte und Gitarre. Zusammen mit zwei Brüdern spielte er von 1971 bis 1981 in der Band »SIT«, die 1978 eine freiberufliche Zulassung erhalten hatte. Nach einer Berufsausbildung mit Abitur zum Landvermesser trat er das ihm zugesagte Studium an der TU Dresden nicht an. Er wollte Musik studieren. Im Direktstudiengang war dies nicht möglich, weshalb auch Mitschke den Umweg über das Kreiskulturkabinett Gera nahm, wo er zunächst Laienchöre weiterbildete. Im Fernstudium studierte er schließlich von 1976 bis 1980 die Fächer Saxophon und Komposition an der Musikhochschule in Dresden, an der Weimarer Musikhochschule dann das Fach Dirigieren. Besonders inspirierten ihn die Liveauftritte von »SIT« bei Theaterproduktionen. Mitschke wurde von Eberhard Kneipel, dem stellvertretenden Intendanten der Bühnen der Stadt Gera, gefördert. Mit diesem organisierte er die »Tage der zeitgenössischen Musik«, die der Verband der Komponisten der DDR in Gera ausrichtete. Über Martin Morgner knüpfte er Kontakte zum Puppentheater, komponierte für einige Theaterstücke die Musik, schulte die Puppenspieler auf neuen Instrumenten. Auch Mitschke war ein junger Mann, der vor allem eines wollte: Musik machen. Puppenspieler Martin Morgner wurde 1948 geboren. Er studierte zunächst Volkswirtschaft, diente als Bausoldat und wandte sich zunehmend der Theaterarbeit zu. Erste Erfahrungen sammelte er 1971/72 bei der Inneren Mission der evangelischen Kirche BerlinBrandenburg in einer Arbeitsgruppe »Puppen- und Schattenspiel« und 1972/73 am Städtischen Puppentheater Dessau. Von dort ging er nach Mecklenburg und engagierte sich in der gleichnamigen Künstlerkommune. Nach deren Ende, den Künstlern wurde eine pazifistische Haltung vorgeworfen, 213 zog er 1975 nach Gera. Hier wurde er schließlich als Dramaturg am Geraer Puppentheater engagiert und konnte auf Empfehlung von Ingrid Fischer ein Fernstudium der Theaterwissenschaften in Leipzig absolvieren. Seine Versuche, in den Künstlerverband aufgenommen zu werden, scheiterten mehrmals. Mitte der 1980er Jahre verließ er Gera, arbeitete vor allem freiberuflich als Texter, Dramaturg und zunehmend auch als Journalist. Astrid Griesbach, 1956 geboren, wurde zunächst Krankenschwester, erwarb das Abitur und begann 1977 an der Pädagogischen Hochschule Erfurt zu studieren. 1979 brach sie das Studium ab und arbeitete ein Jahr als Volontärin in Wittenberg. 1980 bewarb sie sich an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« für das Fach Puppenspiel. Im Rahmen der staatlichen Absolventenlenkung erhielt sie ein 213 Morgner, Martin: Deckname »MASKE«. Die Künstlergemeinschaft Mecklenburg 1980/81. Eine Dokumentation (Schriftenreihe des Robert-Havemann-Archivs 2). Berlin 1995.
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Engagement an das Puppentheater Gera. Schon als Kind hatte sie Beziehungen zum Theater, sie nahm Ballettunterricht, spielte in einem Jugendtheater und später im Studententheater. 214 Für Astrid Griesbach ist das Theater Berufung. Peter Müller ist der Jüngste der hier vorgestellten Puppenspieler. Er wurde 1961 geboren, lernte zunächst bei der Post Nachrichtentechnik. Von seinem Büro aus hatte er auf die Puppenspielerszene geblickt, die ihn zunehmend faszinierte. Er besuchte Vorstellungen des Puppentheaters und bewarb sich schließlich erfolgreich als Techniker, da Kay Frotscher gerade in die Freiberuflichkeit gewechselt hatte. Schon bald übernahm Peter Müller andere Aufträge am Theater, so spielte er in der eigens für die »Kaspariade« gegründeten Band mit. Den Wehrdienst wollte er wie Martin Morgner als Bausoldat absolvieren. Doch den entsprechenden Antrag stellte er erst mit der Einberufung. Damit hatte er sich innerhalb der Kaserne exponiert. Wiederholt versuchten ihm die Staatssicherheitsfunktionäre eine Zusammenarbeit abzuringen, die er trotz der ständigen Angst vor dem Militärgefängnis ablehnte. 215 Nach der Armeezeit bewarb sich Peter Müller ebenfalls an der Berliner Schauspielschule. Das Studium für Puppenspiel absolvierte er zwischen 1986 und 1990. Nebenbei spielte er in verschiedenen Bands, vor allem aber im sogenannten »Müllharmonischen Orchester«. Diese noch heute überwiegend jugendlich wirkenden Künstler erzählten von ihrer Suche nach Entfaltungsmöglichkeiten und davon, wie sie in der Musik fündig wurden: Sie wollten Musik machen oder Theater spielen, um »anders« zu sein, um sich von der übrigen Gesellschaft abgrenzen zu können. 216 Dabei war ihnen bewusst, dass ihre Bühnen und ihr Platz darauf begrenzt waren. Sie bewegten sich zwischen Bühnenmitte und Bühnenrand verhältnismäßig frei. Der Bühnenrand war ihnen lieber, bot er ihnen doch mehr Handlungsoptionen als die in der Regel umkämpfte Bühnenmitte. Die Initiation: 18 Monate Grundwehrdienst Der Militärdienst war einer der Initiationsrituale, mit der die SED-Führungsriege die heranwachsende Generation auf die bestehende Gemeinschaft einzuschwören beabsichtigte. 217 Zu diesen Ritualen gehörten auch die Aufnahme in die Jungen 214 Interview mit Astrid Griesbach am 22.2.2008. 215 In Peter Müllers MfS-Akte findet sich folgender Satz: »Peter Winkler [...] wurde am 24.4.1985 auf der Basis der Überzeugung per Handschlag für die inoffizielle Zusammenarbeit mit dem MfS geworben.« (aus der Beurteilung des IM; BStU, MfS, BV Gera 07/3982/86.) Peter Müller selbst erinnert sich an zahlreiche, meist sehr zäh verlaufende Werbungsversuche, denen er lange widerstand. Die per Handschlag manifestierte Zusammenarbeit erklärt er sich so, dass er von einem Geraer MfS-Offizier, der zu seiner Entlassung aus dem Militärdienst angereist war, verabschiedet wurde mit den Worten »Wir sehen uns!« Vgl. Interview mit Peter Müller am 4.9.2006. 216 Göschel: Kontrast (Anm. 42), S. 163. 217 Erdheim, Mario: Die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit. Frankfurt/M. 1984, S. 296 ff. Vgl. hierzu auch Wierling, Dorothee: Opposition und Generation im Nachkriegsdeutschland.
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Pioniere, die Thälmann-Pioniere, die Aufnahme in die FDJ, die Jugendweihe, die Aufnahme in die SED und der »Ehrendienst« bei der NVA 218, den alle jungen Männer ab 18 Jahre absolvieren mussten. In den Erzählungen der hier vorgestellten Künstler fällt nun Folgendes auf: Erstens hatten sie in ihrer Jugend fast alle dem System DDR aufgeschlossen gegenübergestanden. 219 Sie kannten allerdings auch kein anderes. Manchmal bezeichnete sich der eine oder andere von ihnen in einer ironischen Bezeichnung als »gelernter DDRBürger«. 220 Zweitens kamen auch sie ähnlich wie die bereits vorgestellten »Macher« meist auf Umwegen zur Kunst. Zwar hatten sie bereits als Jugendliche für das eine oder andere Instrument Ambitionen entwickelt, doch der Drang, mit Musik oder Puppenspiel oder mit beiden den Lebensunterhalt zu verdienen, entwickelte sich erst später. Drittens beschreiben sie ihre künstlerischen Ambitionen als eine Möglichkeit, ihr »Anderssein« auszudrücken. Und viertens ist auffällig, dass bis auf zwei Ausnahmen 221 die meisten von ihnen weder in die SED eintraten noch etwas dafür taten, um in irgendeiner Weise eine Karriere in offiziellen Institutionen zu machen. Wenn man sich diese Befunde anschaut, so stellt sich die Frage, wann veränderte sich die Einstellung der »jungen Wilden« zum System? Was war der auslösende Moment hierfür? In der Analyse und Auswertung der Interviews fiel außerdem auf, dass die hier vorgestellten Künstler vor allem nach der NVA-Zeit einen anderen als den ursprünglich vorgesehenen Berufsweg einschlugen. Außerdem füllte die Armee-Zeit einen beträchtlichen Raum in den Interviews aus. 222 Peter Müller etwa erzählte von der ständigen Bedrohnung während der NVA-Zeit, aufgrund seines Ansinnens, als Bausoldat zu dienen, und seiner Weigerung, für die Staatssicherheit zu arbeiten, ins Militärgefängnis nach Schwedt zu kommen. 223 Bei Stephan Krawczyk führte die Gemengelage dazu, in die SED einzutreten, gleichzeitig aber auch dazu, den vorgesehenen Studiengang und die damit verbundene Lehrerlaufbahn abzulehnen. Bernd Rönnefarth erzählte bereits kurz nach Beginn des Interviews über die NVA:
Achtundsechziger in der DDR und in der Bundesrepublik. In: Kleßmann, Christoph u. a. (Hg.): Deutsche Vergangenheiten: eine gemeinsame Herausforderung. Der schwierige Umgang mit der doppelten Nachkriegsgeschichte. Berlin 1999, S. 238–252, hier 249. 218 Vgl. Schneider: Identität (Anm. 155), S. 147. 219 Vgl. Ahbe; Gries: Gesellschaftsgeschichte (Anm. 62), S. 536. 220 Interview mit Matthias Biskupek am 10.5.2006. 221 So war Stephan Krawczyk von 1976 bis 1985 Mitglied der SED und wurde per Parteiverfahren ausgeschlossen. Matthias Görnandt übernahm von 1984 bis 1989 den Vorsitz einer Sektion im Zentralen Komitee für Unterhaltungskunst. Hierin wurde er massiv von Gisela Steineckert protegiert. 222 Diese Zeit spielte bei allen Befragten eine große Rolle. So kam zum Beispiel Herbert Mitschke in dem gut zweistündigen Gespräch etwa 11 mal auf die Armee und das Militär zu sprechen, bei Kay Frotscher oder Bernd Rönnefarth war es ähnlich oft. Nicht selten waren sie schon wenige Minuten nach dem Gesprächsbeginn beim Thema Armee. 223 Interview mit Peter Müller am 4.9.2006.
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»Also in der Armeezeit hab ich den Staat kennengelernt. Ich habe immer gesagt, die die Armee ist das Konzentrat der DDR [...] Also man hat die die rigide Unterdrückung erlebt, die Ungerechtigkeit, die Dummheit, die Eitelkeit [...]. Aber in der Armeezeit [...] ist man eigentlich mit den wirklich harten Seiten des Staates schon in Berührung gekommen. Also man hat diese, diese die die die politische und die militärische Hierarchie selbst heftig erfahren und hat auch mitgekriegt, wie Leute bestraft wurden [...] Wir haben auch Leute getroffen, die dann aus Schwedt aus dem, aus dem NVA-Knast zurückkamen, die wirklich psychisch gebrochen waren. [...] Wir haben Selbstmorde mitbekommen.« 224
Rönnefarths Aussage unterstreicht in ihrer Ausführlichkeit und in der Art der Darstellung die Intensität der Erfahrung. Sie beschreibt stellvertretend die Lage innerhalb der Nationalen Volksarmee, die als Teil der Erfahrungsgeschichte der jungen Männer zu berücksichtigen ist. Uwe Tellkamp (Jahrgang 1965) hat die Erfahrungen in der NVA in ähnlicher Intensität literarisch in Szene gesetzt. 225 Seit ihrer Aufstellung in den 1950er Jahren schienen sich die Zustände in der Armee nur wenig verändert zu haben. Schon damals wurden »Herzlosigkeit, Überheblichkeit, Verletzung der Menschenwürde« moniert. 226 Eine Möglichkeit, sich die Verhältnisse jedenfalls einigermaßen erträglich zu gestalten, fanden die jungen Männer in der Musik. Krawczyk, Frotscher und Quarg gründeten in der Kaserne Tautenstein etwa eine gleichnamige Folkloregruppe; auch Mitschke und Müller versuchten bei der »Truppe« Musik zu machen. 227 Rönnefarths Einschätzung verdeutlicht zudem, wie fremd ihm das Militärische war und mit ihm das Streben nach Konformität, nach Anpassung, nach »totaler Vergesellschaftung« 228. So scheint es, als haben die um 1949 Geborenen den Zwang zu Konformität als erstarrte Pose, als fremd und vor allem als nicht mehr zeitgemäß wahrgenommen. Zudem entsprach es weder den »Liberalisierungstendenzen« der Zeit 229 noch dem Versprechen der Eltern, alles dafür zu tun, dass es keinen Krieg mehr gäbe, dass allenfalls eine freiwillige, aber nie eine erzwungene Anpassung gewünscht wäre. Nicht nur das in den 1970er und 1980er Jahren von der Partei weiterhin projizierte Feindbild der anhaltenden Bedrohung von außen wurde von den jungen Menschen als Konstruktion zum Machterhalt erkannt, auch die Notwendigkeit anderer Anpassungsleistungen wurde bezweifelt. 230 Die ablehnende Haltung der 224 Interview mit Rönnefarth am 23.3.2007, Transkript, S. 10 f. 225 Tellkamp, Uwe: Der Turm. Frankfurt/M. 2008. 226 Hagemann, Frank: Zur Parteiherrschaft in der Nationalen Volksarmee: Zur Rolle der SED bei der inneren Entwicklung der DDR-Streitkräfte. Berlin 2002, S. 83. 227 Interview mit Krawczyk, Frotscher, Mitschke, Müller. 228 Schneider: Identität (Anm. 155), S. 22. 229 Der Wehrersatzdienst war in der Bundesrepublik im Grundgesetz verfassungsrechtlich verankert, in der DDR erfolgte eine solche Festschreibung nicht. 230 Zu den Zweifeln an der Sinnhaftigkeit des Militärischen vgl. Rogg, Matthias: Armee des Volkes? Militär und Gesellschaft in der DDR. Berlin 2008, S. 559; Diedrich, Torsten: Herrschaftssicherung, Aufrüstung und Militärisierung im SED-Staat. In: Ehlert, Horst; Rogg, Matthias (Hg.): Militär, Staat und Gesellschaft in der DDR. Forschungsfelder, Ergebnisse, Perspektiven. Berlin 2004, S. 257–284, hier 276 ff.
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hier vorgestellten Jugend manifestierte sich zum einen darin, »nur« 18 Monate zu »dienen« oder sich von vornherein als Bausoldat zu melden; 231 zum anderen darin, sich nach dem Militärdienst Karrieren außerhalb des Establishments zu suchen. Worin die besondere Erfahrung der Armee-Zeit in der DDR für die jungen Männer bestand, kann an dieser Stelle nicht erörtert werden. Vermutlich steht diese Erfahrung in einem engen Zusammenhang mit der Gemengelage innerhalb der Kasernen. Diese ergab sich aus dem Umstand, dass in kaum einer anderen Institution der DDR zwei Interessenlagen auf so engem Raum auf-einanderstießen: Die SED beanspruchte auch hier ihre führende Rolle, während die neuaufgestellte, jedoch preußisch geprägte Nationale Volksarmee gar nicht daran dachte, sich von außen in ihre Belange hineinregieren zu lassen. Zwar versuchte die SED durch die angestrebte Mitgliedschaft der Offiziere in der SED, ihre Interessen durchzusetzen, aber gegen die Priorität des Militärischen konnte sie nur sehr schwer etwas ausrichten. 232 Solche Machtansprüche schienen zu zwischenmenschlichen Verwerfungen innerhalb der Truppe zu führen, die bislang nur literarisch beschrieben wurden. 233 Gemeinschaftsbildend wirkten diese Machtkämpfe vermutlich kaum. Hinzu kam, dass vor allem die NVA von ihren Rekruten eine Anpassung, eine Konformitätsleistung bis hin zur persönlichen Unterwerfung zu fordern schien und aufgrund der existierenden doppelten Machtansprüche dieser Zwang auf ein für die jungen Männer kaum zu ertragendes Maß potenziert wurde. Deshalb schien die mit dem Militärdienst intendierte Einschwörung auf die sozialistische Gemeinschaft unter der Führung der SED fehlzuschlagen, jedenfalls bei den von uns interviewten jungen Männern. Das Militär und die mit ihm verbundenen Anpassungsleistungen blieben ihnen fremd und das »Projekt DDR« wurde ihnen damit ebenfalls fremd. Deshalb verließen sie nach der NVA die vorgegebenen Karrierewege und wählten sich Berufe, die das Anderssein schon durch die Bezeichnung offenbarten: Görnandt und Rönnefarth widmeten sich der Musik in Mundart, die Musiker von Liedehrlich griffen neben Irish-Folk und Chansons auf die Volkslieder des 18. und 19. Jahrhunderts zurück, Herbert Mitschke wandte sich dem Jazz und der Modernen Musik zu, während Peter Müller sich der Punk-Musik verschrieb. Morgner wurde Puppenspieler, womit er sich mit Seinesgleichen von der ernsten Welt der Erwachsenen distanzierte. Zudem kann der Beruf des Puppenspie231 Bis auf Martin Morgner, der Bausoldat wurde, absolvierten die »jungen Wilden« dabei in der Regel den 18-monatigen Grundwehrdienst. Mitschke stieg bereits als 16-Jähriger aus, indem er auf seine weitere Turner-Karriere als Olympiakader verzichtete und die Sportschule mit angeschlossenem Internat verließ. (Interview mit Herbert Mitschke am 15.8.2006, Transkript, S. 7 f.) Frotscher hatte einen Teil seiner Kindheit in Heimen verbracht, er kannte die Enge einer Gemeinschaft. (Interview mit Kay Frotscher am 10.10.2006, Transkript, S. 19 f.) Auch Krawczyk und Peter Müller begrenzten den Militärdienst auf 18 Monate. 232 Hagemann: Parteiherrschaft (Anm. 226), S. 86; Rogg: Armee des Volkes? (Anm. 230), S. 559; Diedrich: Herrschaftssicherung (Anm. 230), S. 276 ff. 233 Vgl. Tellkamp: Turm (Anm. 225).
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lers symbolisch dafür stehen, dass man vor allem sich selbst vertraut, denn als Puppenspieler macht man in der Regel alles selbst: Puppenherstellung, Bühnenaufbau und nicht zuletzt das Puppenspiel. 234 Und manchmal spielten sie alle auf einer Bühne. Mitschke fasst es so zusammen: »Es gibt so Bilder, wo wir so in einer Gruppe stehen, mit dem Rücken zu allen.« 235 Diese Aussage unterstreicht den Grundanspruch, nicht dazu gehören zu wollen, sich nicht einzupassen, sich nicht einfügen zu wollen. Darüber hinaus zeigt es, dass die hier vorgestellten Künstler eine eigene Gemeinschaft bildeten, die das Anliegen verband, anders sein zu wollen, nicht dazugehören zu wollen, weil das, was die Gesellschaft verkörperte, ihnen mit der ArmeeErfahrung fremd geworden war. Diese neue Gemeinschaft führte in eine Außenseiterrolle, die von manchem als Nischenkultur bezeichnet wurde. Auch Astrid Griesbach wählte diesen Begriff: »[...] in der Nische steht man mit dem Rücken an der Wand: Also die Nische hat links 'ne Ecke, rechts 'ne Ecke und hinten 'ne Ecke und man ist – [...] geschützt und gefangen. Das haben Nischen so an sich.« 236
Ob der Begriff der Nische noch immer tragbar ist, soll hier nicht diskutiert werden, stattdessen sei auf die damit verbundene akzeptierte Selbstbeschränkung verwiesen, die an dieser Stelle reflektiert wird. 237 Nun bleibt die Frage, wie die hier vorgestellten Künstler mit der Armee-Erfahrung umgingen, die gleichzeitig eine Fremdheits- und eine Entfremdungserfahrung war? Hierfür wird der Blick auf ihr Repertoire in den frühen 1980er Jahren gerichtet.
4. Das Repertoire der Kunstszene Geras An dieser Stelle wird bewusst mit dem Begriff der »Kunstszene« gearbeitet, für den sich auch der Begriff der »Subkultur« 238 eignen würde. Peter Wurschi führt eindrücklich aus, dass die Mitglieder einer Szene ganz selbstbezogen ihren Interessen und Neigungen fröhnen. Dass sie sich untereinander zwar kennen, es ihnen aber auch möglich ist, sich unabhängig voneinander weiterzuentwickeln, andere Interessen nachzugehen oder sich andere »Szenen« zu wählen. Der Szene geht es um »Aktion und Erleben« und Handlungsoptionen differenzieren sich. 239 Außerdem lösen sich in Szenen die existierenden als öffentlich und privat erklärte Räume auf. 234 Vgl. Interview mit Ingrid Fischer am 14.7.2006, mit Martin Morgner am 15.7.2006. 235 Interview mit Herbert Mitschke am 15.8.2008, Transkript, S. 29. 236 Interview mit Astrid Griesbach am 22.2.2008, Transkript, S. 3 f. 237 Mittenzwei: Intellektuelle (Anm. 44), S. 345 ff. 238 Wurschi, Peter: Rennsteigbeat. Jugendliche Subkulturen im Thüringer Raum 1952–1989. Köln u. a. 2007, S. 21. 239 Ebenda, S. 30.
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In der DDR nun wurde die erste Ebene der Öffentlichkeit vor allem von der SED und der aktuellen politischen Linie diktiert. Auf der zweiten Ebene verhandelten DDR-Bürger in der Regel das, was sie eigentlich interessierte. Hier sagten sie, was sie eigentlich dachten. Und gerade Künstler waren es, die an der Öffnung und Ausdehnung beider Ebenen interessiert waren. In der Wissenschaft wurde für das Phänomen der zwei Öffentlichkeiten auch der Begriff des »Double-Talk« eingeführt. Dieser wiederum wurde angeblich meist als anstrengend und belastend empfunden. 240 Doch könnte es nicht sein, dass es gerade die Künstler waren, die mit diesen Ebenen spielten? »Liedehrlich« Stefan Krawczyk wäre fast ein »Kaiser-Geburtstags-Sänger« geworden, war er doch vor seiner Armee-Zeit einige Jahre Mitglied im Geraer Singeklub »Patria«. Als Kaiser-Geburtstags-Sänger hatte Wolf Biermann einst bestimmte Singeklubs bezeichnet, die in der DDR wiederholt in den Medien vor der und damit für die SEDParteiführung aufgetreten waren. 241 In Gera jedenfalls wurde Krawczyk lange als solcher angesehen, gehörte er doch zusammen mit »Liedehrlich« zu gern gesehenen Gästen auf bezirksoffiziellen Veranstaltungen. Daran änderte sich zunächst auch nichts, nachdem Krawczyk, Frotscher und Quarg ins zivile Leben zurückgekehrt waren. Sein kurzer Draht zum Bezirkskabinett für Kulturarbeit verhalf Krawczyk zu einer Anstellung, um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren und ein Fernstudium an einer Musikhochschule abzuschließen. Ähnliches gilt für Kay Frotscher. Mit dem Diplom für Konzertgitarre beantragten Krawczyk, Frotscher und Quarg die Zulassung als Berufsmusiker. 242 Musikalisch profilierten sie sich, indem sie politischideologische Protestsongs mit Irish-Folk, Chansons, Volksliedern und Volksweisen zunächst ergänzten und schließlich auch durch diese ersetzten. 243 Die neuen Texte fanden sie in alten Liedersammlungen, zum Teil aus dem 18. und 19. Jahrhundert, sie versuchten sich in eigenen Produktionen oder spielten die Lieder von Bekannten wie Martin Morgner. In der Bundesrepublik wurde schon damals darauf hingewiesen, dass sich die Musik von »Liedehrlich« und anderen Liedermachergruppen durch »beklemmende Aktualität und politische Treffsicherheit« auszeichne. 244 »Liedehrlich« reiste zu den jährlich in Leipzig stattfindenden Folkfestivals und wurde 1980 240 Ebenda, S. 49. 241 So hatte Biermann bestimmte Singeklubs bezeichnet, die immer wieder in DDR-Medien vor der und damit für die Parteiführung der SED auftraten. Möller: Liedkultur (Anm. 20), S. 108. 242 Vgl. hierzu Meyer, Thomas: Musiker zwischen Repression und Förderung – Bemerkungen zum kulturpolitischen System der DDR. In: Noll, Günther (Hg.): Musikalische Volkskultur und die politische Macht. Essen 1994, S. 43–55. 243 Traut, Horst: Aufmüpfige und gesellschaftskritische Volkslieder im Folk-Revival der DDR. In: Noll: Musikalische Volkskultur (Anm. 242), S. 56–69, hier 57. 244 Steinbiss, Florian: Deutsch-Folk: Auf der Suche nach der verlorenen Tradition. Frankfurt/M. 1984, S. 94.
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zum »Festival des politischen Liedes« nach Berlin eingeladen, wo sie neben international bekannten Bands auftraten. 245 1981 nahm Stephan Krawczyk an den Chansontagen in Frankfurt/O. teil und erhielt einen der Hauptpreise. Die Jury würdigte, dass die ausgewählte Musik, in der Mehrzahl traditionelles Liedgut, den Geschmack der Zeit träfe. 246 Die historischen Lieder wurden zeitentsprechend interpretiert, und die besungenen Handwerksgesellen brachten die Sehnsucht der jungen Männer nach einem ungebundenen Leben und ihre Skepsis gegenüber jeder Form der Gebundenheit und Anpassung zum Ausdruck. 1983 erschien eine Langspielplatte von »Liedehrlich«, obwohl Stephan Krawczyk musikalisch zum damaligen Zeitpunkt schon eigene Wege ging. Ein Großteil der 18 Lieder stammt aus Volksliedsammlungen des 19. Jahrhunderts. Die Freiheitslieder und Trinklieder verspotteten Könige und andere Potentaten. Das Publikum schätzte die »Untertanenschläue« in den Geschichten dieser Lieder, die eben Parallelen zum in der DDR praktizierten »Double-Talk« aufwiesen. Nur das »Marielied« von Martin Morgner und das »Lied vom Clown« von Andreas Reimann fanden als neue Produktionen ihren Platz auf der BSeite, während andere Lieder der beiden Texter verboten wurden. 247 Duo »Görnandt & Rönnefarth« Um 1980 war das Duo »Görnandt & Rönnefarth« entstanden, ihm schloss sich wenig später der Pianist Johannes Schlecht an. Für ihre Zulassung als Berufsmusiker sangen sie nicht etwa bei den entsprechenden bezirklichen Zulassungsstellen vor. Vielmehr übersprangen sie die DDR-üblichen Hierarchien und wurden im März 1981 direkt bei der »Zentralen Arbeitsgruppe Chanson« des Komitees für Unterhaltungskunst vorstellig. Die Vorsitzende der Zentralen Arbeitsgruppe Chanson, Gisela Steineckert, 248 bescheinigte ihnen ein hohes künstlerisches und politisches Niveau und wies die Geraer Behörden an, dem Duo die begehrte »Pappe« 249 auszustellen. Damit ermöglichte sie ihnen einen für die DDR ungewöhnlichen Start als Berufsmusiker. Aufgrund dieser Fürsprache 250 blieb auch der Geraer Konzert- und Gast245 Freitag, Thomas: Alles singt oder Das Ende vom Lied? Lieder- und Singekultur der ehemaligen DDR. In: Jahrbuch für Volksliedforschung 38(1993), S. 50–63, hier 54 sowie Kirchenwitz: Folk (Anm. 19), S. 22. 246 Kirchenwitz: Folk (Anm. 19), S. 90. 247 Text des »Marielied« Morgner: Zersetzte Zeit (Anm. 212), S. 97. 248 Gisela Steineckert, geboren 1931, seit 1957 freischaffend im Künstlerbetrieb der DDR tätig, unter anderen: 1962/63 Kulturredakteurin des »Eulenspiegels«, 1965–1973 bei der Singebewegung, 1973 Mitglied im Komitee für Unterhaltungskunst, zwischen 1984 und 1990 Präsidentin des Komitees für Unterhaltungskunst, seit 1990 Ehrenvorsitzende des Deutschen Frauenbundes, lebt in Berlin. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Gisela_Steineckert, eingesehen am 24.5.2010 sowie http://www.giselasteineckert.de [24.5.2010]. 249 Bezeichnung des Ausweises als Berufsmusiker. 250 Aus einer Information der KD Stadtroda geht hervor, dass Gisela Steineckert mehrmals schriftlich die KGD Gera aufforderte, die Gruppe »Görnandt & Rönnefarth« zu fördern. Vgl. Kreisdiensstelle Stadtro-
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spieldirektion (KGD) nichts anderes übrig, als mit dem Gesangsduo einen Fördervertrag 251 abzuschließen, ungeachtet der Bedenken einiger lokaler Kulturfunktionäre. Im Mai 1981 erhielten Görnandt und Rönnefarth in Gera ihren Berufsausweis als Interpreten. Das Duo, das eigentlich ein Trio geworden war, präsentierte seine Programme vorwiegend in Mundart, wobei Görnandt als Texter fungierte, Komposition und Arrangement bei Rönnefarth und Schlecht lagen. Die Liedtexte kreisten um alltägliche Befindlichkeiten, um angesichts der beiden Ebenen des »Double-Talk« fraglich gewordene Werte wie Offenheit, Ehrlichkeit: so etwa die Lieder »Heiserkeit«, »Feststellungen« oder das »Lied von den bürgerlichen Gewohnheiten«. Außerdem wurden Meinungs-, Reisefreiheit und Solidarität thematisiert. Das Lied »Nicaragua« beginnt mit folgenden Zeilen: »Nicaragua//Ich war noch nie da//War nur in Arcona//Wo ich vom Fels sah//Dort ist mein Land zu End'//Die Regel jeder kennt//Weiß trotzdem, was geschah//In Nicaragua …« 252
Die Texte beschreiben Alltagsszenen und Alltagsthemen, in denen aber auch heikle Themen anklangen, wie die Denunziationsbereitschaft von Mitbürgern und damit die staatliche Überwachung, wie im Lied »Nachbar« deutlich wird: »Was du mir sagst, interessiert mich nicht//Dir zuhör´n ist mir letzte Bürgerpflicht //Wer, wann, wo, welche Unterwäsche trägt//Wer ganz und gar aus der Familie schlägt //Du weißt alles sicher wie ein Kommissar//Nachbar!« 253
In den Interviews erzählen sie, dass sie bald mit etlichen für die Szene wichtigen Leuten, wie beispielsweise mit dem Leiter des VEB Deutsche Schallplatten, bekannt waren. 254 Dieser habe sich unter anderem dafür eingesetzt, dass das Duo zu den Chansontagen 1981 nach Frankfurt/O. eingeladen und ausgezeichnet wurde. 255 1983 erhielten sie einen weiteren Preis auf den Chansontagen. 256 Gisela Steineckert schließlich konnte die Musiker für die Mitarbeit beim Komitee für Unterhaltungskunst in Berlin gewinnen. Zudem entdeckten die drei so etwas wie eine Marktlücke für sich: Kindermusiktheater. Ab 1983 nannten sie sich »Circus Lila« und wurden mit Titeln wie »Teilen macht Spaß« und anderen bekannt. 257 Auch als »Circus Lila« nahmen sie Schallplatten auf. da: Information über sicherheitspolitische Aspekte im Zusammenhang mit der Gruppe »Görnandt/Rönnefarth« v. 4.10.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 280. 251 Auf einer Liste des RdB, Abt. Kultur, welche ein breites Spektrum von Vorschlägen für Förderkollektive des Bezirkes Gera nennt, taucht das Duo »Görnandt & Rönnefarth« nicht auf. Vgl. Liste des RdB, Abt. Kultur, Bezirkskabinett für Kulturarbeit Gera u. a.: Vorschläge für Förderkollektive des Bezirkes Gera v. 19.11.1981; Staatsarchiv Rudolstadt, A 8403. 252 Text Matthias Görnandt. 253 Ebenda. 254 Interview mit Matthias Görnandt am 15.3.2007, Transkript, S. 10. 255 Ebenda. 256 Kirchenwitz: Folk (Anm. 19), S. 167. 257 Ebenda, S. 167 f.
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Zu den VI. Chansontagen 1981 in Frankfurt/O. wurden also sowohl »Liedehrlich« als auch das Duo »Görnandt & Rönnefarth« ausgezeichnet. Damit erhielten zwei Geraer Künstlergruppen zwei von drei Hauptpreisen. Mit ihnen waren Auftritte im Fernsehprogramm der DDR sowie eine Schallplattenproduktion verbunden. 258 Das verschaffte ihnen Ansehen und Prestige. 259 Die Städtischen Bühnen der Stadt Gera Auch das Theater machte von sich reden. Am 1. Juli 1982 hatte das Stück von Dale Wassermann »Einer flog über das Kuckucksnest« in Gera Premiere. Es handelte sich um eine DDR-Erstaufführung, die vom Publikum gut angenommen wurde. 260 Dietrich Kunze führte Regie. Im Vorfeld der Inszenierung ließ sich die Leiterin der Abteilung Kultur im ZK der SED und Kurt Hagers Stellvertreterin Ursula Ragwitz über die Intention des jungen Regisseurs informieren. Paczulla als Geras oberster SED-Kulturfunktionär teilte ihr mit, dass das Stück seit Langem in den Spielplan 1982 aufgenommen sei und vor allem die »imperialistischen Verhältnisse in den USA« anprangere. 261 Der Regisseur hätte seine Inszenierungsabsichten bereits 1981 vorgestellt. Ihm ginge »es nicht um die Zustände in einer psychiatrischen Anstalt, sondern um den Zustand einer Gesellschaft, um die Möglichkeiten, die sie dem Einzelnen zum ›Leben‹ anbietet.« 262 Paczulla beeilte sich, diese beiden Positionen gleich zweimal zu betonen und versicherte der Berliner Kulturfunktionärin, dass »naturalistische Details, psychiatrische Behandlungsmethoden und klinische Studien nicht vorgeführt« würden. Auch die Kritik stand dem Stück skeptisch gegenüber. Ihr fehlte der revolutionäre Held an sich. An der Inszenierung wurde in der Folge eine überladene symbolische Umsetzung, der Einsatz zu vieler »optischer Zeichen« beklagt. Weil Spielvorgänge nicht ausgespielt würden, könnten sich die Figuren nur wenig entwickeln. 263 Dem heutigen Leser dieser Kritik steht somit eine moderne, reduzierte Inszenierung vor Augen. Bestätigt wird dieser Eindruck durch den späteren Oberbürgermeister Horst Jäger, damals noch Sekretär für Wissenschaft und Kultur bei der SED-Kreisleitung Gera, der unumwunden einräumte, dass ihm die Premiere nicht gefallen habe: »Das war zwar vom Inhalt her sehr schön, aber das ist
258 »Amiga« plante damals pro Jahr ca. 5 bis 6 neue Platten im Bereich »Song/Chanson/Folklore/ Liedermacher«. »Bezogen auf einheimische Produktionen und den damaligen isolierten Binnenmarkt wurde hier weitgehend flächendeckend gearbeitet, dies allerdings fast ohne Öffentlichkeitsarbeit und Werbung.« Vgl. Möller: Liedkultur (Anm. 20), S. 128. 259 Siehe bei Matthias Braun in diesem Band, S. 158 ff. u. 194 ff. 260 Kurz danach wurde es auch im Maxim Gorki Theater in Berlin aufgeführt. Pietzsch, Ingeborg: Eines Tages. Bestimmt. »Einer flog über das Kuckucksnest« von Dale Wassermann in Gera und am Maxim Gorki Theater Berlin. In: Theater der Zeit 10/1982, S. 31–34, hier 32. 261 ThStA Rudolstadt, BL der SED Gera, Nr. A 7889. 262 Ebenda. 263 Pietzsch: Eines Tages (Anm. 260), S. 31 f.
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irgendwie nicht angekommen bei unseren Leuten. Bei mir auch nicht!« 264 Milos Formans 1975 produzierter Film mit Jack Nicholson in der Hauptrolle des McMurphy wurde auch in der DDR gezeigt. 265 Seine Analogien zum sozialistischen System sind augenfällig, umso mehr mag es verwundern, dass ein solches Stück seinen Weg auf die Theaterbühnen der DDR fand. Lag es an der Argumentationsfähigkeit der Regisseure, die sich geschickt innerhalb der in der DDR üblichen Argumentationsmuster zu bewegen verstanden, die entsprechenden Sprachspiele und damit dem »Double-Talk« bedienten? Das Puppentheater »Oestreich-Ohnesorge« Ab 1976/77 kamen eine Reihe jüngerer Puppenspieler nach Gera und mit ihnen begann gleichsam eine neue Ära. Die Puppenspieler wechselten entweder ihre Engagements oder absolvierten ihre Absolventenzeit hier. Ingrid Fischer kehrte in dieser Zeit als Regisseurin in das Ensemble zurück. 266 Gemeinsam produzierten sie »Tante Eugenie und der Mond«. Bald darauf inszenierte Fischer mit dem jungen Regieteam sehr erfolgreich das tschechische Märchen »Die Prinzessin mit dem Echo« und die »Kaspariade«. Mit beiden Stücken versuchten Ingrid Fischer als Regisseurin, Martin Morgner als Dramaturg sowie Herbert Mitschke als Musiker, nicht nur Kinder, sondern zunehmend auch Erwachsene ins Haus zu holen. Inhaltlich und äußerlich waren beide Stücke sehr verschieden. Und doch war für Kenner der DDRPuppentheaterszene die Handschrift der Regisseurin Ingrid Fischer und anderer Beteiligter wahrnehmbar. 267 In der »Prinzessin mit dem Echo« streiten sich zwei benachbarte Königreiche um die Sonne, den Berg und den Schatten. Die Könige entsenden jeweils ihre Kinder, eine junge Prinzessin auf der einen Seite und ein junger Prinz auf der anderen stehen den jeweiligen Heeren vor und sollen den Kampf voranbringen. Doch die Prinzessin und der Prinz verlieben sich ineinander. Sie überlegen, was zu tun sei, um den sinnlosen Kampf um absurde Motive zu beenden. In der Folge werfen sie ihre Waffen weg. Es war ein flottes Stück und für eine Puppenbühne, die aus der Tradition des Kasperspiels kam, ungewöhnlich. Der auf die Bühne gezogene zweirädrige offene Wagen erinnerte an Brechts »Mutter Courage«. Und ähnlich wie im Brechtschen Theater vollzogen die Hauptfiguren Wandlungen. Zum modernen Theater dieser
264 Interview mit Horst Jäger am 4.4.2007, Transkript, S. 49. 265 ThStA Rudolstadt, BL der SED Gera, Nr. A 7889, aber auch Pietzsch: Eines Tages (Anm. 260). 266 Ingrid Fischer bezeichnete dies selbst als eine Rückkehr, hatte am Geraer Puppentheater doch ihre Theaterausbildung begonnen. Vgl. 1. Interview mit Ingrid Fischer am 14.7.2006. 267 Besprechung der »Prinzessin mit dem Echo« durch Silvia Brendenal, sowie Interview mit Ingrid Fischer (TdZ 7/1982, S. 42 f.) Kratochwil, Ernst-Frieder: Reichtum durch Zusammenarbeit. PuppentheaterSpektakel »Kaspariade« in Gera. In: Theater der Zeit 6/1983, S. 25–28.
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Zeit gehörte die Einbeziehung von Live-Musik. Diesen Part übernahm »Liedehrlich«, die hierfür Martin Morgners Texte vertonten und aufführten. Mit einem Märchen gelang es dem Puppentheater Gera, sich innerhalb des FünfSpartentheaters zu behaupten und junges Publikum ins Haus zu holen. Schließlich wurden das Ensemble und die Musikgruppe mit einem der Hauptpreise des DDRPuppenspielwettbewerbes 1981 ausgezeichnet. Ein Paukenschlag für Gera und seine Künstler! Inhaltlich knüpfte die »Prinzessin mit dem Echo« an die sich zu Beginn der 1980er Jahre etablierende Friedensbewegung in Ost wie West an. 268 Die Analogie zwischen den beiden Königreichen und den beiden deutschen Staaten ist so augenfällig, wie die Brechtsche Katharsis offenkundig: Was würde geschehen, wenn die Soldaten-Kinder beider deutscher Staaten sich gegenüberstünden und erkennen würden, dass der Krieg ihrer Väter nicht ihr Krieg wäre, sie ihre Waffen streckten und sich die Hände reichten? Würden »Schwerter zu Pflugscharen«, wie es das 1980 zum Buß- und Bettag erstmals vorgestellte Symbol der Friedensbewegung anmahnte? 269 Mit der Inszenierung der »Prinzessin« wurde einmal mehr die DDRPropaganda in den frühen 1980er Jahren hinterfragt: die Rechtfertigung der Stationierung von Mittelstreckenraketen im Namen der Friedenssicherung oder die Forcierung der Wehrbereitschaft unter Jugendlichen und das permanente Werben um militärischen Nachwuchs, das ebenfalls unter dem Deckmantel der »Friedenssicherung« vorangetrieben worden war. Von ihrem Erfolg beflügelt suchten Ingrid Fischer als Regisseurin und Martin Morgner als einer der Dramaturgen und Texter neue Themen. Zunächst rückte die Idee eines Narrenstücks der Oberspielleiterin Fischer in den Mittelpunkt des Puppenspielensembles. Ingrid Fischer erarbeitete eine vierteilige Inszenierung, die theatergeschichtlich die Lebens- und Entwicklungsbedingungen des Narren, das Leben des Harlekins thematisierte. Diese Stückdramaturgie war damals ebenfalls sehr modern, denn die vier Teile, »Mummenschanz«, »Punch und Judy«, »Tod und Auferstehung« und »Das verbesserte Biribi« waren jeweils in sich geschlossene Handlungen, miteinander nur durch die Figur des Narren verbunden, der in jedem Teil in einem anderen Gewand auftrat. In der Zeitschrift »Theater der Zeit« war man zweifelsohne von der »Kaspariade« beeindruckt, doch der Rezensent zeigte sich angesichts der auf der Bühne zu sehenden Brutalität und Aggressivität der Narrenstücke befremdet. Etwas hilflos wirken seine Beschreibungen: 268 Roth, Roland: Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Frankfurt/M. 2008; Kowalczuk: Endspiel (Anm. 46), S. 150 f. sowie 234 ff. 269 Evangelische Jugendgruppen hatten zum Buß- und Bettag Lesezeichen mit dem Symbol angefertigt, auf dem sie zu dem Abschlussgottesdienst der ersten zehntägigen Friedensdekade einluden. Vgl. Silomon, Anke: »Schwerter zu Pflugscharen« und die DDR. Die Friedensarbeit der evangelischen Kirchen in der DDR im Rahmen der Friedensdekaden 1980–1982. Göttingen 1999, S. 50 ff.; Eckert, Rainer: Grundelemente der kommunistischen Diktatur in Deutschland: Widerstand, Opposition und Repression. In: Moldt, Dirk: Zwischen Hass und Hoffnung. Die Blues-Messen 1979–1986. Berlin 2008, S. 9–29, hier 14.
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»Die Ähnlichkeit der englischen Worte punch (= Schlag) und punc (= Stich) führte wohl zu der Idee, die Band im Punker-Look zu präsentieren, was sicher insofern sinnvoll ist, als dass diese sich brutal gebende Protestbewegung von heute den emotionalen Zugang zu der brutalen Prügelkomik der ›Judy und Punch‹-Szenen erleichtert.« 270
Dabei ging es weniger um Fragen der Darstellbarkeit als vielmehr um das Thematisieren von Aggressivität in seinen verschiedenen Varianten. Und darin hat wohl auch der Erfolg der Inszenierung gelegen. Denn die sozialistische Persönlichkeit hatte maßgeblich positive Gefühle zu entwickeln. Negative galten als verpönt, was nicht zuletzt zu einer Tabuisierung »dunkler« Gefühle überhaupt geführt hatte. 271 In der »Kaspariade« fanden sie nun ihren Ausdruck. Das war das Neue, das noch nicht Dagewesene. Das Ausleben von Aggressionen in ihren unterschiedlichen Ausdrucksformen war befreiend für alle am Stück Mitwirkenden. Es hob sich von der »Prinzessin mit dem Echo« in zweierlei Hinsicht ab: Es enthielt keine explizite politische Botschaft. Dennoch legten die Regisseurin und der Texter den verschiedenen Narren ihre Botschaften in den Mund, um auf diese Weise ihre Kritik am Bestehenden zu transportieren. Den Entschluss, den Narren zur Hauptfigur dieses Stückes zu machen, versteht Ingrid Fischer bis heute als politische und ästhetische Entscheidung. Das Stück thematisierte neben der Darstellung von Gewalt Qualitäten zwischenmenschlicher Beziehungen und somit Werte. Dies muss es gewesen sein, was die Juroren beim UNIMA-Festival 272 in Dresden 1983 begeistert hatte. Das Geraer Puppentheater erhielt einen zweiten Preis des Ministeriums für Kultur, wobei ein erster Preis nicht vergeben wurde. 273 In Anschluss daran wurde »Das Feuerzeug«, für dessen Bearbeitung Martin Morgner 1984 ausgezeichnet worden war, inszeniert. Unter erheblichen Auflagen der Theaterleitung wurde schließlich auch Morgners Stück »Kasper rettet einen Baum« aufgeführt. Wie der Titel schon ausführt, macht sich Kasper in diesem Spiel auf, den letzten Baum zu retten, dessen Holz für eine Art Roboter gebraucht wird und Wohlstand für alle verspricht. Kaspar wird dabei von Dr. Lefuet beobachtet. Auch dieser Kasper muss drei Bewährungsproben bestehen, doch der Baum ist nicht zu retten, nicht zuletzt, weil sein Gegenspieler, der Teufel, ein großes Interesse daran hat. Mit der Figur des Teufels (Lefuet) wollte der Autor sowohl auf die Methoden des Überwachungsstaats als auch auf den alarmierenden Zustand der Umwelt auf270 Kratochwil, Ernst-Frieder: Reichtum durch Zusammenarbeit. Puppentheater-Spektakel »Kaspariade« in Gera. In: TdZ 6/1983, S. 25–28, hier 25 f. 271 Maaz: Gefühlsstau (Anm. 160). Vgl. hierzu auch die Beteuerungen Paczullas gegenüber Ursula Ragwitz, dass in der Inszenierung »Einer flog über das Kuckucksnest« keine »psychiatrischen Probleme und klinischen Verhältnisse« geschildert würden. Vgl. ThStA Rudolstadt, BL der SED Gera, Nr. A 7889. 272 Abkürzung für Union Internationale de la Marionnette. Dies ist eine 1922 in Prag gegründete Vereinigung für Puppenspieler und an Figurentheater-Interessierte. Diese Vereinigung trifft sich seit 1972 alle 4 Jahre in verschiedenen Städten der Welt. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Union_Internationale_de_la_Marionnette am 29.5.2009. 273 Siehe bei Matthias Braun in diesem Band, S. 208 f.
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merksam machen. Anders als die »Kaspariade« suchte dieses Stück weniger nach emotionalen Ausdrucksmöglichkeiten. »Kasper rettet einen Baum« war bemüht, auf gesellschaftliche Problemlagen hinzuweisen: auf die rücksichtslose Umweltzerstörung und auf das Überwachungssystem. Damit spiegelte es im Unterschied zur »Kaspariade« hauptsächlich die damalige Realität. Denn Kasper ist hier wieder ein – wenn auch erfolgloser – positiver Held, um den sich das Puppenspielteam in der »Kaspariade« zum Beispiel überhaupt nicht gekümmert hatte. Was war das Neue, das Fremde an der hier vorgestellten Kunst? Wie kann sie eingeschätzt werden? Und wie schätzten die Künstler selbst ihre Kunstwerke ein? An dieser Stelle sei zum einen auf das an Mario Erdheim angelehnte Kunstverständnis erinnert, wonach Kunst die »ästhetische Auseinandersetzung mit dem Fremden« sei. Zum anderen sei daran erinnert, dass die künstlerische Entwicklung der »jungen Wilden« vor dem Hintergrund ihrer Armee-Erfahrung zu interpretieren ist. Es kann an dieser Stelle also gefragt werden, ob die hier vorgestellten Künstler das in der DDR-Gesellschaft als fremd Empfundene in ihren Liedern und in ihren Theaterstücken zum Ausdruck gebracht haben? Und es kann weiter gefragt werden, worin das Fremde bestand? Bestand das Fremde im Bedienen des »Double-Talk«? Bestand es in den verschiedenen Auswüchsen des Anpassungs- und Konformitätsdrucks, dessen Potenzierung sich im »Militärischen« zu offenbaren schien? Diese Aspekte jedenfalls werden sowohl in der »Prinzessin mit dem Echo«, in der »Kaspariade« als auch im »Feuerzeug« thematisiert. Gleiches gilt für die preußischen Soldatenlieder, mit denen etwa »Liedehrlich« erfolgreich wurde. Kann die Thematisierung des Fremden, des Militärischen also als eine Systemkritik verstanden werden? In diesem Sinne äußerte sich etwa Astrid Griesbach, wenn sie über die Aktivitäten und Stücke der »jungen Wilden« in Gera in den 1980er Jahren reflektiert: »[...] es gab weniger einen Ansatz zur Kunst sondern mehr einen Ansatz zur Systemkritik.« 274 Auch Ingrid Fischer und Martin Morgner verstanden die Inszenierungen der »Prinzessin mit dem Echo« und der »Kaspariade« als »Systemkritik«, indem die Sinnhaftigkeit der Kriegsführung der Alten hinterfragt und aktuelle Bedürfnisse der Zeit formuliert wurden. Hierzu gehörten die Auseinandersetzungen darüber, welche Fragen die älteren Generationen und welche die Nachkriegsgenerationen bewegten. Wie ließen sich »dunkle« und negativ stigmatisierte Gefühle ästhetisch ausdrücken? Die Darstellung des Fremden und die Thematisierung neuer, eigener Bedürfnisse erfolgten behutsam. Dies war als Inszenierung am Puppentheater neu und ungewohnt. Die künstlerischen Ausdrucksmittel überwogen zeitkritische Implikationen, ohne auf Letztere zu verzichten. Darin lag ihr Erfolg begründet. Wenn also das Neue in der Hinterfragung der vor allem mit dem Militärischen verbundenen Anpassungsleistungen lag, da es für die »jungen Wilden« – und vermutlich auch für die 274 Interview mit Astrid Griesbach am 22.2.2008, Transkript, S. 31.
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Frauen – etwas Fremdes war, und diese ihre Kunst durchaus als Systemkritik verstanden, so würde das bedeuten, dass weniger das politische System der »sozialistisch« genannten DDR infrage stand, als vielmehr die überlebten und erstarrten Anpassungsleistungen und der damit entstehende Konformitätsdruck. Und noch etwas ist wichtig: Das, was die Geraer Szene auf die Bühnen brachte, kann nicht als singulär bezeichnet werden. Die Geraer Künstler kommunizierten in der ihnen eigenen Weise mit Mitgliedern anderer Szenen etwa mit der Friedensund Umweltbewegung in Ost und West.
5. Das Streben nach Individualität oder wie äußert sich Dissidenz? Die hier aufgezeigten künstlerischen Aktionen und Stücke jedenfalls belegen das Ringen ihrer Akteure, ihre Individualität vor den Ansprüchen des erstarrenden Systems zu bewahren. Und in vielfältiger Weise versuchten die Künstler sich damit der »totalen Vergesellschaftung«, der allumfassenden Vereinnahmung durch das politische System zu entziehen. Hätten sie solche Versuche nicht unternommen, hätten sie einen Teil ihrer Identität preisgegeben. Als Künstler wiederum sind die Identität und die damit verbundene Individualität jedoch das, was den Künstler zum Künstler macht. Zwar ist ein solches Verhalten und Bestreben bei allen Künstlern, ganz gleich ob in Ost oder West, anzutreffen, doch bundesdeutsche Künstler mussten sich nicht mit einer »totalen Vergesellschaftung« auseinander- und sich dieser nicht widersetzen. Damit könnten die hier vorgestellten Künstler, vor allem die »jungen Wilden« durchaus als Dissidenten bezeichnet werden. Mit ihrer Berufswahl haben sie sich zumindest der »totalen Vergesellschaftung« und der »Einschwörung« auf die sozialistisch genannte Gesellschaft entzogen. Dabei wehrten sie sich weniger gegen die Idee des Sozialismus als vielmehr gegen ihre Ausgestaltung. Gleichzeitig fanden sie innerhalb ihres Aktionsfeldes Mittel, Wege und Gleichgesinnte, die ihnen halfen, der drohenden Vereinzelung, die mit einer Verweigerung der Vergemeinschaftung einhergeht, zu begegnen. Und noch etwas ist auffällig: Es ist erstaunlich, mit welcher Ausdauer die »jungen Wilden« den Staat auf die von ihnen wahrgenommenen Diskrepanzen aufmerksam zu machen versuchten. Vielleicht weil die jungen Künstler die von den Vertretern der DDR-Führung erhaltenen Auszeichnungen als Anerkennung ihrer Arbeit und ihrer Intentionen interpretierten. Diese nahmen sie als ernst gemeinten Ausdruck der Anerkennung ihrer künstlerischen Arbeit. Das war den meisten der hier vorgestellten Künstler wichtig. Vielleicht spiegelt sich in dieser Bedeutungszuschreibung auch etwas von den bereits angedeuteten familiären politischen Beziehungen zwischen dem Staatsvater und seinen Staatskindern. Denn schließlich könnte die von
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den »jungen Wilden« praktizierte Kunst auch als Frage oder Anklage an den Vater Staat verstanden werden: Warum lässt er solche Demütigungen, die die Anpassung in ein als fremd empfundenes System bedeuten, zu? Und die Verantwortlichen in der DDR? Sie prämierten zwar die Kunst der Jungen. Indem sie aber die Verhältnisse und Initiationen so beließen, zeigte sich, dass sie die Probleme der Jungen nicht nur nicht verstanden, sondern mit den Auszeichnungen ganz andere Absichten verfolgten, wie etwa sich nach außen hin erfolgreich als Bezirk oder als Ministerium zu präsentieren. Die hier aufgezeigte Verweigerungshaltung der Jugend wurde vom Staat und von dessen Machtgefüge kaum wahrgenommen. Vielmehr verließen sich die Mächtigen in der DDR auf die Wirksamkeit des Initiationsrituals. Dass sich die Jugend in der Folge der gemeinsamen Sache, dem Projekt »DDR«, verweigerte, fiel ihnen zunächst nicht auf, war diese Verweigerungshaltung der Jungen doch vor allem zuerst einmal ein stiller Protest.275 Hinzu kommt, dass die »jungen Wilden« potente Fürsprecher und Unterstützer unter den »Machern« und »Vermittlern« hatten, die an deren Kreativität interessiert waren und sich »nach oben« und »nach unten« zu behaupten wussten. Einige der Parteifunktionäre, die lokalen Vertreter der SED-Bezirksleitung Gera etwa, schienen zu spüren, dass die »jungen Wilden« etwas thematisierten, das an einem Grundverständnis rüttelte. Das Grundverständnis basierte auf dem Umstand, dass die eigene Macht nicht zuletzt mit der Präsenz des Militärs zusammenhing. Diese und die militärischen Praktiken, die auch auf die zivile Gesellschaft ausstrahlten, wurden von den jungen Männern in Gera auf ihre Weise infrage gestellt. Damit verwahrten sie sich vor den Konformitätsansprüchen des Systems. Diese Haltung haben die hier vorgestellten Künstler jedenfalls internalisiert. Tendenzen aus der Gegenwart etwa, wie die, ihre Haltung mit dem Begriff der Dissidenz zu beschreiben, lehnen sie ab. So wie sie sich – aus guten Gründen – von der MfS-Stigmatisierung als »feindlich-negative Kräfte« distanzieren, so wollen sie sich auch nicht als »Dissidenten« »geadelt« sehen. In diesem Sinne äußerten sich Ingrid Fischer und Dietrich Kunze, Matthias Görnandt und Bernd Rönnefarth, Stephan Krawczyk und Herbert Mitschke. In den Interviews thematisierten sie nur selten die Dissidenz. Vielmehr beschrieben sie sich, wie dargestellt, als »Anders-sein-wollende«, die auf die Erstarrung ihrer Umwelt mit künstlerischen Mitteln reagierten.276 Vielleicht erfolgt eine Ablehnung des Dissidenz-Begriffs für sich selbst, weil es sich auch und vor allem um eine Zuschreibung und damit um eine Vereinnahmung durch andere handelt, der sie nach wie vor skeptisch gegenüberstehen und vor der sie sich verwahren. 275 Eindrucksvoll im Roman von Erich Löst »Es geht seinen Gang oder die Mühen in unserer Ebene« (Halle u. a. 1977) dargestellt, in dem sich der 26-jährige Wolfgang Wülf ebenfalls der weiteren Karriere verweigerte. Vgl. van Laak, Dirk: Erich Loests Es geht seinen Gang (1978) und die DDR der 1970er Jahre. In: Gansel, Carsten; Jacob, Joachim (Hg.): Geschichte, die noch qualmt. Erich Loest und sein Werk. Göttingen (Steidl) 2011, S. 112–129. 276 So wurde Gängelei abgelehnt, wie etwa die 60/40-%-Regel, die festlegte, dass 60 % Ostmusik und nur 40 % Westmusik gespielt werden durfte. Vgl. Interview mit Kay Frotscher am 10.10.2006, Transkript, S. 6 f. Vgl. auch Wolle: Heile Welt (Anm. 164), S. 232 f.
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6. Ausblick Als die Künstler in Gera gewahr wurden, dass es die Partei, unterstützt durch das MfS, nicht duldete, dass auf den Bühnen des Landes Systemkritik geübt wurde, indem Fremdes dargestellt und damit enttabuisiert wurde, besann sich das Puppentheater auf Inszenierungen, mit denen sie künstlerisches Neuland betreten konnten und was sie zu Beginn der 1980er Jahre bereits erfolgreich erprobt hatten. Die Kinderoper »Vom Igel, der keiner mehr sein sollte« 277, bearbeitet von Martin Morgner und komponiert von Herbert Mitschke, holte Elemente einer großen Theaterbühne auf eine kleine. In dieser Geschichte versucht sich der Igel, der nur seinen Garten kennt, seiner Identität und damit verbunden seiner Stärken bewusst zu werden. Hierfür muss er notwendigerweise seine Heimat verlassen und sich in der Fremde bewähren. Musikalisch unterstützt wurde diese Aufführung von Orchestermitgliedern des Geraer Theaters. Sechs Musiker begleiteten die Reise des Igels nach der Musik von Herbert Mitschke. Damit probierte das Ensemble des Puppentheaters eine neue Kooperation mit dem Großen Haus des Geraer Theaters und erhielt sogar den Kunstpreis des Bezirks und hatte zahlreiche erfolgreiche Gastspiele. 278 Die Idee eines spartenübergreifenden Friedens-Musicals, die bereits nach der »Kaspariade« entstanden war, wurde von der Theaterleitung zwar zur Kenntnis genommen, doch verwirklichen ließ sie sich nicht mehr: Zum einen hatten weder Theaterleitung noch Kulturfunktionäre der Stadt oder des Bezirkes ein Interesse daran, zum anderen suchten sich immer mehr Ensemble-Mitglieder neue Engagements, die außerhalb Geras lagen. 279 Einige der »jungen Wilden« suchten und fanden neue Räume, wie etwa das Duo »Görnandt & Rönnefarth«, indem sie den Bezirk verließen. Martin Morgner verließ Gera ebenfalls und suchte andere Ensembles, Peter Müller studierte Puppenspiel. Herbert Mitschke und Kay Frotscher frustrierte die repressive Haltung des Systems zunehmend. 1987 und 1988 kehrten sie von einer Besuchsreise in die Bundesrepublik nicht zurück. Stephan Krawczyk ist derjenige, der im Rückblick vielleicht am konsequentesten daran festhielt, sich mit seiner Kunst, mit seinen Liedern und mit seiner Gitarre Neues anzueignen, was dazu führte, dass er in der DDR bald auf keinen offiziellen Bühnen mehr spielen durfte und die DDR-Führung sehr daran interessiert war, den »zweiten Biermann« in die Bundesrepublik abschieben zu können. Wie ging es mit den Geraer Künstlern nach 1989/90 weiter? Die »Macher« oder die »Vermittler«, also diejenigen, die zwischen 1939 und 1945 geboren wurden, hatten 277 Nach dem gleichnamigen Kinderbuch von Isolde Stark. 278 Vgl. Interview mit Ingrid Fischer am 14.7.2007. 279 Kowalczuk beschreibt, wie sich in den 1980er Jahren zunehmend eine zweite Kunstszene neben der Offiziellen entwickelt. Vgl. Ders.: Endspiel (Anm. 46), S. 151 f.
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während der 1980er Jahre, in denen die Gesellschaft immer mehr stagnierte, darauf vertraut, dass ihre Zeit kommen, dass ein Generationenwechsel stattfinden würde. Einzig Dietrich Kunze wollte nicht warten und verließ das Geraer Theater. Als freischaffender Regisseur sammelte er Erfahrungen in Schwerin, Weimar und Leipzig. Für die anderen kam nach 1989 ihre Zeit: Nach der Wende waren gerade sie es, die für wichtige Funktionen bereitstanden und diese auch übernahmen: Eberhard Kneipel wurde Theaterintendant, Ingrid Fischer sorgte sich in welchselnden Positionen weiterhin um den Spielbetrieb im Puppentheater, 1996 wurde Dietrich Kunze Intendant des Theaters der Jungen Generation in Dresden. Heute sind die einstigen »Macher« pensioniert. Und die »jungen Wilden«? Deren Berufsbiografien entwickelten sich nach der Wende vielfältig: Das Duo »Görnandt & Rönnefarth« löste sich um 1990/91 auf und die Musiker beschritten nun eigene Wege. Matthias Görnandt ist noch immer freiberuflich in der Kunstszene unterwegs, mal als Grafiker, mal als Kulturmanager. Johannes Schlecht arbeitet ebenfalls freiberuflich als Komponist in Eisenach. Bernd Rönnefarth wurde Gymnasiallehrer für Chemie und Musik in Jena. Krawczyk machte sich auch als Autor 280 einen Namen und gestaltet bis heute Lieder- und Leseprogramme. Kay Frotscher und Jürgen Quarg hingegen ergriffen in der Bundesrepublik »bürgerliche« Berufe. Fortscher etwa wurde Theaterdisponent. Herbert Mitschke macht zwar immer noch Musik, hauptberuflich erstellt er heute jedoch für Firmen Werbeauftritte im Internet. Astrid Griesbach leitete zwischen 2009 und 2011 das Geraer Puppentheaters. Seit 2009 ist sie zudem Professorin an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«. Martin Morgner studierte noch einmal und wurde Historiker. Peter Müller ist freiberuflicher Puppenspieler. Versuche der »jungen Wilden«, in den frühen 1990er Jahren Leitungspositionen in Kultureinrichtungen zu besetzen, wurden vor allem am Puppentheater abgewehrt. Zum einen weil die Jungen noch nicht an der Reihe waren. Zum anderen aber auch, weil in der Krisenzeit nach 1989/90, in der sich die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse rasant wandelten, wenigstens in ihrem beruflichen Umfeld keine allzu großen Veränderungen stattfinden sollten. Für Ingrid Fischer war dies der Bereich des Puppentheaters. Hier sorgte sie mit ihr zur Verfügung stehenden Mitteln für Stabilität. Ob junge Künstler der Städtischen Bühnen Geras ähnliche Ambitionen hatten, ist nicht bekannt. Die Konfrontation mit der Staatssicherheit haben fast alle Künstler direkt und indirekt erfahren. 281 Fast jeder wurde von den Mitarbeitern des MfS zu einer inoffiziellen Zusammenarbeit aufgefordert. In der Regel fanden hierfür drei bis vier Ge280 Vgl. Krawczyk, Stephan: Das irdische Kind. Berlin 1993; Ders.: Bald. Berlin 1998; Ders.: Der Narr. Zürich 2003; Ders.: Der Himmel fiel aus allen Wolken. Eine deutsch-deutsche Zeitreise. Leipzig 2009. 281 Siehe bei Matthias Braun beispielsweise die versuchte Anwerbung von Hans Peter Jakobson, S. 135 ff.
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Bühne der Dissidenz
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spräche statt, ehe die Angesprochenen ihr »Nein!« formulierten. Andere wurden aufgrund nichtssagender Berichte oder Auskünfte für die Hauptamtlichen uninteressant. Nur wenigen von ihnen gelang mit Vertrauten eine Verständigung darüber, wie einem Machtübergriff dieser Institution begegnet werden könnte. Wurden sie auf eine Zusammenarbeit von den hauptamtlichen Mitarbeitern der Staatssicherheit angesprochen, öffneten sie sich in der Regel nur einem sehr nahen Freund oder Vertrauten, die ihnen zur offenen Dekonspiration gegenüber der Staatssicherheit rieten. 282 Damit offenbart sich, wie schwer es fiel und wie schwer es bis heute fällt, sich über diese Form der Gewalterfahrung auszutauschen. Von solchen Kontaktgesprächen erzählten die Regisseure, Oberspielleiter, Komiteevorsitzenden und Schauspieler von sich aus. Nur Kneipel ging auf seine Zusammenarbeit mit dem MfS in Gera nicht ein. Grau hofft, dass seine Kooperation mit dem MfS den Betroffenen in seinem Verantwortungsbereich genützt habe in dem Sinne, dass sich daraus keine weitere Observierung und keine weitere Auflagenpolitik für die Betroffenen ergeben hatten. Er betonte mehrfach, dass er damit den ihm Anvertrauten helfen wollte. Seine Ausführungen lassen aber auch erkennen, wie groß seine Unsicherheiten hier sind, da er nicht weiß, ob und wie seine Berichte, seine Zusammenarbeit mit dem MfS instrumentalisiert worden sind. Grau brachte das Gespräch von selbst auf dieses Thema, führte aber sehr zögerlich aus, was ihn dabei umtrieb. Noch immer kursieren Gerüchte innerhalb der Szene, wer mit dem MielkeKonzern kooperiert habe. 283 Interessant ist, dass die Künstler von der vermeintlichen Zuarbeit ihrer Kollegen wissen, in der Regel diese aber aufgrund anderer Loyalitätsbeziehungen entschuldigen. Nur das Verhalten eines Künstlers wird nicht entschuldigt: das von Peter Müller. Auf ihn, den Jüngsten, wird die Verantwortung für den Verrat innerhalb der Puppenspielerszene gelegt. Wirft dieser Befund ein Licht auf das Kräfteverhältnis innerhalb der Szene und innerhalb der Gesellschaft? Warum findet sich niemand, der die Schwäche des Jüngsten als eigene Schwäche reflektiert? Ist das wiederum eine Frage der Scham oder eine der Schuld? Wo liegen die Wurzeln hierfür?
282 Interview mit Dietrich Kunze am 26.11.2006, Martin Morgner am 15.7.2006. 283 Vgl. Interview mit Ingrid Fischer, Martin Morgner, Peter Müller.
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Matthias Braun
Dramaturgie der Repression – Der ZOV »Bühne«
Einleitung Mit dem zu Beginn der 1990er Jahre erfolgten Aufschwung der DDR-Forschung erlebte auch die Untersuchung der Geschichte der Repression in der SED-Diktatur eine ungeahnte Konjunktur. Neue Archivfunde und erste Analysen fanden starke Beachtung im breiten öffentlichen Diskurs über die untergegangene DDR. Nach 20 Jahren intensiver DDR- und MfS-Forschung 1 ist der Wissensstand beachtlich. 2 Neue übergreifende Hypothesen zur Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) bauen auf diesen Arbeiten auf. Beispielsweise geht eine forschungsleitende These zur letzten Dekade des MfS davon aus, dass »die stärkere Integration der DDR in das internationale Umfeld, besonders ihre verdichteten Beziehungen zur Bundesrepublik« zwar eine »vorübergehende Entlastung in wirtschaftlicher Hinsicht« schafften, »aber zugleich den innenpolitischen Handlungsspielraum ihrer Führung und damit auch der Staatssicherheit« verringerten. »Die Unterordnung des MfS unter die SED wird in diesem Jahrzehnt besonders deutlich. Die Staatssicherheit konnte nicht so agieren, wie ihre Führung gewollt hätte.« 3 Zugleich bestimmen konsolidierte Erkenntnisse zu Struktur und Methoden des MfS sowie zu seiner Wirkungsweise in fast allen gesellschaftlichen Bereichen der DDR den aktuellen Forschungsstand. 4 Die vorliegende Studie ordnet sich dem Forschungsschwerpunkt »Herrschaft und Gesellschaft in der DDR-Provinz« der Abteilung Bildung und Forschung des BStU zu. Er folgt der Verlagerung der Forschungstätigkeit der Abteilung von der politikund institutionsgeschichtlichen Perspektive auf sozial- und mentalitätsgeschichtliche Fragen in der aktuellen MfS-Forschung. Konkreter Untersuchungsgegenstand des Projektes ist der Zentrale Operative Vorgang (ZOV) »Bühne« der MfS-Bezirksverwaltung (BV) Gera. Diese Bezirksver-
1 Vgl. Gieseke, Jens: Die Geschichte der Staatssicherheit. In: Bilanz und Perspektiven der DDRForschung. Paderborn 2003, S. 117–125. 2 Henke, Klaus-Dietmar: DDR-Forschung seit 1990. In: Bilanz und Perspektive der DDRForschung. Paderborn 2003, S. 372. 3 Süß, Walter: Das letzte Jahrzehnt der Staatssicherheit. (unveröffentlichtes Vortragsmanuskript v. 25.4.2006). 4 Vgl. Engelmann, Roger u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR. Hg. BStU. 2. Aufl., Berlin 2012.
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waltung hatte Mitte der 1980er Jahre rund 2 100 Mitarbeiter. 5 Damit gehörte sie unter den insgesamt 15 Bezirksverwaltungen des MfS-Apparates zu den kleineren. 6 Die für unsere Analyse relevante Abteilung XX der Bezirksverwaltung Gera verfügte während des Untersuchungszeitraumes über 45 Planstellen. 7 Ihre Offiziere führten knapp 200 IM sämtlicher Kategorien. 8 Für die Federführung des ZOV »Bühne« zeichnete innerhalb der Abteilung XX das Referat 7 verantwortlich. Zum Aufgabenprofil dieser Diensteinheit gehörte im MfS-Deutsch die »Bekämpfung des politischen Untergrundes unter Nutzung des ›Freiraums‹ Kunst/Kultur; die Durchsetzung der Kulturpolitik der Partei; die Sicherung der Einrichtungen/Institutionen von Kunst/Kultur, Verlagswesen und Massenmedien«. 9 Für dieses relativ breite Aufgabenfeld standen dem zuständigen Referatsleiter lediglich vier hauptamtliche Mitarbeiter zur Verfügung. 10 Das in der BStU-Außenstelle Gera aufbewahrte MfS-Material zum ZOV »Bühne«, einschließlich komplementärer MfS-Unterlagen, dokumentiert in dichter Form das geheimpolizeiliche Vorgehen gegen sechs Künstler und einen Kunstwissenschaftler aus dem ehemaligen Bezirk Gera. Die durch einen willkürlich herbeigeführten geheimpolizeilichen Verwaltungsakt in einem ZOV zusammengefassten Künstler/Kunstwissenschaftler repräsentieren die unterschiedlichsten Wege und Möglichkeiten einer künstlerischen Existenz in einer geschlossenen Gesellschaft wie der DDR. Der ZOV »Bühne« gliedert sich in vier Teilvorgänge (TV), in denen vornehmlich Maßnahmepläne, Bearbeitungskonzeptionen, Gesprächsnotizen, Lageeinschätzungen, Gutachten, IM-Berichte, Briefwechsel, Programmkonzepte, Pressenotizen etc. zu den genannten Personen gesammelt wurden. Aus den künstlerischen Aktivitäten und Bestrebungen der Observierten heraus entwickelte sich in der einstigen Bezirkshauptstadt Gera ein Kulturkonflikt, der allein auf ca. 12 000 Blatt MfS-Unterlagen dokumentiert ist. Dazu gehört als Kernbestand die komplette Überlieferung des ZOV »Bühne«. Die betreffende Aktenlage zu den SED-Gliederungen als auch zu den staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen der Region ist dagegen wesentlich überschaubarer. Zu Beginn der 1980er Jahre bot die DDR das Bild einer bereits in großen Teilen durch wachsende Frustration, vereinzelt auch durch offene Kritik gekennzeichneten Gesellschaft. In dieser Situation war es die Aufgabe des MfS, »die politischen Konsequenzen dieser Konstellation unter Kontrolle zu halten und ein Umschlagen in
5 Gieseke, Jens: Die hauptamtlichen Mitarbeiter (MfS-Handbuch). Hg. BStU. Berlin 1995, S. 98 ff. 6 Die Bezirksverwaltung Rostock mit rund 3 800 Mitarbeitern und die Bezirksverwaltung Magdeburg mit fast 3 700 Mitarbeitern verfügten über fast doppelt so viel Personal. 7 BV Gera: Abt. XX; BStU, MfS, BV Gera, Abt. XX SA 30. 8 Müller- Enbergs, Helmut: Inoffizielle Mitarbeiter des MfS. Teil 3: Statistiken. Berlin 2008, S. 526. 9 BV Gera: Abt. XX; BStU, MfS, BV Gera, Abt. XVIII 2662, Bl. 70. 10 Ebenda.
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Dramaturgie der Repression
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offene Instabilität zu verhindern«. 11 Der rasanten Zunahme gesellschaftlicher und ökonomischer Verwerfungen versuchte das MfS durch einen verstärkten Kontrollanspruch entgegenzuwirken. »Es ging jetzt nicht mehr nur um die Identifizierung aktuell abweichenden Verhaltens, sondern um die ›Aufklärung‹ von Persönlichkeitsbildern, auf deren Grundlage Prognosen für künftiges Verhalten erstellt werden sollten.« 12 Unter diesen Gegebenheiten wurde im September 1982 der ZOV »Bühne« mit der Begründung eröffnet, dass einige Künstler in Gera und Umgebung »antisozialistische Aktivitäten unter gleichzeitigem Missbrauch des Freiraumes Kultur/Kunst im Sinne der politisch-ideologischen Diversion und des Pazifismus« entwickelten. Ungeachtet »einflussreicher Verbindungen, erhaltener Preise und der damit verbundenen gesellschaftlichen Aufwertung« der Künstler reichte diese Einschätzung für die Bezirksverwaltung Gera aus, die »differenzierte, koordinierte vorgangsmäßige operative Durchdringung und Bearbeitung« 13 der Geraer Szene durch mehrere Diensteinheiten (DE) der regionalen Staatssicherheit in einem ZOV, der bürokratisch und »operativ« komplexesten Form geheimdienstlicher Bearbeitung, einzuleiten. 14 Wie in den 1980er Jahren im Kulturbereich die Regel, 15 beabsichtigte die MfSBezirksverwaltung Gera mit dieser Maßnahme sowohl die strafrechtliche Relevanz der Aktivitäten der Künstler/Kunstwissenschaftler festzustellen als auch die ihrer Einschätzung nach zu erwartenden »Straftaten vorbeugend [zu] verhindern«. Gegebenenfalls, immer unter Berücksichtigung der konkreten politischen Rahmenbedingungen, hätte die Eröffnung des ZOV auch zur Einleitung von Strafverfahren und Verhaftungen führen können. Für die regionale Staatssicherheit galt unter allen Umständen, in Gera keine »Jenaer Zustände« entstehen zu lassen. Dort hatte sich Anfang der 1980er Jahren eine der wichtigsten oppositionellen Gruppierungen in der DDR entwickelt, die sich durch hohe Risikobereitschaft und Öffentlichkeitswirksamkeit auszeichnete. 16 Ein Vergleich mit der Jenaer Situation war allerdings vollkommen überzogen. Im Unterschied etwa auch zu den von vornherein im Untergrund sich bewegenden Schriftstellern und Künstlern im Ostberliner Prenzlauer Berg oder in ähnlichen kleinen Szenen in Leipzig oder Dresden, wollten die Geraer
11 Süß, Walter: Die Staatssicherheit im letzten Jahrzehnt der DDR (MfS-Handbuch). Hg. BStU. Berlin 2009, S. 4. 12 Siehe Stichwort Überwachung der Gesellschaft. In: Engelmann u. a. (Hg.): MfS-Lexikon (Anm. 4). 13 BV Gera, Abt. XX/7: Gesamtbearbeitungskonzeption zur Eröffnung und Bearbeitung des zentralen Operativen Vorganges (ZOV) »Bühne« in der Abteilung XX v. 16.8.1982; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 8 ff. 14 Für den Schriftsteller Jürgen Fuchs ist ein ZOV »Die Speerspitze im Kampf gegen das organisierte politische Verbrechen« eröffnet worden. Vgl. Fuchs, Jürgen: Magdalena. Berlin 1998, S. 87. 15 Siehe Stichwort Überwachung des Kulturbereiches. In: Engelmann u. a. (Hg.): MfS-Lexikon (Anm. 4). 16 Vgl. Lexikon Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur. Berlin u. a. 2000, S. 193 u. Michelmann, Jeannette: Verdacht: Untergrundtätigkeit. Rudolstadt 2001.
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Künstler im öffentlichen staatlichen Kulturbetrieb allenfalls eine »andere«, aber keine Gegenkultur entwickeln. Neuere Forschungsergebnisse zum Thema MfS und Kultur 17 lassen den Schluss zu, dass zumindest auf dem Gebiet der Berliner Hochkultur die Steuerungs- und Einflussmöglichkeiten des MfS in den 1980er Jahren nur von bescheidener Natur waren, weil sich die zentralen Parteiorgane alle wichtigen kulturpolitischen Entscheidungen vorbehielten. Maßnahmen, die politisches Aufsehen hätten erregen können, bedurften in der Regel sogar »zentraler Entscheidungen«, was nichts anderes als die Zustimmung des Generalsekretärs der SED bedeutete. Im Unterschied zur Konzentration bisheriger Forschungen auf den Apparat und die Methoden des MfS einerseits und die politische Opposition anderseits wird bei der Analyse des ZOV »Bühne« auch nach der gesellschaftlichen Rolle der Staatssicherheit gefragt. Dabei geht es um den konkreten Umgang der Akteure mit dem entstandenen Konflikt vor Ort. Dementsprechend wird das Handeln staatlicher und kommunaler Behörden und Einrichtungen, einschließlich der verschiedenen Ebenen der SED, der Blockparteien und Massenorganisationen rekonstruiert. Der Beschreibung und Analyse der Einflüsse von SED und MfS auf die verschiedenen Kulturinstitutionen gilt dabei das besondere Augenmerk. Die Akten zum ZOV »Bühne« bieten einschließlich weiterer MfS-Unterlagen der Bezirksverwaltung Gera und der entsprechenden Aktenüberlieferungen des lokalen Partei- und Staatsapparates erstens die Möglichkeit, das Beziehungsgeflecht der Apparate von Partei, MfS, Volkspolizei und staatlichen Institutionen (Rat des Bezirkes, der Stadt usw.) auszuleuchten. Zweitens können die formellen und informellen Abstimmungs- und Steuerungsmechanismen sowie die Arbeitsteilung im Überwachungs-, Disziplinierungs- und Repressionskontext, das sogenannte politischoperative Zusammenwirken (POZW), herausgearbeitet werden. Die rigiden politisch-ideologischen Überzeugungen der MfS-Offiziere prägten ihren Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und Prozesse sowie den Inhalt und die Form der von ihnen gefertigten Berichte, Protokolle und Vermerke. Insofern sind diese Unterlagen oftmals auch als Zeugnisse einer politisch-ideologischen Selbstvergewisserung zu verstehen. MfS-Unterlagen sind grundsätzlich einer quellenkritischen Analyse zu unterziehen. Der Forschungsdiskurs zur Literatur- und Kulturgeschichte der DDR ist durch eine weitgehende Vernachlässigung des MfS-Aspektes gekennzeichnet. 18 Speziell bei 17 Braun, Matthias: Die Literaturzeitschrift »Sinn und Form«. Ein ungeliebtes Aushängeschild der SED-Kulturpolitik. Bremen 2004 und Ders.: Kulturinsel und Machtinstrument. Die Akademie der Künste, die Partei und die Staatssicherheit. Göttingen 2007. 18 In dem Band »Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung« wird unter dem Stichwort »Kultur und Kulturpolitik in der DDR« das Thema MfS und Kultur nicht einmal erwähnt. Vgl. Thomas, Rüdiger in: Bilanz und Perspektive der DDR-Forschung. Paderborn 2003, S. 261–271. Auch Mittenzwei, Werner in: »Die Intellektuellen« wie auch Barck, Simone; Langermann, Martina; Lokatis, Siegfried: »Jedes Buch ein Abenteuer« vernachlässigen das Stasi-Thema in ihren Untersuchungen. Vgl. Mittenzwei, Werner: Die Intel-
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der Erforschung kultureller Phänomene in der DDR-Geschichte spielt seit einigen Jahren eine nationale bzw. transnationale Perspektive eine Rolle. Bei der weiteren Erforschung der Literatur- und Kunstgeschichte der DDR, wie auch auf dem Gebiet der DDR-Kulturpolitik, haben sowohl im universitären als auch außeruniversitären Raum erinnerungskulturelle Fragestellungen in der Nachfolge von Maurice Halbwachs sowie Jan und Aleida Assmann Konjunktur. 19 In der Kunstgeschichte rückten in jüngster Zeit vergleichende Untersuchungen zur Entwicklung der Bildenden Kunst in Ost und West in den Vordergrund. 20 Darüber hinaus richtet sich das universitäre Forschungsinteresse vorwiegend auf biografische Darstellungen, Institutionengeschichte (Verlage und Verbände) und Spezialuntersuchungen zu Werk und Rezeption einzelner Schriftsteller und Künstler. Bei der vorliegenden Untersuchung stehen dagegen die Rolle von SED (Kulturfunktionäre) und Staatssicherheit (hauptamtliche und inoffizielle Mitarbeiter) in der Peripherie des Herrschaftssystems und die Funktion des MfS im Zusammenspiel mit anderen Instanzen des Machtapparates im Prozess der Herrschaftsdurchsetzung gegenüber den betroffenen Künstlern im Zentrum des Forschungsinteresses und soll anhand eines konkreten Kulturkonfliktes in Gera exemplarisch beleuchtet werden. Die Staatssicherheit erwies sich im Falle des ZOV »Bühne« als der größte kulturpolitische Dogmatiker innerhalb des DDR-Machtapparates. Mit geradezu obsessivem Furor ging die regionale Staatssicherheit dabei vor. Im Vergleich dazu zeigten sich die anderen Partei- und Staatsinstitutionen des Bezirkes in der Handhabung der Kulturpolitik flexibler bzw. waren bemüht, die entstandenen Konflikte zumindest teilweise pragmatisch zu lösen. Innerhalb dieses Erscheinungsbildes sind die Bruchlinien zwischen der von der Berliner Parteizentrale vorgegebenen Kulturpolitik und den dazu in der Provinz getroffenen Entscheidungen und Maßnahmen unübersehbar. Nicht nur der kulturpolitische Zickzack-Kurs der Berliner Parteiführung stellte die SED-Bezirks- und Stadtleitung Gera einschließlich der staatlichen Institutionen, wie etwa den Rat des Bezirkes (RdB) oder auch die Konzert- und Gastspieldirektion Geras (KGD) bei ihrer täglichen kulturpolitischen Arbeit zuweilen vor unerwartete Probleme. Die operative Arbeit des MfS in der Region war gleichfalls von der widersprüchlichen SED-Kulturpolitik der 1980er Jahre betroffen. Die MfS-Offiziere brauchten jedoch ein klares Freund-Feind-Bild. Kurzfristige Kursänderungen innerhalb der kulturpolitischen Arbeit konnten in dieses Schema nur schwer eingearbeitet bzw. berücksichtigt werden. So vermeldete die MfS-Bezirksverwaltung Gera unablektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland von 1945–2000. Leipzig 2001 und Barck, Simone; Langermann, Martina; Lokatis, Siegfried: »Jedes Buch ein Abenteuer«. Zensur-System und literarische Öffentlichkeiten in der DDR bis Ende der sechziger Jahre. Berlin 1997. 19 Vgl. Gansel, Carsten (Hg.): Gedächtnis und Literatur in den »geschlossenen Gesellschaften« des Real-Sozialismus zwischen 1945 und 1989. Göttingen 2007. 20 Herausragende Beispiele für diese Tendenz sind die beiden Katalogbände »Kunst und Kalter Krieg. Deutsche Positionen 1945–89«, hg. von Barron, Stephanie. Köln 2009 und Gillen, Eckhardt: Feindliche Brüder? Der Kalte Krieg und die deutsche Kunst 1945–1990. Bonn 2009.
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hängig von der offiziell verkündeten kulturpolitischen Linie des ZK der SED nicht selten Gefahr im Verzug, überprüfte und beanstandete selbst Entscheidungen von hohen SED-Funktionären und staatlichen Leitern, bestimmte Künstler auftreten zu lassen oder gar durch staatliche Preise aufzuwerten. Damit setzte sich eine nur schwer nachvollziehbare Dramaturgie der Repression in Gang, die nicht selten kafkaeske Züge trug. Im Mai 1985 stellte die MfS-Bezirksverwaltung Gera den ZOV »Bühne« offiziell wegen »nicht mehr existenter Gründe« 21 ein. Mit der Erörterung der realen Motive für die Einstellung des ZOV wird zugleich die Frage nach dem Erfolg bzw. Misserfolg dieser geheimpolizeilichen Maßnahmen beantwortet. Das umfangreiche MfS-Quellenmaterial ermöglichte uns, das Planen und Handeln der MfS-Offiziere sowohl dokumentieren als auch analysieren zu können. Es ist durchweg von einer geheimpolizeilichen Sicht geprägt, die primär darauf bedacht war, vermeintliches oder reales dissidentes Verhalten und sicherheitsrelevante Probleme aufzudecken und zu beseitigen. Bei unserem Untersuchungsgegenstand bildeten die selbstgefertigten Feinbildkonstruktionen der MfS-Mitarbeiter die Grundlage für ihre geheimpolizeilichen Aktionen. Wann immer es den observierten Künstlern/Kunstwissenschaftler gelang, zentrale Institutionen oder einflussreiche Einzelpersönlichkeiten aus der Hauptstadt für ihre Anliegen zu gewinnen, verbesserten sich ihre beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten. In der Regel mussten dann die Be- und Verhinderer in der Region klein beigeben. Das MfS betrachtete seine minutiös in Dienstanweisungen, Richtlinien und Durchführungsbestimmungen festgehaltenen operativen Instrumente und Verfahren stets als eine universelle Blaupause für seine gesamte operative Arbeit. Ständig begegneten uns die immer gleichen geheimdienstlichen Mittel und Methoden. In diesem Kontext haben wir versucht, die Motivationen der im ZOV »Bühne« eingesetzten inoffiziellen Mitarbeiter zu ergründen. Allerdings ließ der hohe Vernichtungsgrad von IM-Akten der Geraer Abteilung XX uns hierbei schnell an objektive Grenzen stoßen. Letztendlich konnten die Geraer Tschekisten im Rahmen des ZOV »Bühne« nur vereinzelt ihre Interessen konsequent durchsetzen. Sie haben aber mit ihren Maßnahmeplänen und operativen Aktionen die observierten Künstler nicht nur in kraftund zeitraubende Vorgänge verwickelt. Das MfS hat die im ZOV »Bühne« ins Visier genommenen Akteure, vornehmlich den Kunstwissenschaftler Hans-Peter Jakobson und den Puppenspieler Martin Morgner, immer wieder in Ängste versetzt. Im großen Ganzen lebten alle im ZOV »bearbeiteten« Akteure in ständiger Auseinandersetzung mit dem Machtapparat und dem Angst einflößenden Nimbus der politischen Geheimpolizei der DDR.
21 BV Gera, Abt. XX/7: Abschlussbericht des ZOV »Bühne« v. 13.6.1985; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. II, Bl. 295–308.
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1. Repressionsversuche des MfS im »Freiraum Kunst/Kultur« in der Provinz – Der ZOV »Bühne« der Bezirksverwaltung Gera »Die Gewährleistung einer hohen politisch-operativen Lageeinschätzung im Verantwortungsbereich« war im Juni 1982 das Thema für die regelmäßige Schulung der Mitarbeiter der Abteilung XX der MfS-Bezirksverwaltung Gera. Das Arbeitsbuch eines Offiziers dieser Abteilung gibt darüber Auskunft, was wir uns unter diesem Schulungsstoff vorzustellen haben. Danach stand im Zentrum der Unterweisung der Gedanke des »Schützens und Sicherns von Personen, gesellschaftlichen Bereichen und Prozessen«, mit anderen Worten der Schutz der sozialistischen Gesellschaftsordnung. Wir erfahren, dass bei der konkreten Einschätzung der Lage stets »die außenpolitischen Beziehungen und Lage« sowie »die internationale Klassenkampfsituation« zu berücksichtigen sind. Rasch wird aus den überlieferten Aufzeichnungen klar, dass jede Lageeinschätzung durch das MfS von der Grundannahme bestimmt war, dass es einen wie auch immer gearteten Gegner bzw. Feind mit konkreten Plänen und Absichten gibt. Auf der Basis dieses Konstruktes erfolgte die Einschätzung der jeweiligen »operativen Lage«. Als Richtschnur für diese Bewertung dienten die Beschlüsse und Dokumente der Partei- und Staatsführung, die zentralen Befehle und Weisungen des MfS und das selbstgefertigte Informationsmaterial der Bezirksverwaltung. 22 In diesem Sinne fand am 4. Juni 1982 beim Leiter der Abteilung XX der MfSBezirksverwaltung Gera, Oberstleutnant Henry Müller, 23 eine Beratung mit Mitarbeitern der Kreisdienststellen (KD) Jena, Stadtroda, Gera-Stadt und der Abteilung XX der Bezirksverwaltung statt. Dort erläuterte der Abteilungsleiter, gemäß der Richtlinie 1/76 24, »die als operativ notwendig erachtete« Eröffnung eines ZOV »Bühne« gegen sechs Künstler und einen Kunstwissenschaftler aus dem Verantwortungsbereich der Bezirksverwaltung Gera einschließlich der »koordinierten Bearbeitung der OV-Personen« in vier »operativen Teilvorgängen« (TV). Der ZOV »Bühne« wurde in der Abteilung XX der Bezirksverwaltung Gera angelegt und durch den Referatsleiter der Abteilung XX/7, Major Hubert Wirkner, 25 geführt. Mit dieser Entscheidung konnten die Tschekisten aus der ostthüringischen Region, die aus der Berliner Perspektive »immer noch als entwicklungsfähiger Bezirk« 26 eingeschätzt wurde, endlich auch einen Zentralen Operativen Vorgang (ZOV), die komplexeste
22 Löffler, Karl-Heinz: Arbeitsbuch: Lektion: Die Gewährleistung einer hohen politisch-operativen Lageeinschätzung im Verantwortungsbereich v. 21.6.1982; BStU, MfS, BV Gera, Abt. XX SA 667/3, Bl. 63 ff. 23 Siehe Katharina Lenski in diesem Band, u. a. S. 262 f. 24 Richtlinie 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge (OV) v. Januar 1976; BStU, MfS, BdL-Dok. Nr. 3234. 25 Zu Major Wirkner ausführlich der Beitrag von Katharina Lenski in diesem Band, u. a. S. 263 f. 26 BV Gera, AKG: Informationsbedarf Staatsapparat – Zur Situation in der Abteilung Kultur beim RdB Gera v. 3.3.1980; BV Gera, X 475/69 T. II, Bd. 1, Bl. 456.N.
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und aufwendigste Form eines Operativen Vorgangs (OV), auf kulturpolitischem Gebiet vorweisen. Als Kernaufgabe der operativen Arbeit aller im »Sicherungsbereich Kultur« tätigen Diensteinheiten nennt der Lehrstuhl Wissenschaftlicher Kommunismus der Juristische Hochschule (JHS) des MfS in Potsdam-Eiche, »einen maximalen Beitrag zur Durchsetzung der Kulturpolitik der Partei durch die Beseitigung begünstigender Bedingungen, die entsprechende Wahl der politisch-operativen Maßnahmen bei der Vorgangsbearbeitung, beim Abschließen von Vorgängen und Operativen Personenkontrollen zu leisten«.
Die Erfüllung dieser Aufgabe, betont das JHS-Papier abschließend, ist jedoch nur möglich durch ein »tiefes Eindringen der Genossen des MfS in das Wesen der Kulturpolitik der SED und bei genauer Kenntnis der politisch-operativen Lage sowie der Spezifik der zu sichernden Bereiche«. In diesem Zusammenhang wurde auf die aktuelle kulturpolitische Linie der SED verwiesen. Demnach ging die Partei davon aus, »dass es keine Tabus für die Kunst in unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit gibt und dass es darauf ankommt, in der weiteren politischen und kulturellen Entwicklung keinen Künstler zurückzulassen«. 27
Wie wenig die MfS-Offiziere in der DDR-Provinz diese Maxime der Partei jedoch in ihrer alltäglichen geheimpolizeilichen Tätigkeit beachtet haben, wird uns bei der Analyse des ZOV »Bühne« immer wieder beschäftigen. Bei den ins Visier der regionalen Staatssicherheit geratenen DDR-Bürgern handelte es sich um die Musiker der Gruppe »Liedehrlich« 28 Stephan Krawczyk, Jürgen Quarg, Kay Frotscher und einen Techniker 29 (TV »Bühne I«), den Kunstwissenschaftler Hans-Peter Jakobson (TV »Bühne II«), das Gesangsduo Matthias Görnandt & Berndt Rönnefarth 30 bzw. »Circus Lila« (TV »Bühne III«) und den Puppenspieler und Dramaturgen Martin Morgner (TV »Bühne IV«). Das MfS stufte die genannten Akteure durchweg als »negative Personen des geistig-kulturellen Bereiches [ein], die versuchen, den Freiraum Kultur/Kunst für sozialismusfremde Aktivitäten zu missbrauchen«. 31
27 JHS, Lehrstuhl Wissenschaftlicher Kommunismus: Diskussionsgrundlage für die Tagung des Wissenschaftlichen Beirates des Lehrstuhls Wissenschaftlicher Kommunismus v. 15.4.1980; BStU, MfS, HA XX 1504, Bl. 1–32. 28 In den MfS-Unterlagen häufig als »Liede(h)rlich« geschrieben. 29 Der Techniker Reiner Kolbe verlässt bereits im Herbst 1982 die Gruppe und wird dementsprechend nicht weiter in dem ZOV »bearbeitet«. 30 Das Gesangsduo trat später als Trio Görnandt/Rönnefarth/Schlecht auf. 31 BV Gera, Abt. XX/7: Gesamtbearbeitungskonzeption zur Eröffnung und Bearbeitung des zentralen Operativ-Vorganges »Bühne« in der Abteilung XX v. 16.8.1982; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 8–36, hier 8.
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In einer Zusammenstellung eines sogenannten persönlichen Materials 32 für den 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung (BL) Gera, Herbert Ziegenhahn, für welches auch eine Parteiinformation des Leiters der MfS-Bezirksverwaltung an Ziegenhagen vorlag, 33 wurden die vermeintlichen Probleme mit den besagten Künstlern viel unaufgeregter dargestellt. Dort heißt es: »[…] dass einzelne, meist auch handwerklich nicht sehr talentierte Leute, die außerhalb der Künstlerverbände arbeiten, Schwierigkeiten im Verstehen der Gesamtzusammenhänge haben und zu falschen Positionen kommen. In diese Tendenz sind das Gesangsduo Görnandt & Rönnefarth, Mitglieder der Gruppe ›Liedehrlich‹ [und] Martin Morgner einzuordnen.« 34
In der aufpolierten »Gesamtbearbeitungskonzeption« des ZOV »Bühne« lesen wir dagegen: »Genannte Personen entwickelten antisozialistische Aktivitäten unter gleichzeitigem Missbrauch des Freiraumes Kultur/Kunst im Sinne der politisch-ideologischen Diversion und des Pazifismus. Sie unterhalten teilweise Verbindungen, die zum politischen Untergrund neigen.« 35
Im Kern entsprach diese Formulierung der Definition des Wörterbuches des MfS zum Stichwort Missbrauch von Kunst und Kultur: »Bestrebungen innerer und äußerer Feinde, den Bereich der Kunst und Kultur der sozialistischen Gesellschaft für die Durchführung politischer Untergrundtätigkeit u. a. vielfältige Formen der Feindtätigkeit, insbesondere für die Verbreitung antisozialistischer Auffassungen, Theorien, Plattformen, Konzeptionen u. a., zu missbrauchen«. 36
Da die Künstler/Kunstwissenschaftler bereits über einen längeren Zeitraum geheimpolizeilich überwacht, zum Teil sogar über Jahre von der Staatssicherheit in OV »bearbeitet« wurden, lag der Bezirksverwaltung Gera bereits ein umfangreiches »operatives Ausgangsmaterial« vor. Aus der Bewertung dieses Materials leitete sie für den ZOV »Bühne« einen »operativen Sachstand« ab. In diesem bescheinigte sie den Künstlern und dem Kunstwissenschaftler eine negative »politisch-ideologische Grundeinstellung«, die teilweise sogar »feindlich zur DDR und dem realen Sozialismus« sei. In der MfS-eigenen Diktion heißt es weiter: »In ihren Aktivitäten ist die Tendenz der Verbreitung der politisch-ideologischen Diversion, des Pazifismus sowie weiterer sozialismusfremder Aktivitäten sichtbar. Der Gegenstand ihrer 32 Siehe Jeannette van Laak: Kap. 3.1 »Ich hab gemacht, was man mir sagte.« in diesem Band, S. 68. 33 Der Leiter der BV Gera, Generalmajor Lehmann, hatte am 23.3.1982 eine Parteiinformation über »Vorhaben, Inhalt und Absichten« der Gruppe »Liedehrlich« an den 1. Sekretär der SED-BL Gera übergeben. Der Inhalt dieser Parteiinformation ist nicht bekannt. Vgl. BV Gera, Abt. XX/7: Gesamtbearbeitungskonzeption zur Eröffnung und Bearbeitung des zentralen Operativ-Vorganges »Bühne« in der Abteilung XX v. 16.8.1982; BStU, MfS, BV Gera, AOV 765/85, Bd. I, Bl. 17. 34 Persönliches Material für den Genossen Ziegenhagen v. 20.4.1982; ThStA Rudolstadt, BL der SED Gera, IV/E2/3 162. 35 Ebenda. 36 Suckut, Siegfried (Hg.): Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Definitionen zur »politisch-operativen Arbeit«. Berlin 2001, S. 227.
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Wirksamkeit ist das Bestreben, mittels des Liedes, der Texte, in Ausstellungen und Kunstkritiken u. a. mehr, sich Zugang zu Bühnen und anderen öffentlichen Einrichtungen in der Kultur und des gesellschaftlichen Lebens zu schaffen, um von da aus in verschiedener Form in ›ihrem‹ Sinne Öffentlichkeitswirksamkeit zu erreichen. Dabei steht vorrangig das Ziel, innerhalb der DDR ›groß‹ zu werden, um Zugang zu den zentralen DDR-Medien wie Rundfunk, Fernsehen und Presse zu erreichen. Sie gehen davon aus, dass sie als ›bekannte Künstler‹ die ›Preise erhalten haben‹, schlecht diszipliniert [gemeint ist wohl: schlecht zu disziplinieren sind – M.B.] und dadurch Druck auf staatliche Organe ausüben können.« 37
Mit der Unterstellung, die von ihnen überwachten Künstler würden vom »Gegner« zu einem »feindlichen ideologischen Stützpunkt« (FIS) aufgebaut, versuchten die Geraer Tschekisten selbst noch in den 1980er Jahren ihr Vorgehen zu legitimieren. Der MfS-Logik zufolge ging die Existenz eines »FIS« im Inneren der DDR letztendlich auf eine Verbindung bzw. Steuerung durch den Westen zurück. 38 Dass sich in Gera Erscheinungen der »PID« und »PUT« 39 ganz offensichtlich ohne eine Einflussnahme des Westens entwickelt hatten, lag offenbar außerhalb der Denkfiguren der Geraer Tschekisten. Folglich versuchten sie krampfhaft, zumindest einen sogenannten westlichen Inspirator im Umfeld der »OV-Personen« ausfindig zu machen. Die angeführte Begründung für die Einleitung des ZOV »Bühne« klang selbst nach MfS-Maßstäben wenig überzeugend. »Wenn auch der dringende Verdacht einer strafbaren Handlung nach dem StGB im Direkten noch nicht vorliegt, ist die vorbeugende Verhinderung einer solchen dringend notwendig. Aus diesem Grund ist eine differenzierte, koordinierte-vorgangsmäßige operative Durchdringung und Bearbeitung der genannten Personen durch mehrere Diensteinheiten in einem ZOV erforderlich (Wirksamkeit im ganzen Bezirk und der DDR).« 40
In der bereits genannten Richtlinie 1/76 »zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge« ist auch das Verfahren zum Anlegen eines ZOV geregelt. Danach ist ein Zentraler Operativer Vorgang anzulegen, wenn »die angegriffenen Bereiche, Prozesse oder Personen und die verdächtigen Personen zum Verantwortungsbereich mehrerer […] Diensteinheiten einer […] Bezirksverwaltungen gehören und deshalb die Zusammenarbeit dieser Diensteinheiten erforderlich wird bzw. infolge des
37 BV Gera, Abt. XX/7: Gesamtbearbeitungskonzeption; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 9. 38 Vgl. Hans-Werner Hagen: Zur Rolle, Stellung und Arbeitsweise feindlicher ideologischer Stützpunkte aus Kreisen freiberuflich tätiger Kunst- und Kulturschaffender bei der Intensivierung der PID gegen die DDR (Diplomarbeit); BStU, MfS, JHS 3651/85. 39 PID ist die Abkürzung für Politisch-ideologische Diversion und PUT für Politische Untergrundtätigkeit. Vgl. Suckut, Siegfried (Hg.): Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Berlin 2001, S. 303 f. bzw. 377 f. 40 BV Gera, Abt. XX/7: Gesamtbearbeitungskonzeption; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 10.
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Umfangs und der Komplexität der Feindtätigkeit die Konzentration operativer Kräfte und Mittel mehrerer Diensteinheiten erforderlich ist.« 41
Im Falle der observierten Künstler ließ sich jedoch nach Lage der Dinge kaum der erforderliche »Umfang« bzw. die notwendige »Komplexität der Feindtätigkeit« feststellen, um einen ZOV zu rechtfertigen. Folglich musste die Sache künstlich aufgebauscht werden. Dieser Sachverhalt spiegelt sich in der Bearbeitungskonzeption des ZOV »Bühne« wider. Aus dieser Konzeption erfahren wir etwas über die beabsichtigte Zielstellung dieser Aktion. Vornehmlich sollten durch den Einsatz von IM die Motive und Ziele der überwachten Künstler in Erfahrung gebracht werden. Außerdem sollte es in Zusammenarbeit mit den örtlichen Partei- und Staatsorganen darum gehen, weitere »gegen die sozialistischen Verhältnisse in der DDR u. a. sozialistischer Staaten« gerichtete künstlerische Aktivitäten nach Möglichkeit komplett zu verhindern, zumindest aber wirksam einzuschränken. In diesem Prozess beabsichtigte die Bezirksverwaltung Gera durch sogenannte zielgerichtete Patenschaften (von IM in »Schlüsselpositionen«) die observierten Künstler nicht nur politischideologisch zu beeinflussen, sondern sie auch »systematisch zu disziplinieren« und »auf Positionen der sozialistischen Kulturpolitik zurück[zu]führen« 42, sprich bekehren zu wollen. Bemerkenswert ist, dass die Geraer Staatssicherheit von vornherein davon ausging, dass sich die Künstler/Kunstwissenschaftler nicht mehr im vorgegebenen Rahmen der SED-Kulturpolitik bewegten, obwohl sie bis dahin ausschließlich im staatlich sanktionierten öffentlichen Raum agierten. Bei den inoffiziellen Mitarbeitern in Schlüsselpositionen handelte es sich aus der MfS-Perspektive im Falle des ZOV »Bühne« um IM, »die eine gefestigte politischideologische Position besitzen, persönlich über ausgeprägte literarisch-fachliche Kenntnisse verfügen und mit Entscheidungsbefugnissen ausgestattet sind«. 43 In der Regel waren das entweder die genannten »Schlüssel-IM« oder sogenannte »ExpertenIM« 44, die vor allem Gutachten und Beurteilungen zu erarbeiten und Beweismaterial
41 In der Richtlinie wird über das Anlegen von ZOV und Teilvorgängen, die ausschließlich im Verantwortungsbereich einer Bezirksverwaltung geführt werden festgelegt, dass deren Leiter entscheidet. Vgl. Richtlinie 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge (OV) v. Januar 1976; BStU, MfS, BdL-Dok. Nr. 3234. 42 BV Gera, Abt. XX/7: Gesamtbearbeitungskonzeption, BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 34. 43 Rolf Jahn: »Die Realisierung der Einheit von Erkennen feindlicher Ziele und Absichten der politisch-ideologischen Diversion und der offensiven vorbeugenden Verhinderung ihrer gesellschaftsschädigenden Auswirkungen durch den Einsatz von IME-Schlüsselpositionen im Prozess der politisch-operativen Sicherung und Durchdringung des Bereiches Literaten/Texter im Bezirk Gera« (Diplomarbeit); BStU, MfS, JHS 20133, Bl. 18. 44 Beide IM-Kategorien gehörten zur Gruppe der IME, der inoffiziellen Mitarbeiter im besonderen Einsatz.
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zu erbringen hatten. Ihre Auswahl erfolgte gemäß der Richtlinie 1/79 für die Arbeit mit inoffiziellen Mitarbeitern. 45 Der »Zurückführung« bzw. »Rückgewinnung« »negativ, schwankender und zeitweise verwirrter Kräfte unter den Kulturschaffenden« kam beim MfS seit Ende der 1970er Jahre eine zunehmende Bedeutung zu. Sie wurde zu einer neuen Methode in der »politisch-operativen Vorgangsbearbeitung« der Staatssicherheit »in gegenwärtigen Klassenkampfsituationen« praktiziert. Nach den Vorstellungen von Erich Mielke geriet in diesem Prozess das »kameradschaftliche, vom gegenseitigen Vertrauen getragene Zusammenwirken mit Leitern staatlicher und gesellschaftlicher Einrichtungen zu einem wesentlichen Faktor in der vorbeugenden Verhinderung massenwirksamer feindlicher Aktivitäten und Handlungen«. 46
Nicht zuletzt durch die beabsichtigte Kooperation mit der SED-Bezirksleitung, den regionalen Institutionen und Verbänden und der Berliner Hauptabteilung XX des MfS, sollte die Mitwirkung der im Falle des ZOV »Bühne« observierten Künstler an künstlerischen Großveranstaltungen und ihre damit verbundene Aufwertung durch Berichte und Artikel in den zentralen Massenmedien (Funk, Fernsehen und Presse) verhindert werden. 47 Nach Auffassung der MfS-Bezirksverwaltung gehörten zu den wichtigsten regionalen Kooperationspartnern auf der SED-Seite der Sekretär der SED-Bezirksleitung für Wissenschaft/Volksbildung/Kultur August Paczulla 48 bzw. seine Sektorenleiter Klaus Rudolph 49 und Gerhard Klante. Im Rat des Bezirkes waren es der Leiter der Abteilung Kultur Hans Kathe bzw. der Sektorenleiter Lothar Toepel und die Theaterreferentin Marianne Daudert, der Intendant der Bühnen der Stadt Gera Heinz Schröder 50 und der Direktor der Konzert- und Gastspieldirektion Gera, Joachim Zanner. 51 Hierbei dürften für den Genossen Paczulla und seine Mitarbeiter die zeitweiligen kulturpolitischen Öffnungsexperimente des ZK-Sekretärs Hager zwar gewöhnungsbedürftig gewesen sein, im großen Ganzen erwiesen sich aber die Genossen der 45 Richtlinie 1/79 für die Arbeit mit Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) und Gesellschaftlichen Mitarbeitern für Sicherheit (GMS) v. 8.12.1979; BStU, MfS, BdL-Dok. Nr. 3278. – Als IME waren 1988 rund 7 200 IM, das waren 4 % des IM/GMS-Gesamtbestandes, registriert. 46 Rolf Pönig; Peter Nohl: Die Neutralisierung negativer, politisch-ideologisch schwankender und zeitweise verwirrter Kräfte unter den Kulturschaffenden und anderen Intellektuellen und die politische Gewinnung bzw. Rückgewinnung solcher Personen als Methode bei der offensiven Zurückdrängung feindlicher Einflüsse und politischer Untergrundtätigkeit in der operativen Vorgangsbearbeitung (Fachschulabschlussarbeit); BStU, MfS, JHS 216/79. 47 BV Gera, Abt. XX/7: Gesamtbearbeitungskonzeption; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 34. 48 Siehe Jeannette van Laak in diesem Band, S. 79. 49 Klaus Rudolph stieg im Verlauf des ZOV zum Abteilungsleiter auf. 50 Nähere Angaben zu den Genannten im Beitrag von Jeannette van Laak. Zu Kathe insbes. S. 82 f., zu Toepel u. Heil insbes. S. 83 f., zu Daudert insbes. S. 95, zu Schröder insbes. S. 91 f. 51 Näheres zu Joachim Zanner siehe Abschnitt: »Das ZK der SED schafft neue Fakten« in diesem Band, S. 163.
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SED-Bezirksleitung als flexibel genug, sich auf die aus der Hauptstadt kommende kulturpolitische Kehre einzustellen. Nicht zuletzt das große Ziel ihres 1. Sekretärs Ziegenhahn, endlich Mitglied des Politbüros zu werden, dürfte dazu beigetragen haben, dass Paczulla und seine Leute sich auf die Berliner Empfehlung einließen, galt es doch, unnötige Auseinandersetzungen mit der Parteizentrale zu vermeiden. Die staatlichen Kulturfunktionäre waren hauptsächlich damit beschäftigt, den laufenden Kulturbetrieb in der Region auf einem anspruchsvollen Niveau zu organisieren. Dabei sowohl die Durchsetzung der kulturpolitischen Beschlüsse zu gewährleisten als auch die Vorstellungen und Wünsche der Künstler zu berücksichtigen, brachte die Kulturfunktionäre häufig in eine komplizierte Lage. Ganz besonders betroffen von diesem Zielkonflikt waren jene Funktionäre, die ganz unmittelbar mit den Künstlern zu tun hatten.52 In diesem latenten Spannungsfeld auch noch die Wünsche der Staatssicherheit zu berücksichtigen, stellte zwangsläufig jeden Funktionär vor die Frage, welcher Institution er sich am meisten verpflichtet fühlte. Ungeachtet der Tatsache, dass die im ZOV »Bühne« unter geheimpolizeilicher Beobachtung stehenden Künstler aus der Geraer Kulturszene nicht einmal annähernd die gängigen Merkmale einer oppositionellen Gruppe erfüllten, wurden sie durch die Einleitung eines ZOV faktisch als solche behandelt. Die observierten Künstler/Musikgruppen handelten jedoch stets unabhängig voneinander. Außerdem traten die betroffenen Künstler/Kunstwissenschaftler weder als Oppositionelle noch als Dissidenten in Erscheinung. Dazu hätte zumindest eine partielle Verweigerung und erhebliche Abweichung von vorgegebenen Normen 53 vorliegen müssen. Selbst international bekannte und agierende Künstler bzw. Künstlergruppen mit entsprechend weitverzweigten Aktionsfeldern, die ins Visier des MfS gerieten – etwa im Zuge der Biermann-Affäre – wurden nicht in Zentralen Operativen Vorgängen bearbeitet. Der Verdacht liegt nahe, dass die in der Abteilung XX/7 der Geraer Bezirksverwaltung verantwortlichen Offiziere eine künstliche Aufwertung ihrer operativen Arbeit betrieben, um möglicherweise innerhalb der Bezirksverwaltung mehr Beachtung und materielle Anerkennung zu erhalten. Ausweislich der Gesamtbearbeitungskonzeption fungierte beim ZOV »Bühne« die Abteilung XX/7 der Bezirksverwaltung Gera als federführende »Fachabteilung«. Sie war für die Planung, Anleitung, Zusammenarbeit und Koordinierung aller innerhalb dieses ZOV stehenden operativen Maßnahmen verantwortlich. Dazu gehörte auch die Gewährleistung eines ständigen Informationsaustausches zwischen allen beteiligten Diensteinheiten einschließlich der Erarbeitung von Berichten an die Partei und staatliche Institutionen auf der Bezirks- und Kreisebene. 54 52 Vgl. Jeannette van Laak in diesem Band, S. 81 ff. 53 Kleßmann, Christoph: Opposition und Dissidenz in der Geschichte der DDR. In: APuZ (1991)B 5, S. 52–62. 54 BV Gera, Abt. XX/7: Gesamtbearbeitungskonzeption zur Eröffnung und Bearbeitung des zentralen Operativ-Vorganges »Bühne« in der Abteilung XX v. 16.8.1982; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 34.
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Bei der Umsetzung der veranschlagten Aufgaben und geheimpolizeilichen Maßnahmen kam – wie schon angesprochen – dem Einsatz von IM in »Schlüsselpositionen« eine besondere Bedeutung zu. Sie sollten vor Ort die Interessen des MfS durchsetzen helfen. Das konnte neben den bereits genannten Aufgaben im Einzelfall auch bedeuten, »bedeutsame Informationen« über die Lage in ihrem beruflichen Verantwortungsbereich für das MfS zu gewinnen. Die vorliegende Gesamtbearbeitungskonzeption listete die ersten, vornehmlich organisatorischen Aufgaben der beteiligten Diensteinheiten auf. Primär handelte es sich dabei um den auszuarbeitenden Operativplan (Arbeitsplan) in den jeweiligen Diensteinheiten und dessen Abstimmung mit der bereits vorhandenen Jahresplanung 1982/83. Außerdem ging es um die Festlegung der Verantwortlichkeiten für die standardisierte monatliche Berichterstattung an die Abteilung XX der Bezirksverwaltung (Fachabteilung), die viermonatliche Zwischenberichterstattung an den Leiter der Bezirksverwaltung Gera und einer Jahreseinschätzung mit entsprechenden Vorschlägen für die weitere operative Bearbeitung im darauffolgenden Kalenderjahr. Mit der geheimpolizeilichen Bearbeitung von Kulturschaffenden hatten sich die Geraer MfS-Offiziere einer Berufsgruppe angenommen, die nach Auffassung der Juristischen Hochschule dem »Gegner aufgrund der objektiv bedingten Besonderheiten [der] Arbeits- und Lebensweise [der Künstler sich – M.B.] als ein für seine Pläne und Absichten sehr geeigneter Personenkreis« 55 erwies. Nach Einschätzung der Juristischen Hochschule eigneten sich »Kunst und Kultur aufgrund der Spezifik ihrer Reflexion der objektiven Realität (Allegorien, Metapher, Fabelform, Entfremdungseffekte [sic] u. a.), insbesondere komplizierter und dialektisch widersprüchlicher gesellschaftlicher Prozesse im nationalen und internationalen Rahmen, besonders gut für verdeckte und unterschwellige feindliche Angriffe, deren Wirkungsweise sehr differenziert auf die verschiedenen Klassen und Schichten bis hin zu Gruppen (z. B. Jugendliche, Studenten) ausgerichtet ist«. 56
Diese Bewertung dürfte vornehmlich aus dem dogmatischen Feindbild der Staatssicherheit abgeleitet sein. Daraus lässt sich jedoch nicht der Schluss ziehen, dass für das MfS Kunst und Literatur per se subversiv waren. Grundsätzlich gehörten Kunst und Literatur für die politische Geheimpolizei zum gesellschaftlichen Überbau. Normativer Maßstab für die Beurteilung des Literatur- und Kunstbetriebes bzw. des einzelnen Künstlers waren die in der Kulturpolitik der Partei gewonnenen Aussagen und Festlegungen. Dementsprechend galten für die hauptamtlichen MfSMitarbeiter die ideologischen Implikationen der Kulturpolitik, wie auch in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen, als verbindliche Handlungsanleitungen für
55 JHS, Lehrstuhl Wissenschaftlicher Kommunismus: Diskussionsgrundlage für die Tagung des Wissenschaftlichen Beirates des Lehrstuhls Wissenschaftlicher Kommunismus v. 15.4.1980; BStU, MfS, HA XX 1504, Bl. 1–32, hier 28. 56 Ebenda, Bl. 29.
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ihre Arbeit. Auf dieser Grundlage sollte jeweils zwischen Freund und Feind unterschieden werden. Die Akten vermitteln uns jedoch ein anderes Bild. Danach entsprachen die in der Bezirksverwaltung Gera im Sicherungsbereich Kultur eingesetzten MfS-Offiziere offenbar nicht der Forderung der Juristischen Hochschule des MfS, tief »in das Wesen« der Kulturpolitik der Partei einzudringen, zeigten doch ihre Einschätzungen und Bewertungen der Künstler, dass sie sich nicht auf der Höhe des aktuellen kulturpolitischen Diskurses befanden. Überdies erforderte die immer konzeptionsloser werdende SED-Kulturpolitik der 1980er Jahre vom MfS ein hohes Maß an Flexibilität in ihrer operativen Arbeit, welches dem über Jahrzehnte ausgebildeten Feindbild des Sicherheitsapparates entgegenstand. In Gera reagierte die MfSBezirksverwaltung, wie der ZOV »Bühne« exemplarisch zeigt, auf die neuen Herausforderungen in erster Linie mit ihren alten schablonenhaften Maßnahmeplänen, denen längst von der Parteiführung ad acta gelegte Politikvorstellungen zugrunde lagen.
2. Ein steiniger Weg im ostthüringischen Kulturbetrieb der 1970er und 1980er Jahre – Der Fall Hans-Peter Jakobson Vom Direktor eines halbstaatlichen Betriebes zum freischaffenden Kunstwissenschaftler Hans-Peter Jakobson war Anfang der 1970er Jahre zunächst Direktor einer Knallerbsen produzierenden Firma in Gera. Weil das Betriebsgelände der Paul Werner KG für pyrotechnische Erzeugnisse einem lokalen Verkehrsprojekt im Wege stand, wurde der Familienbetrieb 1973 geschlossen. Hans-Peter Jakobson musste sich beruflich neu orientieren. Seinen künstlerischen Neigungen folgend gelang es ihm, eine Tätigkeit als hauptamtlicher Kulturbundsekretär des Kreises Gera-Land aufzunehmen. Im Rahmen dieser Beschäftigung baute Jakobson in Bad Köstritz eine »Kleine Galerie« auf und versuchte dort ein abwechslungsreiches und anspruchsvolles Kulturleben in Gang zu bringen. Dazu gehörte auch eine Veranstaltung mit den Liedermachern Bettina Wegner und Gerulf Pannach sowie dem Schriftsteller Jürgen Fuchs, die ihm zum Verhängnis werden sollte. 57 Die Staatssicherheit unterstellte dem Kulturbundsekretär Jakobson, »in dieser Galerie überwiegend Künstler mit
57 Diese Veranstaltung in der ostthüringischen Provinz fand sogar Eingang in eine zentrale Information der HA XX. Vgl. HA XX: Information über negative und feindliche Aktivitäten von Personen aus dem kulturellen Bereich v. 29.4.1975; BStU, MfS, HA XX/AKG 6813.
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antisozialistischen/revisionistischen Anschauungen« 58 auszustellen bzw. auftreten zu lassen und leitete zu ihm prompt eine Operative Personenkontrolle (OPK) »Sekretär« ein. Im Rahmen dieser OPK versuchte die Abteilung XX/7 der Bezirksverwaltung Gera, Hans-Peter Jakobson als IM zu gewinnen. 59 Diese Methode gehörte zur gängigen Praxis des MfS. Nach mehreren Kontaktgesprächen, in deren Verlauf »kein echtes Vertrauensverhältnis hergestellt werden konnte« 60, brach Hans-Peter Jakobson von sich aus den Kontakt zur Staatssicherheit ab. Zur gleichen Zeit »bittet« er unter dem Druck seiner Vorgesetzten um einen Aufhebungsvertrag beim Kulturbund. Fortan hatte der einstige Kulturbundsekretär große Schwierigkeiten bei der Suche nach einer neuen Arbeitsmöglichkeit im lokalen kulturellen Bereich. Der Referatsleiter der Abteilung XX/7 der Bezirksverwaltung Gera, Major Wirkner, und seine Mitarbeiter waren daran nachweislich beteiligt. 61 So verhinderte die Bezirksverwaltung mehrfach Hans-Peter Jakobsons Bemühungen, als Kandidat des Verbandes Bildender Künstler (VBK) aufgenommen zu werden, indem sie ihre IM entsprechend zum Einsatz brachte. Diese repressiven Maßnahmen erfolgten im »Zusammenwirken« mit den Behörden (»Organen«) auf der Bezirksebene. Doch mit der Unterstützung eines Berliner Kunstwissenschaftlers gelang es HansPeter Jakobson, ohne Rücksprache mit dem Bezirksverband Gera Kandidat des Künstlerverbandes zu werden. Damit erlangte Jakobson eine staatliche Anerkennung, die etwa den Möglichkeiten eines Musikers mit einem Berufsausweis entsprach. 62 Laut Aktenvermerk der Abteilung XX/7 in der Bezirksverwaltung Gera, war der »VBK Gera weder über die Absichten zur Aufnahme des Jakobson durch die zentrale Sektion Kunstwissenschaften informiert worden, noch lag die Zustimmung der Leitung des Bezirksverbandes dazu vor. Der Bezirksverwaltung [Bezirksverband – M.B.] VBK Gera wurde erst mit der Übersendung des Mitgliedsbuches des Jakobson über dessen Aufnahme in Kenntnis gesetzt.« 63
Im Herbst 1979 versuchte die Geraer Staatssicherheit Hans-Peter Jakobson erneut für eine IM-Tätigkeit anzuwerben, die er kategorisch ablehnte. Daraufhin drohten
58 BV Gera, Abt. XX/7: Gesamtbearbeitungskonzeption zur Eröffnung und Bearbeitung des zentralen Operativ-Vorganges »Bühne« in der Abteilung XX v. 16.8.1982; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 20. 59 BV Gera, Abt. XX/7: Konzeption zur Führung eines Kontaktgespräches mit dem Jakobson, HansPeter v. 25.9.1974; BStU, MfS, BV Gera, AOV 766/85, Bd. I, Bl. 115–117. 60 BV Gera, Abt. XX: Operative Einschätzung der OPK-Person »Sekretär« v. 21.4.1975; ebenda, Bl. 251–153, hier 252. 61 Vgl. TOV »Bühne II«; ebenda. 62 Beispielsweise hatte er als Kandidat des VBK einen Anspruch auf einen Fördervertrag und konnte auch als Autor von Aufsätzen und Artikeln nicht mehr so leicht zurückgewiesen werden. 63 BV Gera, Abt. XX/7: Aktenvermerk v. 12.5.1978; BStU, MfS, BV Gera, AOV 766/85, Bd. I, Bl. 294.
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Major Wirkner und Leutnant Jahn 64 unverhohlen mit Repressalien. In ihrem Bericht zum Kontaktgespräch mit Hans-Peter Jakobson liest sich das so: »Ihm wurde vorgehalten, dass seine Haltung gegenüber unserem Staat, der Kultur usw. nicht ehrlich ist, da keinerlei Beweis gegenüber dem MfS erfolgt. Außerdem wurde ihm angedeutet, dass sein weiterer Entwicklungsweg und perspektivische Möglichkeiten auf hoher und höchster Ebene im Beruf bei Ablehnung der Unterstützung des MfS ebenfalls keinerlei Förderung durch unser Organ erhält.«
Laut Protokoll wehrte sich Jakobson gegen diesen Erpressungsversuch der örtlichen Staatssicherheit. »Wenn er Repressalien des MfS gegen seine Person bemerkt, [wolle] er sich bei der SED-Bezirksleitung beschweren.« 65 Indem Hans-Peter Jakobson diese unüberhörbare Warnung aussprach, bewies er nicht nur Zivilcourage, er machte zugleich deutlich, dass er um die wahren Machtverhältnisse in der DDR wusste. Schließlich reklamierte die Partei für sich, in allen Bereichen des Staates und der Gesellschaft die führende Rolle innezuhaben. Wenn überhaupt, dann konnte nur sie dem Treiben des Sicherheitsapparates, mit dem Hinweis, dass es in dem jeweils konkreten Fall um politische Belange ginge, Einhalt gebieten. Angesichts Jakobsons grundsätzlicher Haltung »gegen eine Unterstützung des MfS und jede Form der Zusammenarbeit« 66, ließen sich die Geraer Tschekisten jedoch von seiner Warnung nicht beeindrucken, standen sie doch der Partei näher als ihr Delinquent. Die Abteilung XX/7 der Bezirksverwaltung leitete gegen HansPeter Jakobson massive geheimpolizeiliche Maßnahmen ein. Neben der Überwachung des Brief- und Paketverkehrs gehörte dazu der Einsatz von IM in »Schlüsselpositionen« im Künstlerverband und dem Rat des Bezirkes, um Jakobsons weitere berufliche Entwicklung möglichst wirkungsvoll behindern zu können. Ab sofort wurden zur Durchsetzung der Interessen der örtlichen Staatssicherheit die IME »Henry« (Künstlerverband Gera) 67 und »Brinkmann« (Kulturbund Gera) 68, der IMS 69 »Teichert« (Kulturabteilung des RdB) 70 und die IMK 71 »Paula« 72 in Stellung gebracht.
64 Rolf Jahn, geboren 1950, war seit 1974 MA des MfS. Vgl. Katharina Lenski in diesem Band, S. 187 u. 200. 65 BV Gera, Abt. XX/7: Einschätzung des Standes der Kontaktgespräche v. 31.10.1979; BStU, MfS, BV Gera, AOV 766/85, Bd. II, Bl. 6–10, hier 8. 66 Ebenda, Bl. 9. 67 Der Sekretär des VBK Gera, Karl Heinz Götze, war seit 1979 unter dem Decknamen IM »Henry« für die BV Gera tätig. Vgl. BStU, MfS, BV Gera, AIM 306/85, Bd. I. 68 Der Bezirkssekretär des Kulturbundes Werner Banisch wurde von der BV Gera unter dem Decknamen »Walter Brinkmann« geführt. Vgl. BStU, MfS, BV Gera, 01/2897/81. 69 IMS ist die Abkürzung für einen inoffiziellen Mitarbeiter zur Sicherung und Durchdringung eines Verantwortungsbereiches. 70 Der Mitarbeiter und spätere Sektorenleiter der Kulturabteilung des RdB, Lothar Toepel, wurde von der BV Gera seit Januar 1979 als IMS »Lothar Teichert« und seit März 1982 als IME gleichen Namens geführt. Vgl. BStU, MfS, BV Gera, Auskunftsbericht v. 1.10.1987 zur Reg.-Nr. 444/71 bzw. Vorgangsheft
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Zur Strategie der MfS-Bezirksverwaltung Gera gehörte es, systematisch die berufliche Qualifikation von Hans-Peter Jakobson infrage zu stellen und zu jeder passenden Gelegenheit bei jedem potenziellen Arbeitgeber gegen ihn »verdeckt« zu intrigieren. Selbst die Weisung der SED-Bezirksleitung, dass die Redaktion der SEDBezirkszeitung »Volkswacht« mit Jakobson zusammenarbeiten solle, versuchte die MfS-Bezirksverwaltung zu untergraben. Sie erteilte einem IM den Auftrag, Jakobsons Texte zunächst einmal auf »Eis zu legen« und erst »bei Drängen der SED-BL auf Veröffentlichungen von Jakobson im Bezirksorgan für das [jeweilige] Manuskript von Jakobson die schriftliche Bestätigung zum Abdruck in der Leitung von der SED-BL einzuholen«. 73
Dieses Verhalten zeigte nicht nur, mit welchen Tricks die Geraer MfS-Offiziere in diesem Fall versuchten, ihre eigenen Ziele auch gegen eine Weisung der SEDBezirksleitung durchzusetzen. Das Beispiel macht auch deutlich, wie verloren ein DDR-Bürger im Getriebe des Machtapparates sein konnte. Nur in wenigen Ausnahmefällen konnte eine Intervention prominenter Kulturpersönlichkeiten, wie etwa der gemeinsame Protest der SED-Mitglieder Christa Wolf und Stephan Hermlin beim SED Generalsekretär gegen die Verhaftung von drei jungen Berliner Schriftstellern im November 1980, etwas ausrichten. 74 Für den in der Provinz lebenden freischaffenden Kunstwissenschaftler Jakobson blieben schließlich die objektiv begrenzten Verdienstmöglichkeiten durch die gezielten Aktionen der Geraer Staatssicherheit besonders eingeschränkt. 1981 lief Hans-Peter Jakobsons Kandidatenstatus im Künstlerverband der DDR aus. Der zuständige Bezirksverband Gera entschied, ob der Kandidat Jakobson Vollmitglied wird oder nicht. Verlief normalerweise diese Entscheidung ohne nennenswerte Probleme, so wuchs sich diese Frage in seinem Falle für die Leitung des Bezirksverbandes bzw. die Sektionsleitung Kunstwissenschaften zu einem diffizilen Problem aus. Selbst die hinter den Kulissen agierende Abteilung XX/7 der Bezirksverwaltung Gera musste zur Kenntnis nehmen, dass eine Ausgrenzung von Hans637 der BV Gera von Hubert Wirkner. Zur Biografie von Toepel siehe Jeannette van Laak in diesem Band, S. 83 f. 71 IMK ist die Abkürzung für einen inoffiziellen Mitarbeiter, der entweder seine Wohnanschrift als Deckadresse, sein Telefon als Decktelefon bzw. seine Wohnung/Zimmer für konspirative Treffen zur Verfügung stellte. 72 Keine Angaben bekannt. 73 BV Gera, Abt. XX/7: Information v. 15.10.1979; BStU, MfS, BV Gera, AOV 766/85, Bd. II, Bl. 30 f. 74 Im Oktober/November 1980 sind die Schriftsteller Lutz Rathenow, Frank-Wolf Matthies und Thomas Erwin wegen »ungesetzlicher Verbindungsaufnahme«, § 219, verhaftet worden. Nach Intervention von Christa Wolf, Stephan Hermlin und Franz Fühmann wie auch mehrerer ausländischer PEN-Zentren wurden nach 10 Tagen Rathenow und Matthies und Thomas Erwin nach reichlich 3 Monaten wieder aus der U-Haft entlassen. Ihre zunächst weiterlaufenden Ermittlungsverfahren wurden nach kurzer Zeit ebenfalls fallengelassen. Vgl. Braun, Matthias: Straftatbestand: Literatur. Vortrag am 6.10.2010 in Berlin und Schlüter, Kai: Günter Grass im Visier. Die Stasi-Akte. Berlin 2010, S. 174–177.
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Peter Jakobson nicht ohne Brisanz war. Beispielsweise teilte ein IM in »Schlüsselposition«, der vom MfS den Auftrag erhalten hatte, die Vollmitgliedschaft von Jakobson zu verhindern, seinem Führungsoffizier mit, dass er sich in »dieser Angelegenheit in einer äußerst komplizierten Lage und Situation« befinde. Er könne sich in dieser Sache im Vorstand mit niemandem vertrauensvoll beraten. Um welche »Schlüsselposition« es sich dabei handelte, geht aus der Information nicht hervor. Wir erfahren aber, dass der IM an den eingereichten Arbeiten von Jakobson nichts auszusetzen habe. »Aus meiner bisherigen Sicht muss ich sagen, dass ich mir wünschte, einige Formulierungen wären von mir selbst.« Außerdem gab der IM zu bedenken, dass der Kandidat Jakobson durch seinen Hochschulabschlusses als Diplom-Kunstwissenschaftler alle Voraussetzungen für eine Vollmitgliedschaft im Künstlerverband erfülle. Deshalb bat der IM seinen Auftraggeber nachfolgende Fragen zu überdenken und sich danach »noch einmal zu dem Problem J. zu beraten«. » 1. Was passiert bzw. müssen wir machen, wenn eine Nichtaufnahme erfolgt? Wo und als was soll er dann arbeiten, wie haben wir dann eine Kontrolle? 2. Nutzt er seine Verbindungen innerhalb der DDR und nach der BRD, um aus seinem Problem einen Fall ›Berufsverbot‹ zu machen? 3. Ist es nicht besser, er ist Mitglied des Verbandes und wir können ihn letztlich ständig unter Kontrolle halten? 4. Wer verhindert das Erscheinen seiner Artikel in den zentralen Publikationen?« 75
Dieses Beispiel beschreibt einmal mehr, von welchen Unwägbarkeiten und unterschiedlichen Interessenlagen das Verhältnis zwischen einem IM und seinem Führungsoffizier geprägt sein konnte, zumal wenn er sich in seiner Leitungsfunktion im Künstlerverband in erster Linie den Interessen und Aufgaben seines Regionalverbandes verpflichtet fühlte. 76 Ob und wie die Fragen des IM von seinem Führungsoffizier beantwortet wurden, ist nicht überliefert. Aus den vorliegenden MfS-Unterlagen geht jedoch hervor, dass die Bezirksverwaltung Gera eine systematische Ausgrenzung von Hans-Peter Jakobson anstrebte. Trotz der Einwände beauftragte die Bezirksverwaltung alle eingesetzten inoffiziellen Mitarbeiter, die Aufnahme Jakobsons in den Künstlerverband zu verhindern. 77 Dem Teilvorgang »Bühne II« ist zu entnehmen, dass die Entscheidung, Jakobson nicht in den Verband aufzunehmen, »einhellig durch das Bezirkssekretariat und die Sektionsleitung« 78 am 22. Februar 1982 erfolgt ist. »Diese Entscheidung findet die Zustim75 BV Gera, Abt. XX/7: Information zur Verbandsaufnahme Jakobson v. 26.11.1981; BStU, MfS, BV Gera, AOV 766/85, Bd. II, Bl. 55 f. 76 Zu den Schwierigkeiten der Staatssicherheit, ihre eigene Politik mittels ihrer IM durchsetzen zu können siehe u. a. bei Michelmann, Jeannette: Eine Erfurter Umweltschutzgruppe und die Staatssicherheit. Rudolstadt, Jena 2001. 77 BV Gera, Abt. XX/7: Maßnahmeplan zur Gewährleistung der politisch-operativen Kontrolle von Jakobson v. 22.2.1982; BStU, MfS, BV Gera, AOV 766/85, Bd. II, Bl. 81. 78 BV Gera, Abt. XX/7: Information von IM »Henry« v. 23.2.1982; ebenda, Bl. 82.
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mung der staatlichen Organe des Territoriums und der Bezirksleitung der SED« 79, hält die Staatssicherheit in ihren Unterlagen fest. Um einem vermuteten Einspruch des Kandidaten Jakobson beim Berliner Zentralvorstand des Künstlerverbandes vorzubeugen, wandte sich die Abteilung XX/7 der Bezirksverwaltung Gera mit folgender »Bitte« an die Hauptabteilung XX/7 in Berlin: »Sie werden gebeten zu prüfen, entsprechend Ihren Möglichkeiten, Ihren Einfluss geltend zu machen gegenüber dem Zentralvorstand bzw. der Zentralen Sektion Kunstwissenschaften, dass ein zu erwartender Einspruch von Jakobson als unbegründet zurückgewiesen wird. Sollte eine neue Beratung über Aufnahme oder Ablehnung notwendig sein, sollte ebenfalls im Ergebnis eine Nichtaufnahme ausgesprochen werden.« 80
Parallel zur Ablehnung als Verbandsmitglied wurde der Rat des Bezirkes Gera darüber informiert, dass der Kollege Jakobson ohne Mitgliedstatus im Künstlerverband nicht mehr ohne Weiteres als freischaffender Kunstwissenschaftler tätig sein könne. Er benötige für seine journalistische Tätigkeit zumindest eine Zulassung. Solange diese nicht vorliege, könne nun auch gesetzlich gegen ihn vorgegangen werden, »wobei sich auch die Auftraggeber strafbar machen«, teilte der IM »Henry« seinem Führungsoffizier, Hauptmann Trost, mit. 81 Die bisherigen Auftraggeber von HansPeter Jakobson, beispielsweise das »Volkshaus« [Kulturhaus – M.B.] des VEB Carl Zeiss Jena, wurden vom Rat des Bezirkes Gera offiziell über den neuen Sachverhalt informiert. Daraufhin stornierte das Kombinat Carl Zeiss Jena die noch ausstehenden Honorarzahlungen an Hans-Peter Jakobson. Gleichzeitig richtete der Leiter der Abteilung XX der Bezirksverwaltung an die Objektdienststelle Zeiss die »Bitte«: »Entsprechend der Situation sollten solche Möglichkeiten gefunden werden, den Honorarvertrag mit dem J. zu lösen bzw. ihm keine verantwortliche oder leitende Funktion zu überlassen.« 82 Durch diese massiv diskriminierenden Maßnahmen zermürbt, erwog Hans-Peter Jakobson, Gera zu verlassen und sich auf ein im Familienbesitz befindliches Anwesen im Norden der DDR zum Malen zurückzuziehen. Bevor er jedoch diesen Entschluss in die Tat umsetzte, wandte er sich schriftlich an den zuständigen Funktionär der Kulturabteilung im Rat des Bezirkes Gera, Lothar Toepel. In seinem Brief bat er um die Genehmigung, seine freiberufliche Tätigkeit »im Sinne unserer Kunstpolitik fortführen zu können«. 83 Eine Abschrift dieses Briefes befindet sich auch in den MfS-Unterlagen zu seiner Person. 79 BV Gera, Abt. XX/7 an HA XX/7 v. 1.3.1982; ebenda, Bl. 86. 80 Ebenda, Bl. 87. 81 BV Gera, Abt. XX/7: Information von IM »Henry« v. 23.2.1982; BStU, MfS, BV Gera, AOV 766/85, Bd. II, Bl. 83. 82 BV Gera, Abt. XX/7: Information zu Jakobson v. 26.2.1982; BStU, MfS, BV Gera, AOV 766/85, Bd. II, Bl. 84 f. 83 Jakobson an RdB, Abt. Kultur v. 27.7.1982 (Abschrift); BStU, MfS, BV Gera, AOV 776/85, Bd. II, Bl. 116–119, hier 119.
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Im Sommer 1982 zeichnete sich eine veränderte Vorgehensweise gegenüber Hans-Peter Jakobson ab. Hatte bis zu diesem Zeitpunkt vor allem die lokale Staatssicherheit nichts unversucht gelassen, Hans-Peter Jakobson auszugrenzen, so sollte es in der Zukunft eher darum gehen, ihn zumindest formal wieder in die sozialistische Arbeitswelt zu integrieren. Ob diese Idee von der SED-Bezirksleitung, dem Rat des Bezirkes oder der MfS-Bezirksverwaltung Gera ausging, geht aus den Quellen nicht hervor. Ein neuer Maßnahmeplan sah jedenfalls vor, Jakobson durch ein festes Arbeitsverhältnis in einer musealen Einrichtung 84 an eine staatliche Einrichtung zu binden, um ihn ständig »unter Kontrolle« halten zu können, so die Überlegung der Abteilung XX/7 der Bezirksverwaltung Gera. Dabei von einem echten Strategiewechsel, Integration versus Ausgrenzung zu sprechen, wie er auf dem Gebiet der Kulturpolitik seit Mitte der 1970er Jahre mehrfach praktiziert wurde, würde allerdings zu weit gehen. Vielmehr scheint mit der angestrebten institutionellen Einbindung lediglich eine Verbesserung der Eingriffsmöglichkeiten beabsichtigt gewesen zu sein. Denn die Geraer Tschekisten beschlossen zugleich, Hans-Peter Jakobson wegen seiner Kontakte zu »auffällig« gewordenen Pastoren der evangelischen Kirche und seiner Verbindungen zu den wenig später im ZOV »Bühne« observierten Künstlern, als Teilvorgang »Bühne II«, im Visier zu behalten und auch weiterhin zu diskriminieren. Vorwiegend sollte es darum gehen: »Hinweise und Beweise für die antisozialistischen Ziele und Absichten zu erarbeiten und die Wirkungsmöglichkeiten des J. einzuschränken.« 85 Im Detail bedeutete das, Hans-Peter Jakobsons weitere Berufspläne durch inoffizielle Mitarbeiter auszuspionieren und seine Verbindungen in der DDR und der Bundesrepublik in Erfahrung zu bringen. Ferner sollten durch gezielte »Vorfeldermittlungen« Jakobsons Kuratorentätigkeit eingeschränkt und seine Vortrags- und Publikationsmöglichkeiten »zurückgedrängt« werden. 86 Für die Durchführung des Teilvorganges »Bühne II« zeichnete Major Wirkner von der Abteilung XX/7 der Bezirksverwaltung Gera verantwortlich. Der Teilvorgang »Bühne II« Der offenkundige Vorwand, Hans-Peter Jakobson arrangiere für das Duo »Görnandt & Rönnefarth« fortlaufend Auftrittsmöglichkeiten, musste für die MfSBezirksverwaltung dafür herhalten, wenigstens formal die Integrierung des Falles Jakobson in den ZOV »Bühne« zu rechtfertigen. Tatsächlich schrieb die MfSBezirksverwaltung mit dieser Rechtfertigung ihre operativen Maßnahmen gegen den freischaffenden Kunstkritiker und Kurator Jakobson nur unter einer anderen Be84 Niederschrift über ein Gespräch mit Hans-Peter Jakobson am 27.8.1982 durch Genossen Toepel in der Abteilung Kultur; BStU, MfS, BV Gera, AOV 766/85, Bd. II, Bl. 190 f. 85 BV Gera, Abt. XX/7: Gesamtbearbeitungskonzeption zur Eröffnung und Bearbeitung des ZOV »Bühne« in der Abteilung XX v. 16.8.1982; ebenda, Bl. 161–189, hier 175. 86 Ebenda.
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zeichnung fort. Wollte das Regime einen »auffällig« gewordenen Kulturarbeiter wie ihn, der in kein Arbeitskollektiv integriert oder an keine staatliche Institution gebunden war, nachhaltig disziplinieren, so stand dafür als einzige staatliche Institution das MfS zur Verfügung. Normalerweise versuchte die politische Geheimpolizei der DDR solche Fälle durch die Einleitung eines »einfachen OV« zu lösen. Im Unterschied zu den anderen Teilvorgängen des ZOV »Bühne« wurde mit Hans-Peter Jakobson weder ein weiterer Künstler, noch ein besonders intensiv mit den anderen »OV-Personen« in Verbindung stehender Protagonist der Geraer Kulturszene geheimpolizeilich »bearbeitet«. Der gängigen operativen Arbeit folgend, stellte die Abteilung XX/7, genauer gesagt das Referat 7 in der Abteilung XX der Bezirksverwaltung Gera, für den Teilvorgang »Bühne II«, analog der anderen Teilvorgänge, zunächst einmal einen Operativplan auf. In diesem wurden die in der Gesamtkonzeption des ZOV »Bühne« skizzierten Aufgaben und Zielstellungen durch konkrete Arbeitsaufträge und Verantwortlichkeiten unterlegt. Dabei ging es um die Festlegung der inhaltlichen Schwerpunkte, den zukünftigen Einsatz von IM, die Gewinnung neuer Informanten, die »Analysierung operativ bedeutsamer Verbindungen«, den geplanten Einsatz operativ-technischer Mittel, die Zusammenarbeit mit anderen Diensteinheiten (inner- und außerhalb der Bezirksverwaltung) und die Festlegung der Berichtsintervalle 87 entsprechend der dafür verbindlichen Dienstanweisung 1/80. 88 Das besondere Interesse der MfS-Bezirksverwaltung Gera galt der umfassenden Ausspionierung von Hans-Peter Jakobsons aktuellen Arbeits- und Einflussmöglichkeiten sowie der Ermittlung seiner Kontakte zu »Kultur- und Kunsteinrichtungen, zur Kirche in der DDR sowie in der BRD«. 89 Durch den zielgerichteten Einsatz von vier inoffiziellen Mitarbeitern sollte fortan eine freischaffende Tätigkeit von HansPeter Jakobson systematisch verhindert und zugleich massiver Einfluss auf seine Eingliederung in ein festes Arbeitsverhältnis genommen werden. Grundsätzlich sollten die inoffiziellen Mitarbeiter »entsprechend ihrer konkreten beruflichen und gesellschaftlichen Aufgaben und den übertragenen Rechten und Pflichten« für eine »flächendeckende Überwachung« Jakobsons eingesetzt werden. Konkret erhielten der IME »Henry« 90und IMS »Lehmann« 91 (beide Künstlerverband Gera) den Auftrag, sowohl einen erneuten Aufnahmeversuch in den Künstlerverband als auch eine 87 BV Gera, Abt. XX/7: Operativplan zum TOV »Bühne II« v. 8.11.1982; BStU, MfS, BV Gera, AOV 766/85, Bd. II, Bl. 205–209. 88 Vgl. DA 1/80 über Grundsätze der Aufbereitung, Erfassung und Speicherung operativ bedeutsamer Informationen durch die operativen DE des MfS v. 20.5.1980; BStU, MfS, BdL-Dok. Nr. 5251. 89 BV Gera, Abt. XX/7: Operativplan zum TOV »Bühne II« v. 8.11.1982; BStU, MfS, BV Gera, AOV 766/85, Bd. II, Bl. 205. 90 Der Sekretär des VBK Karl Heinz Götze war unter dem Decknamen »Henry« für das MfS tätig. Vgl. BStU, MfS, BV Gera, AIM 306/85. 91 Der Maler und Grafiker Eberhard Rudolf Dietzsch wurde von der Abt. XX/7 der BV Gera als IM »Lehmann« geführt. Vgl. Auskunftsbericht der BV Gera, Abt. XX/7 v. 29.11.1973; BStU, MfS, BV Gera, Abt. XX/7, 01/2906/81.
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Zulassung für eine freiberufliche Tätigkeit zu verhindern. Der als freischaffender Maler und Grafiker tätige IMS »Nolde« wurde angehalten, seinen persönlichen Kontakt zu Hans-Peter Jakobson weiter auszubauen, um noch besser über dessen private Aktivitäten und Kontakte unterrichtet zu sein. Der in der Kulturabteilung des RdB angestellte IME »L. Teichert« 92 sollte u. a. zu allen »Fragen und Problemen bei der Herstellung eines geordneten Arbeitsrechtsverhältnisses« 93 informieren. Für die Schwerpunkte Gewinnung neuer inoffizieller Mitarbeiter und Analyse der erkundeten Verbindungen von Jakobson nannte der Operativplan als verantwortlichen Mitarbeiter Hauptmann Trost 94, als Kontrolleur Major Wirkner. Wegen möglicher Kontakte Jakobsons zum Duo »Görnandt & Rönnefarth« wurde eine Zusammenarbeit mit der Kreisdienststelle Stadtroda ins Auge gefasst, darüber hinaus eine Zusammenarbeit mit den Bezirksverwaltungen Berlin und Leipzig beabsichtigt, um die überregionalen Verbindungen von Hans-Peter Jakobson überwachen und eventuelle neue Arbeitsmöglichkeiten verhindern zu können. 95 Insgesamt ein beachtliches Bündel repressiver Maßnahmen. Einem Zwischenbericht zum Teilvorgang »Bühne II« vom April 1983 entnehmen wir, dass es der Abteilung XX/7 gelungen war, die selbst gestellten Ziele weitgehend zu erfüllen. Dabei hatte die lokale Staatssicherheit insofern ein leichtes Spiel, als sie bei der Angelegenheit Jakobson weder bei der Partei noch den örtlichen staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Organisationen auf nennenswerten Widerspruch stieß. Augenscheinlich hatte Hans-Peter Jakobson in der Region keinen einflussreichen Fürsprecher. Selbst von seinen Parteifreunden in der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NDPD) konnte er keine Unterstützung erwarten. Mangels dieser Unterstützung verfügte er auch nicht über eine staatliche Zulassung bzw. Steuernummer, die für die Tätigkeit als freischaffender Kunstkritiker und Ausstellungsmacher notwendig war. Doch selbst damit wäre er stets auf das Wohlwollen staatlicher Einrichtungen angewiesen gewesen. Seine Westkontakte waren rein privater Natur, sodass er auch von dieser Seite keinen unterstützenden Einfluss erwarten konnte. Außerdem verfügte die Bezirksverwaltung Gera in seinem Fall über das bereits erwähnte dichte IM-Netz. Mit dessen Aktivitäten ließen sich die beabsichtigten operativen Maßnahmen verhältnismäßig leicht durchsetzen. Unter der Rubrik »Operativer Sachstand« vermerkte der Zwischenbericht vom April 1983: 92 Der Mitarbeiter der Kulturabteilung im RdB Gera Lothar Teichert wurde von der BV Gera unter der Registriernummer XV 444/71 mit dem Decknamen »L. Teichert« als IM geführt. Vgl. Auskunftsbericht der Abt. XX/7 der BV v. 1.10.1987; BStU, MfS, BV Gera, Abt. XX/7 73/83. 93 BV Gera, Abt. XX/7: Auftragsstruktur für IME/IM zur Bearbeitung des TOV II/ZOV »Bühne« v. 26.4.1983; BStU, MfS, AOV 766/85, Bd. II, Bl. 258 f. 94 Siehe Katharina Lenski in diesem Band, S. 285 f. 95 BV Gera, Abt. XX/7: Operativplan zum TOV »Bühne II« v. 8.11.1982; BStU, MfS, BV Gera, AOV 766/85, Bd. II, Bl. 205 ff.
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»Durch geeignete politisch-operative Maßnahmen ist es gelungen, den J. zielgerichtet zu verunsichern und getroffene Vereinbarungen mit Einrichtungen aufzuheben. Bis zum jetzigen Zeitpunkt hat J. noch kein festes Arbeitsverhältnis.« 96
Als einen besonderen Erfolg wertete es die Abteilung XX/7, einen erneuten Versuch auf Mitgliedschaft im Künstlerverband sowie die Zulassung für eine freiberufliche Tätigkeit verhindert zu haben. Außerdem hatten die Interventionen des MfS bei diversen Auftraggebern von Hans-Peter Jakobson dazu geführt, dass sämtliche Arbeitsvereinbarungen mit ihm aufgehoben bzw. ein Anstellungsverhältnis beim Staatlichen Kunsthandel erfolgreich hintertrieben wurde. »Jakobson erklärte dem IM, dass er noch keine feste Arbeit habe, es gäbe zwar viele Vorgespräche, aber wenn es konkret wird, ist alles vorbei.« 97 Eine gut funktionierende Zusammenarbeit mit anderen Diensteinheiten des MfS in der ganzen Republik hatte im Fall Jakobson nicht unwesentlich zur Erfolgsbilanz der Bezirksverwaltung Gera beigetragen. 98 Als Schwerpunkte für die weitere Überwachung nannte der Operativplan auch die Identifizierung von »möglichen Hintermännern und Auftraggebern«. Dahinter stand die obligatorische Vermutung der Staatssicherheit, hinter »feindlichen« Aktivitäten von DDR-Bürgern stünde häufig eine westliche »Steuerung«. Wo diese heraufbeschworene Gefahr angesichts der beschriebenen Konstellation stecken sollte, bleibt in diesem Fall allerdings rätselhaft. Die Geraer Tschekisten verhinderten auch eine feste Anstellung Jakobsons an der Volkshochschule Gera-Stadt, nachdem dieser seinerseits eine Anstellung in einem Museum der thüringischen Kleinstadt Weida abgelehnt hatte. Diese Ablehnung kam der Bezirksverwaltung Gera entgegen, fehlte ihr doch vor Ort die entsprechende »operative Basis«. Anfang 1984 kam in die Bemühungen Jakobsons um eine freischaffende Tätigkeit anstelle einer staatlich gelenkten Arbeitsplatzzuweisung endlich Bewegung. Auslöser dürfte eine nicht näher bekannte Eingabe von Jakobsons Ehefrau an den Staatsratsvorsitzenden Honecker, mithin der Versuch zur Umgehung der lokalen Machtstrukturen, gewesen sein. 99 Jedenfalls erfolgte zum 1. Januar 1984 durch den Rat des Bezirkes Gera, Abteilung Kultur, seine Festanstellung als wissenschaftlicher Assistent im Museum für Kunsthandwerk (Färbersche Häuser) in Gera. Dieser neue Sachverhalt stellte die Bezirksverwaltung vor das Problem, in Hans-Peter Jakobsons »unmittelbaren Betätigungsumfeld« einen weiteren IM platzieren zu müssen. Nicht zuletzt aus diesem Grund kommentierte die Geraer Stasi in einem weiteren Zwischenbericht vom Mai 1984 die neue Situation eher defensiv. »Entsprechend der
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BV Gera, Abt. XX/7: Zwischenbericht zum TOV des ZOV »Bühne« v. 28.4.1983; ebenda, Bl. 262. BV Gera, Abt. XX/7: Auszüge aus IM-Berichten v. 8.6.1983; ebenda, Bl. 277. Vgl. BV Gera, Abt. XX: Telegramm an HA XX/7 v. 24.2.1983; ebenda, Bl. 251. BV Gera, KD Gera: Bericht v. 10.4.1984; BStU, MfS, BV Gera, AOV 766/85, Bd. III, Bl. 22.
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Bearbeitungskonzeption gelang es, zu sichern, dass die OV-Person keine leitende Funktion in dieser Einrichtung erhält.« 100 War es jahrelang das erklärte Ziel der regionalen Staatssicherheit, eine Festanstellung von Hans-Peter Jakobson zu verhindern, so versuchte jetzt unter den veränderten Bedingungen die Bezirksverwaltung Gera die Verhinderung eines Leitungspostens für Jakobson als ihren Erfolg hinzustellen. Wie groß ihr Anteil an dieser Entscheidung war, lässt sich nicht rekonstruieren. Nachvollziehbar ist dagegen die Installierung eines zusätzlichen IM an Hans-Peter Jakobsons neuem Arbeitsplatz. Auf der Grundlage einer »Kaderanalyse« der Beschäftigten in den städtischen Museen der Stadt Gera durch die Abteilung XX/7 der Bezirksverwaltung entstand der Plan, den Museumsmitarbeiter Wieland Führ für eine entsprechende IMTätigkeit anzuwerben. Mit dem 1953 geborenen Führ griff das MfS auf einen jungen Mann zurück, der bereits während seiner dreijährigen Dienstzeit bei der NVA als IM tätig war. Vom Leiter der Kulturabteilung des Rates des Bezirkes, Hans Kathe, protegiert, wurde der bisher als einfacher Mitarbeiter tätige Genosse Führ im Januar 1984 neuer Leiter des Kunsthandwerkmuseums (Färbersche Häuser). Obwohl er im Unterschied zu Jacobson zu diesem Zeitpunkt über keinen Hochschulabschluss verfügte, avancierte Führ somit zum unmittelbaren Vorgesetzten von Hans-Peter Jakobson. Der frisch ernannte Leitungskader war bereits während des ersten Kontaktgespräches ohne Umschweife zu einer inoffiziellen Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit bereit. Mit diesem karrierebewussten jungen Mann, dem ein auffälliges »Mittelpunktsstreben« nachgesagt wurde, hatte die Bezirksverwaltung einen IM gefunden, der geradezu optimal ihren Vorstellungen entsprach. Er brachte alle Voraussetzungen mit, um einen »parteilich-kulturpolitischen Einfluss zu sichern und vorbeugend feindliche Handlungen der OV-Person [Hans-Peter Jakobson] zu erkennen und zu verhindern«. 101 Bereits bei seiner Anwerbung »machte der Kandidat selbstständig wesentliche Notwendigkeiten einer solchen Zusammenarbeit deutlich«. 102 Als IM »Armin Schneider« lieferte Führ seinem Auftraggeber detaillierte Informationen darüber, welche Kontakte Hans-Peter Jakobson beruflich und privat unterhielt, wie er über die gestellten Arbeitsaufgaben dachte, welche beruflichen Pläne er verfolgte, mit wem er von der Arbeitsstelle aus telefonierte etc. In diesem Zusammenhang übergab »Armin Schneider« an seinen Führungsoffizier auch eine komplette Kopie von Hans-Peter Jakobsons privatem Adressbuch. 103 Nach Einschätzung seiner Führungsoffiziere entsprach die »Informationserarbeitung« des IM »Ar-
100 BV Gera, Abt. XX/7: Zwischenbericht zum ZOV »Bühne«, Teil II v. 10.5.1984; ebenda, Bl. 217–225. 101 BV Gera, Abt. XX/7: Vorschlag zur Werbung v. 14.11.1983; BStU, MfS, BV Gera, AIM 1093/89, Bd. 1, Bl. 74. 102 BV Gera, Abt. XX/7: Bericht über die durchgeführte Werbung v. 25.11.1983; ebenda, Bl. 82. 103 Abt. XX/7: Information zu Jakobson v. 9.4.1984; BStU, MfS, BV Gera, AIM 1093/89, Teil II, Bd. I, Bl. 43 ff.
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min Schneider« stets den »objektiven Möglichkeiten des IM und der gegebenen Verhaltensabstimmung«. 104 Auch nach dem Abschluss des Teilvorganges zu Hans-Peter Jakobson (»Bühne II«), lieferte der IM »Armin Schneider«, ungeachtet seiner wachsenden »Unzufriedenheit« über die Verhältnisse in der DDR, bis zum August 1989 umfangreiche Berichte über Jakobson. Der Abschlussbericht zum IMS »Armin Schneider« enthält zwei wichtige, Wieland Führ charakterisierende Informationen. So erfahren wir noch einmal zusammenfassend über die langjährige inoffizielle Tätigkeit des IMS »Armin Schneider«, dass er »größtenteils Informationen von hoher operativer Bedeutung« geliefert, »das Anliegen der inoffiziellen Arbeit verstanden« habe und die Fähigkeit besaß, »unter Legenden operativ zu arbeiten«. Darüber hinaus können wir dem Abschlussbericht entnehmen, dass der Genosse Wieland Führ im September 1989 von einer Privatreise in die Bundesrepublik nicht mehr in die DDR zurückkehrte. 105 Durch die zahlreichen auf Jakobson angesetzten IM war die Geraer Bezirksverwaltung zu jedem Zeitpunkt darüber informiert, dass er sein Vorhaben keineswegs aufgegeben hatte, doch noch freischaffend tätig zu werden. In diesem Sinne versuchte Hans-Peter Jakobson im Rahmen seiner Arbeitsplatzbindung Projekte zu entwickeln, die er als Referenzen für eine erneute Kandidatur im Künstlerverband vorweisen konnte. Nach Einschätzung von Major Wirkner und Hauptmann Trost hat die Staatssicherheit dank des umfassenden Einsatzes operativer Mittel (7 IM, 106 Telefonüberwachung und Fahndungsmaßnahmen 107) die Lage jedoch jederzeit vollkommen beherrscht. »Es kann festgestellt werden, dass die Etappenzielstellung der OV-Bearbeitung und der Bearbeitungskonzeption erfüllt wurde.« Aus der Perspektive der lokalen Staatssicherheit gehörten dazu die bereits genannte Arbeitsplatzbindung, die Erkundung seiner »neuen Absichten für eine freischaffende Tätigkeit« und ihre »vorbeugende Verhinderung«. Als weitere Vorbeugemaßnahmen nannte der Zwischenbericht vom Mai 1984 die Verhinderung »feindlich-negativer Aktivitäten« zum Nationalen Jugendfestival in Berlin und den XX. Arbeiterfestspielen. Des Weiteren sollte es darum gehen, aufgrund von Hans-Peter Jakobsons zunehmenden Westkontakten Beweise für die Straftatbestände »landesverräterische Nachrichten-
104 Diese Formulierung taucht mehrfach in den Treffberichten der MfS-Mitarbeiter Trost und Koppe auf. Vgl. BStU, MfS, AIM 1093/89, Bd. 1. 105 BV Gera, Abt. XX/7: Abschlussbericht zum IMS »Armin Schneider« v. 4.10.1989; ebenda, Bl. 165. 106 Zu den eingesetzten IM gehörten neben den bereits genannten IME »Henry«, den IMS»Nolde«, »L. Teichert« und »A. Schneider« auch der vom MfS als IME »Lehmann« geführte Maler/Grafiker Eberhardt Dietzsch. Vgl. BStU, MfS, 01/2906/81, der IM »M. Schneider« (unbekannt) und die als IMS »Chr. Behr« geführte Leiterin der Geraer Kunstgalerie Marianne Kühl. 107 Die sog. Fahndungsmaßnahmen der Abt. VI und VIII der BV Gera beziehen sich auf die Westbesucher von Hans-Peter Jakobson.
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übermittlung« (§ 99) 108 bzw. »landesverräterische Agententätigkeit« (§ 100) zu beschaffen. Außerdem plante die Bezirksverwaltung, einen zusätzlichen Spitzel im Freizeitbereich von Hans-Peter Jakobson zu platzieren und »die Voraussetzungen für weitere Abhörmaßnahmen in seinem Wohnbereich« zu schaffen. 109 Der nächste turnusmäßige Zwischenbericht der Abteilung XX/7 vom August 1984 enthielt keine nennenswerten Neuigkeiten, zumal Hans-Peter Jakobson, entgegen der Vermutung der Bezirksverwaltung, zu den politischen Höhepunkten am 1. und 8. Mai in Gera, dem Nationalen Jugendfestival in Berlin und den 20. Arbeiterfestspielen im Bezirk Gera nicht »feindlich-negativ wirksam« wurde. 110 Dessen ungeachtet hielt die Geraer Staatssicherheit das komplette Überwachungsprogramm zu ihm aufrecht. Der letzte Operativplan für den Teilvorgang »Bühne II« liest sich über weite Strecken als Fortschreibung vorausgegangener Pläne. Selbst nach drei Jahren intensiver geheimpolizeilicher Maßnahmen bereitete der umtriebige Hans-Peter Jakobsons der regionalen Staatssicherheit einiges Kopfzerbrechen. Er strebte eine möglichst eigenständige Tätigkeit in seinem festen Arbeitsverhältnis an, suchte nach neuen Wegen, sich weiter zu qualifizieren und knüpfte ständig neue Kontakte, um eines Tages doch noch als freischaffender Kunstkritiker und Kurator tätig sein zu können. Das MfS sah in der als Erfolg uminterpretierten Arbeitsplatzbindung nun die Gefahr, dass sich durch seinen Arbeitsstil »eine Konzentration von feindlich-negativen Personen am Arbeitsplatz« entwickeln könne. Dieser möglichen Entwicklung sollten die bereits vorhandenen IM massiv entgegenwirken. Außerdem griff die Staatssicherheit weiterhin auf ihre »IM-Experten« »Fritz Weiß« (Professor für marxistische Ästhetik an der Universität Jena) 111 und »Klaus Froberger« (Chefdramaturg an den Städtischen Bühnen Gera) 112 zurück. Sie sollten die von Hans-Peter Jakobsons erarbeiteten Ausstellungskonzeptionen und Texte auf ihre fachliche Qualität hin einschätzen. Die »operativen Schlussfolgerungen« zogen dann die MfS-Mitarbeiter. 113 108 Landesverräterische Nachrichtenübermittlung (§ 99 des StGB) konnte mit Freiheitsstrafe von 2 bis 12 Jahren bestraft und Landesverräterische Agententätigkeit (§ 100 StGB) mit einem bis zu 10 Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden. 109 BV Gera, Abt. XX/7: Zwischenbericht zum ZOV »Bühne«, TOV II v. 10.5.1984; BStU, MfS, BV Gera, AOV 766/85, Bd. III, Bl. 217–225. 110 BV Gera, Abt. XX/7: Zwischenbericht zum ZOV »Bühne«, TOV II v. 31.8.1984; ebenda, Bl. 255–259. 111 Der als Professor für marxistische Ästhetik an der FSU Jena beschäftigte Werner Kahle wurde von Major Wirkner, Leiter des Referates XX/7 der Bezirksverwaltung, unter dem Decknamen »Fritz Weiß« geführt. Vgl. Auskunftsbericht v. 12.11.1977; BStU, MfS, BV Gera, 01/2901/81. 112 Eberhard Kneipel, u. a. Chefdramaturg der Städtischen Bühnen Gera, wurde von Oltn. Willing der Abt. XX/7 der BV Gera unter dem Decknamen »Klaus Froberger« zunächst als IMS und seit Juli 1981 als IME geführt. Vgl. BV Gera: Vorgangsheft von Tristan Willing und Auskunftsbericht der BV Gera v. 15.8.1975; BStU, MfS, BV Gera, 01/2903/81. 113 BV Gera, Abt. XX/7: Operativplan zum TOV »Bühne II« v. 30.1.1985; BStU, MfS, BV Gera, AOV 766/85, Bd. III, Bl. 287–290.
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Drei Monate später empfahl jedoch der Leiter der Abteilung XX der MfSBezirksverwaltung Gera, Oberleutnant Gerald Linke, 114 die weitere operative Bearbeitung des Teilvorganges »Bühne II« abzuschließen. Er sah sich, analog zu den Sachständen in den anderen Teilvorgängen des ZOV »Bühne«, zu der Auffassung veranlasst, dass »zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine objektiven Voraussetzungen für eine weitere Bearbeitung entsprechend der Richtlinie 1/76 115 des Genossen Minister« mehr bestehe. Das vorhandene Material sollte archiviert und die »OV-Person von der Abteilung XX/7 der Bezirksverwaltung Gera KK-erfasst 116« werden. Dass es sich dabei jedoch lediglich um eine normative Rückstufung der operativen Bearbeitung handeln sollte, geht aus folgender Überlegung hervor: »Die operative Kontrolle der Vorgangsperson wird durch die vorhandenen IM/GMS und die IM in Schlüsselpositionen der Abt. XX/7 Bezirksverwaltung Gera gewährleistet.« 117 Der obligatorische Abschlussbericht fasste zum wiederholten Male die von 1973 bis 1985 erfolgte operative Tätigkeit der Bezirksverwaltung Gera zu Hans-Peter Jakobson zusammen. Dieser Bericht erweist sich als geschönter Leistungsnachweis, versuchte er doch den Eindruck zu erwecken, die »Ziel- und Aufgabenstellung der OV-Bearbeitung« voll und ganz erfüllt zu haben. Das liest sich wie folgt: »Die bei der Eröffnung des TV ›Bühne II‹ gegebene strafrechtliche Relevanz im Sinne des § 220 (1) StGB besteht zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr, da die Vorgangsperson in ihrer Wirksamkeit stark zurückgedrängt wurde und durch die staatlichen Organe die Kontrolle der OV-Person ausgeübt wird. Aus diesem Grund wird die OV-Bearbeitung abgeschlossen, da die Ursachen und begünstigenden Bedingungen für das Wirksamwerden der OV-Person im Zusammenwirken mit den staatlichen Organen und gesellschaftlichen Organisationen ausgeräumt wurden.« 118
In der ersten Passage wird die Zielstellung des OV, »eine strafrechtliche Relevanz im Sinne des § 220 (1) 119 StGB herauszuarbeiten«, um gegebenenfalls ein Ermittlungsverfahren zu Hans-Peter Jakobson einleiten zu können, einfach unterschlagen. 114 Vgl. Katharina Lenski in diesem Band, u. a. S. 274 f. 115 Richtlinie 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge (OV) v. Januar 1976; BStU, MfS, BdL-Dok. Nr. 3234. 116 Dabei handelte es sich um eine eigenständige Erfassungsart unterhalb eines OV/OPK für Personen, die aufgrund ihrer »feindlich-negativen Einstellung« oder »besonderen gesellschaftlichen Stellung« die Aufmerksamkeit der Geheimpolizei erregten. Vgl. Stichwort KK-Erfassung. In: Engelmann, u. a. (Hg.): MfSLexikon (Anm. 4). 117 BV Gera, Abt. XX: Operative Einschätzung des TOV »Bühne II« entsprechend der Richtlinie 1/79 des Genossen Minister v. 7.3.1985; BStU, MfS, BV Gera, AOV 766/85, Bd. III, Bl. 292–294. 118 BV Gera, Abt. XX: Abschlussbericht zum TOV »Bühne II« v. 23.5.1985; ebenda, Bl. 316–328, hier 327. 119 Der § 220 bezieht sich auf den Tatbestand der »Öffentlichen Herabwürdigung«. In dem hier herangezogenen Absatz heißt es: »Wer in der Öffentlichkeit die staatliche Ordnung oder staatliche Organe, Einrichtungen oder gesellschaftliche Organisationen oder deren Tätigkeit oder Maßnahmen herabwürdigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe, Geldstrafe oder mit öffentlichem Tadel bestraft.«
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Der zweite Absatz beschreibt euphemistisch das perfide Vorgehen der politischen Geheimpolizei, welches massiv in das Leben von Hans-Peter Jakobson und seiner Familie eingegriffen hat. Aber auch hier beschönigte die Bezirksverwaltung Gera ihre operativen Defizite. Schließlich war es Hans-Peter Jakobson in der Schlussphase des TV »Bühne II« trotz aller Behinderungen und flächendeckenden Überwachung gelungen, sich weiter zu qualifizieren. So erbrachte die Dramaturgie der Repression, die eine langjährige Überwachung, Behinderung und Ausgrenzung zur Folge hatte, nicht durchgängig den von der MfS-Bezirksverwaltung Gera angestrebten Erfolg. Der Abschlussbericht gab auch Auskunft darüber, wie das MfS weiter verfahren wollte. »Es erfolgt(e) eine öffentliche Auswertung bzw. Übergabe in Form von mündlichen Informationen an leitende Staats- und Parteifunktionäre des Bezirkes Gera zur Gewährleistung einer hohen Ordnung und Sicherheit im Verantwortungsbereich Kunst/Kultur.« 120
Dass die Abteilung XX/7 den »Fall Jakobson« keineswegs vollständig aus der Hand geben wollte, lässt sich bereits daran ablesen, dass sie zur sogenannten operativen Nachkontrolle auch weiterhin die IM »Lehmann«, »Armin Schneider« 121 und »Nolde« 122 eingesetzt hat. Die dabei gewonnenen Informationen wurden in einer Handakte der Abteilung XX/7 der Bezirksverwaltung Gera sorgfältig weiter gesammelt.
3. Die Geraer Musik- und Theaterszene im Spannungsfeld zwischen offizieller Förderung und inoffizieller Störmanöver Die Folklore-Gruppe »Liedehrlich« – Der Teilvorgang I Bereits vor der Erstellung eines ersten Operativplanes war die Abteilung XX/7 der MfS-Bezirksverwaltung Gera darum bemüht, den Aktionsrahmen der Gruppe »Liedehrlich« 123 einzuschränken. Major Wirkner wandte sich zunächst im Juli 1982 in einem chiffrierten Fernschreiben an die Hauptabteilung XX/2 in der Berliner MfS-Zentrale. Darin bittet er die Berliner Genossen um Amtshilfe. Wirkners Vorstellungen zufolge sollte die Hauptabteilung XX/2 beim Zentralrat der FDJ sicherheitspolitische Bedenken gegen einen geplanten Auftritt der Gruppe »Liedehrlich« 120 BV Gera, Abt. XX: Abschlussbericht zum TOV »Bühne II« v. 23.5.1985; BStU, MfS, BV Gera, AOV 766/85, Bd. III, Bl. 328. 121 BV Gera, Abt. XX/7: Präzisierte Auftragsstruktur für den IMS »Schneider« v. 12.2.1986; BStU, MfS, BV Gera, AIM 1093/89, Bd. I, Bl. 114. 122 Der Maler und Grafiker Peter Wilmaser wurde von der BV Gera unter dem Decknamen IMS »Paul Nolde« geführt. Vgl. Auskunftsbericht der BV Gera v. 31.8.1977; BStU, MfS, BV Gera, Abt. XX/7, 01/2982/81. 123 Vgl. Jeannette van Laak: Kap. 4 »Das Repertoire der Kunstszene Geras« in diesem Band, S. 106 f.
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auf der Kulturkonferenz der FDJ in Leipzig äußern. Da Wirkners erster Vorstoß keinen Erfolg hatte, ersuchte er im September zum zweiten Mal die Hauptabteilung XX/2 und zusätzlich die Hauptabteilung XX/7, einen Auftritt der Gruppe »Liedehrlich« auf dem »Fest der Jungen Talente« zu verbieten. Der Geraer Referatsleiter begründete seine Forderung damit, dass eine Teilnahme der Gruppe an solch herausgehobenen Kulturprogrammen unweigerlich zu einer weiteren Aufwertung der Musiker führen würde. Der damit verbundene Bedeutungszuwachs würde die operativen Bemühungen der Bezirksverwaltung Gera geradezu konterkarieren. 124 Major Wirkners erneuter Versuch war erfolgreich. Die Gruppe »Liedehrlich« wurde aus dem Programm gestrichen. 125 In der Begründung für die Eröffnung des Teilvorganges »Bühne I« warf die Bezirksverwaltung Gera der Musikgruppe »Liedehrlich« vor, bei ihren Auftritten Texte vorzutragen, die »gegen die führende Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei, die gesellschaftliche Entwicklung in der DDR, die Freundschaft zur UdSSR sowie die Kampf- und Wehrbereitschaft« gerichtet seien. Außerdem wurde der Gruppe zur Last gelegt, den Marxismus-Leninismus für untauglich zu halten, »die Probleme und Widersprüche unserer Zeit zu lösen« sowie die Wirksamkeit bzw. Handhabung »der sozialistischen Demokratie« in der DDR infrage zu stellen. Diese massiven Vorwürfe vonseiten der Geraer Staatssicherheit wurden jedoch nicht durch konkrete Äußerungen oder gar anhand eines Liedtextes belegt. 126 Sämtliche Vorwürfe beruhten auf Aussagen von Funktionären staatlicher Einrichtungen und gesellschaftlicher Institutionen, 127 die derartig Anstößiges in Gesprächen mit den Gruppenmitgliedern, vorzugsweise mit Stephan Krawczyk, herausgehört haben wollten. Um das konkrete Ausmaß der »Unterwanderung der Kulturpolitik« durch die Folkloregruppe feststellen zu können, im MfS-Jargon die »Ziele, Absichten und Methoden« der Gruppe bzw. ihre »negativ-feindlichen Tendenzen« zu erkennen, war die Bezirksverwaltung ganz wesentlich auf die Einschätzungen ihrer »IMExperten« und anderer kulturpolitisch versierter IM angewiesen. Laut dem ersten Operativplan vom November 1982 standen dafür die schon bekannten IME »Fritz Weiß« und »Froberger« sowie die IMS »Richter« (Theaterreferentin in der Kulturab-
124 BV Gera an HA XX/2 u. HA XX/7: Telegramm v. 17.9.1982; BStU, MfS, BV Gera, AOV 765/85, Bd. I, Bl. 42. 125 In der Begründung heißt es: »In Abstimmung mit der HA XX/7 und der HA XX/2 konnte eingeleitet werden, dass die Gruppe aus dem Programm, »Fest der jungen Talente«, das im Anschluss an die FDJKulturkonferenz in Leipzig im Oktober 1982 stattfand, gestrichen und somit eine weitere Aufwertung durch zentrale gesellschaftliche Organisationen in der Öffentlichkeit verhindert wurde«. Vgl. Zwischeneinschätzung des TOV »Bühne I« v. 30.4.1983; ebenda, Bl. 122. 126 BV Gera, Abt. XX/7: Gesamtbearbeitungskonzeption zur Eröffnung und Bearbeitung des zentralen Operativ-Vorgangs »Bühne« in der Abt. XX v. 16.8.1982; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 13. 127 Ebenda.
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teilung beim RdB) 128 und der IME »Bergmann« (Schriftsteller) 129 zur Verfügung. Sie sollten vor allem für die Abteilung XX/7 der Bezirksverwaltung die »inoffiziellen und offiziell erhaltenen Liedtexte und Konzeptionen der Gruppe« unter fachlichen Gesichtspunkten einschätzen und die sich daraus ergebenden kulturpolitischen Schlussfolgerungen ziehen. Nach Einschätzung dieser Experten setzte sich das Repertoire der Gruppe vornehmlich aus dem deutschen Liedschatz des 15.–18. Jahrhunderts zusammen. Im Mittelpunkt des Repertoires stehe das »nicht reaktionäre« Liedgut Preußens. Konkret handele es sich vielfach um Lieder, die sich gegen das Militär wenden. Sie wurden aber nach Auffassung der IM »künstlerisch so aufbereitet und interpretiert, dass die Verwerflichkeit dieser Zeit nicht erkennbar wird«. Die Geraer Bezirksverwaltung des MfS unterstellte der Musikgruppe die Absicht, die Zuhörer zu »einem Vergleich mit der heutigen Entwicklung in der DDR« zu animieren. Durch dieses Vorgehen erhalte die Folkloregruppe »einen starken intellektuellen Zuspruch« und mache sich damit obendrein »zum Sprecher ideologisch labiler Personen«. 130 Des Weiteren wurde den Musikern vorgeworfen, eine »politisch-ideologisch unklare Haltung zum Liedgut des Großen Vaterländischen Krieges offen zum Ausdruck« zu bringen. Die damit einhergehende »antisowjetische Haltung«, Kay Frotscher war aus der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF) ausgetreten, sei in der Folkloregruppe stark ausgeprägt. 131 Im auffälligen Gegensatz zur negativen Einschätzung der MfS-Bezirksverwaltung Gera, förderten der FDJ-Zentralrat, die Abteilung Kultur beim Rat des Bezirkes (RdB) Gera und das Komitee für Unterhaltungskunst 132 (KfU) die Gruppe auf vielfältige Weise. So konnte »Liedehrlich« auf verschiedenen Bühnen in der Region, aber auch auf zentralen Veranstaltungen aufspielen. Den Wunsch nach Auslandsgastspielen im deutschsprachigen Raum wollte der Leiter der Kulturabteilung des RdB, Hans Kathe, ebenfalls unterstützen. 133 Außerdem errang Stephan Krawczyk mit Soloauftritten bei republikweiten Wettbewerben Auszeichnungen und Preise. Die dogmatische Einschätzung der MfS-Bezirksverwaltung Gera, wonach die Texte der Gruppe »Liedehrlich« bzw. Stephan Krawczyks »pazifistischen, verleumde-
128 Bei dem IMS »Richter« handelte es sich um Marianne Daudert, die als kulturpolitische Mitarbeiterin bzw. Theaterreferentin in der Kulturabteilung beim RdB Gera tätig war. Vgl. BStU, MfS, BV Gera, AIM 283/86, Bd. 1. 129 Der in Rudolstadt lebende Schriftsteller Klaus Steinhaußen wurde von der BV Gera als IMB »Gerhard Bergmann« geführt. Vgl. BStU, MfS, BV Gera, 04/3507/84. 130 BV Gera, Abt. XX/7: Gesamtbearbeitungskonzeption zur Eröffnung und Bearbeitung des zentralen Operativ-Vorgangs »Bühne« in der Abt. XX v. 16.8.1982; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 13. 131 Zur Entwicklung der Gruppe »Liedehrlich« und den Biografien ihrer Mitglieder siehe Jeannette van Laak: Kap. Die »jungen Wilden« in diesem Band, S. 97 f. 132 Vornehmlich durch die im KfU einflussreiche und spätere Präsidentin des KfU, Gisela Steineckert. 133 KGD Gera: Aktennotiz zum Gespräch Genossen Kathe und Genossen Zanner mit der Gruppe »Liedehrlich« am 15.10.1982; BStU, MfS, BV Gera, AOV 765/85, Bd. I, Bl. 51.
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rischen und politisch-ideologisch negativen Inhalts« 134 seien, wurde von den Kulturfunktionären somit nicht ohne Weiteres geteilt. Zwar führten Mitarbeiter des Staatsapparates wegen »gesellschaftspolitisch zweideutiger Texte« auch »ideologische Auseinandersetzungen« mit den Mitgliedern der Gruppe, was aber gleichzeitig die Kulturfunktionäre des FDJ-Zentralrates und des Komitees für Unterhaltungskunst nicht davon abhielt, die Gruppe als »Westreisekader«, ergo als kulturpolitischen Exportartikel vorzuschlagen. 135 Davon unbeirrt, verfolgte die Geraer Staatssicherheit hartnäckig ihre Linie. Für die Offiziere der Geraer Bezirksverwaltung war Stephan Krawczyk der Kopf der Gruppe »Liedehrlich«, der »die progressive Singebewegung [durch] klassenindifferente Aussagen und Positionen« zu unterwandern versuche. Die beiden anderen Musiker der Gruppe, Kay Frotscher und Jürgen Quarg, wurden als politisch labil eingeschätzt, 136 sie bezögen »keine klare Position zur gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR«. 137 Als Hauptaufgabe der geheimpolizeilichen Observierung der Folklore-Gruppe »Liedehrlich« nannte die Bearbeitungskonzeption die »vorbeugende Zurückdrängung ihrer Wirksamkeit, insbesondere der politisch-ideologischen Einflussnahme auf Jugendliche/Jungerwachsene«. Weil nach Auffassung der Bezirksverwaltung die staatlichen Institutionen versagt hatten, folglich der Schutz der staatlichen Sicherheit und der gesellschaftlichen Entwicklung nicht mehr gewährleistet war, sah sich das MfS veranlasst, hier einzugreifen. Ihre sicherheitspolitische Zielstellung versuchte die Bezirksverwaltung vornehmlich durch den »Einsatz von IM/GMS« und die Einleitung weiterer operativer Maßnahmen zu erreichen. An erster Stelle gehörte dazu die konspirative Beschaffung von Programmkonzepten und Liedtexten der Gruppe sowie – in Abstimmung mit den zuständigen staatlichen Einrichtungen – die Organisierung öffentlicher Auseinandersetzungen mit den Gruppenmitgliedern. Durch diese Maßnahmen erhoffte die regionale Staatssicherheit, offiziell verwertbares belastendes Material gegen die Gruppe in die Hand zu bekommen, welches eine »offene ideologische Konfrontation« der Musiker mit den staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen belege. Darüber hinaus sah die Bearbeitungskonzeption vor, mittels »politisch-operativen Zusammenwirkens zwischen inoffiziellen Mitarbeitern und zuverlässigen Funktionären/Mitarbeitern in staatlichen Organen und gesellschaftlichen Organisationen« die Musiker in einem ersten Schritt zu »disziplinie134 BV Gera, Abt. XX/7: Gesamtbearbeitungskonzeption zur Eröffnung und Bearbeitung des zentralen Operativ-Vorganges »Bühne« in der Abteilung XX v. 16.8.1982; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 16. 135 Ebenda. Der Antrag wurde jedoch vom MfS abgelehnt. 136 Über Reiner Kolbe, den Techniker von »Liedehrlich« verfügte die Abteilung XX/7 der BV Gera zum Zeitpunkt der Eröffnung des ZOV über keine »operativ relevanten Aussagen«. Reiner Kolbe hat die Gruppe bereits im März 1983 verlassen. 137 BV Gera, Abt. XX/7: Gesamtbearbeitungskonzeption zur Eröffnung und Bearbeitung des zentralen Operativ-Vorganges »Bühne« in der Abteilung XX v. 16.8.1982; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 17.
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ren«, also einzuschüchtern, um sie dann in einem möglichen zweiten Durchgang wieder auf den »rechten Weg« zurückzuführen. 138 Interessanterweise unterscheidet die Staatssicherheit in ihren Planspielen dabei von vornherein zwischen politisch zuverlässigen und unzuverlässigen Funktionären in den staatlichen Einrichtungen und Institutionen. Die vorliegende Bearbeitungskonzeption folgte einem auch in zahlreichen anderen Fällen angewandten Muster des MfS, das auf nicht prominente Künstler des Landes angewendet wurde. Für die Durchführung des Teilvorgangs »Bühne I« zeichneten Major Wirkner und Oberleutnant Willing 139 der Abteilung XX/7 der Bezirksverwaltung Gera verantwortlich. Im ersten Operativplan zum Teilvorgang »Bühne I« 140 wurden die allgemein formulierten Maßnahmen der Gesamtbearbeitungskonzeption entsprechend konkretisiert. Allein zur Auskundschaftung der vermeintlichen »Ziele und Absichten« der Gruppe »Liedehrlich« bzw. zur Einleitung »wirksamer Maßnahmen zur vorbeugenden Verhinderung« von weiteren Aktivitäten gegen die SED-Kulturpolitik, sollten acht inoffizielle Mitarbeiter unterschiedlichster Kategorien zum Einsatz kommen. In einer ersten Bearbeitungsphase waren das die IMS »Peter Schimmel« (Konzert- und Gastspieldirektion Gera) 141, »Hans Neumann« (Haus der Kultur Gera) 142 und »Schneider« (Museum der Stadt Gera) 143 sowie der IMK »Gärtner« (Tontechniker im Haus der Kultur Gera). 144 Diese IM waren vornehmlich zur Informationsgewinnung über die geplanten Auftritte und Programme der Gruppe und »zur umfassenden Aufklärung der Persönlichkeitsbilder der einzelnen Gruppenmitglieder« vorgesehen. Vier weitere inoffizielle Mitarbeiter, unter ihnen die bereits erwähnten IME »Fritz Weiß« (Universität Jena) und »Klaus Froberger« (Städtische Bühnen Gera) sowie die IMS »Richter« (Rat des Bezirkes, Abteilung Kultur) 145 und »Bergmann« (Schriftsteller) 146, sollten die Liedtexte und Programmkonzeptionen der Folklore138 Ebenda, Bl 18 f. 139 Tristan Willing, geboren 1949, war seit 1969 beim MfS. Siehe Katharina Lenski in diesem Band, u. a. S. 290 f. 140 BV Gera, Abt. XX/7: Operativplan zum TOV »Bühne I« v. 4.11.1982; BStU, MfS, BV Gera, AOV 765/85, Bd. I, Bl. 52–57. 141 Der Mitarbeiter der KGD Gera, Stefan Taubitz, wurde von der BV Gera als IMS »Peter Schimmel« geführt. Vgl. Auskunftsbericht v. 16.10.1985; BStU, MfS, BV Gera, 06/3843/85. 142 Der Diplom-Kulturwissenschaftler Hans Kupfer lieferte unter dem Decknamen »Hans Neumann« Berichte für das MfS. Vgl. BStU, MfS, BV Gera, X 229/78. 143 Der Historiker Wieland Führ, Mitarbeiter im Museum der Stadt Gera, ist auch im TOV »Bühne II« eingesetzt worden. 144 Der Tontechniker Lutz Adolf wurde vom MfS zunächst als IMK »Gärtner« und später als IMS »Gerth Funke« geführt. Vgl. Auskunftsbericht v. 12.8.1983; BStU, MfS, BV Gera, 04/3518/84. 145 Die Kulturfunktionärin Marianne Daudert, geführt von Oltn. Willing, arbeitete für das MfS unter dem Decknamen »Richter«. Vgl. BStU, MfS, BV Gera, AIM 283/86. 146 Hptm. Trost, Abt. XX/7 der BV Gera, führte den Schriftsteller Klaus Steinhaußen unter dem Decknamen »Gerhard Bergmann«. Vgl. Auskunftsbericht v. 17.10.1984; BStU, MfS, BV Gera, 04/3507/84.
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Gruppe einschätzen. Für diese Aktionen zeichneten die MfS-Mitarbeiter Wirkner, Willing und Trost 147 verantwortlich. Darüber hinaus wies der Maßnahmeplan Oberleutnant Willing als verantwortlichen Offizier für die weitere Auswahl und Anwerbung zusätzlicher IM und die Einleitung »operativ-technischer Maßnahmen« aus. Letztere dienten primär der Überprüfung der inoffiziellen Quellen (IM). Dabei sollten, wie es in der MfS-Sprache heißt, sowohl der »Wahrheitsgehalt der gelieferten Informationen« als auch die »Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit« der eingesetzten Spitzel herausgearbeitet werden. 148 Dieses Überprüfungsverfahren gehörte zu den Standardmaßnahmen der operativen Tätigkeit des MfS. Die Koordinierung der Überwachungsmaßnahmen mit anderen Diensteinheiten auf der Linie XX/7, etwa mit der Hauptabteilung XX/7, den Abteilungen XX/7 der Bezirksverwaltung Berlin und Leipzig sowie der Kreisdienststelle Gera-Stadt, Stadtroda und Weimar, diente vor allem dem Ziel, die Kontaktpersonen der Musiker in den genannten Regionen der DDR zu observieren (»aufzuklären«) und die Dokumentation von Auftritten der Gruppe »Liedehrlich« zu gewährleisten. Die Feindbildprojektionen des MfS-Apparates schlossen die Möglichkeit ein, dass die Gruppe von einem noch unbekannten »Gegner« gesteuert wurde. Aus dieser Annahme heraus ergab sich für Major Wirkner und seine Mitarbeiter die zusätzliche Aufgabe, die möglichen »›Hintermänner‹ in der DDR oder im Operationsgebiet« (in der Bundesrepublik) herauszufinden, die »im antisozialistischen Sinne Einfluss« auf die Gruppe »Liedehrlich« ausüben. 149
Auf der Suche nach der »verschlüsselten« Botschaft Auf welchem Weg die Bezirksverwaltung Gera versucht hat, die vermeintlich »wahren Absichten und Ziele« der Programme und Liedtexte von »Liedehrlich« zu erkennen, sei stellvertretend für viele andere Maßnahmen an folgendem Beispiel beschrieben. Der IME »Fritz Weiß« erhielt von seinem Führungsoffizier, Major Wirkner, zwei Textsammlungen von Programmen der Gruppe »Liedehrlich« zur Begutachtung. Bei der einen handelte es sich um »Texte der Titelfolge ›Liederschoppen‹ vom Sep-
147 Peter Trost, geboren 1945, war seit 1965 beim MfS. Vgl. Katharina Lenski in diesem Band, u. a. S. 285 f. 148 BV Gera, Abt. XX/7: Operativplan zum TOV »Bühne I« v. 4.11.1982; BStU, MfS, BV Gera, AOV 765/85, Bd. I, Bl. 55. 149 Ebenda, Bl. 53.
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tember 1982« 150, bei der anderen um die Abschrift eines Veranstaltungsmitschnittes vom November 1982 in Bad Saarow. 151 Hinter dem Decknamen »Fritz Weiß« verbirgt sich der 1935 in Dresden geborene Werner Kahle. Seine Biografie liest sich wie die eines begabten und zielstrebigen SED-Parteikaders, für den es immer nur aufwärts ging. 1958 schloss er an der Friedrich-Schiller-Universität (FSU) Jena ein Philosophie/Germanistikstudium als Diplom-Philosoph ab. Seit 1960 Mitglied der SED war Werner Kahle zehn Jahre lang politischer Mitarbeiter im SED-Parteiapparat, in dem er sich von der Kreisebene bis zum ZK nach Berlin hocharbeitete. In dieser Zeit legte er eine Dissertation zum Thema »Die Grundlinien der ideologischen Entwicklung Goethes im Spiegel seiner Briefe – ein Beitrag zum marxistisch-leninistischen Goethebild« vor, mit der er 1964 an der FSU Jena zum Dr. phil. promoviert wurde. 1971 erfolgte die Berufung zum Dozenten für marxistisch-leninistische Ästhetik an derselben Universität. Nach seiner Promotion B 152 und einem Zusatzstudium in Leningrad wurde Werner Kahle 1978 zum ordentlichen Professor für marxistisch-leninistische Ästhetik berufen und übte zugleich über mehrere Jahre die Funktion des Direktors der Sektion marxistisch-leninistische Philosophie aus. Seit 1976 wurde der Hochschullehrer Kahle als inoffizieller Mitarbeiter »Fritz Weiß« des MfS geführt. 153 In einem Auskunftsbericht zum IM »Fritz Weiß« heißt es: »Im Prozess der operativen Entwicklung des IM hat sich gezeigt, dass er immer besser das tschekistische Interesse und Anliegen erkannt und sich bis heute zu einem guten inoffiziellen Mitarbeiter entwickelt hat. […] Seine operativen Fähigkeiten liegen vor allem in der politischoperativen Einschätzung und Bewertung von kulturell-künstlerischen feindlich-negativen Aktivitäten.« 154
Beide Gutachten weisen den IM als einen fachlich kompetenten Wissenschaftler aus, der mit der Denkkultur der jungen Liedermacher vertraut ist. In seiner Funktion als inoffizieller Gutachter des MfS ist er in der Lage, das gesellschaftskritische Potenzial der Texte bzw. Subtexte zu erkennen und den entsprechenden Resonanzboden zu benennen. In seinen stets parteilich abgefassten Gutachten weist »Fritz Weiß« regelmäßig darauf hin, dass die Programme in ihrer Gesamtheit nicht die Gewähr dafür bieten, »als konstruktiv-kritische Beiträge zur positiven Überwindung von Widersprüchen, Mängeln und Fehlverhalten« im sozialistischen Alltag vom Publikum aufgenommen und verstanden zu werden. Wie die übergroße Mehrzahl der für das MfS inoffiziell arbeitenden Gutachter, überprüfte auch »Fritz Weiß« die 150 IME »Fritz Weiß«: Einschätzung zu Texten der Titelfolge »Liederschoppen« (September 1982); BStU, MfS, BV Gera, AOV 765/85, Bd. I, Bl. 43–48. 151 BV Gera, Abt. XX/7: Abschrift des Mitschnitts einer Veranstaltung der Gruppe »Liedehrlich« am 25.11.1982 in Bad Saarow in der Militärmedizinischen Akademie; ebenda, Bl. 62–76. 152 Die Promotion B entspricht der herkömmlichen Habilitation. 153 Führungsoffizier des IME »Fritz Weiß« war ab 1977 Major Wirkner von der Abt. XX/7 der BV Gera. Vgl. MfS: Vorgangsheft Nr. 637 der BV Gera, Abt. XX von Major Wirkner. 154 BV Gera, Abt. XX/7: Auskunftsbericht v. 12.11.1977; BStU, MfS, BV Gera, 01/2901/81.
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künstlerischen Texte primär auf ihren ideologischen Gehalt, ihren erzieherischen Wert und vorgeblichen Wahrheitsgehalt. Ästhetische Fragen wurden nur am Rande erörtert. In unserem Fall gelangte Kahle zu dem grundsätzlichen Urteil, dass die Texte »auf leicht durchschaubare Weise gegen die Kulturpolitik der Partei gerichtet sind« und die Programme »insbesondere bei Jugendlichen politisch-ideologisch subversive Wirkungen« 155 erzielen könnten. Dem Programm »Liederschoppen« unterstellte der IM eine »planmäßig angelegte destruktiv-sozialismusfremde Tendenz«. Sie entstehe vornehmlich durch einen »manipulierenden Missbrauch von Texten, insbesondere des literarischen Erbes«. Zu dem als Bänkelgesang vorgetragenen Gedicht von Joachim Ringelnatz »Die Polizei« in der Vertonung von Stephan Krawczyk führte der IME aus: »Es ist sehr zweifelhaft, ob der Gegenstand des Gedichtes – die Polizei – tatsächlich mit bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftszuständen gedanklich assoziiert wird. Die erste Strophe lautet: ›Schaff mir doch jemand den Schutzmann vom Hals! Der Kerl schreitet ein. Ich möchte doch gar nichts weiter, als Nur laut schreien. Ganz laut schreien. Der aber schreit: nein, Das dürfte nicht sein.‹ Es ist sehr fraglich, ob dieser Text mit seiner Stoßrichtung gegen den bürgerlichen Machtapparat der Weimarer Republik durch puren Vortrag auch so verstanden, oder ob er nicht für die sozialistische Gegenwart falsch und verantwortungslos ›aktualisiert‹ wird und dadurch eine politisch feindselige Färbung erhält.« 156
Abschließend schrieb »Fritz Weiß« zum Programm »Liederschoppen«: »Gemessen an echten Leistungen im Genre literarisch-musikalischer Programme ist vorliegende Titelfolge in dieser Gestalt unannehmbar. Mit den Verfassern und Arrangeuren muss gründlich politisch-weltanschaulich, kulturpolitisch und ästhetisch-gestalterisch gearbeitet werden, um sie besser für ihre verantwortungsvolle künstlerische Tätigkeit zu qualifizieren.« 157
Auch bei der Begutachtung des Mitschnittes einer Veranstaltung der Gruppe »Liedehrlich« in Bad Saarow übte »Fritz Weiß« grundsätzliche Kritik. Dieses Programm entspreche »nicht den minimalsten Anforderungen, die hinsichtlich der inhaltlichen Aussage und Qualität an eine literarisch-musikalische Veranstaltung operativen Charakters gestellt werden müssen«, lesen wir bei ihm. Darüber hinaus gelangte Kahle zu dem Urteil, dass sich das Programm mit »einem Pseudo-Bezug auf das ›Erbe‹ und Volkslied« tarne. Seiner Auffassung nach aktualisiere dieses Programm in Wirklichkeit jedoch
155 IME »Fritz Weiß«: Einschätzung zu Texten der Titelfolge »Liederschoppen« (September 1982); BStU, MfS, BV Gera, AOV 765/85, Bd. I, Bl. 44. 156 Ebenda, Bl. 45. 157 Ebenda, Bl. 48.
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»in völlig unhistorischer Sichtweise ausnahmslos alle Textaussagen, die nur unter der Voraussetzung klassenantagonistischer Entstehungsbedingungen verständlich und aus der historischkonkreten Situation heraus nachvollziehbar sind – als für die sozialistische Wirklichkeit prinzipiell überwundene Denk- und Verhaltensweisen«. 158
Im Einzelnen kritisierte der Gutachter beispielsweise das aus der Zeit nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 stammende »Auswanderlied«. Es erfahre »eine sehr widersprüchliche Interpretation« und erhalte schon allein durch den von einem Gruppenmitglied vorangestellten Kommentar: »Und aus diesem Grunde zogen es einige hunderttausende Leute vor, dann doch lieber außer Landes zu gehen«, eine deutliche Aktualisierung. In diesem Kontext, so der Gutachter weiter, erhalten dann Verszeilen wie: »Man hat sie um ihr Leben schwer betrogen, die Armut trieb sie aus dem Vaterland. Schaut auf ihr Unterdrücker, schaut auf ihr Volksbetrüger, seht eure besten Arbeitskräfte ziehen« 159 eine besondere Aufmerksamkeit. Ausdrücklich verweigerte der inoffizielle Gutachter diesem Programm seine Zustimmung. Er hielt es insgesamt für nicht geeignet, »ein unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit verbundenes Lebensgefühl ausprägen zu helfen«. Damit nicht genug, versetzte der IM mit seinem Schlusssatz dem Programm und somit den Musikern geradezu den Todesstoß, indem er behauptete: »Es ist objektiv schädlich.« 160 Alles in allem zeigt sich hier der IME »Fritz Weiß« als ein durch seine langjährige Tätigkeit im Parteiapparat im Umgang mit ideologischen Floskeln geübter Parteisoldat und Überzeugungstäter, der seinem Auftraggeber umstandslos das liefert, was dieser vermeintlich von ihm erwartet. Ein weiteres Gutachten zu dem Veranstaltungsmitschnitt liegt von IME »Klaus Froberger« 161 vor. Unter diesem Decknamen war bei der BV Gera der Chefdramaturg der Städtischen Bühnen, Eberhard Kneipel, 162 registriert. Laut MfS-Unterlagen arbeitete er seit den frühen 1970er Jahren inoffiziell mit der Staatssicherheit zusammen. In diesen Jahren bescheinigte das MfS seinem IM »Klaus Froberger« sowohl »eine gute Einsatzbereitschaft« als auch »eigene Initiative und schöpferische Mitarbeit«. 163 Offenbar sah der als umtriebiger »Vermittler« bekannte und zugleich auf seine eigene Karriere bedachte »Klaus Froberger« kein Problem darin, bis in die späten 1980er Jahre hinein dem MfS zu Diensten zu sein. So geht etwa aus den Operativgeldabrechnungen der Bezirksverwaltung Gera von 1987 hervor, dass der 158 IME »Fritz Weiß«: Einschätzung des literarisch-musikalischen Programms der Gruppe »Liedehrlich« o. D.; BStU, MfS, BV Gera, AOV 765/85, Bd. I, Bl. 80. 159 Ebenda, Bl. 78. 160 Ebenda, Bl. 80. 161 Der Deckname erscheint meist in der Schreibweise Froberger, gelegentlich auch mit h, als Frohberger. Der IMS »Klaus Froberger« wurde am 22.7.1981 zum IME umregistriert. Sein Führungsoffizier war Oltn. Willing. Vgl. MfS: Vorgangsheft (ohne Nummer) von Willing, Tristan der Abt. XX der BV Gera. 162 Zur Biografie von Eberhard Kneipel siehe auch Jeannette van Laak in diesem Band, u. a. S. 93 u. 95. 163 BV Gera, Abt. XX/7: Auskunftsbericht zum IME »Klaus Froberger« v. 15.8.1975; BStU, MfS, BV Gera, 01/2903/81.
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IME »Klaus Froberger« mehrfach Geld (»Zuwendungen«) zwischen 50 bis 100 Mark erhalten hat. 164 Aus dem uns vorliegenden Gutachten des IME wird deutlich, dass »Klaus Froberger« seine bereits in den 1970er Jahren erkennbare »schöpferische Mitarbeit« weiter qualifiziert hatte. Beispielsweise attestierte er, schon allein durch seine Leitungstätigkeit im Theater an originellen künstlerischen Entwürfen interessiert, der Gruppe immerhin »eigene Lebensanschauungen« und ein »gewisses weltanschauliches Unverständnis für die gegenwärtigen politischen Entwicklungsfragen«. »Klaus Froberger« vermied es zwar, den jungen Musikern den Stempel »feindlich-negativ« aufzudrücken. Letztendlich mündete aber auch sein Gutachten in die Feststellung, dass das Programm kein Unterhaltungs- bzw. Bildungsprogramm« darstellt. Noch deutlicher zeigt sich die lavierende Haltung des IM, indem er vor diesem Programm warnt, weil in ihm der Versuch unternommen werde, »mit künstlerischen Mitteln bestimmte negative Aussagen zu treffen und dementsprechende Meinungen und Handlungen bei den Zuhörern herzustellen«. 165 Die Geraer MfS-Mitarbeiter übernahmen in ihrer Einschätzung weder den vernichtenden Tenor des Gutachtens vom IME »Fritz Weiß«, noch das Urteil des IME »Froberger«. Eher vage heißt es dort: »Aus der Auswahl der historischen Lieder wird nicht deutlich, was die Gruppe eigentlich will, oder aber man muss zu der Schlussfolgerung kommen, dass sie Lieder und Texte ausgewählt hat, die dem Programm eine gewisse politische Indifferenz oder Zweideutigkeit verleihen.« 166
Dies ist umso interessanter, weil in der Mehrzahl der Fälle die Ausführungen der gutachterlich tätigen IM sogar wörtlich in den entsprechenden Berichten wiedergegeben wurden. Offenbar hielten es in diesem Fall die MfS-Offiziere jedoch für angebracht, auf die Verwendung der ideologischen Steilvorlagen der Gutachten zu verzichten, weil sich selbst nach ihrer Einschätzung deren Argumentation zu weit von der aktuellen kulturpolitischen Linie der Partei entfernt hatte und demzufolge nicht kommunizierbar erschien. Für ihre Gutachtertätigkeit erhielten die genannten inoffiziellen Mitarbeiter Zuwendungen in Höhe von 100 bis 150 Mark vom MfS. 167 Dass auch nach den Maßstäben der Staatssicherheit eine andere Einschätzung als die der Bezirksverwaltung Gera möglich gewesen wäre, zeigen die Ausführungen der Offiziere der Bezirksverwaltung Frankfurt/O., die im Rahmen einer mehrwöchigen Tournee von »Liedehrlich« fünf Auftritte der Musiker in ihrem Bezirk kontrolliert hatten. Diese urteilten, »dass die operativ kontrollierten Auftritte der Gruppe ›Lied164 BV Gera, Abt. XX/7: Operativgeldabrechnung 1986 und 1987; BStU, MfS, BV Gera, Abt. XX SA 200 ff. 165 IME »Klaus Froberger«: Einschätzung zu der Titelfolge einer Veranstaltung der Gruppe »Liede(h)rlich« am 25.11.1982 in Bad Saarow; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. II, Bl. 209 f. 166 BV Gera, Abt. XX/7: Einschätzung zu Texten der Titelfolge einer Veranstaltung der Gruppe »Liede(h)rlich« am 25.11.1982 in Bad Saarow; BStU, MfS, BV Gera, AOV 765/85, Bd. I, Bl. 81. 167 Vgl. BV Gera: Operativgeldabrechnungen; BStU, MfS, BV Gera, XX SA 288 u. Abt. XX SA 296.
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ehrlich‹ ohne operative Relevanz verliefen und politisch negative Auswirkungen auf das Publikum nicht zu erwarten sind«. 168 Das Gesangsduo »Görnandt & Rönnefarth« und der Teilvorgang »Bühne III« Das Duo Matthias Görnandt und Bernd Rönnefarth hatte 1981 auf unkonventionelle Weise eine Zulassung als Berufsmusiker – umgangssprachlich: mit der »Pappe« in der Tasche – erhalten. 169 Durch die Unterstützung zentraler Kulturinstitutionen, wie der Generaldirektion des Komitee für Unterhaltungskunst, bzw. durch die Fürsprache einzelner einflussreicher Persönlichkeiten des Kulturbetriebes, vornehmlich der Vorsitzenden des Arbeitskreises Chanson/Liedermacher beim KfU, Gisela Steineckert, 170 ergaben sich für das Duo 171 von Beginn an weitreichende Auftritts- und Entwicklungsmöglichkeiten. Beispielsweise wurde das Duo durch die Vermittlung von Gisela Steineckert im November 1981 zu den »6. Tagen des Chansons« nach Frankfurt/O. eingeladen. Dort erhielten »Görnandt & Rönnefarth« den begehrten Preis des VEB Deutsche Schallplatte »für ihre schöpferische Gesamtleistung«. Im DDR-Fernsehen 172 und in einigen Printmedien wurden sie als »sozialistische Interpreten und Nachwuchsautoren popularisiert«, hielt ein Bericht der MfSBezirksverwaltung Gera fest. 173 Die Auszeichnung mit dem Preis des VEB Deutsche Schallplatte, der einzigen Plattenfirma in der DDR, eröffnete ihnen die Möglichkeit, bei Amiga 174 im September 1982 ihre erste Langspielplatte mit dem Titel »Frag mich Fragen« aufzunehmen. Welche öffentliche Anerkennung das Duo Görnandt & Rönnefarth schon 1982 genoss, ist der Fachzeitschrift »Melodie und Rhythmus« zu entnehmen.
168 BV Frankfurt/O., Abt. XX/7: Zusammengefasste Information zur Tournee der Gruppe »Liede(h)rlich« im Bezirk Frankfurt/O., 1.11. bis 30.11.1982; BStU, MfS, BV Gera, AOV 765/85, Bd. I, Bl. 87 f. 169 Vgl. Jeannette van Laak: Kap. 4 »Das Repertoire der Kunstszene Geras« in diesem Band, S. 106 f. 170 Zu Gisela Steineckert siehe auch Jeannette van Laak S. 108 f. 171 Anfang 1982 kam der Musiker Johannes Schlecht zum Duo »Görnandt & Rönnefarth«. Fortan trat das Namens-Duo in Trio-Besetzung auf. Johannes Schlecht wurde erst 1983 im TOV »Bühne III« registriert. Vgl. BV Gera: Information zu einigen sicherheitspolitischen Aspekten der Gruppe »Görnandt & Rönnefarth« v. 13.10.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 282–289. 172 Beispielsweise die Mitwirkung in der TV-Sendung »Liederkarussell« und der Jugendsendung »TV 2«. 173 BV Gera, Abt. XX/7: Gesamtbearbeitungskonzeption zur Eröffnung und Bearbeitung des zentralen Operativen Vorganges »Bühne« in der Abteilung XX v. 16.8.1982; BStU, MfS, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 8–36. 174 Genauer gesagt bei der Marke Amiga des VEB Deutsche Schallplatte Berlin.
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»Görnandt und Rönnefarth durchbrechen die Domäne der plattdeutschen Mundartler durch ihre Lieder im thüringischen Dialekt. Dabei beherrschen sie die textlich inhaltliche Blödelei ebenso wie eine vom ›Maul des Volkes‹ abgelauschte, ans Herz gehende Lebensdarstellung.« 175
Im Kontrast zur Anerkennung und staatlichen Förderung des Gesangsduos attestierte die MfS-Bezirksverwaltung Gera den Liedermachern »politisch-ideologische Unklarheiten [und] eine ausgeprägte antisozialistische Grundeinstellung zur gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR«, die in einer öffentlichen Verherrlichung der »westlichen Lebensweise« zum Ausdruck komme. In ihren Programmen stellten sie in verschleierter Form »die führende Rolle der Arbeiterklasse und ihrer marxistischleninistischen Partei« infrage. Erkenntnissen der Bezirksverwaltung zufolge pflegten die Liedermacher Umgang mit »zum Untergrund neigenden Personenkreisen [welche sie – M.B.] für politisch-ideologisch indifferente Auftritte engagieren würden«. 176 Aus diesem Grunde gelte es, »im Zusammenwirken mit der KGD und dem Rat des Bezirkes Maßnahmen und Interessen des MfS durchzusetzen«. 177 Erneut trafen unterschiedliche Auffassungen in der Handhabung der SED-Kulturpolitik zwischen einer mit sicherheitspolitischen Aufgaben betrauten und einer für kulturpolitische Belange zuständigen staatlichen Institution aufeinander. Mit der Durchführung des Teilvorgangs »Bühne III« gegen Görnandt und Rönnefarth wurde, entsprechend des Wohnortprinzips, die MfS-Kreisdienststelle Stadtroda 178 beauftragt. Der Leiter der Kreisdienststelle war dem Leiter der Bezirksverwaltung Gera unmittelbar unterstellt. 179 Innerhalb der Kreisdienstelle waren Major Bernd Plötner und Oberleutnant Helmut Klaus 180 für den Teilvorgang zuständig. Die konkrete geheimpolizeiliche Arbeit der Kreisdienststelle (»Mittel und Methoden«) unterschied sich nicht von der in den anderen Teilvorgängen des ZOV »Bühne«. Ein weiteres Mal ging es um die »Beschaffung und Dokumentierung von Liedtexten und Konzeptionen, aus denen eine offene ideologische Konfrontation mit staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen erkennbar wird«. 181
175 Zit. nach: Görnandt & Rönnefarth. Chansons, Kinderlieder, Szenen, Texte. Programmheftzettel von 1982; BStU, MfS, AOV 764/85, Bd. II, Bl. 272 f. 176 BV Gera, Abt. XX/7: Gesamtbearbeitungskonzeption zur Eröffnung und Bearbeitung des zentralen Operativen Vorganges »Bühne« in der Abteilung XX v. 16.8.1982; BStU, MfS, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 24. 177 Ebenda. 178 In der thüringischen Kleinstadt Stadtroda gab es über viele Jahre hinweg nur eine sehr kleine MfSKreisdienststelle (Kategorie C). Dort waren Ende der 1960er Jahre 11 Mitarbeiter (einschließlich Leiter) beschäftigt. 1980 wurde die KD Stadtroda in die Kategorie B hochgestuft. Seit Oktober 1983 verfügte sie über 30 Planstellen. Vgl. BStU, MfS, BV Gera, KD Stadtroda 81. Zur Struktur und Aufgabenstellung einer Kreisdienststelle siehe Gill, David; Schröter, Ulrich: Das Ministerium für Staatssicherheit. Anatomie des Mielke-Imperiums. Berlin 1991, S. 56 ff. 179 Vgl. KD Stadtroda: Rahmenfunktionsplan für den Leiter der Kreisdienststelle v. 11.9.1989; BStU, MfS, KD Stadtroda 0798. 180 Bernd Plötner, geboren 1943, gehörte dem MfS seit 1972 an und Helmut Klaus, geboren 1953, war seit 1975 Mitarbeiter der Staatssicherheit. Vgl. auch bei Katharina Lenski in diesem Band, S. 280 f. u. 294 f. 181 Gesamtbearbeitungskonzeption des ZOV; BStU, MfS, BV Gera, AOV 767/85, Bd. I, Bl. 29.
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Für die Überwachung und Beeinflussung der beiden Künstler sollten zusätzlich inoffizielle Mitarbeiter der Bezirksverwaltung Gera und der Kreisdienststelle Jena herangezogen werden. Auch im Falle des Gesangsduos »Görnandt & Rönnefarth« ging es hauptsächlich darum, »in Abstimmung mit den zuständigen staatlichen und gesellschaftlichen Kräften« einen sogenannten progressiven Einfluss auf die beiden Künstler zu nehmen bzw. sie nachhaltig zu disziplinieren, letztlich ihren Wirkungskreis empfindlich einzuschränken. Ausdrücklich wurde die Zusammenarbeit des MfS mit der Konzert- und Gastspieldirektion und dem Rat des Bezirkes Gera angestrebt, um die eigenen Ziele durchsetzen zu können. 182 Ermittlung der »folkloristisch-mundartlichen Verschlüsselung« Nach Ansicht der Kreisdienststelle Stadtroda setzte sich die bereits erwähnte Langspielplatte »Frag mich Fragen« in ihrer Gesamtaussage über fundamentale Prinzipien der SED-Kulturpolitik hinweg. Dieses Urteil ging auf die Begutachtung eines »IMExperten« der Bezirksverwaltung Gera 183 »zum politisch-ideologischen Gehalt« der in thüringischer Mundart verfassten Liedtexte zurück. Die darin enthaltenen Aussagen, die in ihrem Dogmatismus symptomatisch für die Staatssicherheit und ihr Umfeld sind, sollen hier ausführlicher vorgestellt werden: »Auf dieser Platte sind Texte, deren ideelle Stoßrichtung in weltpolitisch-weltanschaulicher Hinsicht bedenklich erscheinen. Direkt oder vor allem indirekt werden solche Erscheinungen wie Entfremdung, Vereinsamung, unbedenkliches Ja-Sagen, Augenverschließen, Erschöpfung durch Arbeitsstress als typisch für die Lebenswirklichkeit unserer Gegenwart und damit des realen Sozialismus dargestellt und unparteilich-scheinneutral kritisch angeprangert.« 184
Als besonders fragwürdig schätzte die Kreisdienststelle Stadtroda die am Schluss der Langspielplatte platzierten Titel »Irgend emos hast es en satt« und »Übersch Johr« ein. Im ersten Text werde, so die MfS-Unterlage, »eine aus Arbeits-Sachzwängen herrührende Stress-Erschöpfung der Menschen angeprangert, die textlich-musikalisch suggestiv mit der Aufforderung des Aufbegehrens und Ausbrechens aus dieser Zwangswelt verbunden ist. Das geschieht nicht vordergründig-direkt, aber von der Intention her eindeutig und unmissverständlich. In ›Übersch Johr‹ wird dann diese gedankliche Linie weitergeführt, indem vage Zukunftshoffnungen durch Veränderungen gegenwärtig und als unerträglich empfundener Zustand erweckt werden [sic!]. Der Zuhörer wird refrainartig aufgefordert, Veränderungen herbeizuführen. Beide Texte sind gewissermaßen in folkloristischmundartlicher ›Verschlüsselung‹ verfasst, um die Deutlichkeit der Aussage zu entschärfen, zu relativieren, zu verharmlosen.« 185 182 Ebenda. 183 Um welchen IM es sich dabei handelt, geht aus den MfS-Unterlagen nicht hervor. 184 Der Verfasser der Einschätzung ist nicht bekannt. Vgl. KD Stadtroda: Vorschlag zur Ablehnung des Einsatzes im NSW v. 15.11.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. II, Bl. 4–13, hier 8 f. 185 Ebenda.
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Im Unterschied zu den Genossen des VEB Deutsche Schallplatte, die für die Produktion und letztendlich den Vertrieb dieser LP verantwortlich zeichneten, vertraten die Tschekisten in Stadtroda, auf der Basis von IM-Gutachten aus der Bezirksverwaltung Gera, die Ansicht: »Durch die Platte wird sozialismusfremdes, objektiv destruktives Gedankengut popularisiert, das nicht geeignet ist, die politisch-moralische Einheit der Bevölkerung positiv zu beeinflussen. Dabei arbeitet die Gruppe geschickt, ›verdeckt‹ insbesondere mit folkloristischen Mitteln.« 186
Ähnlich negativ wurde das Kinderprogramm »Circus Lila« und »Circus Lila für Erwachsene« bewertet. So heißt es zu den Liedern des Kinderprogramms »Eine Giraffe lebt irgendwo«, »Ich bin Bellochito der Prinz« und »Wir fahren über das Meer«, dass hier »eine unverbindlich-neutralistische Sehnsucht nach der Ferne, nach einer anderen Welt und Lebensumwelt dargestellt [wird], die im Programm kein Gegengewicht durch den Hinweis auf die Schönheit unserer Welt, die Welt des Sozialismus in ihrer Buntheit und Vielfalt erhält. […] Diese sozialismusfremde, die Überlegenheit auch seiner geistig-moralischen Werte infrage stellende Tendenz ist im vorliegenden Programm geschickt und kindgemäß wirksam platziert und in Harmlosigkeiten eingeordnet.« 187
Das Erwachsenenprogramm sei vom gleichen ideologischen Gehalt gespeist, aber im Gegensatz zum Kinderprogramm »nicht mehr so folkloristisch verschleiert« und käme somit in »noch schärferer Form zum Ausdruck«. In der Programmeinschätzung lesen wir zu den beiden »programmatischen« Abschlusstiteln »Heimliche Liebe« und »Ich habe nichts«: »Die Refrains beider Lieder lauten, gewissermaßen die subversiven Absichten des Gesamtprogramms noch einmal zusammenfassend und seine Oppositionsstimmung unterstreichend: ›Verrate es nicht/unser zweites Gesicht/Bleib leise/leise bei mir‹ und ›Wir haben nichts als/ein Stück Haut/und doch ist es ganz aus uns/gebaut/Wir haben, mancher hat das nicht/Wir haben Gesicht.‹« 188
Abschließend unterstellte die Kreisdienststelle Stadtroda den beiden Musikern, dass sie »immer offener ihre ablehnende Haltung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR in ihren Liedern zum Ausdruck bringen«. 189 Die Frage, ob ihnen »noch zu helfen sei, muss offen bleiben« 190, heißt es wörtlich in der oben genannten Programmeinschätzung. 186 Ebenda. 187 Ebenda. 188 Einschätzung des musikalisch-literarischen Programms »Circus Lila für Erwachsene« der Gruppe Rönnefarth/Görnandt/Schlecht v. Okt. 1983; BStU, MfS, BV Gera, 767/85, Bd. II, Bl. 180 f. 189 KD Stadtroda: Vorschlag zur Ablehnung des Einsatzes im NSW v. 15.11.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. II, Bl. 4–13, hier 9. 190 Einschätzung des musikalisch-literarischen Programms »Circus Lila für Erwachsene« der Gruppe Rönnefarth/Görnandt/Schlecht v. Okt. 1983; BStU, MfS, BV Gera, 767/85, Bd. II, Bl. 181.
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Ungeachtet dieser mehr als geschäftsschädigenden Aussagen der thüringischen Tschekisten, trat das Duo »Görnandt & Rönnefarth« bzw. später die Gruppe »Circus Lila« auch weiterhin in der ganzen Republik auf. Bereits in dieser frühen Phase des Teilvorgangs »Bühne III« zeigte sich, dass die regionale Staatssicherheit zwar eine mehr oder weniger intensive Ausforschung der Musiker betreiben konnte. Ihre Einflussmöglichkeiten auf die künstlerischen Aktivitäten des Duos »Görnandt & Rönnefarth« beschränkten sich aber bereits zu diesem Zeitpunkt auf eine gelegentliche Verhinderung von Auftrittsmöglichkeiten in der Region, beispielsweise in Jena. 191 Weder den öffentlichkeitswirksam angekündigten Verkauf der Langspielplatte im Jenaer Musikhaus »Max Reger« noch mehrere Zeitungsartikel zu der Gruppe in den Regionalzeitungen konnte die Staatssicherheit verhindern. Aus ihrer Sicht war der Grund hierfür, dass »nicht genügend offiziell auswertbares Material gegenüber der Partei vorhanden ist«. 192 Das aber heißt nichts anderes, als dass die SEDFunktionäre von den Bedenken der MfS-Offiziere nicht überzeugt werden konnten. Auch die Aufnahme von Bernd Rönnefarth in den Bezirksverband Erfurt des Künstlerverbandes konnte die regionale Staatssicherheit nicht verhindern. Hinzu kam, dass die Kreisdienststelle Stadtroda als die den Teilvorgang »Bühne III« führende Diensteinheit zwar selbstständig Koordinierungsmaßnahmen mit anderen Diensteinheiten festlegen konnte, bei der fachlichen Bewertung der Musikprogramme aber auf den Sachverstand von Experten-IM aus der Bezirksverwaltung Gera angewiesen war. Des Weiteren behielt sich die Bezirksverwaltung vor, die Auftrittstermine der Musiker sowie deren Zusammenarbeit mit der regionalen Konzert- und Gastspieldirektion selbst zu ermitteln und die Kreisdienststelle Stadtroda davon später lediglich in Kenntnis zu setzen. 193 Nur ein Beispiel für die arrogante Haltung der Bezirksverwaltung gegenüber einer Kreisdienstelle. Ganz abgesehen davon, dass der Rahmenfunktionsplan eines Leiters einer Kreisdienststelle vorsah, dass es zu den Aufgaben einer Kreisdienststelle gehörte, »operative Struktureinheiten der Bezirksverwaltung im Rahmen der aufgabenbezogenen Zusammenarbeit« 194 zu informieren und nicht umgekehrt, wie hier geschehen. Das ZK der SED schafft neue Fakten Ende 1982 gab die Kulturabteilung des ZK der SED an die Genossen im Bezirk Gera die »Empfehlung«, in Zukunft das Duo »Görnandt & Rönnefarth« in seiner künstlerischen Entwicklung uneingeschränkt zu fördern. Diese kulturpolitische 191 Vgl. KD Stadtroda: Zwischeneinschätzung v. 20.12.1982; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 235 ff. 192 KD Stadtroda: Protokoll zur Beratung zum ZOV »Bühne« TOV III v. 2.2.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 767/85, Bd. I, Bl. 60 f. 193 KD Stadtroda: Protokoll zum ZOV »Bühne« v. 8.12.1982; ebenda, Bl. 52. 194 KD Stadtroda: Rahmenfunktionsplan des Leiters der Kreisdienststelle v. 11.9.1989; BStU, MfS, KD Stadtroda 0798.
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Wegweisung ging an den davon betroffenen Institutionen und Künstlern nicht spurlos vorbei. Zur Durchsetzung der »ZK-Empfehlung« wurde bei der SEDBezirksleitung eine Beratung anberaumt. Dort erläuterte ein Mitarbeiter der Kulturabteilung des ZK im Bunde mit einem Vertreter des Komitees für Unterhaltungskunst 195 den Genossen Klante (SED-Bezirksleitung Gera), Kathe 196 (Rat des Bezirkes) und dem Leiter der Konzert- und Gastspieldirektion Gera, Zanner, 197 die »Forderung« der Partei. Die versammelten Kulturfunktionäre der Region wurden von den Genossen aus der Hauptstadt darüber belehrt, dass es erstens an der Zeit sei, eine neue Phase der Entwicklung in der Unterhaltungskunst einzuleiten. Zweitens müssten die Geraer Genossen begreifen, dass die Musiker Görnandt & Rönnefarth diesen Aufbruch hervorragend verkörperten und ihre Programme beim Publikum sehr positiv aufgenommen würden. Einem MfS-Vermerk zufolge habe der Vertreter der Kulturabteilung des ZK den Anwesenden klar gemacht, das man »vergessen sollte, was gewesen ist, und man sollte den Leuten zu verstehen geben, was man von ihnen erwartet«. 198 Durch wen und auf welchem Wege diese Informationen zu Major Wirkner gelangten, geht aus den vorliegenden Quellen nicht hervor. Ohne Frage waren die Funktionäre des regionalen Partei- und Staatsapparates von der Berliner Parteizentrale kritisiert und mit der Durchsetzung der neuen Linie bei zukünftigen kulturpolitischen Entscheidungen in der Unterhaltungskunst entlassen worden, die speziell die Förderung des Duos »Görnandt & Rönnefarth« vorsah. Damit mussten sie persönlich und ihr jeweiliger Apparat einen kulturpolitischen Schwenk der SED-Führung nachvollziehen. 199 Letztlich dürfte diese Kehrtwende aber sogar ihr Ansehen unter den Unterhaltungskünstlern des Bezirkes verbessert haben. Ganz anders sah die Lage für die zuständigen Offiziere des MfS im Bezirk Gera aus. Für sie führte die kulturpolitische Kehre im Bereich der Unterhaltungs195 Weder der Name des ZK-Mitarbeiters noch des Vertreters des KfU ist bekannt. 196 Hans Kathe war vor seiner Tätigkeit als Leiter der Abteilung Kultur im RdB Gera in gleicher Funktion in Eisenberg tätig. In Einschätzungen der Bezirksverwaltung Gera wird der Genosse Kathe als ein sehr zielbewusster, mit Optimismus die Kulturpolitik des Bezirkes betreibender Kulturfunktionär geschildert. Kathe bemühte sich ständig, kulturelle Großereignisse nach Gera zu holen. Die alltägliche Kulturarbeit im Bezirk geriet dadurch ins Hintertreffen. Als Ratsmitglied protegierte er gerne einzelne Künstler im Bezirk. Nach Einschätzung des IME »Frank Pauls« leitete der Genosse Kathe die Geschicke der Geraer Kultur häufig im Alleingang und duldete keine Kritik. In einem Bericht heißt es wörtlich über Hans Kathe: »Im Prinzip steht er fest auf dem Boden unserer Republik, ist sehr parteilich und man kann sagen, dass bei ihm Wort und Tat eine Einheit bilden, wobei er natürlich Schwierigkeiten bei der Umsetzung hat.« Vgl. BV Gera, Abt. II: Bericht zur Person Hans Kathe, AL Abt. Kultur beim RdB Gera v. 4.2.1977; BStU, MfS, BV Gera, X/475/69, II, Bd. 1, Bl. 411. 197 Nach Einschätzung der SED-BL war der Genosse Joachim Zanner zu sehr mit Fragen der kommerziellen Geschäftsführung, der Vermittlung von Tagesprogrammen beschäftigt. Er »leistet zu wenig politische Arbeit am konkreten Gegenstand, dringt nicht genügend in die Tiefe der politischen Probleme ein«. Vgl. SED-BL Gera, Abt. Wissenschaft/Vobi/Kultur: Analyse und Schlussfolgerungen zur politischen Arbeit mit den Künstlern des Bezirks v. 18.6.1982; ThStA Rudolstadt, BL der SED Gera, A 7759. 198 KD Stadtroda: Protokoll zum ZOV »Bühne« v. 8.12.1982; BStU, MfS, BV Gera, AOV 767/85, Bd. I, Bl. 52. 199 Vgl. zum Oberbürgermeister von Gera bei Jeannette van Laak in diesem Band, S. 68 f.
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kunst zu einer weiteren Einengung ihres repressiven Handlungsspielraums. Den ursprünglich geplanten Maßnahmen gegen das Duo »Görnandt & Rönnefarth« fehlte jetzt die notwendige politische Legitimation. Damit einher ging eine Verschlechterung der operativen Voraussetzungen für die Durchführung ihrer Maßnahmepläne. So waren ihre inoffiziellen Helfer und offiziellen Kooperationspartner, vornehmlich aus dem regionalen Staatsapparat, schon allein aus Gründen der Parteidisziplin daran gebunden, zuerst für die Durchsetzung der neuen SED-Linie zu sorgen und nicht den Zielen des MfS den Vorrang einzuräumen. Die Parteiführung hatte sich unmissverständlich für eine Förderung, nicht die Behinderung der Gruppe »Görnandt & Rönnefarth« ausgesprochen. Bereits im Frühjahr 1983 musste die Geraer Staatssicherheit in ihren internen Berichten zugeben, dass sie ihre ursprüngliche Zielstellung, »Zurückdrängung der Auftrittsmöglichkeiten des Gesangsduos« unter den veränderten Rahmenbedingungen, nicht erreicht hatte. Eine Zwischeneinschätzung der zuständigen Kreisdienststelle Stadtroda führte dazu aus: »Dies liegt zum einen an der Forderung des ZK, Abt. Kultur, das Gesangsduo zu fördern und zum anderen, dass keine öffentlich auswertbaren Fakten bekannt sind, um im Zusammenwirken mit den staatlichen Organen die künstlerischen Aktivitäten zu unterbinden.« 200
Im Klartext bedeutete dies, dass die regionalen MfS-Stellen nicht in der Lage waren, die für Kulturpolitik zuständigen Institutionen davon zu überzeugen, dass das Liedgut der Gruppe verschlüsselte staatsfeindliche Botschaften enthielt. Aus diesem Grund falle es auch schwer, die Auftritte der Musiker weiter einzuschränken. »Es müssen Kompromisse gemacht werden und Auftritte zugelassen werden«, 201 vermerkte die MfS-Kreisdienststelle Stadtroda resignativ. Das 7. Chanson-Festival in Frankfurt/O. und die verdeckten Aktionen der Bezirksverwaltung Gera Seit dem Beginn der 1970er Jahre kam der Pflege und Entwicklung des Chansons im Musikleben der DDR eine zunehmende kulturpolitische Bedeutung zu. Im »Kulturpolitischen Wörterbuch« des Ostberliner Dietz-Verlages lesen wir: »Das Chanson erlaubt die Gestaltung einer großen Spannweite des Inhalts und der geistigemotionalen Haltung (vom Politisch-Kämpferischen bis zum Intim-Besinnlichen). Es gewinnt im Musikleben der DDR zunehmend an Bedeutung, weil es aufgrund seiner Eigenarten relativ
200 KD Stadtroda: Zwischeneinschätzung v. 8.4.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 246 ff. 201 KD Stadtroda: Protokoll zur Aussprache mit dem Genossen Wirkner v. 31.3.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 767/85, Bd. I, Bl. 78.
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rasch und gleichzeitig differenziert auf die neuen Lebensumstände, das neue Lebensgefühl der Menschen unserer sozialistischen Gegenwart zu reagieren vermag.« 202
In diesen Zusammenhang sind die als Festival jährlich bzw. alle zwei Jahre ausgetragenen Chansontage in Frankfurt/O. einzuordnen. 203 Im November 1983 fanden die »Tage des Chansons in der DDR«, so ihr offizieller Titel, zum 7. Mal statt. Veranstalter dieses Wettbewerbs waren die Generaldirektion beim Komitee für Unterhaltungskunst sowie die Räte des Bezirkes und der Stadt Frankfurt/O. Waren die 6. Chansontage im Jahre 1981 »von der allgemeinen Traurigkeit und dem weinerlichen Gejammere über die Misslichkeiten des Lebens und der Welt« gekennzeichnet, so blickte das Komitee für Unterhaltungskunst auf die 7. Chansontage mit »Spannung, aber nicht ohne Skepsis«. 204 Sie waren als »Forum der Verständigung und Diskussion künstlerisch-ästhetischer und politisch-ideologischer Fragen« 205 von der Generaldirektion beim Komitee für Unterhaltungskunst konzipiert worden. Durch ihre Auszeichnung bei den 6. Chansontagen waren sowohl die Gruppe »Circus Lila« als auch der Solist Stephan Krawczyk für den 7. Chansonwettbewerb automatisch qualifiziert. Diese Tatsache hielt die Geraer Bezirksverwaltung des MfS nicht davon ab, sich gegen eine Teilnahme der Musiker an diesem Wettbewerb auszusprechen. Offensichtlich wollten die Geraer Tschekisten durch eine verdecktmanipulative geheimpolizeiliche Vorgehensweise neue Fakten schaffen, um ihre ursprüngliche Zielstellung, Einschränkung der Auftrittsmöglichkeiten und der damit verbundenen öffentlichen Aufwertung, doch noch erreichen zu können. In diesem Kontext verliefen die geheimpolizeilichen Aktionen gegen den Liedermacher Stephan Krawczyk und die Gruppe »Liedehrlich« erfolgreicher als die beabsichtigten Störmanöver gegen die Gruppe »Circus Lila«. Der diesbezügliche Operativplan zu den Musikern Matthias Görnandt und Bernd Rönnefarth sah Folgendes vor: »Durch differenzierten Einsatz von IM in Schlüsselpositionen und durch politisch-operativ zweckmäßige Informationen an die SED-BL Gera ist auf der Grundlage offiziell verwendbarer Informationen und Beweise die Förderung des Gesangsduos einzuschränken.« 206
Wie erfolglos diese Bemühungen verliefen, darüber gibt uns eine Mitteilung Major Wirkners an die Kreisdienststelle Stadtroda Auskunft. Darin informierte er darüber, dass Bernd Rönnefarth zwischenzeitlich in den Verband der Komponisten der DDR 202 Bühl, Harald u. a. (Hg.): Kulturpolitisches Wörterbuch. Berlin (Ost) 1970, S. 93. 203 Vgl. Vorlage 45/80 für die Dienstberatung des Ministers: Langfristige Konzeption und Maßnahmen für die weitere Profilierung der Wettbewerbe und Leistungsschauen in der Unterhaltungskunst; BArch DR 1/9363. 204 Rechenschaftsbericht der Generaldirektion des Komitees für Unterhaltungskunst 1983; BArch DR 102/2a. 205 Konzeption für die Vorbereitung und Durchführung der 7. Chansontage im November 1983 in Frankfurt/O.; BArch DR 1/9472. 206 KD Stadtroda: Operativplan zur offensiven Bearbeitung des ZOV »Bühne« TOV III v. 24.6.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 767/85, Bd. I, Bl. 82.
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aufgenommen und somit zum Leidwesen der Staatssicherheit erneut aufgewertet wurde. 207 Andererseits war es der Bezirksverwaltung Gera mit der Unterstützung der Berliner Hauptabteilung XX über IM in Schlüsselpositionen 208 gelungen, sämtliche Auftritte der Gruppe »Liedehrlich« im DDR-Fernsehen zu verhindern. In einer Zwischeneinschätzung heißt es: »Über den Chefredakteur des Bereiches ›Jugendfernsehen‹ [wurde] eine geplante Produktion mit der Gruppe ›Liedehrlich‹ storniert«, 209 ein Musterbeispiel dafür, wie sich das MfS mittels einer sogenannten operativen Kombination, die stets konspirativen Charakter hatte, die Durchsetzung ihrer eigenen Ziele vorstellte. 210 Des Weiteren konnte die Bezirksverwaltung Gera mit Unterstützung der Bezirksverwaltung Dresden bzw. der MfS-Objektdienststelle an der Technischen Universität Dresden bereits vereinbarte Auftritte im FDJStudentenklub der Universität verhindern. 211 Die Abteilung XX der Geraer Bezirksverwaltung sah es als ihre vordringlichste Aufgabe an, »den Einsatz der IM/GMS zu forcieren und die Wirksamkeit der Gruppe durch IM in Schlüsselpositionen mit staatlichen und gesellschaftlichen Kräften [sic!] weiter zurückzudrängen«. 212 Im Klartext bedeutete das, durch die Zusammenarbeit mit Funktionären des staatlichen Kulturbetriebes die Auftrittsmöglichkeiten von »Liedehrlich« systematisch einschränken zu wollen. Außerdem stellte Referatsleiter Wirkner im Juni 1983 die Forderung auf, in Zusammenarbeit mit der Berliner Hauptabteilung XX/7 die Einflussnahme des Leitungsmitgliedes des Komitees für Unterhaltungskunst, Gisela Steineckert, und des offiziellen Mentors der Musiker, Werner Bernreuther, weiter »zurückzudrängen«. 213 Im Falle von Gisela Steineckert bedeutete das nichts anderes als gegen eine von der SED-Führung mit einem wichtigen kulturpolitischen Aufgabenbereich beauftragte Kulturfunktionärin zu intrigieren. 207 KD Stadtroda: Protokoll v. 23.8.1983; ebenda, Bl. 98. 208 In der Richtlinie 1/79 werden IM in Schlüsselpositionen folgendermaßen definiert: »IM in verantwortlichen Positionen in staatlichen und wirtschaftsleitenden Organen, Betrieben, Kombinaten und Einrichtungen sowie gesellschaftlichen Organisationen, die zur Herausarbeitung und Durchsetzung bedeutsamer Sicherheitserfordernisse, zum Erarbeiten operativ bedeutsamer Informationen über die Lage im Verantwortungsbereich sowie zur Legendierung operativer Kräfte, Mittel und Methoden des MfS wirksam werden (IM in Schlüsselpositionen).« Vgl. Richtlinie 1/79 für die Arbeit mit Inoffiziellen Mitarbeitern und Gesellschaftlichen Mitarbeitern v. 8.12.1979; BStU, MfS, BdL-Dok. Nr. 3278. 209 BV Gera, Abt. XX: Zwischeneinschätzung zum TOV »Bühne I« v. 9.9.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 135. 210 Vgl. Suckut, Siegfried (Hg.): Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Berlin 2001, S. 212 f. 211 Vgl. Mitteilung der Bezirksverwaltung OD TU/H v. 4.8.1983: »Durch IM in Schlüsselposition unserer DE wurde in Abstimmung mit dem Sekretär für Studenten, der FDJ-Bezirksleitung Dresden eingeleitet, dass der Auftritt der genannten Gruppe in den FDJ-Studentenklubs der TU Dresden […] abgesetzt wird.« BStU, MfS, BV Gera, AOV 765/85, Bd. I, Bl. 142. 212 BV Gera, Abt. XX: Zwischeneinschätzung zum TOV »Bühne I« v. 9.9.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 138. 213 BV Gera, Abt. XX/7: Operativplan zum TOV I v. 20.6.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 765/85, Bd. I, Bl. 139.
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In diesem Sinne sandte die Abteilung XX/7 der Bezirksverwaltung Gera Ende August 1983 ein chiffriertes Fernschreiben an die Hauptabteilung XX/7 in Berlin. Darin wurde über die beabsichtigte Teilnahme von »Görnandt & Rönnefarth« und dem Solisten Stephan Krawczyk an den 7. Chansontagen informiert. »Bei der Realisierung dieses Vorhabens erfolgt eine Aufwertung dieser Personen, die sich für die weitere politisch-operative Bearbeitung negativ auswirkt. […] Der genannte Personenkreis [erhält] insbesondere Unterstützung durch die Vorsitzende des Arbeitskreises Chanson und Liedermacher, Genossin Gisela Steineckert, und der Generaldirektion für Unterhaltungskunst.«
Außerdem richtete die Bezirksverwaltung Gera erneut an die Berliner Zentrale die Bitte, zu »prüfen«, ob über »IM in Schlüsselpositionen« die Auftrittsmöglichkeiten der Musiker, insbesondere die Soloprogramme, eingeschränkt werden könnten. In diesem Zusammenhang hatten die Geraer Tschekisten für ihre Berliner Genossen gleich noch einen Vorschlag parat: Die Musiker sollten grundsätzlich nur mit anderen Künstlern bzw. Musikgruppen zusammen auftreten dürfen. 214 Binnen einer Woche erhielt der Leiter der Abteilung XX der Bezirksverwaltung Gera von der Berliner Zentrale eine Antwort. Darin behauptete Generalmajor Kienberg, seines Zeichens Leiter der Hauptabteilung XX, dass vonseiten des MfS sowohl auf die Programmgestaltung als auch den Ablauf der Chansontage Einfluss genommen werde. 215 Tatsächlich bezog sich aber die Mitsprache der Staatssicherheit auf organisatorisch-technische Fragen, nicht auf inhaltliche Aspekte, wie dem von Kienberg beigelegten »Prüfbericht« zweifelsfrei zu entnehmen ist. Zu der zentralen Frage, wer für die Auswahl und den Inhalt der Programme verantwortlich zeichnete, gab der Generalmajor eine eindeutige Auskunft: »Die Vorsitzende des Arbeitskreises Chanson und Liedermacher bei der Generaldirektion des Komitees für Unterhaltungskunst, Genossin Gisela Steineckert, wurde von der Partei beauftragt, an die Texte und Programme der an den 7. Tagen des Chansons mitwirkenden Folkloristen erhöhte politische und künstlerische Anforderungen zu stellen. Gemäß diesem Parteiauftrag handelt die Genossin Steineckert und hat die Gestalterkollektive entsprechend instruiert, alle Texte und Programme, insbesondere Neuschöpfungen, gründlich in den Kollektiven zu prüfen und zu beraten.«
Die MfS-Zentrale stellte unmissverständlich klar, dass die Generaldirektion beim Komitee für Unterhaltungskunst die genannten Musiker zu den 7. Chansontagen »wegen ihrer bei den 6. Tagen des Chansons nachgewiesen künstlerischen Qualitäten« eingeladen hat. Den Informationen der Berliner MfS-Zentrale zufolge hatte die Generaldirektion des Komitees für Unterhaltungskunst zu Stephan Krawczyk bekräftigt, dass er als Preisträger der letzten Chansontage automatisch für die nächsten Chansontage mit seinem neuen Programm eingeladen wurde. »Eine Verhinderung oder Veränderung des Auftritts von Krawczyk […] würde aus den angeführten 214 BV Gera an HA XX/7: Chiffriertes Fernschreiben (CFS) v. 22.8.1983; ebenda, Bl. 146 f. 215 HA XX an BV Gera, Abt. XX: Beantwortung des CFS v. 22.8.1983 am 31.8.1983; ebenda, Bl. 148.
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Gründen nicht nur bei ihm auf Unverständnis stoßen«, so der »Prüfbericht«. Die Gruppe »Circus Lila« sei ebenfalls wegen ihrer künstlerischen Qualitäten in das »Gestalterkollektiv des Eröffnungsprogramms berufen« 216 worden. Im Übrigen wies Kienbergs Bericht darauf hin, dass die Gruppe »Circus Lila« ausschließlich gemeinsam mit anderen Musikern auftreten werde. Parallel zu den Aktivitäten der MfS-Bezirksverwaltung fuhren der Abteilungsleiter für Kultur/Volksbildung/Wissenschaften der SED-Bezirksleitung Gera, Klaus Rudolph, 217 und der Abteilungsleiter Kultur des Rates des Bezirkes, Hans Kathe, gemeinsam nach Berlin. Dort suchten sie die einflussreiche Gisela Steineckert auf. Ihrer persönlichen Einschätzung zufolge wurde sie vom Politbüromitglied Kurt Hager und Kulturminister Hoffmann respektiert. 218 Sie war aber nie ZK-Mitglied 219, obwohl das die schlecht informierte Kreisdienststelle Stadtroda behauptete. 220 Die Genossin Steineckert setzte die beiden Provinzfunktionäre davon in Kenntnis, dass die Gruppe »Görnandt & Rönnefarth« 221 »zur Spitze in ihrem Genre« gehöre und deshalb das Eröffnungsprogramm der 7. Chansontage gestalten werde. Dafür würde sie voraussichtlich einen 1. Preis erhalten. Im weiteren Verlauf des Gespräches trat Gisela Steineckert jeglichen Bedenken der Geraer Genossen entgegen, dass von den beiden Musikern problematische Texte zu erwarten seien. 222 Laut einem Aktenvermerk der Abteilung XX der Bezirksverwaltung Gera stand der Genosse Klaus Rudolph der Einschätzung der Genossin Steineckert skeptisch gegenüber. 223 Angeblich wollte er sich deshalb mit den Genossen der MfS-Bezirksverwaltung konsultieren. Vieles deutet jedoch darauf hin, dass sich der leitende Genosse der SEDBezirksleitung nicht mit den Mitarbeitern der Staatssicherheit beraten, sondern sie lediglich über diverse Probleme im »kulturellen Bereich« informieren und damit 216 HA XX/7: Prüfungsergebnis v. 31.8.1983; ebenda, Bl. 149. 217 Der SED- Funktionär Klaus Rudolf war vor seinem dreijährigen Studium an der Hochschule des ZK der KPdSU in Moskau als Sekretär der FDJ-BL Gera eingesetzt. Seine Werbung als IM »Fritz Schneider« erfolgte 1971. Mit seiner Delegierung nach Moskau im Jahre 1975 endete seine inoffizielle Zusammenarbeit mit dem MfS. Vgl. BStU, MfS, BV Gera, AIM 418/75. 218 Vgl. Vom weißen Spitz und schwarzen Humor. Interview mit Gisela Steineckert im April 2009. In: Schneider, Heike; Wedel, Adelheid: Vom Privileg des Vergleichs. Erfahrungen ostdeutscher Prominenter vor und nach 1989. Leipzig 2009, S. 249. 219 Gisela Steineckert war weder Kandidatin noch Vollmitglied des ZK der SED. Vgl. u. a. Geschichte. Organisation. Politik. Berlin 1997 und Forschungsstelle für gesamtdeutsche wirtschaftliche und soziale Fragen: Staats- und Parteiapparat der DDR. Stand 1983–1989. 220 KD Stadtroda: Monatseinschätzung Oktober v. 25.10.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 299. 221 Seit den 7. Chanson-Tagen nannte sich die Musikgruppe mit Görnandt, Rönnefarth und Schlecht offiziell »Circus Lila«. 222 Gisela Steineckert spricht in einem Interview darüber, wie sie »die Partei gegen die FDJ und umgekehrt [ausgespielt hat]. Ich lobte die Einen und sagte, die Anderen haben keine Ahnung. Das klappte dann auch.« Man kann sich vorstellen, wie sie das Gespräch mit den beiden Kulturfunktionären aus Gera führte. Vgl. Vom weißen Spitz und schwarzen Humor. Interview mit Gisela Steineckert im April 2009. In: Schneider; Wedel: Vom Privileg des Vergleichs (Anm. 218), S. 247 f. 223 BV Gera, Abt. XX: Aktenvermerk v. 3.10.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 275.
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auch über die Beschlusslage in Sachen »Görnandt & Rönnefarth« in Kenntnis setzen wollte. Im Vorfeld dieses Termins (»Aussprache«) erarbeitete die MfSBezirksverwaltung eine sogenannte Personenauskunft zu Matthias Görnandt und Bernd Rönnefarth. Diese Auskunft sollte auf dem normalen Dienstweg über den Leiter der Bezirksverwaltung an den 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, wie auch an den Leiter der Hauptabteilung XX in Berlin weitergeleitet werden.224 Die »Aussprache« selbst ging für die Geraer Tschekisten wie das Hornberger Schießen aus. In ihrem Protokoll heißt es dazu: »In dieser Aussprache wurden durch den Gen. Major Wirkner die bedeutsamen Fakten zu den Personen und zum politisch-ideologischen Gehalt der Programme mündlich vorgetragen. Durch die BL Gera, Gen. Rudolf, wurde vertreten, dass sie [die SED-BL – M.B.] einen gleichen Standpunkt haben, aber derzeit keine Möglichkeit sehen, sie [die Musiker Krawczyk, Görnandt und Rönnefarth – M.B.] nicht zu den 7. Tagen des Chansons zuzulassen.«225
Einiges spricht dafür, dass sich die SED-Bezirksleitung nicht nur wegen der sprichwörtlichen Ambitionen ihres 1. Sekretärs, »wir wollen ins Politbüro«, nicht gegen die zentrale Entscheidung in Sachen »Görnandt & Rönnefarth« stellte, sondern die Förderung der Musiker letztendlich sogar in ihrem eigenen Interesse lag. Schließlich erfuhr der Bezirk Gera durch den Aufstieg des Duos »Görnandt & Rönnefarth« eine größere Beachtung in der Musikszene. Warum sonst hielt es der Abteilungsleiter der SED-Bezirksleitung für angebracht, den MfS-Offizier davon in Kenntnis zu setzen, dass die Absicht bestehe, die Gruppe »Circus Lila« sogar im Westen auftreten zu lassen?226 Mit einem gezielten Kulturexport konnten schließlich die Region aufgewertet und zusätzlich auch noch kostbare Devisen für den Staatshaushalt erwirtschaftet werden. Eine Reaktion der Staatssicherheit auf diese Ankündigung ist nicht überliefert. Ungeachtet der klaren Direktive der Partei, die allen Verantwortlichen in Gera bekannt war, wollten die lokalen staatlichen Kulturfunktionäre Stephan Krawczyks neues Programm für die 7. Chansontage nicht einfach nur »durchwinken«. Folglich bestanden die Konzert- und Gastspieldirektion, die Bezirkskommission für Unterhaltungskunst und der Rat des Bezirkes Gera gemeinsam darauf, das Programm vor der geplanten Premiere im Geraer Haus der Kultur abzunehmen. Dieses Programm hatte der Liedermacher Krawczyk zusammen mit Hans-Eckhardt Wenzel227 (Regie) und Andreas Reimann228 (Texte) erarbeitet. Aus einem vorliegenden Informations224 Ebenda. 225 KD Stadtroda: Monatseinschätzung Oktober zum Bearbeitungsstand des ZOV »Bühne« TOV III v. 25.10.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 298. 226 Ebenda, Bl. 299. 227 Hans-Eckhardt Wenzel, Textautor, Komponist, Regisseur und Mitglied des Liedertheaters Karls Enkel. 228 Der Leipziger Lyriker Andreas Reimann war Ende der 1960er Jahre wegen staatsfeindlicher Hetze zu 2 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Er konnte in den 1970er Jahren zwar zwei Gedichtbände in der DDR veröffentlichen, stand gleichzeitig aber bis Anfang der 1980er Jahre unter operativer Beobachtung des MfS
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bericht der Bezirksverwaltung geht hervor, dass Krawczyks Programm bei den Provinzfunktionären auf starke Vorbehalte stieß. Es sei eine einzige »Absage an unsere Republik«. 229 Aus den MfS-Quellen geht aber auch hervor, dass sich die Vertreter der bereits genannten Institutionen nach zwei Beratungen mit Stephan Krawczyk darauf geeinigt hätten, dass sich sein Programm noch in einem Arbeitsstadium befindet und natürlich überarbeitungsbedürftig sei. Stephan Krawczyk habe aber schließlich mit dem von ihm nur widerwillig korrigierten Programm auftreten können, lässt sich einem IM-Bericht entnehmen. 230 Letztlich konnten weder die am Abnahmeprozedere beteiligten inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit noch die Genossen der Konzert- und Gastspieldirektion und des Rates des Bezirkes Gera Stephan Krawczyks Teilnahme an den 7. Chansontagen verhindern. In Berlin wurde längst »trotz der bekannten Probleme in Abstimmung mit der Vorsitzenden des Arbeitskreises Chanson [Gisela Steineckert – M.B.] und [der] Abteilung Kultur des ZK der SED« 231 die Delegierung Stephan Krawczyks beschlossen. Damit war erneut eine politische Entscheidung gegen die Position der lokalen Staatssicherheit getroffen worden. Angesichts ihres »Schutzengels« Gisela Steineckert genoss das Duo »Görnandt & Rönnefarth« von vornherein viel Spielraum bei der Gestaltung der Eröffnungs- und Abschlussveranstaltung der 7. Tage des Chansons. Wie stark der Staatssicherheit im Bezirk Gera die Hände gebunden waren, geht aus einem Hilfsersuchen der Kreisdienststelle Stadtroda an die MfS-Bezirksverwaltung Frankfurt/O. hervor. Darin wurden lediglich Informationen zu den Auftritten der Gruppe in Frankfurt/O. erbeten. Operative Maßnahmen wurden nicht vorgeschlagen. 232 Der angeforderte Bericht der Bezirksverwaltung Frankfurt/O. beschränkte sich dann auch auf reine Fakten. Ihm entnehmen wir, dass
und geriet dementsprechend immer wieder in Publikationsschwierigkeiten mit seinen Texten. Laut MfS besaß er »eine sozialismusfremde bis feindliche Einstellung zur gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR, die auch in seinen Lyriktexten zum Ausdruck kommt«. (vgl. Operativplan zum TOV »Bühne I« v. 20.6.1983; BStU, MfS, BV Gera, 764/85, Bd. I, Bl. 128) Mit dem Schreiben von Liedtexten für eine ganze Reihe von jungen Liedermachern ergab sich für Reimann die Möglichkeit, gewissermaßen im Schatten der Liedermacher und damit kaum beachtet, weiter schreiben und damit auch seinen Lebensunterhalt finanzieren zu können. 229 In dem IM-Bericht heißt es u. a.: »Es waren solche Liedertexte vorhanden wie ›machthungrig‹, in dem sich über machthungrige Straßenbahnschaffner, Polizisten, aber auch über die Machthungrigkeit des Staates auseinandergesetzt wurde und er dann am Schluss sich rumdreht, mit der Hand durch die Hosenbeine an den Hintern fährt, so nach der Devise, nun können mich alle mal am Arsch lecken.« Vgl. AG XXII: Information des IM »Naumann« v. 9.11.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 765/85, Bd. I, Bl. 157 ff. 230 Ebenda. 231 KGD Gera: Einschätzung der Ergebnisse der 7. Tage des Chansons in Frankfurt/O. v. 29.11.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 765/85, Bd. I, Bl. 160 f. 232 KD Stadtroda: Informationsbedarf zu den Auftritten der Gruppe Görnandt und Rönnefarth zu den Chansontagen 1983 in Frankfurt/O. v. 19.9.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 294.
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»die Gruppe während der Chansontage fünf Auftritte [hatte]. Sie wirkte als Handlungsträger in den Eröffnungs- und Abschlussveranstaltungen und hatte ein Gastspiel gemeinsam mit Barbara Thalheim. Je Veranstaltung waren ca. 350–400 Besucher anwesend.« 233
Einhellig beurteilten die Generaldirektion des Komitees für Unterhaltungskunst und die Konzert- und Gastspieldirektion Gera die 7. Chansontage als ein gelungenes nationales Festival, das sich »durch hohe politische und künstlerische Qualität und durch engagierte Bekenntnisse zum Leben, zur Lebensfreude, zur optimistischen Lebenshaltung« ausgezeichnet habe. »Bereits das Eröffnungsprogramm wurde zu einem Knüller«,234 vermerkte der Bericht der Generaldirektion des Komitees für Unterhaltungskunst. Die regionale Konzert- und Gastspieldirektion Gera beschrieb die Leistung der Gruppe »Circus Lila« ebenfalls positiv. Sie habe durch ihre Ideen »maßgeblichen Anteil am Erfolg der Eröffnungsveranstaltung« gehabt. 235 »Circus Lila« erhielt zusammen mit einigen anderen Künstlern der Eröffnungsveranstaltung den Preis des Ministers für Kultur und des Vorsitzenden des Rat des Bezirkes Frankfurt/O. sowie den Sonderpreis der Generaldirektion der AWA (Anstalt zur Wahrung der Aufführungsrechte). 236 Letztendlich avancierte »Circus Lila« zu einer in der ganzen Republik gefragten Musikgruppe. 237 Demgegenüber ist einer IM-Meldung zu entnehmen, dass Stephan Krawczyks Programm auf den Chansontagen viel Kritik erfuhr »und ihm die Auflage erteilt wurde, dieses in überarbeiteter Form der KGD in Gera vorzulegen«. 238 Der Bericht der Generaldirektion des Komitees für Unterhaltungskunst beschwichtigte, dass durchaus über einzelne Beiträge diskutiert werden müsse, dies aber zum Sinn und Anliegen der Chansontage gehöre. Schließlich müsse es immer darum gehen, »Fehldenken behutsam und trotzdem nicht inkonsequent zu korrigieren und Mut für die weitere Arbeit zu machen«. 239 Die Geraer Kulturmanager schlugen einen anderen Ton an, als sie auf Stephan Krawczyks Auftritt zu sprechen kamen. Zu seinem Programm habe es die unterschiedlichsten Meinungen, »von interessant und problematisch bis zu einmalig und
233 BV Gera, Abt. XX: Bericht zu den 7. Tagen des Chansons v. 28.12.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. II, Bl. 14 f. 234 Rechenschaftsbericht der Generaldirektion des Komitee für Unterhaltungskunst v. 1983; BArch DR 101/2a, S. 119–152. 235 KGD Gera: Einschätzung der Ergebnisse der 7. Tage des Chansons in Frankfurt/O. v. 29.11.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 765/85, Bd. I, Bl. 161. 236 AWA seit 1951 zuständige Nachfolgeeinrichtung zur Wahrung der Aufführungs- und Vervielfältigungsrechte von Komponisten, Textdichtern und Musikverlagen der bis dahin gesamtdeutsch tätigen GEMA. 237 KGD Gera: Einschätzung der Ergebnisse der 7. Tage des Chansons in Frankfurt/O. v. 29.11.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 765/85, Bd. I, Bl. 161. 238 BV Gera, AG XXII: Ergänzungsmeldung v. 21.12.1983; ebenda, Bl. 164. 239 Rechenschaftsbericht der Generaldirektion des Komitee für Unterhaltungskunst v. 1983; BArch DR 101/2a, S. 119–152.
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nicht machbar« 240 gegeben. Außerdem entnehmen wir ihrem Bericht, dass in Abstimmung mit dem Ministerium für Kultur und der Generaldirektion des Komitee für Unterhaltungskunst entschieden wurde, dass Stephan Krawczyk sein Programm überarbeiten müsse. Zu diesem Zweck sollte unter der Leitung der Generaldirektion der Konzert- und Gastspieldirektion in Berlin eine Aussprache mit dem Musiker, seinem Textautor Andreas Reimann und seinem Regisseur Hans Eckhart Wenzel stattfinden. Andreas Reimann erinnert sich daran, dass der stellvertretende Kulturminister Siegfried Wagner in einem persönlichen Gespräch Stephan Krawczyk die weitere Aufführung des Liedes »Unsere alltägliche Macht« verboten hatte. 241 Die erste Strophe des Liedes lautet: »Ein grinsender fahrer der straßenbahn Lässt manchmal im regen dich stehn. Der pförtner, dein kumpel von nebenan, verlangt deinen ausweis zu sehn. Der zahnarzt verbohrt sich, so werden wir's auch […] [und in der letzten Strophe heißt es] Und der, der dein schulfreund gewesen ist (ein sehr braver junge in seiner art), der wurde ein freundlicher volkspolizist. Und zeigt dir den knüppel. Und lächelt so zart. Es muss in den köpfen viel ohnmacht sein, das manche so machthungrig sind. Wieso machen wir uns mit macht so klein, und klagen an, dass kleine leute wir sind? Jeglicher hat seine macht hier. Na und?...« 242
Auf das Verbot des Ministers hin schrieb Andreas Reimann umgehend als Ersatz 243 das »Gegenlied zu ›Unsere alltägliche Macht‹«. 244 Der Direktor der Geraer Konzert- und Gastspieldirektion sollte an der geplanten Aussprache in der Berliner Generaldirektion nicht nur teilnehmen, er erhielt darüber hinaus den Auftrag, Stephan Krawczyk klarzumachen, dass die von der Generaldirektion der Konzert- und Gastspieldirektion in Zukunft gegebenen Hinweise als politische Entscheidungen von ihm zu akzeptieren seien. Die Geraer Konzert- und Gastspieldirektion zog aus den 7. Chansontagen die Schlussfolgerung, »einen engeren Arbeitskontakt« zu der Gruppe »Circus Lila« her240 KGD Gera: Einschätzung der Ergebnisse der 7. Tage des Chansons in Frankfurt/O. v. 29.11.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 765/85, Bd. I, Bl. 160 f. 241 Stephan Krawczyk erinnert sich daran, dass der Minister ihm noch ein zweites Lied mit dem Titel »Utopie« verboten hatte. Vgl. Krawczyk, Stephan. In: Stuhler, Ed: Nichts bleibt geheim. Die Staatssicherheit und die DDR-Liedermacher. Featuremanuskript. DLF 21.6.2005. 242 Reimann, Andreas. In: Der trojanische Pegasus. Halle 2007, S. 156. 243 Gespräch mit Andreas Reimann am 6.11.2010. 244 Reimann, Andreas. In: Der trojanische Pegasus. Halle 2007, S. 157.
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stellen zu wollen, »um den politisch-künstlerischen Inhalt ihrer Programme hinsichtlich der Herausarbeitung des sozialistischen Klassenstandpunktes zu verbessern«. 245 Angesichts der realen Verhältnisse lässt sich diese Absichtserklärung nur als protokollarische Pflichtübung verstehen. Den Bericht der Geraer Konzert- und Gastspieldirektion leitete der Genosse Hans Kathe vom Rat des Bezirkes an den zuständigen Sekretär der SEDBezirksleitung weiter. In seinem Begleitschreiben wies er die Bezirksleitung darauf hin, dass er eine individuelle Betreuung, wie sie die regionale Konzert- und Gastspieldirektion beabsichtigte, für falsch hielt. Seiner Auffassung nach sei vielmehr »ein komplexes politisches Programm für die Arbeit mit den Liedermachern zu erarbeiten«, 246 also erst einmal grundsätzlich politisch mit den Künstlern zu arbeiten. Die von den Geraer Tschekisten von Anfang an unterstellten »Verbindungen« der Künstler untereinander nahmen erst im Verlauf des Jahres 1983 konkretere Formen an. Sie entwickelten sich, begünstigt durch das provinzielle Milieu in der vergleichsweise kleinen Künstlerszene, zwischen den Musikern und den Theaterleuten der Bezirkshauptstadt, speziell der Puppenbühne und ihrem Ensemblemitglied Martin Morgner, der dort als künstlerisches Multitalent (Dramaturg, Puppenspieler und Autor) wirkte. Diese sich mehr oder weniger spontan entwickelnde künstlerische Zusammenarbeit wurde nicht von »Hintermännern« gesteuert, wie die Staatssicherheit stets mutmaßte, noch verlief sie nach einem vorsätzlich gefassten Plan. 247 Die Geraer MfS-Offiziere rochen wieder einmal Feuer, als es noch gar keinen Funken gab. Frühe Alternativprojekte Martin Morgners im Fokus der Staatssicherheit Schon 1978 geriet Martin Morgner 248 das erste Mal ins Visier der Staatssicherheit. Er wurde sowohl im Rahmen des OV »Puppe« als auch des OV »Künstlergemeinschaft« geheimpolizeilich überwacht. 249 Der Geraer Staatssicherheit zufolge bestand das Ziel der Künstlergemeinschaft darin, »sich frei von staatlichen Autoritäten und
245 KGD Gera: Einschätzung der Ergebnisse der 7. Tage des Chansons vom 23. bis 27.11.1983 in Frankfurt/O. v. 29.11.1983; ThStA Rudolstadt, BL der SED Gera, A 8239. 246 Brief Kathe an Paczulla v. 30.11.1983; ebenda. 247 Im Operativplan v. 4.11.1982 zum TOV »Bühne I« heißt es beispielsweise: »Wer sind die ›Hintermänner‹ in der DDR oder im Operationsgebiet, die auf die Gruppe direkt als Texter oder Mentor bzw. über Bernreuther und Morgner im antisozialistischem Sinne Einfluss ausüben.« BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 38. 248 Ausführlich zum künstlerischen Werdegang und der Biografie von Martin Morgner vgl. Jeannette van Laak, S. 101 f. und Martin Morgners eigener Beitrag: »Zusammensetzen des Zersetzten oder Heilung vom Akten-Aussatz« in diesem Band. 249 Vgl. Morgner, Martin: Deckname »Maske«. Die Künstlergemeinschaft Mecklenburg 1980/81. Eine Dokumentation. Berlin 1995.
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institutionellen Zwängen« zu entfalten. 250 Im Januar 1982 wurde der OV »Künstlergemeinschaft« eingestellt, weil die »operativen Maßnahmen zur Zersetzung der ›Künstlergemeinschaft‹ bzw. zur Disziplinierung der erfassten Personen ihre Wirkung erreicht haben«. 251 Mit anderen Worten, das MfS hatte kräftig daran mitgearbeitet, dass das alternative Projekt Künstlergemeinschaft scheiterte. Nur wenig später wurde Martin Morgner erneut in einer OPK und mit der Eröffnung des ZOV »Bühne« in einem Teilvorgang »Bühne IV« observiert und belauscht. Für den Teilvorgang zeichnete die Kreisdienststelle Gera Stadt 252 verantwortlich, die wiederum Major Karl-Heinz Erker und Leutnant Norbert Witt 253 mit der Durchführung der geheimpolizeilichen Arbeit vor Ort beauftragte. In der schon mehrfach erwähnten Gesamtbearbeitungskonzeption zum ZOV »Bühne« lesen wir zu Martin Morgner: »M. gehörte zum aktiven Kern von Kräften, die 1981 die Bildung einer ›Künstlergemeinschaft‹ vorbereiteten. Diese sollte Kommune-Charakter tragen und sozialismuskritischen Künstlern verschiedener Genres die Möglichkeit bieten, ohne staatliche und gesellschaftliche ›Zwänge‹ kulturelle Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen.« 254
Martin Morgner hatte Mitte der 1970er Jahre am Puppentheater OestreichOhnesorge, welches als Sparte in die »Bühnen der Stadt Gera« integriert war, ein Engagement als Puppenspieler angetreten. Seit Anfang der 1980er Jahre prägte er auch als Dramaturg und Stückeschreiber das Profil und Repertoire des Geraer Puppentheaters. Morgner hatte Kontakt zur Oppositionsszene im nahe gelegenen Jena und verkehrte mit einigen Gleichgesinnten in der Bezirkshauptstadt Gera. Aus der Perspektive der Geraer Staatssicherheit hatte er eine »verfestigte feindliche Einstellung zu den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR«. 255 Neben seiner künstlerischen Tätigkeit am Puppentheater schrieb Martin Morgner Texte für verschiedene Musikgruppen, darunter auch die Gruppe »Liedehrlich«. Zu diesen Texten notierte die Bezirksverwaltung Gera, dass sie pazifistischen Charakter trügen und
250 KD Gera: Beschluss zum Anlegen des OV »Künstlergemeinschaft« v. 11.2.1981; BStU, MfS, BV Gera, AOV 215/82, Bd. I, Bl. 151. 251 KD Gera: Beschluss zur Einstellung des OV »Künstlergemeinschaft« v. 12.1.1982; ebenda, Bl. 152. 252 Neben der Sicherung des Industriezweiges »Wismut« gehört die Bearbeitung des TOV IV zu den politisch-operativen Schwerpunkten der KD Gera Stadt. Vgl. KD Gera: Planvorgaben zur grundsätzlichen politisch-operativen Ziel- und Aufgabenstellung bei der Durchdringung/Sicherung politisch-operativer Schwerpunkte v. 12.11.1982; BStU, MfS, BV Gera, BdL-Dok. Nr. 1343. 253 Karl-Heinz Erker, geboren 1943, war seit 1970 Mitarbeiter des MfS. Ab 1982 Referatsleiter in der KD Gera. 254 KD Gera: Planvorgaben zur grundsätzlichen politisch-operativen Ziel- und Aufgabenstellung bei der Durchdringung/Sicherung politisch-operativer Schwerpunkte v. 12.11.1982; BStU, MfS, BV Gera, BdLDok. Nr. 1343, Bl. 28. 255 BV Gera, Abt. XX/7: Gesamtbearbeitungskonzeption zur Eröffnung und Bearbeitung des zentralen Operativ-Vorganges »Bühne« in der Abteilung XX v. 16.8.1982; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 33.
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häufig eine ablehnende Haltung zu den »Sicherheits- und Vollzugsorganen des Staates widerspiegeln«. Bei der »operativen Bearbeitung« von Martin Morgner ging es dem MfS, analog der Teilvorgänge I und III, grundsätzlich darum, »seine Wirkungsmöglichkeiten in der Öffentlichkeit, im Freizeitbereich und in den unterschiedlichsten Medien der DDR einzuschränken«. In der konkreten operativen Arbeit bedeutete das in erster Linie, mit allen zur Verfügung stehenden geheimpolizeilichen Methoden die Veröffentlichung von Martin Morgners literarischen Texten mit »negativ-feindlichem« Inhalt zu verhindern. In der Diktion des MfS hieß das nichts anderes als den von diesen Texten ausgehenden Einfluss »auf negativ-feindliche und dekadente Personen« 256 zu unterbinden. Außerdem hatte sich die Kreisdienststelle Gera-Stadt zum Ziel gesetzt, alle Verbindungen und Kontakte Martin Morgners im In- und Ausland festzustellen. Die künstlerischen Aktivitäten von Martin Morgner und dem Geraer Puppentheater – Der Teilvorgang »Bühne IV« Zur weiteren Überwachung von Martin Morgner hatte die Kreisdienststelle GeraStadt im November 1982 einen Operativplan mit diversen Zielstellungen aufgesetzt. Im Kern ging es ihr im Falle von Martin Morgner um die Begrenzung und Beschneidung seiner künstlerischen Entfaltungs- und Wirkungsmöglichkeiten sowie um die Beschaffung offiziellen und inoffiziellen Beweismaterials über seine künstlerische Tätigkeit. Diese sollte bereits im Vorfeld erkundet und, wenn von der politischen Geheimpolizei als notwendig erachtet, gestört werden. 257 Durch den gezielten Einsatz von inoffiziellen Mitarbeitern sollten insbesondere folgende Fragen beantwortet werden: An welchen Stücken arbeitet Martin Morgner, welchen Einfluss nimmt er auf die Ensemblemitglieder des Puppentheaters und auf welche Art und Weise versucht er seine Stücke zur Aufführung zu bringen? Der für den Teilvorgang »Bühne IV« zuständige operative Mitarbeiter, Leutnant Witt, konnte anfangs mit dem GMS »Bauer« nur auf einen IM zurückgreifen. Bei »Bauer« handelte es sich laut MfS-Unterlagen um den Direktor der Puppenbühne Erhard Oestreich.258 Der gelernte Kfz-Schlosser hatte sich an der von seinem Vater bis 1962 privat geführten Puppenbühne Oestreich/Ohnesorge 259 vom Kraftfahrer und 256 KD Gera: Planvorgaben zur grundsätzlichen politisch-operativen Ziel- und Aufgabenstellung bei der Durchdringung/Sicherung politisch-operativer Schwerpunkte v. 12.11.1982; BStU, MfS, BV Gera, BdLDok. Nr. 1343, Bl. 29. 257 KD Gera: Operativplan zum TOV »Bühne« IV v. 15.11.1982; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 55 ff. 258 Zur Biografie von Erhard Oestreich siehe auch Jeannette van Laak: Kap. »Die Geraer Künstlerszene« in diesem Band, S. 91. 259 Zur Geschichte des Geraer Puppentheaters Oestreich-Ohnesorge siehe Jeannette van Laak: »Das Repertoire …« in diesem Band und Haase, Baldur: Kasper kontra Mielke. Erfurt 1999.
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einfachen Puppenspieler bis zum Direktor des zwischenzeitlich zum Theater der Stadt Gera gehörenden Puppentheaters heraufgearbeitet. Der Genosse Erhard Oestreich war von 1964 bis zum Herbst 1989 als IM bzw. GMS für die Staatssicherheit tätig. 260 Um die Aufführung der angeblich gegen die SED-Kulturpolitik verstoßenden Stücke von Martin Morgner in Zukunft zu verhindern und Einflussnahme auf seine weitere künstlerische Entwicklung nehmen zu können, beabsichtigte die Staatssicherheit, in seinem beruflichen und privaten Umfeld systematisch IM in »Schlüsselpositionen« zu werben und Kontaktpersonen zu installieren. Darüber hinaus sollte in Zusammenarbeit mit der Abteilung XX der Bezirksverwaltung nach Möglichkeiten gesucht werden, Martin Morgners Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten generell einzuschränken. Beispielsweise sollte über leitende Kader beim Rat des Bezirkes, Abteilung Kultur, der mit Martin Morgner bestehende Fördervertrag verändert werden. Außerdem sah der Operativplan eine kontinuierliche Zusammenarbeit mit der Abteilung XX der regionalen Bezirksverwaltung und der Kreisdienststelle Stadtroda vor. 261 Nach »Tante Eugenie und der Mond« sowie dem tschechischen Märchen »Die Prinzessin mit dem Echo« 262 erlangte das Geraer Puppentheater mit der Inszenierung der »Kaspariade« im Frühjahr 1983 große Aufmerksamkeit in der gesamten Republik. 263 Mit Martin Morgners Neu- und Nachdichtungen für die Textvorlage betrieb das Puppentheater Oestreich/Ohnesorge eine moderne Stückentwicklungspraxis. In einem Papier des Ministeriums für Kultur zur Entwicklung des Puppentheaters in der DDR können wir lesen, das »über die Hälfte aller Spieltexte für die Puppentheater« von den verschiedensten Mitarbeitern dieser Theater selbst geschrieben werden. »Diese Praxis entspringt der Tradition des Puppenspiels und hat den Vorzug, die konkreten Voraussetzungen und Bedingungen für eine Inszenierung im jeweiligen Ensemble oder einzelner Spieler einbeziehen zu können.« 264
Zur Premiere der »Kaspariade« hatten sich Kulturjournalisten und Theaterkritiker des »Neuen Deutschland«, der Geraer »Volkswacht«, der »Weltbühne«, des »Sonntag« und der Fachzeitschrift »Theater der Zeit« angemeldet. Schon allein 260 Vgl. BStU, MfS, BV Gera, AIM 910/76 und BStU, MfS, BV Gera, X/1108/80. Siehe auch Haase: Kasper kontra Mielke (Anm. 259), S. 15 ff. 261 Vgl. ebenda. 262 1982 hatte das Puppentheater auf dem III. Puppentheaterfestival in Magdeburg für diese Inszenierung einen der drei Hauptpreise erhalten. In einer Vorlage für eine Sitzung der SED-Kreisleitung Gera-Stadt wird diese Inszenierung zu den profilbestimmenden Aufführungen des Geraer Theaters gerechnet. Vgl. RdSt Gera; Stadtrat f. Kultur: Vorlage für die Sitzung des Sekretariats der KL Gera Stadt der SED v. 26.10.1981; ThStA Rudolstadt, KL der SED Gera-Stadt IV/D-/03/114, Bl. 35. Zur Aufführung siehe Jeannette van Laak: »Das Repertoire der Kunstszene Geras«, S. 106 f. 263 Vgl. Jeannette van Laak: »Das Repertoire der Kunstszene Geras«; ebenda. 264 Konzeption zur Entwicklung des Puppentheaters in der DDR in den 1980er Jahren. Vorlage Nr. 63/83 für die Dienstberatung beim Minister für Kultur am 1.8.1983; BArch DR 1/9491.
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dieses, für eine Provinzbühne ungewöhnlich große öffentliche Interesse dürfte Erhard Oestreich als Direktor des Puppentheaters geschmeichelt und ihn darin bestärkt haben, sich für die DDR-Erstaufführung der »Kaspariade« an »seinem« Haus einzusetzen. Um die zu erwartende positive öffentliche Aufmerksamkeit und damit den eigenen »Ruhm« als Theaterleiter nicht zu gefährden, hielt es Erhard Oestreich in seiner Rolle als »GMS Bauer« für angebracht, die Genossen des MfS zwar über die bevorstehende Premiere zu informieren, etwaige politische Probleme mit der Aufführung aber grundsätzlich zu bagatellisieren. So erwähnte er dem MfS gegenüber, dass die Inszenierung zwar »noch einige Unzulänglichkeiten« aufweise, er aber insgesamt keine grundsätzlichen Einwände gegen die Aufführung habe. Dabei verschwieg »Bauer« nicht, dass die Aufführung teilweise außerhalb des Theatergebäudes, genauer gesagt auf deren Vorplatz und damit gegenüber der MfSBezirksverwaltung stattfinde. Ferner wies der Informant darauf hin, dass in der Inszenierung »eine aus Papier geformte Figur an einem Gestell verbrannt« werde. »Während dieser Szene zeigt das Schauspielensemble in Richtung Haus I der Bezirksverwaltung Gera und spricht mit mehrmaliger Wiederholung den Text: ›Da sind die Bösen‹. Nachdem die Puppe verbrannt ist, bleibt ein Holzkreuz stehen. Nach Einschätzung unserer Quelle wäre das Zeigen in Richtung Haus I rein zufällig, da sich die Puppenbühne eben an diesem Ort befindet.« 265
Im Unterschied zu ihrem taktierenden IM war die Kreisdienststelle Gera-Stadt jedoch der Ansicht, »dass die von Morgner erarbeiteten Textpassagen und Zwischenstücke so gehalten sind, dass Interpretationen gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung möglich sind«. 266 Außerdem versuchte die Kreisdienststelle die Situation gezielt zu dramatisieren. So behauptete sie allen Ernstes gegenüber der SEDBezirks- und Kreisleitung sowie dem Rat des Bezirkes, dass durch diese Theateraufführung in Gera »Jenaer Verhältnisse« 267drohten, die unter allen Umständen verhindert werden müssten. Was war mit »Jenaer Verhältnissen« gemeint? Aus MfS-Perspektive hatte sich 1983 »Jena zu einem Zentrum des Widerstandes mit Fanalwirkung entwickelt«. 268 Bereits im November 1982 war es dort einer Gruppe von 80 Personen (»Jenaer Friedensgemeinschaft«) gelungen, einen Schweigemarsch mit eigenen Plakaten zu organisieren. Bei dem Versuch, diese Aktion am 24. Dezember zu wiederholen, zerschlugen Sicherheitskräfte die Demonstration. Die Jenaer Innenstadt war von bewaffneten Kräften komplett abgeriegelt worden. Es folgten Flugblattaktionen und Beteiligungen an politischen Veranstaltungen in der Universität, auf denen eigenständige Positionen eingebracht wurden. Trotz Verhaftungen nahm »die Friedens265 KD Gera: Operativinformation v. 15.4.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. II, Bl. 108. 266 KD Gera: Sachstandsbericht v. 30.5.1983; ebenda, Bl. 114 ff. 267 KD Gera: Information v. 4.5.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 5/87, Bd. II, Bl. 38. 268 BV Gera: Unterlagen zu einer Dienstkonferenz o. D. [Herbst 1983]; BStU, MfS, BV Gera, AKG 3346, Bl. 7.
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gemeinschaft« im März 1983 erneut mit selbstgefertigten Plakaten an einer offiziellen Gedenkkundgebung anlässlich des 38. Jahrestages der Bombardierung von Jena teil. »Die Kundgebung auf dem Jenaer Marktplatz beginnt, als sich plötzlich aus der Hofdurchfahrt des Hauses der Jungen Gemeinde kommend ein kleiner Demonstrationszug auf die Menge zubewegt. ›Verzichtet auf Gewalt‹, steht auf dem Transparent, das Roland Jahn vorneweg trägt, andere in der rund 30-köpfigen Schar fordern auf Plakaten: › Entrüstet Euch‹, ›Militarismus raus aus unserem Leben‹ oder ›Weg mit dem Kriegsspielzeug‹. Einer der Protestmarschierer, der Künstler Frank Rub, erinnert sich: ›Viele Leute auf dem Markt waren sehr verdutzt, als sie uns bemerkten. Es war auch zu sehen, dass wir nicht für die Meinung der Partei, sondern für unsere eigene Meinung demonstrierten. Manche haben hämisch gelacht und uns als Asoziale beschimpft.‹ Weit kommt das Häuflein Aufmüpfiger nicht. Nach kaum 100 Metern werden sie von Sicherheitskräften in Zivil umringt, man entreißt ihnen die Plakate, zerfetzt sie und schlägt auf Demonstranten ein, auch auf Roland Jahn. Ein Stasi-Mann haut ihm sein Protestschild mit dem Slogan ›Verzichtet auf Gewalt‹ auf den Kopf. Es zerbricht. Scheinbar geschlagen ziehen die Protestierer ab.« 269
Im Mai des gleichen Jahres wurden in einer einmaligen Aktion 40 Personen (Deckname »Gegenschlag«) in den Westen abgeschoben. 270 In einem Stasi-Bericht lesen wir: »Durch diese Aktion wurde der auf eine offene Konfrontation mit der sozialistischen Staatsmacht ausgerichtete aktive handlungsbereite Kern der konterrevolutionären Gruppierung in Jena im Wesentlichen zerschlagen.« 271
Von »Jenaer Verhältnissen« in Gera zu sprechen, entbehrte jeder ernsthaften Grundlage. Offenkundig hatten sich bis zur Generalprobe die zuständigen Einrichtungen des Partei- und Staatsapparates in der ostthüringischen Bezirkshauptstadt nicht für die geplante Aufführung interessiert. Beispielsweise gab sich die Kulturabteilung beim Rat des Bezirkes mit der Auskunft des Intendanten der Städtischen Bühnen, Heinz Schröder, zufrieden, »dass der Inhalt [des Stückes – M.B.] politisch sauber sei«. 272 Auf welcher Grundlage der Intendant dieses Werturteil gefällt hatte, bleibt unklar, 269 Praschel, Gerald: Roland Jahn. Ein Rebell als Behördenchef. Berlin 2011, S. 73. 270 Zur Entwicklung der Jenaer Oppositionsszene siehe u. a. Scheer, Udo: Vision und Wirklichkeit. Die Opposition in Jena in den siebziger und achtziger Jahren. Berlin 1999 und Pietzsch, Henning: Der »Weiße Kreis« in Jena. In: Ansorg, Leonore u. a.: »Das Land ist still – noch!«. Herrschaftswandel und politische Gegnerschaft in der DDR (1971–1989). Köln, Weimar, Wien 2009, S. 291–302. 271 BV Gera, AKG: Einschätzung des Standes und der Ergebnisse der pol.-op. Arbeit zur komplexen Bekämpfung der PUT und Aufklärung oppositioneller Kräfte auf der Grundlage der Zuarbeit der Abt. XX, KD Jena und AKG v. 15.9.1983; BStU, MfS, BV Gera, AKG SLK 2433. Innerhalb eines Jahres sind durch sog. Sonderfestlegungen des MfS rund 170 erwachsene Personen in den Westen abgeschoben worden. Davon gehörten über 100 der »Jenaer Friedensgemeinschaft« bzw. der »Jenaer Ausreisegemeinschaft« an. Nach Einschätzung der Bezirksverwaltung Gera wären dadurch die Aktivitäten beider Gruppen erheblich eingeschränkt worden. 272 KD Gera: Operativinformation v. 23.4.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. II, Bl. 99.
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denn weder er noch sein Chefdramaturg Eberhard Kneipel hatten sich, MfSUnterlagen zufolge, für die Textvorlage interessiert 273 bzw. Proben besucht. 274 Gleichwohl schätzte der Leiter der Kreisdienststelle Gera-Stadt, OSL Martin Erhardt, 275 die Inszenierung und Textwahl dahingehend ein, »dass Interpretationen gegen unsere Gesellschaft möglich sind«. Angesichts der Tatsache, dass für die zwei Tage später anberaumte Premiere bereits alle regionalen und etliche überregionale Zeitungen eingeladen waren und obendrein die Absicht bestand, die Inszenierung auf einem internationalen Kongress der UNIMA 276 in Dresden zu zeigen, war jedoch der operative Handlungsspielraum für die Kreisdienststelle stark eingeschränkt. Demzufolge schlug OSL Erhardt der Leitung der Bezirksverwaltung lediglich vor, »über die Abteilung Kultur beim Rat des Bezirkes (durch die Abteilung XX) zu veranlassen, dass die [beschriebene] Szene so geändert wird, dass keine Zusammenhänge zwischen Stück und MfS deutbar und möglich sind«.
Seinerseits werde er den 1. Sekretär der SED- Kreisleitung »in geeigneter Form vom Sachverhalt informieren«. 277 Welche Bedeutung die regionale Staatssicherheit der Präsenz überregionaler Printmedien bei Theaterpremieren beimaß, können wir einer Diplomarbeit der Juristischen Hochschule des MfS zum Thema »der politisch-ideologischen Diversion im Kulturbereich« des Bezirkes Gera entnehmen. In dieser Arbeit wurde die Einladung überregionaler Zeitungen zu Premieren als ein »Versuch zur Druckausübung auf leitende staatliche Organe im Bereich Kultur durch Erzwingen der Aufführung von Puppenspielen und Theaterstücken antisozialistischen Inhaltes [gewertet]«. 278 Erst durch die Intervention der Kreisdienststelle aufgeschreckt, erhielt der Intendant der Städtischen Bühnen in allerletzter Minute vom Rat des Bezirkes die Anweisung, dem Ensemble des Puppentheaters noch vor dem Beginn der Premierenvorstellung
273 Ebenda. 274 Für seine vernachlässigte Leitungstätigkeit wurde der Intendant später von der SED-Bezirksleitung gemaßregelt. »In prinzipienfesten und vertrauensvollen Gesprächen, die unsererseits wiederholt geführt werden, haben wir ihn auf seine Verantwortung für eine straffe und effektive Leitungstätigkeit und eine konsequente ideologische Auseinandersetzung hingewiesen«, heißt es in einer Analyse der SED-Bezirksleitung zur politischen Arbeit mit den Künstlern des Bezirkes. Vgl. SED-BL Gera, Abt. Wissenschaft/Vobi/Kultur: Analyse und Schlussfolgerungen zur politischen Arbeit mit den Künstler des Bezirkes v. 18.6.1982; ThStA Rudolstadt, BL der SED Gera, A 7759. 275 Siehe Katharina Lenski in diesem Band, S. 267 f. 276 Union Internationale de la Marionette (Internationale Vereinigung für Puppenspiel). 277 KD Gera: Operativinformation v. 15.4.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. II, Bl. 108. 278 Vgl. Rolf Jahn: »Die Realisierung der Einheit von Erkennen feindlicher Ziele und Absichten der politisch-ideologischen Diversion und der offensiven vorbeugenden Verhinderung ihrer gesellschaftsschädigenden Auswirkungen durch den Einsatz von IME-Schlüsselpositionen im Prozess der politisch-operativen Sicherung und Durchdringung des Bereiches Literaten/Texter im Bezirk Gera« (Diplomarbeit); BStU, MfS, JHS 20133, Bl. 14.
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mitzuteilen, dass weitere Aufführungen »aus Sicherheits- und verkehrstechnischen Gründen nicht mehr in der Puppenbühne gespielt werden können«. 279 Dessen ungeachtet wurde der Premierenabend ein großer Erfolg. Etwa 180 Zuschauer, unter ihnen die bereits angekündigten Pressevertreter, bedankten sich bei dem Ensemble mit großem Applaus. Selbst die Bezirksverwaltung kam nicht umhin, in einer internen Einschätzung von einer »hohen künstlerischen Leistung« 280 zu sprechen. Einer weiteren Information der Kreisdienststelle Gera Stadt ist zu entnehmen, dass die kryptische Mitteilung des Intendanten über das weitere Schicksal der Inszenierung von den Ensemblemitgliedern als zukünftiges Aufführungsverbot verstanden wurde und dementsprechende Empörung hervorrief. »Unter den Mitarbeitern der Puppenbühne und an den Bühnen der Stadt Gera wird offen darüber gesprochen, dass das Stück von der Staatssicherheit verboten wurde und aus diesem Grunde auch die Veranstaltung [Aufführung – M.B.] für den 21. April 1983 abgesetzt wurde.« 281
Eine Aktennotiz der SED-Bezirksleitung bestätigt jedoch weder das Verbot der »Kaspariade« durch die Staatssicherheit noch deren Bewertung der Aufführung als ein grundsätzliches Sicherheitsrisiko, wenn es darin heißt: »Obwohl in den Proben und zur Premiere […] alles ohne ideologisch falsche Bekundungen vonseiten des Publikums ablief, besteht für keine der weiteren Aufführungen die Garantie, dass eine falsche Einbeziehung des Gebäudes der Staatssicherheit in unmittelbarer Nähe durch Puppenspieler, Publikum oder Medien ausgeschlossen werden kann. Deshalb wurde durch staatliche Organe in Übereinstimmung mit der Puppenbühne festgelegt, die ›Kaspariade‹ auf anderen Spielstätten, z. B. Freilichtbühne Tierpark Gera, Jugendklub Gera-Lusan mit Kindergartengelände und ähnlichen Orten, künftig aufzuführen.« 282
Zu einer, im Nachgang der Premiere anberaumten Aussprache der Intendanz mit dem Puppentheaterensemble schickte die Leitung der Städtischen Bühnen Gera den Direktor des Puppentheaters vor. Unter Berufung auf die Stadtordnung verkündete der zunächst einmal, dass »jegliches Spielen im Freien genehmigungspflichtig« sei. Solch eine Genehmigung sei aber nicht eingeholt worden. »Aus diesem Grund und wegen der geplanten Baumaßnahmen an der Puppenbühne kann die ›Kaspariade« nicht mehr aufgeführt werden«, so der Direktor. Diese Anordnung habe der Rat des Bezirkes getroffen. Sie werde von der Theaterleitung der Städtischen Bühnen mitgetragen, erklärte Direktor Oestreich seinem Ensemble. Daraufhin verlangten mehrere Ensemblemitglieder, unter ihnen Martin Morgner, vom Direktor, dass die »wirklichen Gründe« für die Absetzung des Stückes genannt werden sollten. Schließlich 279 KD Gera: Operativinformation v. 23.4.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. II, Bl. 98. 280 BV Gera, Abt. XX/7: Information v. 22.4.1983; ebenda, Bl. 96. 281 Ebenda, Bl. 97. 282 SED-BL, Abt. Wissenschaften/Volksbildung/Kultur: Aktennotiz Probleme der Inszenierung »Kaspariade« an der Puppenbühne Gera v. 21.4.1983; ThStA Rudolstadt, BL der SED Gera, A 8239.
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forderte das gesamte Ensemble, »mit demjenigen zu sprechen, der das Stück abgesetzt hat«. Angesichts der längst durch die SED-Bezirkleitung getroffenen Entscheidung, lenkte der Direktor nur scheinbar auf diesen massiven Protest hin ein, indem er nun erklärte, dass das Stück »in der Folgezeit im Tierpark Gera und im Jugendklub Lusan« aufgeführt wird. 283 Welche grundsätzliche Haltung die SED-Bezirksleitung zu der Aufführung einnahm und was die Geraer MfS-Offiziere von dem Grundsatz hielten, stets nur Auftragnehmer der Partei zu sein, darüber haben wir bereits einiges erfahren. Aus einer Information des FIM »Miller«, also eines sogenannten Führungs-IM, dessen Hauptaufgabe darin bestand, mehrere IM anstelle eines Führungsoffiziers anzuleiten, geht u. a. hervor, welchen Stellenwert der Genosse Klante, Sektor Kultur der SEDBezirksleitung Gera, der Aufführung der »Kaspariade« zubilligte. So habe er in einem Gespräch mit einem anderen Genossen der Bezirksleitung davon gesprochen, »dass bereits Maßnahmen eingeleitet sind und das MfS sich um diese Geschichte kümmert. Außerdem sei der Inhalt des Stückes gar nicht so politisch brisant und die davon ausgehenden Wirkungen seien gering, da bei jeder Veranstaltung nur ein kleiner Personenkreis anwesend wäre.« 284
Diese Information stammte von Ottomar Koppe. Koppe war langjähriger stellvertretender Abteilungsleiter der Abteilung Kultur im Rat des Bezirks und bereits seit den 1960er Jahren für das MfS als inoffizieller Mitarbeiter »Fritz Miller« tätig. Er leitete zeitweilig fünf IM an und wurde aufgrund seiner offiziellen Tätigkeit für die Erarbeitung von Überblicksdarstellungen eingesetzt. 285 »Millers« Information gab die Abteilung XX an den Stellvertreter Operativ der Bezirksverwaltung mit der Bemerkung weiter, dass sie nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt sei. »Eine Auswertung gegenüber der SED-Bezirksleitung würde Rückschlüsse auf unsere Quellen zulassen.« 286 Ein Beispiel von vielen, wie sich das MfS auch gegenüber dem Parteiapparat abschirmte. Die Staatssicherheit unterrichtete zwar regelmäßig die 1. Sekretäre der SED-Bezirks- und Kreisleitungen über ihre Erkenntnisse, aber sie achtete zugleich darauf, keinen Einblick in ihre inneren Strukturen, Methoden und den Bestand ihrer inoffiziellen Mitarbeiter zu geben. Im Zuge der sich für die Staatssicherheit entwickelnden politisch-operativen Brisanz, schob die Kreisdienststelle Gera in Sachen »Kaspariade«-Aufführung eine ergänzende Information an den Stellvertreter Operativ der Bezirksverwaltung nach. In dieser wurde erneut auf der Basis mehrerer IM-Berichte eine inhaltliche Bewer283 KD Gera: Operativinformation v. 23.4.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. II, Bl. 99. 284 BV Gera, Abt. XX: Information v. 19.7.1983; ebenda, Bl. 129. 285 BV Gera, Abt. XX/7: Auskunftsbericht zu Ottomar Koppe v. 12.10.1973; BStU, MfS, BV Gera, 01/2915/81. 286 BV Gera, Abt. XX an Stellvertreter Operativ: Information v. 25.7.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. II, Bl. 128.
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tung des Stückes vorgenommen, Martin Morgner als Verfasser der »gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung gerichteten« Textstellen benannt und von einer Vernachlässigung der Aufsichtspflicht der Theaterleitung gesprochen. 287 Zunächst einmal schob die Kreisdienststelle alle Versäumnisse und Sicherheitsmängel den staatlichen Einrichtungen zu. Von eigener Verantwortung, etwa vorbeugend wirksam zu werden, kein Wort. Der Leiter der Kreisdienststelle schloss mit der Mitteilung, dass in Zukunft alle Stücke vor der Aufführung von der Leitung der Bühnen der Stadt Gera geprüft (»begutachtet«) werden. Lediglich in diesem Punkt stimmte die Abteilung Wissenschaft/Volksbildung/Kultur der SED-Bezirksleitung mit der Bewertung der MfS-Kreisdienststelle überein. »Inszenierungen und Vorhaben sind konzeptionell und in der Ausführung sorgfältiger zu planen und durch die Intendanz zu kontrollieren.« 288 Alle anderen, vom MfS als Sicherheitsrisiko aufgelisteten Details, fanden in einer entsprechenden Aktennotiz der Bezirksleitung keinerlei Erwähnung oder wurden moderater eingeschätzt. 289 Ein in seiner Deutlichkeit eher selten überliefertes MfS-Dokument gibt uns Einblick darüber, wie der Stellvertreter Operativ der Bezirksverwaltung, also der zweite Mann in der Hierarchie der Bezirksverwaltung, Oberstleutnant Jürgen Seidel, die Vorgänge um die »Kaspariade« einschätzte. Nach der Durchsicht des oben beschriebenen Materials stellte Seidel dem Leiter der Abteilung XX (seinem Untergebenen) gegenüber fest, dass es kaum möglich sei, Martin Morgner nachzuweisen, dass er auf dem Theater »negativ-feindliches Gedankengut und solches pazifistischer Art an das Publikum bringen [will]«. Erschwerend komme hinzu, so Seidel, dass »die dafür zuständigen Organe einfach ihre Pflichten nicht wahrnehmen«. Aus diesem Umstand resultierte für ihn, »dass wir diesen Burschen mal wieder ordentlich auf die Zehen treten. 1. Rat der Stadt, Abteilung Kultur durch die Kreisdienststelle. 2. Rat des Bezirkes, Abteilung Kultur durch die XX.« Im Unterschied zu den vorausgegangenen Einschätzungen warf der Stellvertreter Operativ die grundlegende Frage auf: »Haben wir die richtigen IM bzw. haben wir einen Mann seines Vertrauens?« Diese Frage gelte es in der nächsten Vorgangsberatung, so der leitende MfS-Offizier, ganz konkret zu behandeln. Abschließend schätzte Seidel die Lage realistisch ein, wenn er schrieb: »Wissen wir um die Dinge, könnten wir über die vorhandenen Schlüsselpositionen Einfluss auf diese Leute ausüben. Sonst betreiben wir immer eine sogenannte Politik des Nachtrabens.« 290 Nach dieser Einschätzung kam auch die Kreisdienststelle Gera nicht mehr umhin, die vom Stellvertreter Operativ aufgedeckten Schwächen zu benennen. So heißt es in ihrem Zwischenbericht vom 25. April 1983 im Hinblick auf die strafrechtliche 287 KD Gera: Operativinformation v. 23.4.1983; ebenda, Bl. 98 f. 288 SED-BL, Abt. Wissenschaften/Volksbildung/Kultur: Aktennotiz Probleme der Inszenierung »Kaspariade« an der Puppenbühne Gera v. 21.4.1983; ThStA Rudolstadt, BL der SED Gera, A 8239. 289 Ebenda. 290 BV Gera, OSL Seidel an Abteilung XX OSL Müller persönlich v. 29.4.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. II, Bl. 102.
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Relevanz von Martin Morgners Tätigkeit: »Strafrechtliche Wertungen können zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht vorgenommen werden«. Zur Effektivität der IM-Arbeit gestand der Bericht ebenfalls Defizite ein. Insgesamt räumte die Kreisdienststelle jetzt ein, dass es Martin Morgner in den zurückliegenden Monaten gelungen war, durch seine literarisch-künstlerischen Arbeiten »bekannt zu werden«. Im Umkehrschluss bedeutete das nichts anderes, als dass die Staatssicherheit ihre Zielstellung der »vorbeugenden Aufklärung und Verhinderung von Aktivitäten, die zum Unterlaufen der Kulturpolitik der DDR beitragen«, nicht erreicht hatte. Dafür legten neben der »Kaspariade« auch Liedtexte für die Gruppe »Liedehrlich«, die außerdem im Fernsehen und auf einer Schallplatte Verbreitung gefunden hatten, sowie eine ganze Reihe publizistischer Arbeiten ein beredtes Zeugnis ab. Erneut hatte sich gezeigt, dass durch die unterschiedlichen Interessenlagen innerhalb des regionalen Partei- und Staatsapparates im wahrsten Sinne des Wortes sich für die Künstler erweiterte Spielräume ergaben, weil sich die Hardliner in der Mehrzahl der Fälle nicht durchsetzen konnten. Deshalb musste die lokale Staatssicherheit mehrmals klein beigeben. Aus ihrer fatalen Bilanz schlussfolgerte die Kreisdienststelle Gera-Stadt: »Neufassung des Operativplanes auf der Grundlage von zu erfolgenden Absprachen mit der Abteilung XX der Bezirksverwaltung Gera.« 291 Dazu gehörte die Auftragserteilung an Erhard Oestreich, alias GMS »Bauer«, die »Leitungstätigkeit und den politischideologischen Zustand an den Bühnen der Stadt« 292 einzuschätzen. Da Erhard Oestreich zu keinem Zeitzeugeninterview bereit war, sind wir bei dem Versuch, eine Antwort auf die Frage nach seinen Motiven für eine inoffizielle Tätigkeit für das MfS finden zu wollen, auf die Auswertung seiner IM-Akte angewiesen. Es scheint, dass das MfS zumindest bei »der Gesamtabsicherung des Bereiches Puppenbühne« alternativlos auf den GMS »Bauer« angewiesen war. Mit Erhard Oestreich hatte sie zumindest zu Beginn seiner inoffiziellen Mitarbeit (1960er Jahre) einen durchaus willigen IM gefunden, der in der Regel alle ihm übertragenen Aufträge 293 ohne Wenn und Aber ausführte, ohne nennenswerte eigene Vorschläge zu entwickeln. So heißt es auch noch in einer Beurteilung vom Herbst 1983 – Oestreich war längst Direktor des Puppentheaters – dass der GMS »Bauer« »als Schlüsselposition« jeden Auftrag angenommen und mit »guter Qualität« 294 gelöst hat. Indem Erhard Oestreich im weiteren Verlauf seiner IM-Tätigkeit sämtliche Stücktexte an die Staatssicherheit weitergab, ihr Kleidungsstücke von Mitarbeitern für Geruchsproben zur Verfügung stellte, Einschätzungen über die Ensemblemit291 KD Gera: Zwischenbericht zum ZOV »Bühne«, Teilvorgang »Bühne IV« v. 25.4.1983; ebenda, Bl. 103–107. 292 KD Gera: Treffbericht mit »Bauer« v. 6.5.1983; BStU, MfS, BV Gera, X 1108/80, Bl. 152 f. 293 Über viele Jahre erhielt Erhard Oestreich seine Aufträge von FIM »Jens Uwe«. Hinter diesem Decknamen verbirgt sich der seit 1960 mit dem MfS inoffiziell zusammenarbeitende Walter Senf. Vgl. BStU, MfS, BV Gera, X 1199/60. 294 KD Gera: Beurteilung des GMS »Bauer« v. 12.10.1983; BStU, MfS, BV Gera, X 1108/80, Bl. 19.
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glieder und die künstlerische Leiterin des Puppentheaters lieferte 295 oder auch vermelden konnte, dass ihm »bisher noch nicht mit pazifistischen Haltungen in Erscheinung getretene« Tänzer, Musiker und Schauspieler aus den anderen Sparten des Theaters aufgefallen waren 296, hatte er sich für die Staatssicherheit zu einem unentbehrlichen IM entwickelt. Durch ihn war das MfS stets über die Sicherheitslage am Theater gut informiert. Der Genosse Oestreich hatte nicht nur politische Wachsamkeit und Zuverlässigkeit demonstriert, für die er vom MfS mit einer Medaille für treue Dienste der NVA in Gold ausgezeichnet wurde. Der unstudierte Leitungskader wähnte sich durch sein konspiratives Engagement vor etwaigen Begehrlichkeiten auf seinen Direktorensessel geschützt. In diesem Sinne verstand es Oestreich über die vielen Jahre seiner inoffiziellen Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit hinweg immer besser, aus der Erledigung der ihm aufgetragenen operativen Aufgaben sowohl unmittelbaren persönlichen Vorteil zu ziehen als auch den Fortbestand bzw. die Entwicklung des Puppentheaters und damit letztendlich auch seine eigene Karriere zu sichern. Dieses opportunistische, auf sein eigenes Fortkommen ausgerichtete Verhalten bescheinigte ihm auch die Kreisdienststelle Gera-Stadt in ihrem Abschlussbericht. Dort lesen wir: Der GMS »Bauer« habe »immer dann besonders gute Ergebnisse erzielt, wenn sich die Aufgabenstellungen mit dem persönlichen und beruflichen Interesse deckten«. 297
4. Bilanz nach einem Jahr ZOV »Bühne« Die aktuelle kulturpolitische Linie der Partei 298 stellte sich für die in der Region im Sicherungsbereich Kultur verantwortlichen MfS-Offiziere als ein großes Ärgernis dar. Das prägte die gesamte Berichterstattung zum ZOV »Bühne«. Nach reichlich einem Jahr Laufzeit stellte sich das in der Sprache der Bezirksverwaltung Gera wie folgt dar: »Die Vorgangspersonen unternehmen große Aktivitäten, um im künstlerisch-kulturellen Bereich ›bekannt und groß‹ zu werden, um ihre Wirksamkeit auf breite Kreise der Bevölkerung der DDR, vor allem auf Jugendliche und zum Teil Kinder, zu erhöhen.«
Bei diesen Bestrebungen bescheinigte ihnen die Bezirksverwaltung: »Durch geschickte Repertoire- und Programmgestaltung verantwortliche Mitarbeiter der Partei und staatlicher Organe von ihren Darbietungen zu täuschen [sic], um sich so Wegbereiter und
295 296 297 298
Vgl. die Arbeitsakte des GMS »Bauer« der KD Gera; ebenda. KD Gera: Treffbericht v. 7.3.1984; ebenda, Bl. 205. KD Gera: Abschlussbericht zu GMS-Akte v. 29.11.1989; ebenda, Bl. 62. Siehe Kurt Hagers neues Kulturkonzept in Kap. 2 bei Jeannette van Laak.
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Zugang zu zentralen Medien der DDR – beim Fernsehen, bei der Presse und dem Rundfunk – zu verschaffen.« 299
In diesem Fall von »Täuschung« zu sprechen, zeigte zweierlei. Zum einen wird hier von den MfS-Verantwortlichen offen ausgesprochen, dass sie sich, im Unterschied zu den Verantwortlichen in den Partei- und Staatsorganen, nicht von den Künstlern »täuschen« lassen. Demzufolge hielten sie es für ihre Pflicht, die Genossen in den genannten Institutionen zu warnen. Zum anderen wird zum wiederholten Male deutlich, welche Probleme die regionale Staatssicherheit mit den aktuellen kulturpolitischen Vorstellungen der Berliner Parteizentrale hatte, wenn der oberste SEDKulturfunktionär Hager beispielsweise davon sprach, »jede Enge und Einschränkung auf das politisches Theater zu vermeiden« oder etwa die »spezifischen Möglichkeiten jedes Genres zu nutzen und mit neuen Formen zu verbinden«. Gar das Plädoyer des SED-Chefideologen für die jungen Künstler, sie hätten ein Recht, »unvernünftig zu sein«, 300 dürfte bei den Geraer Tschekisten auf Unverständnis gestoßen sein. Sie machten ja bereits den Künstlern einen geradezu absurden Vorwurf daraus, dass sie eine hohe Popularität und Anerkennung in der Gesellschaft anstrebten. Die politische Einstellung der observierten Kulturschaffenden wurde unverändert als »negativ-feindlich« eingeschätzt. Zugleich wurde ihnen unterstellt, »ihre Aktivitäten auf Veränderungen des real-existierenden Sozialismus in der DDR und auf die Unterstützung der sogenannten staatlich unabhängigen Friedensbewegung« zu richten. Die »Kontakte und Verbindungen« der unter geheimpolizeilicher Beobachtung stehenden Künstler wurden weiterhin als »operativ bedeutsam« eingeschätzt, weil sie nach MfS-Auffassung vornehmlich mit »Gleichgesinnten« oder anderen bereits »operativ bearbeiteten Personen« verkehrten. Dass in der kleinen Geraer Kulturszene jeder jeden kannte, war normal. Die Abteilung XX der MfS Bezirksverwaltung Gera brauchte aber einen plausiblen Grund, ihren ZOV »Bühne« weiterzuführen. Ergo malten die Tschekisten in ihrer Einschätzung das Schreckgespenst einer »organisierten feindlich-negativen Gruppe« an die Wand. »Im Bearbeitungszeitraum wurde deutlich, dass sich die OV-Personen gut kennen, gemeinsame Verbindungen untereinander halten und sich gegenseitig in der Öffentlichkeitswirksamkeit unterstützen.« 301 Auch nach mehr als einem Jahr geheimpolizeilicher Tätigkeit kam die Bezirksverwaltung Gera nicht umhin, Informationsdefizite zum »Freizeit- und privaten Bereich« der überwachten Künstler zugeben zu müssen. Wir lesen: »Aus diesem Bereich muss künftig das Informationsaufkommen erhöht werden.« Dazu sollte der Einsatz von vier weiteren inoffiziellen Mitarbeitern beitragen. Außerdem musste die 299 BV Gera, Abt. XX/7: Zusammenfassende Einschätzung zum ZOV »Bühne« v. 22.7.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 61–66, hier 63. 300 Paczulla, August: Notizen der Beratung Kurt Hagers mit den Sekretären für Wissenschaft, Volksbildung und Kultur der SED-Bezirksleitungen am 25.1.1982; ThStA Rudolstadt, BL der SED Gera, A 8228. 301 Ebenda, Bl. 68.
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Abteilung XX/7 der Bezirksverwaltung einräumen, dass die »politisch-operative Zusammenarbeit« mit den örtlichen Behörden und Institutionen einiges zu wünschen übrig ließ. »Über IM in Schlüsselpositionen und staatliche Leiter [muss] erreicht werden, dass sich mehr durch die zuständigen staatlichen Organe mit den OV-Personen politisch-ideologisch und programmmäßig auseinandergesetzt wird.« 302 Die SED-Bezirksleitung zeichnete in ihrer internen Analyse »zur politischen Arbeit mit den Künstlern des Bezirkes« ein anderes Bild. Danach zeichne sich »im Bereich des künstlerischen Schaffens […] ein sichtbarer Aufschwung« ab. Er basiere, so die Analyse, auf der »politisch-ideologischen Arbeit, dem ideologisch-ästhetischen Meinungsstreit [und] der zielstrebigen politischen Führungstätigkeit« der Geraer Genossen. 303 Die Bezirksverwaltung Gera kritisierte zwar regelmäßig die Arbeit der staatlichen Einrichtungen, eine kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Defiziten, besonders in der Zusammenarbeit mit ihren inoffiziellen Mitarbeitern, fand dagegen nicht statt. Dies hätte u. a. bedeutet, sich von den in den Maßnahmeplänen immer wieder entworfenen idealtypischen Wunschvorstellungen eines IM, besonders eines IM in einer Schlüsselposition zu verabschieden und die operativen Ziele stärker an der gesellschaftlichen Realität auszurichten. Schließlich erwiesen sich die inoffiziellen Mitarbeiter keineswegs nur als willige Vollstrecker des MfS. War es vergleichsweise noch leicht, die IM zur Ermittlung und Weitergabe von Informationen zu gewinnen, so stellte sich im Falle des ZOV »Bühne« mehrfach heraus, dass vor allem bei der geforderten aktiven Durchsetzung disziplinierender und ausgrenzender Maßnahmen durch einen inoffiziellen Mitarbeiter die unterschiedlichsten Probleme auftraten. Dies konnte daran liegen, dass die sicherheitspolitischen Forderungen der Führungsoffiziere an ihre IM nicht mit deren kulturpolitischen Aufgaben oder deren Interessen als staatliche Leiter kompatibel waren, etwa der Förderung von Nachwuchstalenten oder der Qualitätssicherung von Veranstaltungen. Dies konnte der eigenen Karriere schaden oder zumindest den eigenen Ruf beschädigen und wurde deshalb abgelehnt oder nur halbherzig ausgeführt (z. B. als Leitungskader im Theater oder auch als leitender Kulturfunktionär). Ebenso konnte Übereifer in Form eines zu scharf verfassten und damit unbrauchbaren Gutachtens oder aber auch mangelnde Eigeninitiative und Unzuverlässigkeit der inoffiziellen Mitarbeiter dazu führen, dass die Wunschvorstellungen der Staatssicherheit nach Eingrenzung oder Verhinderung der Wirkungsmöglichkeiten der »OV-Personen« nur teilweise oder gar nicht in Erfüllung gingen.
302 Ebenda, Bl. 66. 303 SED-BL Gera, Abt. Wissenschaft/Volksbildung/Kultur: Analyse und Schlussfolgerungen zur politischen Arbeit mit den Künstlern des Bezirkes v. 18.6.1982; ThStA Rudolstadt, BL der SED Gera, A 8228, Bl. 1.
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Symptomatisch ist die Feststellung in der Diplomarbeit von Oberleutnant Rolf Jahn (Abteilung XX/7 der Bezirksverwaltung Gera), dass es in Gera für »ein ideologisches Abgleiten junger Künstler von der kulturpolitischen Linie der Partei« begünstigende Faktoren gäbe. Beispielsweise habe sich gezeigt, »dass die Abteilung Kultur des Rates des Bezirkes ihrer Verantwortung für die politischideologische Erziehung und künstlerisch-fachliche Anleitung der jungen Autoren und Liedermacher nicht im vollen Umfange gerecht wird und vorhandene Reserven in der Arbeit mit dem künstlerischen Nachwuchs nicht in vollem Maße ausgeschöpft werden.« 304
In dieser Einschätzung zeigt sich ein unterschiedliches Verständnis zweier Institutionen (MfS und Rat des Bezirkes) im Hinblick auf die Entwicklung und »Erziehung« von Nachwuchskünstlern und die damit verbundenen Probleme. So sahen die Kulturfunktionäre ihre primäre Aufgabe darin, auf der Grundlage der aktuellen Kulturpolitik Arbeitsmöglichkeiten für die Nachwuchskünstler zu organisieren und damit zugleich Voraussetzungen für einen kontinuierlichen sozialistischen Kulturbetrieb in der Region zu etablieren. Durch die kulturpolitischen Öffnungsexperimente der Parteiführung ergaben sich für beide Seiten neue Spielräume. Bei deren Erprobung konnten sich die Kulturfunktionäre auf die Hager'sche Entpolitisierungskampagne der Kunst beziehen. Dem stand bei den Geraer MfS-Offizieren die Betonung der sicherheitspolitischen Aspekte bei der Entwicklung der Nachwuchskünstler entgegen. In diesem Bereich registrierte die Staatssicherheit Fehlentwicklungen (»Störungen«), die ihrer Auffassung nach durch ein unklares kulturpolitisches Verständnis der Staatsfunktionäre begünstigt wurden. Dem Selbstverständnis der MfSVerantwortlichen zufolge galt es, die in diesem Sicherungsbereich erkannten Fehlentwicklungen durch operative Maßnahmen, beispielsweise die Einleitung eines OV, möglichst zu unterbinden, zumindest aber zu korrigieren. Die Schwierigkeiten, auf die die regionale Staatssicherheit bei ihrem Vorgehen bei den Partei- und Staatsorganen des Bezirkes stieß, spiegeln sich in einem zusammenfassenden Bericht folgendermaßen: »Es kann eingeschätzt werden, dass das Zusammenwirken mit Partei und staatlichen Organen im Berichtszeitraum ein Prozess war. Sowohl auf Bezirksebene als auch im Territorium GeraStadt und Stadtroda wurde im Jahr 1983 mindestens eine Parteiinformation zu den OVPersonen der Teil OV III und IV an die SED-KL übergeben. Auf Bezirksebene wurde mehrmals in Gesprächen gegenüber der SED-BL, Abt. Kultur, aber auch gegenüber dem Rat des Bezirkes, Abt. Kultur, der KGD und dem Bezirkskabinett für Kulturarbeit auf die Ziele, Ab-
304 Rolf Jahn: »Die Realisierung der Einheit von Erkennen feindlicher Ziele und Absichten der politisch-ideologischen Diversion und der offensiven vorbeugenden Verhinderung ihrer gesellschaftsschädigenden Auswirkungen durch den Einsatz von IME-Schlüsselpositionen im Prozess der politisch-operativen Sicherung und Durchdringung des Bereiches Literaten/Texter im Bezirk Gera« (Diplomarbeit) 1984; BStU, MfS, JHS 20133, Bl. 15.
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sichten und Vorhaben sowie der [sic!] Öffentlichkeitswirksamkeit der OV-Personen aufmerksam gemacht«. 305
Die angesprochenen Partei- und Staatsfunktionäre scheinen ihr Verhalten kaum geändert zu haben. Vielmehr wollten sich diese als Gastgeber der nächsten Arbeiterfestspiele im Jahre 1984 in der Öffentlichkeit als Förderer der Künstler und nicht als kleinliche Verhinderer präsentieren. So geht aus einem Zwischenbericht der Kreisdienststelle Stadtroda hervor, dass die SED-Bezirksleitung Gera die politisch-ideologische Einschätzung der Bezirksverwaltung zur Gruppe »Circus Lila« 306 nicht teilte. Diese Haltung war nur konsequent. Schließlich hatte sich die SED-Bezirksleitung auch nicht gegen die Förderungsempfehlung der Kulturabteilung des ZK der SED ausgesprochen. Folglich gab es für die Genossen in der Bezirksleitung auch keinen plausiblen Grund, die weitere Entwicklung einer Musikgruppe aus ihrer Region zu behindern. 307 Berichte für die Partei anzufertigen, gehörte zu den alltäglichen Aufgaben des MfS. Welche Schlüsse die Parteifunktionäre aus diesen Informationen zogen, blieb allein ihnen überlassen. Aus der Zusammenstellung von »Parteiinformationen« bereits eine Einflussnahme auf die Handlungsweise der SED-Funktionäre abzuleiten, ist daher problematisch. Zumindest aus den überlieferten SED-Unterlagen ergibt sich der Eindruck, dass die leitenden Parteifunktionäre in den territorialen Parteileitungen bei ihren Entscheidungen zumindest im kulturpolitischen Bereich die MfS-Informationen wenig berücksichtigt haben. Bei den staatlichen Kulturfunktionären auf den unteren Ebenen, die das MfS gegebenenfalls als IM in »Schlüsselpositionen« instrumentalisieren konnte, stellten sich zumindest theoretisch die Einflussmöglichkeiten der Staatssicherheit günstiger dar. Aber auch hier lässt sich kein Automatismus zwischen den Intentionen des MfS und dem Agieren der SchlüsselIM erkennen. Wie holperig im Falle des ZOV »Bühne« die Zusammenarbeit verlief, tritt in diversen MfS-Berichten offen zutage. Dass die Offiziere der Staatssicherheit in ihren Unterlagen stets den Eindruck zu erwecken versuchten, aktiv auf alle Genossen im Partei- und Staatsapparat eingewirkt zu haben, versteht sich von selbst. Beispielsweise versuchten sie in ihren Berichten zum Kasus »Görnandt & Rönnefarth« den Anschein zu erwecken, die Partei dazu gedrängt zu haben, die Gruppe »aus der Spitzenposition der Unterhaltungskunst« herauszunehmen. Doch allein die Formulierung, »durch den Genossen Rudolph wurde zugesagt, dass die vorhandenen Mo305 BV Gera, Abt. XX/7: Zusammenfassende Einschätzung zum ZOV »Bühne« v. 22.12.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 67–75, hier 74. 306 Beispielsweise schätzte die Stasi ein, dass ein Programm der Gruppe »wegen seines insgesamt zutiefst sozialismusfremden, den Lebensauffassungen und Wertvorstellungen in unserer Gesellschaft widersprechenden Charakters für die öffentliche Darbietung nicht geeignet [ist]«. Vgl. KD Stadtroda: Zwischeneinschätzung zum ZOV »Bühne«, TOV III v. 27.12.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 767/85, Bd. I, Bl. 142. 307 Ebenda, Bl. 141 f.
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mente im Zentralkomitee von ihm vorgebracht werden«, 308 verrät, dass die SEDBezirksleitung Gera allenfalls auf einer unteren Ebene – Rudolf war lediglich Sektorenleiter in der Abteilung Wissenschaft/Vobi/Kultur der SED-Bezirksleitung – den Sachverhalt vortragen wollte. In den Unterlagen der Bezirksleitung findet sich dazu keinerlei Vermerk oder Notiz über ein etwaiges Gespräch des Genossen Rudolf mit dem für die Unterhaltungsmusik zuständigen Mitarbeiter im ZK der SED. Vielmehr liegt die Vermutung nahe, dass die SED-Bezirksleitung gar kein echtes Interesse daran hatte, gegen die von der Berliner Parteizentrale vorgegebenen neuen Richtlinien im Falle »Görnandt & Rönnefarth« zu intervenieren. 309 Zum Ärger der Geraer MfS-Offiziere beabsichtigte die Bezirksleitung, die Musiker weiter zu fördern, indem sie die Gruppe »Görnandt & Rönnefarth« für Gastspiele im westlichen Ausland vorschlug. Nach Auffassung der Staatssicherheit bedurften jedoch in der Zukunft die Förderungsmaßnahmen der »zentralen Organe mit bezirklichen staatlichen Organen für bestimmte Autoren und Liedermacher einer besseren gegenseitigen Abstimmung«. Nur so ließen sich die Auftrittsmöglichkeiten der betreffenden Künstler bei den zentralen Medien und Veranstaltungen verhindern. Zur »Beseitigung dieser begünstigenden Bedingungen« schlug das MfS »die Instruierung der IME zum selbstständigen Handeln« vor. 310 »IM in Schlüsselpositionen« wie etwa »Klaus Froberger« und »Bauer«, waren Parteimitglied, staatliche Leiter und inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit in einer Person. Angesichts dieser Gemengelage gehörte die Vorstellung, ein IM lasse sich stets als eine Art verlängerter Arm des MfS einsetzen, in den Bereich des Wunschdenkens, hatte aber mit der täglichen operativen Praxis wenig zu tun. So finden wir dann auch in den Arbeitsakten der IM immer wieder Hinweise darauf, dass beispielsweise ein unwillig gewordener oder Ermüdungserscheinungen zeigender IM »erzogen«, erneut »überzeugt« oder auch »motiviert« und wenn gar nichts half, auch ausgemustert wurde. Als Erfolg verbuchte die Bezirksverwaltung Gera den Umstand, dass die ursprünglich beabsichtigte Einzelauszeichnung der Gruppe »Circus Lila« zu den 7. Chansontagen in eine Kollektivauszeichnung der »Gestalter und Mitwirkenden des Eröffnungsprogramms« 311 umgewandelt worden war. Diese vermeintliche Her-
308 KD Stadtroda: Protokoll zur Aussprache mit dem Genossen Wirkner v. 27.10.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 767/85, Bd. I, Bl. 115. 309 Vgl. Abschnitt: »Das 7. Chanson-Festival in Frankfurt/O«. 1983, S. 164 ff. 310 Rolf Jahn: »Die Realisierung der Einheit von Erkennen feindlicher Ziele und Absichten der politisch-ideologischen Diversion und der offensiven vorbeugenden Verhinderung ihrer gesellschaftsschädigenden Auswirkungen durch den Einsatz von IME-Schlüsselpositionen im Prozess der politisch-operativen Sicherung und Durchdringung des Bereiches Literaten/Texter im Bezirk Gera« (Diplomarbeit); BStU, MfS, JHS 20133, Bl. 16. 311 BV Gera, Abt. XX/7: Zusammenfassende Einschätzung zum ZOV »Bühne« v. 22.12.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 71.
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abstufung empfanden weder die Künstler als Zurücksetzung noch hatte sie nennenswerte Auswirkungen auf ihre weitere Karriere. 312 Laut Bericht der Bezirksverwaltung ist »das Nichtzustandekommen der Veranstaltungsreihe ›Hörbar‹ am Haus der Kultur« in Gera auf »das Zusammenwirken von Partei und staatlichen Organen« 313 zurückzuführen. Der Begriff Zusammenwirken erschließt sich in diesem Falle besser, wenn man weiß, dass die SED-Bezirksleitung in einem eigenständigen Papier zu dem Ergebnis kam, dass Stephan Krawczyks Konzeption für die Veranstaltungsreihe »Hörbar« vollkommen inakzeptabel sei, weil hier das »Chanson als Ausdrucksmittel der individuellen Auseinandersetzung mit der Umwelt betrachtet wird und die politischen Aufgabenstellungen des Chansons völlig unbeachtet bleiben«. 314 Als drittes positives Ergebnis des »politisch-operativen Zusammenwirkens« wurde die »Zurückstellung« von »Circus Lila« als NSW-Reisekader 315 durch den Rat des Bezirkes, Abteilung Kultur, angeführt. Welchen Anteil die Staatssicherheit an allen drei Entscheidungen hatte, lässt sich aus dem vorliegenden Material nicht eindeutig beantworten. Klar ist jedoch, dass die Geraer Bezirksverwaltung des MfS bei der Durchsetzung ihrer Ziele in allen drei Fällen auf Partner angewiesen war. Inwieweit sich dabei eine Interessengleichheit der unterschiedlichen Parteiinstanzen und staatlichen Institutionen ergab, der jeweilige Entscheidungsträger auch ohne die Wünsche des MfS die gleiche Entscheidung getroffen hätte (siehe Veranstaltungsreihe »Hörbar«), muss im Einzelnen offen bleiben. Tendenziell waren zumindest im Rahmen des ZOV »Bühne« die Interessengegensätze zwischen der regionalen Staatssicherheit und den offiziellen Entscheidungsträgern im Bezirk Gera vorherrschend. Eindeutig ist die Lage in Bezug auf die Gruppe »Circus Lila«. Hier gab sogar das MfS selbstkritisch zu, es nicht geschafft zu haben, die Musiker aus den zentralen Medien »zurückzudrängen«. 316 Vielmehr erreichte »Circus Lila« eine große Popularität, hatte Auftritte in der ganzen Republik, wurde von den Medien wahrgenommen und war, wie es den Tatsachen entsprechend hieß, nur »schwer unter operativer
312 In dieser Weise äußerte sich Matthias Görnandt in einem Telefongespräch mit dem Autor am 11.5.2010. 313 Rolf Jahn: »Die Realisierung der Einheit von Erkennen feindlicher Ziele und Absichten der politisch-ideologischen Diversion und der offensiven vorbeugenden Verhinderung ihrer gesellschaftsschädigenden Auswirkungen durch den Einsatz von IME-Schlüsselpositionen im Prozess der politisch-operativen Sicherung und Durchdringung des Bereiches Literaten/Texter im Bezirk Gera« (Diplomarbeit); BStU, MfS, JHS 20133, Bl. 74. 314 SED BL Gera, Abt. Wissenschaft/Vobi/Kultur: Analyse und Schlussfolgerungen zur politischen Arbeit mit den Künstler des Bezirkes v. 18.6.1982; ThStA Rudolstadt, BL der SED Gera, A 7759. 315 NSW-Reisekader konnten in das nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet, ergo in die Bundesrepublik und andere kapitalistische Länder reisen. 316 BV Gera, Abt. XX/7: Zusammenfassende Einschätzung zum ZOV »Bühne« v. 22.12.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 67–75.
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Kontrolle zu halten«. 317 Selbst diese Form der operativen Kontrolle 318 bereitete in diesem konkreten Fall der regionalen Staatssicherheit Probleme. Auch die Beschneidung des Aktionsrahmens der Gruppe »Liedehrlich« bzw. Stephan Krawczyks hatte die lokale Staatssicherheit nur punktuell erreicht. So gelang es der MfSBezirksverwaltung nicht, den Karriere fördernden Auftritt auf den 7. Chansontagen zu verhindern, der dem Liedermacher letztendlich umfangreiche Angebote für Veranstaltungen in der gesamten Republik einbrachte. Die Verlegung der Aufführung der »Kaspariade« an einen anderen Spielort als einen Erfolg (»Einschränkungsmaßnahme«) auszugeben, obwohl die MfSKreisdienststelle Gera die Aufführung am liebsten ganz verboten hätte, grenzte an Augenwischerei. Ebenso substanzlos erweist sich die vermeintliche Erfolgsmeldung: »Mit den Einschränkungsmaßnahmen zur Aufführung des Puppenspiels ›Kaspariade‹ wurden leitende Kader der Partei und des Staatsapparates erneut offiziell auf die OV-Person [gemeint ist Martin Morgner] und ihre Öffentlichkeitswirksamkeit aufmerksam gemacht.« 319
Richtig ist dagegen, dass den Geraer Kulturfunktionären Martin Morgners »Öffentlichkeitswirksamkeit« nicht nur längst bekannt war, sie hatten sie durch einen Förderungsvertrag selbst unterstützt. Innerhalb der MfS-Bezirksverwaltung existierte dagegen die generelle Auffassung, dass über die Förderungsverträge ein stärkerer gesellschaftlicher Einfluss auf die jungen Künstler genommen werden müsse. 320 Lediglich in der Angelegenheit Hans-Peter Jakobsons konnte die Abteilung XX/7 der Bezirksverwaltung Gera wirkungsvolle repressive Maßnahmen in Gang setzen. Dazu gehörte über lange Zeit die Verhinderung eines gesicherten Arbeitsverhältnisses (und auch Einkommens) als Kunstwissenschaftler bzw. die systematische Behinderung seiner freiberuflichen Tätigkeit im Bezirk Gera und der Stadt Leipzig. Aus dem bisherigen Sachstand zog die Abteilung XX/7 der Bezirksverwaltung Gera diverse Schlussfolgerungen. Sie stellten nichts anderes als das Eingeständnis von operativen Defiziten dar. Dazu gehörte die Verbesserung der Arbeit mit den vorhandenen IM genauso wie die Anwerbung neuer IM. Des Weiteren sollte »über IM in Schlüsselpositionen und staatlichen Leitern [die] politisch-ideologische und programmmäßige« Arbeit mit den Künstlern, als auch die Zusammenarbeit mit anderen Diensteinheiten verbessert werden. Darüber hinaus war vorgesehen, die Dokumentierung von Liedern und Texten, einschließlich deren Einschätzung durch »Experten-IM« zu intensivieren, um »qualitätvollere Parteiinformationen« zu erstellen. In einem letzten Punkt wurde sowohl eine bessere Koordinierung mit der Hauptabteilung XX in Berlin als auch eine Verbesserung des »politisch-operativen Zusam317 Ebenda; BStU, MfS, BV Gera, AOV 767/85, Bd. I, Bl. 137. 318 Vgl: Stichwort Überwachung des Kulturbereiches. In Engelmann u. a. (Hg.): MfS-Lexikon (Anm. 4). 319 BV Gera, Abt. XX/7: Zusammenfassende Einschätzung zum ZOV »Bühne« v. 22.7.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 65. 320 Ebenda.
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menwirkens« (POZW) mit der Partei auf allen Ebenen und in der ganzen Region angemahnt.321 Geradezu als ein Kontrastprogramm zu diesen sicherheitspolitischen Erwägungen im Kulturbereich des Bezirkes Gera lesen sich die Ausführungen des Ministers für Kultur, Hans Joachim Hoffmann, vor dem Kulturausschuss der Volkskammer vom Februar 1983. Dort ging er, den seiner Meinung nach aktuellen Fragen nach, die Kunst und Literatur aufwarfen. »Wir sind inmitten eines großen Lernprozesses. Revolutionär kann nur sein, wer ein Lernender ist. Und wer aufhört zu lernen, wird aufhören Revolutionär zu sein. […] Es geht nicht darum, von Literatur und Kunst genau dasselbe zu fordern, was wir von Agitation und Propaganda fordern. Literatur und Kunst haben mit ihren spezifischen Mitteln eine wesentliche Erkenntnisfunktion zu erfüllen, und sie treffen in zunehmenden Maßen auf immer intelligentere Leute.« 322
Die MfS-Bezirksverwaltung Gera, an der Spitze Major Hubert Wirkner und seine Mitarbeiter in der Abteilung XX/7, fühlten sich ganz offensichtlich von solchen Wortmeldungen nicht angesprochen. Ihrer Ansicht nach war vielmehr bei den Kulturfunktionären der Region ein Lernprozess vonnöten, um endlich sicherheitspolitischen Gesichtspunkten eine bessere Geltung zu verschaffen.
5. Das Jahr 1984 »Der Gegner macht um Gera keinen Bogen« 323 Durch die Aufrüstung beider Bündnissysteme in Europa mit Mittelstreckenraketen hatte Anfang der 1980er Jahre der »Kalte Krieg« eine neue Dimension angenommen. Die Weltpolitik fand im Schatten einer verschärften atomaren Bedrohung statt. In der Lesart des MfS würden auch 1984 »reaktionäre imperialistische Kreise im Sinne des Kreuzzuges gegen den Sozialismus [versuchen], die internationale Klassenkampfsituation zu verschärfen und [ihre] Hochrüstungspolitik durchzusetzen«. Schon allein aus diesem Grund müsse sich »jeder [MfS-]Mitarbeiter über die Gefahr im Klaren sein und mit dem Bewusstsein arbeiten, dass er an seinem Platz seinen Beitrag zur Aufdeckung und Verhinderung des antikommunisti-
321 Ebenda, Bl. 74 f. 322 Stenografisches Protokoll der Beratung des Ausschusses für Kultur der Volkskammer am 16./17.2.1983; BArch DA 1/15411. 323 BV Gera, Löffler, Karl-Heinz: Handschriftliche Aufzeichnungen einer Leitungsberatung am 9.8.1983; BStU, MfS, BV Gera, Abt. XX SA 667/4.
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schen Kreuzzuges erbringen kann und muss und verpflichtet ist, mit seiner Arbeit die Republik und damit den Sozialismus zu stärken«. 324
Dementsprechend wurden im typischen Stil einer ständigen politisch-ideologischen Selbstvergewisserung die 1984 anstehenden Aufgaben für den Verantwortungsbereich der Abteilung XX/7 der Bezirksverwaltung beschrieben. Dabei handelte es sich darum, die »weitere Ausprägung von Missbrauchshandlungen im kulturellen Freiraum im Sinne der Verbreitung oppositionellen Gedankengutes durch operativ bearbeitete Personen in Gera, Jena [und] Stadtroda« [durch eine Kombination von operativen Standardmaßnahmen und einer] »zielgerichteteren und wirksameren Verunsicherungs- und Zersetzungstätigkeit [zu verhindern]«.
Die MfS-Bezirksverwaltung zählte hierbei auf die aktive Unterstützung der Partei und staatlichen Institutionen der Region. Ihren Vorstellungen zufolge sollte »die gesellschaftspolitische und politisch-operative Effektivität« der eigenen Arbeit auf allen Ebenen und Bereichen – wie in jedem Jahr – »weiter erhöht werden«. Für die Fortsetzung des ZOV »Bühne« erging an die beteiligten Diensteinheiten in der Abteilung XX der Bezirksverwaltung Gera, der Kreisdienststelle Gera-Stadt und Stadtroda die Anweisung, das angestrebte Generalziel der »Zerschlagung/Zersetzung einschließlich strafrechtlicher Realisierungsvarianten [der] erfassten feindlichnegativen Zusammenschlüsse und operativ relevanten Einzelpersonen« im Wesentlichen durch eine weitere Intensivierung der bereits praktizierten Maßnahmen zu erreichen. Dazu gehörte unter anderem eine stärkere Einbeziehung gesellschaftlicher Kräfte bei der Bekämpfung »feindlich-negativer Gruppierungen und ihrer gegen die Macht der Arbeiterklasse gerichteten Aktivitäten« und eine »weitere Qualifizierung der Informationstätigkeit an leitende Partei- und Staatsfunktionäre«.325 In diesem Sinne sollten auch alle anderen OV/OPK im Verantwortungsbereich der Bezirksverwaltung erfolgreich abgeschlossen werden. Nicht zuletzt gehörte dazu der OV »Kerze«, in dem sogenannte Jungerwachsene observiert, zum Teil auch verhaftet wurden, die sich vornehmlich in der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR engagierten. 326
324 BV Gera, AKG: Unterlagen zur Dienstkonferenz [Herbst 1983]; BStU, MfS, BV Gera, AKG 3346, Bl. 7. 325 BV Gera; AKG: Einschätzung der politisch-operativen Lage im Verantwortungsbereich der BV Gera für die Jahresplanung 1985 v. 14.11.1984; BStU, MfS, BV Gera, AKG 2460, Bl. 24 ff. 326 Vgl. OV »Kerze« der KD Gera; BStU, MfS, BV Gera, AOV 941/86, Bd. I u. II. Im Verständnis des MfS handelte es sich laut ihres Eröffnungsberichtes dabei um eine Gruppe junger Leute, die unter dem Dach der Kirche sich in der unabhängigen Friedensbewegung engagierten und damit »die Friedenspolitik der DDR« unterliefen. Ihr Ziel bestünde in der »Erreichung einer hohen Öffentlichkeitswirksamkeit und der Schaffung einer inneren Opposition in der DDR«. Vgl. ebenda, Bd. I, Bl. 9 und Lenski, Katharina; Merker, Reiner: Zwischen Diktat und Diskurs. Oppositionelle Handlungsspielräume in Gera in den 1980er Jahren. Jena 2006.
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Fortgesetzte Störversuche der regionalen Staatssicherheit Fall 1: Von Partei und Staat gefördert, von der regionalen Staatssicherheit bekämpft – Der unaufhaltsame Aufstieg von »Circus Lila« Die 1984 zu der Gruppe »Circus Lila« angelegten MfS-Unterlagen offenbaren in nicht alltäglicher Deutlichkeit die immer größer werdende Macht- und Wirkungslosigkeit des MfS gegenüber der weiteren künstlerischen Entwicklung dieser Musikgruppe. In den zahlreichen Zwischeneinschätzungen der überforderten Kreisdienststelle Stadtroda wurde die ursprüngliche Zielstellung, Stichwort »Zerschlagung/Zersetzung«, nicht einmal mehr erwähnt. Vielmehr dokumentieren diese Berichte nicht nur minutiös den ungebremsten Karriereschub der Musiker, sie belegen zugleich die Hilflosigkeit der unterschiedlichsten Stellen im MfS. Spätestens im Frühjahr 1984 kam die Kreisdienststelle Stadtroda nicht mehr umhin, jenseits aller sonst gängigen »Berichts-Lyrik«, sich selbst ihre Wirkungslosigkeit bei der Führung des Teilvorgangs »Bühne III« einzugestehen. »Durch die Stellung, die sich besonders der G[örnandt] erarbeitet hat, als stellvertretender Vorsitzender der AG Chanson [im Komitee für Unterhaltungskunst – M.B.] und durch seine Verbindungen zum Komitee für Unterhaltungskunst der DDR, bestehen durch die Kreisdienststelle Stadtroda nur noch wenige Möglichkeiten zur Einflussnahme auf die künstlerische Entwicklung. Damit ist verbunden, dass der operative Kontrollprozess über die Auftritte der OV-Personen nur noch in wenigen Fällen möglich ist. Die entsprechenden Auftritte werden über die Zentrale Konzert- und Gastspieldirektion bzw. durch die persönlichen Verbindungen der OV-Personen vereinbart.« 327
Aber nicht nur der Kreisdienststelle Stadtroda, auch der MfS-Bezirksverwaltung Gera waren bei den überregionalen Aktivitäten von »Circus Lila« die Hände gebunden. Selbst eine Intervention der Berliner Hauptabteilung XX bei zentralen Stellen, um die sie die Bezirksverwaltung Gera ersucht hatte, konnte nicht verhindern, dass die Musiker beim Nationalen Jugendfestival in Berlin 328 auftraten. 329 Parallel vorgetragene Bedenken des Rates des Bezirks Gera (Hans Kathe) beim Staatssekretär im Ministerium für Kultur wurden von diesem lediglich zur Kenntnis genommen. 330 327 KD Stadtroda: Zwischeneinschätzung zum ZOV »Bühne«, TOV III v. 26.4.1984; BStU, MfS, BV Gera, AOV 767/85, Bd. I, Bl. 153. 328 Vom 8. bis 11.6.1984 fand in Berlin ein nationales Jugendfestival mit mehr als 2 000 Veranstaltungen statt. Höhepunkt war die Aufführung von Mikis Theodorakis »Canto General«, die vom Komponisten selbst dirigiert wurde. 329 KD Stadtroda: Protokoll zur Absprache mit der BV Gera, Abt. XX/7 v. 10.7.1984; BStU, MfS, BV Gera, AOV 767/85, Bd. I, Bl. 154. 330 BV Gera XX/7: Mitteilung von Major Wirkner über ein Gespräch mit Staatssekretär Löffler am 28.9.1984; BStU, MfS, BV Gera, AOV 767/85, Bd. II, Bl. 162.
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Angesichts dieser Sachlage war es nicht verwunderlich, dass die Gruppe »Circus Lila« weitere lukrative Angebote, wie etwa die Mitwirkung an einer ZDFMusiksendung mit der westdeutschen Sängerin Katja Ebstein, »Auf dem Rad durch die DDR«, wahrnehmen konnte. 331 Aufgrund ihrer territorial begrenzten inoffiziellen Ressourcen schätzte die Bezirksverwaltung Gera im Sommer 1984 ihre Möglichkeiten zur Einschränkung oder gar Verhinderung von Auftritten der Gruppe »Circus Lila« bei zentralen Veranstaltungen sowie Rundfunk- und Fernsehproduktionen letztendlich als äußerst gering ein. 332 Den Hauptgrund für diese Situation sah sie in der fortgesetzten umfangreichen Unterstützung der Musiker durch die schon mehrfach erwähnte Gisela Steineckert gegeben, die inzwischen zur Präsidentin des Komitees für Unterhaltungskunst avanciert war. In der Hoffnung, mit Unterstützung der Berliner Hauptabteilung XX/7 deren Schirmherrschaft über die Gruppe »Circus Lila« doch noch unterlaufen zu können, erarbeitete die Abteilung XX/7 der Bezirksverwaltung eine neue »Operativinformation« zu den drei Musikern. 333 Dieses politisch denunzierende Material sollte von der Hauptabteilung XX/7, so die Überlegung der Bezirksverwaltung Gera, als Grundlage für »eine Absprache beim ZK der SED« genutzt werden. Ziel dieses, gewissermaßen hinter den Kulissen fortgeführten Manövers sollte es sein, mithilfe des zentralen Parteiapparates zukünftige Entscheidungen der Künstleragentur und des Ministeriums für Kultur zu beeinflussen. Im günstigsten Fall, so das Kalkül der Bezirksverwaltung Gera, könnte dadurch ein für allemal die Förderung von »Circus Lila« durch zentrale staatliche Institutionen unterbunden werden. Dieses Ziel stand eindeutig im Widerspruch zu der selbst definierten Aufgabe, die operative Vorgangsarbeit »für die Durchsetzung der Politik der Partei- und Staatsführung« 334 und nicht gegen sie zu entwickeln. Im Zusammenhang mit der beabsichtigten Intervention lesen wir in einem Papier der Bezirksverwaltung Gera den Satz: »Eine entsprechende Reaktion durch die HA XX/7 liegt dazu bisher nicht vor.« Diese Bemerkung könnte darauf hinweisen, dass die Berliner Hauptabteilung XX in dieser Angelegenheit gar nicht bei der Kulturabteilung des ZK vorstellig geworden ist. Falls doch, dürfte die Partei, in Gestalt der ZK-Abteilung für Kultur, jedoch mit ziemlicher Sicherheit die Einwendungen des MfS als gegenstandslos betrachtet haben. Hierfür spricht die nur wenig später erfolgte Berufung von Matthias Görnandt zum Vorsitzenden der Sektion Chanson/Liedermacher im Komitee für Unterhaltungskunst. Dieser Berufung waren 331 Weitere zentrale Auftritte erfolgten z. B. bei einer Frauentagsfeier im Staatsrat der DDR und der Sendereihe »Spaß muss sein« im Palast der Republik in Berlin. 332 Vgl. BV Gera, Abt. XX/7: Zwischenbericht zum ZOV »Bühne« v. 12.6.1984; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 88. 333 Diese Information beinhaltete den operativen Sachverhalt, Auskünfte zu den bearbeiteten Personen sowie die Zielstellung der Bearbeitung einschließlich Vorschlägen, wie diese realisiert werden soll. 334 Richtlinie 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge (OV) v. Januar 1976; BStU, MfS, BdL-Dok. Nr. 3234.
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etliche Sondierungsgespräche mit hohen Kulturfunktionären im Partei- und Staatsapparat vorausgegangen. SED-Generalsekretär Honecker zeichnete die Liste der neu zu berufenden Leitung des Komitees für Unterhaltungskunst ab. 335 Matthias Görnandt war damit zu einem hochrangigen Nomenklaturkader aufgestiegen, der normalerweise nicht mehr ohne Weiteres vom MfS »bearbeitet« werden konnte. Laut Statut des Komitees war er mit seiner Berufung zum Sektionsvorsitzenden zugleich Leitungsmitglied des im September 1984 neu konstituierten Komitees. Beispielsweise gehörte es zu den Aufgaben eines Sektionsvorsitzenden, die Entwicklung auf seinem Fachgebiet zu analysieren und der Leitung des Komitees nicht nur Vorschläge für Beschlüsse zu unterbreiten, sondern diese auch »bei der politischen und künstlerischen Arbeit in den jeweiligen Fachgebieten« zu realisieren. 336 Größer konnte der Kompetenzzuwachs eines parteilosen Liedermachers wie Matthias Görnandt es war, kaum ausfallen. 337 Es zeigte sich erneut, dass die Geraer Kulturoffiziere die Lage falsch eingeschätzt hatten. Die Berufung Matthias Görnandts in die Leitung des Komitees für Unterhaltungskunst, zumal unter der Präsidentin des Komitees, Gisela Steineckert, verlieh der Gruppe »Circus Lila« einen zusätzlichen Schutz vor Ein- bzw. Übergriffen sämtlicher staatlicher Institutionen des Bezirks Gera, einschließlich der MfSBezirksverwaltung. Mit der erneuten, letztendlich vom SED-Generalsekretär abgesegneten Aufwertung von Matthias Görnandt und damit auch der Gruppe »Circus Lila« war nicht nur das Gegenteil von dem eingetreten, was die MfSBezirksverwaltung Gera erreichen wollte. Vielmehr wurde zum wiederholten Male durch eine Entscheidung der Berliner Parteiführung deutlich, dass die SEDFührung in der aktuellen Kulturpolitik andere Prioritäten setzte als eine MfSBezirksverwaltung in der Provinz. Die Auswirkungen dieser unterschiedlichen Politikansätze spiegelten sich auch in einem weiteren Zwischenbericht der Kreisdienststelle Stadtroda wider. »Im Berichtszeitraum ist die Tendenz erkennbar, dass die Genannten auf künstlerischem Gebiet weiter an Einfluss gewonnen haben und verstärkt Auftritte in zentralen Medien zu verzeichnen waren.« 338 Am Ende scheiterte der im Prinzip konsequente Versuch der Bezirksverwaltung Gera, den Teilvorgang »Bühne III« zur weiteren Bearbeitung von »Circus Lila« an die Berliner Hauptabteilung XX/7 abzugeben. Einem Protokoll vom November 1984 ist zu entnehmen, dass die Hauptabteilung XX/7 es dankend ablehnte, diesen
335 Vgl. Ablauf der konstituierenden Sitzung des KfU am 24.9.1984 einschließlich Liste der neuen Leitung des KfU; BArch DR 101/3. 336 Vgl. Statut des KfU v. 1984; BArch DR 101/3c. 337 In einem Telefongespräch mit dem Autor (am 11.5.2010) erinnerte sich Matthias Görnandt daran, dass man ihm damals bedeutet habe, dass ein Mann mit seiner humanistischen Gesinnung genau die richtige Person an der Spitze dieser Sektion sei. 338 KD Stadtroda: Zwischeneinschätzung v. 27.12.1984; BStU, MfS, BV Gera, AOV 767/85, Bd. I, Bl. 162.
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Operativen Vorgang zu übernehmen. 339 Daraufhin entschied die Bezirksverwaltung Gera, dass die Kreisdienststelle Stadtroda den Teilvorgang »Bühne III« weiterhin zu führen habe, obwohl allen Beteiligten klar war, dass eine Kreisdienststelle »nicht über die dafür notwendigen Voraussetzungen« verfügte. Das angeführte Argument des Wohnortprinzips kann lediglich als Feigenblatt betrachtet werden, das die mit dieser Entscheidung einhergehende Kapitulation mehr schlecht als recht verdeckte. »Der G[örnandt] selbst hält sich sehr wenig in seinem Wohnort auf. In dieser Zeit widmet er sich vorwiegend seiner Familie und es sind keine operativ bedeutsamen Handlungen feststellbar.« 340 Wie sich nach dieser geradezu schildbürgerhaften Entscheidung die Dinge weiter entwickelten, mag folgende Episode illustrieren. Eines Tages wandte sich die Präsidentin des Komitees für Unterhaltungskunst persönlich an die SED-Kreisleitung Stadtroda, die Verlegung eines Telefonanschlusses für den Leiter der Sektion Chanson/Liedermacher, also Matthias Görnandt, in seinem Heimatwohnort Bremsnitz zu befördern. In dieser Situation sah die MfS-Kreisdienststelle Stadtroda eine Chance, ihrer operativen Zuständigkeit, wenn auch in kurioser Weise, nachzukommen. Sie versuchte sich dabei plötzlich als Förderer von Matthias Görnandt zu profilieren, 341 indem sie in einem turnusmäßigen Zwischenbericht vermerkte: »In Abstimmung mit der Kreisdienststelle Stadtroda wird dieser Antrag [betr. Telefonanschluss – M.B.] durch die SED-Kreisleitung unterstützt.« 342 Realistisch betrachtet dürfte weder die Kreisleitung noch die Kreisdienststelle Stadtroda ernsthaft erwogen haben, den Antrag der Präsidentin des Komitees für Unterhaltungskunst, einer zentralen staatlichen Einrichtung, abzulehnen, die von der Partei- und Staatsführung den Auftrag erhalten hatte, sich dafür einzusetzen, »die Unterhaltungskunst der DDR auf der Grundlage der Kulturpolitik der SED zu entwickeln, ihre Qualität und Wirksamkeit kontinuierlich zu erhöhen und somit zur weiteren Ausprägung der sozialistischen Lebensweise beizutragen«. 343 In diesem Rahmen gehörte es zu den offiziellen Aufgaben des Komitees für Unterhaltungskunst, sich für die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen ihrer Mitglieder einzusetzen. Hierfür verfügte das Komitee über erhebliche finanzielle Mittel. Dementsprechend konnte es die nicht geringen Erschließungskosten für die Einrichtung des gewünschten Telefonanschlusses in einem thüringischen Dorf ohne Probleme übernehmen.
339 KD Stadtroda: Protokoll zur Beratung zum ZOV »Bühne« v. 2.11.1984; ebenda, Bl. 160. 340 KD Stadtroda: Zwischeneinschätzung zum ZOV »Bühne«, TOV III v. 27.12.1984; ebenda, Bl. 163. 341 Der naheliegende Gedanke, damit eine Abhörmöglichkeit zu erhalten, ist durch kein einziges Dokument des minutiös dokumentierten TOV III belegbar. 342 KD Stadtroda: Zwischeneinschätzung zum ZOV »Bühne«, TOV III v. 27.12.1984; BStU, MfS, BV Gera, AOV 767/85, Bd. I, Bl. 163. 343 Vgl. Statut des Komitees für Unterhaltungskunst; BArch DR 101/3c.
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Fall 2: Der Solist Stephan Krawczyk verlässt die Region Die Entwicklung der Gruppe »Liedehrlich« bzw. Stephan Krawczyks verlief etwas anders als die von »Circus Lila«. So trennte sich die Gruppe offiziell Anfang 1984. Stephan Krawczyk ging fortan eigene Wege und trat nun vorwiegend als Solist mit seinem Programm »Auf zwei Füßen« auf. 344 Die Bezirksverwaltung Gera verbuchte diese Trennung, ebenso wie die Verhinderung von Auftritten bei Großveranstaltungen und im Fernsehen, zwar als einen Erfolg ihrer operativen Maßnahmen, hielt dessen ungeachtet aber an ihrem »Grundanliegen der operativen Bearbeitung« der drei Musiker von »Liedehrlich« fest. Dafür spräche nicht nur das weitere »Zusammengehörigkeitsgefühl« der Musiker, vor allem aber die zunehmenden »negativen bis feindlichen Aktivitäten des Krawczyk« 345, so die Geraer »Kulturoffiziere«.346 Mit dieser Projektion rechtfertigte die Bezirksverwaltung Gera die Fortsetzung des Teilvorgangs »Bühne I«. In deren Folge blieb der weitere Einsatz der von Oberleutnant Tristan Willing geführten IM »Günzel« 347, »Peter« 348 (beide Mitarbeiter der Konzertund Gastspieldirektion Gera) und »Funke« 349 (Tontechniker im Haus der Kultur Gera) tragender Bestandteil des fortgeschriebenen Operativplanes. In erster Linie erhoffte sich die Bezirksverwaltung durch die genannten IM einen weiteren Aufschluss über das Persönlichkeitsbild sowie die künftigen Vorhaben der Musiker. Außerdem erhielt der IMS »Funke« den Auftrag, weiterhin Mitschnitte der öffentlichen Auftritte der Musiker anzufertigen. Analog zur Gruppe »Circus Lila« beabsichtigte die MfS-Bezirksverwaltung auch bei Stephan Krawczyk mittels sogenannter koordinierter Maßnahmen mit anderen Diensteinheiten die weitere Förderung durch die Präsidentin des Komitees für Unterhaltungskunst, Gisela Steineckert, zu durchkreuzen. 344 Die Mehrzahl der Texte von Stephan Krawczyks Programm hatte der Leipziger Lyriker Andreas Reimann geschrieben. Reimann war laut einer MfS-Information ursprünglich von der Bezirkskommission für Unterhaltungskunst in Gera als Texter für »Liedehrlich« engagiert worden. Vgl. BV Gera, Abt. XX: Schreiben an die KD Leipzig-Stadt v. 5.8.1983; BStU, MfS, BV Gera, AOV 76585, Bd. I, Bl. 143. Die Mehrzahl von Andreas Reimanns Texten sind erst nach 1989 gedruckt worden. Vgl. Reimann, Andreas: Der trojanische Pegasus. 150 ausgewählte Gedichte 1957–2006. Halle 2007. 345 BV Gera, Abt. XX/7: Operativplan zum TOV »Bühne« I v. 6.3.1984; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 146. 346 Stephan Krawczyk betonte in einem Gespräch mit dem Autor (14.6.2010) ausdrücklich, dass nicht die Stasi die Gruppe zersetzt habe, sondern »ich bin meinen eigenen künstlerischen Weg gegangen«. 347 Der IM »Günzel« wurde unter der Registriernummer XV 1187/81 seit dem 8.9.1983 von Oltn. Willing als IM geführt. Vgl. Vorgangsheft v. Tristan Willing; BStU, MfS, BV Gera. 348 Werner Helbig, Mitarbeiter der KGD Gera, wurde von der BV Gera unter dem Decknamen »Peter« als IM geführt. Vgl. Auskunftsbericht der BV Gera, Abt. XX/7 v. 15.12.1973; BStU, MfS, BV Gera, Abt. XX/7 01/3054/81. 349 Lutz Adolf, Abteilungsleiter und Tontechniker im HdK Gera, wurde von der BV Gera unter dem Decknamen »Gerth Funke« bzw. IMK »Gärtner« als IM geführt. Vgl. Auskunftsbericht der BV Gera, Abt. XX/7 v. 12.8.1983; BStU, MfS, BV Gera, Abt. XX/7 04/3518/84.
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Die Geraer Künstleragentur (KGD) informierte die örtlichen staatlichen Institutionen einschließlich der MfS-Bezirksverwaltung darüber, dass es dringend notwendig sei, sich mit Stephan Krawczyk »politisch-ideologisch stärker und zielgerichteter auseinanderzusetzen«, um sein weiteres politisch-ideologisches Abdriften zu verhindern. 350 Doch nicht nur zum Verdruss der Bezirksverwaltung, sondern auch der SED-Bezirksleitung Gera war der Genosse Stephan Krawczyk nicht gewillt, sein Programm »Auf zwei Füßen« »im Sinne der sozialistischen Kulturpolitik« zu überarbeiten. Ganz im Gegenteil würde er bei öffentlichen Veranstaltungen »noch aggressiver« 351 auftreten, konstatierte das MfS in einem Zwischenbericht zum ZOV »Bühne« vom Juni 1984. In Anbetracht dieses Befundes hielt es Major Wirkner für erforderlich, »mit dem zielgerichteten und kontinuierlichen Einsatz von IM/GMS sowie staatlichen und gesellschaftlichen Kräften die Wirksamkeit der OV-Person weiter zurückzudrängen«. 352 An dieser allgemeinen Anweisung fallen zwei Dinge auf. Zum einen setzte die Bezirksverwaltung Gera im zweiten Bearbeitungsjahr, wie auch in allen anderen Teilvorgängen des ZOV »Bühne«, verstärkt auf das »politisch-operative Zusammenwirken« mit den Institutionen des Partei- und Staatsapparates. Wie diese Zusammenarbeit angesichts der existierenden Interessengegensätze funktionieren sollte, musste sich erst noch zeigen. Im Unterschied zur Gruppe »Circus Lila« konnten die Geraer Tschekisten im Falle Krawczyk auf einige reale »Zurückdrängungserfolge« verweisen. Zum Beispiel wurde die Produktion einer Schallplatte bei Amiga zurückgestellt. Darüber hinaus ergab sich durch Stephan Krawczyks Mitgliedschaft in der SED eine zusätzliche Disziplinierungsmöglichkeit. Hier war die Partei, anders als bei allen anderen Personen des ZOV »Bühne«, auch selbst in der Pflicht. Als formaler Anlass für einen Disziplinierungsversuch diente der SEDBezirksleitung Gera ein Auftritt Stephan Krawczyks mit seinem aktuellen Programm im Studio-Kino »Palast« in Gera. Laut der Partei übergebenen MfS-Informationen trat Krawczyk dort »mit Texten und Liedern antisozialistischen, pazifistischen und die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR diffamierenden Charakters« auf. 353 Das war Grund genug, den Genossen Krawczyk Ende Juli 1984 zu einer Parteiaussprache in die SED-Bezirksleitung zu zitieren. Der beabsichtigten Aussprache war nach MfS-Version eine »Absprache« mit dem zuständigen Sektorenleiter in der Bezirksleitung vorausgegangen, die wohl zutreffender als eine Unterrichtung der MfS-Bezirksverwaltung durch die SED-Bezirksleitung bezeichnet werden muss. Wie 350 BV Gera, Abt. XX/7: Bericht von IM »Günzel« v. 23.3.1984; BStU, MfS, BV Gera, AOV 765/85, Bd. I, Bl. 181 f. 351 BV Gera, Abt. XX/7: Zwischenbericht zum ZOV »Bühne« v. 12.6.1984; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 85. 352 Ebenda. 353 BV Gera, Abt. XX/7: Protokoll über die Absprache mit Gen. Rudolf, SED-BL v. 27.7.1984; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 154 f.
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bereits erwähnt, hatte die Staatssicherheit im Vorfeld der SED-Bezirksleitung umfangreiches Material zu Stephan Krawczyk und seinem aktuellen Programm zur Verfügung gestellt. Darunter befand sich eine Einschätzung des uns schon bekannten IME »Klaus Froberger« 354. Der warf beispielsweise die Frage auf, »ob es aus kulturpolitischer Sicht gerechtfertig ist, einen solchen Liedermacher öffentlich auftreten zu lassen und ob das die künstlerische Verantwortung eines Liedermachers, auch als Genosse nach der 8. ZK-Tagung 355 ist«. 356 Aus dem Gesprächsprotokoll des Oberleutnants Rolf Jahn (Abteilung XX/7) mit dem Abteilungsleiter der SED-Bezirksleitung Klaus Rudolf erfahren wir, wie die Partei ihren Genossen wieder auf Linie bringen wollte und welche Maßnahmen sie zu ergreifen gedachte, wenn sich der Genosse Krawczyk nicht disziplinieren lies. Zunächst einmal sollte es darum gehen, dem Genossen Krawczyk seine »antisozialistische und politisch-negative Verhaltensweise als Sänger und Parteimitglied zu verdeutlichen [und ihn] zur Meinungsäußerung über seine Vorhaben und Absichten zu veranlassen«. Sollte er sich nicht einsichtig und reumütig zeigen, so werde ihm in einem zweiten Schritt der Parteiausschluss angedroht und der »Rat des Bezirkes, Abteilung Kultur und die KGD angewiesen, dem K. zeitweilig den Berufsausweis zu entziehen und arbeitsmäßig in einem Betriebskollektiv zu binden«. 357 Die notwendigen Vorabsprachen mit dem Rat des Bezirkes und der regionalen Künstleragentur hatten bereits stattgefunden. Warum letztendlich, wenn auch zu einem viel späteren Zeitpunkt, der Parteiausschluss realisiert 358, das Berufsverbot aber zunächst nicht ausgesprochen wurde, dafür liefert der Bericht der Bezirksverwaltung Gera keine Anhaltspunkte. Wir erfahren lediglich, dass das Untersuchungsorgan des MfS (die Abteilung IX) festgestellt hatte, »dass das Wirken von Krawczyk strafrechtlich nicht fassbar sei, aber die Einleitung eines Ordnungsstrafverfahrens durch die zuständigen staatlichen Organe im Bereich
354 Siehe Kap. »Auf der Suche nach der ›verschlüsselten‹ Botschaft«, S. 156. 355 Auf der 8. Tagung des ZK der SED am 24.5.1984 hatte Kurt Hager den Bericht des Politbüros verlesen. Im Zentrum dieses Berichtes standen Fragen zur sog. weiteren Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, der Erfüllung vornehmlich ökonomischer Aufgaben und der »Kampf um die Sicherung des Friedens«. Angesichts »der Verschärfung des ideologischen Kampfes zwischen Sozialismus und Imperialismus« forderte die Partei alle kunstverbreitenden Institutionen dazu auf, »ihrer Verantwortung für die Wahrung klarer parteilicher staatbürgerlicher Positionen bei der Verwirklichung unserer Politik in noch höherem Maße gerecht zu werden«. Vgl. Hager, Kurt: Aus dem Bericht des Politbüros an die 8. Tagung des ZK der SED am 24.5.1984. Berlin (Ost) 1984, S. 52. 356 Vgl. BV Gera: Einschätzung von IME »Froberger« zur Veranstaltung am 26.3.1984 mit Krawczyk in Wernigerode o. D. Zit. aus: Protokoll über die Absprache mit Gen. Rudolf, SED-BL v. 27.7.1984; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 155. 357 BV Gera, Abt. XX/7: Protokoll über die Absprache mit Gen. Rudolf, SED-BL v. 27.7.1984; ebenda, Bl. 154. 358 Stephan Krawczyk erzählte auf einer Veranstaltung der BStU am 9.12.2010, dass er zunächst von sich aus einen Antrag auf Parteiaustritt gestellt hatte. Dieser Antrag wurde von der SED-BL Gera abgelehnt. Sie behielt sich vor, den Genossen Krawczyk von sich aus auszuschließen.
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Kultur beim Rat des Bezirkes möglich wäre«. 359 Außerdem notierte die MfSBezirksverwaltung, dass auf Weisung der SED-Bezirksleitung eine bereits vereinbarte Veranstaltung mit Stephan Krawczyk auf Schloss Burgk abgesagt worden war. 360 Das beabsichtigte Tribunal mit dem Genossen Krawczyk fand dann aber aus einem kuriosen Grund nicht statt: Weil der »Übeltäter« sich zumindest nach Aktenlage zu diesem Termin im Urlaub befand und per Telegramm abgesagt hatte. 361 Dass sich die SED-Bezirksleitung diese Respektlosigkeit eines ihrer Genossen bieten ließ, sagt einiges darüber, wie wichtig ihr der Fall Krawczyk wirklich war. Erst im September, als der »verlorene Sohn« sich zurückgemeldet hatte, wurde der Termin nachgeholt. Offenbar sind Stephan Krawczyk zu diesem Zeitpunkt keine Disziplinarmaßnahmen mehr angedroht worden. Über das Warum kann nur spekuliert werden. Denkbar ist, dass sich die SED-Bezirksleitung im September 1984 für den Genossen Krawczyk nicht mehr zuständig fühlte, ja wahrscheinlich sogar froh darüber war, durch seinen Wohnungswechsel den »Unruheherd« auf eine so einfache Art losgeworden zu sein. Warum dann aber die Bezirksleitung überhaupt noch an dieser Aussprache festhielt, bleibt unklar. Den überlieferten SED-Akten ist dazu nur Folgendes zu entnehmen: »Das letzte durch uns mit ihm geführte Gespräch im September 1984 machte deutlich, dass er offensichtlich jeder Auseinandersetzung ausweichen wollte. Kurze Zeit darauf verließ Krawczyk unseren Bezirk, und wir sehen auch darin das Bestreben seinerseits, sich jeder Verantwortung für sein schädliches Auftreten entziehen zu wollen.« 362
Sollte den Liedermacher wirklich sein Umzug nach Berlin vor weiteren Disziplinierungsversuchen durch den lokalen Partei- und Staatsapparat bewahrt haben? Zumindest für die Abteilung XX/7 der MfS-Bezirksverwaltung scheint Stephan Krawczyks Entscheidung, seinen Hauptwohnsitz nach Berlin verlegt zu haben, ausschlaggebend dafür gewesen zu sein, ihre operative Arbeit gegen den Musiker einzustellen. »Seit diesem Zeitpunkt konnten zu ihm keine operativ-relevanten Informationen, Fakten oder Hinweise hinsichtlich seiner Pläne und Absichten erarbeitet werden.« 363 Im Unterschied zur ähnlichen Sachlage bei der Gruppe »Circus Lila« ruhte der Teilvorgang »Bühne I« faktisch bis zur offiziellen Einstellung des gesamten ZOV »Bühne« im Jahre 1985. Warum der angeblich so brisante Fall Krawczyk nicht 359 BV Gera, Abt. XX: Zwischeneinschätzung zum ZOV »Bühne«, TOV »Bühne I« v. 30.8.1984; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 166. 360 BV Gera, Abt. XX/7: Abspracheprotokoll v. 28.7.1984; BStU, MfS, BV Gera, AOV 765/85, Bd. I, Bl. 218 f. 361 Vgl. BV Gera, Abt. XX/7: Protokoll über die Absprache mit Gen. Rudolf v. 27.7.1984; ebenda, Bl. 217. 362 SED-BL Gera an SED-BL Berlin: Brief v. 11.7.1985; ThStA Rudolstadt, BL der SED Gera, A 8240. 363 BV Gera, Abt. XX/7: Operative Einschätzung des TOV I des ZOV »Bühne« v. 6.3.1985; BStU, MfS, BV Gera, AOV 765/85, Bd. I, Bl. 236.
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sofort an die Berliner Bezirksverwaltung des MfS weitergegeben wurde, lässt sich aufgrund der Aktenlage der Bezirksverwaltung Gera nicht beantworten. Möglicherweise verzögerte aber die Abteilung XX der Bezirksverwaltung die Abgabe des Teilvorgangs I, weil damit für sie ein erheblicher Bedeutungs- bzw. Substanzverlust des ZOV »Bühne« eingetreten wäre. Fall 3: »Pazifistische Tendenzen, welche ›wachrütteln‹ und Aufruf zum Handeln sein sollen, sind erkennbar« 364 – Der Stückeschreiber Martin Morgner Dem Sachstandsbericht der zuständigen Kreisdienststelle Gera-Stadt vom Februar 1984 können wir einige aufschlussreiche Feststellungen entnehmen. Danach konnten dem Künstler keine strafrechtlichen Handlungen nachgewiesen werden, obwohl seine Texte nach Auffassung der Kreisdienststelle politische Botschaften, zum Beispiel pazifistisches Gedankengut transportierten und »wachrütteln« wollten. »Eine klare strafrechtliche Bewertung« seiner Texte sei bisher aber nicht möglich gewesen, weil die Kreisdienststelle nicht über die dafür notwenigen IM verfügte, versuchte sie zu ihrer eigenen Entlastung vorzubringen. Im Zentrum der fortlaufenden operativen Maßnahmen gegen Martin Morgner sollten deshalb die weitere Aufklärung seiner künstlerischen Vorhaben, vornehmlich seiner Texte und deren Aufführungsmöglichkeiten, sowie die Verhinderung bzw. Einschränkung dieser Möglichkeiten durch IM und die offiziell zuständigen staatlichen Institutionen erfolgen. 365 Neben dem Einsatz der IM/GMS »Bauer« und »Dietrich« 366 im Arbeitsumfeld sollte durch die verstärkte Zusammenarbeit mit Schlüsselpositionen im Theater (Intendant und Chefdramaturg) die Kontrolle bzw. der Einfluss auf Martin Morgner deutlich erhöht werden. Zusätzlich zu den laufenden Überwachungsmaßnahmen (Postkontrolle und Abhörmaßnahmen) im Wohnbereich Martin Morgners plante die Kreisdienststelle Gera, einen Mitarbeiter der Kriminalpolizei (Wohnungsnachbar) für die intensive Überwachung im »Freizeitbereich« einzusetzen. 367 Doch trotz aller Anstrengungen in den zwei Jahren zuvor, musste die Kreisdienststelle Gera-Stadt feststellen:
364 KD Gera: Sachstandsbericht zum TOV »Bühne IV« v. 13.2.1984; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. II, Bl. 139. 365 Ebenda, Bl. 139 f. 366 Nach Aktenlage hat der IMS »Dietrich« im Falle Martin Morgners die ihm zugedachten Aufgaben nicht realisiert. Vgl. BStU, MfS, BV Gera, AOV 5/87, Bd. II, Bl. 133. 367 KD Gera: Operativplan zur weiteren Bearbeitung des ZOV »Bühne«, TOV »Bühne IV« v. 13.2.1984; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. II, Bl. 141 ff.
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»Die bisher im OV genannten Erscheinungen und Aktivitäten sind als Handlungen gemäß § 220 StGB [Öffentliche Herabwürdigung] 368 einzuordnen, ohne dass dabei die strafrechtliche Relevanz durch die OV-Person überschritten wurde.« 369
Stets mit einer gewissen Vorsicht, doch letztendlich unbeirrt, ging Martin Morgner auch 1984 seinen künstlerischen Weg in Gera weiter. Zutiefst beunruhigt von der weltweit wachsenden Kriegsgefahr und angetrieben von seinem künstlerischen Ehrgeiz produzierte der umtriebige Künstler eine beeindruckende Fülle von Texten. 370 Er versuchte, am Geraer Theater ein spartenübergreifendes Friedensprogramm zu initiieren, bot der Theaterleitung eine selbstgeschriebene Rockoper 371 an und schlug der Puppenbühne ein neues, von ihm selbst verfasstes Stück, »Kaspar rettet den Baum«, vor. Bei all diesen Tätigkeiten bescheinigte die örtliche Staatssicherheit Martin Morgner mehrfach, dass er »bewusst und zielgerichtet mit den Ausdrucksmitteln der Kunst und Kultur eine hohe Öffentlichkeitswirksamkeit im Sinne einer unabhängigen Friedensbewegung und ihren verschiedenen Strömungen erreichen will«.372 Im Februar 1984 hatte er gemeinsam mit der Regieassistentin Gabriele Stöß und der Schauspielerin Annette Büschelberger seine Theaterleitung mit dem Vorschlag überrascht, ein »Initiativfriedensprogramm« am Theater zu veranstalten. 373 Zweifelsohne wollten Martin Morgner und seine Kolleginnen aus zunehmender eigener Angst und echter Sorge um den bedrohten Frieden in der Welt mit ihrem künstlerischen Programm ihre Umwelt für diese Fragen sensibilisieren. Obwohl es sich bei dieser Initiative von vornherein um ein offizielles, auf einer staatlichen Bühne vorgetragenes künstlerisches Friedensprogramm und keine Protestdemonstration gegen sowjetische SS 20 Raketen handeln sollte, war die Theaterleitung nicht bereit, diese 368 Im § 220, Öffentliche Herabwürdigung, des StGB der DDR heißt es: »Wer in der Öffentlichkeit die staatliche Ordnung oder staatliche Organe, Einrichtungen oder gesellschaftliche Organisationen oder deren Tätigkeit oder Maßnahmen herabwürdigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe, Geldstrafe oder mit öffentlichem Tadel bestraft. Ebenso wird bestraft, wer Schriften, Gegenstände oder Symbole, die geeignet sind, die staatliche oder öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen, das sozialistische Zusammenleben zu stören oder die staatliche oder gesellschaftliche Ordnung verächtlich zu machen, verbreitet oder in sonstiger Weise anderen zugänglich macht.« 369 KD Gera: Sachstandsbericht zum TOV »Bühne IV« v. 13.2.1984; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. II, Bl. 139. 370 Zeitzeugeninterview mit Martin Morgner am 29.9.2008. 371 Im Gutachten des Geraer Schriftstellers Klaus Steinhaußen alias IME »Gerhard Bergmann«, heißt es zu dieser Rockoper: »Die Geschichte wirkt konstruiert. Die Figuren sind Typen, ohne individuelles, charakterliches Profil. […] Alles in allem mangelt es dem Text vor allem an menschlich-moralischer und politischgesellschaftlicher Substanz. Die Autorenabsicht bleibt zu klein. Die Geschichte wirkt kleinlich. Unseren erzieherischen Ansprüchen und den Ansprüchen des fortgeschrittenen Teils unserer Jugend an sich selbst wird der Text nicht gerecht.« Vgl. IME »Gerhard Bergmann«: Zur Textvorlage des Rockdramas »Arno, Katharina und Paul« o. D.; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. II, Bl. 290. 372 KD Gera: Einschätzung zum TOV »Bühne IV« v. 7.3.1985; ebenda, Bl. 203. 373 Nach den Vorstellungen der 3 Initiatoren sollte dieses Programm als Zusatzproduktion in der Bühne am Park für Jugendliche ab 16 Jahren aufgenommen und gemeinsam von Kollegen aus dem Puppentheater, Ballett, Schauspiel, Orchester und dem Kabarett »Fettnäpfchen« aufgeführt werden.
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Initiative zu unterstützen. In dieser Haltung wusste sie sich einig mit dem obersten SED-Kulturfunktionär des Bezirkes, August Paczulla. Der vertrat zwar ganz allgemein die Meinung, dass Literatur und Kunst »Waffen sind«, die »im Friedenskampf genutzt werden müssen«, 374 doch hier ging es nicht um Kunst, sondern darum, die alleinige Meinungsführerschaft der Partei in Sachen Friedenspolitik zu wahren. Da konnte es keine Kompromisse geben. Demzufolge stellte dieses selbstständig erarbeitete Friedensprogramm von Anfang an für die Leitung der Städtischen Bühnen einen Angriff auf die offizielle Friedenspolitik der SED dar, für das sie nicht gewillt war, ihre Bühne zur Verfügung zu stellen. Abgesehen davon hätte die SED-Bezirksleitung aus den bereits genannten Gründen eine Aufführung dieses Programms nicht genehmigt. Da sich die Theaterleitung aber nicht traute, dies offen auszusprechen, bedurfte es etlicher taktischer Winkelzüge der Intendanz, um das von ihr als bedrohlich empfundene Engagement der Initiatoren zu stoppen und damit wieder Herr des Geschehens zu werden, bevor andere Stellen eingriffen. Eigentlich folgte die Initiative von Martin Morgner und seinen Kolleginnen der Linie der Partei, die davon gesprochen hatte, dass Kunst »sich gerade heute stärker denn je im Kampf um Frieden und Sozialismus als Waffe bewährt« habe. 375 In der Praxis ging es jedoch nicht an, eine eigene, von der offiziellen SEDFriedenspolitik abweichende Meinung öffentlich zu propagieren. Diese Erfahrung hatten bereits im November 1983 etwa 70 Geraer Bürger machen müssen, als sie versucht hatten, eine unabhängige Friedensdemonstration zu organisieren, um gegen die Einführung des Wehrkundeunterrichtes und der Stationierung sowjetischer SS 20 Raketen in der DDR zu protestieren. 376 Mit dem Einwand, das von Martin Morgner vorgelegte Programm werde der Forderung nach einer »Mobilisierung der Bevölkerung, sich echt für die Friedenspolitik der DDR zu engagieren« 377, nicht gerecht, versuchte die Theaterleitung den Programmvorschlag vom Tisch zu wischen. Nach Ansicht des Intendanten wurde in den eingereichten Texten, darunter ein Auszug aus Heiner Müllers »Die Nacht der langen Messer, Martin Morgners »Lied der Marionetten« und vertonte Gedichte von Fritz Graßhoff und Eberhard Dietzsch, 378 ein »starkes Angstgefühl und Pessi-
374 Paczulla, August: Notizen von Beratung mit Kurt Hager am 25.1.1982: ThStA Rudolstadt, BL der SED, A 8222. 375 Volkskammerausschuss für Kultur [Jan. 1983]; BArch DA 1/15425, Bl. 7. 376 Die Demonstranten wollen in Gera vor dem Haus der Kultur mit etwa 100 Teelichtern das Wort »Frieden« legen und 5 Schweigeminuten abhalten. Die als »Aktion« in den Stasi-Unterlagen dokumentierte Friedensdemo wurde durch repressive Maßnahmen des MfS und durch eine Rechtsbelehrung unter den Kirchenvertretern verhindert. Zwei Mitarbeiter der Puppenbühne wurden als angebliche »Hauptdrahtzieher« verhaftet. Vgl. OV »Kerze«; BStU, MfS, BV Gera, AOV 941/86. 377 KD Gera: Monatsbericht zum TOV »Bühne IV« v. 23.3.1984; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. II, Bl. 148. 378 Martin Morgners Lied der Marionette beginnt mit den Zeilen »Als ich noch ein Kind war, klein/Schlug man mir die Häckchen ein/In Kopf und Schulter, jedes Bein/Wer wird nun mein Führer sein?«
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mismus zum Ausdruck gebracht«. Das war für die Theaterleitung Grund genug, eine Überarbeitung des Programms zu fordern. Solange diese nicht zu ihrer Zufriedenheit erfolgt sei, verkündete der Intendant, könne auch nicht mit den Proben für das Friedensprogramm begonnen werden. Mit diesem Einspruch wurde eine Initiative aus der Mitte des Theaterensembles zunächst auf die lange Bank geschoben, um bald danach endgültig begraben zu werden. Um kursierende Gerüchte vom Verbot eines Friedensprogramms zu entkräften, sprach die Theaterleitung bewusst kein generelles Verbot für die Aufführung dieses Programms aus. Das änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass zum wiederholten Male eine Initiative engagierter junger Künstler unterdrückt wurde, weil sich in diesem Punkt die Hardliner auf allen Ebenen durchgesetzt hatten. An diesem vergleichsweise kleinen Fall wird ein grundlegender Mangel des SEDStaates deutlich. Er war nicht in der Lage, spontane und ungelenkte Initiativen seiner Bürger als eine Ressource für die Weiterentwicklung der sozialistischen Gesellschaft zu begreifen und dementsprechend zu behandeln. Im Gegenteil witterte die Partei und mit ihr das MfS bei allen nicht vom Machtapparat ausgehenden Initiativen sofort Gefahr im Verzug und beraubte sich so wichtiger Entwicklungsimpulse. Um zukünftig zu verhindern, dass Martin Morgner »mit derartigen pazifistischen Stücken erneut den Versuch unternimmt, an die Öffentlichkeit zu treten«, wolle die Theaterleitung »Maßnahmen zur Durchsetzung der Einschränkungen« 379 Martin Morgners ergreifen, notierte die Kreisdienststelle Gera befriedigt. Dieses Vorhaben entfaltete aber offenbar keine nachhaltige Wirkung. Bereits in seinem nächsten Puppenstück »Kaspar rettet einen Baum« 380 griff Martin Morgner erneut zentrale Fragen der Friedens- und Umweltpolitik auf. Im Programmheft zur Uraufführung in Gera schrieb er: »Es scheint in unserem Stück um Bäume zu gehen. Es geht auch um Bäume – aber es geht vor allem, wie in der Wirklichkeit, um die Menschen. Nicht die Natur bedroht die Natur, sondern die Menschen bedrohen die Natur. Dies den Menschen klarzumachen und sie zum Nachdenken über ihr eigenes Handeln anzuregen ist der Sinn dieses Stückes. […] Denn in unserer Gegenwart entscheiden die älteren Menschen darüber, wie die Welt aussieht, die sie den jüngeren Menschen hinterlassen werden: grau – oder grün …« 381
Zum wiederholten Male verlangte das Ensemblemitglied Martin Morgner der Geraer Theaterleitung und damit den politisch Verantwortlichen ab, sich mit seinem Die letzte Strophe von Eberhard Dietzschs »Wiegenlied vom Frieden« lautet: »Ich brauch nur den Vater/Das Kind und das Brot/die Sterne am Himmel/Kein frühen Tod.« 379 KD Gera: Monatsbericht zum TOV »Bühne IV« v. 23.3.1984; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. II, Bl. 147–150. 380 Martin Morgner hat von Juli bis Dezember 1984 3 Fassungen dieses Stückes erarbeitet. Die Uraufführung fand am 3.4.1985 im Puppentheater Gera statt. 381 Programmheft zur Uraufführung von »Kaspar rettet einen Baum« der Puppenbühne OestreichOhnesorge in Gera, April 1985.
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künstlerischen Werk und seinen politischen Anliegen auseinanderzusetzen. Letztlich zwang er seine staatliche Leitung dazu, Farbe zu bekennen. Einer kulturpolitischen Einschätzung der Bezirksverwaltung Gera zufolge gab Martin Morgners neues Stück »Kaspar rettet einen Baum« »Raum für Fehldeutungen«, verdeutlichte aber zum Leidwesen der Kontrolleure »nicht zufriedenstellend die Position des Autors«. »Technischer Fortschritt werde gleichgesetzt mit der Zerstörung der Umwelt und Nutzung zur Errichtung eines totalen Überwachungsapparates für die Obrigkeit, wobei es auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Situationen ohne Beachtung der bestehenden unterschiedlichen Gesellschaftssysteme zugeschnitten wurde. Das Volk wird so verdummt, dass es den Fortschritt, der ihm schadet, selbst will und fasziniert ist. Die Objektivierung der Handlung durch Märchenelemente und Momente eines utopischen Vorganges wird durch die Sprache aufgebrochen; das Spiel wird auf uns bezogen. Der Widerspruch zwischen Fortschritt und Missbrauch technischer Errungenschaften wird als objektiv gegeben festgeschrieben.« 382
Diese politisch-ideologische Einschätzung stimmte im Wesentlichen mit dem Votum der Geraer Theaterleitung überein, die zur weiteren Überarbeitung das Stück an den Autor zurückgab. Dagegen traf der Text bei den Kollegen im Puppentheaterensemble auf große Zustimmung. Wie schon im Falle von »Circus Lila« und Stephan Krawczyk intervenierte die örtliche Staatssicherheit auch gegen eine weitere öffentliche Aufwertung der Puppenbühne, und vieles deutete darauf hin, dass diesmal die regionalen Einrichtungen des Partei- und Staatapparates zumindest zeitweilig mit der Staatssicherheit an einem Strang zogen. Folglich bereitete den regionalen »Organen« eine beabsichtigte Auszeichnung des Puppentheaterensembles mit einem Preis der Direktion für Theater und Orchester beim Ministerium für Kultur sowie die Einladung der Puppenbühne zu einem Gastspiel während des internationalen Kongresses der UNIMA in Dresden einiges Kopfzerbrechen. Beide Vorhaben hätten unweigerlich zu einer weiteren Aufwertung des Puppentheaters Gera und ihres Protagonisten Martin Morgner geführt. Das sollte mit allen der regionalen Staatsmacht zur Verfügung stehenden Mitteln verhindert werden. Als ersten Schritt sandte die Kreisdienststelle Gera-Stadt eine »Information« an die SED-Bezirksleitung, den 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Gera Stadt und an den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes. Ziel dieser Aktion war es, die Auszeichnung des gesamten Kollektivs der Puppenbühne mit einem Preis des Kulturministeriums und der Teilnahme am UNIMA-Kongress in Dresden zu verhindern. Auf der Basis von Berichten des Direktors des Puppentheaters, alias GMS »Bauer«, 383 informierte die MfS-Kreisdienststelle Gera über den ihrer Meinung nach bedenklichen »politisch-ideologischen Zustand« des Ensembles. Die erfolgte Verhaftung zweier 382 KD Gera: Sachstand v. 27.8.1984; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. II, Bl. 180–189, hier 183. 383 Vgl. Bericht des GMS »Bauer« v. 11.4.1984; BStU, MfS, BV Gera, X 1108/80, Bl. 214 f.
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Ensemblemitglieder wegen der Verteilung illegaler Flugblätter, also einer politischen Aktion, die in keinerlei Zusammenhang mit dem Puppentheater stand, war ihr ein willkommener Anlass, das Puppentheater zusätzlich in Misskredit zu bringen. 384 Zu den weiteren, besonders »negativ in Erscheinung getretenen« Ensemblemitgliedern rechnete die Kreisdienststelle Gera-Stadt auch den Puppenspieler und Dramaturgen Martin Morgner. Dem Bericht des GMS »Bauer« ist ferner zu entnehmen, dass »der Intendant der Städtischen Bühnen und er selbst gemeinsam die Ansicht vertraten, dass nach der Verhaftung zweier Ensemblemitglieder die Teilnahme des Ensembles am UNIMA-Kongress infrage gestellt sei«. Diese Verknüpfung rief im Ensemble heftigen Protest hervor. Im Wortlaut der Kreisdienststelle erhoffte sich das Ensemble »durch ihre Auftritte [beim UNIMA-Kongress] zu nationaler und internationaler Anerkennung zu gelangen und somit die ›Immunität‹ weiter zu erhöhen«. 385 Diese Überlegung war durchaus zutreffend, gehörte es doch zu den gängigen Spielregeln der SED-Kulturpolitik, international anerkannten Künstlern Privilegien einzuräumen, zumindest solange sie sich grundsätzlich loyal verhielten. Die Genossen der SED-Kreisleitung gaben diesen Bericht an ihre Genossen in der Bezirksleitung weiter. Ende Mai lud dann die SED-Bezirksleitung alle mit der Frage der Auszeichnung bzw. Teilnahme der Puppenbühne am UNIMA-Kongress befassten Institutionen des Partei- und Staatsapparates zu einer gemeinsamen Beratung in die Bezirkshauptstadt ein. Daran nahmen der Mitarbeiter des ZK, Hafranke, der Sekretär der SED-Bezirksleitung Gera, August Paczulla, und der Leiter der Abteilung Kultur, Klaus Rudolph, sowie der Direktor der Berliner Schauspielschule, Hans Peter Minetti 386, und der Intendant der Städtischen Bühnen, Heinz Schröder, teil. Einen Tag später informierte der Genosse Rudolph Major Wirkner über die Ergebnisse dieser Sitzung. Wirkners Gesprächsprotokoll entnehmen wir, dass sich die oben genannte Runde darauf verständigt hatte, über den Rat des Bezirkes, Abteilung Kultur, den zuständigen stellvertretenden Minister für Kultur, Meier, ebenfalls über die wichtigsten Ergebnisse der Beratung zu informieren. Danach drückten zunächst einmal alle staatlichen Kulturinstitutionen von Gera dem Minister gegenüber ihr Unverständnis darüber aus, dass sie in die Entscheidung zur Auszeichnung der Puppenbühne nicht eingebunden wurden. Des Weiteren wurde die beabsichtig384 In der Information heißt es u. a.: »Gegenwärtig befinden sich zwei Ensemblemitglieder in Untersuchungshaft wegen strafbarer Handlungen gemäß § 218 StGB [Zusammenschluss zur Verfolgung gesetzwidriger Ziele]. Es ist zu verzeichnen, dass das Ensemble sich mit den Handlungen der beiden solidarisiert und beabsichtigt, sie in die o. g. Auszeichnung einzubeziehen. Durch das Kollektiv wurde in diesem Zusammenhang spontan geäußert, ›jetzt können sie uns nichts mehr anhaben‹, was sich eindeutig auf mögliche Maßnahmen der staatlichen Leitung, der gesellschaftlichen Kräfte und Sicherheitsorgane bezieht, da man glaubt, mit Hilfe dieser Anerkennung eine gewisse Immunität erreicht zu haben.« Vgl. KD Gera: Information zu negativ-feindlichen Tendenzen in der Puppenbühne Gera durch die Mitglieder des Ensembles v. 21.5.1984; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. II, Bl. 153 f. 385 Ebenda. 386 Der Schauspieler Hans Peter Minetti war als Direktor der Berliner Schauspielschule »Ernst Busch« auch für die Ausbildung der Puppenspieler in der DDR verantwortlich.
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te Auszeichnung des gesamten Ensembles der Puppenbühne einstimmig abgelehnt und zugleich der Vorschlag unterbreitet, nur ein kleines Kollektiv bzw. Einzelpersonen auszuzeichnen. Zusätzlich plädierten die Abteilung Kultur des Rates des Bezirkes und der Intendant des Geraer Theaters dafür, die Delegierung der Puppenbühne zum UNIMA-Kongress zurückzunehmen. Major Wirkners Gesprächprotokoll zufolge hatte das Kulturministerium daraufhin in Aussicht gestellt, nicht mehr das gesamte Ensemble, sondern nur noch ein Regiekollektiv auszuzeichnen und die Delegierung zum besagten Kongress zu annullieren. Für beide Maßnahmen liege, so Wirkner, die Unterstützung der Kulturabteilung des ZK vor. 387 Am Ende des Tages mussten sich jedoch das MfS und die örtlichen Institutionen mit einem Minimalerfolg zufrieden geben. Das Ministerium für Kultur hielt letztendlich nur an der Beschränkung auf die Auszeichnung eines Regiekollektivs fest. In Sachen UNIMA-Kongress wurde allen Vorbehalten und Intrigen zum Trotz schließlich vom Kulturministerium entschieden, das Geraer Puppentheater fahren zu lassen. Auf welche Intervention diese Entscheidung zurückging, ist quellenmäßig nicht belegt. In einer Zwischeneinschätzung vom September 1984 notierte die Bezirksverwaltung Gera kommentarlos, dass eine Teilnahme am UNIMA-Kongress nicht verhindert werden konnte. In der Lesart der SED-Bezirksleitung habe jedoch »in Absprache mit den Genossen des Ministeriums für Kultur und den Genossen der Bezirksverwaltung des MfS das Ensemble der Puppenbühne Gera am UNIMAKongress in Dresden teilgenommen«. 388 Vermutlich hatte die Kulturabteilung des ZK, entgegen ihrer ersten Andeutung, doch eine Empfehlung an die SED-Bezirksleitung Gera ausgesprochen, das Puppentheater bei diesem internationalen Kongress auftreten zu lassen. Nach übereinstimmenden Berichten löste das Puppentheater mit seinen beiden Aufführungen »Die Prinzessin mit dem Echo« und der »Kaspariade« in Dresden wahre Begeisterungsstürme aus. Das MfS konnte zwar erfolgreich gegen Stephan Krawczyks Soloauftritt intervenieren, 389 seinen Auftritt mit der Gruppe »Liedehrlich« in der Aufführung »Der Prinzessin mit dem Echo« jedoch nicht verhindern. Angesichts des großen Erfolges des Puppentheaters sah sich der Rat des Bezirkes Gera veranlasst, offiziell zu verkünden: »Das Puppentheater Gera hat mit seinen Auftritten einen würdigen Beitrag zum Festival geleistet.« 390 Im Unterschied dazu 387 BV Gera, Abt. XX: Abspracheprotokoll v. 25.5.1984; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 81 f. 388 SED BL Gera, Abt. Wiss./Vobi./Kultur an Genossen Ziegenhahn: Brief v. 23.11.1984; ThStA Rudolstadt, BL der SED Gera, A 8240. 389 Der Verband der Theaterschaffenden hatte Stephan Krawczyk per Telegramm kurzfristig mitgeteilt, dass sein Soloauftritt gestrichen worden war. 390 RdB Gera, Abt. Kultur: Bericht über die Teilnahme des Puppentheaters der Bühnen der Stadt Gera am XIV. UNIMA-Kongress in Dresden vom 17. bis 24.8.1984 v. 28.8.1984; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. II, Bl. 191–194.
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stellte die MfS-Bezirksverwaltung fest: »Damit ist eine weitere nationale und erstmalige internationale Aufwertung des Ensembles nicht ausgeschlossen.« 391 Auch die SED-Bezirksleitung blieb skeptisch, wenn sie ihrem 1. Sekretär Ziegenhahn mitteilte: »Trotz gewisser Fortschritte in der ideologischen Arbeit mit den Ensemblemitgliedern und der Einschränkung der Wirkungsmöglichkeiten von negativen Kräften bleibt die Puppenbühne für uns ein ideologischer Schwerpunkt.« 392 Der Puppenspieler und Autor Martin Morgner profitierte zwar von den künstlerischen Erfolgen der Geraer Puppenbühne, gleichzeitig fühlte er sich aber durch die fortwährenden Schwierigkeiten mit der staatlichen Leitung des Theaters eingeschränkt. Nicht zuletzt aus diesem Grund entschloss er sich, im Sommer 1984 seine Kündigung einzureichen. Er wollte endlich seinen lange gehegten Wunsch, als freischaffender Künstler zu arbeiteten, ab Frühjahr 1985 in die Tat umsetzen. »Ich bin heilfroh, bald freischaffend zu sein und somit allein verantwortlich für das, was gut ist und was nicht und dadurch von anderen nicht mehr abhängig«,393 hatte Martin Morgner im Theater verlauten lassen.
Exkurs: Die 20. Arbeiterfestspiele im Juni 1984 im Bezirk Gera und der ZOV »Bühne« Die 20. Arbeiterfestspiele – Eine Herausforderung für den SED-Machtapparat des Bezirkes Gera Die 20. Arbeiterfestspiele fanden vom 22. bis 24. Juni 1984 im Bezirk Gera statt. Sie waren für den Bezirk, vornehmlich aber für die Bezirkshauptstadt Gera, der kulturelle Höhepunkt des Jahres. In den Unterlagen der regionalen Staatssicherheit wurden diese Arbeiterfestspiele stets als »Spitzenereignis im Bezirk« bezeichnet. Auf dem V. SED-Parteitag (1958) war die Idee aufgekommen, zur weiteren Entwicklung der sozialistischen Nationalkultur künftig Arbeiterfestspiele zu veranstalten. Ihre Durchführung wurde auf der 32. Tagung des Bundesvorstandes des FDGB 394 im Juli 1958 beschlossen. Träger und Organisator dieses erstmals 1959 stattfindenden Kulturfestes wurde der Gewerkschaftsbund in enger Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Kultur und anderen staatlichen und gesellschaftlichen
391 BV Gera, Abt. XX: Zwischeneinschätzung zum ZOV »Bühne« v. 3.9.1984; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 98. 392 SED BL Gera, Abt. Wiss./Vobi./Kultur an Genossen Ziegenhahn v. 23.11.1984; ThStA Rudolstadt, BL der SED Gera, A 8240. 393 KD Gera: IM-Bericht von »Bauer« v. 2.4.1985; BStU, MfS, BV Gera, X/1108/80, Bl. 246. 394 FDGB ist die Abkürzung für Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, der Einheitsgewerkschaft in der DDR.
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Einrichtungen. 395 Das Programm der Festspiele wurde von Volkskunstschaffenden und Berufskünstlern aller Kunstgattungen sowie ausländischen Kulturensembles und Solisten gestaltet. Die Laienkünstler erwarben die Teilnahmeberechtigung in der Regel bei vorherigen Leistungsvergleichen und -ausscheiden. Darüber hinaus konnten die Gewerkschaft oder auch staatliche Einrichtungen zusätzlich Künstler zu den Arbeiterfestspielen delegieren, respektive einladen. Zunächst fanden diese Festspiele jährlich, ab 1972 alle zwei Jahre statt. In der Lesart der Partei demonstrierten sie »das hohe Niveau des Neuen in der Entwicklung der sozialistischen Nationalkultur der DDR, verwirklichten den ›Bitterfelder Weg‹ 396 und machten die kultur- und kunstschöpferischen Leistungen der Arbeiterklasse sichtbar«. 397 Im Jahre 1984 wurden die Arbeiterfestspiele zum zweiten Mal 398 im Bezirk Gera ausgetragen. 399 Wie die einschlägigen Dokumente zeigen, stellte die Ausrichtung dieses kulturellen Massenereignisses eine außerordentliche Herausforderung für die Partei-, Staats- und Sicherheitsorgane in der ostthüringischen Bezirkshauptstadt und allen anderen Festspielkreisen des Bezirkes dar. 400 Einer Information der Bezirksverwaltung Gera zur Vorbereitung dieses Spektakels ist zu entnehmen: »Die Sicherung der 20. Arbeiterfestspiele stellt höchste Anforderungen an unsere tschekistische Arbeit. Das betrifft sowohl den Umfang der zu lösenden Aufgabenstellungen als auch deren politische und operativ bedeutsame Größenordnung.« 401
Zur »Leistungsschau der kulturschöpferischen Kräfte der Arbeiterklasse/Genossenschaftsbauern« rechnete die MfS-Bezirksverwaltung mit 12 500 Mitwirkenden, darunter ca. 1 000 Berufskünstlern, etlichen »Repräsentanten« der Partei- und Staatsführung, vielen Gästen aus nah und fern sowie Journalisten des In- und Auslandes. Als Topereignisse wurden die Eröffnungs- und Abschlussveranstaltungen in Gera eingestuft. 402 Aus dieser internen Lagebeschreibung leitete die MfSBezirksverwaltung eine, ihrem Kontroll- und Sicherheitswahn geschuldete, voll395 Dazu gehörten der Nationalrat der Nationalen Front, der Kulturbund, die Künstlerverbände, die Deutsche Akademie der Künste und die FDJ. 396 Vgl. Braun, Matthias: Walter Ulbrichts Traum vom neuen Menschen. Zu seinen Reden auf den Bitterfelder Konferenzen von 1959 und 1962. In Barck, Simone; Wahl, Stefanie (Hg.): Bitterfelder Nachlese. Berlin 2007, S. 53 ff. 397 Bühl u. a. (Hg.): Kulturpolitisches Wörterbuch (Anm. 202), S. 23. 398 1964 wurden die 6. Arbeiterfestspiele das erste Mal im Bezirk Gera ausgetragen. 399 Dem Vernehmen nach hatte sich der Leiter der Kulturabteilung des RdB, Hans Kathe, sehr dafür eingesetzt, dass 1984 die AFS an den Bezirk vergeben werden. 400 Beschluss des Präsidiums des Bundesvorstandes des FDGB v. 8.10.1982 zu den 20. Arbeiterfestspielen der DDR vom 22. bis 24.6.1984 im Bezirk Gera; Stadtbibliothek Gera Ter F 31.0 und Beschluss der 4. Tagung des Bezirkstages Gera am 17.3.1982; Stadtbibliothek Gera Ter F 31. 401 BV Gera, AKG: Unterlagen zur Dienstkonferenz [Herbst 1983]; BStU, MfS, BV Gera, AKG 3346, Bl. 24. 402 In allen Kreisen des Bezirkes waren Veranstaltungen geplant. Zu den zentralen Veranstaltungen der 20. Arbeiterfestspiele gehörten u. a. das Fest der Möbelwerker in Zeulenroda, das Fest der Textilwerker in Greiz und das Fest der Metallurgen in Saalfeld.
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kommen überzogene komplexe sicherheitspolitische Aufgabenstellung ab. Nach eigener Einschätzung bestand sie »im kameradschaftlichen Zusammenwirken mit dem Veranstalter und den anderen Schutz- und Sicherheitsorganen unter allen Bedingungen der Lage eine störungsfreie Vorbereitung und Durchführung aller Veranstaltungen zu gewährleisten«. 403 Bereits im Dezember 1983 erließ der Leiter der Bezirksverwaltung Gera, Generalmajor Dieter Lehmann, einen umfangreichen Befehl zur »Aktion Volkskunst 84«. Dieser gab die Leitlinie für die »politisch-operative Sicherung der Vorbereitung und Durchführung der 20. Arbeiterfestspiele« 404 vor. In diesem Sinne konnte die »stabsmäßige Sicherung der Vorbereitung und Durchführung« der Arbeiterfestspiele mit einem halbjährlichen Vorlauf in Gang gesetzt werden. Der genannte Befehl listete sämtliche Sicherungsaufgaben auf. An erster Stelle stand dabei »die Aufklärung der Pläne und Absichten des Gegners, die sich gegen den störungsfreien Verlauf der Arbeiterfestspiele richten«. An zweiter Stelle wurde »die Gewährleistung der staatlichen Sicherheit im Verantwortungsbereich« genannt. Auf Platz drei rangierte »die Sicherung des störungsfreien Verlaufes [der Festspiele], insbesondere die vorbeugende Verhinderung jeglicher feindlicher, negativer und öffentlichkeitswirksamer Handlungen, Vorkommnisse und Erscheinungen«. Der vierte Schwerpunkt sah »die Erhöhung von Sicherheit und Ordnung, insbesondere die Verhinderung von Bränden, Störungen und Havarien in der Wirtschaft des Bezirkes« vor. 405 Schon diese umfangreichen Aufgabenfelder lassen erkennen, dass fast alle Diensteinheiten der Bezirksverwaltung bzw. Kreisdienststellen des Bezirkes Geraer in das Sicherungskonzept involviert waren. Diese Praxis gehörte gewissermaßen zu den Standardaufgaben des MfS bei allen Großveranstaltungen in der DDR. Als erste Maßnahme sah der Befehl 12/83 die Gründung einer nichtstrukturellen Arbeitsgruppe in der Bezirksverwaltung vor. Sie stand unter der Leitung des Stellvertreters Operativ, OSL Jürgen Seidel. Zu ihren primären Aufgaben gehörte es, »Grundsatzdokumente und Weisungen, einschließlich der erforderlichen Stabsdokumente« für den Leiter der Bezirksverwaltung zu erarbeiten. Im Wesentlichen handelte es sich dabei um die standardmäßigen operativen Tätigkeiten des MfS. Im tschekistischen Vokabular waren das die Durchführung »operativer Grundprozesse«, wie etwa die Aufklärungstätigkeit oder auch die »Einleitung vorbeugender Maßnahmen« – wie bereits weiter oben beschrieben. Um die ganze Bandbreite der Aufgabenstellungen Punkt für Punkt erfüllen zu können, ordnete der Befehl, ganz im Sinne der »politisch-operativen Zusammenarbeit«, ein zweigliedriges Verfahren an. Dabei galt es an erster Stelle innerhalb des eigenen Apparates für alle an der Aktion »Volkskunst 84« beteiligten Diensteinheiten der Bezirksverwaltung und der entspre403 BV Gera, Leiter: Befehl 12/83 zur politisch-operativen Sicherung der Vorbereitung und Durchführung der 20. Arbeiterfestspiele der DDR im Bezirk Gera v. 20.12.1983; BStU, MfS, BV Gera, BdL-Dok. Nr. 713, Bl. 3–13. 404 Ebenda. 405 Ebenda.
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chenden MfS-Kreisdienststellen, lückenlose Maßnahmenpläne zu erstellen. Zum Zweiten wies der Befehl 12/83 den ständigen Kontakt zum Bezirksvorstand der Gewerkschaft (FDGB) »zwecks Wahrnehmung und Durchsetzung der politischoperativen Interessen des MfS« an. Analog dazu hatten die beteiligten Kreisdienststellen der Staatssicherheit neben ihren allgemeinen Sicherungsaufgaben »das Zusammenwirken mit der [jeweiligen] SED-Kreisleitung, dem Kreisvorstand des FDGB sowie den anderen Schutz- und Sicherheitsorganen« zu gewährleisten. 406 Die üblichen Feindbildprojektionen des Apparates hatten Hochkonjunktur. Hier präsentierte sich eine politische Geheimpolizei, die nicht nur ihre Rolle als allgemeines Überwachungs- und Kontrollorgan wahrnehmen wollte, sondern durchaus auch den Anspruch erhob, steuernd einzugreifen. In dem Befehl 12/83 ist nicht nur von Zusammenarbeit mit anderen Institutionen des Partei- und Staatsapparates, sondern auch von Einflussnahme auf diese Institutionen die Rede. Zum einen geht es um das Einwirken auf die Deutsche Volkspolizei (DVP), insbesondere auf die Abteilung Feuerwehr und die Behörden der staatlichen Bauaufsicht zur protokollarischen Abnahme der Veranstaltungsobjekte und Bühnen. Zum anderen war auch eine Mitsprache an der Programmgestaltung sowie der Auswahl der beteiligten Künstler an den 20. Arbeiterfestspielen vorgesehen. In diesem Zusammenhang gelte es zu gewährleisten, »dass nur zuverlässige Personen (Kulturgruppen, Künstler, Ensembles, Sicherungskräfte, Betreuer und Objektbeauftragte) aus dem Verantwortungsbereich teilnehmen«. Besonderes Augenmerk sollte auf Kabaretts, Arbeitertheater und Lesungen gerichtet werden. Den Planspielen der Geraer Bezirksverwaltung zufolge sollte eine republikweite Einflussnahme angestrebt werden. Wörtlich heißt es: »Herstellung der operativen Arbeitsbeziehungen zu den verantwortlichen Diensteinheiten außerhalb des Verantwortungsbereiches der Bezirksverwaltung Gera und Herbeiführung verantwortungsbewusster Entscheidungen über die geplante Teilnahme von Berufs- und Laienkünstlern zu Veranstaltungen im Territorium, von denen feindlich-negative Handlungen zu erwarten sind.« 407
Der Befehl von Generalmajor Dieter Lehmann schrieb für alle beteiligten Diensteinheiten auf der Ebene der Bezirksverwaltung bzw. der Kreisdienststellen des MfS im Bezirk Gera verbindliche Berichtspflichten und Kontrollmaßnahmen vor. Hierzu sollten gezielt inoffizielle Mitarbeiter der Bezirksverwaltung herangezogen werden. Dieses Überprüfungssystem sollte die Beherrschung der Lage im Bezirk gewährleisten, Defizite sofort aufdecken helfen und ihre umgehende Behebung garantieren.
406 Ebenda. 407 Ebenda.
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Im Monatstakt wurden erste Festlegungen getroffen. 408 Mit der Konzipierung eines elfseitigen »Maßnahmenplanes zur politisch-operativen Sicherung, Vorbereitung und Durchführung« 409 der Festspiele (im Mai) sowie der »Festlegungen zur Einsatzund Arbeitsbereitschaft der Diensteinheiten der Bezirksverwaltung Gera im Zeitraum der Aktion ›Volkskunst 84‹« 410 (im Juni) verfolgte die Geraer Staatssicherheit von Anfang an das Ziel, bereits in der Vorbereitungsphase nichts dem Zufall zu überlassen. Die umfangreiche Aufgabenpalette der regionalen Staatssicherheit schloss selbst die Überwachung der »erforderlichen Maßnahmen zur medizinischen Betreuung sowie zur hygienischen Kontrolle der Speisen und Getränke, die während der Festspiele verabreicht werden« 411, mit ein. Ferner verpflichte die Staatssicherheit die Veranstalter dazu, für sämtliche Freiluftveranstaltungen Schlechtwettervarianten einzuplanen. Nur so könne für jede Veranstaltungsvariante die erforderliche »Sicherungskonzeption« ordnungsgemäß vorbereitet werden. Parallel zu diesen umfangreichen Maßnahmen liefen auch bei der SED-Bezirksleitung, den staatlichen Einrichtungen des Bezirkes und der Stadt Gera sowie den involvierten zentralen und regionalen Instanzen der Massenorganisationen die organisatorischen Vorbereitungen für diese kulturpolitische Großveranstaltung auf Hochtouren. Zwei Wochen vor Beginn des großen Spektakels teilte der Chef der MfSBezirksverwaltung Gera allen Leitern der operativen Diensteinheiten im Bezirk seine Entscheidung mit, »die Aktion ›Volkskunst‹ [nur – M.B.] mit eigenen Kräften« durchführen zu wollen. Vor diesem Hintergrund gab Generalmajor Lehmann seinen Leitern mit auf den Weg, »alle Mitarbeiter in allen Diensteinheiten politisch so zu motivieren, damit jeder an seinem Platz alle Aufgaben so löst, um den sicherheitspolitischen Erfordernissen zur Gewährleistung eines umfassenden Schutzes unseres Bezirkes im vollen Umfang gerecht zu werden und tagtäglich mit hoher Einsatzbereitschaft um die Lösung der gestellten Aufgaben zu kämpfen«. 412
Zur Gewährleistung einer »umfassenden staatlichen und öffentlichen Ordnung und Sicherheit« während der Festspiele, wie es in den MfS-Unterlagen immer wieder nachzulesen ist, standen rund 9 000 handverlesene Kader zur Verfügung. Dabei handelte es sich im Einzelnen um 1 640 MfS-Mitarbeiter der Bezirksverwaltung Gera, 1 993 Angehörige der Deutschen Volkspolizei und 5 325 »Gesellschaftliche
408 Dazu gehörte u. a. die Festlegung »Weiterführender Maßnahmen zur politisch-operativen Sicherung der Vorbereitung und Durchführung« der Arbeiterfestspiele im März sowie die Erarbeitung einer speziellen »Informationsordnung und eines Informationsbedarfes«. 409 BV Gera, Leiter: Maßnahmeplan zur politisch-operativen Sicherung und Vorbereitung und Durchführung der 20. Arbeiterfestspiele der DDR im Bezirk Gera – Aktion »Volkskunst 84« v. 20.5.1984; BStU, MfS, BV Gera, BdL-Dok. Nr. 713, Bl. 23–33. 410 BV Gera, Leiter des OES: Festlegungen zur Einsatz- und Arbeitsbereitschaft der Diensteinheiten der BV Gera im Zeitraum der Aktion »Volkskunst 84« v. 4.6.1984; ebenda, Bl. 41 f. 411 BV Gera, Stellvertreter Operativ: Aktion »Volkskunst 84«; ebenda, Bl. 20. 412 BV Gera, Leiter: Telegramm v. 9.6.1984; ebenda, Bl. 50 f.
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Kräfte«. 413 Über eine mögliche Aufstockung des MfS-Mitarbeiteranteils, etwa im Zusammenhang mit der Anwesenheit von Mitgliedern der Partei- und Staatsführung während des Kulturspektakels, wurde gesondert entschieden. Der Einsatz der Sicherungskräfte erfolgte nach den Vorgaben der MfS-Bezirksverwaltung. Sie legte die entsprechende Sicherheitsstufe, rot, blau, weiß, für jede einzelne Veranstaltung fest. Rot eingestufte Aktionen unterlagen grundsätzlich der Federführung des MfS. Blau gekennzeichnete Einsätze standen unter der Leitung der Deutschen Volkspolizei. Diese Einsätze begleitete das MfS mit eigenen Mitarbeitern, einschließlich IM/GMS »zur Gewährleistung der Auskunftsfähigkeit«. Die niedrigste Stufe der Sicherungseinsätze (weiß) galt für Veranstaltungen, die im Wesentlichen von den Veranstaltern selbst mit Unterstützung der Polizei (Abschnittsbevollmächtigten, Volkspolizei-Helfer) und Ordnungskräften der Gewerkschaft sowie IM/GMS des MfS abgesichert werden sollten. 414 Wie viele Veranstaltungen jeweils der entsprechenden Sicherheitsstufe unterlagen, darüber gibt das Material keine Auskunft. Parallel zu den Sicherungsmaßnahmen der in die Hunderte gehenden Veranstaltungen mit Tausenden von Teilnehmern und nicht minder großen Massen von Zuschauern, stellte die »Gewährleistung eines optimalen Schutzes der führenden Repräsentanten der DDR«, einschließlich ausländischer Delegationen aus den »Bruderländern«, dem kapitalistischen Ausland und den jungen »Nationalstaaten«, eine besondere Herausforderung für die MfS-Bezirksverwaltung Gera dar. 415 In dem Befehl 7/84 des Leiters der Bezirksverwaltung wurden die entsprechenden Schwerpunkte für den »Repräsentantenschutz« der Politbüromitglieder Kurt Hager, Harry Tisch, Werner Felfe und Paul Verner festgelegt. In erster Linie ging es dabei um einen »optimalen Schutz« der betreffenden Personen bei den beabsichtigten Zusammentreffen mit großen Menschenmassen bei Großveranstaltungen unter freiem Himmel bzw. in geschlossenen Räumlichkeiten. 416 Ein weitaus brisanterer Sicherheitsauftrag kam auf die lokale Staatssicherheit in Form von etwa 40 angekündigten Journalisten aus dem westlichen Ausland, vornehmlich aus der Bundesrepublik, zu. 417 Nicht nur in Gera, sondern überall, wo Westjournalisten jemals auftauchten, schien für das MfS stets Gefahr im Verzug zu sein. Dementsprechend ging die Bezirksverwaltung davon aus, dass insbesondere die Anwesenheit von Journalisten des ZDF und der ARD, »günstige Bedingungen für 413 BV Gera, Leiter: Einschätzung der politisch-operativen Lage und des Standes der Vorbereitung der Aktion »Volkskunst« sowie der Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit v. 6.6.1984; ebenda, Bl. 43–49, hier 49. 414 BV Gera, Leiter: Befehl 12/83; BStU, MfS, BV Gera, BdL-Dok. Nr. 2322, Bl. 22. 415 Vgl. BV Gera, Leiter: Befehl 7/84 zur Gewährleistung eines optimalen Schutzes führender Repräsentanten der DDR innerhalb der Aktion »Volkskunst« v. 21.6.1984; BStU, MfS, BV Gera, BdL-Dok. Nr. 714, S. 1–7. 416 Ebenda, S. 1. 417 Insgesamt rechnete das MfS damit, dass etwa 400 Journalisten über die Arbeiterfestspiele berichten wollten.
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Bestrebungen der PID 418, der Kontaktpolitik/Kontakttätigkeit und anderer subversiver Aktivitäten« böten. Schließlich seien die »imperialistischen Fernsehsender aufgrund ihrer audio-visuellen Einfluss- und Wirkungsweise psychologisch gesehen von allen feindlichen Massenmedien [am besten in der Lage – M.B.] verdeckt wirksamen ideologischen Zersetzungseinfluss zu realisieren«,
ist in einer Diplomarbeit der Juristischen Hochschule des MfS nachzulesen. 419 Diese Aussage entsprach der aktuellen Lageeinschätzung von Generalmajor Lehmann. 420 Danach stellte das große Potenzial von Ausreisekandidaten (»Übersiedlungsersuchenden«) im Bezirk ein ernst zu nehmendes sicherheitspolitisches Problem dar. Der Geraer Sicherheitsapparat registrierte bei der Mehrzahl der Antragsteller »äußerst verfestigte Positionen zur Erreichung ihrer Ziele« und schloss »öffentlichkeitswirksame Aktivitäten zur Erzwingung ihrer Ausreise« nicht aus. Mit anderen Worten, Generalmajor Lehmann und seine Mitarbeiter befürchteten, dass Ausreiseantragsteller und »oppositionelle Kräfte« die Gelegenheit nutzen könnten, mit den Westjournalisten direkten Kontakt aufzunehmen und ihnen Stoff für negative Berichterstattungen aus der DDR-Provinz zu liefern. Mitte der 1980er Jahre sah sich das MfS immer häufiger dieser Konstellation ausgesetzt. Vor dem Beginn der Arbeiterfestspiele wurden im Bezirk Gera 245 Personen aus dem vermeintlich oppositionellen Spektrum geheimpolizeilich überwacht. 421 Obwohl aus diesem Kreis »bisher keine Pläne und Absichten bekannt [sind], die sich gegen die 20. Arbeiterfestspiele richten«, wollte die regionale Staatssicherheit sogenannte provokative Aktionen nicht ausschließen. Grund genug für die Bezirksverwaltung Gera, »eine personenbezogene Kontrolle dieser feindlich negativen Kräfte sowie eine konzentrierte Bearbeitung bekannter Zusammenschlüsse« 422 einzuleiten und auch durchzusetzen. Folglich waren von dieser geheimpolizeilichen Operation auch die im ZOV »Bühne« registrierten Künstler betroffen. Insgesamt schätzte der Leiter der Bezirksverwaltung die langfristige Vorbereitung der Aktion »Volkskunst 84« positiv ein. »Mit dem Org.-Komitee der 20. Arbeiterfestspiele der DVP und den staatlichen Organen sind die Arbeits- und Informationsbeziehungen hergestellt und von allen Diensteinheiten wird 418 PID bedeutet politisch-ideologische Diversion. Laut MfS-Lexikon ist die PID Bestandteil der gegen den realen Sozialismus gerichteten Subversion des Feindes, der die subversiven Angriffe auf ideologischem Gebiet umfasst. Vgl. Suckut, Siegfried (Hg.): Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Berlin 2001, S. 303 f. 419 Hans-Werner Hagen: Zur Rolle, Stellung und Arbeitsweise feindlicher ideologischer Stützpunkte aus Kreisen freiberuflich tätiger Kunst- und Kulturschaffender bei der Intensivierung der PID gegen die DDR (Diplomarbeit); BStU, MfS, JHS 3651/85. 420 BV Gera, Leiter: Einschätzung der politisch-operativen Lage und des Standes der Vorbereitung der Aktion »Volkskunst« sowie der Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit v. 6.6.1984; BStU, MfS, BV Gera, BdL-Dok. Nr. 713, Bl. 43–47. 421 Ebenda, Bl. 46 422 Ebenda, Bl. 44.
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darauf Einfluss genommen, dass die sicherheitspolitischen Interessen des MfS im Hinblick auf die Veranstaltungsvorbereitungen, die Auswahl des Kaderbestandes zur Gewährleistung einer hohen Sicherheit und Ordnung und ständigen Präzisierung der Informationsbeziehungen durchgesetzt werden.«
Generalmajor Lehmann sah sich in seiner Entscheidung bestätigt, bei der Sicherung der Aktion »Volkskunst 84« auf die Hilfe auswärtiger MfS-Diensteinheiten zu verzichten. 423 Der für die Aktion »Volkskunst 84« gebildete Operative Einsatzstab der Bezirksverwaltung nahm am 4. Juni seine Arbeit auf. Vier Tage vor Beginn der Großveranstaltung wurde zur weiteren intensiven Vorbereitung eine Dienstversammlung mit allen Leitern der Diensteinheiten und ihren Parteisekretären einberufen. 424 Eine für das Kulturspektakel extra erarbeitete »Informationsordnung« der Bezirksverwaltung 425 schrieb eine lückenlose Berichterstattung und Einschätzung aller Veranstaltungen vor. In den überlieferten Unterlagen tauchen dazu jedoch nur vereinzelt Dokumente auf. Westkorrespondenten im Blickpunkt der Staatssicherheit Eine Ausnahme bildet eine knapp 200 Seiten umfassende lose Informationssammlung zur Überwachung der Korrespondenten und Mitarbeiter westlicher Rundfunk-, Fernseh- und Printmedien. Ein erhalten gebliebener Maßnahmeplan zur »Sicherung der akkreditierten Korrespondenten und bevorrechteten Personen« 426 sah sowohl die etwaige Verhinderung »subversiver Handlungen bzw. Provokationen der akkreditierten Korrespondenten« als auch die Gewährleistung der Arbeitsmöglichkeiten der Korrespondenten und ihrer Mitarbeiter vor. Beide Aufgaben sollten in enger Zusammenarbeit mit der für die Überwachung westlicher Journalisten »fachlich« zuständigen Berliner Hauptabteilung II/13 gelöst werden. Das vorliegende Material gibt Einblick in den Versuch, die westlichen Journalisten möglichst lückenlos zu überwachen. Diese konnten ihre Unterkünfte nicht frei wählen, sie wurden ihnen zugewiesen. Jedes geführte Telefonat wurde abgehört, die Hotelanlagen streng überwacht. So behandelte man in der Logik des MfS aus außenpolitischen Gründen geduldete Feinde.
423 Ebenda, Bl. 47. 424 Ebenda, Bl. 48. 425 BV Gera, Leiter: Ergänzung zur Informationsordnung der politisch-operativen Sicherung der 20. Arbeiterfestspiele der DDR im Bezirk Gera – Aktion »Volkskunst 84« v. 18.6.1984; BStU, MfS, BV Gera, BdL-Dok. Nr. 713, Bl. 54 f. 426 BV Gera, Abt. II: Maßnahmeplan zur politisch-operativen Sicherung der während der Aktion »Volkskunst 84« akkreditierten Korrespondenten und bevorrechteten Personen aus dem NSA v. 23.5.1984; BStU, MfS, BV Gera, Abt. II 5258, Bl. 4–7. Der Maßnahmeplan bezieht sich auf die Ministerbefehle 16/74 u. 17/74 sowie die Dienstanweisung 6/74 und den Befehl 12/83 des Leiters der BV Gera.
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Die Tagesberichte der Abteilung II der Bezirksverwaltung geben penibel darüber Auskunft, welche Veranstaltungen die einzelnen Medienvertreter besucht, mit wem sie Kontakt aufgenommen und welche Fragen sie gestellt haben. Mit Genugtuung stellte das MfS fest, dass es während der Arbeiterfestspiele zu keinen »Zwischenfällen« mit den Journalisten von ARD, Hessischem Rundfunk, RIAS und Deutschlandfunk gekommen sei. 427 Stimmungsberichte im Umfeld der 20. Arbeiterfestspiele Diversen Stimmungsberichten von IM aus dem zeitlichen Umfeld des kulturellen Großereignisses ist zu entnehmen, dass die Bevölkerung des Bezirkes Gera anlässlich dieses Kulturspektakels keineswegs in Euphorie verfallen war. Ein Informant stellte sogar fest, dass sich das anfängliche Desinteresse an den Arbeiterfestspielen durch die mediale Dauerkampagne und die komplette Ausrichtung des gesellschaftlichen Lebens des Bezirkes auf das bevorstehende Massenereignis in eine regelrechte Abwehrhaltung gegenüber diesem Spektakel entwickelt habe. So nahm die Bevölkerung mit großer Verwunderung wahr, dass auf einmal Dinge möglich wurden, »die im normalen Leben und gesellschaftlichen Ablauf Jahrzehnte zum Teil brach gelegen haben oder sonst nicht möglich waren«. Daraus wurden von der Bevölkerung zwei Schlussfolgerungen gezogen: »Dass es doch möglich ist, manches anzupacken, was bisher noch nicht angepackt werden konnte aber, auch eine resignative Haltung, dass eben nur aus diesen Anlässen manche Missstände beseitigt werden.« 428 Zum Beispiel wurde angesichts einer angespannten ökonomischen Situation die im »Hau-Ruck-Verfahren« durchgeführte oberflächliche Renovierung von Gebäuden und Anlagen als unverantwortliche Verschwendung volkswirtschaftlicher Ressourcen betrachtet. Schon im Vorfeld der Arbeiterfestspiele registrierte ein IM die immer lauter ausgesprochene Kritik an der unzureichenden Informationspolitik der Partei. In diesem Zusammenhang berichtete er über Buchlesungen, auf denen vonseiten der Zuhörer häufig Kritik an schönfärberischen Texten geübt wurde. Sie »forderten eine Darstellung unserer Wirklichkeit wie sie ›wirklich ist‹ und nicht in der Presse dargestellt wird«. 429 Angesichts der verlogenen Presseberichte zur Lage im Handel und der Versorgung der Bevölkerung fühlten sich immer mehr Menschen »nicht ernst genommen und nicht als mündig behandelt«, wie es in einer MfS-Information heißt. Über das Ausmaß der Versorgungslücken in Gera erfahren wir Genaueres aus einer MfS-Information vom Frühjahr 1984. Diesem Papier ist zu entnehmen, dass es große Probleme bei der Bereitstellung von Industriewaren gab. Im Bezirk Gera 427 BV Gera, Abt. II: Tagesbericht Nr. 4 zur Aktion »Volkskunst« 1984 v. 24.6.1984; BStU, MfS, BV Gera, Abt. II 5258, Bl. 130–134. 428 KD Jena: Stimmungsbilder zu den Arbeiterfestspielen (IM-Bericht v. »Hugo«) v. 21.6.1984; BStU, MfS, BV Gera, X 722/78, Bd. II, Bl. 248. 429 KD Jena: Information v. »Hugo« v. 21.6.1984; ebenda, Bl. 247.
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waren weder genügend Küchen- und Polstermöbel noch Arbeits- und Berufskleidung im Angebot. Bei Spielwaren stand ebenfalls nur ein sehr eingeschränktes Sortiment zur Verfügung. Selbst durch die zusätzliche Einrichtung von Exquisitläden (»Delikatprogramm«) konnten die sich im sozialistischen Handel auftuenden Versorgungslücken nicht mehr geschlossen werden, weil noch nicht einmal dieses Sonderprogramm ausreichend beliefert werden konnte. 430 Im Hinblick auf diese eklatanten Mängel kursierte in der Bevölkerung Land auf Land ab der Spruch: »Es gibt alles, nur nicht immer, nicht überall und schon gar nicht, wenn es gerade gebraucht wird.« 431 Bei den vielgestaltigen Veranstaltungen der Arbeiterfestspiele sei dagegen die »Stimmung der Teilnehmer als auch des Publikums ausgesprochen gelöst« gewesen, meldete der IM »Hugo«. Zumindest seiner Einschätzung nach konnten Skepsis und Vorbehalte bezüglich der vielfältigen Veranstaltungen »aus dem Wege geräumt werden«. 432 Auch für den Leiter der Bezirksverwaltung Gera waren die 20. Arbeiterfestspiele, wie nicht anders zu erwarten, ein voller Erfolg. In einem Telegramm an alle Leiter der Diensteinheiten hob er an vorderster Stelle die gut funktionierende Organisation und den reibungslosen Verlauf der Veranstaltungen hervor. Im propagandistischen Tonfall des SED-Zentralorgans »Neues Deutschland« fuhr der Generalleutnant fort, wenn er der »großen Resonanz und Teilnahme der Werktätigen am Festspielgeschehen und einer lebensfrohen optimistischen Atmosphäre in allen Festspielkreisen und Orten« das Wort redete. Der von Partei und Regierung erteilte Kampfauftrag sei, so der Leiter der Bezirksverwaltung, »in Ehren erfüllt« worden. Für die geleistete Arbeit erhielten alle eingesetzten Mitarbeiter einen Tag Sonderurlaub. Darüber hinaus konnten die Leiter der einzelnen Diensteinheiten Vorschläge zur Prämierung von Kollektiven und einzelnen Mitarbeitern einreichen.
Probleme mit der »Nichteinbeziehung« observierter Künstler bei den Arbeiterfestspielen und bei anderen kulturellen Großveranstaltungen Selbst bei den 20. Arbeiterfestspielen, die im territorialen Verantwortungsbereich der MfS-Bezirksverwaltung Gera stattfanden, ging die Strategie der »Nichteinbeziehung«, respektive »Herauslösung« der Musikgruppen »Liedehrlich« und »Circus Lila« aus zentralen Kulturprogrammen nur partiell auf. Der Zwischeneinschätzung zum ZOV »Bühne« vom September 1984 ist zu entnehmen, dass die Berliner 430 BV Gera, Abt. XV: Information zu Handel und Versorgung v. 20.3.1984; BStU, MfS, BV Gera, Abt. XV 1085, Bl. 8. 431 Zit. nach: FAZ v. 4.3.2009, S. 4. 432 KD Jena: IM Bericht von »Hugo« v. 7.7.1984; BStU, MfS, BV Gera, X 722/78, Bd. II, Bl. 254.
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Hauptabteilung XX/7 und IM in nicht näher genannten Schlüsselpositionen den Versuch unternommen hatten, einen Auftritt der Gruppe »Liedehrlich« bei den Arbeiterfestspielen zu verhindern. Gleichwohl hatte das Zentrale Organisationsbüro der Festspiele die Gruppe »ohne Zustimmung der staatlichen Organe im Bereich Kultur« 433 in das Eröffnungsprogramm mit aufgenommen. Die Gruppe »Circus Lila« war bei den Arbeiterfestspielen sogar per Vertrag für mehrere Auftritte engagiert worden. MfS-Informationen zufolge wurden jedoch »aufgrund von unrealisierbaren Forderungen seitens der Gruppe« die vertraglichen Absprachen von der Konzert- und Gastspieldirektion Gera gekündigt, sodass »Circus Lila« an den Festspielen nicht teilgenommen habe. Aus den MfS-Unterlagen der Abteilung XX der Bezirksverwaltung ist nicht erkennbar, ob die Vertragskündigung seitens der Künstleragentur einen geheimpolizeilichen Hintergrund hatte. Im Widerspruch zur Information der Bezirksverwaltung steht die Mitteilung der Kreisdienststelle Stadtroda, dass »Circus Lila« im Rahmen der Arbeiterfestspiele bei Veranstaltungen in Oppurg und Bürgel aufgetreten sei. Zu »Vorkommnissen« sei es dabei nicht gekommen.434 Ursprünglich sollte das Puppentheater, ungeachtet der vorausgegangenen Querelen, im Rahmen der Arbeiterfestspiele mit der »Kaspariade« auftreten und dafür mit einer Goldmedaille der Festspielleitung ausgezeichnet werden. Die Aufführung musste jedoch wegen der Erkrankung eines Ensemblemitgliedes ausfallen. MfSUnterlagen zufolge habe das Ensemble gezielt versucht, die Aufführung und damit auch die beabsichtigte Auszeichnung zu verhindern. In dieser Ehrung hätten die Puppenspieler die Gefahr gesehen, politisch instrumentalisiert zu werden. Auf einen Beifall von der falschen Seite wollte das Ensemble gerne verzichten. Außerdem hatten die Berufskünstler kein Interesse daran, mit Volkskunstgruppen auf eine Stufe gestellt zu werden. Darüber hinaus sei das Ensemble nicht damit einverstanden gewesen, dass ihr inhaftierter Kollege in die Auszeichnung nicht miteinbezogen werden sollte, so die Staatssicherheit in einem ihrer zahlreichen Berichte. 435 Als Erfolgsmeldung verkauften die Geraer Tschekisten dagegen die Tatsache, dass es ihnen gelungen sei, ein »feindlich-negatives« Auftreten von Hans-Peter Jakobson und Martin Morgner während der Festspielzeit verhindert zu haben. Zumindest im Falle von Martin Morgner dürfte allerdings in Wahrheit überhaupt kein Interesse bestanden haben, an diesem Spektakel teilzunehmen. Auch Hans-Peter Jakobson schien sich eher von selbst eine gewisse Zurückhaltung auferlegt zu haben. Generelle operative Misserfolge bei der Behinderung von Stefan Krawczyk und der Gruppe »Circus Lila« wurden jedoch in der turnusmäßigen Zwischeneinschätzung des ZOV »Bühne« von der Bezirksverwaltung Gera eingestanden. 433 BV Gera, Abt. XX: Zwischeneinschätzung zum ZOV »Bühne« v. 3.9.1984; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 98. 434 KD Stadtroda: Zwischeneinschätzung v. 24.8.1984; BStU, MfS, BV Gera, AOV 767/85, Bd. I, Bl. 157. 435 Vgl. KD Gera: Information über die gegenwärtige politisch-ideologische Situation an der Puppenbühne Gera v. 18.7.1984; BStU, MfS, BV Gera, AOV 941/86, Bd. II, Bl. 200.
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»Aufgrund umfangreicher Angebote für Auftritte außerhalb des Bezirkes Gera und Einsätze in zentralen Veranstaltungen und Medien gab es Schwierigkeiten bei der operativen Kontrolle und Zurückdrängung der Wirksamkeit der OV-Personen Krawczyk (TV I) und Görnandt und Rönnefarth (TV III).«
Aus diesem Grund hielt es die Abteilung XX der Bezirksverwaltung für erforderlich, dass die Berliner Hauptabteilung XX/7 über ihre »IM in Schlüsselpositionen« eine sogenannte Reduzierung der Auftrittsmöglichkeiten der betreffenden Musiker herbeiführe. Die Ergebnisse des »politisch-operativen Zusammenwirkens« mit der SED und den staatlichen Institutionen im Bezirk sind bereits bekannt. Sie fielen in der Mehrzahl der Fälle für das MfS unbefriedigend aus. Nach ihrer eigenen Lesart erstreckte sich das politische Zusammenwirken »im Wesentlichen, soweit möglich, auf das Nichteinbeziehen bzw. Herauslösen der OV-Personen zu [sic!] zentralen Veranstaltungen des Nationalen Jugendfestivals und der 20. Arbeiterfestspiele im Bezirk Gera«. 436 In dieser Angelegenheit verweist die Zwischeneinschätzung auf mehrere Gespräche mit der SED-Bezirksleitung sowie den SED-Kreisleitungen von Gera-Stadt und Stadtroda. Hier informierte die Bezirksverwaltung Gera, wie es zum wiederholten Male sehr allgemein heißt, über die »Ziele, Absichten, Vorhaben und die Öffentlichkeitswirksamkeit der OV-Personen«. Die MfS-Bezirksverwaltung versuchte ihre Zusammenarbeit mit der Partei herauszustreichen. Es seien zwei »Parteiinformationen« an die SED-Bezirksleitung Gera, den 1. Sekretär der SED-Kreisleitung GeraStadt und den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes über die Situation an der Puppenbühne Gera übergegeben worden. 437 Auswirkungen dieser Informationstätigkeit auf die Haltung der regionalen Parteiführung wurden vom MfS nicht thematisiert und scheinen sich auch sehr in Grenzen gehalten zu haben. Ungeachtet der in diesem Fall recht überschaubaren Wirksamkeit der Staatssicherheit wurde der für den ZOV »Bühne« verantwortliche Major Wirkner ausgezeichnet. In der schriftlichen Begründung heißt es vollmundig: »Er nimmt sowohl über inoffizielle Positionen als auch durch kameradschaftliches Zusammenwirken mit den entsprechenden Fachabteilungen der Bezirksleitung unserer Partei sowie des Rates des Bezirkes zielgerichtet Einfluss auf die Überwindung bestehender Mängel und Missstände. In der operativen Arbeit am Feind entwickelt Genosse Wirkner Zielstrebigkeit, Beharrlichkeit und schöpferisches Herangehen an die Probleme. Diese Eigenschaften stellt Wirkner […] gegenwärtig bei der Bearbeitung eines bedeutsamen ZOV unter Beweis.« 438
436 BV Gera, Abt. XX: Zwischeneinschätzung zum ZOV »Bühne« v. 3.9.1984; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 98. 437 Vgl. KD Gera: Information über die gegenwärtige politisch-ideologische Situation an der Puppenbühne Gera v. 18.7.1984; BStU, MfS, BV Gera, AOV 941/86, Bd. II, Bl. 195–206. 438 BV Gera, Leiter Abt. XX: Beurteilung 1984; BStU, MfS, BV Gera, KS 200777.
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Es ist bezeichnend, dass hier Hubert Wirkners »Zielstrebigkeit« und »Beharrlichkeit« herausgestellt werden mussten, war der Erfolg seiner »Einflussnahmen« doch sehr bescheiden geblieben.
6. Der ZOV »Bühne« wird zum Auslaufmodell Wachsende Schwierigkeiten bei den Disziplinierungsversuchen der Künstler – Das letzte Jahr des ZOV »Bühne« Bereits Ende 1984 mehrten sich die Anzeichen, dass der ZOV »Bühne« von der Abteilung XX/7 der Bezirksverwaltung Gera nicht mehr lange aufrecht zu erhalten war. Selbst die eigenen »Sachstandsberichte« konnten die Tatsache kaum noch beschönigen, zunehmend in die Defensive geraten zu sein. Die mageren operativen Erfolge bei den einzelnen Teilvorgängen, mit Ausnahme des Teilvorgangs »Bühne II« (Hans-Peter Jakobson), sprachen eine zu eindeutige Sprache. Durch die Verlagerung des Arbeits- und Lebensmittelpunktes der Gruppe »Circus Lila« (Teilvorgang III) und Stephan Krawczyks (Teilvorgang I) nach Berlin fehlten nun schon über viele Monate die objektiven Voraussetzungen für eine geheimpolizeiliche Kontrolle im Verantwortungsbereich der Bezirksverwaltung Gera. Auch beim Teilvorgang IV war es der Kreisdienststelle Gera-Stadt weder gelungen inoffizielle noch offizielle Beweise für strafbare Handlungen von Martin Morgner zu erarbeiten. IM-Experten attestierten seinen Texten regelmäßig den »Sozialismus diffamierende Grundtendenzen«. 439 Dessen ungeachtet wurden Martin Morgners Stücke an mehreren Theatern der Republik erfolgreich aufgeführt. Hinzu kam, dass auch Martin Morgner seinen zukünftigen Arbeitsschwerpunkt außerhalb Geras sah. Ein weiteres Festhalten am ZOV »Bühne« drohte diesen Vorgang gänzlich zu einer Farce werden zu lassen. So ist es nicht besonders verwunderlich, dass die MfSBezirksverwaltung Gera zum Jahresende 1984 keine Zwischeneinschätzung zum ZOV »Bühne« insgesamt wie auch zu den einzelnen Teilvorgängen mehr vorlegte. Aus der letzten Zwischeneinschätzung vom September 1984 geht hervor, dass die Einwirkungsmöglichkeiten der MfS-Bezirksverwaltung, selbst im vermeintlichen Zusammenwirken mit der Partei und den staatlichen Institutionen begrenzt blieben. Angeblich wurde diese Zusammenarbeit »kontinuierlich fortgesetzt«. Bei genauer Betrachtung stellt sich schnell heraus, dass sich die besagte Zusammenarbeit im Wesentlichen auf die Erstellung einiger Berichte für die Bezirksleitung, den 1. Sekretär der Kreisleitung Gera-Stadt und den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes beschränkte, von denen im Laufe unserer Untersuchung bereits die Rede war. Hinzu 439 KD Gera: Einschätzung zum ZOV »Bühne«, TOV »Bühne IV« v. 7.3.1985; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. II, Bl. 203.
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kamen gelegentliche Gespräche mit Vertretern dieser Einrichtungen über die im ZOV »Bühne« observierten Künstler. Das hört sich alles eher unverbindlich und überaus allgemein an. Konkrete Ergebnisse konnte die Staatssicherheit nicht benennen. Allen vorausgegangenen Bemühungen zum Trotz wurde der ZOV »Bühne« für die MfS-Bezirksverwaltung Gera immer mehr zu einem Auslaufmodell. Auch im Jahre 1985 bildete die Sicherung der großen Industriekomplexe im Bezirk Gera, der grenzüberschreitende Güterkraftverkehr und »die Aufklärung und Bekämpfung imperialistischer Geheimdienste« sowie die Aufdeckung vermeintlicher Spionagetätigkeit in den Kombinaten und Betrieben die großen Schwerpunkte in der operativen Arbeit der MfS-Bezirksverwaltung. Sie konnte zu diesem Zeitpunkt insgesamt auf reichlich 1 700 hauptamtliche Mitarbeiter zurückgreifen. Davon standen für die Bekämpfung der »politischen Untergrundtätigkeit (PUT)« in der Abteilung XX rund 20 Tschekisten 440 zur Verfügung. Bei der Bearbeitung der »PUT« konzentrierte sich das MfS seit Anfang der 1980er Jahre republikweit und so auch im Bezirk Gera auf die entstandenen Friedens- und Ökologiekreise, kirchlichen Hauskreise unterschiedlichster Art und das verstärkte öffentliche Engagement »negativ-feindlicher Würdenträger« der evangelischen und katholischen Kirche. Der Kulturbereich hatte zwischenzeitlich für die Geraer MfS-Offiziere an operativer Bedeutung verloren. 441 Einer Lageeinschätzung im Verantwortungsbereich der Bezirksverwaltung für die Jahresplanung 1985 entnehmen wir, dass innerhalb der Bezirksverwaltung nur zwei ZOV, neben »Bühne« noch der ZOV »Kreis« 442 und in der Abteilung XX bzw. in einigen Kreisdienststellen sechs weitere OV, davon allein vier von der Kreisdienststelle Jena, sowie vier OPK im Bereich der »politischen Untergrundtätigkeit« bearbeitet wurden. Grundsätzlich sollte es 1985 darum gehen, die »gesellschaftspolitische und politisch-operative Effektivität« in den genannten OV »weiter zu erhöhen«. Diese und zahlreiche andere Floskeln und Phrasen vergangener Jahresarbeitspläne machten zu großen Teilen auch den Jahresarbeitsplan für 1985 aus. Beispielsweise blieb das oberste Ziel der Abteilung XX die »Zerschlagung/Zersetzung einschließlich strafrechtlicher Realisierungsvarianten«. Die Formulierung, es müsse in Zukunft eine »wesentlich stärkere Nutzung aller gesellschaftlichen Potenzen zur Liquidierung feindlich-negativer Gruppierungen und ihrer gegen die Macht der Arbeiterklasse gerichteten Aktivitäten« erfolgen, ließ zumindest erkennen, wie weit die Staatssicherheit Mitte der 1980er Jahre im Bezirk Gera von diesem Ziel entfernt war. Außerdem hielt es die Bezirksverwaltung für notwendig, ihr Informationsaufkommen deutlich zu erhöhen, um sowohl »personelle Schwerpunkte« besser aufspüren und 440 BV Gera, Abt. Kader u. Schulung: Planstellennormative für die Abt. XX v. 15.8.1986; BStU, MfS, BV Gera, Abt. XX SA 6. 441 Vgl. DA 2/85 zur »vorbeugenden Verhinderung, Aufdeckung und Bekämpfung der politischen Untergrundtätigkeit« v. 20.2.1985; BStU, MfS, BdL-Dok. Nr. 5083. 442 Im Zentrum des ZOV »Kreis« standen die drei Vertreter der evangelischen Kirche Uwe Koch, Martin Scriba und Konrad Jahr. Vgl. BStU, MfS, BV Gera, X 1323/82.
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zugleich die Anzahl von IM (»IM-Dichte«) in diesen Bereichen steigern zu können. Durch diese »flächendeckende Überwachung« sollte die Chance auf sogenannte Rückgewinnungsversuche auf »gesellschaftsgemäße Positionen« erreicht werden. Im Klartext bedeutete das für die Geraer MfS-Offiziere nicht anderes, als dass eingeschleuste Spitzel die oppositionellen Kreise und Gruppierungen neutralisieren bzw. zersetzen sollten. 443 Im Januar 1985 stellte die Abteilung XX/7 wegen »der neu herausgebildeten Konstellation« 444 noch einmal einen Operativplan für den Teilvorgang »Bühne I« 445 auf, um schließlich nur einen Monat später die Beendigung des Teilvorganges vorzuschlagen. 446 Im April folgte schließlich der Vorschlag, den kompletten ZOV abzuschließen. Im Lichte dieses späten Eingeständnisses einer mangelnden Perspektive degradierte die Bezirksverwaltung Gera zumindest ihre operative Arbeit der letzten Monate zu einer reinen Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Die Einstellung des Teilvorganges II 447 erfolgte nach dem gleichen Muster wie beim Teilvorgang I. Der Teilvorgang III, geführt von der Kreisdienststelle Stadtroda, war schon lange zur Farce geworden. Auch er sollte endlich eingestellt werden, weil, wie es hieß, der Verdacht »einer Straftat« 448 nicht bestätigt werden konnte. 449 Damit, so argumentierte nun die Kreisdienststelle Stadtroda, entfiel auch die Grundlage für das Anlegen eines OV. 450 Wenn es der MfS-Bezirksverwaltung Gera ernsthaft darum gegangen wäre, hätte sie alle vier Teilvorgänge schon längst einstellen müssen. Um den ZOV »Bühne« gewissermaßen ordnungsgemäß abschließen zu können, musste zwangläufig auch der Teilvorgang IV, für den die Kreisdienststelle GeraStadt verantwortlich zeichnete, eingestellt werden. In diesem Falle erachtete es die Kreisdienststelle, unabhängig von der Entscheidung der Bezirksverwaltung für notwendig, die geheimpolizeiliche Kontrolle und Überwachung von Martin Morgner in 443 »Einschätzung der politisch-operativen Lage im Verantwortungsbereich der BV Gera für die Jahresplanung 1985« v. 14.11.1984; BStU, MfS, BV Gera, AKG 2460. 444 Gemeint ist damit Stephan Krawczyks Umzug nach Berlin. 445 Der künftige Bearbeitungsprozess sollte sich auf die in Gera verbliebenen Mitglieder von »Liedehrlich«, Kay Frotscher und Jürgen Quarg konzentrieren. 446 »Aufgrund der erarbeiteten politisch-operativen Fakten zu den Vorgangspersonen und der dabei erkannten Tendenzen in ihrem Wirken und Handeln kann eingeschätzt werden, dass die Anforderungen zur vorgangsmäßigen Bearbeitung der Personen entsprechend der Richtlinie 1/76 nicht mehr gegeben sind«. Vgl. BV Gera, Abt. XX/7: Operative Einschätzung des TOV I v. 6.3.1985; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 175 f. 447 Vgl. »Der Teilvorgang ›Bühne II‹«, S. 140 ff. 448 KD Stadtroda: Einschätzung des ZOV »Bühne« TOV III v. 20.2.1985; BStU, MfS, BV Gera, AOV 767/85, Bd. I, Bl. 167. 449 In der ausführlichen Begründung der KD Stadtroda lesen wir: »Das in den Programmen vermittelte sozialismusfremde und destruktive Gedankengut tritt nicht vordergründig in Erscheinung, sondern ist mit folkloristischen Mitteln verdeckt und lässt dadurch mehrere Interpretationen zu. Diese sind nicht objektiv geeignet, die im Tatbestand des § 220 (1) StGB öffentliche Herabwürdigung zu belegen, da die in diesem Tatbestand geschützten Objekte nicht angegriffen werden.« Vgl. ebenda. 450 Die KD bezieht sich hier auf den Punkt 1.8.2 der Richtlinie 1/76 des Ministers.
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einem neuen, nun eigenständigen OV fortzusetzen. 451 Mit dieser Maßnahme agierte die regionale Staatssicherheit eindeutig gegen die im Bezirk praktizierte politische Linie, wie wir aus einem internen MfS-Papier erfahren: »Seitens der Bezirksleitung der SED und des Staatsapparates werden keine Anstrengungen bzw. Maßnahmen unternommen, die den Vorhaben von Morgner entgegenwirken.«452
Anmerkungen zum Abschlussbericht – Ein Resümee zum ZOV »Bühne« Einer letzten Zwischeneinschätzung zum ZOV »Bühne« vom April 1985 können wir entnehmen, dass selbst nach MfS-Maßstäben allenfalls die Hälfte der angestrebten Ziele erreicht wurde. »Im Ergebnis dieser Einschätzung wird festgestellt, dass der ZOV »Bühne« abgeschlossen werden kann, da die Zielstellung im TV I und II erreicht wurde und im TV III keine objektiven Möglichkeiten für eine weitere politisch-operative Bearbeitung bestehen. Die im TV IV bearbeitete Person wird weiterhin operativ in einem eigenen OV der Kreisdienststelle Gera bearbeitet«. 453
Im Juni lag der Abschlussbericht zum ZOV »Bühne« der Abteilung XX/7 der Bezirksverwaltung Gera vor. 454 In diesem Dokument wurde noch einmal die Entwicklung des ZOV bzw. der Teilvorgänge I bis IV ausschließlich aus der Perspektive der verantwortlichen Diensteinheit kurz zusammengefasst. Dabei nahm die Auflistung der mageren Ergebnisse den meisten Raum ein. Entsprechend der innerdienstlichen Regularien enthielt dieses Dokument auch einen Vorschlag zur Beendigung des Zentralen Operativen Vorgangs »Bühne«. Der Bericht endet mit der Maßgabe für »weitere operative Kontrollen« der Teilvorgänge I bis IV. 455 Wie die meisten MfS-Unterlagen, so ist auch diese grundsätzlich von ideologisch geprägten Wahrnehmungsverzerrungen gekennzeichnet. Neben der Wiedergabe von realen Sachverhalten finden wir diverse euphemistische, mit Halb- und Viertelwahr451 Als Begründung zur Eröffnung dieses neuen OV wurde der »Verdacht auf Verbreitung sozialismusfremden Gedankengutes im Sinne der PID und des Pazifismus, unter Prüfung von strafbaren Handlungen gemäß § 214 [Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit] und § 220 [Öffentliche Herabwürdigung] StGB, ins Feld geführt. Vgl. BV Gera: Politisch-operative Lageeinschätzung des Schriftstellerverbandes der DDR einschließlich Nachwuchsautoren im Bezirk Gera v. 20.3.1986; BStU, MfS, BV Gera, BdLDok. Nr. 1380, Bl. 1–12, hier 3. 452 Vgl. BV Gera, Abt. XX/7: Protokoll über die Vorgangsabsprache zum TOV »Bühne IV« v. 6.2.1985; BStU, MfS, BV Gera, AOV 764/85, Bd. I, Bl. 108. 453 BV Gera, Abt. XX: Zwischeneinschätzung zum ZOV »Bühne« v. 30.4.1985; ebenda, Bl. 120. 454 BV Gera, Abt. XX/7: Abschlussbericht des ZOV »Bühne« v. 13.6.1985; BStU, MfS, AOV 764/85, Bd. II, Bl. 295–308. 455 Die weiteren Kontrollmaßnahmen bzw. die Fortsetzung operativer Maßnahmen sind den Abschlussberichten der einzelnen TOV entnommen. Auf sie wurde bereits in den Einzeldarstellungen der TOV eingegangen.
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heiten durchsetzte Lagebeschreibungen, gekoppelt mit einer zuweilen äußerst unkritischen Berichterstattung über die eigene Tätigkeit. Die Erfahrungen einiger Zeitzeugen lassen sich jedenfalls nicht mit den Erfolgsmeldungen der MfS-Offiziere zur Deckung bringen. Das spezifische MfS-Quellenmaterial gibt uns auf den zweiten Blick Auskunft über die Denk- und Arbeitsweise der im Bezirk Gera tätigen MfS-Mitarbeiter, erschließt es doch vor allem die Möglichkeit, die komplexe Feinmechanik von Handlungsspielräumen, Interessenlagen, Machtstrukturen, Herrschaftspraktiken, Netzwerken und Arrangements, anders gesagt: das Spezifische der »durchherrschten Gesellschaft« anhand eines Fallbeispieles aus der Provinz zu erforschen. Dabei konnten wir feststellen, dass sich die unterschiedlichen Herrschaftsinstanzen in den 1980er Jahren als weitaus weniger geschlossen erwiesen, als es ihrem politischen und ideologischen Selbstverständnis entsprach. Die politische Praxis verlangte Kompromisse, die den gesellschaftlichen Realitäten Rechnung trugen, aber in ihren Wirkungen manchmal kaum kalkulierbar waren. In diesem Prozess hatten die MfSBezirksverwaltung Gera bzw. die involvierten Kreisdienststellen die größten Anpassungsschwierigkeiten. Vor allem die Haltung der politisch und fachlich maßgeblichen Berliner Kulturfunktionäre begrenzten in dem hier verhandelten Konflikt die Möglichkeiten der regionalen Staatssicherheit, die mehrfach auch nicht auf die Unterstützung der örtlichen Partei- und Staatsorgane setzen konnte. In der alltäglichen Praxis erwies sich das vom MfS viel beschworene »politisch-operative Zusammenwirken« als gestört. Die Geraer Tschekisten mussten ungeachtet ihrer ausgeprägten Feindbildprojektionen feststellen, dass die von ihnen überwachten Künstler und Kunstwissenschaftler sich zumeist im kulturpolitischen Toleranzrahmen der Partei bewegten und erst recht nicht gegen die strafrechtlichen Bestimmungen verstießen. Die MfSBezirksverwaltung Gera kam letztendlich nicht umhin zuzugeben, dass es »den Vorgangspersonen gelungen« war, ihre wichtigsten Ziele zu erreichen, das hieß, einflussreiche Verbindungen aufzubauen, Preise und Auszeichnungen zu erhalten, Auftrittsmöglichkeiten im Fernsehen und Rundfunk zu bekommen und in der Presse der DDR zu publizieren. Bei der erfolgreichen Durchsetzung ihrer Interessen fällt auf, dass zumindest einige von ihnen dabei unter Umgehung der örtlichen Institutionen ihre Anliegen, teilweise auf informellen Wegen, bei den entsprechenden Verantwortlichen in der Hauptstadt vortrugen und dort erfolgreich um Unterstützung für ihre Projekte warben. Dieses unkonventionelle Vorgehen erwies sich offensichtlich als wesentlich erfolgversprechender, als der staatlicherseits vorgegebene Weg, durch eine Eingabe an den Staatsrat die örtlichen Behörden zur Korrektur ihrer Entscheidungen zu bewegen. Angesichts dieser Umstände zog die MfS-Bezirksverwaltung in ihrem Abschlussbericht folgendes Fazit:
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»Die bis zu diesem Zeitpunkt [Frühjahr 1985] festgestellten und im Ausgangsmaterial verdichteten negativen Auffassungen und Aktivitäten der genannten Personen zeigten, dass sie Massenwirksamkeit erreicht hatten. Bei der Wahl ihrer Vorgehensweise, die von ideologisch aufweichenden und pazifistischen Merkmalen geprägt sind [sic!], konnte erarbeitet werden, dass sie nicht die Grenze der strafrechtlichen Relevanz überschritten.« 456
Um zu diesem, für die regionale Staatssicherheit frustrierendem Ergebnis zu kommen, hatte sie über mehrere Jahre erhebliche operative Ressourcen eingesetzt. 457 Nur in einem und nicht wie behauptet, in zwei Teilvorgängen hatte sie ihre Ziele halbwegs erreicht. Matthias Görnandts Berufung zum Vorsitzenden der Sektion Chanson/Liedermacher im Komitee für Unterhaltungskunst als einen operativen Erfolg zu verkaufen, weil er damit gleichsam einer gesellschaftlichen Kontrolle unterworfen sei, kann nur als eine aus der Verlegenheit geborene Sprachregelung und letztlich als Selbstbetrug angesehen werden. Von wem sollte Görnandt eigentlich kontrolliert werden? Vielleicht von der Präsidentin des Komitees, welche den Geraer Tschekisten ein ständiges Ärgernis war? Ähnlich abwegig klingt eine weitere Einlassung der Bezirksverwaltung: »Die weitergeleiteten Informationen an die HA XX des MfS, an die BL der SED und an den RdB Gera sowie an die betreffenden KL der SED, bildeten im Prozess der op. Bearbeitung der OV-Personen die Grundlage zur Gewährleistung von Ordnung und Sicherheit [und] ihrer teilweisen Disziplinierung.« 458
Im Rahmen des ZOV »Bühne« gelang es dem MfS, lediglich Hans-Peter Jakobson nachhaltig zu behindern; bei den Künstlern angesichts ihres Publikumserfolgs und der staatlichen Anerkennungen von Disziplinierung zu sprechen, ist weit hergeholt. Letztendlich scheiterten die Tschekisten, weil ihre Feindbilder und Projektionen längst nicht mehr mit der Realpolitik der 1980er Jahre in Einklang zu bringen waren. In der Regel wurden bereits seit den 1970er Jahren Künstler nicht mehr wegen ihrer ästhetisch verschlüsselten Kritik kriminalisiert. Im Lichte der aktuellen SEDPolitik hatte der ZOV »Bühne« etwas Anachronistisches. Seine Einstellung entsprach somit einer zentralen Forderung der MfS-Richtlinie 1/76: »Der Abschluss Operativer Vorgänge hat stets den politischen Interessen der DDR zu dienen.« 459 Stärker noch als in der Berliner MfS-Zentrale setzte man in der Bezirksverwaltung Gera noch auf repressive Maßnahmen, um die im ZOV observierten »OVPersonen« zur Räson zu bringen. Mit dieser Haltung profilierte sich die MfS456 BV Gera, Abt. XX/7: Abschlussbericht des ZOV »Bühne« v. 13.6.1985; BStU, MfS, AOV 764/85, Bd. II, Bl. 297. 457 In den ZOV »Bühne« der BV Gera waren die HA XX/7, XX/2 und I sowie die Abt. XX/7 der BV Frankfurt/O., Leipzig und Neubrandenburg, die Abt. XX der BV Dresden und Magdeburg und die KD Wernigerode involviert. 458 Ebenda. 459 Richtlinie 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge (OV) v. Januar 1976; BStU, MfS, BdL-Dok. Nr. 3234.
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Bezirksverwaltung als Hauptakteur einer dogmatischen Kulturpolitik im Bezirk Gera. Seit Mitte der 1970er Jahre ging es darum, die »Einheit von Prinzipienfestigkeit und Beweglichkeit in der Kulturpolitik« (Mielke), analog der Politik der SED, eine Einheit von Entspannungspolitik nach außen (»friedliche Koexistenz«) und Abgrenzung nach innen (»Kampf gegen die Konvergenztheorie«) zu praktizieren. Mit dieser Methode sollten die sich anbahnenden Konflikte frühzeitig erkannt und entschärft werden. Die Partei- und Staatsführung verfolgte damit das Ziel, die innenpolitische Stabilität zu sichern, ohne allzu viele Auseinandersetzungen zu produzieren, die das außenpolitische Renommee beeinträchtigen konnten. Dabei musste sie ihre Positionen zwangsläufig aufweichen. Nach Einschätzung des Dramatikers Heiner Müller fand Kulturpolitik schon lange nicht mehr statt, »weil niemand eine Konzeption hat oder Verantwortung übernehmen will«. Die daraus resultierenden neuen »Freiheiten«, so Müller, gäbe es, »weil das, [was die Künstler machen – M.B.], keine große Wirkung hat«. 460 Diese Situation war den ideologischen und sicherheitspolitischen Hardlinern im Stasi-Apparat natürlich suspekt. Der Chef der MfS-Bezirksverwaltung Gera ging zwar in seinen Grundsatzreferaten regelmäßig auf die internationale Lage ein, auf kulturpolitischem Gebiet blieben die Geraer MfS-Mitarbeiter jedoch restriktiv und provinziell. Ihr Denken und Handeln war ganz wesentlich davon bestimmt, die Künstler mit massiven Einschränkungen unschädlich zu machen und so für Stabilität und Ruhe im Bezirk zu sorgen. Die MfS-Verantwortlichen erwiesen sich als die engstirnigsten Genossen in der Region, die mit Theodor Fontane gesprochen nichts, aber alles besser wussten. Ungeachtet unterschiedlicher Meinungen und Interessenlagen in Sachen Kulturpolitik zwischen den Genossen in der SED-Bezirksleitung und den staatlichen Institutionen des Bezirkes sowie den Genossen in der MfSBezirksverwaltung, 461 gab es gegenüber den kulturpolitischen Öffnungsexperimenten der Berliner Parteiführung doch einen, wenn auch kleinen gemeinsamen Nenner. Berliner Beschlüssen wurde in der Provinz stets eine gewisse Skepsis entgegengebracht. 462 Längst hatten die Inszenierungen des Systems ihren monolithischen Charakter verloren. Die Beantwortung der Frage, ob dieser Befund auf die DDRProvinz insgesamt zutrifft, bleibt weiteren Regionalstudien vorbehalten. Es war von Anfang an ein Zeichen von Schwäche, auf eine Dramaturgie der Repression zurückzugreifen. Ihr Scheitern ist sichtbarer Ausdruck des Mitte der 1980er Jahre bereits fortgeschrittenen politischen Erosionsprozesses in der DDR. 460 Müller, Heiner: Gespräche, Bd. II. Frankfurt/M. 2008, S. 101. 461 Vgl. BV Gera, Abt. XX: Politisch-operative Lageeinschätzung des Schriftstellerverbandes der DDR, einschließlich Nachwuchsautoren im Bezirk Gera v. 20.3.1986; BStU, MfS, BV Gera, BdL-Dok. Nr. 1380, Bl. 1–12. So wurde die Wahl der Regisseurin Ingrid Fischer in das Präsidium des Theaterverbandes von der Stasi kritisiert. Nach ihrer Einschätzung spielte sie nämlich in der Puppenbühne eine »negative Rolle«. Ebenda, Bl. 9. 462 Vgl. Jeannette v. Laak: »›Kein Sektierertum zulassen‹ – Die Kulturfunktionäre der SEDBezirksleitung« in diesem Band, S. 74 ff.
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7. Ausblick: Zur Entwicklung der kulturoperativen Arbeit der Bezirksverwaltung Gera in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre In welche Richtung sich die operative Arbeit der Abteilung XX der Bezirksverwaltung Gera weiter entwickelte, kann der Planvorgabe für den Zeitraum 1987 bis 1990 entnommen werden. Danach ging es weiterhin um die bekannten Aufgaben »vorbeugender Verhinderung, Aufdeckung und Bekämpfung der politischen Untergrundtätigkeit«, die, wie konnte es anders sein, noch wirksamer zu gestalten seien. Die Hauptaufgabe (»Hauptstoßrichtung«) der geheimpolizeilichen Tätigkeit im Sektor »Untergrundtätigkeit« sollte laut interner Sprachregelung weiterhin darin bestehen, den Umfang »feindlich-negativer Kräfte im Bezirk zu verringern sowie deren Einflusssphären und Wirksamkeit weiter einzuengen«. 463 Mit anderen Worten oppositionelle Entwicklungen sollten, wenn sie schon nicht zerschlagen werden konnten, zumindest mit allen Mitteln überwacht und neutralisiert werden. Der Abteilung XX der Bezirksverwaltung Gera standen 1987 insgesamt 276 IM sämtlicher Kategorien zur Verfügung. 464 Überaus deutlich wird in der Planvorgabe das politische Primat in der operativen Arbeit hervorgehoben, wenn davon die Rede ist, sich »der strategischen Linie der Partei unterzuordnen und diese nicht zu stören. Politischen Mitteln ist der Vorrang einzuräumen«. 465 Diese möglicherweise selbstkritische Formulierung könnte darauf hinweisen, dass sich die MfS-Bezirksverwaltung Gera durchaus bewusst war, dass sie bis Mitte der 1980er Jahre ihre Arbeit nicht immer nach den Vorgaben der zentralen SED-Kulturpolitik ausgerichtet, zeitweise sich sogar deutlich davon distanziert hatte. Anfang 1988 bekräftigte die Bezirksverwaltung noch einmal ausdrücklich, die Linie der Partei als Richtschnur ihrer Arbeit anzusehen. So heißt es dann auch: »Die konkrete Unterstützung der führenden Rolle der Partei durch unser Organ und die tschekistische Arbeit auf der Grundlage der Beschlüsse unserer Partei [müsse verwirklicht werden – M.B].« 466 In der Perspektive sollte die strategische Linie der SED im Referat 7 der Abteilung XX der MfS-Bezirksverwaltung Gera »zur Bekämpfung subversiver gegnerischer Angriffe gegen die sozialistische Kunst und Kultur des Bezirkes« mit einem »neuen Kaderbesatz« 467 erfüllt werden. In einer Leitungsvorlage der Abteilung XX für 1988 heißt es: 463 BV Gera: Planvorgabe für die politisch-operative Arbeit im Jahr 1987 und bis 1990 v. 6.11.1986; BStU, MfS, BV Gera, BdL-Dok. Nr. 850. 464 BStU, MfS, BV Gera, Abt. XII Nr. 88. 465 BV Gera: Planvorgabe für die politisch-operative Arbeit im Jahr 1987 und bis 1990 v. 6.11.1986; BStU, MfS, BV Gera, BdL-Dok. Nr. 850. 466 BV Gera, Abt. XX: Leitungsvorlage zur Leitungsberatung beim Leiter der Bezirksverwaltung am 25.2.1988; BStU, MfS, BV Gera, BdL-Dok. Nr. 1417, Bl. 1–10, hier 9. 467 BV Gera: Kaderakte von Hubert Wirkner: Beurteilung aus dem Jahre 1987; BStU, MfS, BV Gera, KuSch.
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»Auch auf kulturpolitischem Gebiet gilt es, durch Informationsgebung an die Partei solche Kräfte sichtbar zu machen, die sich auf vorrangig gesellschaftskritische bis negativ-feindliche Positionen in ihrem Schaffen zurückziehen, damit diese durch die verantwortlichen Kulturfunktionäre mit angemessenen Arbeitsaufgaben geduldig an loyale und fortschrittliche Positionen herangeführt werden können.« 468
Nach Einschätzung der Abteilung XX der Bezirksverwaltung kam in den späten 1980er Jahren diese Aufgabe vornehmlich auf die Genossen in Jena zu, das sich erneut zu einem Schwerpunkt »bei Konfrontationsversuchen negativ-feindlicher Kräfte mit dem Staat« 469, also als ein oppositionelles Zentrum, entwickelt hatte. Beispielsweise registrierte die politische Geheimpolizei in Jena die Veranstaltung von nicht offiziell angemeldeten »Hofvernissagen«. »[Diese] wurden von politisch-negativen bzw. indifferenten Kunst- und Kulturschaffenden zur Druckausübung auf staatliche Institutionen genutzt, öffentlichkeitswirksam auf existente Mängel, wie z. B. fehlende Ausstellungsmöglichkeiten in Jena, ungenügende Beachtung/Förderung der Kunst, unbefriedigende Einbeziehung der Künstler in gesellschaftliche Prozesse, wie innerstädtische Gestaltung, aufmerksam zu machen.« 470
Obendrein registrierte das wachsame Auge des Sicherheitsapparates im Bezirk Gera »Versuche der Legalisierung künstlerischer Institutionen außerhalb staatlicher und gesellschaftlicher Einflüsse«. Gemeint waren damit in erster Linie die Gründungen Freier Theater- oder Kabarettgruppen, der Selbstverlag von Texten und nicht öffentliche Ausstellungen, wie sie in anderen Großstädten der Republik als alternative Kulturszenen jenseits des offiziellen Kulturlebens etwa in Berlin, Leipzig und KarlMarx-Stadt schon seit Beginn der 1980er Jahre existierten. 471
Die finale Krise in der ostthüringischen Provinz
In den späten 1980er Jahren hatten sich sowohl bei den internationalen Rahmenbedingungen wie auch innerhalb der Gesellschaften des »sozialistischen Lagers« Veränderungen vollzogen, die eine repressive Lösung der Krise in diesen Ländern verhinderten. Im Herbst 1989 konnten die allgegenwärtigen Sicherheitsorgane in der 468 BV Gera, Abt. XX: Leitungsvorlage zur Leitungsberatung beim Leiter der Bezirksverwaltung am 25.2.1988; BStU, MfS, BV Gera, BdL-Dok. Nr. 1417, Bl. 1–10, hier 7. 469 Ebenda, Bl. 4. 470 BV Gera, Abt. XX: Leitungsvorlage zur Leitungsberatung beim Leiter der Bezirksverwaltung am 14.3.1989; BStU, MfS, BV Gera, BdL-Dok. Nr. 66, Bl. 12 f. 471 Forschungsstelle Osteuropa (Hg.): Eigenart und Eigensinn. Alternative Kulturszenen in der DDR. Bremen 1993.
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DDR, wie auch anderswo in Mittel- und Osteuropa, den Untergang des Kommunismus nicht mehr aufhalten. Wie heißt es doch so treffend in der Verfilmung von Erich Loests Roman »Nikolaikirche«: »Auf alles waren wir vorbereitet, nur nicht auf Widerstand mit Gebeten und Kerzen.« 472 Selbst der arrogante Leiter der Bezirksverwaltung Gera, Generalmajor Dangrieß, musste sich in diesen Tagen darauf beschränken, die am 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz zu Wort gekommenen Künstler »als Pack, Gesockse und Lumpen« zu beschimpfen. 473 Unter den einfachen Mitarbeitern des MfS, vor allem unter denjenigen, die in der Provinz in unmittelbarem Kontakt mit der Bevölkerung standen, war die Stimmung schon Anfang November 1989 auf einem Tiefpunkt angekommen. Sie waren vor allem darüber »sehr beunruhigt, dass insbesondere die leitenden Partei- und Staatsfunktionäre auf den Ebenen der Bezirke und Kreise sich in der Öffentlichkeit nicht hinter das Ministerium für Staatssicherheit und seine Mitarbeiter stellten«. 474 Dabei herrschte bei den hauptamtlichen Mitarbeitern in der BV Gera die Meinung vor, dass sie sich »für nichts, was wir getan haben, entschuldigen müssen. […] Wir sind alle tief betroffen, dass auf unsere Hinweise, die unsere IM/GMS [gegeben haben] nicht bzw. erst kurz vor 12 reagiert wurde.« 475 Dessen ungeachtet war nach Auffassung des Geraer Majors Hubert Wirkner, kein Chaos zu befürchten, da in »sozialistischen Staaten die Opposition den Sozialismus will«. 476 Trotz aller Probleme ging die Mehrzahl der MfS-Mitarbeiter davon aus, dass ein Geheimdienst in irgendeiner Form weiter existieren und ihnen damit eine Perspektive bieten werde. Erst mit dem inzwischen legendären Auftritt Erich Mielkes am 13. November vor der Volkskammer sank die Stimmung unter den Mitarbeitern auf den Nullpunkt. Viele MfS-Offiziere waren schier entsetzt über den Auftritt ihres Ministers. Die SED-Kreisleitung des MfS distanzierte sich davon am folgenden Tag in einem Schreiben an alle Mitarbeiter. Gleichzeitig erhielt sie aus einzelnen Diensteinheiten, darunter auch aus der Grundorganisation der SED der Kreisdienststelle Gera ein langes Telegramm. Darin heißt es: »Angesichts der gegenwärtigen Lage vertreten die Mitarbeiter der Kreisdienststelle Gera die Meinung, dass die Äußerungen und das Auftreten des langjährigen Ministers für Staatssicherheit nicht dazu geeignet waren, die Rolle des MfS und seinen Beitrag bei der Entwicklung der DDR auch nur annährend glaubwürdig und objektiv darzulegen.
472 Vgl. Nikolaikirche. Fernsehfassung nach Erich Loests gleichnamigem Roman. WDR Köln 1995. 473 Schreiben der KD Jena an Modrow v. 14.11.1989; zit. nach: Süß, Walter: Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern. Berlin 1999, S. 629. 474 Hinweise auf beachtenswerte Reaktionen von Mitarbeitern des MfS auf die gegenwärtige Lage v. 14.11.1989. 475 BV Gera, Abt. XX: Arbeitsbuch von Genossen Trost; BStU, MfS, BV Gera, Abt. XX, SA 366/17. 476 Ebenda.
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Das Gelächter der Abgeordneten der Volkskammer über das Auftreten des Ministers hat die Mitarbeiter des MfS in den Augen der Werktätigen und darüber hinaus weltweit diskreditiert und unsere ohnehin schwierige Situation weiter zugespitzt.« 477
Bei aller Kritik an der eigenen Führung stellten die Geraer Tschekisten jedoch ihre geheimpolizeiliche Arbeit nicht grundsätzlich infrage. Vielmehr fühlten sie sich »weiterhin der Erfüllung des Fahneneids« verpflichtet, fragten aber gleichzeitig: »Wie stellt sich die Leitung des MfS der innenpolitischen Situation?« 478 Am 18. November erfolgte mit der Absetzung des einst so gefürchteten Ministers Mielke und der gleichzeitigen Umwandlung des MfS in Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) der erste Schritt zur Auflösung der politischen Geheimpolizei in der DDR. Diese propagandistische Aktion konnte jedoch nicht den Zorn der Bevölkerung auf die »Firma«, wie die Staatssicherheit häufig genannt wurde, beruhigen. Ein Geraer MfS-Offizier schrieb in diesen Tagen in sein Arbeitsbuch: »Auf der Straße nicht alle Feinde, aber nicht nur Freunde. Damit zurechtkommen.« 479 Ende November machten sich die Geraer MfS-Mitarbeiter in dem schon allein wegen seiner schieren Größe furchteinflößenden Gebäude der Staatssicherheit durchaus noch Gedanken, wie die künftige Struktur und Arbeitsweise der Abteilung XX in Zukunft aussehen könnte. Da ist die Rede von einer »Organisierung einer echten geheimdienstlichen Arbeit mit zzt. noch existenten, zuverlässigen und ehrlichen IM, unabhängig ihrer Zuordnung zu Referaten oder Arbeitsgebieten«. Ferner wurden in der Abteilung XX Überlegungen angestellt, wie unter den veränderten Bedingungen neue »Treffmöglichkeiten, Materialübergabestellen und echte konspirative Mittel und Methoden« entwickelt werden könnten. 480 Ab Anfang Dezember überschlugen sich die Ereignisse geradezu. Der Niedergang der SED verwandelte sich in einen rasanten Sturzflug und mit ihr stürzte das einst so stolze MfS in den Abgrund. Am 4. Dezember begann die erste Besetzung einer in Bezirksamt des AfNS umbenannten ehemaligen MfS-Bezirksverwaltung in dem nahegelegenen Erfurt. Mielkes Nachfolger in Berlin, offiziell Amtsleiter des AfNS, Generalleutnant Schwanitz, ordnete daraufhin an: »Der Zutritt unberechtigter Personen ist unbedingt zu verhindern. Es sind alle zur Verfügung stehenden Mittel, Löscheinrichtungen und übergebene spezielle Mittel – außer gezielter Schusswaffenanwendung – zum Einsatz zu bringen. Mit der Volkspolizei sind weitere Abstimmungen zum Einsatz zusätzlicher Kräfte herbeizuführen.« 481
477 Telegramm der SED-Grundorganisation in der KD Gera an SED-Kreisleitung im MfS v. 14.11.1989. 478 Ebenda. 479 BV Gera, Abt. XX: Arbeitsbuch; BStU, MfS, BV Gera, SA 669. 480 BV Gera: Namenloses Arbeitsbuch mit Eintragung v. 29.11.1989; BStU, MfS, BV Gera, Abt. XX, SA 370, Bl. 8. 481 Telegramm von Schwanitz an alle Leiter der Kreis- und Bezirksämter am 4.12.1989; BStU, MfS, Abt. X, 903, Bl. 17.
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Nur einen Tag später erteilte Schwanitz eine neue Weisung an die Bezirks- und Kreisämter, 482 die sich in Ton und Inhalt deutlich von den Durchhalteparolen des Vortages unterschied. Nun forderte er, »dass mit allen Personen das Gespräch zu suchen ist. Bleiben die Forderungen bestehen bzw. erhöht sich der Druck weiter, um gewaltsam in die Objekte einzudringen, kann gemeinsam mit dem Militärstaatsanwalt, Angehörigen der VP, Abgeordneten und Wählern der Bürgerrechtsbewegungen eine Begehung des Objektes vorgenommen werden. Forderungen zur Versiegelung von Räumen und Panzerschränken können realisiert werden. Dabei ist jedoch zu verhindern, dass unberechtigte Personen Einsicht in Unterlagen erhalten oder gar in deren Besitz gelangen.« 483
Wie aus einem geheimen Rapport hervorgeht, setzten Geraer Bürger bereits am Vormittag des 5. Dezember 1989 die neu entstandene Lage in die Tat um. Wir lesen: »In den Vormittagsstunden [erfolgte im – M.B.] Bezirksamt von Gera in Anwesenheit von Pressevertretern die Versiegelung des Archivs der Abt. XII und der Verkollerungsanlage des Bezirksamtes Gera.« 484 Ein MfS-Mitarbeiter notierte in seinem Arbeitsbuch, dass heute die »demokratische Öffentlichkeit ins Haus gekommen« ist. Aus seiner Perspektive sei dieser »Besuch gut gelaufen, Spannungen wurden abgebaut«. 485 Am gleichen Tag besetzten engagierte Bürger die Bezirksämter Cottbus, Dresden, Magdeburg und Potsdam sowie diverse Kreisämter, unter anderem in Jena. 486 Im Zuge dieser Besetzungen begannen in vielen Städten Bürgerkomitees damit, durch ihre ständige Präsenz in den Bezirks- und Kreisämtern des AfNS die auf Hochtouren laufende Vernichtung der MfS-Akten zu stoppen. In Gera begnügte sich die kleine Schar der Bürgerrechtler damit, dass das Archiv ordnungsgemäß versiegelt wurde. 487 Die Notwendigkeit, ab sofort im Bezirksamt Präsenz zu zeigen und den verbliebenen Tschekisten im wahrsten Sinne des Wortes auf Schritt und Tritt zu folgen bzw. auf die Finger zu gucken, wurde zu diesem Zeitpunkt in Gera nicht gesehen. 488 Die Idee der Gewaltlosigkeit bestimmte das Handeln. Das Prinzip der »Sicherheitspartnerschaft« wurde in der kleinen Gruppe des Geraer Bürgerkomitees sehr ernst genommen. Als eines Tages eine Gruppe »extrem aufgebrachter Leute« die ehemalige MfS-Bezirksverwaltung erstürmen wollte, stellte sich ihnen der Pfarrer Roland Geipel mit den Worten entgegen: »Ihr kommt hier nur hinein, wenn 482 Im Zuge der Umbenennung wurden aus den BV und KD Bezirks- bzw. Kreisämter des AfNS. 483 Fernschreiben v. Schwanitz an die Leiter aller Bezirks- und Kreisämter v. 5.12.1989; BStU, MfS, Abt. X 903, Bl. 60. 484 Zentraler Operativstab: Rapport 339/89; BStU, MfS, HA VIII 1672, Bl. 262–267. 485 BV Gera: Arbeitsbuch; BStU, MfS, BV Gera, Abt. XX, SA 345. 486 Rapport Nr. 339/89 v. 5.12.1989; BStU, MfS, HA VIII 1672, Bl. 262–267. 487 Zur Auflösung des MfS/AfNS in Gera siehe auch Mestrup, Heinz; Wenzel, Thomas: Der runde Tisch des Bezirkes Gera. In: Die »Runden Tische« der Bezirke Erfurt, Gera und Suhl als vorparlamentarische Gremien im Prozess der Friedlichen Revolution 1989/1990. Weimar 2009, S. 102–109. 488 Vgl. Gespräch mit Andreas Bley am 15.10.2009.
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Ihr über mich drüber rennt!« 489 Dafür gingen die Geraer MfS-Mitarbeiter in die Offensive. Unter der Überschrift »Heute Wir – morgen Ihr?«, schickten sie ein Telegramm an alle Regierungsstellen, die Volkskammer und die Medien. In diesem »Aufruf zum Handeln«, der seinerzeit nicht veröffentlicht wurde, heißt es: »In unserem Bezirksamt gibt es Erkenntnisse, dass Bestrebungen existieren, diesen ›Volkszorn‹, nachdem das Amt für Nationale Sicherheit zerschlagen ist, schnell auf die Strukturen und Kräfte der anderen bewaffneten Organe zu lenken, um diese ebenfalls zu zerschlagen! Sollte es uns allen gemeinsam nicht kurzfristig gelingen, die Anstifter, Anschürer und Organisatoren dieser hasserfüllten Machenschaften gegen die Machtorgane des Staates zu entlarven und zu paralysieren, werden diese Kräfte durch ihre Aktivitäten einen weiteren Teil der Bevölkerung gegen den Staat, die Regierung und alle gesellschaftlichen Kräfte aufbringen. Was kommt dann?« 490
»Es war das ein etwas hysterischer Versuch, die Kräfte des alten Regimes noch einmal zu sammeln, um die Entwicklung umzukehren. Erfolgsaussichten bestanden dafür keine mehr«, schreibt Walter Süß in seiner umfassenden Analyse zum Ende der Staatssicherheit. 491 Ungeachtet des generellen Befundes nutzten die in der Festung Gera verbliebenen Tschekisten den ihnen überlassenen Freiraum. Davon legen ihre erhalten gebliebenen Arbeitsbücher ein beredtes Zeugnis ab. So finden wir unter dem 8. Dezember 1989 die Eintragung: »Was ist noch zu vernichten?«, obwohl der Leiter des AfNS bereits am 4. Dezember angewiesen hatte, »jegliche Vernichtung und jeglichen Transport […] zu stoppen«. 492 Ferner geht aus ihren Notizen hervor, dass sie sich auch in ihren letzten Tagen noch neue Desinformationsstrategien ausdachten, um ihre Jahrzehnte währende geheimpolizeiliche Tätigkeit in der Öffentlichkeit schönzufärben. In diesem Sinne sollte ab sofort jeder Mitarbeiter auf seinem Schreibtisch Akten parat haben, die ausschließlich die Bearbeitung »faschistischer und neofaschistischer Tendenzen« 493 dokumentieren. Beispielsweise versuchten die faktisch immer noch als »Hausherren« agierenden MfS-Mitarbeiter mit dieser vordergründigen Taktik bei einer von ihnen selbst organisierten Besichtigung des Dienstobjektes die Abgesandten des Neuen Forums zu beeindrucken, sprich in die Irre leiten zu können. Ende Dezember fuhr Roland Jahn mit einem Kamerateam der ARD nach Gera, wo er vor sieben Jahren selbst in der Stasi-Untersuchungshaftanstalt einsaß. Ge-
489 Späte Besetzung – frühe Aktenöffnung. Hg. vom Landesbeauftragten des Freistaates Thüringen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Erfurt 2003, S. 20. 490 Fernschreiben des »Kollektivs des BAfNS Gera an die Kreisämter« v. 9.12.1989; BStU, MfS, ZAIG 13744, Bl. 42–44. 491 Süß: Staatssicherheit am Ende (Anm. 473), S. 688. 492 Telegramm von Schwanitz an die Leiter aller BÄfNS v. 4.12.1989; BStU, MfS, SdM 2336, Bl. 257 f. 493 BV Gera, Abt. XX: Arbeitsbuch; BStU, MfS, BV Gera, SA 366/17.
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meinsam mit dem einstigen Jenaer Diakon Thomas Auerbach, der hier ebenfalls inhaftiert war, lässt sich Roland Jahn »von dem nunmehr recht eingeschüchtert wirkenden Leiter der Haftanstalt durch die Zellentrakte führen und steht schließlich wieder in den ›Tigerkäfigen‹, in denen er einst Hofgang hatte. ›Hier waren doch viele zu Unrecht inhaftiert, empfinden Sie dafür Verantwortung?‹, fragt er den Gefängnisdirektor. Der redet sich raus. Er sei als Direktor nur verantwortlich gewesen für die ›Unterbringung‹ der Gefangenen und die ›Sauberkeit des Hauses‹. Mit der Untersuchungsabteilung der Geraer Stasi unter Oberleutnant Horst Jürgen Seidel, die die Verhöre führte, habe er nichts zu tun gehabt. ›Wieder einmal will es keiner gewesen sein‹, kommentiert Jahn.« 494
Am 2. Januar 1990 wurde sein Bericht über die aktuelle Situation in Gera im Fernsehmagazin »Kontraste« ausgestrahlt und sorgte für große Aufregung in der Stadt. In deren Folge begann schließlich am 6. Januar 1990 auch in Gera die Entwaffnung der ehemaligen Stasi, jetzt NASI. Dazu kamen an diesem Januarmorgen nur fünf Personen, um die ehemalige Bezirksverwaltung endgültig zu besetzen und die Kontrolle des Waffenabtransportes zu übernehmen. 495 Zwei Protagonisten des damaligen Bürgerkomitees erinnern sich: »Um die Stasi-Auflösung effizient zu kontrollieren, braucht man jede Menge verlässliche Leute. Aus dem offiziellen Bürgerkomitee sind nur sechs Mitglieder bereit, sich an den Kontrollaufgaben vor Ort zu beteiligen. Es ist Samstag. Am Montag bei Dienstbeginn muss das Bürgerkomitee handlungsfähig sein. Ununterbrochen sitzen die ›Besetzer‹ am Telefon und versuchen, Freunde und Bekannte zu gewinnen. Viele erklären sich spontan bereit, zur Stasi-Auflösung zu kommen. Und diese Leute mobilisieren wiederum ihre Bekannten und die ihre. Schließlich steht die Gruppe vor der Aufgabe, die Kontrolle der Stasi-Auflösung zu koordinieren und das mit vielen Leuten, die man zunächst genauso wenig kennt, wie die Stasi-Mitarbeiter. Immer wieder müssen angetrunkene und gewaltbereite Leute oder offenkundige Psychopaten zurückgehalten werden, damit die Sache nicht eskaliert.« 496
Zu guter Letzt konnte am 8. Januar 1990 auch in Gera die kontrollierte Auflösung des MfS beginnen. 497 Bis zu diesem Tag hatten die Tschekisten viel Zeit, brisantes Aktenmaterial zu entsorgen. Der ZOV »Bühne«, der einstmals zu den wichtigen Vorgängen der Abteilung XX gehört hatte, blieb auf wundersame Weise davon komplett verschont.
494 Praschel: Roland Jahn (Anm. 269), S. 181. 495 Vgl. Späte Besetzung – frühe Aktenöffnung. Hg. vom Landesbeauftragten des Freistaates Thüringen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Erfurt 2003. 496 Ebenda, S. 23. 497 Ausführlich schildern Michael Beleites und Roland Geipel den Geraer Sonderfall in: Ebenda.
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Katharina Lenski
unter Mitarbeit von Agnès Arp
Die Hauptamtlichen der Stasi Schattenriss einer Parallelgesellschaft
1. Einleitung Bislang wurden die Stasi-Offiziere als Teile eines meist reibungslos funktionierenden Systems betrachtet, sodass ihr konkretes Handeln hinter dem Allmachtsmythos des Apparates verschwand. Andererseits wurde »die Stasi« zur Projektionsfläche jeglichen Gewalthandelns in der DDR stilisiert, sodass dritte Instanzen, Personen und Prozesse verdeckt wurden. Die Hauptamtlichen wurden damit insgeheim aus der Gesellschaft ausgegliedert: dort der Gewaltapparat, hier das Volk. Der Mythos von Allwissen und Allmacht der Stasi wurde damit weiter genährt, ihre Macht blieb in den Köpfen ungebrochen, Verschwörungstheorien hatten Konjunktur. Umgekehrt beschrieben sich ehemalige Mitarbeiter als Benachteiligte der Transformation. Abgesehen von ihrer Rente, die im Vergleich mit der Rente der meisten ihrer Opfer vergleichsweise hoch ausfällt, erhielten die Offiziere jedoch ein Entlassungsgeld zwischen vier und fünf Monatsgehältern sowie Übergangsgebührnisse und Abfindungen. Dies erleichterte einen Neustart außerhalb des vertrauten Arbeitsfeldes. 1 Im materiellen Sinn können sie folglich schwerlich als Opfer eingeordnet werden. Die Klage der Stasi-Offiziere über Benachteiligung und Marginalisierung verweist neben dem radikalen Machtverlust auf ihr dichotomes Feindbild, in dem jeder zum Staatsfeind erklärt wurde, der abweichend sprach oder handelte. Die Verlusterfahrung, die ihre Feindbilder bestärkte, ließ sich allerdings nicht wie ein Ostbetrieb abwickeln. 2
1 Nach den 12 überlieferten Entlassungsvorschlägen und Laufzetteln der untersuchten Grundgesamtheit erhielten die Offiziere bei ihrer Entlassung 4 bis 5 Monatsnettogehälter zuzüglich 50 bis 75 % dieser Summe, in einem Fall waren es 150 %. Manche erhielten zusätzlich einen Bonus von 2 000 bis 3 000 M für das letzte Dienstjahr. Im Durchschnitt entsprach dies einer Summe von 13 000 M. Vgl. Gieseke, Jens: Zwischen Privilegienkultur und Egalitarismus. Zu den Einkommensstrukturen des Ministeriums für Staatssicherheit. In: DA 43(2010)3, S. 442–453. 2 Grundlegend Süß, Walter: Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern. Berlin 1999. Einen Einblick in die Feindbildwelt der Stasi-Offiziere gibt beispielsweise der Band von Wilkening, Christina: Staat im Staate. Auskünfte ehemaliger Stasi-Mitarbeiter. Berlin, Weimar 1990.
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Katharina Lenski unter Mitarbeit von Agnès Arp
In der öffentlichen Diskussion wird die tragende Rolle der Stasi-Offiziere für den Geheimpolizeiapparat bestenfalls auf eine diabolische Rolle reduziert. 3 Dass die soziale Praxis, die mit dem Wort »Stasi« angedeutet wird, nicht nur als staatliches, sondern gesellschaftliches Problem nachwirkt, wird aus der öffentlichen Diskussion verdrängt. Doch genau diese Frage wirkt sich auf die Bedingungen heutigen Zusammenlebens aus. 4 Wer waren diejenigen, die sich hinter dem Mythos des angeblich allwisssenden, allmächtigen Apparats verbargen? Welche Bedingungen und Erfahrungen begünstigten die Orientierungsmuster der Hauptamtlichen? Dorothee Wierling stellte in ihrer Studie zu den in den Jahren 1945 bis 1955 Geborenen die Frage nach »den objektiven Handlungsmöglichkeiten und nach der subjektiven Wahrnehmung bzw. der Ausgestaltung dieser Räume«. 5 Sie unterschied zwischen dem Rahmen und denen, die in ihm handeln. Den Handelnden gestand sie durch die Betonung subjektiver Wahrnehmungen und der Möglichkeit, Konsequenzen zu gestalten, demnach eine Eigenlogik des Handelns zu, sodass Rahmen und Person zueinander in Beziehung gesetzt werden können. 6 Die Gesellschaft wird durch die permanent erneuerte Bewegung in sozialen Beziehungen und die Distanzierung vom herrschaftlichen Handeln modelliert. 7 Doch wie gestalteten sich diese Beziehungen in der Parallelgesellschaft? Wie konstituierte sich das Milieu, das als Hort der Repression und des herrschaftlichen Handelns schlechthin gilt? Welchen Voraussetzungen unterlagen ihre Mitglieder und wodurch wurde das von ihnen geschaffene Milieu charakterisiert? 8 3 Gieseke verwies darauf, dass zwar eine ganze Reihe von Literatur zur Stasi erschienen sei, die sich jedoch hauptsächlich dem Auslands- und nicht dem Inlandsgeheimdienst gewidmet habe. Gieseke, Jens: Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Personalstruktur und Lebenswelt 1950–1989/90. Berlin 2000, S. 46 f. 4 Zum politischen Kontext der Aufarbeitung u. a. Kocka, Jürgen: Umgang mit der Vergangenheit. Aufgaben der Zeitgeschichte. In: Ders.: Vereinigungskrise. Zur Geschichte der Gegenwart. Göttingen 1995, S. 122–129, hier 122 f. Zur Vernachlässigung des Themas der Hauptamtlichen Gieseke, Jens: »Genossen erster Kategorie«: Die hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit als Elite. In: Hübner, Peter (Hg.): Eliten im Sozialismus. Beiträge zur Sozialgeschichte der DDR. Köln, Weimar, Wien 1999, S. 201. 5 Wierling, Dorothee: Geboren im Jahr Eins. Der Jahrgang 1949 in der DDR. Versuch einer Kollektivbiographie. Berlin 2002, S. 9. 6 Ebenda, S. 8: Dort zur Kritik der Überpolitisierung Fn. 3. 7 Zum Begriff Eigen-Sinn Lüdtke, Alf: Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus. Hamburg 1993, S. 9–22. Lindenberger beschrieb ihn in Anlehnung an Alf Lüdtke so: »Der Begriff des ›Eigen-Sinns‹ zielt auf den deutenden und sinnproduzierenden Aspekt individuellen wie kollektiven Handelns in sozialen Beziehungen.« Allerdings vernachlässigte er damit die Bedeutung des Begriffs als Distanzierung vom herrschaftlichen Handeln. Lindenberger, Thomas: Die Diktatur der Grenzen. Zur Einleitung. In: Ders. (Hg.): Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR (Zeithistorische Studien 12). Köln, Weimar, Wien 1999, S. 24. Lüdtke, Alf: Eigensinn. In: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.): Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte. Münster 1994, S. 139–153. 8 Dabei ist der Frage nach dem Unterschied von Bühne und Hinterbühne, von Agitation/Propaganda und deren Zweck, von Inszenierung und Folgen des Handelns nachzugehen. Lüdtke, Alf: Sprache und
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Die Hauptamtlichen der Stasi
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1.1 Forschungsstand Bislang kann man nur auf wenige Studien zurückgreifen, die sich detaillierter mit den Hauptamtlichen beschäftigen. 9 Clemens Vollnhals gab 1994 einen ersten Überblick zu Rekrutierungs- und Arbeitsfeldern der Hauptamtlichen. 10 Kurz darauf widmete Joachim Walther 1996 sowohl den Strukturen wie dem hauptamtlichen Überwachungspersonal der Hauptabteilung XX/7 11 ein umfangreiches Kapitel. 12 In drei Schüben seien die Offiziere in die »Linie Schriftsteller« bzw. in die 1969 gegründete Hauptabteilung XX/7 (Medien und Kultur) eingestellt worden. Deshalb teilte er die Offiziere in drei Generationen der Dienstklasse ein, deren erste er ob ihrer NS-Erfahrung, »antifaschistischen Einstellung« 13 und fehlenden Fachkenntnis als »Pioniere« bezeichnete. 14 Während die dritte und letzte Generation, als »Nachwuchs« seit Mitte der 1980er Jahre eingestellt, in vergleichsweise unscharfen Konturen verblieben sei, wären die in den Jahren 1969 bis 1978 Eingestellten als »Profis« zu bezeichnen. 15 Die Angehörigen dieser zweiten Gruppe, zu einem Drittel der HJ/FDJ-Generation zugehörig, zu einem weiteren Drittel nach 1945 und einem letzten Drittel nach 1949 geboren, 16 hätten im Gegensatz zur ersten Generation eine bessere zivile Ausbildung vorzuweisen gehabt, was sich darin gezeigt habe, dass seit den1970er Jahren alle Offiziere die 10. Klasse und meist eine Berufsausbildung absolvierten. 17 Deshalb und aufgrund der sich entwickelnden bürokratischen Routinen könnten sie »Profis« genannt werden. 18 Sie seien während zweier Schübe 1969 Herrschaft in der DDR. Einleitende Überlegungen In: Ders.; Becker, Peter: Akten. Eingaben. Schaufenster. Die DDR und ihre Texte. Erkundungen zu Herrschaft und Alltag. Berlin 1997, S. 11–26. 9 Der ausführliche Forschungsstand bis 1999 ist erläutert bei Gieseke: Hauptamtliche Mitarbeiter (Anm. 3), S. 38–48. Gleichsam als Rekurs auf die uns interessierende Kohorte Ders.: Die dritte Generation der Tschekisten. Der Nachwuchs des Ministeriums für Staatssicherheit in den »langen« siebziger Jahren. In: Schüle, Annegret; Ahbe, Thomas; Gries, Rainer (Hg.): Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur. Leipzig 2006, S. 229–246; Lenski, Katharina: Durchherrschter Raum? Staatssicherheit und Friedrich-Schiller-Universität. Strukturen, Handlungsfelder, Akteure. In: Hoßfeld, Uwe; Kaiser, Tobias; Mestrup, Heinz (Hg.): Hochschule im Sozialismus. Studien zur Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena (1945–1990), 2 Bde. Köln, Weimar, Wien 2007, S. 526–572. 10 Vollnhals, Clemens: Das Ministerium für Staatssicherheit. Ein Instrument totalitärer Herrschaftsausübung. In: Kaelble, Hartmut u. a. (Hg.): Sozialgeschichte der DDR. Stuttgart 1994, S. 498–518. 11 Die Hauptabteilung XX/7 diente der Überwachung und Verhinderung unabhängiger Kunst und Kultur auf der »Linie Schriftsteller«. 12 Walther, Joachim: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin 1996, S. 140–267. 13 Diese Einstellung wurde selbst attestiert, wenn die Elternhäuser zwar der SED beitraten, doch zuvor der NSDAP angehört hatten. Walther: Sicherungsbereich Literatur (Anm. 12), S. 198. 14 Walther: Sicherungsbereich Literatur (Anm. 12), S. 198 f. Der dort verwendete Generationenbegriff weicht vom klassischen ab. Vgl. Mannheim, Karl: Das Problem der Generationen. In: Ders.: Wissenssoziologie. Hg. von Wolff, Kurt H. Neuwied, Berlin 1970, S. 509–565. 15 Walther: Sicherungsbereich Literatur (Anm. 12), S. 236–252. 16 Vgl. Wierling: Geboren im Jahr Eins (Anm. 5). 17 Walther: Sicherungsbereich Literatur (Anm. 12), S. 218 f. 18 Ebenda, S. 198 f.
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Katharina Lenski unter Mitarbeit von Agnès Arp
sowie zwischen 1975 und 1978 eingestellt worden. Das Jahr 1969 habe die Bildung genannter Hauptabteilung XX/7 sowie der entsprechenden Abteilungen in den Bezirksverwaltungen mit sich gebracht, sodass sich der Mitarbeiterstab verjüngt habe. Bei dieser Generation habe das Aufbau-Ethos der »Pioniere« gefehlt, zu mindestens 50 Prozent seien sie aus der militärischen Dienstklasse, so dem Wachregiment Feliks Dzierżyński, rekrutiert worden. 19 Diejenigen Offiziere, die in den 1960er Jahren ihren Dienst begannen, hätten »ausgeprägte tschekistische Fähigkeiten« entwickelt. 20 Sie hätten von der Erfahrung ihrer Vorgänger profitiert, die sich auch in den Strukturen und der MfS-internen Ausbildung niederschlug, die tschekistischen Verhaltensformen hätten sie wie keine andere Generation internalisiert. 21 Nach Walthers Einschätzung betätigten sich die Angehörigen dieser Dienstklassengeneration nicht musisch, sondern überwiegend sportlich, was auf Desinteresse gegenüber Kunst und Kultur schließen lässt. 22 Dem Sport wurde in der militarisierten Erziehung der DDR-Jugend zentrale Bedeutung zugewiesen. 23 Diese Gruppe unter den »Profis« habe wie keine andere sowohl bezüglich ihres Alters, ihrer Erziehung als auch der internalisierten Ideen zur inneren Logik des expandierenden Stasi-Apparats gepasst. Für die Beschreibung der in unserem Fall interessierenden Dienstkohorte soll besonderes Augenmerk auf diese Offiziere gelegt werden, denn die Mehrzahl derjenigen, die im ZOV »Bühne« aktiv wurden, gehörten ihr an. Kurz vor dem Erscheinen von Walthers Studie hatte 1995 Jens Gieseke erste Forschungen zu den Hauptamtlichen veröffentlicht. Darin traf er erste Aussagen zur Kaderpolitik im MfS sowie zu Strukturen und Zahlen. 24 In seiner Dissertation beschäftigte Gieseke sich ausführlicher mit diesen Problemen sowie der Frage nach der inneren Logik der Beteiligung der Offiziere an der Entstehung einer Lebenswelt, die schließlich so selbstreferenziell geworden war, dass selbst systemlogische Abweichungen innerhalb des Apparats disziplinarisch belangt wurden. 25 Das MfS, das seinen Personalbestand pro Dekade etwa verdoppelt habe, habe seinen Aktionsradius von Brachialgewalt hin zu den subtileren Methoden präventiver Überwachung und verdeckter Eingriffe wie dem der »Zersetzung« 26 verlagert, was jedoch nicht Aus19 Ebenda, S. 221. 20 Ebenda, S. 225. 21 Ebenda, S. 225. 22 Ebenda, S. 220. Vgl. Gieseke: Hauptamtliche Mitarbeiter (Anm. 3), S. 347. 23 Dazu Bernett, Hajo: Körperkultur und Sport in der DDR. Dokumentation eines geschlossenen Systems. Schorndorf 1994. 24 Gieseke, Jens: Die hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfSHandbuch, IV/1). Hg. BStU. Berlin 1995. 25 Gieseke: Hauptamtliche Mitarbeiter (Anm. 3). Vgl. auch die Rezension von Jan C. Behrends auf HSozUKult. Als Zusammenfassung seiner Untersuchung und Fokussierung auf die Dienstkohorte der um 1949 Geborenen Gieseke: Die dritte Generation der Tschekisten. (Anm. 9), S. 229–246. 26 Die Zersetzungsrichtlinie BStU, GVS, MfS o008-100/76 ist abgedruckt in: Gill, David; Schröter, Ulrich: Das Ministerium für Staatssicherheit. Anatomie des Mielke-Imperiums. Berlin 1993, S. 346–402.
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druck der Humanisierung des Apparats, sondern Einlösung der Forderung des Politbüros gewesen sei, unauffälliger zu handeln, um politische Verhandlungen mit dem Westen nicht zu gefährden. 27 Seit 1965 habe man sich mit der Dienstanweisung 4/65 28 des Ministers zwar offiziell von der »revolutionären Gegenprivilegierung« hin zu bildungsabhängigen Laufbahnkarrieren orientiert. 29 Auch habe sich das Bildungsniveau bei den zwischen 1968 und 1975 Eingestellten mit einer Abiturientenquote von 17,5 Prozent erhöht. 30 Da die Aufgabe der Ausbildung jedoch in der Effektivierung der Überwachung gelegen habe und die meist intern erworbenen Weiterbildungen und Hochschulabschlüsse Makulatur gewesen seien, sei der Bildungsgrad im Apparat bis zum Schluss defizitär gewesen und habe mit »tschekistischem Anti-Intellektualismus« korrespondiert. 31 Nun ist zu fragen, ob dieser Befund bei uns ebenfalls aufzufinden ist und welche Funktion der Bildung zukam, wenn sie lediglich Patina blieb. Gieseke machte eine Symbiose zwischen den Altkommunisten und der HJ/FDJGeneration aus, die er auch als Aufbaugeneration bezeichnete, und die das personelle Rückgrat des Apparats gebildet haben. 32 Die Dienstklasse der von 1926 bis 1935 Geborenen habe schließlich in den Jahren von 1982 bis 1989 das Leitungspersonal im MfS gestellt. 33 Diese hauptamtlichen Mitarbeiter seien nach der Aufbau- und Stabilisierungsphase zwischen 1968 und 1982 meist im Alter unter 26 Jahren zu weit mehr als der Hälfte aus der sozialistischen Dienstklasse rekrutiert worden. 34 Sei als Herkunft der Terminus »Arbeiterklasse« angegeben worden, aus der die Bewerber laut Doktrin Zum Zusammenhang von Zersetzungsrichtlinie und der Methode der »Vorbeugung« Walther: Sicherungsbereich Literatur (Anm. 12), S. 100–108. Zu den Folgen Behnke, Klaus: Zersetzungsmaßnahmen. Die Praxis der »operativen Psychologie« des Staatssicherheitsdienstes und ihre traumatischen Folgen. In: Baumann, Ulrich; Kury, Helmut (Hg.): Politisch motivierte Verfolgung: Opfer von SED-Unrecht (Kriminologische Forschungsberichte aus dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, 84). Freiburg 1998, S. 379–399; Pingel-Schliemann, Sandra: Zersetzen. Strategie einer Diktatur. Berlin 2002, S. 180–183. 27 Gieseke: Hauptamtliche Mitarbeiter (Anm. 3), S. 286. Dies stand auch im Zusammenhang des KSZE-Prozesses. Süß, Walter: Der KSZE-Prozess der 1970er Jahre und die DDR-Staatssicherheit. In: Dietrich, Torsten; Süß, Walter (Hg.): Militär und Staatssicherheit im Sicherheitskonzept der Warschauer-PaktStaaten. Berlin 2010, S. 319–340, hier bes. 329 f. 28 BStU, MfS, DSt 101062: Dienstanweisung 4/65 des Ministers v. 31.12.1964: Erarbeitung von Funktions- und Qualifikationsmerkmalen für die Dienststellungen bzw. Dienste der Angehörigen des Ministeriums für Staatssicherheit in den Hauptabteilungen, selbstständigen Abteilungen, Bezirksverwaltungen und KD, zit. nach: Gieseke, Jens: Hauptamtliche Mitarbeiter (Anm. 3), S. 249, Fn. 107. 29 Ebenda, S. 249. 30 Ebenda, S. 330–333. 31 Ebenda, S. 250 ff., 330 f., 338 f., 343 ff., 347, 352 f. u. 428. 32 Ebenda, S. 539. Dabei bezog er sich auf Niethammer, Lutz: Erfahrungen und Strukturen. Prolegomena zu einer Geschichte der Gesellschaft der DDR. In: Kaelble u. a. (Hg.): Sozialgeschichte der DDR (Anm. 10), S. 107 f. 33 Gieseke: Hauptamtliche Mitarbeiter (Anm. 3), S. 349 u. 429. 34 Ebenda, S. 326 u. 334.
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hauptsächlich stammen sollten, habe es sich tatsächlich jedoch zu über einem Drittel (38,6 %) um Angehörige des MfS (17,2 %) und der bewaffneten Organe (22,4 %) und zu 18,1 Prozent um Kinder von leitenden Mitarbeitern in Staat und Wirtschaft (11,2 %) und politischen Funktionären (6,9 %) gehandelt, jedoch nur zu einem Drittel (30,2 %) um Arbeitersöhne. 35 Diese starke Selbstrekrutierung als auch fehlende Aufstiegschancen in der Wirtschaft hätten zur Herausbildung eines eigenen »Sicherheits-Sozialmilieus« geführt. 36 Da die Offiziere zunehmend in eigens für sie gebauten Wohngebieten mit eigener Infrastruktur gelebt sowie zumindest 40 Prozent ihrer Kinder Beruf und Parteibindung »geerbt« hätten, sei ein Milieu mit selbstreferenziellen Bindungen und Diskursen entstanden, die den ohnehin stark reduzierten Horizont weiter verengt hätten. 37 Der Blick auf die Welt sei – in Anlehnung an die These der Entdifferenzierung von Sigrid Meuschel – von einer diffusen Angst vor Vielfalt, einer »Kultur der Angst«, geprägt gewesen, 38 welche durch Elitebewusstsein und materielle Privilegien teilweise kompensiert worden seien. Allerdings hätten zunehmende Probleme bei der Kaderrekrutierung, Suchtstrukturen im Apparat und steigende Scheidungsraten die internen Widersprüche signalisiert. 39 Obwohl »Parteilichkeit, Konspiration und Gehorsam« die wesentlichen Strukturelemente des nach Erving Goffman als »totale Institution« charakterisierten Apparats gewesen seien, 40 hätten genau diese Faktoren zur Ausprägung des »Sicherheits-Milieus« geführt. 41 Während dort einerseits die Disziplinarquote seit 1968 bei etwa 3 Prozent verblieb 42, stagnierten sowohl der Apparat als auch die Gesellschaft. Den Systemdefiziten half man nicht ab, sondern kompensierte die Probleme dank immer weiter arbeitsgeteilter, technisierter und bürokratisierter Überwachung und Verfolgung, löste sie jedoch nicht. 43 Die Folgen der Stagnation hätten sich in weiter auswuchernden Phantasien gegen vermeintliche Systemopponenten gezeigt, die mit Mitteln der »Zersetzung« sowie anderen »unkonventionellen« Druckmitteln zum Schweigen gebracht werden sollten. 44 Schließlich hätte es bei »operativen« Grenzüberschreitungen im Rahmen von Zersetzungsmaßnahmen auch konkrete Vorstellungen über die Vernichtung der schriftlichen Dokumentation gegeben. 45
35 Ebenda, S. 334. Aus der (nichtleitenden) Intelligenz kamen 3,5 %, Kinder von Angestellten waren 4,3 %, lediglich 4,3 % stammten aus Bauern- und Handwerkerfamilien. 36 Ebenda, S. 543. 37 Ebenda, S. 277 u. 543. 38 Ebenda, S. 546. 39 Ebenda, S. 279–282, 356 u. 438 ff. 40 Ebenda, S. 546. 41 Ebenda, S. 288 u. 338 f. 42 Ebenda, S. 275 f. 43 Ebenda, S. 546. 44 Ebenda, S. 453 ff. 45 Ebenda, S. 455.
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Die erste in der DDR aufgewachsene Generation, so Dorothee Wierling, wurde zwischen 1945 und 1955 geboren. Diese bezeichnete Gieseke für den Apparat als die »dritte Generation«. Sie habe sich ausschließlich an der HJ/FDJ-Generation orientiert und sei seit Beginn der 1980er Jahre in Leitungspositionen aufgerückt. Am Ende der DDR sei sie im Gegensatz zum eigenen Selbstbild und im Gegensatz zur HJ/FDJ-Generation sowie den Jüngeren nicht in Erscheinung getreten. Offen bleibt, welche konkrete Rolle die »Generation Eins« im Apparat übernahm. 46 Die HJ/FDJ-Generation der in der vorliegenden Studie untersuchten Auswahl agierte zwar in Führungspositionen, wurde jedoch kurz darauf von den zwischen 1935 und 1945 Geborenen abgelöst. Deren Voraussetzungen sind zu betrachten, denn allein der Geburtszeitraum veränderte ihre Lage bzw. ihre Sozialisationsbedingungen so weit, dass man auch eine andere Erfahrungsstruktur als die der Kohortenmitglieder der zwischen 1927 und 1934 Geborenen vermuten muss. Wenn eine klare Trennlinie zwischen dem Apparat und der Gesellschaft gezogen wurde, sich als handlungsleitend Feindbild- und Hierarchiedenken und Konspiration herausbildeten und sich damit eine Kultur der Angst vor Vielfalt entwickelte, die eine emanzipierte, selbstständige Lebenskultur einschließlich der Kontakte zu Dritten einschränkte, wenn nicht verbot, so zieht das neben Konsequenzen für die Welt der Offiziere auch Folgen für die Rolle der inoffiziellen und gesellschaftlichen Mitarbeiter und erst recht ihrer offiziellen Helfer im Staats- und Parteiapparat nach sich. Dabei ist auch nach der Rolle der Partei zu fragen. In den Statuten des MfS wurde allgemein auf dessen Handlungsgrundlagen verwiesen, an deren erster Stelle das Programm der SED und danach die Beschlüsse von ZK und Politbüro standen. 47 Die Verbindungen zwischen Partei und Staatssicherheit werden auch durch die politische Sozialisation der MfS-Angehörigen, in der die Übernahme von Parteifunktionen eine wichtige Rolle spielte, verdeutlicht. Hier ist zu fragen, welche politische und soziale Funktion den SED – MfS-Beziehungen zukam. Von weiterem Interesse ist das Jahr 1982, in dem der ZOV eröffnet wurde, denn im Folgejahr setzte angesichts der drohenden Zahlungsunfähigkeit der DDR ein Ausgaben- und damit der erste Personalstopp im MfS seit dem mit dem Jahr 1968 stetig steigenden Wachstumsboom ein. 48 Besteht außerdem ein Zusammenhang zwischen der Entspannungspolitik und ihrer Rezeption als Bedrohungschimäre? Die Offiziere mussten sich durch die Interventionen der unabhängigen DDRFriedensbewegung sowohl im Selbstverständnis wie in ihrer Dienstverfassung angegriffen fühlen. Gründete darin das erbitterte Vorgehen der Staatssicherheit besonders gegen diejenigen, die sich der Aufrüstung verweigerten? 46 Zur Generation Eins Wierling: Geboren im Jahr Eins (Anm. 5). 47 Ebenda, S. 183: Statut des Ministeriums für Staatssicherheit v. 30.7.1969 (BStU, MfS, SdM 2619, Bl. 1–11). Vgl. auch das Statut von 1953; ebenda, S. 61 ff., wo auch die Dienstgrade festgelegt worden waren (BStU, MfS, SdM 1574, Bl. 1 f.). 48 Gieseke: Hauptamtliche Mitarbeiter (Anm. 3), S. 387–391.
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Weitere Fragen entstehen durch die Untersuchung von Sonja Süß zu Psychiatrie und Staatssicherheit. Süß analysierte die Auswirkungen des Feindbildes bis hin zu den sich im Apparat etablierenden Suchtstrukturen, denen Mielke mit verschiedenen Dienstanweisungen gegenzusteuern suchte, was jedoch nicht gelang. 49 Insbesondere der Alkoholmissbrauch sei Indikator des Ausscherens aus der Norm, der sich der Körper nicht habe dauerhaft ausliefern können. 50 Bereits zum Anfang der 1980er Jahre sei man deshalb innerhalb des MfS zur gruppenweisen Behandlung alkoholkranker Offiziere übergegangen. Dabei sei auf die »Erziehung« zur Abstinenz gezielt worden. 51 Doch das Problem sei bis zum Ende bestehen geblieben. Neben den offiziellen müssen sich demnach Schattenräume des Handelns gebildet haben. Die Bedeutung der Begriffe der hier vorzufindenden Herrschaftssprache müsste eingehender diskutiert werden, was hier nur ansatzweise geleistet werden kann und die Übersetzung der Funktion der Wörter hinsichtlich ihrer Konsequenzen für die Betroffenen voraussetzt. 52 Wenn die formale Sprache nach Walter Süß auf das Feindbild verweist, so auch auf funktionale Aspekte der Begriffe, die entsprechend zu entschlüsseln sind.
1.2 Generationen und Dienstkohorten Will man die in den Akten vorgefundenen Informationen ordnen, systematisieren, analysieren, Hinweise auf verschüttete Informationen und den immanenten Sinn auffinden, ist es unerlässlich, diejenigen Fragen zu stellen, die neben dem an die Oberfläche gelangenden Überlieferungsinteresse den Funktionalzusammenhang der Akten offenlegen und damit eine Spurendeutung ermöglichen. 53 Dabei ist die zentrale Frage die nach den Akteuren. 49 Süß, Sonja: Politisch mißbraucht? Psychiatrie und Staatssicherheit in der DDR. Berlin 2000, S. 726–731. 50 Kochan, Thomas: Blauer Würger. So trank die DDR. Berlin 2011. 51 Süß: Politisch mißbraucht? (Anm. 49), S. 730 f. 52 Walter Süß unterschied zwischen formaler und konkreter Sprache. Ders.: Staatssicherheit am Ende (Anm. 2), S. 29. Grundsätzlich: Ludz, Peter Christian: Mechanismen der Herrschaftssicherung. Eine sprachpolitische Analyse gesellschaftlichen Wandels in der DDR. München, Wien 1980. Vgl. die Aufsätze insbesondere von Alf Lüdtke und Ralph Jessen im Sammelband von Lüdtke; Becker (Hg.): Akten. Eingaben. Schaufenster (Anm. 8), S. 11–26 u. 57–75. Zur Sprache in der DDR Pappert, Steffen: Politische Sprachspiele in der DDR. Kommunikative Entdifferenzierungsprozesse und ihre Auswirkungen auf den öffentlichen Sprachgebrauch. Frankfurt/M. u. a. 2003; Schlosser, Horst-Dieter: Die deutsche Sprache in der DDR zwischen Stalinismus und Demokratie. Historische, politische und kommunikative Bedingungen. 2. Aufl., Köln 1999; Steinke, Klaus: Die Sprache der Diktaturen und Diktatoren. Beiträge zum internationalen Symposion an der Universität Erlangen v. 19. bis 22.7.1993. Heidelberg 1995. Eher summarisch beschreibend: Bergmann, Christian: Die Sprache der Stasi. Ein Beitrag zur Sprachkritik. Göttingen 1999. 53 Zur Bedeutung der Fragen Niethammer, Lutz: Anmerkungen zur Alltagsgeschichte. In: Ders.: Deutschland danach. Postfaschistische Gesellschaft und nationales Gedächtnis, hg. von Ulrich Herbert und
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Ausgangspunkt können die Überlegungen Karl Mannheims zum Begriff der Generation sein, die breit diskutiert werden und auch hier Anwendung finden sollen. 54 Auch hinsichtlich der These Jens Giesekes über die vier Generationen der StasiOffiziere 55 scheint es sinnvoll, sich das klassische Generationenmodell von Karl Mannheim zu vergegenwärtigen. 56 Mannheim habe den Begriff der Generation in drei Schichten gegliedert, fasste Lutz Niethammer zusammen: in eine biologischdemographische Generationenlagerung, zweitens den erfahrungsgeschichtlichen Generationenzusammenhang und zum Dritten in sinn- und stilbildende Generationeneinheiten. 57 Die Generationen unterscheiden sich damit kulturell von den nach dem biologischen Alter bestimmbaren Kohorten eines Jahrgangs oder Gruppen, die sich nach dem Zeitpunkt ihrer Einstellung in das MfS definieren, wie sie Joachim Walther für die Offiziere in der Hauptabteilung XX/7 beschrieben hat. Dorothee Wierling hob hervor, dass historischer und biografischer Zusammenhang korrespondieren und die jeweilige Generation sich von anderen Kohorten abheben müsse: »Anders als Kohorten, die lediglich quantitative Größen sind, konstituieren sich Generationen qualitativ durch ihren besonderen Ort in der Geschichte und eine besondere Erfahrungsschichtung. Eine Altersgruppe als Generation zu identifizieren ist ein Gründungsakt.« 58
Demnach werden die jeweiligen Generationseinheiten im historisch-sozialen Gefüge sichtbar, wenn ihre Bedeutung für die Ablösung von tradierten Erfahrungszusammenhängen identifiziert und erkennbar konfiguriert wird. 59 Jens Gieseke setzte demgegenüber den Begriff von Kohorte und Generation gleich und teilte die Kohorten der Offiziere entlang der Jahrgangsdaten in vier Generationen ein: Die erste zwischen 1905 und 1915 geboren, die zweite etwa um 1930, die dritte (nach Dorothee Wierling) als Generation Eins der DDR um 1949, die letzte als die um 1964 und danach Geborenen. Die Handlungsgemeinschaft der ersten Generation mit der HJ/FDJ-Generation, auch als Generationensymbiose bezeichnet, 60 wurde etwa 1982 von einer neuen Konstellation abgelöst, denn nun stellten die um 1930 Geborenen im Apparat die Mehrheit und besetzten die Füh-
Dirk van Laak in Zusammenarbeit mit Ulrich Borsdorf u. a. Bonn 1999, S. 450–464. Zuerst erschienen in: Geschichtsdidaktik 5(1980), S. 231–242. 54 Mannheim: Das Problem der Generationen (Anm. 14), S. 509–565. Zur kritischen Auseinandersetzung mit Mannheim Niethammer, Lutz: Generation und Geist. Eine Station auf Karl Mannheims Weg zur Wissenssoziologie. In: Schüle; Ahbe; Gries (Hg.): Die DDR (Anm. 9), S. 41–64. Dort auf S. 44 f. auch zur Genealogie des Wortes. Vgl. im Band auch die weiteren Aufsätze. Exemplarisch zur Anwendung und Diskussion Wierling: Geboren im Jahr Eins (Anm. 5), hier S. 11–14. 55 Gieseke: Die dritte Generation (Anm. 9), S. 229–246. Dazu auch die Ausführungen zum Forschungsstand in diesem Beitrag. 56 Mannheim: Das Problem der Generationen (Anm. 14), S. 509–565. 57 Niethammer: Generation und Geist (Anm. 9 u. 54), S. 41–64, hier 45. 58 Wierling: Geboren im Jahr Eins (Anm. 5), S. 12. 59 Mannheim: Das Problem der Generationen (Anm. 14), bes. S. 518 f., 548–555 u. 564 f. 60 Niethammer: Erfahrungen und Strukturen (Anm. 32), S. 107 f.
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rungspositionen, gaben demnach den Orientierungsrahmen vor. 61 Doch mit der Ablösung der Älteren durch diese Führungskader, für die »ein stereotypisierter Antifaschismus zweiter Hand, ein militärisch-exekutives Vorgehen und die Ausgestaltung des Kommunismus zu einem autoritären Ökonomismus in Theorie und Praxis kennzeichnend« 62 war, sei die systemstabilisierende Sinn-Symbiose für die Nachgeborenen verloren gegangen. Nun bleibt zu fragen, ob dieser Befund mit den Befunden übereinstimmt, die anhand empirischen Materials aus der Provinzstadt Gera erarbeitet werden können. Die Generationenlage der Offiziere wird in unserem Fall dort deutlich, wo sie in Fragebögen und Lebensläufen persönliche Informationen preisgaben, mit denen sie unwillkürlich aus heutiger Perspektive erhellende Fakten fixierten, auch und gerade weil sie in Sprachduktus und Lückenhaftigkeit die Kontrollfunktion des Apparates in Betracht ziehen. Der Erlebniszusammenhang deutet sich dort in Umrissen an, wo die Lebensstationen protokolliert werden. Am schwierigsten wird es beim dritten Punkt, dem Sinn- und Orientierungszusammenhang oder der Frage, wie die Offiziere der jeweiligen Kohorten den Herausforderungen ihrer Zeit begegneten, inwieweit sie Handlungsgemeinschaften bildeten, die sie in Sinngebung und Stil als eigene Generation erkennbar werden lassen. Generell ist zu fragen, wie die nach 1945 Geborenen der Herausforderung begegneten, dass die durch die Gründergeneration des MfS vermittelte Legitimation verloren ging, und wie sich im hier untersuchten Sample die von Dorothee Wierling beschriebene Generation Eins zeigt. Welche Prägungen und Erfahrungen verbinden, welche unterscheiden die Kohorten? Welches Milieu bildete sich heraus?
1.3 Quellenbasis Ursprünglich sollten alle am ZOV »Bühne« beteiligten Offiziere befragt werden, was zum ersten Befund hinführt. Abgesehen von einigen Offizieren aus anderen Arbeitsfeldern fand sich nicht einer von ihnen für ein lebensgeschichtliches Interview bereit. 63 Trotz »ISOR«-Mitgliedschaft 64 war es den vereinzelt gesprächigen Hauptamt61 Gieseke: Die dritte Generation (Anm. 9), S. 233. 62 Niethammer: Erfahrungen und Strukturen (Anm. 32), S. 107 f. 63 Lediglich 4 ehemalige MfS-Offiziere, von denen allerdings keiner in den ZOV »Bühne« involviert gewesen war, erklärten sich für ein Interview bereit. 64 Die ISOR (Initiativgemeinschaft zum Schutz der sozialen Rechte ehemaliger Angehöriger bewaffneter Organe und der Zollverwaltung der DDR e. V., gegründet 1991, Sitz in Berlin) hat nach eigenen Angaben 24 000 Mitglieder. Diese sind in 188 Territorialen Initiativgruppen (TIG) organisiert. Vgl. den Bericht über die Strukturen des Ex-MfS im Ausschuss für Verfassungsschutz (VSA) des Abgeordnetenhauses von Berlin, behandelt in öffentlicher und nicht-öffentlicher Sitzung am 14.3.2007 und am 18.4.2007 über 1. »Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e. V.« (GBM), 2. »Gesellschaft zur rechtlichen und humanitären Unterstützung« (GRH), 3. »Insiderkomitee zur Förderung der kritischen Aneignung
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lichen nicht möglich, weitere Kontakte für das Projekt zu vermitteln. Dies könnte dafür sprechen, dass die beschworenen Netzwerke nicht mehr existieren. Für ein Nachlassen des Zusammenhalts spricht, dass das Feindbild der damaligen Systemträger durch ihre Ordnungsansprüche stark an seinen institutionellen Rahmen gebunden war. In der Dienstordnung von 1972 wurden die sozialen Beziehungen der MfS-Mitarbeiter insbesondere vom Feindbild und der gegenseitigen Überwachung definiert: »Ihre Gemeinsamkeit bewährt sich vor allem im Kampf gegen den Feind, in der gegenseitigen Erziehung zu sozialistischen Persönlichkeiten.« 65 Fraglich ist damit, ob freundschaftliche Verbindungen ehemaliger Offiziere nach 20 Jahren noch existent sein können, wenn der Vertrauensmissbrauch als soziale Praxis dominierte. Ein dritter Einwurf mag dies ebenfalls nachvollziehbar erscheinen lassen: Die Offiziere umgibt als Unpersonen der Demokratisierung noch immer ein Mythenschleier. 66 Diesen Schleier zu lüften würde bedeuten, dass sie sich selbst außerhalb des propagandistisch verklärten Selbstbildes reflektieren würden. Die Aufarbeitung der vergangenen Jahrzehnte ist zudem in weiten Teilen von dem Diktum geprägt, dass die Staatssicherheit von außen agiert habe, während »das Volk« diesem Apparat distanziert gegenübergestanden habe. 67 Die eigenen Anteile an der Ausgrenzung Dritter, die Verführungen, Ängste und Machtphantasien werden damit verdrängt und die ehemaligen Mitarbeiter der Staatssicherheit auf das alteneue Feindbild festgelegt. Letztendlich behindert ein solches Verständnis der DDRAufarbeitung ein für die Entwicklung demokratischer Gesellschaften notwendiges reflexives Selbst-Bewusstsein. Dieses Festklammern an alten Feindbildern, das mit der Angst vor öffentlicher Äußerung einhergeht, verhindert eine Auseinandersetzung, zumal sich die Frage stellt, ob den Offizieren von damals beispielsweise ein Alltagsbegriff wie »Zivilcourage« gänzlich fehlt, ja als kulturelle Technik nicht denkbar ist. Zu Beginn des Projekts versuchte die Historikerin Agnès Arp, die am ZOV »Bühne« beteiligten Hauptamtlichen als Gesprächspartner für lebensgeschichtliche Interviews zu gewinnen, was jedoch scheiterte. Ein ehemaliger Geraer MfS-Offizier mutmaßte, in der hier vorliegenden Untersuchung würden »falsche« Fragen gestellt
der Geschichte des MfS« (Insiderkomitee), 4. »Initiativgemeinschaft zum Schutz der sozialen Rechte ehemaliger Angehöriger bewaffneter Organe und der Zollverwaltung der DDR« (ISOR e. V.), S. 32–38; vgl. Gieseke, Jens: Zwischen Privilegienkultur und Egalitarismus. Zu den Einkommensstrukturen des Ministeriums für Staatssicherheit. In: DA 43(2010)3, S. 442–453, hier 442 f. 65 Grundsätze für den Dienst im Ministerium für Staatssicherheit (Dienstordnung) v. 13.7.1972; BStU, MfS, BdL-Dok. Nr. 3213, abgedruckt in: Engelmann, Roger; Joestel, Frank (Bearb.): Grundsatzdokumente des MfS (MfS-Handbuch, Teil V/5). Hg. BStU. Berlin 2004, S. 241. 66 Die Mythenbildung korrespondiert(e) direkt mit dem Aufarbeitungsdiskurs der 1990er Jahre, so beispielsweise die von Hans Schwenke kolportierte und breit rezipierte These von einer »Überlebensordnung des MfS«: Süß: Staatssicherheit am Ende (Anm. 2), S. 45–52. 67 Allerdings wird hier nicht zwischen existenzieller Distanzierung, öffentlich wahrnehmbarer, innerlich zurückgehaltener Distanz und Mitmachen oder auch Schweigen unterschieden.
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bzw. »falsche« Zusammenhänge hergestellt werden. Die MfS-Offiziere würden nicht als gleichberechtigte Zeitzeugen behandelt: »Sie hatten vor Jahren schon einmal versucht, mich über die Problematik der Abteilung XX zu befragen, 68 was ich ebenfalls nicht wahrgenommen habe. Ich bin mir absolut nicht im Klaren darüber, was Sie eigentlich bezwecken. Allerdings möchte ich es auch nicht wissen. Wenn Sie das Ministerium für Staatssicherheit der DDR mit solchen Attributen wie Unmenschlichkeit, Scham und Schande überziehen, wie schätzen Sie dann die Handlungsweise des II. Büros in Indochina und Algerien ein?« 69
Aufklärung über den (vermuteten) Hintersinn des Forschungsvorhabens möchte er dann doch nicht haben, denn damit könnte genau das Zwiegespräch beginnen, welches den Schutzschild seiner Verweigerung aufbrechen könnte. So rettet er sich in einen vermeintlich exkulpierenden Vergleich mit der Kolonialpraxis Frankreichs, um zugleich preiszugeben, dass er offenbar die Viermächtepolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere die der Sowjetunion, als Kolonialpraxis betrachtet. 70 Zugleich scheint er nicht in Erwägung zu ziehen, dass gerade die Staatssicherheit selbst ihren Teil dazu beigetragen haben könnte, die DDR untergehen zu lassen. 71 Andererseits vernachlässigt er die eigene Existenz der vergangenen 20 Jahre. 72 Die Möglichkeiten, sich zu qualifizieren und neue Berufschancen wahrzunehmen, zu reisen und Neues zu entdecken wiegen offenbar nicht schwer genug, um den Verlust auszugleichen. Die anhaltende Verweigerung der Offiziere, sich in lebensgeschichtlichen Interviews auf Spuren- und Erinnerungssuche zu begeben, führte dazu, diesen Versuch nach langen 14 Monaten erfolgloser Bemühungen abzubrechen. Damit ging allerdings die Möglichkeit verloren, die subjektive Sicht der Ehemaligen zu berücksichti68 Dabei verwechselte er die Historikerin Agnès Arp mit der Politikwissenschaftlerin Agnès Bensussan. 69 Der Schriftwechsel datiert aus dem Jahr 2006. In einem ersten Brief an ihn hatte Agnès Arp geschrieben: »Parallel zu diesem Projekt interessiere ich mich für das Leben der ehemaligen Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes zur DDR-Zeit, aber auch danach. Wenn das Thema »Stasi« öffentlich beredet wird, dann meist unter den Stichworten Anklage, Unmenschlichkeit, Scham und Schande. Das aktuelle Wissen über die Institution und die Struktur der Stasi ist heute umgekehrt proportional zu unserer Unwissenheit über ihre Akteure vor Ort. Es gibt sehr wenige Studien über die Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes an sich, über deren Leben allgemein, deren Alltag, Erwartungen, Probleme, Einsichten, usw. Über solche Fragen würde ich gern im Rahmen eines wissenschaftlich lebensgeschichtlichen Interviews mit Ihnen sprechen.« 70 Gleichlautend seine ehemaligen Kollegen in: Wilkening: Staat im Staate (Anm. 2), u. a. S. 68. Drastischer Günter Baum, der bemängelte, dass frühere Unterstützer des Naziregimes in der BRD sozial nicht angetastet wurden. Ders.: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft für einen ehemaligen Mitarbeiter des MfS. In: Zwiegespräch 9(1992), S. 15. 71 Der ehemalige Leiter der BV Berlin, Wolfgang Schwanitz, dagegen räumte dies 1992 ein. Ders.: Welche Aufgaben hatte ich als Leiter der BV Berlin des MfS? In: Zwiegespräch 9(1992), S. 1–14. Zu den verschiedenen Deutungen und Ansätzen der Transformation in der Forschung Süß: Staatssicherheit am Ende (Anm. 2). Weitgehend in überlieferter Sicht Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. Berlin 2009, S. 500–520, bes. 510. 72 Auf die wesentlich besseren existenziellen Bedingungen der ehemaligen Offiziere im Vergleich zur übrigen Bevölkerung verweist Gieseke: Zwischen Privilegienkultur und Egalitarismus (Anm. 64), S. 442–453.
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gen, ihre Werdegänge, Entscheidungsgrundlagen und -möglichkeiten, ihre Orientierungen und Konflikte nachzuvollziehen. Somit war es unmöglich, entlang unserer Fragestellungen Quellen zu schaffen, die die Sicht der Ehemaligen wiedergeben, und möglicherweise weitere Ressourcen zu erschließen, die außerhalb der schriftlichen Überlieferung gespeichert sind. Mit anderen Worten: Während die Quellen der Herrschaftssicht bereits ins kulturelle Gedächtnis eingegangen sind, können die Splitter des kommunikativen Gedächtnisses der ehemaligen MfS-Akteure noch nicht einmal exemplarisch aufgenommen werden. Um dennoch zumindest den Handlungsrahmen und vielleicht einige Teile ihrer Subjektivität sichtbar zu machen, wurden die Kaderakten aus der BStU sowie Arbeitsdokumente, wie z. B. Vorgangshefte und einige, allerdings unzureichende, Operativpläne aus dem ZOV »Bühne«, ausgewertet. Diese Materialien wurden zu den 20 wichtigsten am ZOV »Bühne« beteiligten Offizieren eingesehen, waren allerdings nicht vollständig überliefert. Hilfsweise wurden deshalb einige Personalakten aus IM-Vorgängen hinzugezogen, mit deren Hilfe die Überlieferung der Kaderakten ergänzt werden konnte. In der DDR bezeichnete der Begriff der Kaderakte eine Ablage über jeden Arbeitnehmer, die jedoch im Gegensatz zur heutigen Praxis nicht beim Arbeitgeber verblieb, sondern die Erfassten Zeit ihres Lebens von Betrieb zu Betrieb verfolgte. 73 Sie hielt in der Regel politische und soziale Herkunft, politischen und militärischen Werdegang sowie Bildungs- und Berufsweg fest. Über diese weitgehenden Angaben der »normalen« Kaderakte hinaus enthielten die von der Abteilung »Kader und Schulung« der Stasi angelegten Akten zusätzlich geheime Verpflichtungen, Disziplinarmaßnahmen und Auszeichnungen, Informationen zu sozialen Netzwerken einschließlich der Westverbindungen von Verwandten, über Haftaufenthalte auch von weitläufigeren Angehörigen oder ideologische Auffälligkeiten in der Familie. Vor der Einstellung holte die Stasi Beurteilungen über den Bewerber ein, die aus der Kaderakte der vorherigen Arbeits- oder Dienststelle und von weiteren Personen aus dem Umkreis des künftigen Kaders stammten. Diese, vermerkte ein internes Schreiben, müssten Aufschluss über Charakter, Handlungsorientierung und Ressourcen des Bewerbers ermöglichen. 74 Die Zusammenstellung dieser Kaderakten entsprach im Wesentlichen einem gleichbleibenden Schema. Nach dem Deckblatt folgte zunächst im Ersten Teil, genannt »Zusammengefasste Auskunft«, eine tabellarische Übersicht über die wichtigsten Personendaten: Name, Geburtsdatum und Ort, Einstellungsdatum und -ort 73 Zur regulativen und überwachenden Funktion der Kaderabteilungen und ihren Akten Richert, Ernst: Macht ohne Mandat. Der Staatsapparat in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, mit einer Einleitung von Martin Drath. Köln, Opladen 1963, S. 269 f. Die Kaderakten wurden als Teil des StasiInformationsnetzes genutzt. Bereits 1957 war mit der Dienstanweisung 16/57 angeordnet worden, als Kaderleiter »Mitarbeiter der Staatssicherheit oder Informatoren in solche Schlüsselpositionen einzubauen«. BStU, MfS, BdL-Dok. Nr. 2152, abgedruckt in: Engelmann; Joestel: Grundsatzdokumente (Anm. 65), S. 116 f. 74 BStU, MfS, HA KuSch Nr. 22968, Bl. 58.
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sowie Dienstalter. In eine laufend ergänzte Liste trug man handschriftlich die militärische Karriere in den Sicherheitsorganen der DDR, den Verdienst sowie Medaillen und Auszeichnungen ein. Hinzu kamen Ausbildung, Berufslaufbahn, spezielle Kenntnisse, Partei- und weitere Mitgliedschaften, Westverwandtschaft und Auslandsaufenthalte. Den Abschluss bildeten die politischen und sozialen Angaben zur Familie, die in den Karteien auf eventuelle Erfassungen im MfS überprüft wurden. Im zweiten Teil wurde der weitläufige »Einstellungsvorschlag« angeheftet, der ein Gesamtporträt des künftigen Kaders zeichnete und von detaillierten Informationen zu Familie und Verwandtschaft komplettiert wurde. Der dritte Teil enthielt die Begründungen für Auf- und Abstiege und Gratifikationen sowie Gutachten des internen Medizinischen Dienstes. In Vermerken »über geführte Aussprachen zur Entwicklung und Erziehung des Angehörigen« bzw. »Ausspracheblättern« wurden Konflikte der Offiziere, öffentlich wahrgenommenes Fehlverhalten und der Umgang der Vorgesetzten sowie der zu Disziplinierenden mit den jeweiligen Vorwürfen festgehalten. Im vierten Teil wurden das weitergehende soziale wie politische Profil des Kandidaten und seiner Verwandtschaft fixiert wie auch die handschriftliche Verpflichtung zum Dienst beim MfS. 75 Mit dem Eintritt der Kandidaten in den Apparat unterlagen sie gleichzeitig den Disziplinarbestimmungen des Apparats wie auch der Partei. Um diese durchzusetzen, waren periodisch Beurteilungen zu erstellen, die in regelmäßigen Abständen vom jeweiligen Referats- oder Abteilungsleiter gemeinsam mit dem Parteisekretär verfasst wurden. Sie schätzten u. a. die Erfolge in der Bekämpfung Andersdenkender ein, die Leitungsqualifikationen des Offiziers sowie seine familiäre und nicht zuletzt gesundheitliche Verfassung. 76 Sie spiegelten damit den jeweiligen Handlungsraum der Offiziere aus Sicht ihrer Vorgesetzten. Dienstliches Verhalten und politische Anschauungen wurden zusammen mit Privatem zum Gegenstand der Kaderbeurteilung. Manchmal wiederholten sich hier ganze Passagen aus vorangegangenen Beurteilungen teils wortwörtlich. 77 Damit wird die Ambivalenz von offiziellem Selbstverständnis der Offiziere und der Überwachungsfunktion der Kaderakte deutlich: Zur Überwachungslogik gehörte ein Feindbild, das hier nicht angewendet werden konnte. So erschien es überflüssig, aktuelle Details bis zum Letzten nachzuvollziehen, zumal man sich mit den Jahren kannte und nach jeweiliger Opportunität entschied. 78 Andererseits konnte man sich 75 Vgl. auch Gieseke: Hauptamtliche Mitarbeiter (Anm. 3), S. 183. 76 Grundlage war die Dienstanweisung 5/62 des Ministers v. 26.4.1962; BStU, MfS, DSt 101040. Gieseke: Hauptamtliche Mitarbeiter (Anm. 3), S. 275. 77 BStU, BV Gera, KS Helmut Klaus: Vorschlag zum Einsatz als Referatsleiter v. 12.1.1987. 78 Über Nachlässigkeiten bei der Führung der Kaderakten berichtete auch Gieseke, Jens: Die hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit – eine sozialistische Elite? In: Hornbostel, Stefan (Hg.): Sozialistische Eliten. Horizontale und vertikale Differenzierungsmuster in der DDR. Opladen 1999, S. 139.
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angesichts der Überläufer und Fahnenflüchtigen nie sicher sein, dass nicht ein ehemals überzeugter Tschekist irgendwann die Geheimnisse geheimpolizeilicher Arbeit in die Öffentlichkeit trug. Erst 1979 hatte der Übertritt des HVA-Offiziers Werner Stiller hektische Umstrukturierungen im Apparat ausgelöst. 79 Neben den Kaderakten dienten der vorliegenden Studie die Arbeitsbücher einzelner Offiziere als weitere Quellengrundlage. Aus ihnen ist für den Zeitraum des ZOV »Bühne« zu erkennen, zu welchen Themen sie geschult wurden, in welche Richtung ihr Feindbild vertieft wurde und welche Gruppen besonders in den Lichtstrahl der Macht (Foucault) gerieten. Diese Mitschriften wurden eher zufällig durch die Arbeitsbücher überliefert, denn die Offiziere fixierten hier lediglich internes Wissen des Apparats. Die Notizen sollten als Gedächtnisstütze dienen und konnten von den Vorgesetzten kontrolliert werden. Das Referierte wurde so zumeist wortwörtlich notiert und selten mit Kommentaren versehen, bleibt folglich innerhalb des Formelkanons der Geheimpolizei befangen. Wenn damit die Möglichkeit sinkt, etwas über die Offiziere selbst zu erfahren, lassen sich dennoch einige Rückschlüsse ziehen: über ihr Bildungsniveau, über die Themen, mit denen sie befasst waren, und den DenkTunnel, in dem sie sich bewegten. Bei den vorgenannten Akten, den Operativ- und den Kaderakten (KS-Akten), sind drei Schritte der Dokumentation nachzuvollziehen. Der erste Schritt diente der Einholung von Informationen, bei der der Apparat bei Feind und Freund ähnlich vorging. Die verschiedenen Karteien und Aktenarten bilden die Entscheidung ab, in welches Raster die Betreffenden eingeordnet wurden und ob sie im dritten Schritt gefördert, »vorbeugend überwacht« oder »zersetzt« wurden. 80 Über die Individualität der Offiziere ist aus den Kaderakten so gut wie nichts zu erfahren. Auch die sich in den Disziplinarakten spiegelnden Konflikte verweisen mehr auf interne Ordnungsvorgänge als auf den Eigensinn der Offiziere. Andererseits geben sie einen Einblick in die Instrumentarien, die zur Einhegung von Problemen genutzt wurden und auf die Bewertung von hauptamtlichen Mitarbeitern, welche die Kaderanforderungen nicht (mehr) erfüllten. Die Stasi-Kaderakten geben uns somit Hinweise auf bestimmte Vorgänge, doch qualitative Aussagen sind in diesen Akten durch die Perspektive des tschekistischen Feindbildes verstellt und daher schwer zu treffen. Viele Materialien, die eigentlich vorhanden sein müssten, konnten erst nach intensiver Recherche oder gar nicht aufgefunden werden. Dazu zählen mehrere Plandokumente und Kaderakten. In den vorhandenen Kaderakten waren häufig Dienstalter und Dienstbeginn unterschiedlich datiert. Bei den meisten dieser Fälle fanden 79 Stiller, Werner: Im Zentrum der Spionage. Mit einem Nachwort von Karl Wilhelm Fricke. 4. Aufl., Mainz 1986; Macrakis, Kristie: Die Stasi-Geheimnisse. Methoden und Technik der DDR-Spionage, aus dem Englischen von Frank M. von Berger und Dirk Oetzmann. München 2009, S. 77–107. 80 Zu diesen Begriffen Suckut, Siegfried (Hg.): Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Definitionen zur »politisch-operativen Arbeit«. Berlin 2001, S. 406 ff. (Artikel Vorbeugung) und 422 f. (Artikel Zersetzung, operative).
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sich keine Akten, die diese Unstimmigkeit aufklären würden. 81 Außerdem konnten die für den Zeitraum von 1981 bis 1986, mithin die für die Zeit kurz vor dem Beginn des ZOV »Bühne« bis zu seiner Archivierung geltenden Schwerpunktpläne der Abteilung XX und ihres Referates 7 nicht eingesehen werden. Deshalb müssen zur Erhellung der Planungen und der damit verbundenen Intentionen, den ZOV anzulegen, andere Grundsatzdokumente hinzugezogen werden. 82 In den ersten beiden der drei untersuchten Kohorten fanden sich fast keine disziplinarischen Vorgänge und keine aus den 1950er und 1960er Jahren, obwohl die erste Einstellung von 1952 datiert. 83 Jens Gieseke hat auf die hohe Zahl der Entlassungen insbesondere in den 1950er Jahren verwiesen. Bei Dienstvorschriftsverletzungen wurde in den 1950er und 1960er Jahren vorrangig mit Entlassung reagiert. 84 Bis 1963 hätten die Entlassungen wegen »unmoralischem Verhalten zum anderen Geschlecht« und »Trunksucht« an erster Stelle der Entlassungsgründe gestanden, doch erfolgte auch ein knappes Drittel wegen politischer Unzuverlässigkeit. 85 Durch ein ausgefeilteres Rekrutierungssystem, insbesondere die Prüfung auf Eignung noch vor der Einstellung, sei die Disziplinarquote jedoch seit 1958 gesunken. Zwei Jahre nach dem Mauerbau führten eine interne Säuberung gemeinsam mit der 1964 erlassenen Kaderordnung dazu, dass die Disziplinarquote auf 2,9 Prozent gesunken und bis in die 1980er Jahre nicht mehr gestiegen sei. 86 Damit etablierten sich die zunehmend engen Grenzen der geheimpolizeilichen Lebenswelt. In den Kaderakten der hier untersuchten Gruppe wurden einige Disziplinarvorgänge dokumentiert, die näher betrachtet werden. Glücklicherweise konnten aus den biografischen Interviews mit den von den Stasi-Aktivitäten Betroffenen und den Funktionären einige Informationen zu den Offizieren selbst herausgefunden werden. Außerdem stand eine Hausarbeit von Geraer Schüler/innen zur Verfügung, von denen eine durch ihre Mutter biografisch an die
81 Das betrifft folgende Offiziere: Wolfgang Gerischer, Heinz Hohberger, Gerald Linke, Karl-Heinz Wlasak, Peter Trost. Bei Hubert Wirkner, Heinz Semmisch, Friedrich Jahn, Karl-Heinz Erker, Bernd Plötner, Dietmar Perz, Rolf Jahn und Wolfgang Schau liegen Akten zur inoffiziellen Tätigkeit vor. 82 Das gilt hinsichtlich der Materialien aus der Auswertungs- und Kontrollgruppe (AKG), in denen Rückbezüge zur Planungsarbeit fixiert sind, so z. B. die Analyse über Erkenntnisse aus der Bearbeitung von Operativen und Untersuchungsvorgängen, aus der Durchführung der OPK und aus der Bearbeitung anderer operativer Materialien über die Wirksamkeit der politisch-ideologischen Diversion und der gegnerischen Kontaktpolitik/Kontakttätigkeit (Analysezeitraum 1.1.1982 bis 30.6.1983). BStU, BV Gera, AKG 2402 (VVS o025 – 106/83), auch die Einschätzung des Standes und der Ergebnisse der politisch-operativen Arbeit zur komplexen Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit […] v. 15.9.1983; BStU, MfS, BV Gera, VVS o025 – 134/83. 83 BStU, MfS, BV Gera, KS Henry Müller, Bl. 4. 84 Gieseke: Hauptamtliche Mitarbeiter (Anm. 3), S. 200–208. 85 Ebenda, S. 279. Gieseke bezog sich hier auf eine Mitteilung der Disziplinarabteilung der HA KuSch von 1964 (vgl. ebenda, S. 276, Fn. 189). 86 Ebenda, S. 274–285.
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Geschichte der Puppenbühne angebunden ist. 87 Diese erhellen das Bild durch die Gegenblende aus Sicht der von den Maßnahmen der Stasi Betroffenen und der beteiligten Funktionäre. Dennoch müssen kritische Reflexionen zum problematischen Wert der MfS-Quellen in die folgende Analyse eingehen. Fehlende EgoDokumente, wie lebensgeschichtliche Interviews, können durch diese Herrschaftsquellen, die lediglich die eingeschränkte Sichtweise der Sicherheitsbürokratie wiedergeben, schwerlich ersetzt werden. Deshalb bleibt das Wissen über die Akteursgruppe der MfS-Offiziere begrenzt: ein Schattenriss.
1.4 Methodik Aus den mittel- oder unmittelbar am ZOV »Bühne« beteiligten Offizieren wurde eine Grundgesamtheit von 20 Offizieren gebildet. In den Operativplänen zum ZOV, die von der BStU zur Verfügung gestellt wurden, ist festgehalten, welche Offiziere in die unmittelbare Bearbeitung einbezogen wurden. Ihre Vorgesetzten waren durch ihre Weisungsbefugnisse ebenfalls involviert, sodass auch sie in das Sample aufgenommen wurden. Daraus ergab sich die Untersuchungsgruppe. Diese 20 Hauptamtlichen werden im Folgenden nach den Kriterien ihrer Herkunft, ihres Bildungs- und Berufsganges, ihrer ideologischen, militärischen und politischen Erfahrungen und sozialen Beziehungsnetze untersucht. Damit die Indikatoren nachvollziehbar werden, sollen sie an dieser Stelle vorgestellt werden: A) Herkunft (vor/nach 1945) Wohnort (vor/nach 1945, vertrieben ja/nein, Scheidungskind/Waise ja/nein) Vater (Beruf, Militär, Gefangenschaft, Partei, MfS-Anstellung, Vertriebener ja/nein, Besonderheiten) Mutter (alleinerziehend ja/nein, Beruf, Militär, Partei, MfS-Anstellung, Vertriebene ja/nein, Besonderheiten) Verwandte im MfS (ja/nein, wieviel, wo, Verwandtschaftsverhältnis, Funktion im MfS) Religion (ja/nein, Art, Austrittsdatum) B) Bildungs- und Berufsgang Schulische Ausbildung (vor/nach 1945) Berufliche Ausbildung (Beruf, Dauer) Berufliche Weiterqualifizierung (Fachschule, Universität, Art) Berufserfahrung (Dauer, Funktion) 87 Singer, Mandy; Luong, Nha Thi; Fischer, Judith: Das Puppentheater Gera in der ehemaligen DDR. Kasper kontra Stasi oder Kunst als Waffe, Seminarfacharbeit am Staatlichen Gymnasium. Gera 2002 (unveröffentlichtes Manuskript).
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Interessen (Art) C) politische Organisationen Organisationen (FDGB/DSF/DTSB/GST: Datum Eintritt/Austritt) FDJ-Mitgliedschaft (Eintrittsdatum, Funktion vor/danach, Dauer) SED-Mitgliedschaft (Eintrittsdatum, Funktion vor/danach, Dauer) SED-Weiterbildung während MfS-Anstellung (Datum, Dauer) D) militärische Vorerfahrung Interessen Reichsarbeitsdienst (Datum, Dauer, Ort, Funktion, freiwillig ja/nein) Wehrmacht (Datum, Dauer, Ort, Funktion, freiwillig ja/nein) Gefangenschaft (Dauer, Ort) Antifa-Schule (Dauer, Ort) Volkspolizei (Datum, Dauer, Ort, Funktion) KVP/NVA (Datum, Dauer, Ort, Funktion, Grenze, freiwillig ja/nein) Wachposten/Wachregiment (Datum, Dauer, Ort) Spezialausbildungen Auszeichnungen (Art, Datum) Dienstgrad Eintritt/Austritt (Art) E) MfS-Karriere Inoffizieller/Gesellschaftlicher Mitarbeiter (Anwerbung, Datum, Diensteinheit, Reg.Nr., Archivierung, Funktionsbereich) Eintritt offiziell (Datum, Diensteinheit, Funktion, Dienstgrad, Position) Dienstzeitbeginn (Datum) MfS-Ausbildung (Einführungslehrgang, Grundlagenlehrgang, Fachschule, Hochschule, Sonderlehrgänge: Datum, Dauer, Abschlussarbeit: Thema, Datum) Position/Rang ZOV (Art, Datum, Diensteinheit) höchste Position (Art, Datum, Diensteinheit) höchster Rang (Art, Datum, Diensteinheit) Offiziers-/Stabsoffiziersdienstgrade (Art, Datum, Diensteinheit) Auszeichnungen (Art, Datum, Grund) Disziplinierungen (Art, Datum, Grund) Entlassung (Art, Datum, Grund) F) soziale Netzwerke Ehefrau Geburtsdatum Herkunft MfS ja/nein, Militär ja/nein Heirat: Datum, Scheidung: Datum IM ja/nein, Reg.-Nr./AIM
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Beruf (Art) SED (ja/nein, Datum Eintritt) Militäranstellung ja/nein, Ort MfS-Anstellung ja/nein, Datum, Dauer, Funktion, Diensteinheit, entlassen ja/nein Kinder MfS-Anstellung ja/nein, Funktion, Diensteinheit, SED-Funktion ja/nein, Art, Ort Militär ja/nein, Art, Ort sonstige Dienstklasse (hauptamtliche Anstellung Massenorganisation/Partei/Staatsapparat: Art, Datum) Verwandte MfS (ja/nein, Verwandtschaftsgrad, Diensteinheit) Wohnen (Ort, Straße, Dauer) Interessen (Art)
1.5 Zur Gliederung Der zweite Abschnitt widmet sich den strukturellen und normativen Grundlagen des hauptamtlichen Apparats und der Kulturüberwachung, die in der Literatur noch nicht beschrieben wurden. Im dritten, dem Hauptabschnitt, werden auf Basis dieser Quellen sowie von IM-Berichten, von Beurteilungen, Auszeichnungs- und Beförderungsvorschlägen sowie Disziplinarakten jeweils biografische Skizzen zu den am ZOV »Bühne« beteiligten MfS-Offizieren erarbeitet, die dreistufig abstrahierend analysiert und zusammengefasst werden. Im Anschluss werden die den Alterskohorten zugeordneten Offiziere auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede untersucht. Im vierten Abschnitt wird die »tschekistische« Parallelgesellschaft auf der Grundlage erkennbarer Beziehungsgeflechte betrachtet. Wenn auch die Frage danach, welche Prägungen und Erfahrungen möglicherweise zu welchen Orientierungen führten, nicht eindeutig beantwortet werden kann, so sollen doch die Schattenrisse eines Milieus gezeichnet werden, von dem wir bis heute so gut wie nichts wissen. Als ich mit dieser Arbeit begann, hatte ich trotz jahrelanger Arbeit mit den StasiAkten nur ansatzweise versucht, mich in die Lebenszusammenhänge von StasiOffizieren hineinzuversetzen. Allein aus moralischer Sicht erschien mir dies nicht notwendig. Ihre Funktion im Repressionssystem, die ihnen zugeschriebene Allmacht und meine eigenen Ängste bestärkten mich, sie sozusagen als feste Größe im Repressionsbaukasten zu betrachten. Dies musste sich ändern, als ich die Aufgabe übernahm, den nun vorliegenden Text zu schreiben. Während des vergangenen Halbjahres vollzog sich ein Prozess, den man als Versuch beschreiben könnte, einen Zugang zu einer Parallelwelt zu finden, die mir durch meine eigene Sozialisation fremd ist. Ich war mit einer Erfahrungswelt konfrontiert, welche die DDR – auch im Hinblick auf ihre Angebote – aus einem konträren Blickwinkel auffächert. Zugleich wurde die
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Amoralität eines Milieus offengelegt, die im scharfen Kontrast zur Selbstzufriedenheit vieler ehemaliger Hauptamtlicher steht und die uns als GeschichtsbetrachterInnen aus der nur scheinbar sicheren Rückschau aufschreckt, denn die Analyse zeigt, wie nah die Amoralität dieses Milieus bis in die Gegenwart reicht. Viele der nun vorliegenden Erträge wären ohne die intensiven und meine eigene Sicht infrage stellenden Gespräche mit Lutz Niethammer nicht zustande gekommen, wofür ich ihm sehr verbunden bin. Auch den weiteren Beteiligten ist für Kritik und Anregung zu danken, insbesondere Roger Engelmann und Jörg Ganzenmüller.
2. Strukturelle Voraussetzungen und Normative
2.1 Ausbau der Strukturen zur Kulturüberwachung seit 1968 In ihrem Jahresbericht für 1968 stellte die Hauptabteilung XX fest, dass in den kulturellen Einrichtungen der DDR die »politisch-ideologische Diversion« grassiere, weshalb es notwendig sei, die Möglichkeiten unkontrollierter Artikulation einzuschränken, wenn nicht zu verhindern. 88 Zudem wisse man über die Schriftsteller in den Bezirken entweder zu wenig oder gar nichts. Daraufhin befahl Mielke im Juni 1969 die Errichtung der Hauptabteilung XX/7 und der parallelen Abteilungen in den Bezirksverwaltungen. 89 In der den Befehl präzisierenden Dienstanweisung 3/69 gab er den Abteilungen XX/7 vor, nach Jahresarbeitsplänen sowie jeweils fünf Jahre gültigen Perspektivplänen zu arbeiten. 90 Diese sind für die Einordnung der Eröffnung des ZOV »Bühne« von Interesse. Zwischen 1963 und 1976 sei die »Linie Schriftsteller«, so Joachim Walther, kein Schwerpunktbereich geworden, was sich 88 BStU, MfS, HA XX/AKG 804, Bl. 1–266, zit. nach: Walther: Sicherungsbereich Literatur (Anm. 12), S. 157. Zum Begriff der politisch-ideologischen Diversion Suckut (Hg.): Wörterbuch (Anm. 80), S. 303 ff. (Artikel politisch-ideologische Diversion und politisch-ideologische Diversion, Zentren). Einen Überblick zu den Maßnahmen gegen DDR-Schriftsteller, die gegen die Intervention gegen die Tschechoslowakei protestierten, gibt Burens, Peter-Claus: »In Prag ist Pariser Kommune«. Die DDR-Schriftsteller und der ›Prager Frühling‹. In: Deutsche Studien XXII (1984)85, S. 43–52. 89 BStU, MfS, DSt 106590: Befehl 20/69, konkretisiert durch die Dienstanweisung 3/69; BStU, MfS, DSt 101073, zit. nach: Walther: Sicherungsbereich Literatur (Anm. 12), S. 157 f., dort auch die detaillierte Aufgabenbeschreibung der Linie XX/7. In der Abschlussarbeit von Rolf Jahn, BStU, VVS JHS o001-278/84, Bl. 79, zitiert dieser die Dienstanweisung 3/69 unter dem Titel »Organisierung der politisch-operativen Arbeit in den Bereichen Kunst und Massenmedien« als VVS, MfS o008-430/69. Zur Linie XX/7 auch Matthias Braun in diesem Band, der auf die Ausstattung des Referates mit 5 Offizieren und dessen konkrete Funktion auf Grundlage der »Übersicht über die Verteilung der bestätigten Planstellennormative« von 1986 verwies. BStU, MfS, BV Gera, GVS o054 – 316/86 (BStU, MfS, BV Gera, Abt. XVIII 2662), Bl. 70. 90 BStU, MfS, DSt 101073: Dienstanweisung 3/69, zit. nach: Walther: Sicherungsbereich Literatur (Anm. 12), S. 157 f.
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aber mit dem Helsinki-Prozess und der Biermann-Ausbürgerung ändern sollte. 91 Die Petition der Schriftsteller und die breite Solidarisierungswelle im Lande veranlassten Mielke, sämtliche Personen listen zu lassen, die sich kritisch gezeigt hatten. 92 Der bis 1980 gültige Perspektivplan vom September 1976 hatte vorgesehen, sämtliche Versuche einer »politischen Untergrundtätigkeit« strikt zu unterbinden. 93 Bereits 1975 hatte die Geraer Staatssicherheit in diesem Sinne gegen Hans-Peter Jakobson gearbeitet, der im Anschluss an eine Veranstaltung mit Bettina Wegner, Gerulf Pannach und Jürgen Fuchs in Greiz und nach einem erfolglosen IM-Anwerbeversuch überwacht wurde. 94 Zum gleichen Zeitpunkt begann der Operative Vorgang »Pegasus« gegen die Jenaer Jürgen Fuchs, Lutz Rathenow, Wolfgang und Martin Hinkeldey, Bernd Markowski und Gerd Sonntag. Letzterer wurde auch mit der OPK »Maler« der Abteilung XX/7 der Bezirksverwaltung Gera bekämpft. 95 Mit dem Argument »Missbrauch der Lyrik« versuchte die Stasi, der Poesie den »Horizont um den Hals« zu legen. 96 In ihren »Stützpunktberatungen« bündelten die Leiter der Abteilungen XX der MfS-Bezirksverwaltungen beim Leiter der federführenden Hauptabteilung XX in der Berliner MfS-Zentrale die Informationen und legten das Vorgehen gegen die Vorgenannten fest; den Erfolg maß man in Verhaftungen. 97 Mit dem Datum der Ausbürgerung Biermanns, dem 18. November 1976, erklärte die Stasi die »Linie Schriftsteller« endgültig zum Schwerpunktbereich. 98 Die kreative »Unruhe in den Siebzigern« war damit auch offiziell an ihrem vorläufigen Endpunkt angekommen. 99 91 Zum Helsinki-Prozess Süß, Walter: Der KSZE-Prozess der 1970er Jahre aus der Perspektive der DDR-Staatssicherheit. In: Dietrich; Süß, Walter (Hg.): Militär und Staatssicherheit (Anm. 27), S. 319–340. 92 Walther: Sicherungsbereich Literatur (Anm. 12), S. 167–182; vgl. Heym, Stefan: Der Winter unseres Mißvergnügens. Aus den Aufzeichnungen des OV Diversant. München 1996. 93 Walther: Sicherungsbereich Literatur (Anm. 12), S. 169 f. 94 Merker, Reiner: Handlungsfeld Öffentlichkeit. Opposition in den siebziger/achtziger Jahren in Gera. In: Ansorg, Leonore u. a. (Hg.): Das Land ist still – noch! Herrschaftswandel und politische Gegnerschaft in der DDR (1971–1989). Köln, Weimar, Wien 2009, S. 249 f. 95 Walther: Sicherungsbereich Literatur (Anm. 12), S. 195. Zum OV »Pegasus« Fuchs, Jürgen: Der Abschied von der Diktatur. In: Schädlich, Hans Joachim (Hg.): Aktenkundig. Mit Beiträgen von Wolf Biermann, Jürgen Fuchs, Joachim Gauck, Lutz Rathenow, Vera Wollenberger u. a. Berlin 1992, S. 11–37; Ders.: Unter Nutzung der Angst. Die »leise Form« des Terrors – Zersetzungsmaßnahmen des MfS (BF informiert, 2/1994). Berlin 1994. Dazu auch Kratschmer, Edwin: Kunst im Clinch oder Kunst zwischen Apologetik und Selbstbehauptung – ein Abriß in 14 Exkursen. In: Berg, Michael; Holtsträter, Knut; von Massow, Albrecht (Hg.): Die unerträgliche Leichtigkeit der Kunst. Ästhetisches und politisches Handeln in der DDR. Köln, Weimar, Wien 2007, S. 77–104, hier 94 f. 96 Das Gedicht »Horizont um den Hals« stammt von Günter Ullmann. Des Weiteren Schädlich (Hg.): Aktenkundig (Anm. 95), S. 23. Informationsbedarf zum Schwerpunktbereich »Mißbrauch der Lyrik« v. 26.3.1975; BStU, MfS, BV Gera, KD Stadtroda 0611 (vgl. ThürAZ-BH-O-1). 97 Walther: Sicherungsbereich Literatur (Anm. 12), S. 195 f. Dies geschah auch im Falle des OV »Pegasus« – die Betroffenen wurden sämtlich kurz nach der Biermann-Ausbürgerung inhaftiert. Zu den Verhaftungen in Jena um den OV »Pegasus« Fuchs: Unter Nutzung der Angst. (Anm. 95). Zum überregionalen Vorgehen der Staatssicherheit vgl. Walther: Sicherungsbereich Literatur (Anm. 12), S. 202–220. 98 Ebenda, S. 169 f. 99 Zum Begriff der »kreativen Unruhe« Kratschmer: Kunst im Clinch (Anm. 95), S. 93. Zur Reaktion auf den Ausschluss von Reiner Kunze am Geraer Beispiel Lenski, Katharina; Merker, Reiner: Öffentlich oder
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Diese Entwicklung wurde auf der zentralen Ebene kulturpolitisch bekräftigt: Noch drei Jahre später unterstrich Kurt Hager die Verantwortung von Literatur und Kunst für den Entwicklungsstand des gesellschaftlichen Bewusstseins. 100 Damit meinte er letztlich, die Literatur habe die Politik der Partei zu vermitteln, was mit der Formel vom »sozialistischen Realismus« umschrieben wurde. Vom Jahr 1981 datiert eine »Analyse über die politisch-operative Lage und die Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit im Bereich des künstlerischen Nachwuchses« im Bezirk Gera. 101 Mielke orientierte für das Folgejahr auf die Bekämpfung von »Politisch-ideologischer Diversion« (PID) und »Politischer Untergrundtätigkeit« (PUT). 102 Damit schob auch die Bezirksverwaltung Gera der Staatssicherheit die Bekämpfung unabhängiger Friedensarbeit in den Mittelpunkt ihrer Planungen. In diesen Zusammenhang stellte sie die vom ZOV »Bühne« Betroffenen: Ihr Wirken sei als »Vorfelderscheinung der Politischen Untergrundtätigkeit« einzuordnen. 103 In dem fast zeitgleich mit dem ZOV »Bühne« angelegten ZOV »Kreis« gegen drei Pfarrer aus Kahla/Jena, Rudolstadt und Stadtroda versuchte die Staatssicherheit, Verbindungen zwischen dem »Altendorfer Friedenskreis« und den Künstlern aus dem ZOV »Bühne« nachzuweisen. 104 Diese Rahmenbedingungen müssen berücksichtigt werden, wenn man die Handlungsräume der beteiligten Offiziere beschreibt.
kirchenintern? Eine Lesung mit Reiner Kunze. In: Dies.: Zwischen Diktat und Diskurs. Oppositionelle Handlungsräume in Gera in den 80er Jahren. Erfurt 2006, S. 23 ff. Dort auch zur »Lesebühne« der Offenen Arbeit, vergleichbar mit dem »Lesekreis« der Jungen Gemeinde Jena, auf S. 38. 100 Vgl. Jäger, Manfred: Kultur und Politik in der DDR 1945–1990. Köln 1994, S. 185 f.; weiterhin Hager, Kurt: Zu Fragen der Kulturpolitik der SED. Rede auf der 6. Tagung des ZK der SED am 6.7.1972. In: Rüß, Gisela (Hg.): Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik 1971–1974. Stuttgart 1976, S. 507; Hager, Kurt: Zu aktuellen politischen und kulturpolitischen Fragen. Referat auf der Tagung des Zentralvorstandes des Verbandes Bildender Künstler der DDR in Berlin am 24.3.1983, abgedruckt in: Ders.: Beiträge zur Kulturpolitik. Bd. II (1982 bis 1986). Berlin 1987, S. 52 f. 101 BStU, MfS, BV Gera, VVS JHS o001-278/84, Bl. 81, JHS-Abschlussarbeit Rolf Jahn. 102 Analyse über Erkenntnisse aus der Bearbeitung von Operativen und Untersuchungsvorgängen, aus der Durchführung der OPK und aus der Bearbeitung anderer operativer Materialien über die Wirksamkeit der politisch-ideologischen Diversion und der gegnerischen Kontaktpolitik/Kontakttätigkeit (Analysezeitraum 1.1.1982–30.6.1983); BStU, MfS, BV Gera, AKG 2402 (VVS o025 – 106/83), Bl. 31. Vgl. ThürAZ GM XX/4 2.9. Zu den Begriffen Suckut (Hg.): Wörterbuch (Anm. 80), S. 303 ff. (Artikel PID), 377 f. (Artikel PUT sowie PUT/Erscheinungsformen und PUT/Vorfeld). 103 Analyse über Erkenntnisse aus der Bearbeitung von Operativen und Untersuchungsvorgängen, aus der Durchführung der OPK und aus der Bearbeitung anderer operativer Materialien über die Wirksamkeit der politisch-ideologischen Diversion und der gegnerischen Kontaktpolitik/Kontakttätigkeit (Analysezeitraum 1.1.1982–30.6.1983); BStU, MfS, BV Gera, AKG 2402 (VVS o025 – 106/83), Bl. 13. 104 Gesamtbearbeitungskonzeption für den ZOV »Kreis« (BStU, MfS, BV Gera, OV Reg.-Nr. X 1323/82). Abgedruckt in: Lenski, Katharina u. a. (Hg.): So bestehet nun in der Freiheit, zu der uns Christus befreit hat ... Die »andere« Geschichte. Erfurt 1993, S. 95. Zur Bedeutung des Stadtrodaer Teilvorgangs Schilling, Walter: Die »Bearbeitung« der Landeskirche Thüringen durch das MfS. In: Vollnhals, Clemens (Hg.): Die Kirchenpolitik von SED und Staatssicherheit. Eine Zwischenbilanz. Berlin 1996, S. 247 ff. Entsprechend wurde das Duo »Görnandt & Rönnefarth« durch die Verbindungen zu einem Pfarrer mit dem
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2.2 Der ideale Offizier Der ideale Lebenswandel eines »tschekistischen« Offiziers war starken Beschränkungen unterworfen: Freundschaften galten als die Geheimhaltung gefährdend, die Ehe sollte stabil und von endgültiger Dauer sein, die Ehefrau dem Mann den Rücken freihalten. Frau und Familie galten in der Stasi-Logik gleichsam als militärisches Hinterland und hatten zu garantieren, dass der Offizier ohne Abstriche jederzeit und überall eingesetzt werden konnte. Die Kinder wurden als Rekrutierungspotenzial für den Kaderplan angesehen, die Ehefrauen und weitere Familienangehörige als Informationsquellen im heimlichen Netzwerk. 105 Die Ehefrau, die Eltern und Schwiegereltern, sogar die Kinder und Geschwister hatten sämtliche Kontakte zu Verwandten im »kapitalistischen Ausland« abzubrechen, da ansonsten entweder die Beförderung gefährdet war oder schlimmstenfalls die Entlassung des Offiziers drohte. 106 Für die Familien bedeutete das neben der Festlegung der Frauen auf stereotype Geschlechterrollen auch die Einengung des sozialen und damit kulturellen Horizonts, denn die verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Netzwerke mussten sich letztlich auf das Sicherheitsmilieu reduzieren, um den »tschekistischen« Anforderungen zu entsprechen. 107 Eine Kompensation für die Abgrenzungszumutungen sollte mit überdurchschnittlichem Lohn und zusätzlichen Vergütungen, Urlaubstagen und Gratifikationen erreicht werden. 108 Ob dies gelang, wird folgend zu zeigen sein.
2.3 Die militärische Dienstverfassung im MfS Die MfS-Mitarbeiter wurden in der Regel nach einer Bewährungsphase in einen Apparat eingestellt, der sich insbesondere seit 1968 hochbürokratisch aufgerüstet zeigte. 109 Die auf dem »Tschekismus« basierenden Feindbilder beharrten zugleich auf der herkömmlichen stalinistischen Freund-Feind-Dichotomie.
Etikett »Friedensbewegung« versehen und mit diesem Argument verfolgt. Ebenda, S. 248. Zu den weiteren Intrigen gegen den Pfarrer im ZOV Pingel-Schliemann: Zersetzen (Anm. 26), S. 288–294. 105 Z. B. BStU, MfS, BdL, VVS o008 63/68, Bl. 5: »Haben Mitglieder (aller Diensteinheiten) Kinder oder Verwandte an den Universitäten, dann sollen sie in die operative Aufgabenstellung einbezogen werden.« 106 Diese Verpflichtung wurde jedem Offizier bei der Einstellung abverlangt und in der Kaderakte dokumentiert. 107 Gieseke: Hauptamtliche Mitarbeiter (Anm. 3), S. 278. 108 Zu Gehältern und Gratifikationen ebenda, S. 365 u. 441. 109 Dazu mit Abdruck der entsprechenden Dokumente auch Engelmann; Joestel (Bearb.): Grundsatzdokumente (Anm. 65), S. 7 f.
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Der Dienst im MfS galt als »Wehrersatzdienst«, die Kaderkandidaten verpflichteten sich zur Berufsoffizierslaufbahn. 110 Nach ihrem Ausscheiden gaben sie bei Neubewerbungen an, eine Karriere als Offizier auf Zeit beendet zu haben, sodass im Dunkeln blieb, bei welchem der »bewaffneten Organe« sie diese Zeit verbracht hatten. Die innere Ordnung des Apparates selbst fußte auf militärähnlichen Regeln. Die Offiziere verschrieben sich neben der Geheimhaltung auch der ständigen Versetzungsbereitschaft. Überdies verpflichteten sie sich dazu, sich privat niemals aus anderen Quellen als den offiziell ausdrücklich zugänglichen zu informieren, was auch auf die Familienangehörigen ausgedehnt wurde. 111 Innerhalb der Dienstgebäude war in der Regel eine Uniformierung vorgeschrieben. 112 Am 17. Juni 1953 hatte sich in den Augen der SED-Führung gezeigt, dass es in der Staatssicherheit an Disziplin mangelte. Deshalb betonte man mit der Richtlinie zur Anordnung 3/54 über das Tragen von Uniformen die militärische Hierarchie und die sich daraus ableitende Disziplin. 113 Der Stellenwert der militärischen Disziplin wird auch aus der Dienstordnung von 1972 deutlich, die diesen Punkt vor allen anderen Organisationsprinzipien abhandelte. 114 Diese Disziplin korrespondierte mit militarisierten Denkschemata, die ziviles Verhalten erschwerten, wenn nicht gänzlich verhinderten. Die Mitarbeiter der operativen Abteilungen hatten die Uniform in der Dienststelle zu tragen, außerhalb des Hauses bewegten sie sich allgemein in Zivilkleidung. 115 Die Uniformen repräsentierten die Hierarchien unter den Hauptamtlichen und waren im Wechselspiel von Befehl und Gehorsam somit ein verstärkendes Element. Der Wechsel von Dienstkleidung und Zivilkleidung, je nachdem, ob man sich in der Dienststelle befand oder außerhalb, erinnert an ein Maskenspiel mit wechselnder Staffage. Dieser Wechsel konnte durchaus zu Irritationen führen.
110 Dazu die Fassung des Statuts des MfS v. 30.7.1969; BStU, MfS, SdM 2619, Bl. 1–11, abgedruckt in: Engelmann; Joestel (Hg.): Grundsatzdokumente (Anm. 65), S. 183–188, hier 187: »§14 (2): Der Dienst im MfS ist Wehrersatzdienst. Die Angehörigen des MfS führen militärische Dienstgrade entsprechend der Dienstlaufbahnordnung.« 111 Die entsprechenden schriftlichen Verpflichtungen finden sich in den Kaderakten der Hauptamtlichen. 112 Die früheste Anweisung, die zur Uniformierung aufgefunden wurde, datiert von 1954: Richtlinie zur Anordnung 3/54 über das Tragen der Uniform v. 8.12.1954; BStU, MfS, BV Erfurt, BdL-Dok. Nr. 1450, hier Bl. 1. Aktuell für den Zeitraum ab 1981: Ausstattung der Angehörigen des Ministeriums für Staatssicherheit mit Bekleidung und Ausrüstung – B/A-Befehl – v. 1.7.1981; BStU, MfS, Befehl 9/81. 113 Richtlinie zur Anordnung 3/54 über das Tragen der Uniform v. 8.12.1954; BStU, MfS, BV Erfurt, BdL-Dok. Nr. 1450, Bl. 1. 114 Grundsätze für den Dienst im Ministerium für Staatssicherheit (Dienstordnung) v. 13.7.1972; BStU, MfS, BdL-Dok. Nr. 3213. Abgedruckt in: Engelmann; Joestel (Bearb.): Grundsatzdokumente (Anm. 65), S. 239 f. 115 Richtlinie zur Anordnung 3/54 über das Tragen der Uniform v. 8.12.1954; BStU, MfS, BV Erfurt, BdL-Dok. Nr. 1450, Bl. 2.
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3. Die Offiziere des ZOV »Bühne« im Profil
3.1 Einteilung des Samples in drei Kohorten Im Unterschied zu den Studien von Walther und Gieseke unterschieden wir nicht nach dem Datum der Einstellung, sondern die am ZOV beteiligten Offiziere wurden in drei Alterskohorten unterteilt. Während die fünf Offiziere der ersten Kohorte zwischen 1927 und 1934 geboren wurden, gehören die sieben der zweiten Kohorte den Jahrgängen 1935 bis 1945 an. Der dritten und zahlenstärksten Kohorte sind acht Offiziere zuzuordnen, die zwischen dem Herbst 1945 und 1953 geboren wurden. Diese Arbeit ist durch ihre Begrenzung auf die am ZOV »Bühne« beteiligten Offiziere als Fallstudie zu verstehen, die nicht im strengen Sinn repräsentativ sein kann und zu weitergehenden Forschungsfragen anregen soll. In diesem Sinne sollen die Zahlenangaben keine statistische Genauigkeit nahelegen, sondern Hinweise für eine qualitative Einordnung geben.
3.2 Die erste Kohorte 116 Bis auf Heinz Semmisch bekleideten die Mitglieder der ersten Kohorte im ZOV »Bühne« die höchsten Dienststellungen, und das bereits seit den 1960er Jahren bis zur Mitte, zum Teil auch bis zum Ende der 1980er Jahre. Einige wurden wegen gesundheitlicher Probleme noch vor dem Rentenalter entlassen.
3.2.1 Einzeldarstellung Der konfessionslose Heinz Stöhr wurde 1927 geboren. Der spätere stellvertretende Leiter der KD Gera gehörte seit 1938 dem Jungvolk und seit 1942 als Kameradschaftsführer der Flieger-HJ in Berlin an. Die Familie war in Uchtdorf/Westpommern, später Berlin, ansässig. Seinen Vater sah Heinz Stöhr seit seinem 12. Lebensjahr nur noch zu Fronturlauben, denn der Tiefbauarbeiter und Obergefreite, der vor 1933 der SPD angehört und Parteifunktionen ausgeübt hatte, wurde 1939 116 Die Nachweise für das Kapitel zur ersten Kohorte stammen aus folgenden Kaderakten: BStU, MfS, BV Gera, KS Heinz Stöhr, KS Henry Müller, KS Hubert Wirkner, KS Heinz Semmisch, KS Martin Erhardt. Hinzugezogen wurden außerdem die Vorgangshefte von Hubert Wirkner sowie seine IM-Akten (AIM 3526/65) und die von Heinz Semmisch (AIM 4215/86).
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zur Wehrmacht eingezogen und kehrte nicht zurück. Der Sohn wuchs zwischen seinem 12. und 18. Lebensjahr ohne den Vater auf. Der HJ-Kameradschaftsführer wurde vom Juni bis zum September 1944 zum Reichsarbeitsdienst eingezogen, wo in den letzten beiden Kriegsjahren fast ausschließlich die militärische Ausbildung des Nachwuchses stattfand. 117 Stöhr wurde u. a. in Litauen eingesetzt und kam darauf nach Finsterwalde in ein Wehrertüchtigungslager, um als Kriegsfreiwilliger im letzten halben Jahr des Krieges in die Luftwaffe einberufen zu werden. 118 Als Mitglied eines Fallschirmgranatwerferbataillons nahm er Ende März 1945 an Kämpfen bei Scheveningen in Holland teil und erhielt das Luftwaffen-Erdkampfabzeichen. 119 Nach einer kurzen Internierung in Wilhelmshaven und einem Zwischenstopp in Berlin kam er im Januar 1946 nach Thüringen, wo auch seine Mutter inzwischen lebte. Im Dezember 1947 trat er dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB), im Oktober 1948 der SED bei, dagegen erst im Jahr 1949 mit 22 Jahren der FDJ. Nach einigen Zwischenstationen wurde er 1957 im 30. Lebensjahr mit seiner Einstellung in das MfS in Gera ansässig. Im Unterschied zu seinen Alterskollegen verband ihn die Wehrmachtserfahrung mit deren Vätern. Stöhr wurde mit seinem Eintritt in die FDJ 1949 Abteilungsleiter, dann Sekretär der Kreisleitung der FDJ in Pößneck sowie Mitglied der FDJ-Bezirksleitung, 1951 übernahm er dort das Amt eines Instrukteurs für die »Arbeit nach Westdeutschland«. 120 Seit 1952 gehörte er bis 1986 den SED-Kreisleitungen Pößneck, Greiz und Gera-Land, nicht jedoch den SED-Leitungen innerhalb des MfS an. Mit dem Parteiamt in der SED-Kreisleitung Gera-Land sowie bei anderen offiziellen Anlässen nahm er die Aufgabe wahr, vor den SED- und Staatsfunktionären die Staatssicherheit zu vertreten. Innerhalb des Apparates erarbeitete er u. a. die Vorlagen für die Beurteilungen von Offizieren der Dienststelle. Im Jahr 1985 erhielt Stöhr eine »Ehrenurkunde der Tscheka«, zwei Jahre später den »Kampforden für Verdienste um Volk und Vaterland« in Silber, seine höchste Auszeichnung. 121 Im Jahr 1987 wurde 117 Benz, Wolfgang; Graml, Hermann; Weiß, Hermann (Hg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus. München 2007, S. 664 (Artikel Reichsarbeitsdienst). 118 BStU, MfS, BV Gera, KS II 316/87, Bl. 18 ff. 119 Ebenda, Bl. 20. 120 Zum Integrationsangebot von FDJ und SED an die Mitläufer und unteren Hierarchien nach der NS-Zeit Niethammer, Lutz: Schule der Anpassung. Die Entnazifizierung in den 4 Besatzungszonen. In: Ders.: Deutschland danach. Postfaschistische Gesellschaft und nationales Gedächtnis, hg. von Ulrich Herbert und Dirk van Laak in Zusammenarbeit mit Ulrich Borsdorf u. a. Bonn 1999, S. 56 ff.; BStU, MfS, BV Gera, KS II Heinz Stöhr, Bl. 20 u. 29; vgl. Herms, Michael: Hinter den Linien. Westarbeit der FDJ 1945–1956. Berlin 2001. 121 Er erhielt die Ehrenurkunde der Tscheka am 8.2.1985; BStU, MfS, BV Gera, KS II 316/87, Bl. 9. Diese Auszeichnung ist in der Auswahl nur einmal aufgetaucht. Ihre Bedeutung kann nur vermutet werden. Bislang wurde in der Literatur kein Hinweis auf diese Auszeichnung gefunden. Zum Kampforden Brühl, Reinhard: Wörterbuch zur deutschen Militärgeschichte. Berlin 1985 (Artikel Auszeichnungen), S. 54: Der Kampforden »Für Verdienste um Volk und Vaterland« wurde wie auch der Scharnhorst-Orden anlässlich des zehnjährigen Bestehens der NVA am 17.2.1966 gestiftet. Im Befehl 9/81 stand er an immerhin 8. Stelle der höchsten Auszeichnungen in der Reihenfolge nach dem »Karl-Marx-Orden«, dem »Stern der Völkerfreund-
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er mit 60 Jahren aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig in den Ruhestand entlassen. Als erster Offizier der Auswahl war Henry Müller, der spätere Leiter der Abteilung XX in der Bezirksverwaltung Gera, im Januar 1952 eingestellt worden. Er ist auch der Einzige unter den sechs Offizieren der ersten Kohorte, der beinahe das Abitur abgelegt hätte. Er verließ jedoch kurz vor dem Abschluss die Schule und besuchte 1949 einen Lehrgang für Pionierleiter mit dem Ziel, Lehrer zu werden, blieb aber bis zu seinem Eintritt ins MfS Pionierleiter. Müller wurde 1931 geboren. Beide Elternteile hätten vor 1933 der sozialistischen Arbeiterbewegung angehört, schrieb er im Fragebogen, der Vater vor 1933 der SPD und nach 1945 der KPD. 122 Der Vater sowie dessen Frau waren zeitweise im MfS angestellt, die Mutter wie auch die Stiefmutter Müllers gehörten als Einzige unter den Frauen der ersten Kohorte nach 1945 der SED an. Sein soziales Umfeld war vor 1945 nur auf den ersten Blick stabil geblieben, er wuchs in dem zwischen Halberstadt und Magdeburg gelegenen Egeln und im benachbarten Westeregeln auf. Im Jahr 1938 zog er mit sieben Jahren nach dort um, offenbar verursacht durch die Scheidung der Eltern. Von 1942 bis 1945 besuchte Müller das Gymnasium in Egeln, wo er in den letzten beiden Kriegsjahren ständig Fliegeralarme und die Mobilmachung für den letzten Kriegseinsatz erlebte. 123 In Westeregeln war im September 1944 ein Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald errichtet worden. Die bis zu 575 Häftlinge mussten wie auch zivile ausländische Zwangsarbeiter im Junkers Flugzeug- und Motorenwerk Westeregeln und im Salzwerk Egeln arbeiten, was der Öffentlichkeit nicht verborgen geblieben sein kann. 124 Müller avancierte von 1941 bis 1945 zum Führer einer Jungenschaft, trat 1945 noch in die HJ und 1946 mit ihrer Gründung in die FDJ ein, wo er 1947 Organisationsleiter wurde. Dieser abrupte Übergang wirft Fragen nach seiner Identifikation mit dem jeweiligen Herrschaftssystem auf. In diesem Zusammenhang ist von Interesse, dass bei ihm selbst in der Einarbeitungsphase im MfS keine, und in seiner gesamten Laufbahn nur eine einzige (nicht ideologisch begründete) disziplinarische Verfehlung aktenkundig wurde. Auch die Ehefrau Müllers war anfangs im MfS beschäftigt. Müller wuchs durch die Eltern und seine Ehefrau in den Apparat gleichsam hinein. Bei ihm zeigt sich bereits die Herausbildung des von Jens Gieseke beschriebenen Sicherheitsmilischaft«, dem »Vaterländischen Verdienstorden«, dem Orden »Banner der Arbeit« und dem »ScharnhorstOrden«. An 2. und 3. Stelle standen zwei Ehrentitel (Held der DDR und Held der Arbeit); BStU, MfS, BV Erfurt, Abt. XIV 549 (Befehl 9/81), Bl. 44. 122 Handschriftlicher Lebenslauf Henry Müller v. 10.11.1964; BStU, MfS, BV Gera, KS II 242/87, Bl. 169. 123 http://www.gymnasium-egeln.de/index.asp?theme=95#marke7, Zugriff am 11.10.2010. 124 Benz, Wolfgang; Diesel, Barbara (Hg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 3. Sachsenhausen, Buchenwald, München 2006, S. 609 f. (Artikel Biedermann, Charles-Claude: Westeregeln).
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eus: auch Schwager und Schwägerin waren eingebunden, nicht aber seine Tochter. Damit stellt er eine Ausnahme dar, denn bei den übrigen hier betrachteten Offizieren trat wenigstens ein Kind später ins MfS ein. Müllers Karrierekurve wies einen vergleichsweise steilen Verlauf auf: Obwohl er keine polizeiliche oder militärische Laufbahn nachzuweisen hatte, wurde er bereits nach gut einem Jahr zum Leutnant befördert. Mit 26 Jahren wurde er nach fünfjähriger Dienstzeit als Stellvertreter des Abteilungsleiters der Spionageabwehr in Gera eingesetzt, drei Jahre darauf, im Jahr 1960, zum Stellvertreter, und, nach Absolvierung der Juristischen Hochschule in Potsdam 1960 bis 1965, im Jahr 1965 zum Leiter der größten Kreisdienststelle im Bezirk Gera, der KD Jena, befördert. 125 Im Jahr 1967 wurde er als Reservekader für den Posten des »Stellvertreter Operativ« in der BV Gera geführt, eine der höchsten Positionen in der Bezirksverwaltung. Henry Müller hatte im Gegensatz zu den meisten Offizieren fast durchgängig FDJ- und SED-Funktionen, nicht nur vor seiner Einstellung in das MfS, inne. Er gehörte, wie bei MfS-Kreisdienststellenleitern üblich, von 1965 bis 1972 der SED-Kreisleitung Jena-Stadt an. Zudem war er durchgängig Mitglied der SED-Grundorganisationsleitungen seiner jeweiligen Dienststelle in Jena, Stadtroda und Gera. Damit konnte er neben seiner dienstlichen Funktion auf weitere Ressourcen zugreifen, was seine Position zusätzlich stärkte. Im Februar 1974 übernahm er für neun Jahre bis zum 1. Mai 1983 die Leitung der Abteilung XX in der Bezirksverwaltung Gera. Damit spielte er im Staatssicherheitsapparat des Bezirkes eine zentrale Rolle bei der Überwachung des Kulturbereiches und der Bekämpfung der politischen Opposition. Als Einziger des gesamten Samples wurde er 1975 mit dem Ehrentitel »Verdienter Mitarbeiter der Staatssicherheit« ausgezeichnet, 1983 mit dem noch prestigeträchtigeren »Kampforden für Verdienste um Volk und Vaterland«. 126 Im Jahr 1987 wurde er aus gesundheitlichen Gründen mit 56 Jahren in den Ruhestand entlassen. Hubert Wirkner fungierte im Hinblick auf den ZOV »Bühne« als leitender Offizier. 127 Er war 1931 im nördlichen Westen der ČSR, in Litschkau, geboren worden. 125 Die Versetzung Müllers nach Jena basierte auf dem Ministerbefehl 6/57 zur »Verstärkung der Basis« mit herausragenden Kadern. 126 Der Ehrentitel »Verdienter Mitarbeiter der Staatssicherheit« rangierte an erster Stelle vor dem »Fliegerkosmonaut der DDR« und dem »Verdienten Angehörigen der NVA«. BStU, MfS, BV Erfurt, Abt. XIV 549, Bl. 44 (Befehl 9/81); Brühl: Wörterbuch (Anm. 121) (Artikel Auszeichnungen), S. 54: Der Kampforden »Für Verdienste um Volk und Vaterland« war wie auch der Scharnhorst-Orden anlässlich des zehnjährigen Bestehens der NVA am 17.2.1966 gestiftet worden. 127 Alle folgenden Angaben stammen aus der Kaderakte und der IM-Akte Hubert Wirkners: BStU, MfS, BV Gera, KS 200777; BStU, MfS, BV Gera, AIM 3526/65, Teil I, Bde. I u. II. Zum ZOV vgl. zuerst die Gesamtbearbeitungskonzeption v. 16.8.1982; BStU, MfS, BV Gera, AOV 768/85, Bl. 34. Zu seiner Rolle im ZOV »Bühne« hieß es 1983: »Als Referatsleiter ist er eigenverantwortlich für einen bedeutsamen ZOV und arbeitet mit Ideenreichtum, Hartnäckigkeit und Einsatzbereitschaft eng mit den die Teilvorgänge bearbeitenden Mitarbeitern seines Referates und den KD planmäßig zusammen. Die Relation zwischen eigener operativer Arbeit und seiner Führungsrolle als Leitungskader ist dabei zweckmäßig und ausgewogen.« Ein-
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Seit seinem 10. Lebensjahr wurde er von der Mutter gemeinsam mit dem Stiefvater, einem Bergmann, erzogen. Dieser war vor 1938 Sozialdemokrat gewesen und blieb während der Nazi-Zeit parteilos, was angesichts der brutalen Werbungen für die Henlein-Partei nicht selbstverständlich war; auch später trat er keiner Partei mehr bei. 128 Hubert Wirkner gehörte zwischen 1941 und 1945 dem Deutschen Jungvolk und der Hitlerjugend an. Er beendete 1945 die Schule mit der 8. Klasse. Nach der Vertreibung 1945 erlernte er im Raum Saalfeld den Beruf eines Müllers, den er knapp eineinhalb Jahre ausübte, um sich 1950 für eine militärische Laufbahn in der Kasernierten Volkspolizei (KVP) zu entscheiden. Auf das Jahr 1950 datiert auch sein Austritt aus der katholischen Kirche, der offensichtlich im Zusammenhang mit seiner Bewerbung bei der KVP stand. Kurz nach dem 17. Juni 1953 ließ er sich mit dem Auftrag zum geheimen Informanten anwerben, »Saboteure und Spione zu entlarven, um sie der gerechten Strafe zuzuführen«. 129 Allerdings arbeitete er dort bis 1956 in den Augen der Staatssicherheit nur unzuverlässig, erst 1961, im Zusammenhang mit seiner hauptamtlichen Tätigkeit bei der FDJ-Bezirksleitung, erneuerte er seine Zusammenarbeit mit der Geheimpolizei und übernahm die Funktion als Geheimer Hauptinformator (GHI), die schon sein Vorgänger auf diesem FDJPosten innegehabt hatte. 130 In die FDJ war Wirkner 1948 mit 17 Jahren eingetreten und arbeitete dort nach der Armeezeit von 1956 bis 1965 hauptamtlich erst bei der Kreisleitung Saalfeld, ab 1958 bei der Bezirksleitung der FDJ in Gera, wo er auch als Vorsitzender der Bezirksrevisionskommission fungierte. Der relativ späte Eintritt in die FDJ lässt vermuten, dass er diesen Schritt bewusst gegangen ist, ohne dass sein Elternhaus ihn darin bestärkt hätte. Die Parteilosigkeit der Eltern deutet ebenfalls in diese Richtung. Während Wirkner innerhalb der FDJ in Saalfeld für die Grenzgemeinden zuständig war, zeichnete er danach in Gera bald für Sicherheitsfragen verantwortlich. 131 Mit diesem Arbeitsbereich und seiner entsprechenden IM-Verpflichtung gehörte er bereits der Sphäre der Sicherheitsapparate an. 1965 trat er zeitgleich mit seinem Bruder Franz als Stasi-Offizier in die Bezirksverwaltung Gera ein. Dort stieg Wirkner 1969 zum Oberleutnant auf und wurde mit der in jenem Jahr erfolgten Gründung der Referate XX/7 zum Leiter desselben in Gera ernannt, was er bis 1989 schätzung der MfS-BV Gera/Abt. XX/Müller v. 9.4.1983; BStU, MfS, BV Gera, Abt. XX, Bd. 41, Bl. 48. Ebenso die Beurteilung v. 15.11.1984 der MfS-BV Gera/Abt. XX/Linke; ebenda, Bl. 57. 128 Zum Kontext Brandes, Detlef: Die Sudetendeutschen im Krisenjahr 1938. München 2008, S. 70– 82 u. 91–98. 129 Bericht über die Anwerbung des Kandidaten Wirkner, Hubert v. 29.9.1953; BStU, MfS, BV Gera, AIM 3526/65, Teil P, Bd. I, Bl. 9 f. Die Vokabeln »Saboteur« und »Spion« entstammen der tschekistischen Sprache. Sie sind sprachliche Feind-Stereotype ohne Realgehalt. 130 Beschluss für das Anlegen eines IM-Vorganges, Gera 27.2.1961; BStU, MfS, BV Gera, AIM 3526/65, Teil I, Bd. II, Bl. 12. Wirkner wurde nach dem 13.8.1961 im Zeiss-Werk Jena eingesetzt, da man dort Unruhen befürchtete. 131 »Angaben über meine Tätigkeit nach dem Ausscheiden aus den Reihen der KVP«; BStU, MfS, BV Gera, AIM 3526/65, Teil I, Bd. II, Bl. 25.
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blieb. Seinen höchsten Dienstgrad (Major) erreichte er mit dem Jahr 1977. 132 Neben seinem Bruder wurde später auch einer seiner Söhne in das MfS eingestellt, ein weiterer arbeitete wie zuvor er selbst bei der Bezirksleitung der FDJ in Gera. Einer der ersten Operativen Vorgänge, die Wirkner führte, war der OV »Lyrik« gegen Reiner Kunze wegen vorgeblicher »staatsgefährdender Hetze«. Dieser OV war bereits 1968 von Wirkners Kollegen und späterem Vorgesetzten Gerald Linke angelegt worden. 133 Wirkner war zugleich der Führungsoffizier des an der Universität Jena lehrenden Ästhetikprofessors Werner Kahle, der als IME »Fritz Weiß« politisch denunzierende literaturwissenschaftliche Gutachten für die Stasi u. a. gegen Reiner Kunze schrieb. 134 Das letzte Schriftstück aus seiner Kaderakte dokumentiert eine Prämie vom 7. Oktober 1989, dem 40. Jahrestag der DDR, in Höhe von 300 Mark. Über seine Entlassung mit der Auflösung des MfS wurde kein Dokument aufgefunden. Heinz Semmisch 135 leitete seit 1978 das Referat für »Territorialverteidigung« in der Kreisdienststelle Gera auf der Linie VII (Volkspolizei), in dem »alle Mitarbeiter zur Sicherung des Bereiches Landesverteidigung eingegliedert« waren. 136 Der 1932 in Riesa Geborene war seit seinem 18. Lebensjahr von 1950 bis 1963 bei der Polizei beschäftigt. In der Kaderakte beginnt sein Dienstalter mit dem Jahr 1958, was darauf zurückzuführen ist, dass ihm die 13 bei der Polizei geleisteten Dienstjahre angerechnet wurden. Bei ihm fanden sich im Gegensatz zu Heinz Stöhr, Henry Müller und Hubert Wirkner keine Angaben zu Mitgliedschaften im Deutschen Jungvolk oder der Hitlerjugend. Bereits zwei Monate nach Gründung der FDJ war er dort im Mai 1946 Mitglied geworden, aus der evangelischen Kirche trat er 1952 aus. SEDMitglied wurde er mit 24 Jahren vergleichsweise spät im Jahr 1956. Sein Vater war 1941 als Angehöriger eines Strafbataillons gefallen; kurz darauf wurde der Neunjährige zu Weihnachten 1941 vom Stiefvater adoptiert, einem Arbeiter und Obergefreiten der Wehrmacht, dem die Gefangenschaft erspart geblieben war und der später bei der Polizei arbeitete. Semmisch verließ das kinderreiche Elternhaus mit 16 Jahren. Nach der Schulzeit konnte er keine Lehre beginnen, sodass er zwei Jahre lang eine unsichere Existenz zwischen Hilfsarbeiten und Arbeitslosigkeit fristete. Als 18-Jähriger verpflichtete er sich 1950 für drei Jahre bei der Kasernierten Volkspolizei, dem Vorläufer der Nationalen Volksarmee der DDR. Im 132 Anfangs wurde er kommissarisch eingesetzt und mit dem Oktober 1970 zum Referatsleiter ernannt. BStU, MfS, BV Gera, KS Hubert Wirkner, Bl. 2, 49 u. 55. 133 Kunze, Reiner: Deckname »Lyrik«. Eine Dokumentation von Reiner Kunze. Frankfurt/M. 1990, Cover u. S. 99. 134 BStU, MfS, BV Gera, Reg.-Nr. X 432/75. 135 Er bezeichnete sich im handschriftlichen Lebenslauf v. 20.8.1957 mit dem Jungennamen Erich Heinz Engelbrecht. BStU, MfS, BV Gera, AIM 4215/86, Teil I/1, Bl. 46. 136 Vorschlag zur Beförderung zum Major v. 14.10.1983; BStU, MfS, BV Gera, KS Heinz Semmisch, Bl. 102.
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Folgejahr heiratete er seine junge Frau, die 1958 der SED beitrat. Während seiner Zeit bei der Kasernierten Volkspolizei, so schrieb er im Lebenslauf, sei er am 17. Juni 1953 im Wismut-Gebiet eingesetzt worden, um dort gegen streikende Arbeiter vorzugehen. 137 Im August 1953 wechselte er für zehn Jahre zur Polizei. Dort arbeitete er in Gera in der Kaderabteilung des Strafvollzugs und verpflichtete sich 1957 als Geheimer Informator. 138 In den Jahren 1955 und 1969 erhielt er die »Medaille für treue Dienste« des Ministeriums des Inneren in Bronze und Silber. Nachdem er aus der Polizei ausgeschieden war – ihm war keine Weiterbildung ermöglicht worden – konnte er sich trotz einiger Bemühungen keine langfristige Berufsalternative aufbauen und wurde schließlich 1971 als Leutnant bei der Stasi eingestellt. Vorher leitete er die FDGB-Kreisbildungsstätte in Gera. Auf ihn aufmerksam geworden war Leutnant Georgius von der KD Gera, denn dieser hatte Semmisch als inoffiziellen Mitarbeiter seit 1962 gekannt und empfahl ihn nun für eine hauptamtliche Laufbahn. Fünf Jahre nach der Einstellung stieg Semmisch in der KD zum Oberleutnant auf. Im Jahr 1977 belegte er einen zweimonatigen Qualifizierungslehrgang und wurde anschließend zum Referatsleiter, zuständig für das Territorium, ernannt. 139 Die Funktion von Semmisch im ZOV »Bühne« leitete sich aus seinen weitläufigen Verbindungen zu den »Schutz- und Sicherheitsorgane[n] des Kreises« her, die er während seiner langjährigen Anstellung in der Kaderabteilung der Geraer Bezirksbehörde der Polizei aufgebaut hatte. Ihm war aufgetragen, mit den Abteilungen Erlaubnis-, Pass- und Meldewesen und der Kreismeldekartei der Volkspolizei in Gera zusammenzuarbeiten, um u. a. Auskünfte über die vom ZOV »Bühne« Betroffenen zu erlangen. Bei Sicherungseinsätzen fungierte er als Verbindungsoffizier zur Polizei; in den Beurteilungen wurde ihm bescheinigt, dass sein Wirken stetig auf die Durchsetzung der MfS-Interessen gerichtet sei. 140 Ursprünglich hätte er 1988 zum Leiter des Referates VIII (Observation) ernannt werden sollen, was jedoch angesichts seines Alters nicht realisiert wurde. Im Jahr 1984 wurde er zum Major ernannt. Mindestens zwei Verwandte, darunter sein Sohn, arbeiteten ebenfalls im Apparat. 141 Er wurde zum 31. Januar 1990 entlassen und erhielt eine Übergangsrente.
137 Lebenslauf – Abschrift – Heinz Semmisch v. 10.5.1956; BStU, MfS, BV Gera, AIM 4215/86, I/1, Bl. 26. Der Stiefvater wurde 5 Jahre später 1955 Polizist. 138 BStU, MfS, BV Gera, GI, Reg.-Nr. 303/57 »Hans Döhler«. 139 Zur Chronologie: 1963 VEB Thüringer Fleischkombinat, 1963/64 Instrukteur im Großhandel Lebensmittel Gera, 1.8.1964 hauptamtlicher FDGB Kreisvorstand Gera-Land; Vorsitzender IG Bau/Holz, Sekretär für Sozialpolitik, 1.5.1968 TU Dresden, 1970 Dipl.-Ingenieur-Ökonom, 1970 Leiter der Kreisbildungsstätte des FDGB Gera-Land, 1971 MfS. Zum FDGB vgl. Gill, Ulrich: FDGB. Die DDR-Gewerkschaft von 1945 bis zu ihrer Auflösung 1990. Köln 1991. 140 Beurteilung v. 5.1.1988; BStU, MfS, BV Gera, KS Heinz Semmisch, Bl. 111. Im gleichen Jahr erhielt er die »Medaille für Waffenbrüderschaft« in Bronze. Ebenda, Bl. 194. 141 1972 sollte auch eine Tochter von Semmisch durch die MfS-BV Gera/Abt. VIII eingestellt werden. MfS-BV Gera/Abt. VIII am 17.2.1972 an MfS-BV Gera/Abt. KuSch: Bitte um Übersendung von Ermitt-
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Die Karrieren von Henry Müller und Martin Erhardt waren unmittelbar miteinander verbunden, denn Erhardt wurde fast zeitgleich mit Müller als stellvertretender Kreisdienststellenleiter 1961 von Gera nach Jena versetzt. Er war ihm von 1965 bis 1970 direkt unterstellt und folgte ihm 1970 auf den Posten des Leiters der KD Jena. Zusätzlich gab er ihn 1969 als Praxis-Betreuer für seine Abschlussarbeit an der Juristischen Hochschule Potsdam an. 142 Seit 1975 leitete Erhardt dann die Kreisdienststelle Gera, Müller war im Jahr zuvor zum Leiter der Abteilung XX der Bezirksverwaltung ernannt worden. Erhardt wurde 1934 in Plauen als Sohn eines Tiefbauarbeiters geboren, der bis 1933 der KPD angehört hatte. Vom 8. bis zum 10. Lebensjahr musste er ohne seinen Vater auskommen, der 1942 als Gefreiter zur Wehrmacht eingezogen wurde und 1944 schwer verletzt nach Hause zurückkehrte. Die Familie wurde im Folgejahr 1945 ausgebombt und lebte seitdem in einer behelfsmäßigen Siedlung. Nach dem 17. Juni 1953 wurde der Vater 1954 inhaftiert, weshalb seine SEDMitgliedschaft gestrichen wurde. Später arbeitete er als Pförtner im Plauener Druckmaschinenwerk Plamag. Dort absolvierte auch sein Sohn von 1950 bis 1952 eine Lehre als Maschinenschlosser. 143 Im Oktober 1952 meldete sich Martin Erhardt nach Abschluss der dreijährigen Lehre freiwillig zur Kasernierten Volkspolizei. Sein um zwei Jahre älterer Bruder war bereits im März 1952 in die MfS-Dienststelle Plauen eingestellt worden, was den Jüngeren möglicherweise beeinflusste, sich ebenfalls beim MfS zu bewerben. Ab Januar 1953 diente er im MfS-Wachbataillon Dresden, ab Juni 1954 erst in der Observationsabteilung, dann in der Abteilung zur Überwachung der Wirtschaft der BV Gera. Drei Jahre nach der Einstellung stand er im Offiziersrang. Nach dem Wechsel zur KD Jena erwarb er einen Teilabschluss der 10. Klasse, dem ab 1965 eine Ausbildung an der Juristischen Hochschule des MfS in Potsdam (JHS) folgte. Im Jahr 1969 schloss er diese mit einer Abschlussarbeit über »Aufgabe der Einsatzleitungen zur zielgerichteten Verhinderung der schriftlichen staatsfeindlichen Hetze im Bereich einer Kreisdienststelle« ab. 144 Genau in der Zeit, in welcher der ZOV »Bühne« geführt wurde, qualifizierte sich Erhardt von 1982 bis 1984 an der Juristischen Hochschule weiter. In seiner Hausarbeit thematisierte er die Anwerbung von inoffiziellen Mitarbeitern. 145 Im gleichen Jahr erhielt er 1984 den »Kampforden für Verdienste um Volk und Vaterland« in
lungsberichten zwecks Kaderaufklärung der Tochter von Heinz Semmisch; BStU, MfS, BV Gera, KS Heinz Semmisch, Bl. 457; BStU, MfS, BV Gera, Abt. KuSch: Verfügung der Abt. KuSch, Gera, 22.1.1990. 142 Vorzeitige Anfertigung der Dipl.-Arbeit des Gen[ossen] Hauptmann Erhardt; BStU, MfS, KS Martin Erhardt, Bl. 303. 143 Personalfragebogen des Staatssekretariats für Staatssicherheit: Martin Erhardt, 31.12.1955; ebenda, Bl. 203. 144 BStU, MfS, JHS MF VVS 020-55/69. 145 Ausgewählte Probleme im Prozess der Kontaktierung zur Gewinnung von IM; BStU, MfS, JHS MF VVS 001-1241/84; JHS 20266 [23 S.].
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Gold. 146 Die Ehefrau Erhardts, von Beruf Fernmelderin, arbeitete seit 1969 als »operative Zivilkraft« der KD Jena in der Kreismeldekartei des Jenaer Volkspolizeiamtes und von 1976 an als Vermittlungskraft in der Abteilung Nachrichten der BV Gera. Auch der Bruder und zwei der vier Kinder ließen sich bei der Staatssicherheit einstellen. 147 Martin Erhardt war mindestens von 1957 bis 1960 als Parteigruppenorganisator der SED-Grundorganisation in der BV Gera tätig. In seiner Jenaer Zeit 1965 bis 1972 war er Mitglied in der SED-Kreisleitung Jena-Land, was mit seinem Aufgabenbereich in der Kreisdienststelle korrespondierte. Als Kreisdienststellenleiter in Gera gehörte er – wie üblich – der SED-Kreisleitung Gera-Stadt an. 148 Wie bei Henry Müller und Heinz Stöhr erweiterten Parteifunktionen somit sein Handlungsfeld. Er erreichte als Einziger der gesamten Untersuchungsgruppe den Dienstgrad eines Obersten. Zum 28. Februar 1990 wurde er entlassen und erhielt eine Übergangsrente. 149
3.2.2 Zusammenfassung
3.2.2.1 Herkunft Die Mitglieder der ersten Kohorte wurden zwischen 1927 und 1934 geboren. Alle fünf stammten aus der Arbeiterschaft. 150 Durch diese Herkunft gehörten sie zum idealen Rekrutierungsmilieu der Staatssicherheit, zumal bei keinem ihrer Väter eine NSDAP-Mitgliedschaft nachweisbar ist. Drei der Väter traten nach 1945 in die SED ein: Bei nur einem war eine Mitgliedschaft in der KPD aktenkundig, zwei hatten der SPD angehört. Die übrigen waren wohl parteilos gewesen. Neben der Kriegserfahrung hatten zwei der fünf Kohortenmitglieder Flucht und Vertreibung durchlebt. Ihre Väter waren diejenigen gewesen, die vor 1933 der SPD angehört hatten. Einer dieser beiden Väter war im Krieg gefallen, der andere blieb 146 In den Jahren 1973 und 1980 hatte er diesen bereits in Bronze und Silber erhalten. Zum Kampforden Brühl: Wörterbuch (Anm. 121). 147 Zusammengefasste Auskunft zu Martin Erhardt; BStU, MfS, BV Gera, KS Martin Erhardt, Bl. 13 f. Beurteilung Martin Erhardt v. 14.1.1981; ebenda, Bl. 175. Einstellungsvorschlag Roland Erhardt (1973); ebenda, Bl. 31–34. Die Tochter arbeitete in der BV Gera/Abt. X. Der Sohn wurde aus persönlichen Gründen aus dem Dienstverhältnis entlassen. 148 Ergänzung zur Beurteilung von 1975 v. 5.12.1977 durch den Leiter der BV Gera Oberst Lehmann; BStU, MfS, BV Gera, KS Martin Erhardt, Bl. 168. 149 Verfügung zum Befehl Nr. K 1635/89 v. 22.1.1990; BStU, MfS, BV Gera, Abt. KuSch. 150 Anders als bei Gieseke: Hauptamtliche (Anm. 3), S. 334, findet sich in den hier vorliegenden Quellen kein Hinweis darauf, dass die Väter zum Zeitpunkt der Einstellung ihrer Söhne in das MfS einen anderen Status als den des Arbeiters bekleideten.
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als Einziger nach 1945 parteilos. Das Kohortenmitglied, dessen Vater vor 1933 der KPD angehört hatte, trat der FDJ bereits mit ihrer Gründung im Alter von 13 Jahren bei. Bei den übrigen beiden Vätern fehlen Angaben zur Herkunft oder sind zum Teil irreführend, sodass die Frage einer etwaigen Parteizugehörigkeit nicht restlos geklärt werden kann. 151 Henry Müller gab an, sein Vater arbeite seit 1950 beim MfS. Auch seine Mutter war dort angestellt. Unter den Müttern der ersten Kohorte war sie die Einzige mit SED-Parteibuch. Über die übrigen Mütter ist nur so viel zu erfahren, als sie parteilose Hausfrauen, Rentnerin oder Arbeiterin waren.
3.2.2.2 Bildungs- und Berufsweg Die Offiziere dieser Kohorte hatten zwischen 1941 und 1949 die achtjährige Volksschule und im Anschluss eine Lehre absolviert. Einer von ihnen entschied sich kurz vor dem Abitur, Lehrer zu werden, doch er wurde dann Pionierleiter. Alle brachten nur einige Monate Erfahrung in ihrem erlernten Beruf mit. Drei wurden aus ihren politischen Ämtern bei der FDJ, zwei von der Kasernierten Volkspolizei in das MfS übernommen. Der Letzte kam 1971 hinzu, nachdem er sich seit 1958 als Geheimer Informator verpflichtet und 13 Jahre in der Kasernierten Volkspolizei bzw. der NVA gedient hatte. Dieser erreichte im Vergleich zu den anderen Mitgliedern der Kohorte die niedrigste Position, da er lediglich bis zum Referatsleiter in der Kreisdienststelle Gera aufstieg. Das durchschnittliche Eintrittsalter lag bei 28 Jahren, zuvor hatten sie sich – ebenfalls im Durchschnitt – 5 Jahre lang als inoffizielle Mitarbeiter bewährt. Der Jüngste trat bereits mit 18 Jahren in den Dienst der Staatssicherheit und erreichte zum Schluss als Einziger den Dienstgrad eines Obersten. Offenbar war er für ein höheres Amt vorgesehen, da er im Jahr 1987 die Bezirksparteischule der SED besuchte. Bis auf Martin Erhardt, der erst nach drei Jahren zum Unterleutnant befördert wurde, hatten die Kohortenmitglieder nach durchschnittlich drei Monaten Zugehörigkeit zum MfS den Offiziersdienstgrad eines Unterleutnants erreicht. Im Durchschnitt stiegen sie nach knapp zweieinhalb Jahren zum Leutnant auf. Den ersten Stabsoffiziersdienstgrad (Major) erreichten sie nach durchschnittlich 15 Jahren. Den Aufstieg zum Oberstleutnant schafften dann nur 3 in einer Zeitspanne von der letzten Beförderung an, die von 4 bis zu 12 Jahren reicht. Insgesamt eröffneten sich ihnen im Vergleich zu den Chancen ihrer Eltern beispiellose Aufstiegsmöglichkeiten, die sie zu nutzen wussten. Sie sicherten sich Prestige, Einfluss und materielle Güter und verwendeten ihre Kraft nicht zuletzt darauf, diese persönlichen Errungenschaften zu sichern. 151 Dann allerdings bleibt offen, warum er sich in der NS-Zeit nicht auf Ideologie und Militär orientiert hatte und nun eine Polizeikarriere einschlug.
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3.2.2.3 Sozialraum Die Offiziere heirateten mit durchschnittlich 24 Jahren ihre überwiegend um ein Jahr jüngeren Ehefrauen noch vor dem Eintritt in das MfS. Zwei der Ehefrauen arbeiteten beim MfS, eine der beiden wurde später Hausfrau. Drei Frauen waren ohne Berufsausbildung, zwei arbeiteten, zum Teil leitend, im Bildungswesen. Eine hatte den Beruf einer Fernmelderin gelernt, sie arbeitete in der Kreismeldekartei der Polizei. Dabei wurde sie in der Kaderakte sowohl als Angestellte des Ministeriums des Inneren als auch als Zivilkraft des MfS bezeichnet, nie jedoch als VPKAAngestellte. Mit der Ernennung ihres Mannes zum Leiter der KD Gera wechselte sie in die dortige Bezirksverwaltung. Erst zu diesem Zeitpunkt trat sie der SED bei. In der Regel gehörten alle Ehefrauen der SED an, noch bevor ihre Männer in das MfS eintraten: Die Ehefrauen der Kohortenmitglieder bewiesen in der Mehrzahl Systemtreue, lange bevor ihre Männer im MfS-Apparat angestellt waren. Im Hinblick auf die familiären Netzwerke im Apparat lohnt sich eine Frage nach den Verwandtschaftsverhältnissen. Über die Herkunftsfamilie waren drei Kohortenmitglieder mit dem MfS verbunden, bei zweien arbeiteten auch die Ehefrau bzw. Angehörige der Ehefrau und bei einem ein nicht zuzuordnender Verwandter bei der Staatssicherheit. Alle hatten einen Sohn bzw. die Tochter im MfS und waren so mit nachfolgenden Alterskohorten im Apparat vernetzt. Vier der fünf Offiziere waren mit Angehörigen aus zwei Kohorten verwandtschaftlich im Apparat verbunden, nur einer lediglich durch den Sohn. 5 der insgesamt 14 im MfS arbeitenden Verwandten der Kohortenmitglieder, also mehr als ein Drittel, waren Frauen, die allerdings nur zwei Offizieren zuzuordnen sind. Die Offiziere wohnten in Gera zuerst rund um die Bezirksverwaltung und im Zentrum der Stadt, in den späten 1970er bzw. 1980er Jahren zogen sie meist in das Neubaugebiet Gera-Lusan, wo sie in angrenzenden Straßen lebten. Ihre Freizeitinteressen lagen, sofern angegeben, im Bereich des Kampf- und Motorsports, die Mehrzahl scheint sich als Hobbygärtner betätigt zu haben. Schöngeistige oder wissenschaftlich-technische Ambitionen finden sich in dieser Kohorte nicht.
3.2.2.4 Politische Sozialisation Die erste Alterskohorte kann man der »HJ/FDJ-Generation« zurechnen. Die drei Ältesten hatten dem Deutschen Jungvolk bzw. der Hitlerjugend, zum Teil als Kameradschaftsführer, angehört. In die FDJ waren alle in der Regel mit dem 14. oder 15. Lebensjahr aufgenommen worden. Nur der Älteste trat erst mit 22 Jahren ein, als er FDJ-Kreisleitungssekretär wurde, doch schon im Jahr zuvor in die SED. Damit gehörte er zu jenen, die sich vergleichsweise früh für eine Parteimitgliedschaft
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entschieden. Das Eintrittsalter differierte zwar zwischen 18 und 29 Jahren, doch bis auf einen waren alle mit spätestens 24 Jahren Mitglied der Partei geworden. Alle gehörten zusätzlich dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft und entweder dem Deutschen Turn- und Sportbund, dem Sportverein »Dynamo« und/oder der Gesellschaft für Sport und Technik an. Alle bekleideten sowohl vor als auch während ihrer Zugehörigkeit zur Staatssicherheit FDJ- bzw. SED-Funktionen, entweder in den entsprechenden territorialen Kreisleitungen oder in ihrer Grundorganisation. Sie traten um das 20. Lebensjahr zwischen 1950 und 1952 aus der Kirche aus, sofern sie überhaupt Mitglied gewesen waren.
3.3 Die zweite Kohorte 152 Geboren wurden die sieben Offiziere der zweiten Kohorte zwischen 1935 und 1943. Auch hier fehlen einzelne Daten, so ausgerechnet bei Gerald Linke. Zu ihm lag nur eine kryptische, offenbar unvollständige Akte vor. Die Angehörigen der zweiten Kohorte stiegen in den 1980er Jahren sämtlich in Führungspositionen auf.
3.3.1 Einzeldarstellung Der Älteste aus der zweiten Kohorte, der 1935 geborene Klaus Schau, brachte bei seiner Einstellung 1956 eine knapp zweijährige Berufserfahrung als Agronom mit, ein Gebiet, welches in den 1950er- und frühen 1960er Jahren durch die Konflikte um die Kollektivierung der Landwirtschaft ideologisch hoch aufgeladen war. 153 Seine 152 Die Daten basieren auf folgenden Quellen: a) den Kaderakten, Vorgangsheften und Laufzetteln und/oder Entlassungsvorschlägen von Klaus Schau, Wolfgang Gerischer, Heinz Hohberger, Gerald Linke, Karl-Heinz Wlasak, Karl-Heinz Erker, Bernd Plötner; b) den IM-Akten von Bernd Plötner (IM Reg.-Nr. X 375/68, AIM 9055/71) und Karl-Heinz Erker (IM Reg.-Nr. X 572/67, AIM 2644/71). 153 So Mielke noch 1960 zur Kollektivierung: »Kein Organ in der DDR hat solche Möglichkeiten, um die Partei zu unterstützen, ihr zu helfen und Hinweise zu geben, wo mit welchen Methoden angepackt werden muß.« BStU, MfS, SdM 1556, Bl. 40: Protokoll der Kollegiumssitzung am 15.3.1960, zit. nach: Suckut, Siegfried: Generalkontrollbeauftragter der SED oder gewöhnliches Staatsorgan? Probleme der Funktionsbestimmung des MfS in den 60er Jahren. In: Ders.; Süß, Walter: Staatspartei und Staatssicherheit. Zum Verhältnis von SED und MfS. Berlin 1997, S. 155 f. Allgemein: Veen, Hans-Joachim; Eisenfeld, Bernd; Kloth, Hans M. (Hg.): Lexikon Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur. Berlin 2000, S. 217 f. (Artikel Werkentin, Falco: Kollektivierung der Landwirtschaft, Widerstand gegen). Am Beispiel: Bauerkämper, Arnd: Ländliche Gesellschaft in der kommunistischen Diktatur. Zwangsmodernisierung und Tradition in Brandenburg 1945–1963. Köln, Weimar, Wien 2002. Langenhan, Dagmar: »Halte Dich fern von den Kommunisten, die wollen nicht arbeiten!« Kollektivierung der Landwirtschaft und bäuerlicher Eigen-Sinn am Beispiel Niederlausitzer Dörfer (1952 bis Mitte der 60er Jahre). In: Lindenberger (Hg.): Herrschaft und
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Berufserfahrung unterscheidet ihn von den Offizieren der ersten Kohorte, denn diese hatten ansonsten zuvor ausnahmslos militärische oder politische Funktionen innegehabt, während er eine Funktion bekleidete, die zwar auch eine politische Komponente hatte, aber im Kern eine fachliche war. Klaus Schau stammte aus Langendembach in Thüringen. Sein Vater, ein Gärtner, geriet nach dem Kriegseinsatz bis 1946 in englische Gefangenschaft, sodass Schau von seinem 9. bis 11. Lebensjahr ohne ihn aufwuchs. Der Vater gehörte weder vor noch nach 1945 einer Partei an. Der Sohn trat (wie auch Horst Stöhr) erst mit 17 Jahren in die FDJ ein. Bei ihm ist kein Kirchenaustritt dokumentiert. In die FDJKreisleitung wurde er zwei Jahre vor seiner Einstellung in das MfS von 1955 bis 1956 als Sekretariatsmitglied kooptiert. Zwei Jahre nach seiner Einstellung – zuerst in die Bezirksverwaltung Gera der Stasi – wurde er 1958 in die SED aufgenommen. Klaus Schau brachte im Gegensatz zu allen anderen Offizieren der ersten beiden Kohorten keinerlei militärische Erfahrungen mit, denn weder hatte er wie Martin Erhardt eine Landesschießschule der FDJ besucht, noch war er wie Erhardt, Semmisch und Wirkner bei der Kasernierten Volkspolizei gewesen. Im Jahr 1956 begann er seine Karriere als operativer Mitarbeiter in Gera und gelangte 1971 über die KD Eisenberg und die Juristische Hochschule Potsdam zur Kreisdienststelle Stadtroda, wo er zunächst zum Stellvertreter des Leiters und 1974 zum Leiter aufstieg. 154 In dieser Funktion löste ihn 1983 Wolfgang Gerischer ab, denn mit dem August 1983 rückte Schau als »Offizier für Sonderaufgaben« in die Arbeitsgruppe des Leiters der Bezirksverwaltung auf, vier Monate später wurde er zu deren Leiter ernannt. Diese Position behielt er bis 1989. Hier war er analog zur Arbeitsgruppe des Ministers vor allem für die MfS-spezifische Vorbereitung der Mobilisierung im »Ernstfall« zuständig, plante demnach auch die Internierung und Inhaftierung seiner Mitbürger/innen. 155 Auch die Ehefrau und später ein Kind von Klaus Schau arbeiteten im MfS. Insgesamt waren fünf seiner Verwandten dort angestellt. Gemeinsam mit Wolfgang Gerischer und Henry Müller verfügte er damit unter den Offizieren aller Kohorten über die meisten verwandtschaftlichen Beziehungen innerhalb des MfS-Apparats. Eine Dokumentation seiner Entlassung durch die Auflösung des Apparats wurde bislang nicht aufgefunden. Eigen-Sinn (Anm. 7), S. 119–165. Schöne, Jens: Frühling auf dem Lande? Die Kollektivierung der DDRLandwirtschaft. Berlin 2007. Ein wichtiges Symbol der Auseinandersetzung hat Matthias Braun beschrieben: Drama um eine Komödie. Das Ensemble von SED und Staatssicherheit, FDJ und Ministerium für Kultur gegen Heiner Müllers »Die Umsiedlerin oder das Leben auf dem Lande« im Oktober 1961. Berlin 1996. 154 Seine Abschlussarbeit schrieb er gemeinsam mit Hptm. Reinhard Stephan von der MfS-BV Gera/Abt. XVIII: »Die vorgangsmäßige Sicherung und Bearbeitung eines volkswirtschaftlich bedeutsamen Schwerpunktes, untersucht am Beispiel des Betriebes Mikroelektronik im Kombinat VEB Keramische Werke Hermsdorf«; BStU, MfS, JHS MF GVS 160-58/71, K 88. 155 Auerbach, Thomas: Vorbereitung auf den Tag X. Die geplanten Isolierungslager des MfS. Berlin 1994; Wagner, Armin: Der Nationale Verteidigungsrat der DDR als sicherheitspolitisches Exekutivorgan der SED. In: Suckut; Süß (Hg.): Staatspartei und Staatssicherheit (Anm. 153), S. 169–198.
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Der Zweitälteste unter den Mitgliedern der zweiten Kohorte ist der 1936 in Gera geborene Wolfgang Gerischer. Sein Vater, der als Koch beim Reichsarbeitsdienst (RAD) beschäftigt gewesen war und seit 1940 als Unteroffizier an der Westfront gekämpft hatte, geriet 1944 für ein Jahr in britische Gefangenschaft und arbeitete nach seiner Rückkehr 1945 erst als Wirtschaftsleiter in der »Sonderschule des ZK der SED« und danach in einer Landessportschule. Seit 1947 SED-Funktionär, wurde der Vater 1955 für 25 Jahre bis zur Verrentung als Zivilkraft des MfS in der Bezirksparteischule der SED in Bad Blankenburg angestellt. Die Mutter, ebenfalls SED-Mitglied, hatte vor 1933 der Sozialistischen Arbeiterjugend angehört. Sie arbeitete vor ihrer Einstellung in das MfS im Wehrkreiskommando Rudolstadt. Sowohl sie als auch der Vater hatten langjährig SED-Parteiämter inne. Damit wuchs Wolfgang Gerischer in das Funktionärs- und Sicherheitsmilieu hinein. 156 Die Schule beendete er 1951 mit der 8. Klasse. Mit 17 Jahren fungierte er während seiner Ausbildung zum Brauer als FDJ-Sekretär und meldete sich kaum volljährig 1954 zur Kasernierten Volkspolizei, wo er nach vier Jahren eine Offizierslaufbahn abbrach, um danach wieder als Brauer, doch nun auch als SED-Funktionär zu arbeiten. Insbesondere in der Endphase 1958 bis 1960 empfahl er sich durch Mithilfe bei der Kollektivierung der Landwirtschaft. 157 Im August 1960 wurde er in die Bezirksverwaltung Gera des MfS eingestellt. Er arbeitete zuerst zwölf Jahre lang auf der Linie Auslandsspionage; in dieser Zeit absolvierte er auch einen zweijährigen Kurs bei der Hauptverwaltung Aufklärung. Ab 1972 war er Referatsleiter in der Kreisdienststelle Rudolstadt. 1983 wurde er zum Leiter der Kreisdienststelle Stadtroda ernannt, wo er bis 1989 verblieb. Dies war – wie bei den anderen Kreisdienststellenleitern – mit der Zugehörigkeit zur jeweiligen territorialen SED-Kreisleitung verbunden. In die SED war Gerischer bereits 1957 eingetreten. Seine familiären Verbindungen innerhalb der Staatssicherheit reichten über die Eltern zu dem um neun Jahre jüngeren Bruder, seinem Schwager, der Schwägerin über einen weiteren Verwandten bis hin zu seinem Sohn, womit dort insgesamt acht Familienmitglieder tätig waren. Damit hatte Gerischer innerhalb der gesamten Auswahl die meisten Verwandten im Apparat vorzuweisen. Er brachte trotz seines vergleichsweise späten Einstiegs in die Staatssicherheit eine ideologische und militärische Sekundärsozialisa156 Der Sohn gab an, seit 1937 keiner Konfession anzugehören. 1937 war jenes Jahr gewesen, in dem Goebbels die Hetze gegen die Kirchen verstärkt hatte und Schauprozesse gegen Mitglieder der Kirchen geführt worden waren. Zur staatlichen Kirchenpolitik im NS-Staat Scholder, Klaus: Die Kirchen zwischen Republik und Gewaltherrschaft. Gesammelte Aufsätze, hg. von Aretin, Karl Otmar; Besier, Gerhard, Frankfurt/M. 1991, S. 140–144. 157 Bauerkämper, Arnd: Von der Bodenreform zur Kollektivierung. Zum Wandel der ländlichen Gesellschaft in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands und der DDR 1945–1952. In: Kaelble u. a. (Hg.): Sozialgeschichte der DDR. (Anm. 10), S. 119–143; Lindenberger, Thomas: Der ABV als Landwirt. Zur Mitwirkung der Deutschen Volkspolizei bei der Kollektivierung der Landwirtschaft. In: Ders. (Hg.): Herrschaft und Eigen-Sinn (Anm. 7), S. 167–203. Vgl. auch die Berichte Betroffener in: von Hornstein, Erika: Die deutsche Not. Flüchtlinge berichten. Frankfurt/M., Berlin 1992 (Erstausgabe 1960).
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tion, doch kaum Berufserfahrung mit, dafür aber den erwähnten hohen verwandtschaftlichen Verflechtungsgrad innerhalb der Geheimpolizei. Er wurde zum 31. Januar 1990 entlassen und erhielt eine Übergangsrente. 158 Bei Gerald Linke wurden nur Teile der Kaderakte aufgefunden, in denen dennoch einige Informationen überliefert sind. 159 Geboren wurde er 1939 in Rudolstadt als Sohn eines nach 1945 der KPD/SED angehörenden Glasbläsers. Der gelernte Facharbeiter für Fotografie ging nach der Lehre für vier Jahre von 1957 bis 1961 zur Bereitschaftspolizei, wo er zum Gruppenführer aufstieg. Aus dem Jahr 1957 datiert neben dem Kirchenaustritt sein Laufbahnbeginn beim MfS. 160 Hatte er sich zu diesem Zeitpunkt zum Geheimen Informator verpflichtet? Das würde den dort datierten Laufbahnbeginn in der Staatssicherheit erklären. Für das zweite Halbjahr 1961 wurde er an das Institut für Lehrerbildung in Krossen delegiert, brach die Ausbildung jedoch mit dem Beginn seiner Stasi-Offizierslaufbahn im Januar 1962 ab. Von 1969 bis 1977 leitete er ein Referat der Abteilung XX in der BV Gera und stieg 1978 zum Stellvertreter des Leiters auf. Vorausgegangen war 1977 eine Auszeichnung mit der »Medaille der Waffenbrüderschaft« nicht nur in Bronze, sondern in Silber, was auf eine sehr gute Zusammenarbeit mit der sowjetischen Geheimpolizei oder anderen sozialistischen Geheimdiensten hinweist. Er gehörte zu den wenigen Offizieren, denen zwischen 1970 und 1975 nach dem Besuch der Juristischen Hochschule der Titel eines Diplom-Staatswissenschaftlers verliehen wurde. Vom Mai 1975 datiert seine Abschlussarbeit aus der Praxis der Abteilung XX der BV Gera zur Arbeit mit inoffiziellen Mitarbeitern. 161 Bemerkenswert ist seine zusätzliche Weiterbildung an der MfS-Hochschule zwischen 1981 und 1983, mit der er sich für eine weitere Karriere empfahl. Im Mai 1983 folgte er Henry Müller für drei Jahre als Leiter der Abteilung XX in der Bezirksverwaltung. Unter seine Ägide fallen somit die Aktion »Gegenschlag« 1983 in Jena, die Verurteilungen der Geraer Pazifist/innen 1984 als auch die Weiterführung des ZOV »Bühne«. Im Jahr 1985 erhielt er für seine Verdienste die höchste Auszeichnung seiner Laufbahn, den »Kampforden für Verdienste um Volk und Vaterland« in Bronze. Eine besondere militärische Qualifikation erwarb er als »Kampfstoffchemischer Beobachter und Aufklärer«. 162 Seine gleichaltrige Frau war als operative Mitarbeiterin der Abteilung M (Postkontrolle) in der Bezirksverwaltung beschäftigt. Später traten auch zwei Söhne in das MfS ein. Die Tochter arbeitete trotz eines Abschlusses als Musikpädagogin im Stab 158 Verfügung zum Befehl Nr. K 1635/89, Gera 12.1.1990; BStU, MfS, BV Gera, Abt. KuSch. 159 BStU, MfS, BV Gera, DOS 1718/92: KA Gerald Linke, Bl. 3–14, 34, 37–41 u. 55–67; BStU, MfS, BV Gera, DOS 9258/92, Bl. 2, 4–14 u. 16–31; BStU, HA KuSch, AKG–KA HM, MA 200328. 160 Ausdrücklich wurde in seiner Besoldungsstammkarte ein »Treuegeld« seit Mai 1957 angegeben. Ebenda. 161 Gerald Linke: Zu Grundfragen der Qualifizierung der Berichterstattung der IM beim Treff und die Auswertung des Treffs; BStU, MfS, JHS MF VVS o001– 275/75. 162 Vgl. dazu den Abschnitt zu Rolf-Günther Jahn (3. Kohorte).
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der Zivilverteidigung Gera, demnach im militärischen Bereich, und war damit an den Vorbereitungsmaßnahmen für den »Tag X« beteiligt. 163 Am 20. Dezember 1985 wurde Linke zum 1. Sekretär der Zentralen Parteileitung der MfS-Bezirksverwaltung berufen, was als Aufstieg zu werten ist. 164 Der bis dahin amtierende Sekretär Koschek und der Leiter der Bezirksverwaltung Lehmann begründeten die Berufung Linkes damit, dass er von 1964 bis 1985 durchgängig Parteifunktionen, zuletzt in der Zentralen Parteileitung der Bezirksverwaltung, innegehabt habe. Linke wurde gemeinsam mit seiner Frau im Dezember 1987 für drei Jahre zu einem Auslandseinsatz delegiert. Weder Details über den Ort noch die Aufgabe bei diesem Auslandseinsatz waren zu ermitteln, nur ein Hinweis auf eine Tätigkeit als »Berater«, was auf eine Tätigkeit als geheimpolizeilicher »Entwicklungshelfer« in einem befreundeten Staat der Dritten Welt hindeutet. In seiner Akte wurde vermerkt, er sei als OibE der Hauptverwaltung A geführt worden. In seiner Besoldungsstammkarte wurde er seit dem 1. Februar 1989 als Oberst der Hauptverwaltung A/III (»Legal abgedeckte Residenturen«) eingetragen, sein Gehalt wurde mit 1 850 Mark angegeben. 165 Linkes Entlassung nach dem Umbruch 1989 datiert vergleichsweise spät vom 31. März 1990. Heinz Hohberger wurde 1938 als Sohn eines Maurers in Greiz geboren. Der Vater war bis 1945 drei Jahre lang bei der Wehrmacht; er hatte bereits im Ersten Weltkrieg vier Jahre im Krieg verbracht. Sein Vater trat 1946 der SED bei. Er war knapp 15 Jahre lang als Stadtarbeiter, später als Wächter angestellt. Außerdem arbeitete er der Volkspolizei als »freiwilliger Helfer« zu. Die Mutter war parteilos und von Beruf Dienstmädchen und Hausfrau. Hohberger hatte nach der Achtklassenschule den Beruf eines Industrieverkäufers erlernt, dem er bis 1957 nachging, um sich danach von 1957 bis 1959 zur Armee zu melden. Nach der Armeezeit trat er 1959 aus der Kirche aus und wurde 1960 beim Rat des Kreises Schleiz mit der Leitung der Abteilung Arbeit betraut. Kurz nach dem Mauerbau, im September 1961, wurde er in die Abteilung XX der BV Gera einge163 Auerbach: Vorbereitung auf den Tag X (Anm. 155), bes. S. 123. Deren Mann besuchte zum Zeitpunkt der Verwandtenaufstellung 1987 die Bezirksparteischule in Mittweida, eine Schwiegertochter arbeitete beim Rat der Stadt Gera. 164 Zur Bedeutung für die Zeit von 1950 bis 1957 Schumann, Silke: Die Parteiorganisation der SED im MfS 1950–1957. In: Suckut; Süß (Hg.): Staatspartei und Staatssicherheit (Anm. 155), S. 105–128; Dies.: Parteierziehung in der Geheimpolizei. Zur Rolle der SED im MfS der fünfziger Jahre. Berlin 1997, S. 143– 149. 165 BStU, MfS, BV Gera, Kaderkarteikarte Gerald Linke sowie Besoldungsstammkarte aus dem MfS Berlin/Abt. Finanzen/Abt. 6-BSK. Bei der »Hauptverwaltung Aufklärung III« handelte es sich wohl um den Stellvertreterbereich des Leiters der HVA GM Horst Prosetzky, in dessen Abteilung A III »legal abgedeckte Residenturen in dritten Ländern« fielen. Dazu gehörte auch »Berater- und Unterstützungstätigkeit in Ländern der Dritten Welt, insbesondere in Ländern mit sozialistischer Orientierung und bei nationalen Befreiungsbewegungen (Federführung lag bei der HVA; Diensteinheiten des MfS Berlin bzw. der Bezirksverwaltungen stellten u. a. Spezialkräfte planmäßig für Auslandseinsätze ab)«. http://www.bstu.bund.de/cln_028/nn_713802/DE/MfSDDR-Geschichte/Hintergruende-zur-Staatssicherheit/Struktur-und-Aufgaben, Zugriff am 16.12.2010.
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stellt. Mit dem Jahr seines Kirchenaustritts wird sein Laufbahnbeginn beim MfS datiert, obwohl er dort tatsächlich erst zwei Jahre später eintrat. Hatte er sich zum Geheimen Informator anwerben lassen, demnach auf seinem Posten als Leiter des Referates Arbeit in Greiz der Staatssicherheit zugearbeitet? Wurde ihm die Zeit bei der NVA als Laufbahnbeginn angerechnet? Immerhin lohnt sich ein Blick auf die seiner Einstellung vorausgehenden, ausufernden Überprüfungen und die daran beteiligten Auskunftspersonen. Ein dreiviertel Jahr vor seiner Einstellung wurden über ihn Berichte zweier inoffizieller Mitarbeiter aus seinem Kollegenkreis beim Rat der Stadt eingeholt. Man zog zu seiner Überprüfung neben den über die Abteilung XII laufenden MfS-internen Recherchen auch Auskünfte aus seinen Kader- und Armeeakten hinzu. Außerdem wurden Personen befragt, die als verlässlich galten und von denen man wusste, dass sie ihn aus beruflichen Gründen gut kannten. So befragte die Staatssicherheit den Kaderleiter, den Leiter der Abteilung Arbeit und den Chef der Abteilung Verkehr des Rates der Stadt Schleiz. Darüber hinaus veranlasste sie die gängigen Überprüfungen bei der Polizei, insbesondere bei dem für das Wohnumfeld Hohbergers zuständigen Abschnittsbevollmächtigten (ABV). 166 Der Kreis der Befragten wurde durch Ermittlungen über seine Familienangehörigen noch beträchtlich erweitert. Alle Angesprochenen scheinen die Auskünfte über Hohberger bzw. seine Angehörigen nicht nur bereitwillig gegeben, sondern die Anfrage auch bereitwillig verschwiegen zu haben. Dennoch wurde mit dem Auskunftskreis eine wenn auch umgrenzte Gruppe geschaffen, die wusste, wie weit diese Fragen reichten und die sich danach verhielten. An keiner Stelle wurde Verweigerung dokumentiert. Nach den ersten drei Jahren im MfS, in denen er seinen Mittelschulabschluss nachholte, wurde Hohberger, ohne eine Hochschulzugangsberechtigung zu besitzen, von 1965 bis 1969 als Fernstudent an die Humboldt-Universität Berlin delegiert. Dort erwarb er 1970 den Grad eines Diplomkriminalisten. 167 Besonders im marxistischleninistischen Grundlagenstudium habe er gute Ergebnisse erzielt, was essenziell für seinen weiteren Aufstieg in der Bezirksverwaltung sei. Die Abschlussarbeit schrieb er an der Hochschule der Staatssicherheit (JHS) in Potsdam über das Thema Flucht aus der DDR. Dieser Themenkreis hatte seit 1964 zu seinem Aufgabengebiet in der
166 Dies stand möglicherweise im Zusammenhang mit der Tätigkeit seines Vaters als freiwilligem Helfer der VP. Der Abschnittsbevollmächtigte (ABV) war derjenige Polizist im Wohngebiet, dem die Regimeverhältnisse bis hin zu persönlichen Belangen der Ansässigen vergleichsweise gut bekannt waren. Zur Rolle des ABV Lindenberger, Thomas: Der ABV im Text. Zur internen und öffentlichen Rede über die Deutsche Volkspolizei der 1950er Jahre. In: Lüdtke; Becker (Hg.): Akten. Eingaben. Schaufenster (Anm. 8), S. 137– 166. Am Beispiel der Landwirtschaft Ders.: Der ABV als Landwirt. Zur Mitwirkung der Deutschen Volkspolizei bei der Kollektivierung der Landwirtschaft. In: Ders. (Hg.): Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur (Anm. 7), S. 167–203. 167 Zur Kriminalistik an der HUB Gieseke: Hauptamtliche (Anm. 3), S. 256. Labrenz-Weiß, Hanna: Die Hauptabteilung II: Spionageabwehr (MfS-Handbuch, Teil III/7). Hg. BStU. Berlin 2001, S. 15.
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Linie XX gehört. 168 Bereits 1966 wurde Hohberger zum Referatsleiter dieser Linie (XX/5) befördert, sieben Jahre später zum stellvertretenden Leiter der Abteilung XX, wobei ihm die Leiter der Referate XX/2 und XX/6 sowie wiederum das Referat XX/5 unterstellt waren. Demnach unterstand ihm während der Bearbeitung des ZOV »Bühne« nicht dessen federführender Offizier Hubert Wirkner. Allerdings vertrat Hohberger häufig den Abteilungschef XX Henry Müller, war demnach zeitweise mit der Leitung des ZOV betraut. Bei der Besetzung der Stelle des Leiters der Abteilung XX wurde Hohberger 1983 zwar übergangen und schied aus dieser Kaderreserve aus. Doch zum Republikfeiertag 1983 erhielt er den »Kampforden für Verdienste um Volk und Vaterland« mit der Begründung: »Es kann mit als ein Verdienst des Gen. Hohberger gesehen werden, dass es gelungen ist, die Zielstellung des Feindes, Jena zum Zentrum des Widerstandes zu machen, erfolgreich zu verhindern.« 169 Er wurde dafür ausgezeichnet, dass er dazu beigetragen hatte, Mitglieder der Jenaer Friedensgemeinschaft, die in der Friedensdiskussion die gewaltfreie Lösung von Konflikten befürworteten, zu verunsichern, zu inhaftieren und im Rahmen der Aktion »Gegenschlag« auszubürgern. Im Februar 1986 stieg er zum Oberstleutnant, seinem höchsten Dienstgrad auf, im Dezember desselben Jahres doch noch zum Leiter der Abteilung XX, in eine Position, die er bis zum Schluss innehatte. Mit Wirkung vom 28. Februar 1990 wurde er entlassen. 170 Der 1941 geborene Karl-Heinz Wlasak war der Sohn eines Bergarbeiters aus Marschen/Aussig in Nordböhmen, der 1945 eingezogen wurde und 1946 aus sowjetischer Gefangenschaft zurückkehrte. In Aussig kam es am 31. Juli 1945 nach der Explosion einer Kabelfabrik, in der konfiszierte Munition gelagert worden war, zu Ausschreitungen, in deren Folge 200 der dort ansässigen Sudetendeutschen starben, es schloss sich die Vertreibung der Übriggebliebenen an. 171 Die Mutter durchlebte 168 Hohberger, Heinz: Algorithmus für die Organisierung der operativen Bearbeitung von Straftaten nach § 105 StGB – staatsfeindlicher Menschenhandel (ausgenommen über sozialistische Länder); BStU, MfS, JHS, MF VVS 160-348/69. Durch die Dokumentation seiner Abschlussarbeit bei der JHS wird die enge Verbindung zwischen der HUB und der JHS in diesem Bereich dokumentiert. Mit der Überschrift zeigt sich, dass man das Schicksal der Betroffenen einem Rechenvorgang anglich. 169 Vorschlag zur Auszeichnung mit dem Kampforden für Verdienste um Volk und Vaterland in Bronze v. 17.10.1983; BStU, MfS, BV Gera, KS Heinz Hohberger, Bl. 137. Damit bescheinigte ihm sein neuer Vorgesetzter Gerald Linke, an der Massenausbürgerung der Jenaer Pazifisten und der gewaltsamen Abschiebung von Roland Jahn während der Aktion »Gegenschlag« in Vertretung von Henry Müller beteiligt gewesen zu sein. 170 Verfügung zum Befehl Nr. K 1635/89; BStU, MfS, BV Gera, HA/Abt. KuSch 31.1.1990. 171 Kaiser, Vladimír: Das Kriegsende und die Vertreibung der Deutschen aus dem Aussiger Gebiet. In: Brandes, Detlef; Ivanicková, Edita; Pešek, Jirí (Hg.): Erzwungene Trennung. Vertreibung und Aussiedlung in und aus der Tschechoslowakei 1938–1947 im Vergleich mit Polen, Ungarn und Jugoslawien. Essen 1999, S. 201–217; Pustejovsky, Otfried: Die Konferenz von Potsdam und das Massaker von Aussig am 31. Juli 1945. Untersuchung und Dokumentation. München 2001; Steinkamp, Peter: Aussig 1945. In: Ueberschär, Gerd R.: Orte des Grauens. Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Darmstadt 2003, S. 12–18.
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mit den beiden vier- und sechsjährigen Söhnen eine zwei Jahre dauernde Odyssee durch Thüringen. In den Jahren 1945 und 1946 lebte sie mit ihnen in einem Aufnahmelager in Weimar und kam 1947 nach Wünschendorf im Vogtland bei Gera. Wlasak blieb dort auch ansässig, als er Offizier in Gera geworden war. Für seine Frau, eine Arbeiterin, ist keine SED-Mitgliedschaft überliefert, sein Schwager trat wie Wlasak selbst in das MfS ein. Später wurde auch sein Sohn MfS-Angehöriger. Nach der Lehre als Hobler diente Wlasak freiwillig für fünf Jahre in der Grenzpolizei, wo er als Ausbilder arbeitete. Am 13. August 1961 gehörte er zu jenen, die in Berlin die Sektorengrenze absperrten. Dies wurde zum Ausweis seiner Bewährung für den Staat, ein dreiviertel Jahr später trat er in die SED ein. 172 Nach seiner Entlassung aus der Armee 1963 arbeitete er zuerst als Schlosser und Kraftfahrer, bis er zwischen 1966 und 1972 im VEB »Kammgarnspinnereien Gera« als Schlosser und Schichtmeister eingesetzt wurde. Dort erlangte er auch Nachqualifizierungen, angefangen vom Abschluss der 10. Klasse bis zum Meisterbrief. Parallel agierte er in den Jahren ab 1963 als Parteigruppenorganisator. Mit dem Jahr 1968 wird sein Laufbahnbeginn bei der Staatssicherheit datiert, was vermuten lässt, dass er sich zum inoffiziellen Mitarbeiter anwerben ließ. Im Jahr 1972 brach er ein Fernstudium ab, um als Betriebsleiter im nun vollständig verstaatlichten VEB »Färberei und Chemische Reinigung« Gera zu arbeiten, was allerdings nur eine Episode blieb, denn bereits 1974 wurde er als Offizier in die Kreisdienststelle Gera aufgenommen. Bereits fünf Jahre später fungierte er nicht nur als Mitglied der Grundorganisationsleitung der SED in der Kreisdienststelle, sondern von 1979 bis 1987 auch als deren Sekretär, was ihm ermöglichte, auf die Beurteilungen sämtlicher Kollegen Einfluss zu nehmen. Seit 1979 habe er ein wichtiges Führungs-IM-System u. a. im Bereich des Theaters aufgebaut, hieß es in seiner Kaderakte. 173 Seit 1983 leitete er das u. a. für die Überwachung der örtlichen Kultureinrichtungen zuständige Referat XX/2 in der Kreisdienststelle, wo er an operativen Materialien arbeitete, die zum ZOV »Bühne« hinführten, wie dem OV »Puppe«, doch später auch den Operativen Vorgängen »Kerze« und »Aufruf«, die im Zusammen-
172 Zu den Auswirkungen des Mauerbaus Diedrich, Torsten; Kowalczuk, Ilko-Sascha: Staatsgründung auf Raten? Auswirkungen des Volksaufstandes 1953 und des Mauerbaus 1961 auf Staat, Militär und Gesellschaft der DDR. Berlin 2005. 173 BStU, MfS, BV Gera, KS Karl-Heinz Wlasak, Bl. 88. Es ist nicht vollständig nachvollziehbar, um welches FIM-System es sich handelt. Im Bereich des Theaters war jedenfalls der FIM »Jens-Uwe« tätig (BStU, MfS, Reg.-Nr. X 1199/60), der am 24.4.1976 zum Führungs-IM qualifiziert wurde und den Wlasak am 5.7.1974 übernahm. Vgl. BStU, MfS, BV Gera, VGH 999, unpag. Zum Zeitpunkt der Beurteilung im Januar 1981 war dieser der einzige von Wlasak geführte Führungs-IM. Innerhalb dieses Systems war auch zeitweise der Direktor der Puppenbühne als GMS »Bauer« involviert. Zu »Bauer« Baldur Haase detailliert in: Kasper kontra Mielke. Die Geraer Puppenbühne und die unabhängige Friedensbewegung. Erfurt 1999, S. 15–34. Seit dem 22.1.1981 führte Norbert Witt den FIM, der übergab ihn am 31.7.1985 an Dietmar Perz. Dieser steuerte den GMS »Bauer« seit dem 7.1.1988 selbst. BStU, MfS, BV Gera, VGH 1009, unpag.
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hang mit dem ZOV »Bühne« standen. 174 Im Oktober 1984 erhielt er für die Verhinderung öffentlicher Kritik an der Aufrüstung in der DDR sowie für Überwachungs- und Repressionsmaßnahmen gegen pazifistisch orientierte Künstler und Jugendliche die »Verdienstmedaille der NVA« in Silber. 175 Wlasak konnte in seiner gesamten Dienstzeit Disziplinierungen vermeiden, was wohl seiner einflussreichen Position als Sekretär der Parteileitung und Referatsleiter zuzuschreiben ist. In seiner Funktion als SED-Sekretär nahm Wlasak eine entscheidende Rolle im Disziplinargeschehen seiner Dienststelle wahr. Somit gehörte er neben dem Leiter der Kreisdienststelle Martin Erhardt und dem Stellvertreter Heinz Stöhr zum inneren Kreis der Leitung, womit sich seine Handlungsräume im Vergleich zu den übrigen Offizieren erweiterten. Wlasak wurde zum 31. Januar 1990 entlassen. 176 Der 1943 geborene Karl-Heinz Erker stammte aus dem sudetendeutschen Arnau (Hostinné). Es ist nicht überliefert, ob Mutter und Sohn 1945 im Arnauer Internierungslager gefangen gehalten worden sind, bevor die Familie nach Deutschland abgeschoben wurde. Zuerst lebte sie in der Umgebung von Merseburg und seit 1950 in Gera. 177 Erkers Vater war Postschaffner, nach dem Anschluss des Sudetengebietes im Jahr 1938 wurde er NSDAP-Mitglied und geriet nach seinem Wehrmachtseinsatz 1945 in sowjetische Gefangenschaft. 178 Später blieb er wie auch die Mutter ohne Parteimitgliedschaft, er wurde von der Staatssicherheit nicht als »positiv«, sondern lediglich als »loyal« bezeichnet. In Gera ging Karl-Heinz Erker zur Schule und arbeitete nach der Tischlerlehre und einer Ausbildung zum Unterstufenlehrer ab 1964 zuerst im sorbischen Gebiet und seit 1966 in Weida. Wohl um für die Lehrerausbildung ausgewählt werden zu können, war er mit dem 16. Lebensjahr in die FDJ eingetreten. Während dieser Ausbildung entwickelte er sich nach Aktenlage vom distanzierten zum überzeugten SED-Anhänger. Seit seinem 20. Lebensjahr war Erker SED-Mitglied, er fungierte nach seinem Austritt aus der katholischen Kirche 1965 an der Weidaer Schule als zweiter SED-Sekretär, bis er sich im Herbst 1967 für zwei Jahre zum Dienst an der Grenze verpflichten ließ. Daran hatte nach Mei174 Vgl. u. a. die »Information über die politisch-operative Situation an der Puppenbühne Gera« v. 18.7.1984; BStU, MfS, BV Gera, AOV »Kerze« 941/86, Bd. II, Bl. 195–206. Dort ist dokumentiert, wie der Theaterintendant Schröder gemeinsam mit dem Leiter der Abteilung Kultur beim Rat des Bezirkes Kathe verhindern wollte, dass die Puppenbühne als solche ausgezeichnet werde. Durch überregionale Intervention von Ingrid Fischer, die auch die Inhaftierung von zwei Mitgliedern des Ensembles kurz zuvor zur Sprache brachte, wurde die regionale Entscheidung aufgehoben und die ursprüngliche Auszeichnung verliehen. Zu den Verhaftungen Lenski; Merker: Diktat (Anm. 99). Zum OV »Puppe« Morgner, Martin: Deckname »Maske«. Die Künstlergemeinschaft Mecklenburg 1980/81, eine Dokumentation. Berlin 1995, S. 115 f. Vgl. Matthias Braun und Jeannette van Laak in diesem Band. 175 Zu diesen Vorgängen; Lenski; Merker: Diktat (Anm. 99), S. 67–96. 176 Laufzettel zum Befehl Nr. K 1635/89, Gera 11.1.90; BStU, MfS, BV Gera, KuSch/Klaus. 177 Zur Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei Brandes, Detlef: Der Weg zur Vertreibung 1938–1945. Pläne und Entscheidungen zum »Transfer« der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Polen. München 2005, S. 411–429. 178 Zum Kontext Brandes: Die Sudetendeutschen (Anm. 128), bes. S. 70–82 u. 91–98.
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nung der Stasi seine Ehefrau einen besonderen Anteil. Sie war ebenfalls SEDMitglied, arbeitete wie ihr Mann als Lehrerin und galt dem MfS als »fortschrittlich und zuverlässig«. Im September 1967 hatte Erker sich als IM »Peter Urban« verpflichtet, um über Personen an der Schule und später der Armee zu berichten. 179 Ob seine dort aktenkundig gewordene Vorliebe für »westliche Musik« Teil der Tarnung seines Überwachungsauftrages war oder seinen tatsächlichen Neigungen entsprach, ließ sich nicht herausfinden. Allerdings wurde ihm 1968 eine eindeutige Zustimmung zur Intervention in der Tschechoslowakei attestiert. Als Erker 1969 von der Armee zurückkehrte, übernahm er an der Weidaer Schule das Amt des Parteisekretärs. 1970 wurde er schließlich im Rang eines Unterleutnants in die Kreisdienststelle Gera des MfS eingestellt, wo er seit 1974 bis zu einer Rückstufung zum Hauptsachbearbeiter 1988 für 14 Jahre das Referat »Untergrund und Transitverkehr« leitete. 180 Die Rückstufung wurde damit begründet, dass er Geschenke eines »AusreiseAntragstellers« angenommen habe. Er gehört zu den drei Jüngeren der zweiten Kohorte, die zwar zum Major, aber nicht mehr zum Oberstleutnant aufstiegen. Aus Erkers Familie waren mehrere Verwandte im MfS-Apparat tätig. Sein Schwager und ein weiterer Verwandter arbeiteten in der Bezirks- bzw. Kreisdienststelle Gera, später trat auch sein Sohn in das MfS ein. Dieser arbeitete in der Zentralen Auswertungsund Informationsgruppe in Berlin, dem »Hirn« der Stasi. 181 Der Entlassungsbefehl zur »vorzeitigen Beendigung des Dienstverhältnisses« wegen »struktureller Veränderungen« datiert vom 7. Dezember 1989. 182 Bernd Plötner wurde mehrfach disziplinarisch belangt, wobei auffällt, dass der erste Verweis wegen eines Verstoßes »gegen Befehle und Weisungen« nach siebenjähriger Dienstzeit und nicht aus der Einstellungsphase datiert. Es waren demnach keine Eingewöhnungsschwierigkeiten, die zur Disziplinierung führten. Plötner wurde 1943 in Bad Klosterlausnitz bei Gera geboren. Sein Vater hatte im Zweiten Weltkrieg den Rang eines Unteroffiziers bekleidet und war 1945 in Gera kurzzeitig in amerikanische Gefangenschaft geraten. Nach 1945 trat der Treppenleitermacher erst der KPD und mit ihrer Gründung der SED bei. Seit 1948 arbeitete er auf dem Volkspolizeikreisamt in Stadtroda. Die Mutter war Arbeiterin und wechselte später in die Bezirksdirektion der Deutschen Post.
179 BStU, MfS, BV Gera, IM Reg.-Nr. X 573/67, AIM 2644/71. 180 Zu seinem Wirken u. a. im OV »Künstlergemeinschaft« vgl. die Dokumente in Morgner: Deckname »Maske« (Anm. 174), bes. S. 129–132. Nach seiner Rückstufung wurde er im OV »Larve« des Referates Wismut 1 eingesetzt. Befehl K 257/89 – Löschung einer Disziplinarstrafe v. 25.4.1989; BStU, MfS, BV Gera, KS Karl-Heinz Erker, Bl. 216. 181 Engelmann; Joestel: Die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (Anm. 65). 182 Befehl Nr. K 848/89: Vorschlag zur vorzeitigen Beendigung des Dienstverhältnisses v. 7.12.1989; BStU, MfS, BV Gera, KS Karl-Heinz Wlasak, Bl. 133 f. Darin hieß es, er werde nach dem 31.12.1989 beim Rat der Stadt Gera im Bereich Berufsberatung/Berufsbildung und Erziehung arbeiten.
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Aufgrund der Arbeitsstelle des Vaters kann der Sohn zur Dienstklasse gerechnet werden. Er legte als Einziger seiner Gruppe das Abitur ab. Danach leistete er von 1961 bis 1963 im Erfurter Motorschützenregiment den Wehrdienst ab und ließ sich zum Unteroffizier ausbilden. Das folgende Medizinstudium brach er nach kurzer Zeit ab, um Laborant und später Ingenieur für Sintertechnik zu werden. Immerhin brachte er es in den acht Jahren, in denen er im VEB Keramische Werke Hermsdorf arbeitete, trotz des noch fehlenden Ingenieurabschlusses zum Gruppenleiter. In die SED war er bereits 1961, wohl veranlasst durch den 13. August, eingetreten und übernahm anschließend Parteifunktionen im Betrieb und der Kreisleitung. Zugleich fungierte er für den Fall der militärischen Mobilisierung als Kommandeur einer Hundertschaft sowie eines »kategorisierten Objektes« im Kreis Stadtroda. 183 Darüber hinaus arbeitete er als sogenannter freiwilliger Helfer der Volkspolizei. Am 23. Dezember 1968 verpflichtete er sich als inoffizieller Mitarbeiter »Michael Prager« 184. Nachdem er mit seinem Kirchenaustritt 1971 die letzte Voraussetzung erfüllt hatte, wurde er kurz darauf als operativer Mitarbeiter für die Linie Volkswirtschaft/Keramische Werke Hermsdorf in die Kreisdienststelle Stadtroda eingestellt. Aus dem Bericht über seine Werbung ist erwähnenswert, dass er keinerlei eigene Interessen oder Vorbehalte formulierte, sondern sich ohne Zögern mit sämtlichen Forderungen der Staatssicherheit einverstanden erklärte. Zuvor hatte er sich selbstständig bei der Kreisdienststelle gemeldet und Kollegen denunziert, was zeigt, dass er sich ohne Skrupel an den Normen des Sicherheitsmilieus orientierte. Auch nach seiner Einstellung als MfS-Offizier bekleidete er politische Funktionen, seit 1974 als Mitglied der Parteileitung seiner Diensteinheit, von 1982 bis 1985 sogar als ihr Sekretär, obwohl die Kaderabteilung sein Verhalten nicht als einwandfrei ansah. 185 Auch seine Ehefrau und später sein Sohn arbeiteten im MfS-Apparat. Schon vier Jahre nach Plötners Einstellung leitete er die »Arbeitsgruppe Territorium«. 186 Seinen weiteren Aufstieg blockierte er durch disziplinarisch relevantes Fehlverhalten, das zwar Verweise, doch weder Rückstufung noch Entlassung nach sich zog. 187
183 Hier ist zu fragen, ob es sich dabei um ein/en Gebäude/-komplex handelte, der im Mobilisierungsfall als Isolierungs- oder Internierungslager dienen sollte. Auerbach: Vorbereitung auf den Tag X (Anm. 155). 184 BStU, MfS, BV Gera, IM Reg.-Nr. X 375/68, AIM 9055/71. 185 BStU, MfS, BV Gera, KS Bernd Plötner, Bl. 83 u. 103. 186 In der Kaderakte hieß es, bis 1980 habe er (im Rahmen dieser Arbeitsgruppe) den »Schwerpunktbereich Gesundheitswesen« bearbeitet. BStU, MfS, BV Gera, KS Bernd Plötner, Bl. 96. In der Arbeitsgruppe waren ihm zuerst 3 Genossen unterstellt, im Jahr 1981 mindestens 5 (ebenda, Bl. 83 u. 95). 187 Seine Entlassung 1989/90 ist nicht dokumentiert.
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3.3.2 Zusammenfassung
3.3.2.1 Herkunft Alle Offiziere der zweiten Kohorte entstammten bis auf einen dem Arbeitermilieu. Die Mütter waren entweder Hausfrauen oder Arbeiterinnen und bis auf eine parteilos. Letztere hatte als Einzige vor 1933 der Sozialistischen Arbeiterjugend angehört. Fast alle Offiziere der zweiten Kohorte waren in der frühen Kindheit von den Müttern erzogen worden. Drei waren im frühen Kindesalter aus der Tschechoslowakei vertrieben worden. Die Väter hatten den Krieg an der Front durchlebt, drei waren zum Kriegsende in westliche, zwei in sowjetische Gefangenschaft geraten. Zu ihnen existieren bis auf einen keine Angaben über ihre politische Sozialisation. Dieser eine war Postschaffner, vor 1945 NSDAP-Mitglied und nach dem Krieg parteilos. Die übrigen Väter waren Handwerker oder Arbeiter. 188 Einer, ein Treppenleitermacher, wechselte nach 1945 zur Polizei. Zu seiner Parteimitgliedschaft vor 1945 fanden sich keine Angaben. Er trat – so wie drei weitere Väter – nach 1945 der SED bei.
3.3.2.2 Bildungs- und Berufsweg Nur der Jüngste aus dieser Kohorte legte das Abitur ab, was ihm offensichtlich durch die Zugehörigkeit seines Vaters zur Dienstklasse erleichtert wurde. Da er sich den Anforderungen an ein Hochschulstudium nicht gewachsen fühlte, ließ er sich zum Fachschulingenieur ausbilden. Mit einem Landwirt, einem Industriemeister und einem Ingenieur sowie zwei Absolventen eines Instituts für Lehrerbildung ist die Zahl der Fachschulabsolventen damit in der zweiten Kohorte höher als in der ersten und dritten. Nur ein Angehöriger der zweiten Kohorte absolvierte lediglich die Achtklassenschule. Er konnte gleichwohl zwischen 1967 und 1971 ein Studium an der Juristischen Hochschule des MfS (JHS) in Potsdam durchführen. Ein weiterer studierte ohne Abitur an der Humboldt-Universität Berlin Kriminalistik. Seine Abschlussarbeit findet sich im Bestand der Hochschule des MfS (JHS). 189 Dorthin waren die vier Ältesten der Kohorte delegiert worden, während zwei zur Fachschule des MfS und alle bis auf einen Lehrgänge an der Bezirksparteischule der SED besuchten. Der 188 Zur Definition der Arbeiterklasse Niethammer, Lutz: Volkspartei Neuen Typs? Sozialbiographische Voraussetzungen der SED in der Industrieprovinz. In: PROKLA 20(1990)3, S. 42 f. 189 Zur Sektion Kriminalistik an der HUB Gieseke: Hauptamtliche (Anm. 3), S. 256; Labrenz-Weiß: Die Hauptabteilung II: Spionageabwehr (Anm. 167), S. 15. Zur Diskussion http://www.nva-forum.de/nvaboard/index.php?showtopic=11072&st=0entry255106, Zugriff am 17.11.2010.
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Jüngste aus dieser Gruppe, der zudem aus der sozialistischen Dienstklasse stammte, wurde weder delegiert noch stieg er auf. Die Rekrutierungsfelder dieser Kohorte unterscheiden sich insofern von der ersten Gruppe, als die Kandidaten nicht ausschließlich aus politischen oder militärischen Funktionen übernommen wurden. Einer hatte zuvor als Abteilungsleiter in der staatlichen Verwaltung gearbeitet, drei waren zum Zeitpunkt ihrer Einstellung als leitende Angestellte tätig (Betriebsdirektor, Gruppenleiter, Agronom); sie fungierten zudem parallel als Parteifunktionäre. Ihr Diensteintrittsalter reduzierte sich mit 25 Jahren gegenüber der ersten Kohorte um 3 Jahre. Dabei wurden bei der Berechnung des Dienstalters von der Staatssicherheit bei allen Offizieren bis auf einen auch Zeiten berücksichtigt, die vor der Verpflichtung als MfS-Offizier lagen. Bei zweien von ihnen ist aus den Akten nachzuvollziehen, dass die IM-Tätigkeit als Dienstzeit anerkannt wurde, bei vier weiteren ist dies unklar, wenn auch eine IMTätigkeit als plausibelste Erklärung naheliegt. Im Durchschnitt erreichten die Offiziere der ersten Kohorte nach bereits zwei Jahren MfS-Zugehörigkeit den ersten Offiziersgrad Unterleutnant. Die drei Jüngeren der Kohorte brachten es zum Major, die vier Älteren stiegen einen Dienstgrad höher zum Oberstleutnant auf. Die Angehörigen der zweiten Kohorte folgten denen der ersten in den 1980er Jahren sämtlich auf Führungspositionen, wo sie in der Regel bis 1989/90 verblieben.190 Die fünf älteren der sieben Offiziere erlebten 1983, ein Jahr nach Beginn des ZOV »Bühne«, einen Karrieresprung. Ursache war eine Umgruppierung innerhalb der Abteilung XX der Bezirksverwaltung Gera: Deren Leiter Henry Müller wechselte zum 1. Mai 1983 als Offizier für Sonderaufgaben zum Leiter der Bezirksverwaltung, sodass Gerald Linke ihm als Leiter der Abteilung XX nachfolgte. Da auch der Leiter der Kreisdienststelle Stadtroda, Klaus Schau, zum Offizier für Sonderaufgaben ernannt wurde, konnte Wolfgang Gerischer auf diesen Posten nachrücken. In der Geraer Kreisdienststelle führte eine zeitgleiche Umgruppierung zur Berufung von Karl-Heinz Wlasak zum Referatsleiter.
3.3.2.3 Sozialraum Fünf der sieben Offiziere heirateten mit spätestens 22 Jahren. Ihre Frauen waren in der Regel um ein Jahr jünger als sie selbst. Drei Ehefrauen arbeiteten im MfS, die anderen als Angestellte (Lehrerin, Kindergärtnerin, Laborantin), nur eine galt als Arbeiterin. Sie gehörte als einzige der Ehefrauen nicht der SED an. Alle waren mit 190 Die Zuordnung zu Führungspositionen leitet sich aus dem Begriff des »Leitungskaders« ab, wie er im Wörterbuch des MfS festgehalten wurde. Suckut (Hg.): Wörterbuch (Anm. 80), S. 234 (Artikel Leitungskader).
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weiteren MfS-Offizieren verwandt; die Zahl dieser Angehörigen schwankt zwischen zwei und sieben. Bis auf einen, der kinderlos blieb, war von ausnahmslos allen später ein Kind hauptamtlich in der Staatssicherheit tätig. Unter den insgesamt 23 Verwandten, die ebenfalls bei der Staatssicherheit beschäftigt waren, finden sich 7 Frauen, ein gutes Drittel. Auch die Mitglieder dieser Kohorte waren in Wohnquartieren angesiedelt, in denen sie mit anderen MfS-Angehörigen benachbart waren. Nur einer lebte abseits in einem Dorf bei Gera, was wohl die ansonsten offensichtliche soziale Kontrolle milderte. Neben den üblichen Sport- und Gartenbeschäftigungen finden sich in dieser Kohorte bei lediglich zwei Offizieren schöngeistige Interessen.
3.3.2.4 Politische Sozialisation Die Mitglieder der zweiten Kohorte wuchsen bereits seit dem Jugendalter atheistisch orientiert auf oder traten meist mit etwa 20 Jahren aus der Kirche aus: entweder mit dem Beginn ihrer Armeezeit, kurz vor dem Dienstantritt im Staatsapparat oder dem MfS, auch anlässlich der Aufnahme in die SED bzw. deren Jugendorganisation. In die FDJ traten mit einer Ausnahme alle mit spätestens 15 Jahren ein. Bis auf einen absolvierten sie sämtlich eine zwei- bis fünfjährige Armeezeit, obwohl für sie die Wehrpflicht noch nicht gegolten hatte. Vier von ihnen hatten sowohl vor wie während ihrer Zeit im MfS Parteifunktionen inne, wobei die Zahl der Ämter im Vergleich zur ersten Kohorte sank. Im Gegensatz zur ersten Gruppe wurden wesentlich mehr disziplinarische Verfehlungen aktenkundig, von denen die zwei Jüngsten der sieben Offiziere betroffen waren.
3.4 Die dritte Kohorte 191 Im Gegensatz zu den ersten zwei Kohorten gelang es den acht Angehörigen der dritten Kohorte, zwischen dem Kriegsende 1945 und 1953 geboren, weniger, in Leitungspositionen aufzusteigen. Sie fanden einen spezialisierten Apparat vor, der ihnen detaillierte Regularien auferlegte. 191 Sofern die Quellen nicht im Einzelnen nachgewiesen werden: Grundlage für diesen Abschnitt bilden a) die Kaderakten und/oder Kaderkarteikarten sowie Laufzettel für die Entlassung folgender Offiziere: Peter Trost, Norbert Witt, Friedrich Jahn, Dietmar Perz, Tristan Willing, Rolf Günther Jahn, Wolfgang Stephan, Helmut Klaus; b) Vorgangshefte (VGH): Peter Trost, Norbert Witt, Dietmar Perz, Rolf Günther Jahn, Helmut Klaus; c) die IM-Akten von: Norbert Witt, Dietmar Perz, Rolf Günther Jahn, Wolfgang Stephan. Weitere Quellen sind im Text angegeben.
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3.4.1 Einzeldarstellung In die Position des stellvertretenden Leiters der Abteilung XX der BV Gera gelangte im Herbst 1985 Peter Trost. Er gehörte mit Friedrich Jahn zu den beiden einzigen Mitgliedern der dritten Kohorte, der den ersten Stabsoffiziersgrad des Majors erlangte. Trost wurde nach dem Zusammenbruch 1945 als Sohn eines Elektromonteurs in Gera geboren, der bis dahin der NSDAP angehört hatte und nach 1945 parteilos war. 192 Der Vater wurde vom MfS dennoch hinsichtlich seiner Rolle bei der politischen Erziehung des Sohnes nicht nur als »loyal«, sondern »positiv« eingeschätzt. Seine Mutter war Verkäuferin und parteilos. Schon während der Schulzeit war der Sohn in der Kreisleitung der FDJ aktiv. Wie auch sein Vater schloss Peter Trost eine Lehre als Elektromonteur ab. Als Hobbys gab er den Schieß- und Kampfsport an, auch den sporadischen Besuch kultureller Veranstaltungen. Private Verbindungen halte er nur zu seinen Verwandten ersten Grades. Bevor er 1965 für 3 Jahre zum Wachregiment des MfS in Berlin ging, trat er mit 18 Jahren aus der evangelischen Kirche aus und 2 Jahre später in die SED ein. Zwischen 1965 und 1968 gehörte er während seiner 3 Jahre im Wachregiment der Parteileitung an, war Übungsleiter für das Sportschießen im Kinder- und Jugendsport, erhielt zweimal das »Bestenabzeichen der NVA« und die beeindruckende Zahl von 14 Belobigungen. 193 Vom Wachregiment wurde er in die Bezirksverwaltung Gera übernommen und 1971 zum Unterleutnant befördert. Doch bereits im Folgejahr erhielt er einen Verweis, da er gegen »Befehle und Weisungen« verstoßen habe. Im September 1972 hatte er eine Frau geheiratet, die zwar SED-Mitglied war, doch in der Familie pflegte man geschwisterliche Beziehungen nach Westdeutschland, was sich für Trost als problematisch erweisen sollte. Westkontakte in den Familien von Stasi-Offizieren galten gemeinhin als Sicherheitsrisiko. Trost hatte keine Verwandten im MfS; im Einstellungsfragebogen gab er jedoch einen MfS-Mitarbeiter als Bürgen an, mit dem er demnach vertraut gewesen sein muss. Sein Bruder und später sein Sohn wurden ebenfalls als Mitarbeiter der Staatssicherheit eingestellt. Trost war zuerst in den Abteilungen Kader und Schulung sowie Grenz- und Passkontrolle tätig, nahm zwischenzeitlich die Funktion des hauptamtlichen FDJSekretärs in der Bezirksverwaltung Gera wahr und wechselte dort 1976 zur Abteilung XX/7. Von 1983 bis 1984 war er dort mit Recherchen zu Mitgliedern der Jenaer Friedensgemeinschaft befasst und offenbar in Zuarbeiten zur Aktion »Gegenschlag« 1983 einbezogen. Mit einem Jahr Verspätung stieg er 1985 zum stellvertretenden Leiter des Referates 1 in der Abteilung XX auf. Die Verzögerung wurde damit begründet, er habe sich nicht intensiv genug auf die Methoden der »Zerset192 Nach der Nennung von dessen NSDAP-Mitgliedschaft wurde eilig hinzugefügt, er sei »nicht aktiv in Erscheinung« getreten. Einstellungsvorschlag v. 15.1.1968; BStU, MfS, BV Gera, KS Peter Trost, Bl. 23. 193 Zum Bestenabzeichen der NVA Feder, Klaus H.; Feder, Uta: Auszeichnungen im Ministerium für Staatssicherheit der DDR 1950 bis 1990. Rosenheim 1996, S. 67.
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zung« orientiert. 194 Sein Aufgabengebiet wechselte nun: vom kulturellen Bereich zu den zentralen staatlichen Organen, dem Gesundheitswesen, den Blockparteien und zur Überwachung von Geheimnisträgern und Reisekadern. Im Jahr 1986 hieß es, dass er resignativ reagiere, wenn er kritisiert werde. Dennoch war er als Referatsleiter vorgesehen. Schließlich wurde er 1988 innerhalb der Abteilung zum Leiter des Referates XX/3 berufen, wo er für die Überwachung des Leistungssports, des SV »Dynamo« und der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) zuständig war. 195 Zuvor hatte er einen 2. Lehrgang an der Bezirksparteischule besucht. Bei Trost ist ein Karrierehemmnis festzustellen, denn im Gegensatz zu den vorgenannten Offizieren stieg er erst nach 20 Jahren in eine mittlere Leitungsposition auf. Ursache waren disziplinarische Verfehlungen, die ihm wie auch 3 weiteren Offizieren seiner Kohorte vorgeworfen wurden. Am 15. Februar 1990 wurde er entlassen. 196 Norbert Witt wurde 1947 in Grimmen geboren. Zu ihm konnte zunächst keine Personalakte aufgefunden werden. In Gera fand sich nur die Kaderkarteikarte mit dem Vermerk, die Kaderakte sei vernichtet. Tatsächlich war sie jedoch nach seinem vorzeitigen Ausscheiden aus der Kreisdienststelle Gera in seinen Heimatbezirk nach Rostock geschickt worden und fand sich bei der Suche nach seiner IM-Akte in der dortigen BStU-Außenstelle. Er war der Sohn eines Eisenbahners. Im Lebenslauf schrieb Witt ausdrücklich, sein Vater habe nicht der NSDAP angehört, die Mutter sei ebenfalls parteilos. Von Kindheit an war er konfessionslos; offenbar waren die Eltern im Jahr 1955 ausgetreten. Witt ließ sich ab 1965 zum Klempner ausbilden und gehörte in den beiden Folgejahren der FDJ-Kreisleitung an. Durch die Routineüberprüfung der Schulabgänger auf Eignung für das MfS-Wachbataillon gelangte er in die Auswahl als MfS-Kader und verpflichtete sich 1967 als inoffizieller Mitarbeiter. 197 Im gleichen Jahr entschied er sich für drei Jahre zum Armeedienst an der Grenze, wo er »12 mal belobigt bzw. prämiert« wurde und die »Schützenschnur« erhielt. 198 Bei der Armee übernahm er den Posten eines VerschlusssachenSachbearbeiters, was ihn für den Dienst im MfS prädestinierte; zudem gehörte er der dortigen Parteileitung an. Im Anschluss an die Armee wurde er wiederum in einer Geheimnisträgerfunktion als Diensthabender der Abteilung Planung beim Vorsitzenden des Rates des Bezirkes in Gera angestellt. 199 Im August 1974 trat er als Sach194 Vorschlag zur Aufnahme in die Kaderreserve – Referatsleiter v. 20.5.1986; BStU, MfS, BV Gera, KS Peter Trost, Bl. 138. 195 Zur Struktur der Abteilung XX Gill; Schröter: Ministerium (Anm. 26), S. 49–53. Dem SV Dynamo gehörten 5 Offiziere der hier untersuchten Grundgesamtheit an. 196 BStU, MfS, BV Gera, Laufzettel zum Befehl K 1635/89: Peter Trost, 30.1.1990. Sein Dienstalter wurde seit 4/65 angerechnet. 197 BStU, MfS, BV Rostock, IM Reg.-Nr. I 2022/66, AIM 9977/74, Teil I/1, Bl. 30. 198 BStU, MfS, BV Gera, AIM 9977/74, Teil I/1, Bl. 113. Zur Schützenschnur Feder; Feder: Auszeichnungen (Anm. 193), S. 70 f. Sie wurde durch Befehl 49/57 des Ministers für Nationale Verteidigung erstmals im Jahr 1957 verliehen. 199 Beurteilung des IMS »Raimund«; BStU, MfS, BV Gera, AIM 9977/74, Bl. 115.
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bearbeiter in die Geraer Kreisdienststelle ein. Vier Jahre zuvor hatte er eine parteilose Frau geheiratet, die nun ebenfalls ein sicherheitspolitisch relevantes Amt beim Rat der Stadt Gera als Leiterin der Verschlusssachen-Hauptstelle innehatte. 200 Damit bewegten sich beide und auch der beim MfS als Hausmeister angestellte Vater der Frau im Sicherheitsmilieu. Im Jahr 1982 konnte Witt aus tschekistischer Sicht zwei Erfolge verbuchen, denn im März schloss er den OV »Künstlergemeinschaft« ab, im April den OV »Ball«. 201 Allerdings wurde ihm vorgeworfen, bei der Auswahl »geeigneter IM« Schwierigkeiten zu haben, sodass er ab Mitte 1983 nicht mehr als IM-führender Mitarbeiter arbeitete, sondern erst in der Observationsabteilung und kurz darauf als Kurierfahrer, was einer Rückstufung gleichkam. Als Kurierfahrer erhielt er allerdings »einen Gesamtüberblick über die Struktur der Bezirksverwaltung Gera, einschließlich der Kreisdienststellen und der OD Zeiss«. 202 Im Jahr 1987 konnte er zwar seine Ausbildung zum Fachschuljuristen beenden, doch wurde er wegen »dauernder Dienstuntauglichkeit« im Rang eines Oberleutnants nach 20 Jahren Dienstzeit entlassen. Er zog nach Stralsund, wo er eine Tätigkeit im Großhandel aufnahm. Seine Kaderakte wurde 1988 archiviert, eine inoffizielle Verpflichtung nach 1987, die sich in der Regel angeschlossen hätte, ist nicht dokumentiert. Friedrich Jahn wurde 1948 in Gera ebenfalls als Arbeiterkind geboren. Der Stiefvater wurde im gleichen Jahr SED-Mitglied, die Familie trat aus der evangelischen Kirche aus, als er zehn Jahre alt war. Der Stiefvater war während der gesamten Zeit des Zweiten Weltkriegs im Feld gewesen und hatte eine kurze Gefangenschaft in Fürstenwalde bei Berlin erlebt. Über seine Parteimitgliedschaft vor 1945 schweigen die Quellen. Als Einzige der Mütter dieser Kohorte gehörte Jahns Mutter der SED an, bereits zwei Jahre vor dem Vater war sie eingetreten. Nach der Berufsausbildung zum Dreher und dem Abitur ging Jahn 1968 für drei Jahre zur Armee, wo er an der Grenze diente. Während des Prager Frühlings engagierte er sich in einer Agitations- und Propagandagruppe der Armee, die zur 13. Grenzbrigade verlegt worden war, um dort die »an der Staatsgrenze zur ČSSR stationierten Genossen kulturell zu betreuen«. 203 Für seinen Einsatz wurde er am 200 BStU, MfS, BV Gera, Kaderkarteikarte MA-Nr. 964 der MfS-BV Gera/Abt. XX. 201 BStU, MfS, OV »Ball«, Reg.-Nr. X 525/80. Dieser OV wurde mit einem Ermittlungsverfahren mit Haft abgeschlossen. BStU, MfS, OV »Künstlergemeinschaft«, Reg.-Nr. X 166/81; BStU, MfS, BV Gera, VGH Norbert Witt. Zum OV »Künstlergemeinschaft« Morgner: Deckname »Maske« (Anm. 174), bes. S. 129–132. 202 BStU, MfS, BV Rostock, KS II 48/88, Bl. 221. Vorschlag zur Entlassung 3.11.1987. 203 BStU, MfS, BV Gera, KS Friedrich Jahn, Bl. 98. Um neben dem geforderten Freund–Feind-Bild die innere Disziplin bei den zum Teil desorientierten Soldaten zu erhalten, wurden diese Kulturgruppen stabsmäßig organisiert, wozu auch prominente DDR-Künstler verpflichtet wurden. Wenzke, Rüdiger: Die NVA und der Prager Frühling 1968. Die Rolle Ulbrichts und der DDR-Streitkräfte bei der Niederschlagung der tschechoslowakischen Reformbewegung. Berlin 1995, S. 104, 109 u. 194. Aus Sicht der Soldaten berichtete Kunze, Reiner: Die wunderbaren Jahre. 29. Aufl., Frankfurt/M. 2001, S. 93–97 (1. Aufl. 1978).
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25. Oktober 1968 mit dem »Bestenabzeichen der NVA« ausgezeichnet. 204 Er schrieb in seinem Lebenslauf, in jener Zeit um Aufnahme in die SED gebeten zu haben. Nach der Entlassung aus der NVA heiratete er eine gleichaltrige Ökonomin mit SED-Mitgliedsbuch und wurde im Juni 1971 in der Geraer Kreisdienststelle eingestellt. Sein Schwager Rolf Lorbeer, ebenfalls MfS-Offizier, war seit 1968 an der insgeheimen Prüfung seiner Eignung als künftiger Kader beteiligt gewesen. 205 Auch die Mutter hatte während einer Aussprache bestätigt, stolz auf den Sohn zu sein, »zumal er Mitarbeiter des MfS werden soll«. 206 Auf eine vorherige Eignungsprüfung als inoffizieller Mitarbeiter konnte angesichts der verwandtschaftlichen Bindungen und seines Engagements bei den Grenztruppen offenbar verzichtet werden. In der Kreisdienststelle erhielt er 1975 nach vier Jahren Zugehörigkeit den ersten Offiziersdienstgrad und stieg 1981 zum stellvertretenden Leiter des Referats Volkswirtschaft auf, eine Position, die er bis 1989 innehatte. Nach seiner Ausbildung zum Fachschuljuristen 1979 gehörte er bis 1983 der SED-Grundorganisationsleitung der Partei an und avancierte nach einer zweijährigen Weiterbildung in der Bezirksparteischule 1987 zum Sekretär der Abteilungsparteiorganisation und zum Stellvertreter Karl-Heinz Wlasaks. Seinen höchsten Dienstgrad, den des Majors, erreichte er nach 17 Jahren Zugehörigkeit zum MfS. Im Jahr 1989 erwartete er mit der Aufnahme in die Kaderreserve seinen weiteren Aufstieg zum Referatsleiter. Jahn gab als Einziger der Kohorte an, Bücher zu »gesellschaftlichen Ereignissen« zu lesen. In seinem Fall zeigte sich das einzige Mal in den hier zugezogenen Quellen ein wenn auch ritualisierter Antifaschismus. Im Zusammenhang mit dem Vorhaben, ihn in die MfSZentrale nach Berlin zu versetzen, erwies sich, dass einer seiner Onkel dem SSPolizeibataillon 311 angehört hatte, das während des Zweiten Weltkriegs u. a. bei Krakau stationiert gewesen war. 207 Jahn beteuerte, zu diesem keine Verbindungen zu pflegen. Sein Aufstieg nach Berlin scheiterte dennoch – allerdings nicht an der NS204 Zum Bestenabzeichen der NVA heißt es bei Feder; Feder: Auszeichnungen (Anm. 193), S. 67: »Das Bestenabzeichen konnte an Soldaten, Unteroffiziere und Offiziersschüler verliehen werden, die gute Leistungen in der politischen Schulung und in allen militärischen Ausbildungszweigen erreichten, ihre Schießübungen und die Normen der militärischen Körperertüchtigung mindestens mit der Note gut absolvierten, die ihnen anvertrauten Waffen und Geräte sorgsam pflegten und ständig einsatzbereit hielten sowie alle Forderungen der Dienstvorschriften vorbildlich erfüllten.« 205 Anhang zum Einstellungsvorschlag des Kandidaten Jahn, Friedrich; BStU, MfS, BV Gera, KS Friedrich Jahn, Bl. 29; Ermittlungs-Bericht v. 17.3.1971; ebenda, Bl. 280. 206 Aussprachebericht MfS-BV Gera/Abt. KuSch mit dem zur Einstellung vorgesehenen Friedrich Jahn am 15.3.1971; BStU, MfS, BV Gera, KS Friedrich Jahn, Bl. 271. 207 Ebenda, Bl. 341. Die Polizeibataillone führten bereits nach dem Einmarsch in Polen erste größere Mordaktionen durch. Das Bataillon 311 wurde Ende 1939 gebildet. Sein Heimatstandort war Jena. Am 15.10.1940 ging es bis zum 21.6.1941 vollständig zum Polen-Einsatz und war dort dem Krakauer Polizeiregiment 23 unterstellt. Seit dem 22.6.1941 war es am Überfall auf die SU beteiligt, wo es an mehreren Grenzschlachten und Erschießungen von Juden beteiligt war. 1943 wurde es aufgelöst und anderen Einheiten unterstellt. Nach den hier vorliegenden Angaben ermittelten zuerst sowjetische Behörden zwischen 1946 und 1949 gegen Angehörige des Polizeibataillons, in den 1970er Jahren dann das MfS. Klemp, Stefan: Nicht ermittelt. Polizeibataillone und die Nachkriegsjustiz – Ein Handbuch. Essen 2005, S. 21, 275 f. u. 438.
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belasteten Verwandtschaft, sondern aus familiären Gründen. Im Jahr 1989 wurde ihm attestiert, dass die ursprünglich vorhandenen kaderpolitischen Vorbehalte wegen seiner drei in Westdeutschland lebenden Onkel ausgeräumt seien, da er zu ihnen keinerlei Kontakte pflege. Eine weitere Garantie sah man in seinem Schwager, der ebenfalls in der Geraer Kreisdienststelle angestellt war. So konnte er in die Kaderreserve für den Posten des Referatsleiters in der KD Gera aufgenommen werden. Offensichtlich stabilisierte seine Verwandtschaft in der Kreisdienststelle seine Position. Zum 28. Februar 1990 wurde er mit Auflösung der Staatssicherheit entlassen. 208 Dietmar Perz wurde 1948 in Merkendorf bei Zeulenroda als Sohn einer parteilosen Arbeiterin geboren, die aus Polen vertrieben worden war. 209 Seit seinem 5. Lebensjahr wuchs er in Ronneburg auf. 210 Sein Stiefvater war dort als Bergmann im Wismut-Kombinat beschäftigt. Seit 1928 hatte dieser der KPD angehört und war 1946 der SED beigetreten, gehörte der Grubenparteileitung an und wurde ausgezeichnet als »Aktivist, Meisterhauer, Meister der Arbeit und erhielt den Vaterländischen Verdienstorden in Bronze«. 211 Perz wurde atheistisch erzogen, den Empfang westlicher Medien duldete man in der Familie nicht und der Stiefvater agitierte sogar gegen Nachbarn, die seine Einstellung nicht teilten. 212 Der Sohn wurde KfzSchlosser im gleichen Betrieb wie der Stiefvater und absolvierte ab 1967 einen dreijährigen Armeedienst bei der Luftwaffe, aus der er als Unterfeldwebel entlassen wurde. Mit 22 Jahren heiratete er 1972 eine Chemieingenieurin, die aus dem Militärmilieu stammte und ebenfalls der SED angehörte. 213 Da Perz für eine weitere Ausbildung zum Flieger als ungeeignet beurteilt wurde, kehrte er nach der Armeezeit zur Wismut zurück und ließ sich zum Ingenieur-Ökonomen ausbilden. Während der sechs Jahre des Studiums gehörte er der Leitung der SED-Betriebsparteiorganisation an, zwei Jahre lang auch als Parteigruppenorganisator. Möglicherweise, weil sich sein Wunsch, Berufsoffizier zu werden, zerschlagen hatte, ging er auf die Werbung der Staatssicherheit ein. Im Jahr 1977 wurde er als Unterleutnant in die MfS-Objektdienststelle Ronneburg eingestellt, die zur für die WismutBetriebe zuständigen Verwaltung »W« gehörte. Dieser Dienststelle hatte er bereits
208 BStU, MfS, BV Gera, Laufzettel zum Befehl K 1635/89: Friedrich Jahn. Sein Dienstalter wurde seit 1968 angerechnet. 209 Sie stammte aus Rostersdorf (poln. Trzesow)/Landkreis Glogau in Niederschlesien. Zur Problematik der Vertreibung aus Niederschlesien Brandes: Der Weg zur Vertreibung (Anm. 178), bes. S. 434–443. 210 Ermittlungsberichte über Dietmar Perz v. 16.9.1975 u. 28.11.1976; BStU, MfS, BV Gera, AIM 5291/77, Teil I/1, Bl. 17 u. 21. 211 Ermittlungsbericht über die Mutter von Dietmar Perz v. 18.9.1975; ebenda, Bl. 32. 212 Ebenda. 213 Der Vater seiner ersten Ehefrau war Offizier der NVA und beim Militärverlag der DDR angestellt sowie IM der Hauptabteilung XVIII/5. Vgl. Vorschlag zur Werbung eines Perspektivkaders v. 11.5.1976; BStU, MfS, BV Gera, AIM 5291/77, Teil I/1, Bl. 41.
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als »Perspektivkader« 214 ein Jahr lang inoffiziell zugearbeitet. 215 Als die Objektdienststelle im April 1982 geschlossen wurde, kam er als operativer Mitarbeiter in das Referat XX der Kreisdienststelle Gera, das u. a. für die Kulturinstitutionen zuständig war. Dort übernahm er kurze Zeit darauf Aufgaben im Rahmen des ZOV »Bühne«, etwa die Post- und Wohnungsüberwachungen, die Zusammenarbeit mit der Observationsabteilung und der Volkspolizei sowie die Gespräche mit dem Leiter der Puppenbühne. Im Jahr 1985 übernahm er das Führungs-IM-System »Jens-Uwe«. In dieses System war auch Erhard Oestreich, der Leiter der Puppenbühne, integriert. 216 Perz führte neben dem Teilvorgang IV des ZOV »Bühne« auch den OV »Entomologe« gegen Michael Beleites 217 und den OV »Kerze« u. a. gegen Katrin Zimmer und Frank Karbstein. 218 Während der ersten Ehe war Perz mit einer Mitarbeiterin der Abteilung Passund Meldewesen der Polizei verheiratet, in zweiter Ehe mit einer Frau, die in der Bezirksverwaltung Gera in der Bezirkskoordinierungsgruppe (BKG) angestellt war und deren Vater als Hauptamtlicher inoffizieller Mitarbeiter der Berliner Hauptabteilung XX/5 arbeitete. 219 Beide Ehefrauen gehörten der SED an, die zweite war im MfS angestellt: Perz bewegte sich bei seiner Partnerwahl demnach im Sicherheitsmilieu und umging damit mögliche Überprüfungen und Konflikte. Dennoch stieg er nicht weiter als bis zum Hauptsachbearbeiter im Dienstgrad eines Hauptmanns auf, für höhere Ämter war er nicht vorgesehen. Zum 14. Februar 1990 wurde er entlassen. 220 Tristan Willing wurde im »Jahr Eins« der DDR geboren. 221 Sein Vater war 1941 zu einem Panzerjägerbataillon der Wehrmacht eingezogen worden und 1947 als Leut214 Zum Begriff Suckut (Hg.): Wörterbuch (Anm. 80), S. 299 (Artikel Perspektivkader). Danach handelte es sich bei ihm um die im ersten Punkt erwähnten »Einstellungskandidaten, die vor allem für den politisch-operativen Dienst des MfS vorbereitet und erprobt werden«. Nachdem sich diese als IM oder GMS für den Dienst im MfS empfohlen hatten, wurden sie in den Apparat eingestellt. 215 BStU, MfS, BV Gera, IM Reg.-Nr. XVII 105/76 (IMS »Fred Lehmann«). Zur Einstellung: Einstellungsvorschlag der OD »W« Ronneburg/mit Bestätigung v. 29.11.1976; BStU, MfS, BV Gera, KS 533, Bl. 16. 216 BStU, MfS, BV Gera, VGH 1299, unpag. 217 BStU, MfS, BV Gera, IM Reg.-Nr. VIII 1072/82. Zu Michael Beleites Ders.: Untergrund. Ein Konflikt mit der Stasi in der Uran-Provinz. Berlin 1992; Lenski; Merker: Diktat (Anm. 99), S. 108–141; Veen, Hans-Joachim (Hg.): Lexikon Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur. München 2000, S. 68 f. (Ulrike Poppe: Artikel Michael Beleites). 218 BStU, MfS, BV Gera, OV, Reg.-Nr. X/96/84. Zu ihnen u. a. Haase: Kaspar kontra Mielke (Anm. 173), S. 53–81; Lenski; Merker: Diktat (Anm. 99), S. 67–96. 219 Die BKG wurde 1975 in den BV gebildet und war zuständig für die Überwachung der Antragsteller auf ständige Ausreise. Ihr entsprach auf zentraler Ebene die ZKG. Abkürzungsverzeichnis. Häufig verwendete Abkürzungen und Begriffe des Ministeriums für Staatssicherheit. 6. Aufl., Hg. BStU, Berlin 2003, S. 19 u. 97. 220 BStU, MfS, BV Gera, Laufzettel zum Befehl K 1635/89: Dietmar Perz, 9.2.90. Sein Dienstalter wurde seit 8/72 angerechnet. 221 Nach Wierling: Geboren im Jahr Eins (Anm. 5).
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nant aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Später trat er in die SED ein und fungierte lange Zeit als Kommandeur einer NVA-Einheit. Im Anschluss arbeitete er beim VEB »Jenapharm« als Ingenieur und Hauptmechaniker. Die Mutter arbeitete als Putzfrau und war parteilos. Ursprünglich hatte Tristan Willing wie sein Vater Berufsoffizier werden wollen. Da er dafür als nicht geeignet eingeschätzt wurde, nahm er das Angebot an, zum MfS zu gehen, nachdem er durch die Musterung zum Berufsoffizier in den entsprechenden Auswahlkreis gekommen war. Einer seiner weiteren Verwandten arbeitete bei der Staatssicherheit, er selbst war mit dem Sohn eines MfS-Offiziers befreundet. Nach der Berufsausbildung mit Abitur zum Vorfertigungsmechaniker im VEB »Carl Zeiss« trat er 1969 mit 20 Jahren in die SED ein, diente für zwei Jahre als Soldat in der Wacheinheit der Bezirksverwaltung Gera und wechselte danach zur Abteilung XX zuerst auf das Gebiet der Kirchenüberwachung. Im Jahr 1977 wurde er – vergleichsweise spät, sieben Jahre nach seinem MfS-Eintritt – zum Unterleutnant und damit zum Offizier ernannt. Ab 1980 wurde er in dem für Medien und Kultur zuständigen Referat 7 eingesetzt, wo ihm u. a. die Überwachung von wehrunwilligen Jugendlichen insbesondere im Geraer Haus der Kultur oblag. Dort baute er Einfluss- und Informanten-Netzwerke auf. Trotz einer 1982 erfolgten Rückstufung stieg er drei Jahre später zum stellvertretenden Referatsleiter XX/2 auf. 1987 schied er aus dem MfS aus. Im Gegensatz zu Tristan Willing blieb der 1950 geborene Rolf-Günther Jahn dauerhaft im Referat 7 der Abteilung XX der BV Gera angestellt. Er wurde in Pößneck als Sohn eines Glasers und Zimmermanns geboren. Dieser hatte sich freiwillig zum Reichsarbeitsdienst gemeldet, war als Gefreiter im Wehrmachtseinsatz gewesen und kehrte Weihnachten 1946 aus französischer Gefangenschaft zurück. Unter den Vätern der dritten Kohorte blieb er, wie nur noch der Vater von Peter Trost, als Einziger parteilos. Die Mutter Jahns arbeitete, ebenfalls parteilos, als Sekretärin im Rat des Kreises. Rolf-Günther Jahn erlangte nach einer Lehre als Drehautomateneinrichter auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur. Nachdem er in den Jahren 1967/68 den Grundwehrdienst geleistet hatte, arbeitete er kurz in seinem Beruf, wo er nach seinem Kirchenaustritt 1972/73 sowohl als hauptamtlicher FDJ-Sekretär als auch als Sekretär der Abteilungsparteiorganisation (APO) im VEB »Carl Zeiss« Jena fungierte. Obwohl keiner seiner Verwandten im Stasi-Apparat arbeitete, erklärte er bereits 1971 mit 21 Jahren sein schriftliches Einverständnis zum Eintritt in das MfS. Zwei Jahre später verpflichtete er sich 1973 als inoffizieller Mitarbeiter und begann ein Studium als Ingenieur für den wissenschaftlichen Gerätebau, was er jedoch abbrach, als er 1974 mit 24 Jahren in die Bezirksverwaltung Gera eingestellt wurde. 222 Kurz darauf heiratete er eine Lehrerin, die dann auch der SED beitrat. 222 Abschlussbericht IMK-Vorlauf X/32/74 v. 2.12.1974; BStU, MfS, BV Gera, AIM 923/75, Bl. 36.
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Er begann ebenfalls im Referat 7 der Abteilung XX zu arbeiten, das bei seiner Anstellung erst seit fünf Jahren existierte und an dessen Ausbau er unter der Leitung Wirkners beteiligt war. Nach drei Jahren hatte er den ersten Offiziersdienstgrad erreicht. Seine wichtigste Aufgabe wurde bis 1977 der Aufbau eines Führungs-IMSystems insbesondere gegen Zeitungen, Verlage und Druckereien sowie gegen Journalisten und Bildende Künstler, 1979 kontrollierte er bereits zwei Führungs-IMSysteme. 1976 bildete er sich zum Kernstrahlungs- und kampfstoffchemischen Aufklärer (KC-Aufklärer) weiter und verantwortete seitdem auch die Ausbildung in der Abteilung XX/7 für diesen Bereich. 223 Jahn stieg 1982 zum Stellvertreter des Referatsleiters Hubert Wirkner auf. 224 Durch die Mitarbeit an den Operativen Vorgängen »Puppe« 225 und »Exponent« 226 war er in die Vorgangsgruppe von Oberstleutnant Günter Horn einbezogen. Während er weiterhin Presse und Kunst überwachte und im OV »Exponent« mitwirkte, verlagerte sich sein Schwerpunkt auf den ZOV »Bühne«. Seine auf März 1984 datierte Abschlussarbeit der Juristischen Hochschule trug den Titel: »Die Realisierung der Einheit vom Erkennen feindlicher Ziele und Absichten der politischideologischen Diversion und der offensiven vorbeugenden Verhinderung ihrer gesellschaftsschädigenden Auswirkungen durch den Einsatz von IME-Schlüsselpositionen 227 im Prozeß der politisch-operativen Sicherung und Durchdringung des Bereiches Literaten/Texter im Bezirk Gera«. 228 Seit 1984 leitete er auf der Grundlage seiner Erfahrungen mit dem ZOV »Bühne« die Offiziere der Kreisdienststelle Greiz an, damit diese beispielsweise im Operativen Vorgang »Ring« effektiver gegen den dort ansässigen Künstler Günter Ullmann
223 Zur KC-Aufklärung: GM Robert Mühlpforte (HA KuSch, Leiter): Anweisung für den Erwerb des Befähigungsnachweises als Kernstrahlungs- und kampfstoffchemischer Aufklärer (KC-Aufklärer) im MfS v. 1.9.1971; BStU, MfS, BdL-Dok. Nr. 3553. Zum Zusammenhang von Markierungsmitteln gegen Regimegegner, die z. T. hochtoxisch waren, und KC-Aufklärung Schmole, Angela: Abteilung 26. Telefonkontrolle, Abhörmaßnahmen und Videoüberwachung (MfS-Handbuch). Hg. BStU. Berlin 2008, S. 9; Macrakis: Die Stasi-Geheimnisse (Anm. 79), S. 407–412. Zur Funktion im Mobilisierungsfall vgl. Auerbach: Vorbereitung auf den Tag X (Anm. 155), S. 92. 224 Günter Horn war der Vorgänger von Henry Müller als Leiter der Abteilung XX in der BV Gera. 225 Zum OV »Puppe« vgl. Morgner: Deckname »Maske« (Anm. 174), S. 115 f. Vgl. Matthias Braun in diesem Band. 226 Zum OV »Exponent« Offner, Hannelore: Überwachung, Kontrolle, Manipulation. In: Dies.; Schroeder, Klaus (Hg.): Eingegrenzt – Ausgegrenzt. Bildende Kunst und Parteiherrschaft in der DDR 1961–1989. Berlin 2000, S. 240 f. [OV »Exponent« = BStU, MfS, BV Gera, AOV 32/84]. 227 IME waren Inoffizielle Mitarbeiter für einen besonderen Einsatz. Dabei unterschied das MfS zwischen IM in Schlüsselpositionen (wie dem Direktor der Puppenbühne Erhard Oestreich) und Experten-IM, die wie beispielsweise der oben genannte Dozent der FSU Werner Kahle, geführt seit 25.1.1977 bis 1989 von Hubert Wirkner als IME »Fritz Weiss« Reg.-Nr. 432/75, Gutachten über die literarische, besser politische Qualität von Lyrik und Prosa lieferten. BStU, MfS, BV Gera, VGH Hubert Wirkner. Zum Begriff Suckut: Wörterbuch (Anm. 80), S. 197 f. (Artikel Inoffizieller Mitarbeiter für einen besonderen Einsatz) u. S. 345 (Artikel Schlüsselposition, inoffizielle). 228 VVS o001– 278/84; BStU, MfS, JHS 20133.
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arbeiteten. 229 Kurz zuvor hatte er nach dem Abschluss seines Studiums an der Juristischen Hochschule den Bereich des Hauses der Kultur in Gera übernommen, wo ihm aufgetragen war, die Auftritte der Künstler im Zusammenwirken mit den dort angestellten Kulturfunktionären zu kontrollieren und in die gewünschte Richtung zu lenken. Die Mitwirkung von Kulturfunktionären an MfS-Maßnahmen wurde seinem Engagement zugerechnet. 230 Die hier angewandte Vorgehensweise hatte er in seiner Abschlussarbeit an der Juristischen Hochschule bereits beschrieben, sie gründete sich – seinen Angaben zufolge – auf seinen eigenen Erfahrungen und denen von Henry Müller, Hubert Wirkner, Peter Trost und dem Mitglied der Zentralen Parteileitung des MfS Gera, Hauptmann Stiller. 231 War der Referatsleiter Hubert Wirkner später abwesend, vertrat Rolf-Günther Jahn ihn. Im Jahr 1987 wurde er allerdings zum Hauptsachbearbeiter zurückgestuft, sein Aufstieg endete mit dem Dienstgrad eines Hauptmanns. Die letzte Eintragung in seiner Kaderakte gibt an, dass er Hauptsachbearbeiter geblieben ist. Er wurde zum 28. Februar 1990 entlassen. 232 Wolfgang Stephan wurde 1950 als Sohn eines Sicherheitsinspektors in Gera geboren, der als Soldat in der Wehrmacht gedient und 1944 in Paris gefangen genommen worden war. Nach 1945 trat der Vater in die SED ein, die Mutter und Hausfrau blieb wie auch fast alle Mütter der Gruppe ohne Parteimitgliedschaft. Der Vater arbeitete zwar als Sicherheitsinspektor, MfS-Angehörige gab es im engeren Familienkreis jedoch nicht. Kirchliche Bindungen waren nicht vorhanden. Seit seinem 7. Lebensjahr gehörte er dem Deutschen Turn- und Sportbund an, und auch später blieb seine enge Beziehung zum Sport erhalten. Wolfgang Stephan absolvierte nach der Berufsausbildung mit Abitur zum Dreher als Einziger dieser Gruppe ein Studium, das er an der FSU Jena als Diplomphysiker abschloss. Ab 1972 gehörte er dort für zwei Jahre der Abteilungsorganisationsleitung der FDJ an. Als Alternative zu 229 Zu Günter Ullmann existiert noch keine Biografie. Anlässlich seines Ablebens erschienen 2009 zahlreiche Nachrufe, am wichtigsten der im Geest-Verlag veröffentlichte, der die Bücher Ullmanns verlegt hat. Die Süddeutsche Zeitung hatte am 19.10.2006 einen biografischen Artikel über Günter Ullmann unter dem Titel veröffentlicht: »Ich weiß nicht, ob ich die DDR länger überstanden hätte.« http://www.sueddeutsche.de/kultur/biographie-guenter-ullmann-ich-weiss-nicht-ob-ich-die-ddr-laengerueberstanden-haette-1.893633-3, Zugriff am 19.11.2010. Im Jahr 2007 führte Madeleine Göhring ein biografisches Interview mit ihm, es ist ausschnittweise publiziert in: Arp, Agnés; Leo, Annette: Mein Land verschwand so schnell ... 16 Lebensgeschichten und die Wende 1989/90. Erfurt 2009, S. 87–97. Es ist im Original im ThürAZ nachzuhören (ZeZe-U-01). 230 Einschätzung v. 12.4.1983; BStU, MfS, BV Gera, KS Rolf Jahn, Bl. 70. 231 Seine Abschlussarbeit titelte: »Die Realisierung der Einheit von Erkennen feindlicher Ziele und Absichten der politisch-ideologischen Diversion und der offensiven vorbeugenden Verhinderung ihrer gesellschaftsschädigenden Auswirkungen durch den Einsatz von IME-Schlüsselpositionen im Prozeß der politischoperativen Sicherung und Durchdringung des Bereiches Literaten/Texter im Bezirk Gera.« VVS JHS o001– 278/84; BStU, MfS, JHS 20133. Der Nachweis für die oben genannten Offiziere: Ebenda, Bl. 82. 232 BStU, MfS, BV Gera, Laufzettel laut Befehl K 1635/89: Rolf Jahn, 26.1.90. Sein Dienstalter wurde seit 1/73 angerechnet.
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einer Universitätskarriere arbeitete er 1973 bis 1975 im VEB »Keramische Werke Hermsdorf« (KWH). Im Jahr 1974 verpflichtete er sich als IMS »Heinz Freitag« 233, wurde Leiter der Kontrollgruppen der FDJ in seinem Betrieb und trat schließlich im November 1975 als Sachbearbeiter der Linie Volkswirtschaft in die Kreisdienststelle Stadtroda des MfS ein. Dort wurde ihm sofort der erste Offiziersdienstgrad zuerkannt. Als operativer Mitarbeiter war er für die Überwachung seines ehemaligen Betriebs, des VEB »Keramische Werke Hermsdorf«, insbesondere der Mikroelektronik-Vorhaben, zuständig. Zwei Merkmale unterschieden ihn von seinen Altersgenossen. Er trat erst 1976 in die SED ein; in den Jahren 1974 und 1975 besuchte er die Betriebsschule für Marxismus-Leninismus. Zweitens konnte er bis auf die schulischen Pflichtübungen keine mit seinen Kollegen vergleichbare militärische Sozialisation nachweisen, denn einen Armeedienst leistete er nicht ab. Zweimal wurde er jedoch mit dem Kampfsportabzeichen der höchsten Klasse ausgezeichnet. 234 Dieser sportlichen Freizeitbeschäftigung ging er intensiv nach. Von 1978 bis 1984 gehörte Stephan dem Stabsdienst der Kreisdienststelle Stadtroda an. Im letzten Jahr vor seiner Entlassung 1984 war er zudem Sekretär der SEDAbteilungsorganisation in der Kreisdienststelle, beurteilte demnach auch Kollegen und konnte sie bei Verfehlungen zur Rechenschaft ziehen. Helmut Klaus wurde 1953 in Sankt Gangloff/Thüringen als Sohn einer Umsiedlerin geboren. Gegen sie legte die MfS-Spionageabwehr eine Beobachtungsakte an, die jedoch ergebnislos geschlossen wurde, sodass der Sohn 1972 als Wachposten in die Bezirksverwaltung Gera eingestellt werden konnte. Auch drei weitere Familienangehörige traten in den MfS-Apparat ein. Die Mutter heiratete einen Mann, der verstarb, als Helmut Klaus acht Jahre alt war. Der Vater war Mitglied der SED gewesen, und laut den Einschätzungen in der Kaderakte soll die parteilose Mutter die politische konforme Erziehung der Kinder entsprechend weitergeführt haben. Nach seiner Lehre als Instandhaltungsmechaniker in eben jenem VEB »Halbmond«, der auch schon Arbeitgeber der Eltern war, trat er mit 19 Jahren der Partei bei. Zuvor hatte er seit seinem Eintritt als 14-Jähriger in der FDJ-Leitung mitgewirkt. Während seiner Zeit als Angehöriger des Wachdienstes der Geraer MfSBezirksverwaltung heiratete er seine Frau, die bei der Armee angestellt, aber parteilos war. Nach der Zeit im Wachdienst wurde er 1976 in die Kreisdienststelle Stadtroda versetzt, wo er im Überwachungsbereich Jugend und Volksbildung eingesetzt und im Folgejahr 1977 zum Offizier mit dem Dienstgrad Unterleutnant befördert wurde. 1981 wechselte er zur Überwachung von Kirche und »politischer Untergrundtä-
233 BStU, MfS, BV Gera, AIM 13687/75. 234 BStU, MfS, BV Gera, KS II 319/84, Bl. 255. Zum Kampfsportabzeichen Feder; Feder: Auszeichnungen (Anm. 193), S. 58–60.
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tigkeit«, wo er am ZOV »Kreis« 235 gegen Protagonisten der Friedensbewegung und am ZOV »Bühne« gemeinsam mit Bernd Plötner gegen das Duo »Görnandt & Rönnefarth« arbeitete. Auf diesen Arbeitsfeldern vollzog sich sein Aufstieg. Im Jahr 1984 schrieb er seine Abschlussarbeit an der Juristischen Hochschule des MfS über die Herstellung von »Vertrauensbeziehungen« zum Zweck der Einschleusung von inoffiziellen Mitarbeitern in oppositionelle Gruppen. 236 Für die Intrige gegen einen Pfarrer im Rahmen des ZOV »Kreis« erhielt er als Einziger seiner Kohorte 1986 den selten verliehenen »Kampforden in Bronze« und wurde im Jahr darauf erst Referatsleiter für das Aufgabengebiet Volkswirtschaft und kurz darauf stellvertretender Kreisdienststellenleiter. 237 Gleichzeitig ließ er sich vom Posten des Parteisekretärs, den er seit 1984 innehatte, entbinden. 238 Er blieb mit Friedrich Jahn der Einzige dieser Kohorte, gegen den nicht eine Disziplinarstrafe aktenkundig wurde. Noch 1989 stieg er weiter auf, als er zu Beginn des Jahres als stellvertretender Kaderleiter in die Bezirksverwaltung Gera wechselte. Im Folgejahr schlug er die Abschlussprämien u. a. für seine ehemaligen Kollegen der Kreisdienststelle Stadtroda vor und unterzeichnete als stellvertretender Leiter der Abteilung Kader und Schulung des Bezirksamtes für Nationale Sicherheit die entsprechenden Dokumente. 239 Zum 5. Februar 1990 wurde er entlassen. 240
3.4.2 Zusammenfassung
3.4.2.1 Herkunft Die Angehörigen der dritten Kohorte wurden zwischen 1945 und 1953 in Thüringen geboren. Die Väter der acht Offiziere dieser dritten Kohorte waren bis auf einen 235 Zum ZOV »Kreis« BStU, MfS, BV Gera, Reg.-Nr. X 1323/82; vgl. vorn. Der ZOV »Kreis« wurde erst im Juli 1989 abgeschlossen. 236 BStU, MfS, JHS, MF VVS o001-293/84, JHS 20146: »Die Herausarbeitung von Ansatzpunkten und die Herstellung von vertraulichen Beziehungen als eine wesentliche Voraussetzung der Einführung von IM in die Bearbeitung – insbesondere von Kräften des Vorfeldes politischer Untergrundtätigkeit – in Operativen Vorgängen.« 237 Zu dieser Intrige näher Schilling, Walter: Die »Bearbeitung« der Landeskirche Thüringen durch das MfS. In: Vollnhals, Clemens (Hg.): Die Kirchenpolitik von SED und Staatssicherheit. Eine Zwischenbilanz. Berlin 1996, S. 247 ff. Der Vergleich über die Häufigkeit der Auszeichnung entstammt der statistischen Auswertung der drei Kohorten der hier untersuchten Grundgesamtheit. BStU, MfS, BV Gera, KS Helmut Klaus, Bl. 4: Zum stellv. KD-Leiter stieg Klaus am 1.11.1988 auf. 238 Diesen Posten übernahm Wolfgang Stephan. Vgl. vorn. 239 Z. B. Entlassungsvorschlag v. 11.12.1989; BStU, MfS, BV Gera, KS Bernd Plötner. 240 BStU, MfS, BV Gera, Laufzettel zum Befehl K 1635/89: Hauptmann Helmut Klaus, 16.1.1990. Sein Dienstalter wurde auf dem Laufzettel nicht vermerkt.
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Sicherheitsinspektor und einen Ingenieur Arbeiter. Bei drei Vätern sind keine Angaben zu Militär/Wehrmacht und Gefangenschaft zu finden, die übrigen fünf waren nach dem Krieg in Gefangenschaft geraten. Bis auf zwei gehörten sie wie auch die Väter der zweiten Kohorte der SED an, für die Zeit vor 1945 findet sich bei nur einem der Vermerk über eine Parteimitgliedschaft, in diesem Fall der NSDAP. Das bedeutet jedoch nicht, dass die anderen Väter in dieser Hinsicht unbelastet gewesen wären, sondern nur, dass bislang keine entsprechenden Quellen aufgefunden wurden. Das trifft auch auf die Mütter zu. Diese waren Arbeiterinnen oder Hausfrauen, zwei waren Sekretärinnen und blieben bis auf eine parteilos. Bei dieser, einer Witwe, fällt ein relativ früher Eintritt in die Partei auf. Zwei der Mütter waren Vertriebene, hatten ihren ersten Ehemann verloren und in zweiter Ehe einen alteingesessenen Mann mit Parteibuch geheiratet. Einer dieser Ersatzväter starb, als der Sohn noch halbwüchsig war.
3.4.2.2 Bildungs- und Berufsweg Mit einer Ausnahme war der Abschluss der zehnten Klasse in dieser Kohorte die Regel. Im Unterschied zu den ersten beiden Kohorten legten fünf und damit über die Hälfte der Gruppe auf dem ersten oder zweiten Bildungsweg das (Teil-)Abitur ab. Die damit verbundenen weiteren Bildungsmöglichkeiten nutzte allerdings nur einer. Alle schlossen eine Lehre ab, ein Viertel eine Fachschule, doch nur ein Einziger hatte eine Hochschulausbildung vorzuweisen. 241 Die acht Offiziere der dritten Kohorte brachten zwar insgesamt eine längere Berufserfahrung mit als ihre älteren Kollegen, sie lag im Durchschnitt jedoch immer noch unter fünf Jahren. Ihre Sekundärsozialisation hatte überwiegend nicht im zivilen Berufsleben, sondern beim Militär stattgefunden. Bis auf zwei gingen alle Mitglieder dieser Kohorte für drei Jahre zur Armee, davon zwei zu den Grenztruppen. Drei waren im Anschluss an die Berufsausbildung drei Jahre lang im Wachdienst der Staatssicherheit eingesetzt und wurden entweder hierfür oder im Anschluss als Berufssoldaten in das MfS eingestellt. Damit macht sich ein Unterschied zu den ersten beiden Kohorten bemerkbar. Bei diesen hatte die Wehrpflicht noch nicht bestanden; auch hatte nur einer aus der ersten Kohorte und nur für drei Monate Wachdienst geleistet. In der dritten Kohorte sind es dagegen gleich drei Anwärter, die sich für jeweils drei Jahre für diesen Dienst verpflichtet hatten; sie wurden somit aus einer Art Warteposition und ohne Berufserfahrung eingestellt. Die militärischen Qualifikationen waren hier ausgeprägter und differen-
241 Zur Bildungsoffensive im MfS Gieseke: Hauptamtliche Mitarbeiter (Anm. 3), S. 250–261.
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zierter als in den vorangegangenen Kohorten. 242 Zwei von ihnen hatten ursprünglich Berufssoldaten in der Armee werden wollen, was sich aus gesundheitlichen Gründen zerschlagen hatte. Alle waren zwischen 1969 und 1975 mit durchschnittlich 23 Jahren eingestellt worden, nachdem sie sich zuvor durch Armeedienst oder inoffizielle Mitarbeit empfohlen hatten. Insgesamt hatten sich vier der acht Bewerber als inoffizielle Mitarbeiter verpflichtet. Die Angehörigen dieser Kohorte durchliefen die inzwischen üblichen formalisierten Stasi-internen Ausbildungsgänge. Im Gegensatz zu den beiden ersten Kohorten belegten alle Offiziere den Einführungs- und den Grundlagenlehrgang, drei von ihnen studierten an der MfS-eigenen Juristischen Hochschule in Potsdam. Der jüngste und der älteste Offizier gelangten in die höchsten Positionen: Peter Trost stieg 1985 zum stellvertretenden Leiter des Referates XX/1 in der Bezirksverwaltung auf, Helmut Klaus eben dort zum stellvertretenden Leiter der Abteilung Kader und Schulung. Im Ministerbefehl von 1981 hieß es, dass die Leiter der Diensteinheiten festzulegen hätten, welche Angehörigen ihrer Einheit ständig Uniform zu tragen hätten. 243 Das eröffnete den Vorgesetzten einen breiten Disziplinierungsrahmen. Problematisch erwies sich dies für diejenigen, deren Beförderung sich verzögerte: Das Disziplinargeschehen war in der dritten Kohorte erheblich. 244 Drei der Kohortenmitglieder wurden vorfristig entlassen; insgesamt belangte man sogar sechs der acht Offiziere. Die Quote der Disziplinierten steigt von einem Fünftel in der ersten über ein Drittel in der zweiten auf drei Viertel in der dritten Kohorte. In keinem Fall handelte es sich um politische oder ideologische Differenzen, sondern überwiegend um dienstliches oder privates Fehlverhalten, das vor allem deshalb sanktioniert wurde, weil es außerhalb der Dienststelle aufzufallen drohte. Die zwei Offiziere, denen niemals Verfehlungen angelastet wurden, konnten offenbar die Ordnungsansprüche unproblematisch integrieren, sodass sie auch im Privatbereich die geforderten Normen und Abgrenzungsmuster erfüllten. War es die hier ausgeprägte Kultur der Parallelgesellschaft, die es ihnen erleichterte, innerhalb der engen Denkmuster und begrenzten Sozialkontakte zu leben? Beide hatten bis auf die Berufsausbildung keine Erfahrungen im Erwerbsalltag außerhalb der Staatssicherheit gesammelt, beide waren im
242 Sie erstreckten sich vom militärischen Sprengen über Sprechfunk, Funkmesstechnik, Flugsicherung und Fallschirmspringerausbildung bis hin zur Weiterbildung als Kernstrahlungs- und kampfstoffchemischer (KC) Aufklärer. Zur KC-Aufklärung: GM Robert Mühlpforte (HA KuSch, Leiter): Anweisung für den Erwerb des Befähigungsnachweises als Kernstrahlungs- und chemischer Aufklärer (KC-Aufklärer) im MfS v. 1.9.1971; BStU, MfS, BdL/Dok. Nr. 3553. 243 BStU, MfS, BV Erfurt, Abt. XIV 549 (Befehl 9/81), Bl. 3. 244 Die Zeitspanne zwischen der Einstellung und dem Erreichen des ersten Offiziersgrades variiert hier zwischen 0 und 7,5 Jahren. In der ersten Kohorte wurde der erste Offiziersgrad mit der Einstellung bei 60 % der Kandidaten verliehen, in der zweiten bei 14,2 %, in der dritten bei 12,5 %. Die Dienstgradabstufungen waren im Statut des MfS festgelegt. BStU, MfS, SdM 1574, Bl. 1 f., abgedruckt in: Engelmann; Joestel (Bearb.): Grundsatzdokumente (Anm. 65), S. 61–63, hier 62.
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MfS-Apparat, zum Teil sogar in der gleichen Dienststelle, verwandtschaftlich vernetzt.
3.4.2.3 Sozialraum Zwei der acht Gruppenmitglieder waren nicht mit anderen hauptamtlichen MfSMitarbeitern verwandt. Mit insgesamt elf Angehörigen findet sich in dieser Kohorte die niedrigste Verwandtenquote. In der dritten Kohorte sank damit der Anteil verwandtschaftlicher Verflechtungen im Vergleich zu den ersten beiden Kohorten auf drei Viertel. 245 Diese Quote wäre mit zunehmendem Alter der Offiziere allerdings gestiegen, da insbesondere die Söhne in der Regel als Bewerber rekrutiert wurden. Sie ist deshalb als vorläufig zu bezeichnen. Dabei lohnt sich noch einmal ein Blick auf die Art der verwandtschaftlichen Beziehungen. So fiel die Zahl der mit dem Apparat verbundenen Ehefrauen geringfügig niedriger als in den älteren Kohorten aus. Nur drei arbeiteten selbst im Apparat; dafür hatten mindestens vier Offiziere über die Ehefrau Verwandte (Schwiegervater, Schwager) im Apparat. 246 Im Hinblick auf die SED-Mitgliedschaft der Ehefrauen fällt auf, dass bei den Scheidungsfällen die erste Frau parteilos gewesen war, die nächste Partnerin jedoch Parteimitglied. Die Ehefrauen der Erst-Ehen in der dritten Kohorte waren insgesamt zur Hälfte parteigebunden. Berücksichtigt man die ZweitEhen, steigt die Quote auf knapp 90 Prozent.
3.4.2.4 Politische Sozialisation Drei Angehörige der dritten Kohorte waren ohne kirchliche Bindung aufgewachsen. Zwei Kirchenaustritte datieren aus dem Kindesalter. Einer gab die Mitgliedschaft in der evangelischen Kirche an, ein Austritt ist nicht dokumentiert. Die beiden übrigen traten im Alter von 19 bzw. 21 Jahren aus. Alle wurden mit 14 Jahren FDJMitglied, gut die Hälfte übernahm dort Funktionen. In der dritten Kohorte liegt die Quote der Mitarbeiter mit FDJ-Funktionen somit deutlich höher als in der zweiten. Bis auf einen wurden die Offiziere vor dem 21. Lebensjahr in die SED aufgenommen. Die Einbindung in Parteifunktionen liegt in der dritten Kohorte deutlich niedriger (50 %) als in den ersten beiden Kohorten (75 % bzw. 83 %), da Parteifunk245 Die Rate liegt wesentlich höher als bei Gieseke angegeben, der über den errechneten Prozentsatz von 47,3 % hinaus ebenfalls einen höheren Grad vermutete. Ders.: Hauptamtliche Mitarbeiter (Anm. 3), S. 335. Dort ist in Tabelle 30 ein Prozentsatz von insgesamt 52,7 % ohne verwandtschaftliche Bindung im MfS angegeben. 246 Auch Klaus war mit einer Frau im MfS verwandt; das Verwandtschaftsverhältnis ist unklar.
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tionen im MfS überwiegend von höherrangigen Offizieren bekleidet wurden. In den ersten beiden Kohorten sind überdies mehrere Kreisdienststellenleiter zu finden, die durch ihre Funktion automatisch in die jeweiligen territorialen SED-Kreisleitungen kooptiert wurden. Mit der Koppelung von dienstlichen und Parteifunktionen erweiterten sich so deren Handlungsmöglichkeiten.
3.5 Vergleich der drei Kohorten Die fünf Offiziere der ersten Kohorte, zwischen 1927 und 1934 geboren, wurden in ihrer Kindheit und Jugend von der NS-Zeit, von Krieg und Vertreibung geprägt, sie waren zeitweise oder gänzlich ohne die Väter aufgewachsen. Der Älteste war durch seine Mitgliedschaft beim RAD militärisch sozialisiert worden. Er hatte in der Wehrmacht noch im letzten Kriegsjahr gekämpft, eine kurze Gefangenschaft erlebt und war danach über die FDJ zum MfS gekommen. Zwei erlebten im Jungerwachsenenalter die Vertreibung, einer der Väter starb in der Gefangenschaft, der Verbleib des anderen ist unklar. Der Dritte wurde, nachdem der Vater an der Front umgekommen war, mit neun Jahren von einem Stiefvater adoptiert, die Eltern des Nächsten trennten sich, als er zur Schule kam. Der Jüngste wurde mit zehn Jahren ausgebombt, der Vater, ehemals KPD-Mitglied, kam schwerverletzt aus dem Krieg zurück und wurde 1954 inhaftiert. Neben der Abwesenheit der Väter gingen den Söhnen somit durch den Krieg die ohnehin begrenzten materiellen Ressourcen dieser Arbeiterfamilien zunehmend verloren, wie auch das kulturelle Kapital reduziert wurde. Umso stärkeres Gewicht kam den Mitgliedschaften in Jugendorganisationen zu, der militärischen Erziehung und nicht zuletzt den regelmäßigen Schulungen, die sie als Partei- und FDJ-Funktionäre erhielten. Die Angehörigen dieser ersten Kohorte wurden in ihrer Jugend von Kriegspropaganda, Jungvolk, Hitlerjugend und Volkssturm geprägt und wurden dadurch an das Denken in militärischen Kategorien gewöhnt. Nach 1945 wechselten sie ihre vormaligen Feindbilder aus, Denkstrukturen und Sprache blieben jedoch ähnlich: Der Krieg war weiterhin in ihren Köpfen präsent. Besonders deutlich zeigt sich das bei dem Ältesten der Kohorte. Nach seiner kurzen HJ- und Wehrmachtskarriere arbeitete er von 1949 bis 1957 als hauptamtlicher FDJ-Sekretär, davon ein halbes Jahr als Instrukteur für Westdeutschland, was ein Denken in den Kategorien des Kalten Krieges und der Geheimhaltung erforderte. Nach dem Verständnis der Staatssicherheit brachte er als FDJ-Sekretär für Agitation und Propaganda die besten Voraussetzungen für die Überwachung des Kulturbereiches mit. Mit seinem Eintritt in das MfS änderten sich für ihn lediglich Dienstverfassung und Grad der Geheimhaltung,
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die Voraussetzungen brachte er mit und nutzte sie. 247 Auch die anderen Mitglieder der Kohorte waren über politische oder militärische Funktionen zum MfS gekommen, wobei bei einigen die Tätigkeit als inoffizieller Mitarbeiter hinzukam. 248 Die Mitglieder der ersten Kohorte erfüllten mit den hier geschilderten Voraussetzungen lediglich den am unklarsten formulierten Passus der ersten MfSKaderrichtlinie, nämlich »aktiv am demokratischen Aufbau Deutschlands teilgenommen« zu haben. 249 Diesen Anforderungen genügten sie durch freiwilligen und ausgedehnten Militärdienst sowie politische Funktionen und Spitzeldienste. Damit ist auch angedeutet, dass sie den Antifaschismus adaptierten, indem sie sich den Älteren anpassten. Tatsächlich spielte dieser bei der Kaderauswahl jedoch eine untergeordnete Rolle. Dagegen traten Anforderungen wie Verlässlichkeit und Geheimhaltung sowie Anpassungsbereitschaft und operative Erfolge in den Vordergrund. Sie konnten den erlernten »exekutiven Aktionismus« 250 ihrer Jugend fortführen. Das Angebot, ein antifaschistisches Gewand anzulegen, ersparte ihnen ein vertieftes Nachdenken über sich selbst und das Handeln ihrer Väter. Das deckt sich mit Lutz Niethammers Charakterisierung der HJ/FDJ-Generation, deren Angehörige an ihrem »früh erlernten Aktionismus nichts ändern« mussten, »sie hatten sich nur den antifaschistisch beglaubigten ›Alten Genossen‹ zu unterstellen, und dazu befähigte sie die Sicherheit des ›wissenschaftlichen Sozialismus‹.« 251 Sämtliche Offiziere der ersten Kohorte hatten im Apparat Verwandte, im Durchschnitt waren es drei Familienmitglieder. Es lässt sich demnach konstatieren, dass die familiären Verflechtungen im MfS-Apparat bei der hier betrachteten Gruppe weit überdurchschnittlich waren. 252 Berücksichtigt man, dass bei der folgenden Alterskohorte zusätzlich auch noch die Kinder in den Sicherheitsapparat eintraten, ist – ungeachtet der hier vorliegenden geringen Fallzahl – eine zunehmende Verdichtung des Milieus zu konstatieren.
247 Beurteilung über den Genossen Oberfeldwebel Stöhr, Heinz v. 27.7.1958; BStU, MfS, BV Gera, KS II Heinz Stöhr, Bl. 48. Dies bestätigte auch die aus dem Jahr nach seiner Einstellung in das MfS datierende Beurteilung. 248 Gieseke gab für 1953 an, dass die Hälfte der Kandidaten aus VP (44 %) bzw. Funktionärsschicht (6 %) geworben wurde. Dieser Vergleich kann hier insofern herangezogen werden, als die der MfS-Anstellung vorangehende IM-Tätigkeit einbezogen wird. Dann jedoch kommt man hier auf 100 %. Gieseke: Hauptamtliche Mitarbeiter (Anm. 3), S. 115. 249 Dienstanweisung 43/53 des Staatssekretärs v. 6.11.1953: Richtlinien für die Kader- und Schulungsarbeit; BStU, MfS, DSt 100885. In Auszügen erläutert in: Gieseke: Hauptamtliche Mitarbeiter (Anm. 3), S. 179 ff. 250 Niethammer: Erfahrungen und Strukturen (Anm. 32), S. 105. 251 Ebenda. Vgl. auch Ders.: Das Volk der DDR und die Revolution. Versuch einer historischen Wahrnehmung der laufenden Ereignisse. In: Schüddekopf, Charles (Hg.): Wir sind das Volk! Flugschriften, Aufrufe und Texte einer deutschen Revolution, mit einem Nachwort von Lutz Niethammer. Hamburg 1990, S. 259. 252 Von Jens Gieseke wurde für 1989 konstatiert, dass »mindestens die Hälfte der hauptamtlichen Mitarbeiter Verwandte im MfS« hatte. Ders.: Hauptamtliche Mitarbeiter (Anm. 3), S. 543.
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Die Mitglieder der ersten Kohorte bekleideten aufgrund ihres Alters die höchsten Positionen: Kreisdienststellenleiter (bzw. dessen Stellvertreter) oder Abteilungsleiter, zumindest aber Referatsleiter in der Bezirksverwaltung Gera. Da fast alle in der Aufbauphase des Apparats eingestellt wurden, konnten sie trotz ihres jugendlichen Alters und fehlender Bildung früh in Machtpositionen aufsteigen und als Disziplinatoren tätig werden. Ihr Handeln war jedoch geprägt von begrenzten Wissens- und Lebenserfahrungsressourcen. Dominant waren die Erfahrungen von Krieg, Gewalt, Zerstörung und teilweise auch Flucht. Sie gehörten zu jenen, die den hohen Disziplinierungs- und Entlassungsdruck der 1950er Jahre überstanden und kontinuierlich aufstiegen, bis sie ab Ende der 1960er Jahre leitende Posten erreichten, die sie zumeist weitere 20 Jahre lang unverändert behalten sollten. Die sieben Mitglieder der zweiten Kohorte waren zum Kriegsende zwischen zwei und zehn Jahren alt. Zwei von ihnen erlebten Flucht und Vertreibung im Kleinkindalter. Die Väter stammten überwiegend aus der Arbeiterschaft, waren im Krieg gewesen und hatten meist mindestens einige Monate Gefangenschaft erlebt. Die Mehrheit von ihnen trat in die SED ein. Einer der Väter arbeitete beim MfS, ein anderer bei der Polizei. Die Einzige der Mütter, die vor 1933 der Sozialistischen Arbeiterjugend angehört hatte, trat nach dem Krieg der SED bei und arbeitete zunächst im Wehrkreiskommando und später in der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit in Gera. Bei allen übrigen Müttern sind kaum Rückschlüsse auf die politische Orientierung möglich. Sie arbeiteten als Haus- und Putzfrauen, lediglich eine war eine klassische Arbeiterin. Die ökonomischen wie auch die kulturellen Ressourcen der Herkunftsfamilien waren demnach bescheiden. Die Offiziere der zweiten Kohorte durchliefen aber im Unterschied zu denen der ersten vor ihrem Eintritt in das MfS eine vergleichsweise solide berufliche Qualifizierung. Während erstere über militärische und Parteifunktionen zum MfS gelangt waren, erwarben diese den Abschluss der 10. Klasse und in vier Fällen einen Fachschulabschluss. Sie traten mit 20 Jahren im Durchschnitt um zwei Jahre früher als die Älteren in die SED ein. Bis auf einen leisteten sie alle einen überdurchschnittlich langen und freiwilligen Militärdienst, kehrten danach meist in ihre Berufe oder in Qualifikationsgänge zurück und sammelten eine im Durchschnitt drei Jahre währende Berufserfahrung. Mit durchschnittlich 25 Jahren wurden sie im MfS angestellt. Bei den Jüngeren der Kohorte lag das Eintrittsalter höher, während es sich bei den Älteren an das Eintrittsalter der ersten Kohorte anglich. 253 Die Mitglieder dieser Kohorte stiegen in den 1980er Jahren innerhalb ihrer Diensteinheit in Leitungspositionen auf, wenn auch bei den beiden Jüngsten Disziplinierungen zu verzeichnen sind. Innerhalb der zweiten Kohorte sind somit sowohl Dis253 Allerdings irritiert auch hier der Widerspruch zwischen dem Eintrittsalter in das MfS von 25 Jahren und dem in der Kaderakte fixierten Dienstalter, das im Durchschnitt bei 22 Jahren liegt. Als plausibelste Erklärung ist eine vorherige Verpflichtung zum inoffiziellen Mitarbeiter anzunehmen, die allerdings nur in 2 von 6 Fällen nachweisbar ist. Die Dauer der Berufserfahrung sinkt auf 2 Jahre, wenn man den Bewerber nicht hinzurechnet, der vor seinem MfS-Eintritt 10 Jahre im Berufsleben verbrachte.
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ziplinierte als auch solche Offiziere anzutreffen, die in den 1980er Jahren die Ordnungsansprüche gegenüber Angehörigen der dritten Kohorte durchsetzten. Diese Rolle konnten sie insbesondere dann einnehmen, wenn sie zusätzlich Parteifunktionen im MfS einnahmen. Diese ermöglichten ihre Integration in die Führungsebene der jeweiligen Diensteinheit, sodass sich Informations- und Einflussmöglichkeiten sowie Aufstiegschancen der Offiziere mit Parteifunktionen im Apparat erweiterten. 254 Mehrere von ihnen besuchten die Bezirksparteischule 255, was neben der Integration in Führungsstrukturen Chancen der Teilhabe an personellen Netzwerken eröffnete. 256 Die zweite Kohorte weist die meisten Familienangehörigen im MfSApparat auf. Der Frauenanteil unter den insgesamt 21 Verwandten, die ebenfalls im Apparat angestellt waren, macht hier mit einem Drittel einen vergleichsweise hohen Anteil aus. Die Mitglieder der zweiten Kohorte orientierten sich beruflich seit dem frühen Erwachsenenalter auf den militärischen Bereich, es gelang ihnen jedoch nicht, dort aufzusteigen. Die Staatssicherheit bot ihnen mit der Aussicht auf Karriere, Macht und Privilegien eine Alternative. Damit beschränkten sie jedoch umgekehrt ihren Erfahrungshorizont auf die ideologisch sowie militärisch konnotierten Sinngebungen der Älteren und übernahmen deren Deutungen. Sie hätten dank besserer Bildung und Berufspraxis die Möglichkeit gehabt, ihren Horizont weiter zu öffnen, vergaben diese Chance jedoch durch die Orientierung auf die Staatssicherheit und schränkten so ihre sozialen und kulturellen Möglichkeiten ein. Die acht Mitglieder der dritten Kohorte – zwischen 1945 und 1953 geboren – waren als erste Gruppe nach dem Krieg aufgewachsen und vom Wiederaufbau geprägt. Sie hatten als Arbeiterkinder die Angebote der Bildungsgegenprivilegierung wahrnehmen können, sodass zwei Drittel von ihnen auf dem ersten oder zweiten Bildungsweg das Abitur ablegten. Meist zeigten sie jedoch unterdurchschnittliche Leistungen. Die mit den Schulabschlüssen verbundenen Chancen nutzten nur drei, indem sie eine Hochschul- und/oder Fachschulausbildung abschlossen, die Übrigen blieben auf dem Facharbeiterstatus. 257 254 Zur Bedeutung der Partei in den 1950er Jahren Schumann: Parteiorganisation (Anm. 165), S. 105– 128; Dies.: Parteierziehung in der Geheimpolizei. Zur Rolle der SED im MfS der fünfziger Jahre. Berlin 1997, S. 143–149. 255 Die Dauer dieser Kurse lag in der Regel bei 12 Monaten, wie aus den Kaderakten zu entnehmen ist. 256 Nach derzeitigem Kenntnisstand ist die Forschung zu den Parteischulen hinsichtlich der personellen Verknüpfungen von Kadern aus Wirtschaft, Wissenschaft und Sicherheitsbereich ein Desiderat. Zur Rolle der Bezirksparteischulen Zimmermann, Hartmut: Überlegungen zur Geschichte der Kader und der Kaderpolitik in der SBZ/DDR. In: Kaelble u. a. (Hg.): Sozialgeschichte (Anm. 10), S. 336; Herbst, Andreas; Winkler, Jürgen; Stephan, Gerd-Rüdiger (Hg.): Die SED: Geschichte, Organisation, Politik. Ein Handbuch. Berlin 1997, S. 511. 257 Damit waren sie fast auf dem durchschnittlichen Stand der allgemeinen DDR-Bevölkerung. Vgl. Solga, Heike: Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft? Klassenlagen und Mobilität zwischen Generationen in der DDR. Berlin 1995, S. 233. Angesichts ihrer unterdurchschnittlichen Fachleistungen, dürftigen Berufserfahrung und geringen Allgemeinbildung ist dieses Kriterium allein allerdings für weitere Schlüsse nicht aussagekräftig genug.
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Die große Mehrheit der Kohorte wurde in einem atheistischen und militärischen Milieu groß, wobei die Väter überwiegend der SED angehörten, die Mütter dagegen überwiegend parteilos waren. Drei Viertel der Kohortenmitglieder hatten Verwandte im MfS. Drei waren über die Ehefrau mit MfS-Angehörigen verwandt, die Heirat war bei zweien allerdings – im Unterschied zu den älteren Kohorten – erst nach ihrer Anstellung erfolgt. Die dritte Kohorte weist einen hohen Anteil an FDJ-Funktionären auf, erreicht jedoch in dieser Hinsicht die Quote der ersten Kohorte nicht ganz. Die Mitglieder traten mit durchschnittlich 20 Jahren der SED bei und absolvierten anschließend politisch-ideologische Schulungen. Im Gegensatz zu den Mitgliedern der älteren Kohorten übernahmen sie kaum Parteifunktionen. Von den Voraussetzungen der beiden älteren Kohorten unterscheidet sich diese dritte Gruppe durch ihren höheren Bildungsstand und die damit verbundenen Möglichkeiten im zivilen Bereich. Angesichts ihrer Ausbildung war eine spätere MfS-Tätigkeit nicht zwangsläufig vorgegeben. Andere Chancen schöpften sie nicht aus – wohl auch, weil sie sich auf den militärischen Bereich hin orientierten: Von den acht Kohortenmitgliedern gingen sechs entweder für drei Jahre zur Armee oder zum Wachregiment des MfS. Die Gemeinsamkeit mit den beiden älteren Gruppen zeigt sich deshalb bei der militärischen Ausrichtung. Sie orientierten sich im jungen Erwachsenenalter auf militärische Institutionen, was sich in der frühen Entscheidung für den Wachdienst beim MfS, für die Armee oder auch am Interesse für Kampfsport zeigt. Die Erfahrung der Disziplinierung blieb ihnen während der Armeezeit erspart. Dort wurden sie im Gegenteil überdurchschnittlich oft ausgezeichnet, was auf eine starke Identifikation verweist. Das unterschied sie von den meisten ihrer Altergenossen, die den Pflichtdienst bei der Armee eher als Verlust an Lebenszeit erlebten. 258 Offenbar kompensierten die dortigen Erfolgserlebnisse ihre geringe schulische und berufliche Anerkennung. Allerdings konnte dies nicht unmittelbar in eine berufliche Perspektive umgesetzt werden. Der semimilitärisch organisierte MfS-Apparat bot hinsichtlich Status, Einkommen und Ansehen eine Alternative. Während des MfS-Dienstes zeigte sich bei der dritten Kohorte eine wesentlich höhere Disziplinarquote als bei den Älteren. In drei Fällen kam es deshalb zur Entlassung. Die disziplinarisch geahndeten Verfehlungen wurden in den 1970er und 1980er Jahren nicht mehr vorrangig politisch gedeutet. Teilweise hatten sie sich im privaten Bereich ereignet, gefährdeten aber das Ansehen des MfS, weil sie – beispielsweise bei häuslicher Gewalt oder Eigentumsdelikten – mit den öffentlichen moralischen Normen unvereinbar waren. 258 Wenzke, Rüdiger: Die Nationale Volksarmee (1956–1990). In: Dietrich, Torsten; Ehlert, Hans; Wenzke, Rüdiger (Hg.): Im Dienste der Partei. Handbuch der bewaffneten Organe der DDR. Berlin 1998, S. 423–535, hier 459–463; Koch, Uwe: Zähne hoch, Kopf zusammenbeißen. Dokumente zur Wehrdienstverweigerung in der DDR 1962–1990. Kükenshagen 1994.
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Die Ehefrauen der Tschekisten gehörten zwar später fast ausnahmslos der SED an, was sie von der zweiten Kohorte unterscheidet; doch ein knappes Drittel der Ehefrauen trat erst nach dem MfS-Eintritt des Mannes dort ein. Zwei der Offiziere wählten nach einer Scheidung eine partei- bzw. MfS-gebundene Ehefrau, was auf eine Abschließung des Milieus hinweist. Das soziale Kapital der Offiziere der dritten Kohorte war durch die sich aus der Trias von Parteilichkeit, Konspiration und Gehorsam ergebenden Begrenzungen vermindert; die Regeln und Vorschriften beschränkten sie weitgehend auf die Sozialbeziehungen innerhalb des Apparats. 259 Die vergleichsweise schwache Position dieser Mitglieder der dritten Kohorte in der Hierarchie und die disziplinarischen Durchgriffe bis in den privaten Bereich verstärkten die Tendenz, sich in den Sozialbeziehungen auf die zunehmend instabileren Familien sowie auf Vorgesetzte und Kollegen zu konzentrieren. Doch auch die Sozialbeziehungen zu jenen, mit denen sie darüber hinaus tagtäglich zu tun hatten, zu den inoffiziellen Mitarbeitern, den Staats- und Parteifunktionären und auch zu den von ihnen verfolgten Künstler/innen wären dahingehend zu befragen. Ist das Verhältnis zu ihnen nur vor dem Hintergrund geheimpolizeilicher Funktionalität zu betrachten oder vollzogen sich hier weitere soziale Prozesse? Dieser Frage können wir im Folgenden bedingt durch das Scheitern des Interviewvorhabens nur andeutungsweise nachgehen.
4. Die Parallelgesellschaft: Aspekte der Milieubildung in der Provinz 260
4.1 Milieubildung und Geschlechterbeziehungen Scheidungen sind ausschließlich in der dritten Kohorte zu finden. Dabei fällt auf, dass in allen Fällen die erste Ehefrau parteilos war, die zweite hingegen SEDMitglied. In einem Fall war die erste Ehefrau Ingenieurin gewesen, die zweite Frau eine Gesellschaftswissenschaftlerin, die als politische Mitarbeiterin des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes in Gera arbeitete. Auch hier zeigt sich die Verfestigung des Milieus. Begleiterscheinungen der Milieuabschottung zeigen sich auch bei folgendem Vorgang: Über einen Offizier der Auswahl kam es im Jahr 1981 zu Ermittlungen, weil seine im MfS wahrgenommenen Verhaltensweisen nicht den tschekistischen Normen entsprechen würden. Er habe Affären mit inoffiziellen Mitarbeiterinnen 259 So bezeichnete Gieseke die Konstituanten des tschekistischen Milieus. Ders.: Hauptamtliche Mitarbeiter (Anm. 3), S. 546. 260 Die folgenden Beispiele sind den Kaderakten der Offiziere des Samples entnommen.
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gehabt und wurde deshalb vom Parteisekretär, dem Dienststellenleiter und seinem Stellvertreter zurechtgewiesen. Er musste schriftlich erklären, sein Handeln zu bereuen und es künftig zu ändern. Im Zuge der Überprüfung der Ermittlungen, die sechs Jahre zuvor im Vorfeld seiner Einstellung durchgeführt worden waren, stellte sich heraus, dass der damals zuständige Offizier das Persönlichkeitsbild des Perspektivkaders an die Anforderungen der Kaderrichtlinie angepasst hatte, um den Plan der »Neuwerbungen« erfüllen zu können. Bemerkenswert ist der Umgang der Staatssicherheit mit dieser Angelegenheit. Eine beteiligte inoffizielle Mitarbeiterin wurde zur Aussprache mit dem Leiter der Dienststelle zitiert: Dort forderte man sie auf, ihre vor dem Scheitern stehende Ehe zu retten, schließlich wisse der Ehemann von ihrer Zuträgerschaft für die Staatssicherheit. Diese Intervention zeigt, dass Privates und Dienstliches nicht getrennt wurden: leitende Tschekisten griffen selbst in die Geschlechterbeziehungen von Dritten ein, selbst wenn sie ihnen dienstrechtlich nicht unterstellt waren, wenn sie meinten, dies sei aus konspirativen Gründen geboten. Liebesbeziehungen zu inoffiziellen Mitarbeiterinnen galten in der Regel als Sicherheitsrisiko, ungeachtet der Tatsache, dass sie mitunter zielgerichtet inszeniert wurden, um Frauen an die Staatssicherheit zu binden. Aufschlussreich ist auch der Umgang der Staatssicherheit mit Ehepartnern ihrer Mitarbeiter, wenn sie diese als Sicherheitsrisiko einstufte. Der neuen Ehefrau eines Angehörigen der dritten Kohorte war bei einer Kaderaussprache auferlegt worden, sich von ihrem Mann zu trennen und sich bei neuerlicher Partnerwahl auf das Sicherheitsmilieu zu orientieren. Sie konzentrierte sich daraufhin bei der Partnersuche offensichtlich auf den Apparat. Ein solches Verhalten lag nahe, denn sämtliche künftige Ehepartner wurden eingehend überprüft. Beziehungen zu Personen, die als nicht eindeutig staatstragend eingestuft wurden, wurden notfalls durch Intervention der Vorgesetzten abgebrochen, womit die Abschottung des Sicherheitsmilieus forciert wurde. Besonders problematisch waren Westkontakte: Die Frau eines übrigens später ebenfalls entlassenen Offiziers wurde aus dem Apparat ausgeschlossen, weil sie zufällig u. a. im Ungarnurlaub mit Westbürgerinnen gesprochen hatte. Familiäre Gewalt, die von hauptamtlichen MfS-Mitarbeitern ausging, konnte ebenfalls dienstliche Reaktionen zur Folge haben, wobei allerdings nicht der Schutz der Betroffenen im Mittelpunkt stand, wie das folgende Beispiel zeigt. Einer der Offiziere hatte ein striktes Verhaltenssystem für seine Familie festgelegt. Wich ein Familienmitglied davon ab, hatten insbesondere die Ehefrau, aber auch andere Familienmitglieder mit brutalen Schlägen zu rechnen. In einem Fall hatte sich die Ehefrau nach Ansicht des Mannes im Beruf zu stark bei der Vorbereitung der »Arbeiterfestspiele« engagiert, was sogar im Sinne des MfS gewesen war: Die Staatssicherheit hatte dafür sorgen sollen, dass von den Arbeiterfestspielen keine »Provokationen« ausgingen, was dem Mann in diesem Fall jedoch gleichgültig zu sein
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schien. 261 Da die Gewalttätigkeiten außerhalb der Familie bekannt geworden waren, stand der Ruf des MfS auf dem Spiel. Als der Betreffende rückfällig wurde, konnte er daher nicht mehr länger im MfS gehalten werden. 262 Bei der Entlassung galt er nicht als aus disziplinarischen Gründen entlassen und erhielt Übergangsgebührnisse in Höhe von drei Monatsgehältern. 263 Auch fanden sich in der Kaderakte keinerlei Anhaltspunkte für eine strafrechtliche Verfolgung, die angesichts der Sachlage angemessen gewesen wäre. In der kurz darauf angelegten IM-Akte hieß es absurderweise, dass er, mit einem »ruhigen und ausgeglichenen Charakter« ausgestattet, »tätliche Auseinandersetzungen mit seiner Ehefrau und seinem Sohn« gehabt habe. Lediglich der Umstand also, dass seine Gewalt öffentlich bekannt geworden war, führte zur Entlassung. Zum Abschied erhielt er die »Urkunde für treue Pflichterfüllung im MfS« und das »Reservistenabzeichen« in Gold, von der Partei immerhin eine strenge Rüge. Damit er problemlos in seine vom MfS vermittelte neue Arbeitsstelle als Sicherheitsbeauftragter in die Inspektion eines Großbetriebes wechseln konnte, legendierte man sein Ausscheiden mit einer »Entlassung nach Beendigung der Dienstzeit von 10 Jahren in Ehren«. Auf seinem neuen Posten wirkte er weiter als Führungs-IM. 264 Er führte Aussprachen mit Kollegen und erstellte »spezielle Übersichten«. Sein erster Auftrag betraf die Suche und Auswahl von Kadern, die als künftige MfS-Offiziere infrage kamen. Das Problem war durch die Entfernung aus dem hauptamtlichen MfS-Apparat lediglich verschoben, doch weder strafrechtlich geahndet noch irgendwie gelöst worden. Das Prinzip der Geheimhaltung verschleierte solche Vorgänge und führte dazu, dass eine Infragestellung der Gewaltstruktur und damit ihre Sanktionierung unterblieben. Ordnung und Sicherheit galten für den Dienstalltag, doch dies eröffnete keinen Schutz für die Familienangehörigen. Die Fürsorge endete, bevor sie begonnen hatte, vor der Wohnungstür. 265 Dies erleichterte die Etablierung gewalttätiger Verhaltensmuster im Privatbereich der Stasifamilien, deren Opfer umso stärker zu leiden hatten, als ihnen unter dem Siegel der Sicherheit des Staates die Würdigung ihrer Probleme und erst recht Gerechtigkeit verweigert wurde. 261 Dafür war ein halbes Jahr zuvor bereits im MfS eine Nichtstrukturelle Arbeitsgruppe (NSAG) eingerichtet worden. Im Befehl 12/83 war der »ständige Kontakt zum Bezirksvorstand des FDGB« angewiesen worden, um die Interessen des MfS durchzusetzen. BStU, MfS, BV Gera, BdL-Dok. Nr. 713. Vgl. Matthias Braun in diesem Band. 262 In den Akten hieß es, er habe »seine Frau beinahe totgeschlagen«. 263 Im Entlassungsvorschlag wurde jener Passus gestrichen, in dem es hieß: »keine Übergangsgebührnisse, da die Entlassung aus disziplinarischen Gründen erfolgte«. Der Fall wurde so mit einer »Entlassung in Ehren« ad acta gelegt. 264 In der Akte wurde für ein Jahr eine Zahl von 210 Treffs angegeben. Demnach muss er wöchentlich 4–5 Treffs gehabt, also im Durchschnitt täglich einen Treff mit einem IM seines FIM-Systems wahrgenommen haben. 265 Zum Begriff der Fürsorgediktatur Jarausch, Konrad: Realer Sozialismus als Fürsorgediktatur. Zur begrifflichen Einordnung der DDR. In: ApuZ (1998)20, S. 33–46; zuletzt Ders.: Fürsorgediktatur, Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.2.2010, URL: http://docupedia.de/zg/, Zugriff am 12.7.2011.
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4.2 Milieubildung durch Ab- und Ausgrenzung Auch die Eltern, Ehefrauen und Kinder wurden mit der Forderung nach Kontaktabbruch zu Dritten konfrontiert, wenn diese Beziehungen als Sicherheitsrisiko galten. Diesen Abbruch akzeptierten sie zumeist, doch nicht immer. Insbesondere der KSZE-Prozess führte zu Zweifeln an der staatssicherheitsdienstlichen Sicherheitslogik. Als der Schwiegervater eines Offiziers 1973 eine Reise in die Bundesrepublik beantragte, um seine kranke Schwester noch einmal zu sehen, versuchte nicht nur der Schwiegersohn ihm das auszureden. Der Mann wurde auch von den Vorgesetzten seines Schwiegersohnes vorgeladen. Sie gaben ihm Verhaltensrichtlinien vor und verlangten nach der Reise einen Bericht. Insbesondere sollte sichergestellt sein, dass die Verwandten nichts über die MfS-Zugehörigkeit des Schwiegersohnes erfahren. Als der Schwiegervater die schwerkranke Schwester drei Jahre später noch einmal besuchen wollte, denunzierte ihn der Schwiegersohn bei seinen Vorgesetzten, bat um Ablehnung der Reise und erklärte, er und seine Frau seien bereit, die Verbindung zu deren Eltern abzubrechen, zumal auch die Schwiegermutter sehnlich auf ihre Rente warte, um ebenfalls endlich reisen zu können, was er jedoch nicht mittragen werde. Offensichtlich nahm er die Verpflichtungserklärung, die jeder MfSMitarbeiter bei seiner Einstellung unterschrieb, wörtlich: »Ich verpflichte mich […] h) das Verbot, Westberlin, die BRD oder andere Länder des kapitalistischen Auslands zu betreten, zu befahren oder zu überfliegen sowie Verbindungen jeglicher Art von dort oder nach dort zu unterhalten, soweit kein dienstlicher Auftrag vorliegt, einzuhalten und dafür zu sorgen, dass auch meine Familienangehörigen oder Personen, die ständig oder überwiegend zur häuslichen Gemeinschaft gehören, dieses Verbot unbedingt achten sowie bei Nichtachtung dieses Verbots durch meine Familienangehörigen oder durch Personen, die zur häuslichen Gemeinschaft gehören, unverzüglich meinem Vorgesetzten Meldung zu erstatten.«
Dass er jegliche Westpost an jegliches Familienmitglied ebenfalls an seine Vorgesetzten weiterleiten werde, versprach er ebenfalls und endete mit dem Satz: »Ich wurde über die strafrechtlichen Folgen der Verletzung dieser durch mich abgegebenen Verpflichtung ausführlich belehrt.« Als er zehn Jahre später befördert werden sollte, erklärte er in einer Kaderaussprache, die Schwiegermutter werde künftig keine Rentnerreisen mehr in die Bundesrepublik beantragen. Auch seine Frau und der Sohn, selbst Berufsoffiziersbewerber für das MfS, würden zu dieser Frage eine »klare parteiliche Haltung« einnehmen. Aufschlussreich ist hier die Auseinandersetzung zwischen Schwiegervater und Schwiegersohn, die dieser bei seinem Vorgesetzten und der Parteileitung zu Protokoll gab: »Im Verlaufe des Gespräches brachte er [der Schwiegervater] mehrmals zum Ausdruck, die DDR ist doch nun anerkannt, es gab Helsinki und die UNO-Aufnahme der DDR und wir reden und schreiben viel über Menschlichkeit. Ich brachte zum Ausdruck, dass ich nicht Bürger
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der UNO bin, sondern wie er Bürger der DDR und wir unsere inneren Angelegenheiten selbst klären. Immer wieder stellte er die Frage nach der Menschlichkeit.«
Der Schwiegersohn zog sich, ganz im Sinne der offiziellen Argumentation, auf die Ansprüche des Apparats zurück: Einmischung von außen werde nicht geduldet. Es wurde deutlich, dass für Angehörige von MfS-Mitarbeitern faktisch ein restriktiveres Sonderrecht galt, bei dem Sicherheitskriterien, also Abschottung und Abgrenzung, den alleinigen Maßstab bildeten. Die Beschränkungen des sozialen Handelns werden insbesondere bei den Offizieren der ersten und zweiten Kohorte sichtbar, bei denen keine Disziplinierungen aktenkundig wurden: Noch im Sommer 1988 stand einer von ihnen vor der Entscheidung, entweder den Kontakt zu seiner erwachsenen Tochter abzubrechen und seine Position als Referatsleiter und Parteisekretär zu sichern oder sie möglicherweise aufzugeben. Er entschied sich ohne Zögern für Ersteres, was sich jedoch als kaum realisierbar erwies, weil die Ehefrau diese Entscheidung genauso wie der Sohn, selbst Offiziersanwärter im MfS, nicht mehr akzeptierten. Dies führte zum Eklat und dazu, dass der Vater den eigenen Sohn bei dessen MfS-Dienststelle denunzierte. Offenbar hatte der Vater die MfS-Normen und die Angst vor Sanktionen so weitgehend internalisiert, dass er die Beziehung zu seinem Sohn diesen unterordnete: Schließlich hatte auch der bei seiner Einstellung erklärt, die geforderten Kontaktverbote in seiner Familie durchzusetzen. Dass er letztlich erfolglos blieb, war der Erosion des tschekistischen Normengefüges in der letzten Phase der SED-Herrschaft und der damit verbundenen Verweigerung der Angehörigen gegenüber seinen Forderungen geschuldet. Während der Vater sich auf die autoritäre Durchsetzung der Bestimmungen orientierte, versuchten die Kinder, dieses Schema zu durchbrechen, ohne dabei offensiv zu werden. Sie zelebrierten offiziell Zustimmung, um insgeheim nach ihren eigenen, gegenläufigen Interessen zu handeln. Die Grenzen der tschekistischen Disziplinierungspraxis zeigten sich auch an den mäßigen Erfolgen bei der Bekämpfung des im hauptamtlichen Apparat grassierenden Alkoholmissbrauchs. 266 Im Jahr 1981 wurde ein strenger Verweis gegen einen Offizier wegen eines »Verkehrsdeliktes« ausgesprochen. Im Anschluss an eine ausgedehnte Alkoholorgie mehrerer Offiziere, die am Nachmittag mit der Geburtstagsfeier in der Dienststelle begonnen hatte und in der Wohnung des Leiters fortgesetzt worden war, hatte er auf dem Parkplatz der Staatssicherheit das Fahrzeug eines Dritten beschädigt. Sein Vorgesetzter versuchte zunächst, die Angelegenheit zu banalisieren, was jedoch misslang. Der Delinquent wurde wegen »dauernder Dienstuntauglichkeit« entlassen: Die Alkoholsucht sei so erheblich, dass auf den Betreffenden kein Verlass mehr sei. 266 Bereits 1953 standen Alkoholexzesse im Apparat an der Tagesordnung, so ein Protokoll der SEDKreisparteiaktivtagung im MfS Berlin am 28.1.1953, Redebeitrag Wilhelm Zaisser. BStU, MfS, KL-SED 570, Bl. 33 f., zit. nach: Schumann: Parteiorganisation (Anm. 165), S. 118; Gieseke: Hauptamtliche Mitarbeiter (Anm. 3), S. 356.
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Das Alkoholproblem wurde in der dritten Kohorte am deutlichsten sanktioniert, bestand jedoch in allen Altersklassen. 267 Zwei von acht Offizieren wurden deshalb entlassen. Beziehungen abzubrechen galt als Technik der Konfliktbewältigung, die nicht nur bei der Ausgrenzung von Andersdenkenden praktiziert wurde. Die Exklusion im Interesse der »inneren Sicherheit« gehörte zum Verhaltenskanon im Sicherheitsmilieu, ohne dass die Konsequenzen berücksichtigt wurden, denn es folgten daraus Beziehungsarmut und Unbeweglichkeit sowie ein eingegrenzter Horizont, der die Fähigkeit der Tschekisten, mit der gesellschaftlichen Realität umzugehen, beeinträchtigt haben dürfte und woraus immerwährend neue Konflikte gespeist wurden.
4.3 Offiziere und Funktionäre Die folgenden Fälle zeigen einerseits, wie intensiv sich MfS-Offiziere und Staatsfunktionäre abstimmten, andererseits demonstrieren sie, dass sich die disziplinarischen Grundstandards im staatlichen wie geheimpolizeilichen Bereich anglichen, denn hier wie dort galt das Prinzip des Ausschlusses des »Anderen«. Im Jahr 1987 traf sich ein Offizier der Abteilung XX/7 mit dem Direktor des Hauses der Kultur Gera. Letzterem war der desolate Zustand eines Kollegen des Stasi-Offiziers aufgefallen, den er aus früheren dienstlichen Zusammenhängen kannte. Nun habe jener am Biertisch gegenüber dem Leiter des Hauses aus dem Nähkästchen der Stasi geplaudert, was dieser wiederum ihm, dem Direktor, mitgeteilt habe. Der Direktor fand es unverantwortlich, dass ein hauptamtlicher MfSMitarbeiter Interna des Apparates preisgab und »bat um Information über den Sachverhalt an den zuständigen Leiter des MfS«. Es sei das Beste, diesen Offizier zu entlassen, auch wenn er dann »seinen gänzlichen Halt verlieren werde«. Der Funktionär monierte nicht die Einschränkungen, denen die Kultur unterworfen war, und auch nicht, dass deren Protagonisten drangsaliert wurden, sondern dass Stasi-Interna öffentlich werden könnten. Anschließend wurde der Offizier tatsächlich aus dem Apparat entlassen und war damit seiner Arbeitsstelle, seiner Parteigruppe und damit zugleich der meisten sozialen Kontakte entledigt. 268 Ein weiteres Beispiel findet sich in der Schulungsmitschrift eines Offiziers vom Oktober 1982 zur »vorbeugenden Verhinderung« abweichenden Verhaltens bei
267 Vgl. ebenda, S. 203. 268 Der Entlassene wurde im Nachhinein als inoffizieller Mitarbeiter geführt. Diese Registrierung erfüllte zwei Funktionen, denn einmal übernahm er im geheimen Netzwerk nun die Aufgabe eines Informanten, andererseits sollte er damit als ehemaliger Geheimnisträger kontrolliert werden.
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Jugendlichen. 269 Dort heißt es, die Staatssicherheit solle den Kontakt von Jugendlichen zu Kunst- oder Kirchenkreisen verhindern und sie zu Kontaktgesprächen beim MfS vorladen, um sie einzuschüchtern oder mit heimlichen Aufträgen ausstatten zu können. Der IM-Arbeit käme insbesondere in jugendlichen Kreisen hohe Priorität zu. 270 In diesem Sinne sollten »rechtzeitig« und »offensiv ideenreiche Maßnahmen« umgesetzt werden. 271 Damit beabsichtigte man, die Gruppenkommunikation zu stören, durch Verdächtigungen, Gerüchte und gegenseitige Anschuldigungen Zwietracht zu säen. Angeleitet und beraten wurden die offiziellen, gesellschaftlichen und inoffiziellen Helfer der Staatssicherheit dabei von den Offizieren, die diese Intrigen planten, um das Vertrauen in den Gruppen zu zerstören. Zudem sollten die Verantwortlichen und Vorgesetzten im Arbeitsbereich diese Intrigen durch abwertendes Feedback unterstützen. Sie sollten sogar Arbeitsergebnisse unterschlagen, um so die Positionen der Betroffenen zu schwächen. 272 Was diese perfide Strategie für die Betroffenen bedeutete, wird aus einem Brief deutlich, den Gabriele Damm, vormals Dramaturgin am Geraer Puppentheater und von diesem Vorgehen betroffen, nach ihrer Akteneinsicht im Januar 1992 an ihren ehemaligen Vorgesetzten Eberhard Kneipel schrieb: »Endlich weiß ich, wo all die Behinderungen herkamen, die ich tagtäglich in meiner Arbeit erfuhr. Doch Du-Ihr habt nicht nur versucht mir zu vermitteln, fachlich ungenügend kompetent zu sein, sondern Ihr wolltet auch meine Persönlichkeit zerrütten.« 273
Hier reflektiert Gabriele Damm drei Stufen der »Vorbeugungsarbeit«, die mit unscheinbaren Hindernissen begann, sich zu abwertenden Beurteilungen steigerte und damit das Gefühl vermittelte, nicht nur die Arbeit, sondern auch die ganze Person sei wertlos: eine Ausgrenzungsstrategie, die schließlich die sozialen Beziehungen zu beschädigen drohte. Mit dieser Methode der »Zersetzung« sollten die Betroffenen durch Abwertung und Abgrenzung verunsichert, gekränkt und entmutigt werden. Das konnte die Distanzierung der Betroffenen voneinander zur Folge haben, sodass ein Raum der Einsamkeit und Isolation, mangelnder Informiertheit und des Misstrauens entstand. So sollten Gruppenzusammenhänge zerstört und den betroffenen Personen die Ressourcen genommen werden, die Bedingungen und Vorgänge der Gesellschaft kritisch zu thematisieren. 274 Hier wird das Zusammenwirken zwischen 269 Vorbeugende Verhinderung/Aufklärung/Bekämpfung des feindlichen Missbrauchs jugendlicher Personen – mit gesellschaftlichen Verhaltensweisen; BStU, MfS, BV Gera, Abt. XX, SA 366/9, Bl. 179–183 (Arbeitsbuch Peter Trost, Bd. 9), Schulung v. 11.10.1982. 270 Ebenda, Bl. 182. Unter Vorbeugung verstand man, »erkannte feindlich-negative Personengruppen zu zersetzen, zu isolieren und zu zerschlagen, also an der Herbeiführung weiterer gesellschaftsgefährlicher Auswirkungen zu hindern«. Suckut: Wörterbuch (Anm. 80), Artikel »Vorbeugung«, S. 406 ff., hier 407. 271 Ebenda, hier S. 408. 272 Zur Vorbeugung auch Fuchs: Unter Nutzung der Angst (Anm. 95), S. 4 f. 273 ThürAZ P-DG-K-01.03. 274 Einen Aspekt der Folgen hat Kratschmer, Edwin: Kunst im Clinch (Anm. 95), S. 99 so beschrieben: »Viele der 1950 geborenen Künstler hatten sich längst von diesem Staat abgenabelt, kampierten zum Teil in
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den Stasi-Offizieren und denjenigen inoffiziellen Mitarbeitern deutlich, die strategisch wichtige Funktionen bekleideten, hier von Eberhard Kneipel. 275 Das Handeln der Stasi wie auch der offiziell zuständigen Funktionäre zielte zentral auf die Ausgrenzung von Personen, die als nicht systemkonform angesehen wurden. Abgrenzung und Ausgrenzung gehörten zu einer sozialen Praxis, die nicht nur keinen Platz für abweichende Meinungen ließ, sondern nicht zuletzt die Lebenswelt der Offiziere in einen eng umgrenzten Raum presste. Funktionäre und Offiziere waren gleichsam Bausteine eines Handlungszusammenhangs, der gegen den »Feind« ausgerichtet war. Die Funktionsfähigkeit dieses System basierte jedoch darauf, dass auch die offiziellen Akteure die geheimpolizeiliche Logik verinnerlicht hatten. Das war aber nicht ohne Weiteres zu gewährleisten, denn während die Offiziere unangefochten in der gefrorenen Pose des geheimen Bewachers verharren konnten, mussten die offiziellen Funktionsträger – auch wenn sie als inoffizielle Mitarbeiter des MfS handelten – ihre Positionen in der Konfrontation mit selbstständig denkenden Interaktionspartnern behaupten. So standen sie im Spannungsverhältnis zwischen den Erwartungen der MfS-Offiziere und ihrer sicherheitspolitischen Logik und dem Unverständnis der Künstler/innen angesichts von Verboten und Behinderungen.
4.4 MfS-Offiziere und Künstler/innen Eine von der Verfolgung betroffene Künstlerin berichtete, wie es zu einem »Gespräch« mit einem Stasi-Offizier gekommen war. Sie sei ahnungslos zur Abteilung Kader und Personalwesen der Puppenbühne im Geraer Hans-Otto-Haus gegangen, um dort eine Wohnungszuweisung zu beantragen. Plötzlich sei sie dort von der Kaderbeauftragten in ein Zimmer gesperrt worden, in dem sich besagter StasiOffizier aufgehalten habe, der sie zur Mitarbeit erpressen wollte. Dieser und die Kaderbeauftragte hätten sich vorher abgesprochen. Sie, die Künstlerin, habe laut geschrien, was sie wohl gerettet habe, denn die Zimmertür wurde wieder aufgeschlossen. Die Erpressung hatte dank ihres stabilen Selbstbewusstseins keinen Erfolg, doch nach einem weiteren, letzten Gespräch habe sie dennoch das Gefühl gehabt,
Abrisshäusern. Sie hatten meist geschmissenes Studium und Spatensoldaten-Zeit hinter sich und verdienten ihren spärlichen Unterhalt als Gärtner, Hausmeister, Totengräber, Hilfspfleger, Korbmacher oder Würstchenverkäufer.« 275 Er wurde zuerst vom Leiter der Abteilung XX/7 Hubert Wirkner als IM »Klaus Frohberger« geführt, später auch von Tristan Willing, und arbeitete u. a. gegen Gabriele Damm. BStU, MfS, BV Gera, IMV/IMB/IME »Klaus Frohberger« X 612/73. Zur OPK gegen Gabriele Damm: BStU, MfS, BV Gera, OPK X 505/89, Bl. 6 u. 16. Vgl. Lenski, Katharina; Kulisch, Uwe (Hg.): 10 Jahre Thüringer Archiv für Zeitgeschichte »Matthias Domaschk« (ThürAZ). Übersicht zu den erschlossenen Sammlungen und Dokumenten. Jena 2001, S. 15 f.
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entblößt, nackt zu sein, auch wenn der Offizier ihr mit seinem vorgeblichen Geheim-Wissen »nur« die »Foltermöglichkeiten« gezeigt habe. 276 Kollegen der Künstlerin reagierten auf solcherart Zumutungen verschieden. Dietrich Kunze befürchtete nichts und lehnte es ab, sich heimlich in einer »Kaschemme« wie der Mitropa in Bad Köstritz zu treffen. Deshalb antwortete er auf die Forderung, die Gespräche geheim zu halten, er werde künftig jedem erzählen, was der Offizier von ihm wolle. Darauf meldete der sich nicht mehr bei ihm. 277 Nicht so Peter Müller, der angesichts der Verhaftung von anderen Mitgliedern der Puppenbühne und der Drucksituation bei der Armee dieses klare »Nein« nicht aussprach. 278 Die Konspiration erschloss den Hauptamtlichen einen rechtsfreien Raum. Dort konnten sie ihren Status als Stasi-Offizier mit verschiedenen Masken und Etiketten verbergen. Die Betroffenen wussten nicht, ob diese echt waren oder lediglich der Einschüchterung dienten. Die Angst der Betroffenen verschaffte den Offizieren Überlegenheit, ein abseitiges Selbstwertgefühl als Ersatz für eine Anerkennung, die ihnen ansonsten versagt blieb. Gegenüber »Feinden« galt dies als legitim, durfte jedoch nicht offenbar werden. Umgekehrt zerbrachen die Masken und damit die Machtfülle der Stasi-Offiziere, wenn ihr Handeln öffentlich wurde. Als die Mauer gefallen und das Geraer Bürgerkomitee im Januar 1990 die Bezirksverwaltung der Stasi besetzt hatte, drohte einer der Offiziere gegenüber Ingrid Fischer, die mit anderen am Eingang der Bezirksverwaltung in Gera die Waffenkontrolle der Offiziere vornahm: »Und das werdet ihr noch bereuen. Wir rächen uns.« 279 Diese Drohung blieb rhetorisch, sie war wohl kommunikative Kompensation des Machtverlustes.
4.5 Die Verdichtung des Milieus Ralph Jessen sah im »Ausmaß personeller Mobilität oder Stagnation« den Hinweis auf die »Reichweite zentraler diktatorischer Steuerung«. 280 Jens Gieseke beobachtete eine abnehmende Mobilität im Staats-, Partei- und Wirtschaftsapparat, die sich auf die Milieubildung begünstigend ausgewirkt habe. 281 Diese Beobachtung wird von der vorliegenden Studie bestätigt. Die Stasi-Offiziere blieben in unserem Fall meist 276 Interview von Agnès Arp mit Astrid Griesbach am 22.2.2008 in Berlin. 277 Interview von Jeannette van Laak mit Dietrich Kunze am 26.11.2006 in Dresden. 278 Interview von Jeannette van Laak mit Peter Müller am 4.9.2006 in Neubrandenburg. Zu Peter Müller und weiteren IM ausführlich Haase: Kasper kontra Mielke (Anm. 173) dokumentarisch erzählt von Baldur Haase, S. 11–52, hier 34–38. 279 Erstes Interview von Jeannette van Laak mit Ingrid Fischer am 14.7.2006 in Gera. 280 Jessen, Ralph: Akademische Elite und kommunistische Diktatur. Die ostdeutsche Hochschullehrerschaft in der Ulbricht-Ära. Göttingen 1999, S. 413. 281 Gieseke: Hauptamtliche (Anm. 3), S. 290.
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ihr Leben lang wenn nicht in der gleichen Dienststelle, so doch zumindest im Bezirk sesshaft, sodass sich ihre Beziehungs- und Konfliktfelder nicht wesentlich änderten. 282 Die Kontakte operativ arbeitender Offiziere zu ihren inoffiziellen und gesellschaftlichen Mitarbeitern bedeuteten für die Tschekisten angesichts der Begrenztheit ihres eigenen Milieus eine Erweiterung und waren damit nicht unwichtige Sozialbeziehungen. Mitunter wurden sie nicht nur im Sinne der Stasi-Funktionalität genutzt. Auch die Klagen über die häufige Nutzung der dienstlichen Infrastruktur für private Zwecke lassen darauf schließen, dass eine Vermischung dienstlicher und privater Belange an der Tagesordnung war und auf allen Ebenen eine Rolle spielte. Dem Problem war administrativ schlecht beizukommen, da diese Vermischung im Apparat selbstverständliche Praxis war. Die Reduktion der Realitätswahrnehmung nach einem Freund-Feind-Muster musste zwangsläufig eine Situation begünstigen, in der der Bereich, in dem die zu finden waren, die als Freunde galten – wie beispielsweise inoffizielle Mitarbeiter – auch für private Bedürfnisse genutzt wurden. Neben den eingegrenzten Auswahlmöglichkeiten für Freundschaft und Ehe verdichtete auch die Konzentration der privaten Wohnquartiere das Milieu. Die Offiziere lebten seit den 1970er Jahren überwiegend in Neubaugebieten, in denen sie wiederum dicht an dicht wohnten. 283 Dadurch verstärkte sich mit der sozialen auch die politische Kontrolle. Die Kinder der Offiziere besuchten in den Wohngebieten gemeinsam die Schule und schlossen Freundschaften, die über das Sicherheitsmilieu meist nicht hinausgingen. Es wurden gemeinsame Feste gefeiert und politisch-soziale Riten anlässlich bestimmter Feiertage zelebriert. 284 Die allgegenwärtige soziale Kontrolle führte mit den beinahe kasernenähnlichen Lebensverhältnissen zur weiteren Verdichtung des Milieus. Die folgende Anekdote führt vor Augen, welch enge Grenzen auch der Kommunikation gesetzt waren. Als sich einer der Offiziere der dritten Kohorte in seinem Kleingarten aufhielt, traf er eine Gartennachbarin, die wie er in der Bezirksverwaltung Gera angestellt war, und tauschte sich mit ihr über Neuigkeiten aus, wie darüber, dass seine Frau bald die Arbeitskollegin der Nachbarin sein werde. Kurz darauf wurde er zu einer Aussprache zitiert. Er habe Interna preisgegeben, die vom Kader282 Vgl. die vorangegangenen Kapitel. 283 In Gera betraf dies das Neubaugebiet Gera-Lusan, in Hermsdorf das Dreieck Seelenbinderstraße/Stadion/Weinertstraße, in Stadtroda den Tachover Ring. 284 Möglicherweise können künftige Untersuchungen klären helfen, inwieweit das Aufwachsen in solchen Neubaugebieten systemspezifische Einstellungen und Verhaltensweisen konservierte. Eine Gegenblende: Eine im Rahmen der unabhängigen Friedensaktion »Kerze« 1984 verhaftete Frau aus dem Geraer Theater, die ebenfalls in einer Funktionärsfamilie in Lusan aufgewachsen war, hatte durch die Geraer Offene Arbeit andere Jugendliche sowie neue Themen kennengelernt. Mit dieser »Zweiten Öffentlichkeit« erschloss sich der jungen Frau ein Lebensfeld, das Chancen der eigenen Artikulation und damit der Individuierung bot. ThürAZ: Interview Lenski/Merker zur Aktion »Kerze« mit Kathrin Zimmer am 1.6.2005 in Gera. Zum Begriff der Zweiten Öffentlichkeit sowie zur Entstehung und Zerschlagung der Offenen Arbeit in Gera Dies.: Diktat (Anm. 99), S. 27–53.
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leiter, nicht aber von ihm selbst mitzuteilen seien. Kreisdienststellenleiter und Parteisekretär monierten, er habe die Sicherheit gefährdet. Dass die Nachbarin bald die Kollegin seiner Frau in der Bezirksdienststelle sein werde, hätte nur vom Kaderleiter persönlich bekanntgegeben werden dürfen, nicht aber von ihm. Der Smalltalk wurde als Geheimnisverrat disqualifiziert, der Offizier in seine untergeordnete Position verwiesen. Die Selbstverständlichkeit des Umgangs der beiden Nachbarn lässt darauf schließen, dass sie die scheinbar uferlosen Grenzen der Geheimhaltung hintergehen mussten. Wollten sie informiert sein oder auch nur die zwischenmenschlichen Beziehungen pflegen, mussten sie miteinander reden. Die Mittel der Feindbekämpfung wandelten sich zur Blockade in der eigenen sozialen Praxis, zur Blockade der sozialen Ressourcen. 285 Möglicherweise hätten Urlaubsreisen die Abschließung des Milieus mildern können – doch solche fanden nur selten statt, meist nach Ungarn oder in die Tschechoslowakei, doch selbst hier durfte nicht zufällig kommuniziert werden, denn stellte sich die Zufallsbekanntschaft als »Klassenfeind« heraus, drohten Sanktionen bis hin zur Entlassung. Durch das zusätzliche Verbot, Westmedien zu konsumieren, musste das Weltgeschehen weitgehend ausgeblendet bleiben. Im langsamen Rhythmus der Kleinstädte gewannen diese Begrenzungen an langweilender Bedeutung und zementierten die Freund-Feind-Positionen.
5. Zusammenfassung Diese Fallstudie zu den 20 am ZOV »Bühne« beteiligten Offizieren untersuchte deren Herkunft, ihren Bildungs- und Berufsweg, ihren Sozialraum und ihre politische sowie militärische Sozialisation sowie die Strukturen der Stasi-Parallelgesellschaft in der Provinz. Die Mitglieder der ersten Kohorte, geboren zwischen 1927 und 1934, wurden fast alle aus militärischen oder Parteifunktionen heraus in der Aufbauphase des Apparats eingestellt und kamen somit früh in Positionen, in denen sie als Disziplinatoren tätig wurden. Ihr Orientierungswissen konnten sie weder aus Bildungs- noch Lebensalterressourcen herleiten. Dafür hatten sie als Kinder und junge Erwachsene die NS-Zeit und den Krieg erlebt. Trotz der relativ hohen Entlassungszahlen in den frühen Jahren des MfS stiegen sie kontinuierlich auf, bis sie mit dem Ende der 1960er Jahre ihre leitenden Posten erreichten, die sie zumeist 20 Jahre lang behalten sollten. 285 Zur Denunziation eine andere Meinung in Wilkening, Christina: Staat im Staate (Anm. 2), S. 189: »Es hätte auch keinen Sinn gemacht, wenn es alle so gemacht hätten.« Damit meint »Rainer« aus der Observations-Hauptabteilung, dass sich nicht auch noch die Offiziere untereinander bespitzeln konnten, da das den Apparat gesprengt hätte. Wie hier zu sehen ist, war dem nicht so: Denunziation war auch im Apparat möglich, was durch »Hans« aus der HA XX ebenda, S. 58 bestätigt wird.
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Verglichen mit den fünf Mitgliedern der ersten Kohorte waren die der zweiten, geboren zwischen 1935 und dem Kriegsende 1945, beruflich deutlich qualifizierter. Allerdings stiegen sie später als ihre Vorgänger und erst in den 1980er Jahren in Leitungsfunktionen auf. Diesen Erfahrungsraum teilte die dritte Kohorte, geboren zwischen 1945 und 1953, nicht, denn weder erschloss sich ihnen der Aufbaugeist der ersten Kohorte noch teilten sie die Aufstiegserfahrung der Älteren. Gemeinsam war der dritten mit den beiden älteren Kohorten, dass bei den späteren Stasi-Offizieren schon im jungen Erwachsenenalter eine Affinität zum militärischen Bereich bestand. Disziplinierungserfahrungen blieben ihnen während der Armeezeit erspart, wo sie im Gegenteil überdurchschnittlich oft ausgezeichnet wurden. Im Unterschied zur schulischen und bisherigen beruflichen Erfahrung bescheinigte man ihnen hier herausragende Leistungen, was jedoch nicht zu einer entsprechenden beruflichen Karriere führte. Der militärähnlich organisierte MfS-Apparat schien hinsichtlich Status, Ansehen und Einkommen eine Alternative anzubieten, die sich jedoch für die dritte Kohorte nur partiell realisierte. Konnten sich die Mitglieder der ersten Kohorte als Disziplinatoren unter den Offizieren noch mit einer antifaschistischen Ersatzidentität 286 ausstatten und Anerkennung im Aufstiegssystem des Apparates gewinnen, der ihnen vor dem Hintergrund der begrenzten Ressourcen ihrer Kindheit das Versprechen des Sozialismus einlöste, gelang das den Angehörigen der zweiten Kohorte nur bedingt, denen der dritten gar nicht mehr. Damit schwand auch das Legitimationspotenzial des Apparates gegenüber seinen Angehörigen. Diejenigen Ressourcen, die die Restriktionen des Sicherheitsmilieus scheinbar kompensierten, wie Aufstiegschancen und Zugang zu Machtpositionen, nahmen mit dem Ausbau des Apparates ab. Die geliehene Identität verlangte nach immer weiteren Etikettierungen der »Anderen« und suchte mit dem Argument der »inneren Sicherheit« immerwährend nach neuen Gegnern. Der mit der Karriere im Apparat einhergehende Zuwachs an Bildung und Erfahrung war gleichfalls eingehegt. Er diente nicht der Perspektivenerweiterung, sondern einer Einengung, weil er sich in den Begrenzungen der tschekistischen FeindFreund-Schemata bewegte. Mit der Trias aus Gehorsam, Konspiration und Parteilichkeit 287 folgte man militärischen und geheimpolizeilichen Vorbildern bei der Durchsetzung von Macht- und Ordnungsansprüchen. Die Parteigruppe wurde zum Erziehungsfeld und Garanten der inneren Disziplin. Von Disziplinierungen waren insbesondere die Mitglieder der dritten Kohorte betroffen. 288 Ihr Erfahrungshorizont war somit von engen Grenzen umgeben, die auch und gerade Geschlechterbeziehungen im Schema von Ordnung und Sicherheit abschlossen. 286 Niethammer: Erfahrungen und Strukturen (Anm. 32), S. 105. 287 Gieseke: Hauptamtliche Mitarbeiter (Anm. 3), S. 546. 288 Nebenbei ist zu bemerken, dass es besonders die Altersgenossen der dritten Kohorte unter den Künstler/innen waren, gegen welche sich die Maßnahmen des ZOV richteten. Diese Kohorte ist folglich sowohl auf der einen wie der anderen Seite vom Ausbau der inneren Sicherheit durch existenzielle Blockaden betroffen.
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Eine Kompensation für die mit der Zugehörigkeit zum Stasi-Apparat einhergehenden Einschränkungen und Abgrenzungszumutungen war mit überdurchschnittlichem Lohn und zusätzlichen Vergütungen, Urlaubstagen und Gratifikationen bei den Offizieren der ersten beiden Kohorten offenbar noch gelungen. 289 In der dritten Kohorte dagegen finden sich deutliche Anzeichen einer Erosion von Normentreue, was sich in zunehmenden Disziplinierungen zeigte, die zumeist aus Gewalt- und Suchtstrukturen resultierten. Die geheimpolizeiliche Praxis basierte grundlegend auf der Methode der Konspiration. Diese entwickelte sich zunehmend zur Alltagstechnik, die den Hauptamtlichen rechtsfreie Räume eröffnete. Dies zeigte sich bei der Einhegung von Konflikten, die in der Regel nicht gelöst, sondern in andere Bereiche der Gesellschaft verschoben wurden. Sie wurden von der Öffentlichkeit abgeschirmt und durch Ausschluss gelöst. Aus der Exklusion im Interesse der »inneren Sicherheit« folgten Beziehungsarmut und -unbeweglichkeit sowie ein eingegrenzter Horizont, woraus immerwährend neue Konflikte gespeist wurden. In den Geschlechterbeziehungen zeichnete sich eine politische und kulturelle Homogenisierung ab. Die eingeengte Perspektive der Stasi-Offiziere wurde kaum von verwandtschaftlichen Beziehungen gemildert, denn Kontaktverbote und Ausschlusspraxis verhinderten eine soziale und kulturelle Öffnung. Die Abschließung des Milieus wurde durch die systematische Rekrutierung von Verwandten für den Stasi-Apparat gefördert. Die Offiziere orientierten sich in ihren Beziehungen letztlich auf das Sicherheitsmilieu, um den tschekistischen Anforderungen zu entsprechen, die somit bis in den Privatbereich verlängert wurden. 290 Durch die Familien wurde die Praxis der Staatssicherheit zwar unterstützt, langfristig jedoch wurden das soziale und kulturelle Kapital durch diese Praxis minimiert. Die Fürsorge des Apparats reichte zudem im Zweifelsfall nicht bis in die Familien – so blieben die von häuslicher Gewalt Betroffenen schutzlos. Die sich entwickelnde »tschekistische« Parallelgesellschaft schloss sich zunehmend ab. Die sozialen Räume engten sich zunehmend ein bis hin zur kasernenähnlichen Konzentration des Sicherheitsmilieus in eigenen Wohngebieten. Einhergehend mit der Verbotsstruktur hinsichtlich sozialer Beziehungen und Konfliktverlagerungen (die zu Konfliktverlängerungen führten) verdichteten sich die Beziehungen bis hin zur Abschließung von der übrigen Gesellschaft. In den 1980er Jahren ist für die Stasi-Offiziere in der Provinz nicht die in den Kaderanforderungen postulierte Mobilität spezifisch, sondern das lang andauernde Verharren an denselben Orten und in denselben Positionen mit Sozialbeziehungen, die nicht über die festgelegten Kreise hinausgingen. Das Milieu verdichtete sich durch diese Bedingungen immer weiter und wurde so zu einem wichtigen Element der Stagnation am Ende der 1980er Jahre. Kontaktverbote, festgefügte Feindbilder 289 Dazu auch Gieseke: Hauptamtliche Mitarbeiter (Anm. 3), S. 365 u. 441. 290 Ebenda, S. 278.
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und die Beschneidung menschlicher Bedürfnisse führten zu einer sozialen, politischen und kulturellen Erstarrung, die im Herbst 1989 als Artikulationsunfähigkeit deutlich wurde. Im diametralen Kontrast stand diese Parallelgesellschaft der hauptamtlichen Stasi-Mitarbeiter zum Milieu der Künstler/innen, deren Profession die Überschreitung der Grenzen war; die mitunter sich selbst und ihre Mit-Welt neu zu erfinden wussten.
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Martin Morgner
Zusammensetzen des Zersetzten oder Heilung vom Akten-Aussatz Sie können sich nicht vorstellen, was da erreicht worden ist! Die Namen gefunden und gegeben all der Hexerei, die mich Jahrzehnte quälte, mir Unbehagen bereitete, Streit gebar, mich verwirrte und unglücklich werden ließ. Alles entwirrt, alles benannt, einfach, durchsichtig, traurig. Boris Pasternak 1
Meine indirekten Begegnungen mit der Macht Als ein im Jahre 1948 Geborener lebte ich im Schatten eines sich permanent ausbreitenden Überwachungssystems. Hätte ich diesem ausweichen, aus dem Weg gehen, oder besser noch, entkommen können? Das ist heute, über 60 Jahre nach meiner Geburt in der Nähe der von mir erst spät wahrgenommenen rot gemauerten Trutzburg des Frauengefängnisses Hoheneck (Kreisstadt Stollberg im Erzgebirge) eine unproduktive Frage. Bei den Weichenstellungen in meinem Leben dominierten die Haltung und Handlungsweise, nicht lange zu fragen, sondern mehr intuitiv zu analysieren und zu entscheiden. Auf diese Weise geriet ich auf ein Gleissystem, über dem ein straffes Netz zur Überwachung gespannt war und unter dem ein Gewirr von Fußangeln und Stolperdrähten stete Aufmerksamkeit erforderlich machte. Am 2. Mai 1969 besuchte ich mit drei Freunden aus der Bezirksstadt Dresden, gut vorbereitet mit sorgfältig abgetippten Durchschlägen von Gedichten und Liedtexten, den musischen Helden der DDR-Opposition in seinem bewachten Domizil in Berlin (Ost), Chausseestraße 131: Wolf Biermann. Bei dieser für mich unvergesslichen Begegnung hörte ich zum ersten Mal einen DDR-Bürger frech und grienend das Wort »Stasihunde« hervorpressen: Weil er uns nicht kannte, nicht erwartet hatte an diesem Samstagvormittag in Ostberlin, beendete er seine kritische Musterung der Gruppe von schüchternen Verehrern aus dem Süden der Republik mit dem unfreundlichen Satz: »Hoffentlich seid ihr wirklich das, was ihr vorgebt – und nicht in Amikutten gesteckte Stasihunde!« – Wir hörten ihm dann zwei Stunden mit vor Aufregung und Begeisterung offenen Mündern zu, einem kleinen »Programm« 1 Pasternak, Boris: Aus dem Brief v. 10.12.1955 an Nina Tabidse, zit. nach: Mierau, Fritz: Ein ganz gewöhnlicher Roman. In: Ders.: Doktor Schiwago (Anhang). Frankfurt/M. 1993, S. 758.
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ausschließlich für uns als seine »Jünger«. Der »Auftritt« des unter Auftrittsverbot stehenden Barden endete mit seinem in jenen Tagen fertiggestellten prophetischen Lied »So oder so, die Erde wird rot«. Im Stress von Rührung und Verehrung vergaßen wir, unsere unansehnlichen Durchschlagpapier-Bündel seines ersten Liederbuches »Die Drahtharfe« mit einem Autogramm veredeln zu lassen. Erst Jahre später habe ich die durch diesen Besuch bei Wolf Biermann in Berlin ausgelöste Weichenstellung in meinem Leben begreifen können, die für mich als künstlerisches Individuum scheinbar vorbereitet und initiiert worden war: Das eine Gleis war diese Wut, dieser Zorn auf eine machtgierige Parteiclique, bei der die »grauen Kampfgenossen« (nach Biermann) vom MfS nur die mehr in der Versenkung Operierenden waren. Die Wut und der Zorn hatten ihre rationalen Gründe darin, dass wir wahrhaftig nur einen sehr engen Spielraum zur Verfügung hatten, dass wir uns im jugendlichen Alter der lustvollen Aggressionen in einem begrenzten Areal des Geistes und des Auslebens selbst begrenzen sollten und mussten. Von Biermann war aber nicht nur der Zorn zu lernen, sondern auch die Lust am Leben, an der Liebe und – das war für mich das entscheidende zweite Gleis dieser Weichenstellung – an der Poesie, am Schreiben, am Spielen mit den Möglichkeiten, an den unendlichen Ausdrucksmöglichkeiten der Kreativität. Diese Weichenstellung führte (oder: verführte) mich auf die unterminierte Gleisanlage, auf das Minenfeld der normativen Kontrolle, der ideologischen Gängelei, der politischen Verfolgung, der letztlich staatskriminellen Zersetzungsstrategien einer nicht gewählten totalitären Machtbehörde. Nach nun 40 Jahren der unerwünschten »Partnerschaft« offenbart jede realisierte Rückschau: Von 1969 bis 1989 unterspülte eine klebrige, marode Masse aus Augen, Ohren, Stiften und Papier 20 Jahre meines Lebens, drang mehrfach kurz und schmerzhaft in Hirn und Herz meiner Existenz, in die Gedanken und Gefühle, mehr noch, in die Hoffnungen und die motivierenden Kräfte des Daseins. Wie recht die »Schöpfer« der Zersetzungsstrategie doch hatten mit ihrer destruktiven Wortschöpfung »Zersetzung«! Zersetzt haben sie aber auch sich selbst; das zwangskranke System, das sie sich über die nachvollziehbar hoffnungsvolle Idee von einer gerechteren Gesellschaft verordnet hatten, brach unter den »Ordnern« zusammen. Auf einem Podium im Rathaussaal von Jena, am 9. Mai 2009, am zehnten Todestag des Bürgerrechtlers Jürgen Fuchs schien der rechte Ort und die rechte Zeit zu sein für ein Treffen von einigen, die wie ich auf dem Weg waren oder noch sind, das Zersetzte wieder zusammenzusetzen. Dass man über dieser nur scheinbar selbst gewählten Aufgabe verzweifeln kann, dass man erkranken kann und endlich als Individuum verschwindet, dafür war und ist nicht nur Jürgen Fuchs ein Beispiel. 2 2 Diese meine Ansicht soll keine Stellungnahme sein zu der mehrfach geäußerten Vermutung, dass Jürgen Fuchs durch eine Blutkrebs-Erkrankung gestorben ist, deren Ursache in der Strahlenmisshandlung während seiner MfS-Haft liegt. Erkranken und Sterben von ehemals »Zersetzten« hängt meiner Überzeugung nach eng zusammen mit dem frühen Verbrauchen von Widerstandskräften der Außenwelt gegenüber und der fehlenden Erneuerung der Lebensenergie (ohne esoterisch grundierte Therapie-Theorien bedienen zu wollen).
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Das System selbst war – außerhalb der Gewissens-Partnerschaft von Schuld und Schuldigen, Tätern und Opfern – in seinem Wesen lebensfeindlich. Dafür lieferte für alle, die immer noch, und noch bis jetzt, blind und unkritisch mit den achtbaren Zielvorstellungen vom »Sozialismus« sympathisieren und argumentieren, ein aufklärender Artikel am gleichen Tage in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« 3 ein bedrückendes und beredtes Beispiel. Der Journalist Jürgen Schreiber beschreibt dort die tragische Rolle, das erschütternde Schicksal des »Top-Vernehmers« aus der MfSZentrale in Berlin-Lichtenberg. Beim Zersetzen der von ihm zu Zersetzenden zerfiel er selbst; ihm gelang das Zusammensetzen nicht mehr. Das staatssicherheitliche Minenfeld wanderte zwischen 1969 und 1989 parallel zu meinem Leben weitgehend unsichtbar, ›unterirdisch‹ mit: ideologisch aufgeladene Spannungsfelder, die bewusst und gewissenlos auf mich gerichtet wurden. Wen wundert es, dass ich von einem Spannungszustand in den nächsten geriet, dass ich taumelte, wenn er zunahm oder plötzlich ausblieb. Wie viele andere habe ich diese Spannungsfelder meist nur geahnt bzw. ihre Wirkungen gespürt. Die entladenden Berührungsmomente waren, in meinem Fall, selten, und sie hatten die Eigenart, dass sie eigentlich nicht entluden, sondern neu aufluden. Gegenstand dieser zeitgeschichtlichen biografischen Erinnerungen sind aber nicht die Begegnungen und Nicht-Begegnungen, sondern der Prozess des Aufdeckens dieser Spannungsverhältnisse, der Erschütterungen beim Zusammensetzen des eigenen Ich nach dem Ende der aktiven Zersetzungsversuche und realisierten Zersetzungen. Der konkrete Inhalt meines Beitrags zum Forschungsprojekt »Bühne der Dissidenz« soll der krisenhafte, aber meiner Ansicht nach auch notwendige Prozess der Heilung vom Aussatz der Akten-Krankheit sein.
Erste Reflexion im Schwebezustand Herbst 1989: Einsichten ohne Akteneinsicht »Leben – Spiel aus Lust und Verlust, Suchen und Versuchen, Gehen und Vergehen, Folgen und Verfolgen, Zweifeln und Verzweifeln […] Verwehren und Wehren, Verbrauchen und Brauchen, Verraten und Raten, Verdrängen und Drängen.« 4 – Mit diesen sich scheinbar ausschließenden Begriffspaaren begann die 40 Seiten lange autobiografische Skizze, die ich mir zwischen dem 19. Oktober und dem 6. Dezember 1989 aus der Seele geschrieben hatte; zwischen den ersten Demonstrationen auf den Straßen Ostberlins, den hastigen Treffen in den in jenen Herbsttagen fast öf3 Schreiber, Jürgen: Das Leben des Anderen. In: FAZ, Nr. 107 v. 9.5.2009, S. Z1 u. Z3. 4 Morgner, Martin: LebensVERlauf. Autobiographie im Zeitenstrudel, Oktober bis Dezember 1989. Berlin 1989 (ungedrucktes Manuskript), S. 1.
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fentlichen Trefforten der Aktivisten der »Friedlichen Revolution« und den bierseligen Umarmungen alter Freunde in durchzechten Nächten zwischen BerlinKreuzberg und Prenzlauer Berg. Um mich herum überschlug sich die deutsche Kleinwelt, in mir wurde es ganz still. Ich erarbeitete für mich Stille, vielleicht als Gegengewicht zum Überschall außer mir. Ich schrieb als 41-jähriger DDR-Bürger eine autobiografische Skizze: ein spontaner Einfall, der Eigendynamik entwickelte. Der Text entstand in meiner Souterrain-Wohnung in der Greifenhagener Straße, in einem Hinterhof, in den ich mich seit drei Jahren »verkrochen« hatte – nur reichlich 100 Meter von der Gethsemane-Kirche entfernt, die später als eine der Brutstätten der Revolution in Ostberlin galt: die Kirche an der Ecke Greifenhagener/Stargarder Straße. Aber der Text hatte vordergründig nichts mit der äußeren Situation zu tun, sondern mit meiner inneren, ganz persönlichen: Zweifellos befand ich mich an einem Scheideweg, an einer Kreuzung oder, mit meiner heutigen Terminologie ausgedrückt, vor einer Weichenstellung in meinem Leben. Denn als ich den Text begann, Ende Oktober 1989, konnte ich vom Ausgang der Konflikte, Krämpfe und Kämpfe nichts Genaues kennen. Ich ahnte und wusste nur: So wie es war, würde es nicht weitergehen können. Also suchte ich meinen Standort zu beschreiben, indem ich in meiner Biografie kramte, vielleicht deshalb, weil ich mich selbst vergewissern wollte, damit ich mir selbst nicht verloren gehe. Als ich am Ende dieser Standortbestimmung angelangt war, Anfang Dezember 1989, stand mir die Welt offen, so wie ich mir das lange gewünscht hatte. Die Tür war geöffnet worden, und ich war am Ende meines biografischen Abrisses angelangt. Ich habe in diesem »LebensVERlauf« betitelten Manuskript nie wieder gelesen, den Text aber gut aufbewahrt. 20 Jahre sind seitdem vergangen, und dem Kreativen in mir, der die VerBilderung erlebter Geschichte nur schwer vermeiden kann, drängt sich das bewegte Bild einer Achterbahn auf: Wenn die Krümmung der Bahn nach einer Bergfahrt in eine Schwebe gerät, so als ob sie »Luft holen« wollte – und dann in die Tiefe jagt, um Anlauf zu nehmen für den nächsten Aufschwung, der dauerhafter sein kann. Denn die Schwebe der Freiheit, die wie ich plötzlich und unerwartet Millionen von ostdeutschen Menschen erleben konnten und auch mussten in der Periode des Absturzes, des Aufstiegs und des Fliegens über die Trümmer alten Lebens – diese Periode, ob man sie nun »Wende« nennt oder Zusammenbruch oder Revolution, war vor allem eine Krise.
Direkte Begegnung mit den Texten der Macht Der Begriff der Krise drängt sich auch auf für den Gegenstand dieser Überlegungen zur Bedeutung der »Akteneinsicht« für mein Leben in den 20 Jahren von 1989 bis 2009, in dieser Zeit der Konfrontation mit dem erwartet Unerwarteten. Ein Ver-
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gleich mit anderen Betroffenen (wie zum Beispiel Jürgen Fuchs, wie Reiner Kunze) drängt zur Frage: Liefere ich mich, mein Leben, meinen »LebensVERlauf«, noch einmal und wieder und wieder dieser »Netzhaut« der Fremd-Beobachtung aus, die im schlimmsten Fall über mich fällt und meine Bewegungen behindert, begrenzt, lähmt oder endgültig stoppt? – Eine sinnvolle Frage, auf die Antworten sehr individuell unterschiedlich ausfallen. Es erscheint mir wie eine praktische Fügung, meine autobiografische Skizze vom Herbst 1989 gefunden zu haben, weil der Text eine authentische Einordnung der über Jahre geahnten Verfolgung durch das Ministerium für Staatssicherheit als politisches Phänomen enthält, und dieser Abschnitt ist nicht länger als im Folgenden zitiert: »Am Abend des 8.11. erhielt ich ein Telegramm, daß ich mich am nächsten Morgen, 7.45 Uhr in der Kaderabteilung der Bühnen der Stadt Gera melden solle. Ich ahnte nichts Gutes – was mir aber dieser Freitag, der 9.11.1979, brachte, hätte ich nicht erwartet. Zwei Genossen vom MfS holten mich gegen 8.00 Uhr ab, fuhren mit mir in die Bezirksverwaltung des MfS und vernahmen mich bis zum Abend. Von meinem Vorhaben, eine Kandidatur im Schriftstellerverband aufzunehmen, wussten sie, sodaß ein Zusammenhang zwischen beiden Ereignissen keine Konstruktion von mir ist. Von den Stunden dieses Tages habe ich wenig behalten. Ich war seelisch so schockiert, daß ich den mehr oder minder freundlich oder aggressiv gestellten Fragen und Forderungen kaum Widerstand entgegensetzen konnte. Da es offensichtlich keine aktuellen Vorwürfe gab, die eine strafrechtliche Verfolgung begründet hätten – von den illegalen Grenzübertritten von Bekannten aus Jena wollte ich gar nichts wissen – setzte man mich mit meiner anarchistischen Vergangenheit zunehmend unter psychischen Druck. Man drohte mir mit einem Verfahren und einer langen Haftstrafe. Ich muss in dieser Lage, die all meinen positiven Gedanken und Absichten und Hoffnungen ins Gesicht schlug, einen tiefen psychischen Schock erlitten haben. Die Todesangst, die mich hinter Gittertüren erfasste, hatte reale Gründe: Im gleichen Gebäude hatte sich ein junger Mann aus Jena wenige Monate zuvor, auch an einem Wochenende, angeblich aufgehängt. 5 Ein junger Bühnenarbeiter von den Bühnen der Stadt Gera, der, wie ich wußte, auch vom MfS bedrängt wurde, hatte sich ebenfalls einige Monate vorher das Leben genommen. In dieser Situation, in die ich alles andere als ›freiwillig‹ geraten war, versuchte ich mich einfach nur noch zu retten und unterschrieb ›freiwillig‹ Erklärungen, die ich im Freien niemals unterschrieben hätte. So brauchte ich Monate, um die Bedrückungen und Bedrängungen jenes einen Tages zu bewältigen und mich wenigstens äußerlich wieder freizumachen. Nach diesem 9. November [1979] hinter Mauern mitten in Gera, gegenüber von meiner Arbeitsstelle, dem Puppentheater Gera, zogen existentielle Ängste in mein Leben ein. Die folgenden Monate wurden für mich zur Schule von Angst, Mißtrauen und Verzweiflung. Wie schleichendes Gift breiteten sich diese destruktiven Gefühle in mir und in meinen Beziehungen 5 Ich meinte damals Matthias Domaschk, dessen tragisches Schicksal nicht öffentlich bekannt und also für mich als DDR-Bürger nur schwer recherchierbar war (eigentlich nur über die Bekannten und Freunde im Westen). Deshalb ist in meiner autobiografischen Skizze eine historisch falsche Aussage zustande gekommen: M. D. befand sich erst mehr als ein Jahr später in einer der meinigen sehr ähnlichen Situation am gleichen Ort, nämlich im Mai 1981. Vgl. »Horch und Guck«, Sonderheft I zu Matthias Domaschk. Berlin 2003.
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zur Umwelt aus. Ein anderes Symptom waren Fluchtgedanken verschiedener Art: Konnte ich den Forderungen durch das MfS entkommen? – Das Land war ringsum zu. Selbstmordgedanken waren an der Tages- und Nachtordnung; einige schrieb ich nieder. 6 Monatelang dachte ich all dem nach, was in diesen wenigen Stunden geredet worden war. Selbstverständlich hatte ich Verfolgungswahn-Attacken – aus dem Gehörten schlußfolgerte ich, daß ich beobachtet wurde, und jeden Menschen in meiner Umgebung verdächtigte ich, daß er einer dieser Beobachter sei. Ich bildete mir ein, daß meine Post kontrolliert würde. Anzeichen einer mir ganz bewußten Schizophrenie traten auf: Einerseits war mir der Druck jederzeit geistig bewußt, andererseits schrieb ich in jener Zeit wie rasend sehr viele Texte, die mit meiner Situation gar nichts zu tun hatten, die ich aber in meinen Gedanken an Selbstmord oft für meine ›letzten Seiten‹ hielt. Bis zum Juni 1980 fühlte ich mich ohnmächtig einer Übermacht ausgeliefert, fürchtete Anrufe und zitterte, wenn sie kamen. Nach wochenlangem Grübeln, wie ich diesem Zwang entkommen könnte, versuchte ich dies mit einer langen Bittschrift, in der ich meine Lage darstellte und darum bettelte, in Ruhe gelassen zu werden. Diese Bittschrift, die ich ›Noch mehr Wahrheit‹ nannte, übergab ich einem ›Verbindungsmann‹ beim einzigen ›geheimen‹ Treffen. Im Juni 1980 wurde mir dann diese Ruhe gewährt, und ich war unsagbar erleichtert.« 7
So reflektierte ich 1989, zehn Jahre nach dem Erlebnis, die einschneidende erste Konfrontation mit dem aggressiven Geheimapparat der SED-Diktatur 1979, bevor ich zwei Jahre später, 1992, in die Grube der Akten-Messer steigen konnte. Heute erkenne ich auch unter der Reflexion von 1989 noch die alten Ängste von 1979/80.
Vor der Akten-Einsicht 1992: Vergleiche, Absichten und erste Wortmeldungen Der Dichter Reiner Kunze aus dem Städtchen Greiz, das zum Bezirk Gera gehörte, durfte als einer der ersten Prominenten in seine Aktensammlung Einsicht nehmen, ohne dass es schon ein bindendes Gesetz für diesen Blick in die Höhle der Staatsschlange gab. Das Buch »Deckname ›Lyrik‹«, das der Schriftstellerkollege Kunze zeitnah im Herbst 1990 veröffentlichte, warf bereits einige der wesentlichen Fragen auf, denen sich alle ehemals politisch Verfolgten in den nächsten Jahren stellen mussten: – – –
Will ich in die über mich angelegten und geführten Akten einsehen? Welche Nähe und welchen Abstand suche ich oder versuche ich zu halten? Werde ich die mentale Kraft haben, mich dem Lügengespinst der Macht zu stellen?
6 Daraus entstand der Gedicht-Zyklus »Weis-Sprüche (Suicidiade)«, abgedruckt in: Morgner, Martin: Zersetzte Zeit. Lied der Marionette. Jena 2004, S. 121. 7 Morgner: LebensVERlauf (Anm. 4), S. 21–23. – Kursiv gedruckt: handschriftliche Einfügung.
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Werde ich die Konfrontation mit den Enttäuschungen ertragen? Kann ich die Kraft aufbringen, mich mit den damaligen Verrätern im persönlichen Umfeld, in meiner unmittelbaren Nähe auseinanderzusetzen? Habe ich die Möglichkeit, das Verborgene öffentlich zu machen? Welche Möglichkeiten habe ich, mich öffentlich zu äußern und zu erklären?
Reiner Kunzes kurzes und konzentriertes Buch, das fast ausschließlich aus von ihm selbst ausgewählten Zitaten seiner MfS-Akten besteht, kommentiert nur in einer minimalen »Vorbemerkung« die menschlich entfremdeten Fundstücke. Damit öffnete Kunze mit sensibler Fingerfaust den Panzerschrank der bis dahin kaum sichtbaren dunklen Macht: Mit diesen harten Brocken aus Betondenken und zwangskranker Verfolgungssucht sollte man nun permanent konfrontiert werden. Die irrsinnigen Machwerke von Macht- und Sklavensprache werden nun alle »intellektuell« terrorisieren, nicht nur übersensible Sprachkünstler wie Reiner Kunze: »Über Tausende vonseiten das Deutsch des Staatssicherheitsdienstes lesen zu müssen, war Folter.«8 Mit diesem Satz gab Reiner Kunze das Startzeichen für die folgende jahrelange Periode der »Aufarbeitung« des MfS-Erbes, das ich hier bildhaft als »Zusammensetzen des Zersetzten« bezeichne: weil der Begriff »Zersetzung« der zentrale Begriff der destruktiven »Tätigkeit« dieser Kontroll- und Terrororganisation war. Trotz seiner Kürze kann Kunzes Akten-Anthologie als beispielgebend gelten: Er ließ die Herrscher-Texte für sich sprechen, kommentierte nicht, sondern wählte aus und kombinierte. Am Ende benennt er seinen »treuen«, unerwarteten und gefährlich nahen Spitzel, stößt ihn aus der Anonymität der staatlichen Schattenwelt ins Licht der Aufklärung: Ibrahim Böhme, der verblendete »Kommunist« und willfährige Verräter mit intellektuellem Talent und schizophrener Psyche.9 Neben Reiner Kunzes Akten-Auswahl-Texten traten, bis zur Öffnung der Stasiakten für alle Bürger nach dem Stasi-Unterlagengesetz im Januar 1992, noch eine ganze Reihe anderer mehr oder minder bedeutender oder Maßstäbe setzender Aufarbeitungstexte, die ich selbst nur am Rande und oberflächlich wahrnehmen konnte, weil in dieser Umbruchperiode kaum Lesezeit übrig blieb. In meinem Bücherregal finden sich jetzt, 20 Jahre später, in großer stilistischer und inhaltlicher Breite von Walter Jankas »Schwierigkeiten mit der Wahrheit« von 1989 (als Erlebnisbericht, ohne Akteneinsicht) bis zur Dokumentation »Ich liebe euch doch alle! Befehle und Lageberichte des MfS Januar–November 1989«10 etwa 20 Publi-
8 Kunze, Reiner: Deckname Lyrik. Frankfurt/M. 1990, S. 11. 9 Vgl. hierzu die einfühlsame Biografie von Lahann, Birgit: Genosse Judas – die zwei Leben des Ibrahim Böhme. Berlin 1992. 10 Janka, Walter: Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Reinbek bei Hamburg 1989; Mitter, Armin; Wolle, Stefan (Hg.): Ich liebe euch doch alle! Befehle und Lageberichte des MfS Januar–November 1989. Berlin 1990.
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kationen.11 Alle diese Veröffentlichungen wurden unbewusst und bewusst zu Vorbildern für mein Herangehen an die erwarteten eigenen Aktenordner. In diesen Monaten von Januar 1990 bis Dezember 1991 war ich mir ganz sicher, dass es zu mir und meinem rand-politischen Leben in der DDR auch Aufzeichnungen, Berichte und Maßnahmepläne, Zeugnisse von Postkontrolle und kaderpolitischer Einflussnahme geben musste. In welchem Umfang aber, wer beteiligt war und wie ich selbst in diesem Zerrspiegel der Macht aussehen würde – diese Fragen waren von psychisch bedrohlicher Wichtigkeit. Den öffentlichen dramatischen Drehpunkt zur seit Januar 1992 möglichen, juristisch gefassten Einsichtnahme in die Hinterlassenschaften des MfS setzte, wie konnte es anders sein, Wolf Biermann. In seiner Büchner-Preis-Rede im November 1991 stieß er einen Top-Spitzel der Stasi ins Scheinwerferlicht der deutschen Medienöffentlichkeit: »Der unbegabte Schwätzer Sascha Arschloch, ein Stasi-Spitzel, der immer noch cool den Musensohn spielt und hofft, dass seine Akten nie auftauchen.«12 Danach konnte man erwarten, dass durch Biermanns öffentliche Aktion die Stimmung in Erwartung des ans Licht Kommenden angeheizt würde; dass die Spannung im Einzelnen wuchs, auf der einen wie auf der anderen Seite des AktenZauns. Anfang 1992 stieg die Spannung auf das Öffnen von Akten auch bei mir an. Ich konnte nicht genau benennen, worauf ich eigentlich wartete, worauf ich hoffte, wovor mir aber auch bangte: Zwar kannte ich meine Geschichte mit dem MfS selbst am besten, wusste, dass ich für die geheime DDR-Staatspolizei keine Spitzeldienste geleistet hatte – wie aber die über mich angelegten Akten und Blätter konkret aussehen würden, konnte ich mir trotz der Lektüre von Reiner Kunzes Offenlegung nur vage vorstellen. Das Jahr 1991 endete mit der erregten öffentlichen Konfrontation Biermanns und Andersons in der Volksbühne Berlin, eine authentische Theaterszene. 1992 begann mit der Offenlegung der IM-Tätigkeit (spätestens von da an nahm ich diesen Ausdruck in meinen Wortschatz auf) eines weiteren Lyrikers, mit dem ich seit 1986 in einem Haus, sogar in einem Aufgang (wie die Berliner sagen) wohnte: Rainer Schedlinski. Einige Jahre lang lebte er weit oben, nah am Himmel von Berlin; ich ganz auf dem Boden des Hinterhauses, Auge in Auge mit den dort spielenden, grölenden und rauchenden »Kids«. Durch zwei Hinterhöfe hindurch gelangte man auf die Ostberliner Prachtallee mit dem Flair von New York: Die U-Bahn raste als Hochbahn Richtung Alex oder Pankow; es gab mehr Cafés auf dieser einen Ausfallstraße als in mancher anderen Großstadt der DDR insgesamt. Wenige Meter neben 11 Ich führe hier 3 für mich als Literaten interessante Werke an: Loest, Erich: Die Stasi war mein Eckermann oder: mein Leben mit der Wanze. Göttingen 1991; Fuchs, Jürgen: »… und wann kommt der Hammer?« Psychologie, Opposition und Staatssicherheit. Berlin 1990; Heym, Stefan: Stalin verläßt den Raum. Politische Publizistik. Leipzig 1990. 12 Biermann, Wolf: Der Lichtblick im gräßlichen Fatalismus der Geschichte (Büchner-Preis-Rede), November 1991. In: Ders.: Der Sturz des Dädalus oder Eizes für die Eingeborenen der Fidschi-Inseln über den IM Judas Ischariot und den Kuddelmuddel in Deutschland seit dem Golfkrieg. Köln 1992, S. 15.
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dem Hinterhofdurchgang zwischen Schönhauser und Greifenhagener wurde das »Wiener Café« über viele Jahre zur Heimat Ostberliner Szeneleute. Spätestens mit Biermanns berechtigtem Fingerzeig auf Sascha Anderson begann in Ostberlin und Ostdeutschland die Periode des Aufdeckens von Namen, von Decknamen, von Klarnamen. Aber ›Aufdecken‹ bedeutete nicht ›Aufklärung‹ und schon gar nicht ›Aufatmen‹. Anfang 1992 fing alles erst an, und auch ich mischte mich öffentlich ein.
Erste Wortmeldung als Betroffener: Von der Kraft der Namen »Als ich einige Jahre später eine schwervermietbare Wohnung in Prenzlauer Berg bekam, wohnte in diesem Hinterhof-Seitenflügel vier Etagen über mir zufällig ein bekannter Szene-Lyriker. Er trank seinen Kaffee im Wiener Café, wie andere auch. Aus dem Radio erfuhr ich, daß er zusammen mit Sascha Anderson in Bremen gelesen habe. Das war 1988. Mein Antrag auf eine Reise nach Polen war gerade abgelehnt worden. Von Reisen in den Westen konnte ich nur träumen. Aber da hatte Rainer Schedlinski wahrscheinlich längst seinen zweiten Namen, so wie Sascha Anderson auch. Mit zwei Namen hat man ganz andere Probleme – damals schon, und jetzt erst recht. Unter dem einen Namen schrieben sie modische Lyrik, unter dem anderen nackte Prosa. Was schreiben sie jetzt? Was künftig? Unter welchem Namen? Zwischen den Zeilen standen immer Zäune, zwischen die Namen waren unsichtbare Gräben gezogen: […] Man sollte im Zorn aber nicht diejenigen vergessen, die mit den Namen ihr böses Spiel trieben. Die ›Spieler‹, die ihre poetischen Puppen in Prenzlberg und anderswo tanzen ließen. Ihre nun nam-haft gemachten Marionetten.« 13
Der zuständige Kulturredakteur des führenden Hauptstadtblattes freute sich über meine authentische Stellungnahme zum brisantesten Thema der ersten Tage nach der offiziellen Aktenöffnung. Ich äußerte mich als Betroffener und Zeitzeuge zugleich, ohne schon in meine eigenen Akten einen Blick geworfen zu haben; erst im März 1992 stellte ich Antrag auf Einsichtnahme in der langjährigen Heimatstadt Gera, wo ich den Sammelplatz meines Aktenberges erwartete. Auf meinen Kommentar-Artikel in der »Berliner Zeitung« bekam ich kaum persönliche Reaktionen. Kurz darauf erhielt ich aber von Klaus Wolfram, einem der Herausgeber der ersten freien Wochenzeitung der DDR, »die andere«, das Angebot, Kulturredakteur zu werden; ich nahm das Angebot an und stellte meine Tätigkeit als freier Mitarbeiter bei der »Berliner Zeitung« ein. Allerdings verfolgte mich meine erste Wortmeldung als Betroffener später weiter. 14 13 Morgner, Martin: Die Kraft der Namen. In: Berliner Zeitung v. 10.1.1992, S. 17. 14 Der Text wirkte quasi als falsche Quelle im Internet. Vgl. Google Buchsuche Ergebnisseite, Seiten auf Deutsch, »Martin Morgner« v. 4.2.2008. In diesem Beitrag, der aus einem Text der Germanistin C. Cosentino zitiert, heißt es u. a.: »… Stasimittäterschaft von u. a. Rainer Schedlinski, Andreas Sinakowski, Martin Morgner und Frank Goyke …« – Die krass diffamierende Äußerung kann nur auf einem Missver-
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Öffnen der ›eigenen‹ Akten, Einsichtnahme und eine Dokumentation Am 19. März 1992 warf ich einen ersten Blick in einige der Aktenbände, die mir der Außenstellenleiter Gera des BStU, Andreas Bley, nach meinem Antrag auf Einsichtnahme vorlegte. Über die folgenden Jahre wurde mir der alte Bekannte aus der kirchlichen und künstlerisch tätigen »Szene« in Gera ein verlässlicher Partner in allem, was die Betreuung und die Veröffentlichung von Auszügen aus meinen MfSAkten betraf. Gerade in diesem sensiblen Bereich ist jeder auf solide und hilfreiche Betreuer angewiesen. Seit diesem 19.03.1992 (Terminologie und Schreibweise der Akten schlichen sich langsam in das eigene reflexive Denken ein) war mir also klar und bewusst, dass ich zu den lange und sehr intensiv überwachten »Personen« gehörte; also war ich tatsächlich der Entscheidung ausgesetzt, ob ich in diese bedrohlichen Ordner Einsicht nehme oder nicht. Ich überlegte nicht lange: Das war meine Akte, das war das Material, das mir zustand! Die Entscheidung fand statt, ein kurzer innerer Kampf, eine der wesentlichen Weichenstellungen in meinem Leben. Manchmal kann es erhellend sein, was man ganz aktuell in ein (nicht zur Veröffentlichung bestimmtes) Tagebuch geschrieben hat. Nach meinen ersten Blicken in die Stasiakten notierte ich u. a. Folgendes: Tagebucheintragung vom 23.3.1992: Ein Blick in den Arsch des Drachen! * * Rendezvous mit der Scheiße, die dort von den Arschkriechern angehäuft wurde! Motto nach dem Einblick in meine Stasi-Akte: Ach, hätte man die Deutschen Nie das Schreiben gelehrt … Nun war ich doch noch einer der ersten aus meiner derzeitigen Umgebung, der in seine StasiAkte(n) gesehen hat: in Gera. Sicher ist das, was ich sah, nur ein Teil des Materials, das der Drache über mich gesammelt hat. Es war/ist nämlich nicht im engeren Sinne »meine« Akte, sondern Teil eines größeren Sammelwerks: ZOV »Bühne« heißt es, wurde es von Offizieren des MfS genannt. »Zentraler Operativer Vorgang« zum Puppentheater Gera, etwa zwischen 1981 und 1986 – ich wurde als Teil dieses ZOV geführt, »Martin Morgner«, so steht es fein säuberlich auf drei mehr oder minder dicken Akten. Ich war Teil eines ZOV, eines operativen Vorgangs, Ziel totaler Überwachung und Zersetzung: Ich hatte es immer geahnt … Die Realität dieser Vorgänge übersteigt die Ahnung bei Weitem! Ich habe es stets als äußerst krankhaft erlebt, wenn ich meine Ahnungen für der Wirklichkeit angemessen hielt: Das konnte nur krankhaft übersteigerter Verfolgungswahn sein! – Er war es nicht, nicht bei mir! Die gesellschaftliche Struktur war nach dem System krankhaften Verfolgungswahns gebaut, tatsächlich! ständnis meines journalistischen Textes in der »Berliner Zeitung« vom Januar 1992 beruhen. Vgl. Cosentino, Christine: Noch einmal Sascha Anderson. In: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, hg. von Elrud Ibsch und Ferdinand von Ingen, unter Mitarb. von Antonia Visser, Bd. 36, 1993, S. 3–20.
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Und auf mich (wie auf viele andere auch!) übertrug sich dieser Verfolgungswahn, über viele Jahre, bis zur vollständigen Übertragung, bis zur Beherrschung durch die Krankheit. […] Es gibt für mich nun nichts Notwendigeres und Wichtigeres, als mich der Aufarbeitung meiner Vergangenheit zu stellen – zur Not auch ohne Akten. (Nach dem ersten Lesen in diesem Schund stellt sich so etwas wie eine Sucht danach ein.) 15
Auch wenn mir der Schreiber dieser Notizen heute schon weit entfernt scheint, so finde ich diese Gedanken nach mehr als 17 Jahren ganz erstaunlich: Sie waren spontan geäußert, emotional und gedanklich klar zugleich. Die krasse Ausdrucksweise liegt in der Nähe zur kruden Terminologie des Puppen- und Volkstheaters begründet, sicher auch der des Theaters der freien Szene, in der ich mich zwischen 1990 und 1992 weitgehend bewegte. Meine eigene Terminologie hatte ich ebenso gern und mit Erfolg an Martin Luther und Francois Villon orientiert, am frühen Bertolt Brecht und an Wolf Biermann, an den Heroes der amerikanischen Beatgeneration Charles Bukowski und Jack Kerouac. Hier schlägt diese (anti-)poetische Grundierung im Aufprall auf die pseudo-korrekte Betonsprache der MfS-Akten voll durch! Ich reagierte auf die direkte, sinnliche Konfrontation mit den Akten also auch sinnlich, emotional, im wahrsten Sinne als »Betroffener«: betroffen, ungebremst, amüsiert und empört. Und doch gab es da auch schon einen zielklaren Gedanken: Anmelden einer Doktorarbeit zum Thema »Puppenbühne«, an der HumboldtUniversität oder an der FU Berlin. Ich hatte schon nach der ersten Konfrontation die Idee, eine »objektivierende«, eine zeitgeschichtliche Auswertung anzusteuern. Im Zentrum dieses Plans (ich hatte kein genaues Exposé entworfen) stand die künstlerische Arbeit am Puppentheater Gera, das ich seit Sommer 1989 aus den Augen verloren hatte; nicht also meine eigenen künstlerischen oder literarischen Aktivitäten. Über unsere damals Aufsehen erregende künstlerische Arbeit hielt ich es für lohnenswert und zumindest theatergeschichtlich wichtig, etwas festzuhalten, zu bewahren, zu analysieren. Die unerwartet eingesehenen Dokumente und Quellen regten mich direkt zu diesen Plänen an. Bereits im Juli 1992 wurde ich zur Akteneinsichtnahme ins »Außenarchiv Gera« des »Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes« eingeladen. Vom 20. bis 24. Juli 1992 nahm ich Einsicht in den ZOV »Bühne« und den OV »Bühne« – ein schwarzes DIN-A5-Schreibheft liegt mir als Notizbuch von damals vor. Es enthält, in unruhiger, schnell hingekrakelter Kugelschreiberschrift, Daten, Blattangaben, Überschriften sowie Absichts-Notizen: »Kopieren!«, »Wichtig!« u. ä. Den einen oder anderen Textauszug habe ich auch mit einem farbigen Marker umrandet, heute ein Zeichen dafür, dass ich schockiert war, erschüttert, beeindruckt: »Durchführung von Dis-
15
Tagebucheintrag (Tagebuch 33), 23.3.1992.
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ziplinierungs- und Zersetzungsmaßnahmen auf der Grundlage des Arbeitsrechtes und den Möglichkeiten der gesellschaftlichen Organisationen.« 16 Wie jeder Betroffene versuchte ich die Einsichtnahme so effektiv wie möglich zu bewältigen, ganz gleich, was ich später mit dem Gesehenen und Gelesenen anfangen würde. Ich bestellte sehr viele Kopien, um später mit dem Aktenmaterial arbeiten zu können, und ich stellte Anträge auf »Entschlüsselung der Decknamen«. Schon am 24. Juli 1992 erhielt ich die amtliche Bestätigung durch Andreas Bley, dass der Direktor des Puppentheaters, zehn Jahre lang mein staatlicher Leiter, als IM in der Kategorie GMS Berichte geschrieben hatte, dass er mehrere Jahrzehnte als inoffizieller Mitarbeiter der Kreisdienststelle Gera tätig war. Ohne Groll, denn mir war diese Tatsache schon bekannt, ging ich mit meinem Wissen, mit meinen Eindrücken vom Blick in die Akten an die Öffentlichkeit. Glücklicherweise konnte ich dabei den für mich wichtigen Abstand wahren, da eine alte Bekannte von der lokalen Zeitung mit mir ein Interview führte. Noch jetzt, viele Jahre später, glaube ich, dass die Entscheidung richtig war; auch Form und Inhalt des Artikels sind dem Gegenstand angemessen. Sehr konkret wird die Situation im Puppentheater Gera geschildert, mit den durch die MfS-Akten beweisbaren Handlungen und Haltungen ehemaliger Akteure belegt. Die Zitate aus den Akten geben ein deutliches Bild sowohl von der Realität, die erinnert wird, als auch von den Mitteln und Methoden sowie der Sprache des Geheimdienstes wieder. 17 Dieser Beitrag war ein erster öffentlicher Schritt beim Zusammensetzen des Zersetzten, ein Schritt, den ich für notwendig hielt. Denn es ist die eigene Identität, die zersetzt werden sollte, und die Identität besonders des Schriftstellers hängt mit der Öffentlichkeit eng zusammen, mit dem Wirken in der Öffentlichkeit, mit dem Veröffentlichen. Dass Erhard Oestreich Anfang August 1992 reagierte und von seiner Position als Direktor des Puppentheaters zurücktrat, 18 war eine logische Folge der Veröffentlichung. Von meiner Position aus hatte dieser Vorgang nichts mit Rache zu tun, sondern ausschließlich mit Aufklärung. Es erschien mir fast als praktische Fügung, dass nach meiner Rückkehr nach Berlin die erste überregionale freie Wochenzeitung der DDR, »die andere«, ihr Erscheinen einstellte. So traurig diese notwendige Entscheidung war, so ermöglichte sie doch, meine literarische Aufmerksamkeit nun ganz auf die aufgefundenen und noch zu erwartenden Akten richten zu können. Das Aufgefundene bewog mich noch zu einer überregionalen Wortmeldung in der letzten Nummer unserer Wochenzeitung. Im journalistischen Stil der befreundeten »tageszeitung« (taz) einige Straßen weiter, setzte ich mich mit dem ZOV »Bühne« auseinander, versuchte dabei einen ironi16 Aus meinem Notizheft über die Akteneinsicht am 22.7.92 (Zitat aus dem OV »Bühne«, Bl. 70, Registriernummer des MfS »X 688/85« mit dem Datum »7.6.1984«). 17 Vgl. Becker, Bettina: Martin Morgner: Akteneinsicht. Blick in finstere Fächer. In: Thüringische Landeszeitung v. 1.8.1992. 18 Vgl. Thüringische Landeszeitung v. 4.8.1992, S. 2.
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schen Grundton, der dem Gegenstand des Närrischen auf dem Theater angemessen sein sollte und auch war: »ZOFF IM ZOV. Das Beste aus dem Zentralen Operativ-Vorgang »BÜHNE«. Mit notwendigen VErklärungen des Operations-Opfers Martin Morgner Zoff mit grauen Kampf- und Krampfgenossen kriegte man im ehemaligen Arbeiter- und Bauernregelstaat, wenn man sich erdreistete, öffentlich in Wort, Laut und Geste eigene Ansichten zu Gang und Stand der Dinge zu äußern. So erging es Anfang der 1980er Jahre auch einigen einfachen Menschen aus dem ostthüringischen Volke, die sich und einem anwachsenden Publikum mit Musik und Puppenspiel die sozialistische Freizeit vertrieben. Da wirbelten aufgeregte Anrufe und ausgefuchste Schreiben zwischen Parteizimmern und staatlichen Stuben Staub auf, dessen Extrakt von den Datenbeauftragten der ansässigen Bezirksverwaltung für Staatssicherheit (»BV MfS«) in Pappe gepresst wurde. In Gera quetschte man 1982 die damals noch wenig bekannten Liedermacher Stephan Krawczyk (»Liedehrlich«), Matthias Görnandt und Bernd Rönnefarth (später »Zirkus Lila«) mit dem Verfasser dieser Zeilen, damals Puppenspieler und Stückeschreiber, in einen gemeinsamen ZOV. Ungefragt, wie es für Willkürherrscher typisch ist. Der Autor hatte nun Gelegenheit, in die ihn betreffenden Teile des Vorgangs Einsicht zu nehmen. Unerwartet tat sich ihm ein Werk von originaler (einmaliger!) geistiger und literarischer Qualität auf: schöne Beweise für die schöpferische Ausfüllung der Weisung 1/1976 des Gen. Minister Mielke.«19
Mit diesem einseitigen journalistischen Beitrag hatte ich mich zum ZOV »Bühne« in einer Mischung als Betroffener und Zeitzeuge zu jahrelanger kreativer Tätigkeit geäußert, die ich für wert hielt, dass man sich damit intensiver beschäftigen sollte; und als Theaterwissenschaftler meinte ich damit besonders theaterwissenschaftlich fundiert. Aber die Intensität der Zeit, und auch mein eigenes, damals breit gefächertes Dasein zwischen Kulturpolitik, Kommunalpolitik und Sammelwut für die Bürgerbewegung verdrängte vorerst die avisierte Beschäftigung mit der aus meiner Sicht interessanten und komplexen Thematik. Im gerade gegründeten Archiv der Robert-Havemann-Gesellschaft erhielt ich als Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Dokumentation der »Geschichtswerkstatt Bürgerbewegung« die Möglichkeit, mich mit dem OV »Künstlergemeinschaft« näher zu befassen, in den ich im September 1992 Einsicht nehmen konnte; dieser hatte einen weit geringeren Umfang als der ZOV »Bühne«. Als »Dokumentar«, oder gar als Zeitgeschichtler, war ich damals noch ungeübt, ein Anfänger. Mich trieben im Herbst 1992 aber die mentale Not und der literarische Reiz, in die relativ dünne MfS-Akte zur Lebensgemeinschafts-Utopie »KüGeMeck« Einsicht zu nehmen. Die Erlebnisse um 1980/81, damals zu einem großen Teil unverstanden, vor allem aber psychisch nicht bewältigt in ihren realen Abläufen und den folgenden Repressionen und Spätfolgen, drängten sich fordernd in meine Gegenwart. 19 Morgner, Martin: ZOFF IM ZOV. Das Beste aus dem Zentralen Operativ-Vorgang »BÜHNE«. Mit notwendigen VErklärungen des Operations-Opfers Martin Morgner. In: die Andere 32/1992, S. 12.
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Die Freunde und Bekannten der Ereignisse zwischen 1979 und 1981 gehörten zum Teil noch in meine damals aktuelle Lebenssituation, kannten die erlittenen Störungen und Verletzungen – die Zersetzung hatte Namen auf allen (und ich meine tatsächlich nicht nur: zwei) Seiten der Ereignisse und also auch Erinnerungen. Gerade aus diesem Grund, so meine ich heute, drängte sich die von mir anvisierte, gezielt beabsichtigte Strategie bei der literarischen und öffentlichen Aufarbeitung auf: Ich wollte unseren Utopie-Ansatz als Ausgangs- und Mittelpunkt darstellen, unsere Aktionen zur Verwirklichung der Utopie, und die Re-Aktionen des destruktiven Staats-Apparates als sekundär und lebensfeindlich. Diese Strategie der »Aufarbeitung« enthielt also bereits bei meinem ersten zeitgeschichtlichen Projekt die Methode des »Zusammensetzens des Zersetzten«. Auch wenn nicht alle vorgesehenen inhaltlichen Ansätze in der veröffentlichten Dokumentation erfüllt wurden – für einen sogenannten Barfuß-Historiker konnte sich das Ergebnis meiner zeitgeschichtlichen Studie durchaus sehen lassen. 20 Mit dieser Veröffentlichung äußerte ich mich sowohl als Betroffener als auch als Zeitzeuge von kulturhistorisch durchaus relevanten Vorgängen, und der mit Fotos und Faksimiles ergänzte Text wurde als erste Veröffentlichung in der Schriftenreihe des Robert-Havemann-Archivs mehrfach rezensiert und wohlwollend besprochen. 21
Dreijähriges Gastspiel auf der alten Bühne und Äußerungen als Zeitzeuge Mit meiner Rückkehr an den Ort der »Bühne der Dissidenz« von 1994 bis 1997 wurden natürlich auf allen Seiten Erinnerungen geweckt. Gleich zu Beginn regte mich Andreas Bley zu einer weiteren öffentlichen Stellungnahme an, für eine von der Außenstelle Gera der BStU-Behörde präsentierte Ausstellung. Dort äußerte ich mich noch einmal eindeutig zur Frage: »Soll man in seine Akten Einsicht nehmen?«: »War es richtig, dass ich in die über mich angelegten Stasi-Akten Einsicht genommen habe? – Auf diese Frage ein deutliches Ja! als Antwort, obwohl mich die Einsicht für mehrere Monate zurück in die Vergangenheit führte und psychisch belastete. Die Beschäftigung mit meinem eigenen Verhalten und Handeln, wie es von mehr oder weniger glaubhaften und glaubwürdigen Quellen aufgezeichnet, verarbeitet und bewertet wurde, aktivierte bis zu 15 Jahre alte Konflikte. Konflikte sind der Stoff, aus dem das Leben gemacht ist, ob die Menschen dies wollen oder nicht; unabhängig auch von der Existenz dieses unerträglichen Ministeriums für Staatssicherheit. Daß die offiziellen und inoffiziellen Mitarbeiter des MfS mit ihrer dem kollektiven Verfolgungswahn entsprungenen Sammelwut Material für eine historisch wohl einma20 Morgner, Martin: Deckname »Maske«. Die Künstlergemeinschaft Mecklenburg 1980/81. Berlin 1995. 21 Vgl. u. a. Biskupek, Matthias: Die zersetzte Utopie. In: Ostthüringer Zeitung v. Juni 1995; Küstner, Eike: Über die Demaskierung zerschlagener Lebensträume. In Thüringer Allgemeine v. 23.6.1995; Tiedemann, Kathrin: Rezension unter der Rubrik »Bücher«. In: Theater der Zeit 9/10/95, S. 92.
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lige Möglichkeit der Geschichtsaufarbeitung geliefert haben, ist ein zweifelhaftes Verdienst. Geschichtsaufarbeitung anhand der mehr oder weniger wahren, banalen, präzisen oder verlogenen Akten heißt für mich vor allem, die in der DDR gelebten Jahre in ihrer Konflikthaftigkeit zu erinnern und ganz individuell aufzuarbeiten. Dies habe ich seit meiner Akteneinsicht im Sommer 1992 versucht, habe auch Ergebnisse öffentlich gemacht: in publizistischen Beiträgen, in einer Dokumentation. Damit habe ich versucht, ein Angebot zur Aufarbeitung von Konflikten zu machen. Das Ergebnis ist äußerst bescheiden: Ein Direktor ist stillschweigend aus dem Amt geschieden. Ein Kollege hat mir seine Stasi-Story erzählt und sich bei mir entschuldigt. Gut. Der Schluß liegt nahe, daß unter uns noch hunderte, ja tausende Konflikte schwelen, aus der jüngsten Vergangenheit: trotz der seit fast drei Jahren möglichen Einsichtnahme in eigene und gemeinsame Akten von Bearbeiteten und Bearbeitern. Wie viel Zeit braucht da mancher, wie viel Mut, sich der eigenen (!) Vergangenheit zu stellen? (November 1994/für eine Ausstellung in der Gauck-Behörde, Gera)« 22
Während meiner zweiten Theaterphase in Gera waren durch die Veröffentlichung in der Schriftenreihe des Robert-Havemann-Archivs aber auch professionelle Historiker auf mich als Dokumentar und Zeitzeuge aufmerksam geworden. Die DDRForschung näherte sich einem neuen Höhepunkt, Zentren waren Berlin, Leipzig und auch das neu gegründete Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. in Dresden. Von dort erreichte mich im Frühjahr 1996 die Anfrage, ob ich am Projekt »Politische Verfolgung in der DDR in der Ära Honecker« teilnehmen würde, als Zeitzeuge. Selbstverständlich sagte ich zu. Am 23. September 1996 führte der Projektbearbeiter Johannes Raschka mit mir ein circa zwei Stunden langes Gespräch, das er auf Tonband aufzeichnete. Nach der von mir geleisteten Korrektur der Verschriftlichung des Interviews hielt ich Ende Januar 1997 16 eng beschriebene Seiten in den Händen, die tatsächlich vieles von meinen Erinnerungen an mein Leben und den Abschnitt der politischen Verfolgung enthielten und offenbarten. Beim Wiederlesen 2009 bemerke ich, dass ich seit damals, vor immerhin nun schon 13 Jahren, zum einen vieles vergessen habe, zum anderen sich auch meine Sicht auf die Ereignisse veränderte. Erfreulich ist, dass in diesem Gespräch sehr Wichtiges zutage gefördert wurde, was gewiss mit dem starken Einfühlungsvermögen des Interviewers zu erklären ist. Die andere Ursache aber kann sein, dass sich durch meine Rückkehr nach Gera, an den Ort der Ereignisse, die Erinnerung intensiviert hatte, dass mir die alten Konflikte wieder emotional nahegekommen waren. Zweifellos wurden die Kämpfe, Niederlagen und Erfolge psychisch reaktiviert, und nicht »verarbeitete« Gefühle rissen Erinnerungen an konkrete Ereignisse mit an die Oberfläche des Bewussten.
22 Morgner, Martin: Text für eine Ausstellung der Außenstelle Gera der BStU. Berlin 1994 (ungedrucktes Manuskript).
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Ausführlich befragte mich Johannes Raschka besonders nach der versuchten Werbung bzw. Erpressung zur Zusammenarbeit mit dem MfS, was er auch in einem kleinen Auszug in seinem Buch zitierte. 23 »R.: Warum sind Sie damals – 1979 – verhaftet worden? M.: Es war ein gesuchter Anlaß, so wie ich das jetzt weiß. Sie brauchten einen Spitzel. Damals lief in Jena die zweite Welle von Opposition. Die Stasi wußte, daß ich enge Kontakte zu Leuten in Jena hatte. Das wollten sie ausnutzen. […] R.: Das heißt, Sie vermuten, dass man Sie verhaftet hat, um diesen Anwerbungsversuch durchzuführen? M.: Ja. R.: Wie lange waren Sie im Stasi-Gefängnis? M.: Neun Stunden. Aber das hat gereicht. Matthias Domaschk ist seinerzeit genau wie ich an einem Freitag eingeliefert worden. Ich mußte mich früh um 8.00 in der Kaderabteilung des Theaters melden, wo der Kaderleiter mit mir banales Zeug redete. Dann klopfte es an die Tür, zwei Leute – wie aus dem Film: in Lederjacken – kamen herein und sagten: Es geht um Sie. Steigen Sie unten ein, kommen Sie mit. Es ist eine Befragung. Aber es war eindeutig ein Verhör. Ich wurde in das Untersuchungsgefängnis der Stasi gefahren, und von früh halb 9.00 bis nachmittags um halb 6.00 war ich dort. Bis ich unterschrieben hatte. Es war nicht nur feige, es war auch taktisch das Beste, was ich machen konnte, denn sie hatten mir eindeutig angedroht: Bevor Sie nicht unterschreiben, kommen Sie hier nicht hinaus. R.: Waren es mehrere Stasi-Mitarbeiter, die Sie verhört haben? M.: Ja, das waren mehrere. Zwei Beamte, die das Verhör abwechselnd führten, und – wahrscheinlich – ein Protokollant. Ich beantwortete mindestens sechs Stunden lang Fragen, und als sie mich – nach einem schlechten Mittagessen – fragten, ob ich für sie arbeite, sagte ich: Nein. Natürlich habe ich mich erst eine ganze Weile lang geweigert. Da hieß es: Na gut, wenn Sie das nicht machen wollen, holen wir jetzt den Staatsanwalt. Er ist hier gleich nebenan im Gericht. Sie waren ja damals in Halle in einer verfassungswidrigen Organisation. Mitglied in einer verfassungswidrigen Gruppe bedeutet zwei bis acht Jahre. Das machen wir jetzt gleich fest. Dann ging jemand aus dem Zimmer und holte einen angeblichen Staatsanwalt. Der war nicht von schlechten Eltern. Er war richtig brutal. Ich glaube, ich habe ihn wiedererkannt in einem Fernsehbericht über Matthias Domaschk. Es wurde ein Foto gezeigt. Mit welchem Namen er sich vorgestellt hat, weiß ich nicht mehr. Die anderen beiden, die mich verhörten, traf ich fast jeden Tag auf der Straße, weil sich das Puppentheater gegenüber der Stasi befindet. Sie schauten immer weg, wenn ich kam. Major Sowieso, der für mich zuständig war, sah ich jetzt einige Male in Gera auf der Straße. Ich bin ja nun einer der Fälle, die an den Ort ihres Elends zurückgegangen sind. Die Leute sehen auch jetzt noch nicht gut aus. Nur der, der für mich, für das Theater, richtig zuständig war, verkauft jetzt Versicherungspolicen beim Deutschen Herold, fährt im dicken Wagen durch Gera.« 24
23 Vgl. Raschka, Johannes: Zwischen Überwachung und Repression – Politische Verfolgung in der DDR 1971 bis 1989. Opladen 2001. 24 Raschka, Johannes: Gespräch mit Martin Morgner 23.9.1996, 2., korrigierte Fassung v. 21.1.1997, unveröffentlichtes Manuskript. Zu meinem Öffentlichmachen dieses Erpressungsversuches vgl. den Abschnitt über den journalistischen Beitrag »Die Kraft der Namen« oben sowie die Fußnoten 13 u. 14. – Um letzte
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Das Aufarbeiten und Veröffentlichen der Verfolgungs-Narrative des MfS gewann zunehmend auch eine kulturelle, eine literarische oder, allgemeiner, eine Dimension der angemessenen Darstellung. Meine Dokumentation über »KüGeMeck« war genau das, was sie vorgab zu sein: eine literarische Darstellung mit einem hohen Anteil von schriftlichen Quellen. In der Aufarbeitungs-Landschaft Mitte der 1990er Jahre gab es inzwischen die ganze Breite von Formen: von der prosaischen Biografie über die investigative Enthüllungspublizistik bis hin zu wissenschaftlichen Analysen – zeitgeschichtlich, soziologisch oder politikwissenschaftlich akzentuiert. Auch die ästhetische Gestaltung uferte aus: vom Buch über den Film, vom Theaterstück bis zu Ausstellungen. Für eine der bedeutendsten Ausstellungen gab ich 1996 einige Ausstellungsstücke auf Papier – denn mehr war von »KüGeMeck« nicht geblieben und nicht vorzuweisen. Fotos und Original-Kopien von Stasiaktenblättern, aber auch die wirklichen Originale unserer Konzeption gingen in den Fundus ein, aus dem die sehr sehenswerte Ausstellung »Boheme und Diktatur« gebaut wurde. Auch im ansprechenden Katalog war unser verhindertes Projekt vertreten, mitten zwischen den Projekten und oft extremen künstlerischen Äußerungsformen der DDR-Kreativen, die sich in ihrem ästhetischen Aufschrei nicht bremsen und blockieren ließen, meist bis an die Grenzen oder schließlich über die Grenzen hinweg. 25 Die Ausstellung erfuhr im Nachhinein, einige Jahre später, noch insofern zusätzliche Bedeutung, als durch ihren Katalog erstmals öffentlich und weltweit zugänglich Dokumente über unseren »KüGeMeck«-Versuch im Internet abgerufen werden konnten. Meine Überraschung darüber war groß, weil ich zu dieser Form der Öffentlichkeitsarbeit zum ersten Mal indirekt beigetragen hatte. Die Ausstellung über kreative Lebensansätze führte mich zu der Frage zurück, wie »Aufarbeitung« trockener, spannender, beleidigender, auch ungewollt witziger Aktenblätter einmalig und historisch bedeutsam möglich sein kann. In einem Gespräch mit Karl Mickel, dem sächsischen Lyriker und Denker, 26 der mir oft gute Ratschläge erteilte, bekam ich zumindest einen Hinweis, wie ich es nicht machen sollte. Als ich ihm Mitte 1993 meinen journalistischen Beitrag über den »Zoff im ZOV« zu lesen gab, meinte er lapidar: »[…] noch zu verbissen«, fügte aber schnell hinzu: »Aber wenn Sie’s machen mussten.« Als ich aber sagte, dass ich nach diesem Artikel mit dem Thema am Ende war, meinte er: »Das kann ich mir denken.« – Auf meine
Zweifel an der Nichtexistenz der IM-Tätigkeit zu beseitigen, beantragte ich bei der Stasi-Unterlagenbehörde im Jahr 2008 eine entsprechend klar formulierte Bestätigung, deren Kopie als Anlage abgedruckt ist. 25 Kaiser, Paul; Petzold, Claudia: Boheme und Diktatur in der DDR. Gruppen, Konflikte, Quartiere 1970–1989. Berlin 1997. 26 Karl Mickel (1935–2000), Lyriker, Dramatiker, Dozent an der Hochschule für Ökonomie in Berlin, Dramaturg am »Berliner Ensemble« und an der Hochschule für Schauspielkunst in Berlin, begleitete meine Schreibversuche zwischen 1976 bis zu seinem Tod im Jahr 2000.
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Frage, ob man diese Akten nicht als Material behandeln muss, antwortete Mickel sinngemäß, dass man das aber mit ironischem Abstand verarbeiten sollte. 27
Noch einmal Betroffener: Die Chronologie »Zersetzte Zeit« In der Rückschau nach mehr als zehn Jahren bin ich der Überzeugung, dass meine Idee, die zur außergewöhnlichen äußeren Form der Chronologie »Zersetzte Zeit« 28 führte, ihren Ursprung in meinem Dasein um 1998/99 hatte: Nicht nur von den üblen Methoden der Stasi war ich »zersetzt« worden, sondern das Leben nach der »Wende« 1989/90 war für mich wie für viele DDR-Bürger zerreißend und zertrennend. Zwischen dem Alten, Hergebrachten und dem Neuen, das Millionen Menschen auf neue, ungeübte Weise forderte, klaffte ein Spalt, riss auseinander, trennte, spaltete, teilte – faszinierenderweise im Prozess des Überwindens der alten Spaltungen … Aber das sind Mutmaßungen, nicht zu Ende gedacht. Steckte diese bildhafte Mutmaßung hinter meinem Entschluss, im künftigen Buch die Texte strikt zu trennen? Zu trennen und an der Zeitachse gespiegelt gegenüberzustellen? Konnte es einen deutlicheren Ausdruck dafür geben, dass ich mit dem, was andere, unerwünscht über mich geschrieben, gesammelt hatten, nichts zu tun hatte und nichts zu tun haben wollte? – So kam es wohl, intuitiv, zur InhaltForm-Konstruktion von »Zersetzte Zeit«, das beim Erarbeiten den Untertitel »Offene und Verborgene Chronik 1973–1984« trug. Am Anfang stand der stabgereimte Titel – später deutete ich das entstandene Gebilde mit den Worten: Zusammensetzen des Zersetzten. Ein neues Bild, das die Tätigkeit nach dem Ende der »Zersetzung« beschreiben soll; oder umschreiben sollte, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. In einer angestrengten Klausur im März/April 1999 erarbeitete ich das Manuskript von »Zersetzte Zeit«, vorrangig eine Auswahl-Tätigkeit aus zwei großen Material-Bergen. Die sehr verschiedenen Textarten – hier meine Gedichte, Theaterstücke und Prosaskizzen, dort die Blätter aus vier MfS-Akten(teilen) – beschäftigten mich Tag und Nacht. Daneben führte ich ein Arbeitsjournal, um beim Auswählen und Kombinieren den Überblick zu behalten und mich nicht zu verlieren. Ohne literarischen Anspruch zitiere ich im Folgenden aus meinem Arbeitsjournal: »10.4.: Das Buch soll und kann auch oberflächlich sein: Sein Sinn und Ziel ist es ja, um die Zeitachse die schmerzlichen, unheimlichen, unheilvollen, zufälligen, unausweichlichen Berührungspunkte, Parallel-Linien und Konfliktflächen zu dokumentieren, vorzuzeigen. Das kann
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Zitiert nach einer Tagebuchnotiz v. 9.8.1993. Morgner: Zersetzte Zeit (Anm. 6) .
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ich auch (oder: besser!) durch (vorerst) oberflächliche (= ›unterflächliche‹) Aufarbeitung meines Materials erreichen!« 29
Nach einer Erholungspause vom Schreiben erweiterte ich Ende April 1999 das Buch noch um die Quellenangaben und schrieb ein Nachwort. Da dieser Text im schließlich 2004 gedruckten Buch nicht enthalten ist, aber klärende Aussagen zur Entstehung und zur angedachten Rezeption enthält, will ich hier aus dem ursprünglichen Nachwort einige Passagen zitieren: »Im Vergleich mit meinem ersten Versuch der Aufarbeitung von selbst erlebter DDRVergangenheit zeigen sich hier Kontinuität und Unterschied: Beides ist beabsichtigt. ›Zersetzte Zeit‹ hatte ich schon unmittelbar nach der Dokumentation ›Deckname Maske‹ [...] geplant; jetzt glaube ich, dass es gut war, einige Jahre mit diesem Buch gewartet zu haben. Nach nunmehr zehn Jahren seit dem Zusammenbruch des DDR-Staatssystems kann man als einer, der die DDR von Anfang bis Ende erlebt hat, mit größerem Abstand sowohl das eigene Leben als auch einen Teil konkrete Geschichte dieses Landes rückschauend betrachten. Wie bereits in meiner Dokumentation über die ›Künstlergemeinschaft Mecklenburg‹ will ich auch hier eine weniger wertende, denn nüchterne Einsicht in die Lebensvorgänge eines historisch einmaligen Gesellschaftssystems geben. Diesmal jedoch trete ich selbst als ›Person‹ auf, die dort und damals gelebt hat, und zwar, wie dem Leser klar werden wird, sehr intensiv. Denn ich präsentiere meine eigene Lebensgeschichte als Geschichte meines ›Werkes‹, als das, was beim Schreiben entstanden ist. Mit den Gedichten, Liedtexten, Rezensionen, Stückexposés und Szenen sowie einigen Tagebuchnotizen soll das Leben eines Menschen skizziert werden, der einerseits ein durchaus ›normales‹ Leben vorweisen kann, der andererseits aber durch die Art seiner Reflexion Material anhäufte, das sich, anders als ursprünglich gewollt, nun als literarisches Spiegelbild eines bewußten Da-Seins an einem bestimmten Ort über eine bestimmte Zeit darbietet. ›Zersetzte Zeit‹ ist eine bewußte Auswahl: Ich greife jetzt, 1998/99, in dieses einzigartige Textmaterial und ordne diesem subjektiven Material um die Zeitachse gruppiert die ÜberwachungsTexte des Ministeriums für Staatssicherheit zu – auch als Auswahl. Dabei ist mir klar, dass dieses Verfahren zwar einen gewissen Reiz entwickelt, dass es aber eine durchaus ober-/unterflächliche Form der Aufarbeitung darstellt. Es war mein konzeptionelles Ziel, auch spontan gefundene ›Flächen‹ meines Lebens zu ›beleuchten‹ und sie dann mit den ›Meinungen der Macht‹ zu kontrastieren/kommentieren, oder zu ›verschatten‹. Es ist Absicht und Sinn dieses Buches, um die Zeitachse die schmerzlichen, unheimlichen, unheilvollen, auch die witzigen, lächerlichen, die zufälligen und unausweichlichen Berührungspunkte, Parallel-Linien und Konfliktflächen zu dokumentieren. Obwohl dieses Verfahren oberflächlich erscheint, soll es dem Leser ermöglichen, in Zusammenhänge einzusteigen und dadurch selbst zu tieferen Einsichten über Menschen, Gesellschaftsordnung und Macht in der ehemaligen DDR zu kommen.« 30
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Tagebuchnotiz (Arbeitsjournal) v. 10.4.1999. Morgner, Martin: »Zersetzte Zeit«. Berlin 1999 (unveröffentlichtes Manuskript), S. 102.
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Pädagogische Weichenstellung: Vom Betroffenen zum Zeitzeugen zum Zeitgeschichtler Durch meine Mitarbeit im über mehrere Jahre angelegten Forschungsprojekt der »Senatskommission zur Aufarbeitung der Universitätsgeschichte der FriedrichSchiller-Universität Jena im 20. Jahrhundert« bekam ich die Möglichkeit, seit 2005 in Disziplinarakten von Studierenden der Jenaer Universität Einsicht zu nehmen. Diese Dokumente lagen sehr nah an meinem eigenen Erfahrungsbereich während der Jahre 1966 bis 1984. 31 Mit der Entscheidung für dieses Thema bei der angestrebten Promotion gelang eine sinnvolle und für die Dreifach-Existenz als Betroffener, Zeitzeuge und künftiger Zeitgeschichtler wichtige Weichenstellung: Ich entfernte mich von meiner Rolle bzw. Identität als (damals in Gera) Betroffener, ermöglichte damit das Loslösen von negativen Erinnerungen, die selbstverständlich emotional besetzt waren – und konnte mich auf diese Weise dem neuen Themenkreis objektiver nähern. Um die Jahre 2006/07 trennten sich also für mich die Rollen als Betroffener einerseits und als Zeitzeuge andererseits. Im DFG-Projekt »Bühne der Dissidenz«, das im Wesentlichen von Zeitgeschichtlern erarbeitet wurde (siehe vorliegenden Band), war für mich die Rolle als Zeitzeuge, als Auskünfte Gebender, vorgesehen. In dieser wissenschaftlichen Arbeit sollte also sowohl mein noch immer vorhandener Drang zur Aufarbeitung eines Teils meiner künstlerischen Biografie aufgehen, als auch Prof. Lutz Niethammers zeitgeschichtliches Interesse an typischen provinzkulturpolitischen Vorgängen im Bezirk Gera (siehe Einleitung). Davon getrennt wurde meine Rolle als Zeitzeuge, die nun nur noch den lebensgeschichtlichen Hintergrund bietet für die angestrebte wissenschaftliche Qualifizierung. Als zweifacher DDR-Student in der Zeit zwischen 1966 und 1983 steht mir meine Erfahrung für das neu formulierte Thema (m)einer Dissertation zur »Studentischen Disziplin im Staatssozialismus« 32 mit (emotionalem) Abstand zur Verfügung. Mit der Entscheidung zur Formierung eines kollektiven Forschungsprojektes zum Thema komplexer politischer Aspekte regionaler künstlerischer Arbeit am konkreten Fall Geras, wurde ich nun eindeutig in meiner Identität als Betroffener einbezogen; andererseits von einer direkten »wissenschaftlichen Mitarbeit« entbunden. Dagegen ermöglichte es mir der gemeinsam mit Prof. Lutz Niethammer getroffene Entschluss über die Änderung des Promotionsthemas, den Schritt auf den Weg zum Zeitgeschichtler ernsthaft und zielstrebig zu wagen.
31 Vgl. meinen Beitrag im Bd. 2 von Hoßfeld, Uwe; Kaiser, Tobias; Mestrup, Heinz (Hg.): Hochschule im Sozialismus. Studien zur Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena (1945–1990). Köln, Weimar, Wien 2007, S. 2045–2058. 32 Das Thema der Dissertation lautet: »Studentische Disziplin im Staatssozialismus. Eine Studie zu Disziplinarverstößen und Maßregelung am Beispiel der Friedrich-Schiller-Universität Jena zwischen 1965 und 1989«.
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Während der Jahre, in denen am DFG-Projekt »Bühne der Dissidenz« gearbeitet wurde, war ich intensiv mit den Schicksalen politisch verfolgter Studenten der Friedrich-Schiller-Universität Jena befasst. Im Unterschied zum Forschungsprojekt über die begrenzte Kunst- und Theaterwelt in Gera konnte ich beim rückschauenden Befassen mit den individuellen Schicksalen von Studenten zwischen 1965 und 1989 aus einem größeren subjektiven Abstand in wesentliche Quellen und Dokumente Einsicht nehmen, sie auswerten und literarisch gestalten. 33 Denn auch die intensive Beschäftigung mit den Lebenswegen der politisch verfolgten Studenten, das heißt das Lesen in ihren Disziplinarakten, die folgenden Zeitzeugen-Interviews und die zeitgeschichtlich-dokumentarische Verarbeitung in Porträt-Texten, führten mich als Autor in eine subjektiv geprägte literarische Form. Ob ich wollte oder nicht – es wurden Porträts, in denen ich mein literarisches Ich nicht leugnete, sondern moderat einbrachte. Zwar ging meine subjektive Beteiligung als Autor nicht so weit, dass ich mich kreativ in die Ereignisse einmischte bzw. Emotionen unterstellte, aber ich schloss meine Gefühle nicht bewusst aus, wie es eine wissenschaftliche Dokumentation erfordern würde. Um dieses Formproblem in den Griff zu kriegen, griff ich im späten Stadium des Schreibens zu dem Mittel, die Betroffenen um eigene persönliche Stellungnahmen zu bitten, die sie, in Kenntnis meines Textes über sie, ergänzend einfügen konnten. Diese Ergänzungstexte der Porträtierten wurden zumeist zu einem authentischen, oft emotional berührenden »i-Punkt« der Erinnerungs-Prosa. Aus der Not des Problems, die nüchterne und verzerrende Sprache der Akten in das Licht alter, früherer, oder neuer, aktueller Emotionen der Betroffenen zu rücken, entstand ein emotional grundierter Bildausschnitt der jüngsten Vergangenheit. In diesem Zusammenhang halte ich es für vorteilhaft, wenn der Forscher, der Zeitgeschichtler (in diesem Falle also ich selbst), das Milieu und die Zeit, aus der und an die erinnert wird, persönlich gut kennt. Als förderliche Bedingung dafür könnte man aber formulieren, dass solch ein »einfühlender« zeitgeschichtlicher Biograf seine eigenen Emotionen weitgehend beherrschen, am besten »ausschalten« sollte.
Argumente zur Akten-Abwehr Die berufliche Aufgabe eines Zeitgeschichtlers, die vielfältigen und konfliktvollen Beziehungen zwischen den an den Ereignissen auf der »Bühne der Dissidenz« 1980 bis 1986 beteiligten Künstlern, Kulturfunktionären, Parteikadern und MfSMitarbeitern zu rekonstruieren, regional- und kulturgeschichtlich einzuordnen und zu bewerten, konnte ich als damals Agierender nicht leisten – das war die eigentli33 Vgl. Morgner, Martin: In die Mühlen geraten. Porträts politisch verfolgter Studenten an der Friedrich-Schiller-Universität Jena zwischen 1967 und 1985. Weimar, Eisenach 2010.
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Martin Morgner
che, viele Einzelaufgaben umfassende Forschungsarbeit der wissenschaftlichen Fachkräfte. Ich konnte dazu lediglich Hinweise zum Verbleib einiger Personen und Bekannter geben. Selbstverständlich stellte ich mich zu einem zeitgeschichtlichen Interview zur Verfügung, das natürlich subjektiv ausfiel. Konkrete Nachfragen besonders zur Theaterarbeit beantwortete ich Matthias Braun, der diesen Teil der Aufklärung nach der Einsichtnahme in die Aktenordner des ZOV »Bühne« betrieb. Diese Nebenrolle als Zeitzeuge passte sich in die objektivierende, dokumentierende Forschungsarbeit durchaus ein. Meine Mitwirkung als Forscher an der Nahtstelle zwischen den im Kulturkampf konfrontierten Kräften konnte meiner Ansicht nach nicht über das ZeitzeugenInterview hinaus in das Gruppenprojekt eingebaut werden, weil die Grenzen meiner Beteiligung nicht abgesteckt werden konnten. In die Aktenblätter weiterer betroffener Künstler durfte ich aus personenschutzrechtlichen Gründen nicht Einsicht nehmen. (Ganz davon abgesehen: Ich wollte es nicht!) Auch in die Interviews mit ehemaligen Kollegen und kreativen Mitstreitern und Freunden habe ich nicht hineingehört: Sowohl ihre Äußerungen als auch mein Wissen über ihre Äußerungen (zum Beispiel über mich) hätten mich in eine subjektive und emotionale Situation versetzt, die wissenschaftliche Objektivität verhindert hätte. Beide Möglichkeiten – in den Akten der Betroffenen zu lesen als Betroffener; in die Erinnerungen und Reflexionen der Betroffenen hineinzuhören als Erinnernder und Reflektierender – beide Möglichkeiten sind unmöglich, aus meiner Sicht. So blieb mein Versuch, in den Jahren seit 2007 erneut und auch mit verändertem Blick in den ZOV »Bühne« Einsicht zu nehmen, bedauerlicherweise unproduktiv. Im Gegenteil, ich musste mich dazu zwingen und gestehe unumwunden: Mich packten bei jedem Versuch nur geistiger »Schüttelkrampf« und seelischer Ekel. Diese mehr als deutlichen Abwehrreaktionen deute ich so, dass mir das Zusammensetzen gelungen ist: Das Zusammenfügen des zeitweilig Zersetzten hat die kulturellen Abwehrkräfte gestärkt. Übrig bleibt Aufklärungsarbeit, die unter anderem dieses Buch leisten soll.
Resümee: Vom Zusammensetzen »Zersetzen« bedeutete in der DDR konkret: Die persönliche Identität wurde von einer psychoterroristischen Organisation wie dem MfS frontal und brutal angegriffen – selbstverständlich wie von anderen solchen Behörden und Vereinigungen in der Vergangenheit und Gegenwart (und leider wohl in der Zukunft) auch. Die Zerstörung der menschlichen Identität gehört immer zum »Programm« von Ideologien, die totalitär sind unter der Maßgabe, dass sie »den ganzen Menschen« für ihre Ziele vereinnahmen wollen.
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Das ist uns geschehen, den von der politischen Verfolgung durch die SED und deren aggressivem Kontroll- und Überwachungsorgan MfS Betroffenen: Zersetzen bedeutete die totale Beeinflussung der Identität. Dies war nicht nur ein intellektueller Prozess, der auf die Vereinnahmung des Denkens hinzielte, sondern das war ein emotionaler Angriff auf die Hoffnungen und Ängste des Einzelnen. Gewiss ist dies längst bekannt und als Einsicht in totalitäre Diktaturen akzeptiert. Für den Prozess des »Zusammensetzens« bedeutet diese Erkenntnis aber vor allem, dass dieses Zusammensetzen ein hohes Maß an Emotionen einschließt. Wie wesentlich diese Emotionen sind, die einen Heilungsprozess auslösen und voranbringen können, oder eben auch behindern, bremsen oder gar beenden, hängt wiederum eng mit der Identität des einzelnen Betroffenen zusammen – aber eben mit einer gestörten, zersetzten Identität, das ist das Dilemma. Dass dieser Prozess des Zusammensetzens außerordentlich kompliziert ist und unter Umständen nicht zur Heilung führt bzw. führen kann, sondern zu Krankheit, Scheitern und Tod, ist mir nach den Ereignissen während der Wochen, in denen dieser Aufsatz entstand, noch einmal bewusst geworden. Wenige Tage nach der Gedenkveranstaltung anlässlich des 10. Todestages von Jürgen Fuchs in Jena erfuhren wir, dass sein Freund und »poetischer Bruder« Günther Ullmann aus Greiz am gleichen Tag im Mai verstorben ist: Der Lyriker, der sensible Poet aus der Greizer Dichterschule, der gedankliche »Nachbar« Reiner Kunzes. Sein Tod kann zu vielen Deutungen Anlass geben, allein die Achtung verbietet gegenwärtig jeden Ansatz dazu. Und dennoch: Zweifellos hängen Krankheit, Heilung oder Tod eng mit der Wiedergewinnung der eigenen Identität zusammen. In Vorbereitung auf das Podiumsgespräch am 9. Mai 2009 in Jena zwang ich mich dazu, in Jürgen Fuchs‘ Roman mit dem unsäglichen Titel »Magdalena. MfS, Memfisblues, Stasi, Die Firma VEB Horch & Gauck – ein Roman« 34 zu lesen. Ich wage mir, trotz meiner Ehrfurcht vor diesem bewundernswerten Bürgerrechtler, meinen ersten Eindruck zu benennen, der nachträglich unterstreicht, warum ich mir diesen Roman all die Jahre seit seinem Entstehen »nicht angetan« habe. Mir fiel als Überschrift für eine Rezension ein: »Vom Abstoßenden im Roman ›Magdalena‹«, aber nach wenigen Sätzen warf ich das Blatt weg. Auf den Punkt gebracht war mein Eindruck: Wie Jürgen Fuchs das Thema und damit das, nein, eben sein ganz persönliches »Zusammensetzen des Zersetzten« anging, blieb mir selbst fremd. Mit dieser Einsicht war ich natürlich nicht froh, sondern suchte Erklärungen, wohlgemerkt neben der einfachen Erklärung, dass mir ein emotionaler Zugriff fehlte, nein, dass mir mein emotionaler Zugriff fehlte, der einen, nein, der meinen Heilungsprozess hätte in Gang bringen können oder ihn fortsetzt. Eine der möglichen Erklärungen schien für mich im gewählten Genre zu liegen: Ein »Roman« ist Fuchs’ Opus nicht, es ist, wie fast alles aus seiner Feder: Kurzprosa 34 1998.
Vgl. Fuchs, Jürgen: Magdalena. MfS, Memfisblues, Stasi, Die Firma, VEB Horch & Gauck. Berlin
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in berichtender Form, ein eigenwilliger Zugriff, der mehr an Wallraff orientiert ist, als an Böll oder Grass oder Kempowski. Sicher ein literaturwissenschaftliches Thema, welche Grenzen und fließenden Übergänge zwischen Prosa und dokumentarischer Literatur in den Werken dieser deutschen (und zweifellos: politischen!) Autoren nach 1945 auszumachen sind. Es war einer der erfreulichen Zufälle während der letzten Monate, dass es mit dem Erscheinen des Romans »Der Turm« von Uwe Tellkamp das Beispiel einer außerordentlich subjektiven, und damit vor allem auch emotionalen, Auseinandersetzung mit dem Leben im Gesellschaftssystem DDR vorzuweisen gibt. Gerade im Zusammenhang mit der nicht gelungenen »Heilung vom Akten-Aussatz« auf (das klingt vielleicht gleichmacherisch) beiden Seiten der Barrikade im Beitrag über den Vernehmer einiger führender DDR-Oppositioneller 35 wird man auf das sinnvolle Ziel des Zusammensetzens gestoßen: auf das Wiedergewinnen der Identität, auf das emotionale Erinnern zum Wieder-Erringen des eigenen ICH. Es unterstreicht die Tragik, die im Scheitern solcher Prozesse des Wiedergewinnens bei einigen uns bekannten Betroffenen liegt, dass die Ursachen für das Scheitern logischerweise nicht (nur) in ihrer eigenen gestörten, verletzten, zersetzten Identität liegen, sondern in der spannungsvollen und konfliktreichen Beziehung zu ihrem gesellschaftlichen, sozialen und politischen Umfeld. Denn für die Möglichkeit der Realisierung des »Zusammensetzens« kann es entscheidend sein, ob dem einzelnen, konkreten Betroffenen die Zeit und die Bedingungen gegeben werden, um seine Identität zurückzugewinnen. Nach 1990 lebte kaum einer von den Millionen ehemaligen DDR-Bürgern in einem Umfeld, das dem Wiedergewinnen verlorener Identität förderlich gewesen wäre. Zum Teil trifft das Gegenteil zu: auch die pluralistische, demokratische Gesellschaft kennt viele Formen von Angriffen auf die individuelle Identität; und viele von denen, die in den schwarz-weißen Strukturen der Partei-Diktatur aufwuchsen und erzogen wurden, sind den neuen Anfechtungen und Nötigungen, die ihre Identität schleichend manipulieren oder frontal angreifen, wieder nicht gewachsen. Aus diesem Grund halte ich es für eine der Grundvoraussetzungen für das Gelingen des Zusammensetzens der Zersetzten, dass ihnen ein, zumindest zeitweiliger, Freiraum gegeben wird, in dem sie ihre Identität wiederzugewinnen versuchen können. Nicht jeder ist in der Situation, solch einen Freiraum zu finden. Lutz Niethammer hat in seinem Nachwort für meine Chronologie »Zersetzte Zeit« meinen persönlichen Vorteil des zeitweiligen Zurückziehens in einen Freiraum klar formuliert: »Schon in den 1990er Jahren hatte Martin Morgner eine Nische der Selbstreflexion gefunden: ein Projekt der Robert-Havemann-Gesellschaft erlaubte ihm die Beschreibung und Dokumen35
Vgl. Schreiber: Das Leben des Anderen (Anm. 3).
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tation der tolldreisten Künstler-Kommune-Wünsche, die ihn mit anderen verbanden und über die von der großen Firma, allzeit bereit, existentielle Energien zu zertreten (und allzeit unfähig, wirkliche Krisen zu erkennen), penibel Buch geführt wurde.« 36
Mit meinem ganz persönlichen Weg habe ich mich bewusst in die Umbau-Dynamik vom Zeitzeugen zum Zeitgeschichtler hineinbegeben. Durch dieses Bewusstsein kann sich die Gefahr reduzieren, Objektives und Subjektives unbedacht zu vermengen. Nach dem 20 Jahre dauernden Prozess des Zusammensetzens des Zersetzten scheint es mir an der Zeit, die Weichenstellung für mich zu beenden. In der Rückschau auf die fast zwei Jahrzehnte des Zusammensetzens glaube ich, dass ich persönlich Glück gehabt habe, weitgehend die günstigen Zeiträume als auch die angemessenen Mittel für das Erinnern gefunden zu haben. Glück hatte ich besonders auch damit, die fördernden und fordernden Partner zu finden, die für solche schwierigen und krisenhaften Heilungsprozesse unverzichtbar sind. Verständnisvolle Partner auch, die aus eigenem Erleben wissen, dass »Jegliches seine Zeit« hat und braucht – auch das Zusammensetzen des Zersetzten.
Unwissenschaftliches, emotionales Paralipomenon Auf der Suche nach früheren Weggefährten, Freundinnen und alten Bekannten aller Art in Vorbereitung der großen Feier zu meinem 60. Geburtstag stieß ich auch auf eine fremd gebliebene Bekannte, die ich nie persönlich getroffen hatte, also nie gesehen und nie gehört hatte – nicht einmal telefoniert hatten wir miteinander. Truus R. war meine »Brieffreundin« zwischen 1962 und 1966, eine gleichaltrige Holländerin, deren Adresse ich durch die in DDR-Zeitungen üblichen BriefpartnerRubriken erhalten hatte. Es war durchaus erstaunlich, dass in der Jugendzeitung die Korrespondenz mit einer Schülerin aus dem »kapitalistischen Ausland« angeregt wurde, mochte aber mit der Illusion (um 1962) zusammenhängen, dass Schüler der DDR naive und wirksame Botschafter des Sozialismus sein könnten. Truus lebte in Rotterdam, ich in Dresden – beide Städte fanden sich auf einer Ebene in Bezug auf die rücksichtslose Bombardierung durch die Bomberflotten des jeweiligen Feindes; es waren Ruinenstädte. Die Geschichte unserer Korrespondenz ist schnell erzählt: Neben den üblichen Berichten zur Schule (Sie wusste nicht, dass die Kreuzschule Dresden »weltberühmt« ist, wie uns immer stolz erzählt wurde.) und den außerschulischen »Hobbys«, stellte sich, als Ergebnis aktueller Entwicklungen in der Musik, die einseitige Zweckpartnerschaft wie so vieler Brieffreundschaften zwischen Ost und West ein: Truus schickte mir im Überschwang der populärmusikalischen Begeisterung ab und an die 36
Niethammer, Lutz: Nachwort. In: Morgner: Zersetzte Zeit (Anm. 6), S. 281 f.
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neuesten (kleinen) Platten von den Beatles, den Rolling Stones und was sie sonst noch toll fand. Manche Umschläge waren kontrolliert und aufgerissen, wie in der DDR üblich, aber vieles landete auf dem Plattenteller. Neben den kleinen runden Scheiben waren es vor allem auch größere farbige Fotos und Poster aus »Westzeitungen«, die westeuropäische Kultur in mein Kinderzimmer brachten. Politisch im eigentlichen Sinne wurde die Brieffreundschaft auch dann noch nicht, als um 1965/66 die Rockmusik durch Bob Dylan, Donovan und Joan Baez wesentlich politischer wurde. Im Sommer 1966, als mein Wechsel zum Studium nach Ostberlin feststand, schlief die Brieffreundschaft ein: Kein Wunder, sie hatte keine Zukunft. Truus ging zum Studium nach London, ich nach Berlin. Ich erinnere mich aber noch an einen »irren Traum« von uns beiden 18-Jährigen – Wir wollten uns auf halbem Wege zwischen Rotterdam und Dresden treffen, in Göttingen; jeder von uns hätte eine Grenze überwinden müssen … Aber meine Grenze war zu dicht, die Gefahr zu groß, meine Zukunft hatte ich, trotz Beatles und Bob Dylan, an den Sozialismus in der DDR gebunden. Im Winter 2007/08 »googelte« ich nach meiner alten (Sie musste ja auch um die 60 sein!) Brieffreundin: Truus R. lebte, und noch immer in den Niederlanden. Ich spare hier die weiteren Einzelheiten aus: wie mehr als 40 Jahre zuvor erträumt, trafen wir uns im Sommer 2008 in Göttingen. (Zur Feier im Februar hatte sie nicht kommen können.) Als Geschenk überreichte ich ihr meine Chronologie »Zersetzte Zeit«, wir tranken Tee, und sie blätterte interessiert und bewegt im Buch. Vielleicht ahnte sie, dass ich mich immer wieder mit dieser Vergangenheit beschäftigte, dass ich mich damit beschäftigen musste. Was für ein anderes Leben hatte sie in den vergangenen 42 Jahren gelebt! – »Weitere Aufklärung von Plänen, Absichten und Aktivitäten der OV-Person zur Aufführung und Schaffung von Stücken und Texten mit sozialismusfremden Gedankengut oder zweideutigen Textpassagen sowie die Verhinderung der Öffentlichkeit…« 37 – Sie legte das Buch zur Seite und fragte mich: »Warum hast du in diese Akten hineingesehen? Das hat dich doch bestimmt sehr verletzt?« – Meine Antwort klang fast wie einstudiert, wenig überzeugend: »Weil es meine Akten sind, weil sie mein Leben betreffen, weil sie, ob ich es will oder nicht, zu meiner Identität gehören. Was hätte ich sonst damit machen sollen?« Nun, sie kam aus einer ganz anderen Welt, und sie hatte einen ganz anderen Vorschlag, einen, der mir fremd vorkam: »Du hättest dir deine Akten geben lassen sollen … und wegwerfen sollen … in einen Fluss. Wie heißt der Fluss in Gera?« »Weiße Elster […] Vielleicht wollte ich das der Weißen Elster nicht antun. Die hätte sich vielleicht wieder so grauschwarz und dreckig eingefärbt wie damals in der DDR, wenn die Textilfabriken zwischen Greiz und Gera ihre Abwässer in den Fluss abließen.« 37
Zit. nach: Morgner: Zersetzte Zeit (Anm. 6), S. 268.
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Truus dachte nach und sagte: »Das hätte aber besser sein können, als das hier zu lesen […] ›Weitere Aufklärung […]‹ – was ist das für eine Sprache!« Dann gab sie mir ein kleines Päckchen, ihr Geschenk an mich, nach mehr als 40 Jahren: »Erinnerst du dich noch an die Beatles-Platte, die ich dir nach Dresden geschickt hatte? Und die sie dir dann nicht gegeben haben?« – »Na klar«, sagte ich. »Es war Yesterday […] Hast du mir das mitgebracht?« – »Aber nein, das wäre zu einfach«, sagte Truus. »Ich habe dir ein Lied von den Beatles mitgebracht, das ich jetzt gerade am liebsten höre, in einer Coverversion.« Zurückgekehrt nach Hause, nicht in Rotterdam, in Dresden oder in Göttingen, hörte ich in die CD hinein. Es waren 40 Jahre vergangen seit dem Tag, an dem ich das Lied von John Lennon und Paul McCartney zum ersten Mal gehört hatte, als sie es mit ihren hellen, jungen Stimmen sangen, ein bisschen altklug, wie sie halt manchmal waren, die jungen Helden … Nun hörte ich es wieder, von der reifen Stimme eines weisen, alten, verletzten Mannes gesungen: »I remember all the places/In my life I’ve seen before.« Mir kam es so vor, als ob er in meiner Sprache sang, weil seine Worte meinem Blick zurück entsprachen. Ich hatte das Gefühl, dass sich zwei Welten in drei Worten behutsam ineinander fügten: »In My Life«. Und ich begriff, dass es meine Sprache war, in der Johnny Cash sang.
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Abkürzungen
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Amt für Nationale Sicherheit Arbeitsgruppe archivierter IM-Vorgang Auswertungs- und Kontrollgruppe Abteilungsleiter Abteilungsparteiorganisation Aus Politik und Zeitgeschichte Anstalt zur Wahrung der Aufführungsrechte Bezirksamt für Nationale Sicherheit Bezirksämter für Nationale Sicherheit Büro der Leitung Bezirkskoordinierungsgruppe Bezirksleitung Bezirksparteiarchiv Bezirksverwaltung Tschechische Sozialistische Republik Tschechoslowakische Sozialistische Republik Dienstanweisung Deutschland Archiv Diensteinheit Deutsche Forschungsgemeinschaft Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft Deutscher Turn- und Sportbund Deutsche Volkspolizei Frankfurter Allgemeine Zeitung Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Freie Deutsche Jugend Führungs-IM feindlich-ideologischer Stützpunkt Friedrich-Schiller-Universität Freie Universität Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e. V. Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte Generalinspekteur Geheimer Informator Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit Gruppenführer Gesellschaft zur rechtlichen und humanitären Unterstützung Gesellschaft für Sport und Technik Geheime Verschlusssache Hauptabteilung Hochschule der Künste Hitlerjugend Hauptstaatsarchiv Humboldt-Universität Berlin Hauptverwaltung
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Abkürzungen Hauptverwaltung Aufklärung Industriegewerkschaft Inoffizieller Mitarbeiter Inoffizieller Mitarbeiter der Abwehr mit Feindverbindung Inoffizieller Mitarbeiter im besonderen Einsatz Inoffizieller Mitarbeiter zur Sicherung der Konspiration und des Verbindungswesens Inoffizieller Mitarbeiter zur Sicherung und Durchdringung eines Verantwortungsbereiches Initiativgemeinschaft zum Schutz der sozialen Rechte ehemaliger Angehöriger bewaffneter Organe und der Zollverwaltung der DDR e. V. Juristische Hochschule des MfS Kernstrahlungs- und Chemie-(Waffen) Kreisdienststelle Komitee für Unterhaltungskunst Kraftfahrzeug Kommanditgesellschaft Komitet Gossudarstwennoi Besopasnosti Konzert- und Gastspieldirektion Kerblochkarte(i) Kreisleitung Karl-Marx-Universität Kommunistische Partei Deutschlands Kommunistische Partei der Sowjetunion Kadersache Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Kader und Schulung Kasernierte Volkspolizei Keramische Werke Hermsdorf Konzentrationslager Langspielplatte Mitarbeiter Ministerium für Staatssicherheit Nationaldemokratische Partei Deutschlands Nationalsozialismus, nationalsozialistisch nichtsozialistisches Ausland Nichtstrukturelle Arbeitsgruppe Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet Nationale Volksarmee Objektdienststelle Operativer Einsatzstab Offizier im besonderen Einsatz Oberleutnant Operative Personenkontrolle Oberstleutnant Ostthüringer Zeitung Operativer Vorgang Poets – Essayists – Novellists (internationale Schriftstellervereinigung) Politisch-ideologische Diversionstätigkeit politisch-operatives Zusammenwirken Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft Politische Untergrundtätigkeit Reichsarbeitsdienst Rat des Bezirkes
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Rat der Stadt Rundfunk im amerikanischen Sektor Richtlinie Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik Sowjetische Aktiengesellschaft Sowjetische Besatzungszone Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft Sekretariat des Ministers Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sowjetische Militäradministration Sozialdemokratische Partei Deutschlands Strafgesetzbuch Sowjetunion Sportvereinigung Die Tageszeitung Theater der Zeit Technische Hochschule Thüringisches Hauptstaatsarchiv Thüringisches Staatsarchiv Thüringer Archiv für Zeitgeschichte Technische Universität Teilvorgänge Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken United Nations Union Internationale de la Marionette (Internationale Vereinigung für Puppenspiel) United Nations Organization United States of America Volkseigener Betrieb Vorgangsheft Volkspolizei Volkspolizeikreisamt Vertrauliche Verschlusssache Westdeutscher Rundfunk Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe Zentralkomitee Zentrale Koordinierungsgruppe Zentraler Operativer Vorgang
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Zu den Autoren
Agnès Arp, geboren 1973. Dr. phil., seit 2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Matthias Braun, geboren 1949. Dr. phil., seit 1992 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und Forschung des BStU. Roger Engelmann, geboren 1956. Dr. phil., seit 1992 zunächst Sachgebietsleiter, dann Projektleiter in der Abteilung Bildung und Forschung des BStU. Jeannette van Laak, geboren 1970. Dr. phil., Historikerin, seit 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Neuere Geschichte der Justus-Liebig-Universität Gießen. Katharina Lenski, geboren 1965. Historikerin, 1991–2011 Aufbau und Leitung Thüringer Archiv für Zeitgeschichte »Matthias Domaschk«, zurzeit Promotion »Kommunikationsräume an der Jenaer Universität im Kontext des MfS«. Martin Morgner, Dr. phil., geb. 1948, Diplom-Wirtschaftler, Diplom-Theaterwissenschaftler, Studium der Geschichte und seit 2009 Lehrauftrag am Historischen Institut der FriedrichSchiller-Universität Jena. Von 1975 bis 1985 war Martin Morgner als Puppenspieler, Stückeschreiber und Dramaturg an den Bühnen der Stadt Gera beschäftigt. Lutz Niethammer, geboren 1939. Prof. Dr., Historiker, ist emeritierter Professor am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
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Zu den Bildern Die Bildstrecke in diesem Band dient nicht dem Zweck, einzelne Personen, die in den umgebenden Texten erwähnt werden, dokumentarisch wiedererkennbar zu machen. Wir haben sie vielmehr dem exemplarischen Charakter einer Fallstudie entsprechend unter zwei Gesichtspunkten zusammengestellt. Zum einen sollen in kontrastierenden Fotos die Szenen und Repräsentationen, die in der Stadtkultur unseres Untersuchungsortes zur Zeit des ZOV »Bühne« aufeinanderprallten, visuell erfahrbar werden. Dem dienen vor allem die ersten vier Seiten der Bildstrecke. Zum anderen sollen die Verfügbarkeit und der Überlieferungsweg solcher historischen Bilddokumente für die einzelnen Bereiche erkennbar gemacht werden. Dem dienen die drei darauf folgenden Seiten mit unsystematisch zusammengestellten Portraits (V) der im ZOV »Bühne« observierten alternativen Künstlerszene, die uns von den Abgebildeten bzw. ihren Fotografen – meist ist das der Fotoamateur und spätere Leiter der BStU-Aussenstelle Gera Andreas Bley – freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurden, (VI) aus dem Bereich damals vor Ort agierender Politik-, Gewerkschafts- und Kulturfunktionäre, die meistens lokalen zeitgenössischen Medien entnommen sind, uns aber auch im Falle der weniger prominenten FunktionärInnen freundlicherweise von diesen selbst überlassen wurden sowie (VII) von hauptamtlichen MfS-Offizieren mit Leitungsaufgaben im ZOV »Bühne«, die aus deren Kaderakten, und das heißt meistens aus einer früheren Zeit, stammen. Da es sich um eine Geheimpolizei handelte und uns eine Annäherung an die ehemaligen Offiziere verweigert wurde, war eine Bildüberlieferung über persönliche Kontakte oder über öffentliche Medien wie im Falle der beiden anderen Portraitseiten nicht möglich. Es lagen uns übrigens solche Passbilder aller am ZOV »Bühne« beteiligten Offiziere vor. Wir haben uns jedoch entschlossen, sie hier nicht alle abzubilden, um den Eindruck einer Proskriptionsliste zu vermeiden und uns auf die verantwortlichen Personen der Zeitgeschichte zu konzentrieren. Die Herausgeber
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I | Geselligkeit
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II | Stadtkultur
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III | Auftritte
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IV | Bühnen
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V | Die alternative Szene im Eigenblick
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VI | Gesichter lokaler Kulturpolitik – medial oder privat überliefert
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VII | Schattenmacht im Passformat
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Die Fotos im Einzelnen: Wenn der Fotograf bekannt ist, wird er nach der von uns formulierten Namens- oder Themenangabe genannt. S. I
Geselligkeit
S. I o.:
Essen bei Familie Jakobson in Briesnitz 1980er Jahre. Fotograf Andreas Bley (ThürAZ, Fotosammlung HansPeter Jakobson) Kaltes Büfett anlässlich der Einweihung des neuen Gebäudekomplexes der MfS-Bezirksverwaltung Gera am 3. Oktober 1988 (BStU, BV Gera, KD Gera, Mappe 2922)
S. II
Stadtkultur
S. II o.:
Rundgang von Theatervolk in der Altstadt Gera (Sammlung Martin Morgner) Prominenz bei der Eröffnung der Arbeiterfestspiele 1984 in Gera (ThStA Rudolstadt, Bezirksparteiarchiv der SED Gera, Sammlungsgut, Album zu 20. Arbeiterfestspielen der DDR 1984, S. 5)
S. I u.:
S. II u.:
S. III
Auftritte
S. III o.:
Auftritt von Liedehrlich und Stephan Krawczyk im Botanischen Garten Gera am 17.5.1983. Fotograf Andreas Bley (ThürAZ, Privatarchiv Hans-Peter Jakobson) Empfang des Ministers für Staatssicherheit mit paramilitärischen Ehren anlässlich der Einweihung des neuen Gebäudekomplexes der MfS-Bezirksverwaltung Gera am 3. Oktober 1988 (BStU, BV Gera, KD Gera, Mappe 2922)
S. IV
Bühnen
S. IV o.:
Puppenspiel bei der Kaspariade in Gera. Fotograf Andreas Bley (ThürAZ, Fotosammlung Andreas Bley, F-BA-192-34)
S. III u.:
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S. IV u.:
20. Arbeiterfestspiele der DDR 1984 in Gera (ThStA Rudolstadt, Bezirksparteiarchiv der SED Gera, Sammlungsgut, Album zu 20. Arbeiterfestspielen der DDR 1984, S. 81)
S. V
Die Alternative Szene im Eigenblick
S. V, 1. Reihe l.:
Fanpostkarte: Görnandt und Rönnefarth 1981 (ThürAZ, Fotosammlung Matthias Görnandt) Liedehrlich (Scan aus »Treffpunkt Klub« 2/1978, S. 33) Martin Morgner (Sammlung Martin Morgner) Ehepaar Jakobson (Ausschnitt) 1980er Jahre (ThürAZ, Fotosammlung Hans-Peter Jakobson) Astrid Griesbach (ThürAZ, Fotosammlung Andreas Bley, F-BA-189-30) Frank Karbstein (ebenda, F-BA-189-11) Ausschnittvergrößerungen aus der Bilderserie von S. III oben
S. V, 1. Reihe r.: S. V, 2. Reihe l.: S. V, 2. Reihe r.: S. V, 3. Reihe l.: S. V, 3. Reihe r.: S. V, 4. Reihe u.: S. VI
Gesichter lokaler Kulturpolitik – medial oder privat überliefert
S. VI, 1. Reihe l.:
Gustl Paczulla (Scan aus »Treffpunkt Klub«, 1/1974, S. 3) S. VI, 1. Reihe r.: Ingrid Fischer (Scan aus »Treffpunkt Klub«) S. VI, 2. Reihe l.: Dr. Gitta Heil (Privatarchiv Gitta Heil) S. VI, 2. Reihe r.: Harry Tisch, Vorsitzender des FDGB (wie S. IV u., S. 15) S. VI, 3. Reihe l.: Eberhard Kneipel (Scan aus »Treffpunkt Klub«, 4/1974, S. 23) S. VI, 3. Reihe M.: Heinz Schröder (Scan aus »Treffpunkt Klub«) S. VI, 3. Reihe r..: Erhard Oestreich (Scan aus »Treffpunkt Klub«, 1987) S. VI, 4. Reihe l.: Hans Kathe (Scan aus »Treffpunkt Klub«, 1/1974, S. 5) S. VI, 4. Reihe M.: Herbert Ziegenhahn (wie S. IV unten, S. 13) S. VI, 4. Reihe r.: Horst Pohl (Scan aus »Treffpunkt Klub«, 5/1976, S. 3)
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525350355 — ISBN E-Book: 9783647350356
S. VII Schattenmacht im Passformat Gezeigt werden die Passbilder der mit dem ZOV »Bühne« befassten BV-Abteilungsleiter und KD-Leiter. Ihre Position während der Laufzeit des ZOV »Bühne« wird zunächst vermerkt. Falls sich diese nach Abschluss des ZOV änderte, ist dies eingeklammert angefügt. S. VII, 1. Reihe l.:
Martin Ehrhardt (geb. 1934), KD-Leiter Gera des MfS, Oberst S. VII, 1. Reihe r.: Henry Müller (geb. 1931), Abteilungsleiter XX der BV Gera des MfS (Auswertungs- und Kontrollgruppe der BV Gera, Oberstleutnant, ab 1987 Rentner) S. VII, 2. Reihe l.: Wolfgang Gerischer (geb. 1936), KD Rudolstadt, ab 1983 Leiter der KD Stadtroda des MfS, Oberstleutnant S. VII, 2. Reihe r.: Gerald Linke (geb. 1939), Abteilungsleiter XX der BV Gera des MfS (OibE im Auslandseinsatz, Oberst) S. VII, 3. Reihe l.: Klaus Schau (geb. 1935), Leiter der KD Stadtroda (Leiter der Arbeitsgruppe des Leiters der BV Gera des MfS, Oberstleutnant) S. VII, 3. Reihe r.: Heinz Hohberger (geb. 1938), stellv. Abteilungsleiter XX der BV Gera des MfS (seit Ende 1986 Abteilungsleiter XX, Oberstleutnant)
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525350355 — ISBN E-Book: 9783647350356
Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe der BStU Band 34: Bernd Florath (Hg.) Das Revolutionsjahr 1989 Die demokratische Revolution in Osteuropa als transnationale Zäsur
2011. 251 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-35045-4 Die Revolutionen des Jahres 1989 veränderten das Gesicht der osteuropäischen Staaten grundlegend. Wo vorher autoritäre Diktaturen herrschten, bildeten sich demokratische und souveräne Staaten. In den Volksbewegungen, die diese Umwälzungen in Gang setzten, agierten Persönlichkeiten, Organisationen, Gruppierungen und verkörperten sich Energien, Motive und politische Visionen unterschiedlichster Art. Oft über lange Zeiten verdrängte nationale und historische Prägungen gaben den revolutionären Dramen in den einzelnen Ländern ein jeweils spezifisches Angesicht. Inwiefern sie darüber hinaus einander anregten, sich auf unterschiedliche Weise ähnlichen Herausforderungen zu stellen hatten, sich aus den Revolutionen ein offener europäischer Prozess ergab, analysieren die Beiträge dieses Sammelbandes.
33: Lukasz Kaminski / Krzysztof Persak / Jens Gieseke (Hg.) / Andreas Schulze Handbuch der kommunistischen Geheimdienste in Osteuropa 1944–1991 2009. 583 Seiten mit zahlr. Abb. und einem Tafelteil, gebunden ISBN 978-3-525-35100-0 Die Geschichte des Kommunismus ist ohne die Geschichte seiner Staatssicherheitsdienste nicht zu verstehen. Dieses Handbuch liefert die erste umfassende Darstellung der Geheimdienste im kommunistischen Europa.
32: Roger Engelmann / Thomas Großbölting / Hermann Wentker (Hg.) Kommunismus in der Krise Die Entstalinisierung 1956 und die Folgen
2008. 478 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-35052-2 Politisches Tauwetter und Krisenentwicklung in den kommunistischen Satellitenstaaten.
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Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe der BStU 31: Matthias Braun Kulturinsel und Machtinstrument
30: Jens Gieseke (Hg.) Staatssicherheit und Gesellschaft
Die Akademie der Künste, die Partei und die Staatssicherheit
Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR
2007. 480 Seiten mit 29 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-35049-2
2007. 391 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-35083-6
Eine Geschichte der Konflikte zwischen der SED und seiner repräsentativsten Künstlervereinigung.
Die Stasi im Alltag – Tragweite und Grenzen des Einflusses des Ministeriums für Staatssicherheit auf das soziale Leben in der SED-Diktatur.
Die Geschichte der Ostberliner Akademie der Künste (1950–1993) ist von der Auseinandersetzung zwischen Geist und Macht gekennzeichnet. Zu den Protagonisten auf Seiten der Akademie gehörten renommierte Schriftsteller, Regisseure, Schauspieler, bildende Künstler und Musiker. Ihnen standen führende Genossen des Partei- und Staatsapparates, vor allem die für den Kulturbereich verantwortlichen Spitzenfunktionäre und einige weniger bekannte Stasi-Mitarbeiter gegenüber. Welche Mitspracherechte räumte das Regime der Akademie ein? Wie nutzte die vereinigte Kunstelite ihre politischen Handlungsspielräume? Matthias Braun untersucht erstmals und umfassend, welche Steuerungsmöglichkeiten die SED und das MfS auf die Akademie der Künste hatte.
29: Georg Herbstritt Bundesbürger im Dienst der DDR-Spionage Eine analytische Studie
2007. 459 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-35021-8 In den Jahren der deutschen Teilung entfaltete die DDR eine intensive Spionagetätigkeit gegen die Bundesrepublik Deutschland. Dabei verstand sie es geschickt, die Besonderheiten eines geteilten Landes für ihre Zwecke auszunutzen. Nach der Wiedervereinigung musste sich die bundesdeutsche Justiz mit diesem Kapitel deutscher Geschichte intensiv auseinandersetzen. Ausgehend von den hierbei gewonnenen Erkenntnissen untersucht die vorliegende Studie zunächst systematisch eine wesentliche Gruppe der damaligen Akteure: Bundesbürger, die sich als Inoffizielle Mitarbeiter in den Dienst der DDR-Spionage stellten.
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525350355 — ISBN E-Book: 9783647350356