Werke. Band 11.1 Text: Die Wahl des Herkules / Die Abderiten / An Psyche / Der verklagte Amor / Proben einer neuen Übersetzung der Briefe des Plinius / Essays. Rezensionen. Anmerkungen. Zusätze. September 1773 – Januar 1775 [180 – 202] 9783110221565, 9783110229837

  Auftakt und Kernstück des Bandes ist Wielands wohl beliebtester satirischer Roman, Die Geschichte der Abderiten (177

202 115 2MB

German Pages 763 [769] Year 2010

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Die Wahl des Herkules.
Die Abderiten.
An Psyche.
Der verklagte Amor.
Proben einer neuen Übersetzung der Briefe des Plinius, von Wieland.
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Werke. Band 11.1 Text: Die Wahl des Herkules / Die Abderiten / An Psyche / Der verklagte Amor / Proben einer neuen Übersetzung der Briefe des Plinius / Essays. Rezensionen. Anmerkungen. Zusätze. September 1773 – Januar 1775 [180 – 202]
 9783110221565, 9783110229837

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Christoph Martin Wieland Oßmannstedter Ausgabe

Wielands Werke Historisch-kritische Ausgabe Herausgegeben von Klaus Manger und Jan Philipp Reemtsma

Wielands Werke Band 11.1

Text

Bearbeitet von Klaus Manger und Tina Hartmann Die Wahl des Herkules / Die Abderiten / An Psyche / Der verklagte Amor / Proben einer neuen Übersetzung der Briefe des Plinius / Essays / Rezensionen / Anmerkungen / Zusätze September 1773 — Januar 1775 [180 — 202]

Walter de Gruyter Berlin · New York

Herausgegeben mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur.

Gestaltung: Friedrich Forssman. Schrift: Prillwitz von Ingo Preuß. Satz: pagina, Tübingen. Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen. Printed in Germany. ¯ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. © Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin.

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http ://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-11-022156-5

Inhaltsübersicht Die Wahl des Herkules 1 Die Abderiten 156 An Psyche 505 Der verklagte Amor 574 Proben einer neuen Übersetzung der Briefe des Plinius 659 Essays / Rezensionen / Anmerkungen / Zusätze Inhaltsverzeichnis 749

Die Wahl des Herkules. Ein lyrisches Drama für das hohe Geburtsfest des Durchlauchtigsten Fürsten und Herrn, Herrn Carl August, Erbprinzen zu Sachsen-Weimar und Eisenach, den 3ten Sept. 1773. auf dem Schloßtheater zu Weimar aufgeführt.

Die Wahl des Herkules. Ein lyrisches Drama.

Personen. He r k u l e s als Jüngling. Di e Wo llu s t . Di e Tugend .

4

D i e W a h l d e s H e r k u l e s (Anfang September 1773)

Der Schauplatz stellt einen Wald vor. Die Handlung beginnt Abends, und endet sich bald nach der Sonnen Untergang.

He r k u l e s

allein.

O! nehmt mich auf, ihr stillen Gründe! Gewogne Schatten, hüllt mich ein! Hier athm’ ich wieder frey, empfinde Des Daseyns Werth, bin wieder mein! Ich sollte Amors Fesseln tragen? Die Thorheit schleppte mich an ihrem Siegeswagen? 10

Ein feiger Sclave sollt’ ich seyn? Beym Himmel, nein! Ich fühl’ ein Herz in meinem Busen schlagen! Ich fühl’ —

O! Götter, darf ichs wagen, In diesem unbehorchten Hayn Um ein Geheimniß euch zu fragen? Wes ist die Stimme, die ich tief im Heiligthum Der Seele höre? Oder, täuschet mich, Indem ich sie zu hören glaube, 20

Ein falscher Wahn? Wer bin ich? — Diese Gluth in meinem Busen, Diese Ungeduld nach Thaten, Dieses Hüpfen jeder Ader wo andre beben, Dieses, was ich besser fühlen Als mir erklären kan — Wie nenn’ ichs, was den andern Erdensöhnen mich So ungleich macht? Was mich auf ihre Spiele, Was auf den ganzen Kreis von ihren kleinen Sorgen,

30

Entwürfen, Freuden, Plagen,

Die Wahl des Herkules

1—27

5

Kalt und unbewegt mich niederblicken heißt, Wie man auf einen Haufen von Kindern blickt, Die sich um einen Apfel raufen. Wer bin ich? Gab ein Halbgott, Gab ein Gott das Leben mir? Wie wallt mein Blut Bey diesem grossen Gedanken auf! Ich zittre nicht Indem ich ihn zu denken wage! Ja! es ist kein Wahn,

10

Ich fühl’s, ich fühl’s, Es ist der Götter Blut, was diese Adern schwellt! O du, der mir das Leben gab, Unsterblicher, warum verbirgst du dich vor mir? O zeige dich! O lehre deinen Sohn Die Wege zum Olympus! Lehr’ ihn, sich deiner würdig machen! Aber — wenn ich mich zuviel erkühnte? Wenn die selbstbetrogne Vermeßne Seele, was sie feurig wünscht,

20

Für Ahnung hielte? Alcid, du träumst, du träumst von Gottheit? du? O! sink in Schaam verlohren Tief in die Erde! — du, Den noch vor wenig Augenblicken Ein rosenwangichtes, Der scherzenden Natur noch unvollendet entschlüpftes Ding, Ein Mädchen, deiner selbst vergessen machte! O! daß mein böser Dämon dir entgegen mich führte, Als du, bekränzt mit Epheu, An der Spitze der Töchter Calydons, Von traubenvollen Hügeln Herunter in die Myrtenschatten

6

D i e W a h l d e s H e r k u l e s (Anfang September 1773)

30

Des Achelous stiegst, o Dejanira! Seit diesem Augenblicke find’ ich dich Wohin ich flieh in meinem Wege. Jedem edeln Vorsatz Begegnest du! In meinen Träumen selbst verfolgst du mich! Ich seh dich — jugendlich wie Hebe, Schimmernd wie Aurora, wollustathmend Wie Cytherea, da die Welle sie 10

An’s Ufer von Paphos trug — Ich seh dich, und vergesse der Lehren Die vom Nektarmund der Söhne des Musengottes In Cithärons heiligen Grotten In meine Seele flossen! — Ach! Vergesse jeden Schwur, den ich der Tugend that, So oft beym Lob der Helden mir Die junge Wange glühte! O, weich’ aus meiner Seele, Zauberin! Nicht länger will ich deine Fesseln tragen.

20

Nur Rosenketten sinds; wie leicht zerbrech’ ich sie! Nicht länger soll dein Bild — in diese Brust Grub es mit seines schärfsten Pfeiles Spitze Der Gott der Herzen ein! — Allein, heraus will ich es reissen, oder fliehn Wohin kein Menschenfuß mir folgt, Um meine Schand’, und mich Der Welt auf ewig zu verbergen! Unglücklicher! bin ich es, dessen Worte Mein eignes Ohr empören?

30

O! noch immer wie räthselhaft mir selbst! Wie groß! wie klein! Izt, muthig, jedem Ungeheuer Trotz zu bieten, Izt, verzagt vor einem Blicke!

Die Wahl des Herkules

28—93

7

Izt, ganz durchdrungen von der hohen Schönheit Der Tugend, ganz von ihrer Gottheit voll, Zu welcher edeln That, zu welchem Opfer, fühl’ ich mich Nicht stark genug? Doch bald, betrogner Jüngling, Bald wird, unter Zauberrosen, Dich die schnöde gürtellose Wollust Zum Entschlummern An ihrem Busen locken! Süsses Gift aus ihren Augen

10

Wirst du in dich schlürfen; Und, gleich den Seelen die aus Lethe tranken, Vergessen wer du bist, und was du werden sollst! So niedrig sollt’ ich seyn? So schwach! So unwerth deiner Tugend, Alkmena! Eurer Lehren so uneingedenk, Ihr Führer meiner Jugend! Nein! dieser Tag sey Zeuge meiner Schwüre; Und du, allsehend Auge des Olymps, und du, o Rhea, Der Götter Mutter und der Sterblichen!

20

Seyd meine Zeugen — (Der Schauplatz verwandelt sich in einen romantischen Lustgarten. Die Wollust zeigt sich dem Herkules gegenüber, auf eine Art von Ruhebette, in einer ihrem Charakter gemäßen Attitüde, reizend hingegossen.)

Götter! welch ein Anblick! Wo bin ich? Träum ich wachend? Di e Wo l l u s t. Willkommen, Göttersohn, Im Reich der Freude! Erheitre deinen Blick! O! komm, o! meide

8

D i e W a h l d e s H e r k u l e s (Anfang September 1773)

30

Nicht länger deinen Thron An ihrer Brust! Hier leben wir, ferne Vom Erdengetümmel, Das selige Leben Der Götter im Himmel: Uns strahlen die Sterne Nur Wonne, nur Lust!

V. A.

Du fliehst die Welt, Alcid? 10

Im Alter des Vergnügens Entweichst du ihr in einen öden Wald; Sprichst mit dir selber, staunst, verliehrst dich in Gedanken, Zweifelst, welchen Weg des Lebens Du nehmen sollst? Sieh eine Freundin, Die willig ist, zum Glück der Götter dir Den Weg zu zeigen! He r k u l e s. Und wie, o Göttin, — denn so kündigt dich

20

Dein ganzes Wesen an — mit welchem Nahmen Soll ich dich verehren? Di e Wo llus t. Freude nennen mich meine Freunde; Aber in der Sprache des Himmels Ist mein Nahme Seligkeit. Denn selbst die Götter leben nur durch mich Ihr ewig sorgenfreyes Wonneleben. Ich bin die Schöpferin der Freuden im Olymp Und auf der Erde. Scherze, Grazien,

30

Sind meine Gefolge. Selbst die Musen, die du liebst, Sind meine Dienerinnen.

Die Wahl des Herkules

94—149

9

Meinen Freunden zollt der ganze Weltkreis Lust. Nur ihnen scheint die Sonne; Nur ihnen duftet Amors Lieblingsblume; Nur ihnen sprudelt im kristalnen Becher Der Erde Nektar; ihnen nur Beleuchtet den Rosenpfad zu Cythereas Schlummer Der stille Mond. Sie, sie allein geniessen des Lebens, Scherzen seine Sorgen weg, Und — gleich der Rose, Die an einer Nymfe Busen verduftet — Athmen sie, im Schoos der Lust, Ihr frohes Daseyn aus. O du, der Götter Liebling, Was zögerst du? — Du zweifelst? — hat ein Leben, aus Lust gewebt, Nichts was dich reizen kan?

10

He r k u l e s. Du sagst mir, Göttin, nur, was deine Freunde geniessen; Sage mir auch, was sie thun? Womit verdienen sie So schön belohnt zu werden?

20

Di e Wo l l u s t. Verdienen? — denke richtiger Vom Glück der Weisen die sich mir ergeben. Geniessen, Freund, und vom Genusse ruhn Zu süsserem Genuß, ist alles was sie thun! Geniessen ohne Arbeit, In Gefühl ganz aufgelößt Mit jedem trunknen Sinne In einem Ocean von Wollust schweben: So leben die Olympier, So lebt wer mich besitzt, Und dies nur nenn’ ich leben!

10

D i e W a h l d e s H e r k u l e s (Anfang September 1773)

30

//

Bey Hebens Nektarschalen, Beym Lustgesang der Musen, Ist euer Selbstbetrug, Sind eure Qualen, Bethörte Sterbliche! Der Götter Spott: Du, Jüngling, den die Sterne lieben, O! kämpfe nicht mit deinen Trieben! Komm, Glücklicher, an meinen Busen 10

Und werd’ ein Gott!

He r k u l e s. Allmächtige Götter! Kan auch wider unsern Willen Ein fremder Reiz Gewalt der Seele thun? Zu sehr, zu sehr emfind’ ich deiner süssen Töne Wollüstige Zauberey, Verführerin! Ich strebe dir entgegen — Fühle, daß ichs soll — Und — folge dir! 20

(Der hinterste Theil des Schauplatzes öfnet sich, und entdeckt eine rauhe Gegend, die durch steile Wege zum Gipfel eines hohen Berges führt, wo aus einem Lorbeerhayn der Tempel der Tugend hervor glänzt. Die Tugend erscheint in dem Augenblicke, da Herkules die Worte, ich folge dir, gesprochen hat.)

Di e Tugen d . Halt ein, o Herkules! Sieh, wer die Hand dir reicht! He r k u l e s. Welch eine Stimme — o! bist du’s Bist du’s, du Göttin meiner Seele! 30

Ja! dein ganzer Anblick,

Die Wahl des Herkules

150—204

11

Diese Majestät voll hohen Reizes, Diese Wunderkraft die von dir ausgeht, Meine schwankende, entnervte Seele faßt, Mit neuem Muthe sie anhaucht, Alles, Göttin, verkündigt dich! Du bist die Tugend — die ich liebe — Der ich untreu bin! Di e Tu g e n d . Dein Herz, o Herkules — wiewohl ich deinen Augen Noch niemals sichtbar ward —

10

Dein Herz erkennt mich, deine Freundin, Deines Geschlechtes Freundin! Mich, die durch den Mund Der Weisen, die dich bildeten, Das göttliche Gefühl des Adels deiner Seele In dir entflammte. Sieh, ich komm, ich zeige mich deinen Augen; Dieser grosse Tag Soll deines ganzen Lebens Entscheidung seyn!

20

Di e Wo l l u s t. Alcid, die Zeit ist kostbar! Willt du sie verliehren? Dies Wortgepränge raubt die Augenblicke Die ungenossen fliehn, Die nichts zurücke bringt! Di e Tu g e n d . Die Wahrheit, Herkules, ruft keine Rednerkünste Zu ihrem Beystand. Sie gefällt, sie rührt, Sie überwältiget durch ihren eignen Reiz. Ich komme nicht ein Leben ohne Arbeit, Ruhmloses Glück, und unverdiente Freuden

12

D i e W a h l d e s H e r k u l e s (Anfang September 1773)

30

Dir anzubieten. Heilig ist die Ordnung mir des Vaters der Natur; Nichts Gutes gaben den Sterblichen Die Götter ohne Mühe. Soll dir die Erde ihren Reichthum zollen? Du mußt sie bauen! Soll dein Vaterland dich ehren? Arbeite für sein Glück! Soll deinen Nahmen 10

Der Ruhm den Völkern und der Nachwelt nennen? Verdien es um die Welt! Sey ein Wohlthäter der Menschheit, Lebe, schwitze, blute zu ihrem Dienst! Was könnten dir die Menschen, Um die du nichts verdientest, schuldig seyn? Verdienen nicht die Götter selbst Den Weyhrauch, der ihre Tempel füllt, Durch alles Gute, das sie der Erde thun? Di e Wo llus t.

20

Du hörst es! Alles was die Freudenstörerin Dir anzubieten hat, ist Arbeit, Müh, Gefahren, Wunden, Tod! Für Andre, Für Undankbare sollst du leben, Nicht für dich! Mühselig leben, daß dereinst dein Grab Dem Vorwiz später Enkel melde: Hier liegt ein Thor, der leben konnt’, und starb, Um, wenn er nicht mehr wär’, auf andrer Thoren Lippen

30

Ein ungefühltes Daseyn zu erhaschen! Würdige Vergütung Für alles was du ihr zum Opfer bringen sollst! Ich, junger Freund, Verkaufe meine Gunst dir nicht so hoch.

Die Wahl des Herkules

205—266

13

Geniesse du des Lebens Im weichen Schoos der Ruhe! Andre sollen für dein Vergnügen schwitzen! Eine ganze rastlose Welt Soll deinen Freuden dienen; Soll sich beeyfern Deinen Wünschen selbst zuvor zu eilen! Di e Tu g e n d . Thörin, höre auf mit deiner Schande Zu prahlen! Höre auf,

10

Mit täuschenden Syrenenliedern Unerfahrne Seelen In deinen Schlund zu ziehn! Wer kennt dich nicht? Und wen wirst du bethören, der dich kennt? Du prahlst mit Götterwonne, du, Die keine Freuden kennt, Als die du mit den Thieren des Feldes theilest? Die keinen innern Sinn für Wahrheit hat, Noch für die süsse Ruhe

20

Der mit sich selbst und mit der ganzen Natur Im Friede lebenden schuldlosen Seele: Du, deren Busen nie die Wärme der Sympathie, Der heil’gen Liebe des Vaterlands, Der Menschenliebe fühlte, Von deren Wange nie die fromme Thräne Des Mitleids floß, du sprichst von Götterwonne? Wenn jemals hat dein Ohr von allem Wohlklang Den süssesten, verdientes Lob, gehört? Sprich, wenn genoß dein Auge je des schönsten Von allem was die Augen sehen können, Des Anblicks einer guten That von dir? Und selbst die einzigen Freuden, die du giebst, Wem giebst du lauter sie und unvergällt?

14

D i e W a h l d e s H e r k u l e s (Anfang September 1773)

30

Erwartet jemals deine Lüsternheit — den Ruf — Gehorcht sie je der Warnung — der Natur? Wann achtest du im Taumel deiner Lüste Ihr heiliges Gesetz? Doch, bald ereilen dich auch ihre Strafen; Und Töchter deiner eignen Thorheit sind Die Furien die deine Frevel rächen! In deinem Innern zehrt ein schleichend Gift Des Lebens Quellen auf; Ein frühes Alter 10

Welkt deine Wangen; Stumpf und nur zum Schmerz noch mit Gefühl gestraft, Gepeinigt vom Vergangnen und von der Zukunft, Schmachtest du ein schrecklich Daseyn hin, Das keine Hofnung, Kein tröstendes Bewußtseyn guter Thaten Erträglich macht. Unglückliche! was helfen dir Die Rosen dann die deinen Weg bestreuen? Durch Blumen führt sein sanfter Abhang

20

Aber führt in unausbleibliches Verderben! Mein Weg ist rauh und steil; Er schreckt den Weichling ab, Doch, sieh, o Göttersohn, wohin er führt! Der steile Pfad, auf den ich leite, Dräut mit Dornen, starrt von Klippen; Des Mittags Hitze saugt dein Blut: Mit trübem Blick, mit dürren Lippen, Siehst du, wenn Muth und Kraft ermatten, Vergebens dich nach milden Schatten

30

Nach einem Quell vergebens um. Getrost! ich schwebe dir zur Seite, Ich helf’ in jedem Kampf dir siegen! Du dringst empor mit neuem Muth: Der Gipfel naht — er ist erstiegen!

Die Wahl des Herkules

267—333

15

Da weht unsterbliches Vergnügen, Und alles ist Elysium!

He r k u l e s. O Göttin! löse mir Das Räthsel meines Herzens auf! Zwoo Seelen — Zu gewiß fühl ichs! — Zwoo Seelen kämpfen in meiner Brust. So lang du redest siegt die beßre Seele! Allein kaum fasset diese Zauberin mich wieder Mit ihrem Blick: so fühl’ ich eine Andre

10

In jeder Ader glühn, die wider Willen mich In ihre Arme zieht. Di e Tu g e n d . Erröthe, Göttersohn! Erröthe vor dir selbst, Und dem, der dir das Leben gab! Die beßre Seele, von der du sprichst, bist du! Sie ist dein wahres Selbst! Wag’ es, zu wollen, und der Sieg ist dein! Di e Wo l l u s t. Du wendest dich, Alcid? du scheuest meinen Blick? Wie wenig kennst du mich! Ich kam aus gutem Willen Dir meine Gunst Und Dejaniren anzubieten. Du wirfst sie von dir! Glaubest du, Ich werde den erst lange suchen müssen, Der mir für beydes danke? He r k u l e s. Du? — Dejaniren? — Mir? — o Göttin!

16

D i e W a h l d e s H e r k u l e s (Anfang September 1773)

20

Di e Wo llus t. Ja, Dejaniren solltest du Aus meiner Hand empfangen haben, Die schönste meiner Töchter: Sie, die ich auf Rosen Für dich erzog — Doch, du verschmähest sie! He r k u l e s. O Dejanira! Dir entsagen sollt ich, dir? Grausame Tugend, kanst du es verlangen? 10

Di e Tuge n d . Und du, Alcid, dem Ruf der Götter untreu, Du wolltest, eh du ihr entsagtest, Dem Ruhm, der Tugend, der Unsterblichkeit entsagen? Du kanst noch wanken? Herkules. Die Wollust. Die Tugend.

He r k u l e s

zur Tugend.

O trag Erbarmen Mit meinem Schmerz! Der innre Aufruhr 20

Zerreißt mein Herz!

Di e Wo llus t. Dir winkt in meinen Armen Der Liebe Glück; Dich lockt ihr süsser Blick, Und du verziehest?

Di e Tugen d . Besinne dich! Du fliehest Das wahre Glück!

Die Wahl des Herkules

334—379

17

He r k u l e s. Ist nicht für beyde Raum In meiner Seele?

Di e Tu g e n d . Weg mit dem eiteln Traum! Erwach, und wähle!

He r k u l e s. Ich lieb, o Göttin, dich, Und Dejaniren:

He r k. Wo l l .

a` 2.

10

Und ich entschlösse mich Und du entschlössest dich Euch Sie

He r k.

zu verliehren?

allein

Ist nicht für beyde Raum In meinem Herzen?

Di e Tu g e n d . Weg mit dem eiteln Traum!

He r k u l e s.

20

Glich meinem Schmerzen Wohl je ein Schmerz? Der innre Aufruhr Zerreißt mein Herz.

Di e Tu g e n d . Die Wo l l u s t.

a` 2.

Der Tugend Götterglück Der Liebe süsses Glück Willt du verscherzen? O flieh, o flieh zurück!

18

D i e W a h l d e s H e r k u l e s (Anfang September 1773)

He r k u l e s. O, aus Erbarmen,

¼Her k ule s .½ Tug . Wo l l .

a` 3

Nur einen Augenblick! O flieh, o flieh zurück!

He r k u l e s. Nur einen Augenblick!

Di e Wo llus t. In meinen Armen 10

Winkt dir der Liebe Glück Und du entfliehest?

Di e Tugen d . Dir winkt der Götter Glück Und du verziehest?

Di e Wo llus t. Ists möglich, holder Jüngling? Kan zwischen mir und dieser Spröden Dein Herz im Zweifel seyn? Di e Tuge n d . 20

Die Tugend leidet keine Nebenbulerin, Alcid! und der entsagt ihr schon Der zwischen ihr und ihrer Feindin wankt. Wenn Schaam und Reue dich dereinst Aus deinem Traume wecken, Dann, Herkules, erinnre dich Was ich für dich gethan! Izt kan ich nichts, Als dich bedauren, und — verlassen!

Die Wahl des Herkules

380—417

19

He r k u l e s. Ich sollte dich verliehren, Göttin, dich! O eher laß mir alles, was ein Sterblicher Verliehren kan, entrissen werden. Alles was ich liebe, Das Leben selbst! — Was wär’ es ohne dich? Weh mir! Wie könnt’ ich dir entsagen? Dir, die ich über alles lieb’, o Tugend! Vergieb, vergieb dem Taumel meiner Sinne! Verlaß mich nicht! — Zu deinen Füssen schwört,

10

O Tugend, Herkules sein ganzes Herz dir zu! Sieh ihn bereit dir alles aufzuopfern, Alles für dich zu thun, für dich zu leiden, Freudig dir in den Tod zu folgen! Di e Tu g e n d . Steh auf, mein Sohn! So bist du deines Ursprungs Und meiner Hofnung würdig! Glorreich, Herkules, wird deine Laufbahn seyn, Und groß der Preis, der dich am Ziel erwartet! He r k u l e s.

20

Und dir, Syrene, dir und allen deinen Gaben Entsag’ ich hier, im Angesicht des Himmels Und der Tugend, der ich mich zum Diener weyhe. Ein Tag, für sie gelebt, Ist einer Ewigkeit, voll deiner Freuden, vorzuziehn. (Die Wollust entfernt sich mit einem Verdruß, den sie durch hönisches Lächeln und einen verächtlichen Blick zu verbergen sucht.)

Di e Tu g e n d . O glaube mir, Alcid, indem du ihr entsagst, Entsagst du keiner Lust, an welche unbeschämt Ein denkend Wesen sich erinnern kan.

20

D i e W a h l d e s H e r k u l e s (Anfang September 1773)

30

Die Freuden der Natur Schmeckt rein und unvergällt der Weise nur; Er, der sie sparsam im Vorübergehn genießt, So wie ein Wanderer die Rose An seinem Wege pflückt. Allein des wahren Glückes Quelle Liegt in deiner eignen Brust. Vergebens würdest du sie auswärts suchen. Wisse, Herkules, 10

Was an dir sterblich ist, Ist nur die Hülle des Unvergänglichen, Und Götterfreuden nur sind eines Gottes würdig! Ja, ein Gott, ein Gott Ist diese Flamme, die in deinem Busen lodert! Verwandt dem Himmel, und zum Wohlthun bloß Auf diese Unterwelt gesandt Kehrst du, wenn einst dein göttliches Geschäfte Vollendet ist, zurück, In höhern Kreisen zu leuchten!

20

Schau empor, Alcid! Sie, die in jenen Sphären herrschen, Womit verdienten sie Den Göttern beygesellt zu werden? Sie lebten einst, wie du, in irdischer Gestalt, Doch nicht sich selbst, Sie lebten blos der Erde wohl zu thun! Sie warens, die den rohen Menschen Durch die Zaubermacht der Musenkünste Seinem Wald entlockten,

30

Durch Gesetze seine Wildheit zähmten, Ihn umgestalteten, und seinen Blick Empor zum Vater der Natur Erheben lehrten! Der goldne Friede, mit der ganzen Schaar der Künste Die er nährt, der Überfluß mit seinem Füllhorn,

Die Wahl des Herkules

418—477

21

Alles, was das Leben adelt, schmückt, beseliget, Es war ihr Werk! Beschützer, Lehrer, Hirten der Völker waren sie, Und glänzen nun im Chor der Götter, Selig durch den Anblick des Guten so sie thaten! He r k u l e s. O Göttin, führe, führe mich Den Weg den diese Helden giengen! Was säumen wir? Er mag dem Weichling furchtbar seyn,

10

Er mag mit Dornen dräun, von Klippen starren, Bey jedem Schritte mögen Ungeheuer Sich mir entgegen stürzen! Mich erschreckt kein Hinderniß, kein Feind, Ich folge dir! Herkules. Die Tugend.

He r k u l e s. Allmächtig ist das Feuer Das du in mir erweckst, Mir, dem du ohne Schleyer

20

O Tugend, dich entdeckst!

Di e Tu g e n d . Von deiner ersten Jugend Hab ich dich auserkohren; Du bist dazu gebohren, Alcid, der Held der Tugend, Der Menschen Lust zu seyn!

He r k u l e s. Dich hab ich mir auf ewig Zur Göttin auserkohren.

22

D i e W a h l d e s H e r k u l e s (Anfang September 1773)

30

Tu g e n d . Du bist für mich gebohren!

He r k u l e s. Ich bin für dich gebohren!

He r k . Für dich —

Tug. Für mich allein!

He r k u l e s. 10

Dir weyh’ ich meine Kräfte!

Tu g e n d . Dein süssestes Geschäfte Sey, alle deine Kräfte Dem Glück der Welt zu weyhn.

He r k u l e s. Mein süssestes Geschäfte Sey, alle meine Kräfte Dem Glück der Welt zu weyhn!

Tu g e n d . 20

Dich hab ich auserkohren!

He r k u l e s. Dir weyh ich meine Jugend!

Tu g e n d . Du bist dazu gebohren Ein Held, der Held der Tugend, Der Menschen Lust zu seyn.

Die Wahl des Herkules

478—517

23

Be y d e . Du bist Ich bin

dazu gebohren,

He r k u l e s. Durch dich allein, o Tugend,

Be y d e . Den Göttern gleich zu seyn.

24

D i e W a h l d e s H e r k u l e s (Anfang September 1773)

Die Tugend an den Durchlauchtigsten Herzog. P r i n z , den des Himmels Gunst an diesem sel’gen Tage Den Wünschen deines Volkes gab, Erhabner C a r l A u g u s t ! Sie, der D u in des Lebens Morgenröthe D i c h weyhtest, die D u liebst, die D e i n e s Hauses Freundin Von je her war — Die Tugend, t h e u r e r P r i n z , Weissagt der Welt und sich in D i r Die Stütze ihres Throns, den Mehrer ihres Reiches. 10

D e i n groses Fürstenherz Umfasset, fühlt die ganze Würde des Berufs, Zum Wohlthun bloß auf diese Unterwelt Herabgesandt zu seyn; Der Vater eines Volks zu werden Das einst durch D i c h Asträens goldne Zeiten Zurückgebracht zu sehen hoft. D i r hat die Vorsicht einen Ruhm bestimmt, Der selten — Ach! zu selten für das Glück der Welt! — Das Loos der Fürsten ist . D u bist dazu gebohren

20

Ein Held, — kein Held, der allzutheure Lorbeere Mit Thränen seines Volks, mit Bürgerblute tränkt! — O P r i n z , du bist dazu gebohren Ein Beyspiel jeder Fürstentugend Und D e i n e s Volkes Lust zu seyn! Ergieb D i c h ganz dem göttlichen Gedanken! Verschmäh den Reiz der lockenden Syrenen, An deren Klippen oft der Ruhm der Fürsten strandet! Die Weisheit F r i e d r i c h s , die Tugend s e i n e s N e f f e n , * ) *)

30

F r i e d r i c h der w e i s e , und J o h a n n F r i e d r i c h , der s t a n d h a f t e , Churfürsten zu

Sachsen.

Die Tugend

1—27

25

Sey deine Führerin! Alsdann, o F ü r s t e n s o h n , Wird glorreich deine Laufbahn seyn, und herrlich Der Preis, der dich am Ziel erwartet! Es ist ein seliges Geschäfte, Es ist das schönste Loos auf Erden, Der Schutzgeist eines Volks zu werden, Der Gottheit Ebenbild zu seyn! O P r i n z ! Dies grosse Loos ist dein! O weyh ihm alle deine Kräfte! Es ist ein seliges Geschäfte! Es ist das schönste Loos auf Erden, Der Schutzgeist eines Volks zu werden, Der Gottheit Ebenbild zu seyn!

26

D i e W a h l d e s H e r k u l e s (Anfang September 1773)

10

Der Teutsche Merkur. Des dritten Bandes Erstes Stück. Julius 1773. Weimar Im Verlag der Gesellschaft.

Der Teutsche Merkur. Julius 1773.

¼Der Mohr von Venedig. Eine Erzählung nach dem Italiänischen des Giraldi Cinthio. S. dessen Hecatomiti. Deca III. Nov. 7. … Alles dieses erzählete die Frau des Fähndrichs, die um alles wußte, nachdem er, wie ich erzählt habe, ums Leben kam.* )½ *) Da diese Erzählung des Cinthio dem grossen

S h a k e s p e a r den Stoff und die

Grundstriche zu einem seiner besten Schauspiele gegeben hat: so habe ich den Verehrern dieses unvergleichlichen Dichters Vergnügen zu machen geglaubt, wenn ich sie ihnen mittheilte, um durch die Vergleichung beyder Stücke mit eignen Augen zu sehen, was ein grosses Genie aus dem Werke eines sehr mit-

10

telmäßigen Kopfes machen kan, in so ferne nur Stoff und Anlage darinn ist. Ich bemerke nur noch, daß schwerlich etwas unangenehmeres seyn kan, als Cinthio Giraldis und der meisten welschen Novellenschreiber Styl und Art zu erzählen. Der Übersetzer scheint (mit einer Treue, wofür ihm niemand Dank wissen wird) sich recht beflissen zu haben, alles das Schleppende und Schwerfällige seines Originals, die äuserste Nachläßigkeit in der Wahl der Ausdrücke und in der Construction, und einen so gänzlichen Mangel an Symmetrie und Numerus, daß er in den schlechtesten Calenderhistorien nicht größer seyn kan, in seine Übersetzung überzutragen. Die Mühe, die der Herausgeber angewandt, diesen unausstehlichen Gebrechen hier und da zu helfen, hat zu nichts helfen können, als das Übel ein wenig erträglicher zu machen; und alles was ihn einigermaßen dabey tröstet, ist, daß dieses Stück (was die Schreibart betrift) als ein Ideal des elenden Styls, und also als ein Muster, w i e m a n n i c h t s c h r e i b e n s o l l , brauchbar seyn könnte. Wer aus diesem Cinthio und seinen Gesellen, ja selbst aus dem Bocaz übersetzen will, muß sich zum ersten Gesetze machen, sich an die Schreibart und Construction dieser Welschen gar nicht zu binden; und wer kein Ohr hat, das durch einen solchen Styl beleidiget wird, der kan lesen was er will, aber schreiben wird er niemals lernen. d. H.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Oktober 1773)

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Aufgabe eines Preises. Herr Pastor R e s e w i t z in seiner vortreflichen Schrift, d i e E r z i e h u n g d e s B ü r g e r s , z u m G e b r a u c h d e s g e s u n d e n V e r s t a n d e s , entwirft von S. 58–64. einen Plan eines L e h r b u c h s für L a n d - und A c k e r s c h u l e n . Er bestimmt darinn weiter: „Der Innhalt muß sich auf den Zustand des Landvolks passen, und auf seine Geschäfte beziehen. Die Ordnung der Materien muß der Natur folgen; so wie sich das Leben des Landmannes selbst entwickelt, und der Unterricht für jeden Auftritt seines Lebens Brauchbarkeit hat. Der Vortrag muß sich immer 10

nach dem Umfange seiner Sinne und Erfahrungen richten, und jede ihm nöthige Lehre allein durch Erfahrung, Augenschein, und natürliche Empfindung faßlich gemacht werden. Es muß endlich i n d e r S p r a c h e d e s g e m e i n e n V e r s t a n d e s geschrieben, und (wir setzen hinzu) so kurz abgefaßt seyn, als es der abgezielte Nutzen nur immer zuläßt.“ Auf ein solches Lehrbuch wird hiemit ein Preis von Sechzig Ducaten gesetzt. Die Expedition des Merkurs macht sich anheischig, den Freunden, welche diesen Preis bestimmet haben, die Preisschriften (die an selbige mit einem versiegelten Zettul, worinnen nebst dem Nahmen des Verfassers die Devise befindlich ist, welche über der Schrift stehet, eingesandt werden) zuzustellen,

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und dem, der den Preis erhalten hat, solchen auszuzahlen. Bis zu Ende Junii 1774. werden Schriften angenommen, und mit dem Merkur vom September 1774. wird die Devise und der Nahme dessen, der den Preis erhalten, bekannt gemacht. Die Paquets und Briefe werden franco eingesandt, und darauf gesetzt: d a s L e h r b u c h b e t r e f f e n d . Der Herausgeber.

Aufgabe eines Preises

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Der Teutsche Merkur. Des dritten Bandes Zweytes Stück. Augustus 1773. Weimar Im Verlag der Gesellschaft.

Vorbericht zum Anti-Cato. Ein schlafender Endymion, den ich einst mit besonderm Vergnügen betrachtete, brachte mir eine Stelle des C i c e r o i n den Sinn, wo dieser grosse Schriftsteller, aus Gelegenheit des Satzes — daß der Mensch zur Thätigkeit gebohren sey — sagt: „und wenn wir auch versichert wären, daß wir die angenehmsten Träume von der Welt haben sollten, würden wir uns doch E n d y m i o n s S c h l a f nicht wünschen; im Gegentheil, der Zustand eines Menschen, dem dies begegnete, würde in unsern Augen dem Tode ähnlich seyn.“ *) Diese Stelle führte mich zu einer Folge von Betrachtungen über den Gegenstand des berühmten Monologen in S h a k e s p e a r s H a m l e t , — S e y n

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u n d N i c h t s e y n — einen Gegenstand, der dem gedankenlosen Haufen der Menschen so klar und einfach vorkömmt, daß sie nicht begreifen, wie man etwas darüber sollte denken können; während daß der Philosoph mit Schwindeln in dessen Tiefe hinab sieht. Es war an einem schönen Sommertage, **) und ich befand mich eben ohne irgend etwas, das meinen Geist verhindert hätte, sich aus dem ersten besten Gegenstande, der sich ihm anbieten mochte, ein Geschäfte zu machen. Ein Überrest von der Laune, in welcher der n e u e A m a d i s entstanden war, machte meine Gedanken in Verse hinfliessen; und so entstund unvermerkt das Gedicht (wenn man ihm die Ehre erweisen will, es so zu nennen) welchem

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Herr B o i e einen Platz in seiner P o e t i s c h e n B l u m e n l e s e auf das Jahr 1773. S. 81. einzuräumen beliebt hat. — Ein Gedicht, welches mehr einem Werke der Natur als der Kunst ähnlich sieht, und keinen andern Plan hat, als die oft unsichtbaren Faden, wodurch freywillige Gedanken in einem Dichterkopfe zusammen hangen; aber, seiner anscheinenden Unordnung ungeachtet, ein G a n z e s , in der kunstmäßigen Bedeutung dieses Wortes, geworden wäre, wenn die Dazwischenkunft zufälliger Umstände dessen V o l l e n d u n g nicht verhindert hätte. *) **)

De Finib. L. V. 19. Im Jahr 1771.

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Die Skizze davon ist ungefehr diese: „In jeder Vorstellung, die für die Seele E m p f i n d u n g ist, ist s u b j e c t i v e W a h r h e i t . Endymion hat in seinem langen Traume die angenehmsten G e s i c h t e . Es sind E i n b i l d u n g e n ; aber diese Einbildungen sind E m p f i n d u n g e n f ü r i h n : er genießt, weil er zu genießen glaubt. Die Wirklichkeit der angenehmen Gegenstände a u s s e r s e i n e m G e h i r n e würde die Wonne dieses Genusses nicht vergrössern. Was geht es ihn an, ob sie für andre, ob sie für sich selbst wirklich sind? Sie sind wirklich f ü r i h n ; dies ist ihm genug. Er ist in diesem Falle so glücklich als in jenem. (Wohl bemerkt, daß hier der 10

Zustand, worinn er sich v o r diesem langen Traume, wovon die Rede ist, befunden, und der Zustand, in welchen er d u r c h s E r w a c h e n versetzt werden mag, hier in keine Betrachtung kommt.) Sein Zustand während des besagten Träumens ist also vom Tode so verschieden, als Leben und Tod verschieden sind, und Cicero hat Unrecht. Unsre Seele kan auch wachend träumen. Der speculative Weise — ein D e m o k r i t , der (wie Horaz sagt) sein Vieh auf seinen Äckern weyden läßt, indessen sein Geist in idealischen Welten herum wandert — ein C** L***, welcher, statt daß wir andere Erdensöhne uns auf gewöhnlichern Steckenpferden zu erlustigen pflegen, auf einem Cherub in die unsichtbaren Welten hinein-

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trabt — Leute von dieser Art gelangen oft dazu, von dem, was sie wachend träumen, von ihren Hypothesen, Vermuthungen, Wünschen, sich so stark zu überreden, als ob es e m p f u n d e n e oder e r w i e s e n e Wahrheiten wären. Ohne es zu bemerken, oder bemerken zu wollen, däucht ihnen die Fertigkeit, womit sie sich ihre Einbildungen a n s c h a u e n d denken, für die Gewißheit derselben gut zu sagen. Was sah nicht der Philosoph P o i r e t , dieser scharfsinnige Vernunftkünstler, nachdem er es einmal bis zu der muthigen Entschliessung gebracht hatte, die Realität der G e s c h i c h t e der A n t o i n e t t e B o u r i g n o n , a priori zu beweisen? Was sind die wunderbarsten Feenmährchen gegen die erstaunlichen Träume, womit sein Buch von der Ö c o n o m i e

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G O t t e s angefüllt ist? Und was für ein demonstratives Ansehen hat er diesen Träumen nicht zu geben gewußt? Die Seher dieser Art finden einen wesentlichen Theil ihrer Glückseligkeit in dergleichen Träumereyen, welche für sie Wahrheit sind: und sie würden Ursache haben, demjenigen, der sie ihrer Gesichte berauben, der sie in den Stand gemeiner unbegeisterter Menschen setzen wollte, — wie jener C o r i n -

Vorbericht zum Anti-Cato

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t h i e r , (der in einer Art von Wahnsinn ganz allein im Schauplatz sitzend die schönsten Tragödien zu hören glaubte) seinen Freunden, welche ihn mit Niesewurz geheilt hatten, an statt des Dankes zuzuruffen: Pol me perdidistis! Doch, wozu haben wir nöthig, unsre Beyspiele aus der Classe der ungewöhnlichen Menschen herzuholen? Ist nicht das Leben der meisten eine Kette von angenehmen oder unangenehmen sinnlichen Eindrücken und Vorstellungen? Gesetzt, es wäre aus allem, was die Sinne vergnügen und berauschen kan, zusammengewebt, und dauerte so lange als Nestors Leben, — wenn es vorüber ist, was ist es anders als ein verschwundener Traum? Von jeher fanden die Weisen, daß es so leicht nicht sey als viele meynen, sich

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zu überzeugen, daß Alles, was einem Sterblichen unterm Monde von seiner Geburt an bis zum E r w a c h e n i n e i n e a n d r e W e l t (denn was ist der T o d anders?) begegnet, etwas mehr als ein l a n g e r Traum sey, in welchem die Sachen nur allzuoft wenig ordentlicher, weiser und zweckmäßiger zugehen, als in einem Sommernachtstraum. Vermuthlich dachte der weise Salomo so etwas, da er sein berühmtes Vanitas vanitatum über alles, was unter der Sonne ist, ausrief. Aus diesem Grunde vermuthlich fand es Diogenes nicht der Mühe werth, in einem Leben, das einem Traume so ähnlich ist, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, w i e und w a r u m wir so und nicht anders träumen? — *) oder wenn er in seiner Tonne gemächlich lag, sich herauszubege-

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ben, um bey Alexandern Gefahr zu laufen, auf persischen Polstern übel zu liegen. Aber aus eben diesem Grunde fand A r i s t i p p , indem er die Sache von einer andern Seite betrachtete, daß nichts thörichter wäre, als in einem Leben, worinn der k ü n f t i g e Augenblick so wenig in unsrer Gewalt ist, den g e g e n w ä r t i g e n ungebraucht, oder ungenossen entschlüpfen zu lassen. ,Ein weiser Mann, sagte er, geht nicht auf die Jagd des Vergnügens aus — denn wie oft findet man gerade das Gegentheil dessen, was man sucht? — Aber ein un-

*)

Die C y n i k e r — ein alter Philosophischer Orden, der sich den D i o g e n e s vornehmlich

zum Meister und Vorbild wählte — verachteten alle Wissenschaften, die sich mit Untersuchung der Ursachen und Eigenschaften der natürlichen Dinge beschäftigen. Ob sie Recht daran thaten, ist eine andere Frage — oder, ist vielmehr keine Frage; es wäre denn, daß man dem menschlichen Geschlechte für zuträglich halten wollte, wieder in die Z e i t e n d e r g o l d n e n L e g e n d e und aus diesen, mittelst eines sanften Abhangs, in den seligen Zustand der Kamtschadalen, Hottentotten und Californier zurückzusinken; den ersten Zustand aller Völker, aus welchem Einige blos durch die Künste und Wissenschaften herausgeführt worden sind.

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schädliches Vergnügen, das man — wie ein Wanderer im Vorübergehen eine Blume, die an seinem Wege steht — pflücken kan, nicht zu pflücken, würde eine grosse S ü n d e — g e g e n u n s s e l b s t s e y n .‘ Man hat dem ehrlichen Aristipp diese Maxime übel ausgedeutet; und gleichwohl enthält sie mit Grunde nichts, als einen Gedanken, welchen E p i k t e t * ) noch stärker und ernsthafter ausdrückt, da er sagt: ,Es würde Gottlosigkeit seyn, die Annehmlichkeiten, womit uns die Götter dieses mühselige Leben versüssen wollen, zu verschmähen.‘“ So weit spricht der Dichter der zufälligen Rhapsodie, von welcher wir hier 10

die Skizze geben, gleichsam mit sich selbst. Aber nun fängt er zu dialogisiren an — denn, in der That, die besten Monologen, wenn sie zu lange währen, schläfern ein. Er stellt sich einen S t o i k e r vor, der ihn behorcht hat, und über die Maxime des Aristipps oder überhaupt über den Ton, worinn der Dichter von T r ä u m e n und L e b e n philosophirt hat, den Kopf schüttelt. Er redet ihn an: „Du hörest, sagt er, daß ich nicht viel dawider einwenden werde, wenn du alle Vergnügungen der Sinne und der Einbildung — wenigstens in Rücksicht auf ihren Gegenstand, auf ihre Dauer, auf ihre Ungewisheit — für e i t e l E i t e l k e i t erklärest. Aber, guter Seneca! wenn dies nun einmal das Loos der *)

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Wir können nicht umhin, bey dieser Gelegenheit einen unangenehmen Druckfehler zu

bemerken, der in dem oben bemeldten Gedichte ü b e r e i n e n s c h l a f e n d e n E n d y m i o n , im Göttingl. Musen-Allmanach S. 89. sich eingeschlichen hat. Bey den Versen — Ich dächte selbst, (mir gab den Unterricht Ein B i e d e r m a n n v o n u n b e s c h o l t n e m L e b e n ) „Geniessen was die guten Götter geben, Sey aller frommen Menschen Pflicht.“ sagt eine Note, dieser Biedermann sey E p i k u r . Dem Verfasser des Gedichts konnte dies nicht wohl in den Sinn kommen. Denn fürs erste, hat Epikur nie so was gesagt, noch vermöge seiner Grundsätze sagen können; und zweytens, kan man vom Epikur (wiewohl Gassendi, Temple, Heumann, Brucker und andre sich seines sittlichen Charakters getreulich angenommen haben) kei-

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neswegs sagen, daß er ein Mann von unbescholtnem Leben gewesen sey. Nicht Epikur, sondern E p i k t e t ist der unbescholtne Biedermann, den der Dichter meynt, und der das wirklich gesagt hat, was er ihn sagen läßt. Ob der Irrthum dem Abschreiber des Gedichtes, oder dem Corrector in der Druckerey beyzumessen sey, wissen wir nicht; dies ist gewiß, daß dieser oder jener sich eingebildet haben muß; der Autor, der in seiner Urschrift den Epiktet citirt hatte, müsse sich v e r s c h r i e b e n haben; denn ein Stoiker wie Epiktet könne doch unmöglich so was l e i c h t s i n n i g e s und g e f ä h r l i c h e s gesagt haben. — Und wie häufig sehen wir nicht Leute, von denen man billig noch mehr fodert, eben so gelehrt urtheilen!

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Erdenbewohner wäre; was gewännest du dabey, wenn du dich von unsern Kinderspielen absondertest, in deinem Winkel ernsthafte Grillen fiengest, und nichts angenehmes fühlen, sehen, hören, schmecken und riechen wolltest, weil alles, was wir fühlen, sehen, hören, schmecken und riechen, ein Spiel der Sinne ist?“ Der Stoiker antwortet dem Dichter, der ihn in der Person Aristipps anredet, in dem hohen Ton, der diese Secte unterscheidet. „Der Weise, spricht er, hat andre Dinge zu thun, als sich zu belustigen. Lebt er etwa für sich selbst? Was ist Vergnügen oder Schmerz für den Mann der nichts bedarf, nichts wünschet, nichts fürchtet? Der keine andere Gesetze kennt, als das ewige Gesetz

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des Rechts, und unbeweglich der einzige auf seiner Seite bleibt, wenn gleich die ganze Welt zum glücklichen Laster übergienge? Immerhin mag das Leben eines Crassus, eines Antonius, eines Cäsars, den Nahmen eines Traumes verdienen; aber das Leben eines C a t o — ist das Leben eines Gottes!“ Natürlicher weise, kan der Dichter seinen Aristipp nicht sogleich verstummen lassen. Dieser hat noch etwas zu sagen, eh er schweigen muß; und es wäre unbillig, ihn mit Strohhalmen fechten zu lassen, da es ihm nicht an bessern Waffen fehlt. „Es steht bey dir, (erwiedert Aristipp) einem in deiner Phantasie erzeugten Menschen die Eigenschaften, die Selbstgenugsamkeit, die Unabhängigkeit, die immer weise, immer wohlthätige Wirksamkeit, mit einem

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Worte, die ganze Grösse des vollkommensten Wesens zu geben. Aber dies steht nicht bey dir, uns auf dem ganzen Erdboden einen Menschen zu zeigen, der diesem I d e a l , das du d e n W e i s e n nennst, gleich wäre. Die Rede ist von Erdensöhnen, und du sprichst uns von einem Gott. Denn dies ist der Weise, den du ohne Leidenschaften, ohne Ungleichheiten, ohne Bedürfnisse, ohne Schwachheit schilderst; er ist ein Gott, oder — er ist ein Schwärmer, dem es träumt, daß er ein Gott sey. Dein Cato, zum Exempel —“ Bey diesem Nahmen brennt der Stoiker auf. „Wie? (ruft er) und selbst einen Cato, selbst den Helden der Tugend, verschont dein sträflicher Leichtsinn nicht?“ „Die Tugend; (antwortet jener) — dies Wort umfaßt alles, was gut, schön und groß ist! Aber die Tugend giebt keinen Freybrief gegen das Urtheil der gesunden Vernunft; und nicht alles ist Tugend, was ihren Stempel trägt. Die Tugend ist die Göttin der s c h ö n e n S e e l e n ; nichts ist liebenswürdiger als sie; aber ein Schwärmer, ein Mensch, der nicht Herr von seiner Einbildung ist,

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kan die Tugend selbst n i c h t w e i s l i c h lieben. Dein Cato, mit allen seinen grossen Eigenschaften, war gleichwohl nur ein D o n Q u i s c h o t t e ; er kämpfte sein ganzes Leben durch mit phantasierten Ungeheuern, wie dieser mit Riesen und bezauberten Mohren. Es ist wahr, er liebte die Tugend über alles; er blieb ihr getreu — bis sie ihn auf eine gar zu harte Probe setzte; er unternahm das Unmögliche für sie: aber seine Tugend — w a r e i n e D u l c i n e e . “ Hier wurde der Dichter unterbrochen. Andre Beschäftigungen brachten ihm dieses Spiel einiger müßiger Stunden aus dem Sinne; und seine Rhapsodie blieb ein Fragment. Seinem ersten Plan nach sollte es hier nicht aufgehört 10

haben. Nicht der Stoiker sollte siegen; aber sein vorgeblicher Aristipp eben so wenig. Der Dichter wollte in seiner eignen Person zwischen sie treten, und Friede unter ihnen machen. Er wollte in einem lebhaften Gemählde vorstellen, wie viel Schimären, wie viel Träumerisches selbst in dem Leben der besten Menschen ist. Aber er wollte auch in der warmen, kunstlosen Sprache der Empfindung beweisen: „daß die Thätigkeit des Weisen und Tugendhaften allein den Nahmen eines wahren Lebens verdient; und daß, mitten unter den angenehmen oder unangenehmen Täuschungen unsrer innern und äusern Sinne, die V e r v o l l k o m n u n g u n s r e r S e l b s t , und d i e B e s t r e b u n g , a l l e s G u t e a u s s e r u n s z u b e f ö r d e r n , unserm Daseyn Wahrheit, Würde,

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und innerlichen Werth mittheilen, und ein Leben, welches ohne sie der Zustand einer sich einspinnenden Raupe wäre, zu einer Vorübung auf eine bessere Zukunft, zu einem wirklichen Fortschritt auf der langwierigen, aber herrlichen Laufbahn machen, auf welcher die Geister einem Ziele, das sie nie erreichen können, sich ewig zu nahen, bestimmt sind.“ Den A n f a n g dieses Theils des unvollendet gebliebenen Gedichtes, habe ich noch unter meinen Papieren gefunden. Vielleicht mache ich einigen Lesern ein kleines Vergnügen, wenn ich ihn hier mittheile. * * * Hört eine Wahrheit, lieben Leute!

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Nur ärgert euch, ich bitte, nicht daran. Der meisten Lebenslauf ist, von der schönsten Seite, Ein kläglich Lustspiel ohne Plan, Und ihr Verdienst oft blos ein angenehmer Wahn. Kaum daß wir aus dem Traum der Kindheit aufzuwachen

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Beginnen, kaum die Freude da zu seyn Durch Überlegung uns beginnen wahr zu machen; So wiegt die Phantasie uns zwischen Lieb und Wein In süsser Trunkenheit zu neuen Träumen ein. Von Liebesgöttern und Freuden umgeben Däucht dem bezauberten Jüngling die Welt — Ein ewiges Paphos, unsterblich — sein Leben, Und eine Venus — die erste in deren Netz er fällt. Gesetzt (ein seltner Fall!) daß seine beßre Jugend Am Arm der Weisheit und der Tugend

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In edlern Übungen verfließt, Und daß H o m e r sein Spiel, sein Lehrer P l a t o ist; Auch dann, im Mittagspunkt von seiner Weisheit, schwärmet Sein Kopf, warm wie sein Herz. Dem Unerfahrnen däucht Das Leben — ein System, und jede Tugend — leicht. A t h e n und R o m ist seine Welt, S o k r a t sein Genius, und P h o c i o n sein Held. „O warum konnt’ er nicht in ihren Tagen leben! Wie häßlich findet er die Gothen seiner Zeit!“ Doch fehlts der Phantasie wohl an Gelegenheit

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Auch G o t h e n selbst zu G r i e c h e n zu erheben? Voll von der hohen Würdigkeit Der Menschheit, o! wie leicht sieht er in ihren Söhnen Und Töchtern überall Geschöpfe beßrer Art? D i o t i m a’ s in allen sanften Schönen, Und einen E p i k t e t in jedem — weisen Bart? S e i n I d e a l , (von Bildern abgezogen, An deren Schönheit ihm P l u t a r c h und X e n o p h o n Vielleicht den dritten Theil gelogen) Ist ihm des Schönen Maas, — ein Gott, Timoleon ; Der Sohn des

Klinias, *)

ein s c h ö n e s U n g e h e u e r ;

Der stolze Caßius, d e s V a t e r l a n d s B e f r e y e r ; Und ein T y r a n n , der Sieger vom Anton. *)

Alcibiades.

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So lebt er unbesorgt im L a n d e d e r I d e e n , Glaubt wunder, wenn er p h a n t a s i e r t , Wie tief er d i e N a t u r s t u d i e r t Und bleibt so unbekannt mit dem, was stets geschehen, Und ist so ungewohnt, was vor ihm liegt, zu sehen, Als hätt’ ihn ein Komet zu uns herab geführt. „Nur das, w a s w i r k l i c h i s t , (wie ihn sein Plato lehret) Ist unsrer Neigung werth.“ Er glaubts! Und doch bethöret Ihn tausendmal (wie kan es anders seyn 10

So lang er schwärmt?) ein f a l s c h e r A u g e n s c h e i n . Was wollen wir? Wie soll er Andre kennen? Er sieht ja gar sich selbst durch Platons Augen an. Beglückt vielleicht in seinem Wahn, So gut als Täuschungen uns glücklich machen können! Doch stündlich in Gefahr, wenn er, w i e D e m o k r i t , Vor lauter Himmel nicht die Erde vor sich sieht, An irgend einen Baum die Nase anzurennen. Und wenn dies oft genug geschieht, So wißt’ ich nicht, wie ich den Träumer nennen wollte,

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Der nicht zuletzt e r w a c h e n sollte. Er wache dann! — Wie lange? — Nur zu bald Läßt Göttin Thorheit ihm in anderer Gestalt Den Zauberkelch entgegen blinken. Wir werden nie zu weise, noch zu alt, Ihr süsses Gift mit Lust hinein zu trinken. Unmerklich schläfert es die Weisheit wieder ein; Wir träumen fort, und glauben wach zu seyn. Wenn Ritter D o n Q u i s c h o t t den besten Platz im Himmel, Und noch vorher in diesem Weltgetümmel

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Ein hübsches Kayserthum sich zu erfechten denkt; Wenn S a n c h o hinter ihm, auf seinem frommen Schimmel, Den Inseln, die sein Herr ihm vor der Hand geschenkt, Getrost entgegen trabt; wenn H a r p a x , reich begraben

Vorbericht zum Anti-Cato

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Zu werden, dürftig lebt; wenn P h l o x den Schlaf vergißt, Um einen neuen Stern zuerst begrüßt zu haben; Wenn in gelehrtem Staub vergraben Sich R u f u s blind an alter Mönchsschrift liest; M a x u l l u s sein Gehirn mit Wörtern so belastet, Daß selbst Homer für ihn nur Wörter schreibt, Wenn (was, auch wenn’s geschieht, noch unwahrscheinlich bleibt) Ein B o n z in vollem Ernst sich zur Pagode fastet; Wenn N i p h u s , als getreuer Hirt, Nach siebzig Wintern, noch verliebte Seufzer girrt;

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Wenn B r u t u s , ein Gespenst von Freyheit zu erlösen, Aus Tugend lasterhaft, zum Vatermörder wird; Und T i m o n , um von allem Bösen Auf einmal frey zu seyn, in eine Wildniß irrt; Was sind sie? — Und was sind Sie, die man uns zu preisen Gewohnt ist, ohne recht zu wissen, was man preist, Die ganze Zunft der Helden und der Weisen (Den nehm’ ich aus, den Delphi weise heißt) *) Der Virtuosen, und — der Reimer, Wo sie am besten sind, was sind sie sonst als T r ä u m e r ?

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Traum ist der Wahn von ihrer Nützlichkeit; Die Hofnung Traum, als ob noch in der spätsten Zeit Ihr Nahm’, im Reyhn der Götter unsrer Erde, Auf allen Lippen schweben werde! Traum der Gedank, als ob ganz Paphos Marmors kaum Genug besitze, d’rein zu graben, Durch welche Thaten sie die Welt verpflichtet haben; Kurz, ihr Bemühn, ihr Stolz, ihr ganzes Glück — e i n T r a u m ! * * * Dieses unvollendete Gedicht, wovon bisher die Rede gewesen ist, sollte, meiner Absicht nach, entweder vollendet werden, oder, wenn es Fragment bliebe, unter zwanzig andern verunglückten Geschöpfen der Laune, unbemerkt ver*)

S o k r a t e s ; wiewohl dieser nicht die einzige Ausnahme ist.

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modern. Aber sein Schicksal wollte es anders. Der Herausgeber des Göttingischen Musenalmanachs ersuchte mich, mit einer so verbindlichen Art, um einen kleinen Beytrag zu seiner Blumenlese für das Jahr 1773., daß es mir um so weniger möglich war, ihn mit Entschuldigungen abzuspeisen, da viele freundschaftliche Dienste, wodurch er mich verpflichtet hatte, der Verweigerung einer so geringen Gefälligkeit, einen Schein von Unerkenntlichkeit zu geben schienen. Gleichwohl fand sich unter meinen Papieren nichts, als dies nemliche Fragment, was im Nothfall den Mangel eines vollendeten Stückes einiger massen ersetzen konnte. Ich schickte es ihm also zu, mehr zum Zei10

chen meines unvermögenden guten Willens, als in der Meynung, daß es eines Platzes, in einer Sammlung, die mit den Nahmen unsrer besten Dichter prangt, würdig sey. Ein freundschaftliches Vorurtheil hieß den Hrn. Boie anders denken, und so wurde dieses Fragment (wiewohl durch einige Schreiboder Druckfehler verunstaltet) dem Publico bekannt. Was sich der Verfasser von dem Urtheile, das manche darüber fällen würden, zum voraus vorgestellt hatte, traf nun ein. Er vermuthete, daß die wakkern Leute, die ihn schon seit mehrern Jahren nicht verstehen oder verstehen wollen, auch diesmal nicht errathen würden, was er mit diesen zufälligen Gedanken über einen schlafenden Endymion haben wolle. Und so gieng es.

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Man fand sehr ärgerlich, daß er von Aristipp in einem Tone, der wenigstens keine deutliche Mißbilligung merken läßt, gesagt hatte: Und eine Lust in Unschuld, die ein Mann Wie einen Schmetterling geschwinde In seinem Wege haschen kan, Nicht haschen, hielt der weise Mann Für eine grosse Sünde.

Aber noch ärgerlicher fand man, daß er sich nicht gescheuet hatte, eine höchstanstößige Vergleichung zwischen dem Tugendhelden C a t o , und dem irrenden Ritter D o n Q u i s c h o t t e v o n M a n c h a , anzustellen, ja die Tugend 30

des erstern gar für eine blose D u l c i n e e auszugeben. „Dies ist entsetzlich, sagte Q u i d a m . Dulcinee, so zärtlich und inbrünstig sie auch von dem Ritter von Mancha geliebt wurde, war im Grunde doch weder mehr noch weniger, als eine Schimäre. Wenn also Catons Tugend eine Dulcinee war, so war sie ein

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bloses Hirngespenste. Welche Lästerung!“ — Gleichwohl hat es eine Menge gelehrter Männer, ja sogar Heilige gegeben, welche mit Catons Tugend noch weit unfreundlicher umgegangen sind. Eine Schimäre ist, nach der Erklärung der G r ä f i n O r s i n a , ein Ding, das kein Ding ist; und ein Ding, das kein Ding ist, (sagt eben diese Dame) ist soviel als gar nichts. Nun frage ich alle ehrlichen Leute; ob es ihnen nicht auch so zu Muthe ist, wie dem guten P l u t a r c h , der irgendwo sagt: Ich würde mich weit weniger beleidiget halten, wenn man von mir sagte, es giebt keinen Plutarch, es ist kein solcher Mann wie Plutarch gewesen, Plutarch ist eine Schimäre; als wenn man sagte, Plutarch ist ein hoffärtiger, ungerechter, neidischer, hartherziger, boshafter Mann. Gesetzt

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nun auch, der Dichter hätte Catons Tugend eine Schimäre genennt: Was wäre dies gegen das, was der heil. Augustinus gethan hat, da er die Tugenden Catons, und aller andern weisen und guten Heyden geradezu für L a s t e r ausgiebt? Wer vergreift sich wohl mehr an der Tugend des Cato, derjenige, der sie für eine Dulcinee hält, oder die unendliche Menge von Theologen, die den guten Mann zusamt seiner Tugend in die Hölle geworfen haben? Wenn der Dichter dies Letztere gethan hätte, hätte er nicht die ehrwürdigsten Autoritäten, und eine unendlich überwiegende Mehrheit der Stimmen auf seiner Seite? Aber er hat nie keinen solchen Gedanken gehabt. Er ist ein gutherziger Mensch, der gerne lebt und gerne leben läßt; aber wie Plato, es d e n P o e t e n

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ein wenig übel nimmt, wenn sie dem Vater der Natur ungerechte und seiner unwürdige Dinge nachsagen. Er hat (mit Erlaubniß des Quidams) Catons Tugend nicht einmal für eine S c h i m ä r e ausgegeben, wiewohl er sie eine D u l c i n e e genennt hat. Sollte Q u i d a m nicht aus der Geschichte des Ritters von Mancha wissen, daß Dulcinee keine Schimäre, sondern ein hübsches Bauermädchen von Toboso war, Alonza Lorenzo genannt, welche dadurch nichts von ihrer Wirklichkeit, Personalität, auch übrigen Eigenschaften und jungfräulichen Ehren verlohr, daß der Ritter sie in seiner Einbildung zu einer Prinzeßin von Toboso und zu seiner Dame erhob. Und hier liegt eigentlich das tertium comparationis, welches Q u i d a m zu übersehen beliebt hat. Der Dichter, indem er von Cato sagt — u n d d e i n e T u g e n d w a r n u r e i n e D u l c i n e e ; sagt weiter nichts als dies: Cato liebte die Tugend, wie Don Quischotte die schöne Alonza Lorenzo liebte. Beyden war es ihr vollkommener Ernst. Aber in beyder Kopfe stund es nicht immer so ganz richtig. Don Quischotte erhob das Bauermädchen Alonza Lorenzo in seiner Einbildung zu ei-

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nem Ideal der Schönheit und weiblichen Vollkommenheit, und von diesem Augenblick an war sie für ihn nicht mehr Lorenzo, sondern die Prinzeßin Dulcinee von Toboso. Cato machte sich ein Ideal von der politischen Tugend, welches nicht die Tugend eines weisen Staatsmannes, sondern die Tugend eines politischen Schwärmers war; und eben dadurch hörte sie auf, ächte Tugend zu seyn, und wurde für ihn eben das, was Dulcinee für den Ritter von Mancha. Die Tugend konnte nichts dazu, daß Cato sich übertriebne Begriffe von ihr machte; so wie Alonza Lorenzo nichts dazu konnte, und sich wenig darum bekümmerte, daß Don Quischotte sie zu seiner Dulcinee adelte. Diese 10

war darum nicht weniger Alonza Lorenzo, jene nicht weniger Tugend; und Quidam gab sich also eine sehr vergebliche Mühe, da er dem Dichter in einer langen gereimten Epistel, aus Gründen die keinem Schulknaben unbekannt sind, bewies, d i e T u g e n d s e y k e i n e S c h i m ä r e . Davon war ja gar die Rede nicht; und der müßte wohl ein übel organisierter, unglücklicher Mensch seyn, der eines solchen Beweises vonnöthen hätte. Ob d i e T u g e n d eine Dulcinee sey, kan unter vernünftigen Leuten niemals eine Frage seyn. Aber ob C a t o n s T u g e n d eine Dulcinee war, darüber läßt sich wenigstens reden; und wer es behauptete, wäre darum noch lange kein Mensch, gegen welchen man das Kreutz predigen müßte. Es lassen sich zwar ganz gute Gründe angeben,

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warum E s p r i t , M a n d e v i l l , und andre, welche ganze Bücher über die Falschheit der menschlichen Tugenden geschrieben, der Tugend eben nicht den wichtigsten Dienst geleistet haben. Denn M o n t a i g n e hat sehr Recht, da er sagt: „Man gebe mir die allerschönste und reinste Handlung, und es müßte mir übel fehlen, wenn ich nicht ganz wahrscheinlich funfzig schlimme oder unlautere Beweggründe dazu finden wollte.“ *) Aber wer sich darum ein Bedenken machen wollte, die Tugend eines Dion, Cato, Seneca, Julian, oder irgend eines andern Sterblichen, den man uns für ein Muster giebt, zu prüfen, um das Ächte von den Schlacken, das Übertriebne von dem Wahren, darinn abzusondern, würde dem abergläubischen Andächtigen gleichen, der aus

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Furcht, zu wenig zu glauben, dem Gebrauch seiner Vernunft entsagte, und lieber Gefahr laufen wollte, die ungereimtesten Mährchen für Wahrheiten anzunehmen, als zu untersuchen, ob der Gegenstand seines Vorurtheils die *)

S. dessen Essays L. I. c. 36. Wir werden in der Folge Gelegenheit bekommen, einen Einwurf,

der aus dieser Stelle des Montaigne gegen den Anti-Cato gemacht werden kan, zu beantworten.

Vorbericht zum Anti-Cato

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Hochachtung auch wirklich verdiene, die er auf Hörensagen demselben gewidmet hatte. Überhaupt scheint der ehrliche Quidam sehr übel zu finden, daß man sich die Freyheit genommen, einen so ehrwürdigen Mann, wie Cato, mit einem so grossen Narren, wie Don Quischotte, zu vergleichen. Vermuthlich gehört der Quidam unter die weisen Männerchen, welche ihre Zeit übel anzuwenden glaubten, wenn sie ein Buch, das ihnen nur zum Zeitvertreib gemacht zu seyn scheint, mit Aufmerksamkeit lesen sollten. Gleichwohl sind wenig Bücher in der Welt, welche ernsthafter gelesen und öfter wieder gelesen zu werden verdienten, als der Don Quischotte; ja, wir erdreisten uns, zu behaupten, daß ein

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Professor, der dazu angestellt würde, öffentliche Vorlesungen über den Don Quischotte zu halten, der studierenden Jugend und dem gemeinen Wesen ungleich nützlicher seyn würde, als ein Professor des A r i s t o t e l i s c h e n O r g a n o n s . Hätte Quidam das Buch des weisen Cervantes gelesen, wie man lesen soll, so würde er vermuthlich klug genug daraus geworden seyn, um sich über einer Vergleichung zwischen Cato und Don Quischotte nicht zu ärgern. Es ist immer noch eine Frage, ob Cato oder der Held von Mancha mehr dabey zu verliehren hat. Don Quischotte war freylich ein Narr, was den Punkt der irrenden Ritterschaft anbetraf, aber, seiner Narrheit ungeachtet, ein so edelmüthiger, frommer und tugendhafter Mann, als irgend eine wahre Geschich-

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te einen aufzuweisen hat. Es würde sehr überflüßig seyn, den Beweis hievon führen zu wollen. Seine ganze Geschichte, von Anfang bis zu Ende, enthält diesen Beweis. Er hatte sich den erhabensten Begriff von dem Charakter und den Pflichten eines irrenden Ritters aus allem, was man jemals edel, gut und lobenswürdig genennt hat, zusammengesetzt; und er war, seiner Absicht und den Gesinnungen des Herzens nach, der Mann wirklich, der er zu seyn wünschte. Daß die äussern Gegenstände seinen Vorstellungen nicht immer entsprachen, daß der Ausgang seine edelsten und wohlthätigsten Absichten so oft zu Schanden machte, war seine Schuld nicht. Was konnte er dazu, als er mit so viel Großmuth und Unerschrockenheit dem guten König P e n t a p o l i n m i t d e m a u f g e s c h ü r z t e n A r m gegen den mächtigen Kayser A l i f a n f a r o n , Herrn der Insel Taprobana, und gegen den Riesen B r a n d a b a r b a r a n , Herrn der drey Arabien, zu Hülfe kam, und eine so grosse Niederlage unter dem zahlreichen Heere der Unglaubigen verursachte, was konnte er dazu, daß am Ende, was er für zwey furchtbare Kriegsheere angesehen hatte,

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zwoo Heerden Schafe waren? Und als er den wackern Ritter D o n G a i f e r o s und die schöne M e l i s a n d r a , mit so vielem Eyfer gegen die Mauren beschützte; hatte er darum weniger Recht, sich mit dem Bewustseyn, eine tapfere und wohlthätige That gethan zu haben, über die Bosheit der Zauberer, seiner Feinde, zu beruhigen; weil sichs beym Ausgang zeigte, daß Don Gaiferos, die schöne Melisandra, der König Marsilius und alle seine Mauren bloße Marionetten waren? Freylich sind wir andern, welche dies schon vorher wußten, nicht zu verdenken, wenn wir die Achseln zücken, da er, nachdem er die Unglaubigen in die Flucht gejagt und einen der edelsten Ritter von Carl des 10

Grossen Hofe so glücklich befreyt zu haben glaubt, mit dem Triumphe der süssesten Selbstzufriedenheit ausruft: „Nun möcht’ ich doch gleich alle diejenigen vor mir haben, welche nicht glauben wollen, wie nützlich der Welt die irrenden Ritter sind! Man sehe mir einmal, was aus dem Don Gaiferos und der schönen Melisandra ohne mich geworden wäre? Es lebe die irrende Ritterschaft, Trotz ihren Neidern, und dem Unglauben derjenigen, welche nicht Muth genug haben, sich einem so gefahrvollen Stande zu widmen! u. s. w. —“ Allein dem ungeachtet gieng in der Seele des guten Ritters das nehmliche vor, was in ihr hätte vorgehen können, wenn der wirkliche Don Gaiferos und die wirkliche Melisandra seines Armes vonnöthen gehabt hätten; und er hatte, da

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er von Meister Petern, dem Eigenthümer des Marionettenspiels, aus seinem ekstatischen Gemüthszustande zurückgebracht wurde, vollkommen Recht, sich mit dem Gedanken zu trösten; „daß er bey der ganzen Sache keine andre Absicht gehabt, als die Pflichten seines Standes zu erfüllen. Entspricht der Erfolg meiner Absicht nicht, setzt er hinzu, so ist es nicht meine, sondern der verfluchten Zauberer Schuld, die mich aufs äuserste verfolgen.“ Alles dies beweißt wenigstens soviel, daß die Vergleichung, welche den Quidam so sehr erhitzte, daß er in seinem Unwillen die Feder ergriff, und eine Epistel voll platter Verse gegen den armen Dichter schrieb — dem Herzen und der Tugend des grossen Cato keine Schande macht. „Aber Don Quischotte war doch ein

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Narr, (sagt man) ein Narr, der in einen Keficht eingesperrt zu werden verdiente?“ Gut, und nun fragt sichs, ob der grosse Cato, da er in dem äuserst verdorbenen, gesetzlosen, und einer neuen monarchischen Verfassung schlechterdings bedürftigen Rom die Rolle seines Urgroßvaters spielte, und durch eine moralisch unmögliche Wiederherstellung jener Sitten, die ehmals das arme Rom groß gemacht hatten, dem verzweifelt bösen Zustande des zu einer

Vorbericht zum Anti-Cato

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ungeheuren Grösse aufgeschwollenen Roms abhelfen wollte, ob er da was weiseres und schicklicheres unternommen habe, als Don Quischotte, da er unternahm, den in Verfall gerathenen Stand der irrenden Ritterschaft (einen Stand, der in den Zeiten der Kreutzzüge so wohlthätig und gewissermassen unentbehrlich gewesen war) in den Zeiten Philipps des dritten wieder herzustellen? Alles wird wohl bey Beantwortung dieser Frage darauf ankommen, ob und in wie ferne die Umstände, unter welchen Cato die Sitten und Grundsätze des h ö l z e r n e n Roms in dem m a r m o r n e r n Rom wieder herstellen wollte, sich gegen seine Unternehmung eben so verhielten, wie sich zu Don Quischottens Zeiten die Verfassung Spaniens gegen das Unternehmen dieses

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tapfern und wohlmeynenden Junkers verhielt; — und dies wird der Gegenstand des ersten Theils des vor einiger Zeit versprochenen A n t i - C a t o seyn. Wenn diese Unternehmung den Charakter dieses Römers von Seiten der moralischen Grösse durch den Contrast mit der Verdorbenheit seiner Zeitgenossen nur destomehr erheben wird; so wird sie hingegen nicht weniger das Urtheil rechtfertigen, das Cicero, sein Freund und Bewunderer, in einem seiner vertrauten Briefe, von ihm fällt; *) und Catons Beyspiel wird die Wahrheit des Verses im E n d y m i o n bestätigen: Doch selbst die Tugend kan kein Schwärmer weislich lieben!

Diesem ersten Discours soll ein andrer folgen, worinn wir die Tugend Catons gegen das Ideal der Tugend halten werden, von welchem der Dichter sagt: Sie ist den schönen Formen gleich, Die jungen Künstlern zu Modelen Ein Polykletus giebt.

Man wird darinn untersuchen, ob und wie ferne die Tugend Catons als ein Muster angepriesen zu werden verdiene; und ob der Dichter Recht gehabt habe, mit Aristipp und Aristoteles gegen Catons Grundsätze und Beyspiel, zu sagen:

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Im ersten Briefe des zweyten Buches der Briefe an den A t t i c u s .

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Die Tugend hält in allem Maas und Zeit; Dem strengen Recht vermischt sie Billigkeit; Sie wird sogar aus zweyen Übeln wählen, Wenn ihr die Noth die schwere Wahl gebeut: Fehlt dem geraden Weg, (wie öfters) Sicherheit, Läßt sie die Klugheit sich durch Seitenwege führen; Und wenn der Widerstand ihr Werk zu hemmen dräut, So giebt sie Etwas nach, nicht Alles zu verliehren.

Übrigens muß noch angemerkt werden, daß man sich irren würde, wenn man 10

die erwähnte Epistel des ungenannten Quidams für die Veranlassung des V o r s a t z e s , einen Anti-Cato zu schreiben, halten wollte. Der Verfasser des Endymion hat schon vor mehrern Jahren seinen Freunden von diesem Vorhaben gesprochen; und die Vergleichung des Caton mit dem Helden von Mancha ist kein rascher Einfall einer vorübergehenden Laune, sondern das Resultat langer Beobachtungen und wohlgeprüfter Grundsätze. Er empfindet indessen sehr wohl, daß die Frage: wie fern Cato als ein Beyspiel der Tugend angesehen und nachgeahmet werden könne, nur zu sehr verdiene, von Cicero ein a r c h i m e d i s c h e s P r o b l e m * ) genennt zu werden; und wenn er dieses Problem aufzulösen versucht, so giebt er auch seine Arbeit für nichts mehr als

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einen Versuch, dessen bestes Verdienst vielleicht blos darinn besteht, andre zu einer gründlichern Auflösung zu veranlassen. Irret er sich, so entschuldiget ihn das allgemeine Loos der Menschheit, und niemand ist williger als er, sich zu rechte weisen zu lassen. Alles was er verlangt, ist Freyheit zu untersuchen, und zu sagen was er, seiner Überzeugung nach, für wahr und gut hält. Diese Freyheit ist ein unverlierbares Recht des Menschen, und das wahre Palladium des allgemeinen Wohls unsrer Gattung. Was für eine Stirne müßte der haben, der ein Recht, welches er nur mit dem Leben verliehren möchte, irgend einem seiner denkenden Mitgeschöpfe absprechen wollte?

*)

L. XII. ep. 4. a d A t t i c .

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Die Wahl des Herkules. Eine dramatische Cantate. an dem hohen Geburtsfeste des Durchlauchtigsten Herzogs, C a r l A u g u s t , Erbprinzen zu Sachsen-Weimar und Eisenach, den 3. Sept. 1773. auf dem Schloß-Theater zu Weimar aufgeführt. Der Text und die Musik von den Verfassern d e r A l c e s t e.

Vorbericht. Der Stoff zu diesem kleinen lyrischen Drama ist genommen aus einem der

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kostbarsten Überbleibsel der Griechischen Litteratur, aus einer Erzählung des Xenophontischen Sokrates, welche unter dem Nahmen: H e r k u l e s a u f d e m S c h e i d w e g e , oder d i e W a h l d e s H e r k u l e s , wenigen ganz unbekannt seyn wird. Es ist das Süjet von einem der erträglichsten Gemählde im neuen Amadis, Wo Herkules zwischen der Tugend und Wollust unentschlossen Zu schweben schien —

und wo der junge Amadis (der, seitdem er sich zu fühlen angefangen, stundenlang vor diesem Gemählde zu verweilen pflegte) unvermerkt sich selbst an die Stelle des jungen Herkules setzt, und, von beyden Göttinnen gleich stark angezogen, sehnlich wünscht, sein Herz unter sie theilen zu können. Wie göttlich scheint ihm Diese! Doch Jene lächelt so süß! Ist mit so lieblichem Reiz übergossen,

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Und ihres Sieges so gewiß! Wie soll er widerstehn Dem schmachtenden Blick, der so sehnlich Ihn an den Busen lockt, der ihm entgegen wallt? Gut! Aber diese, wie schön, Wie ganz sich selber ähnlich, Wie stiller Grösse voll in ihrer ganzen Gestalt! Schön ist in allen seinen Zügen Ihr bräunlich Angesicht, wo, wie auf glatter Fluth 10

Der Sonne Bild, das reinste aller Vergnügen, Vergnügen an sich selbst und innrer Friede ruht. Durch ihre Wangen scheint ein unbeflecktes Blut; Ihr ofnes Aug, voll edlem Selbstvertrauen, Erlaubt bis auf den Grund von ihrer Seele zu schauen; Stillwirkende Güte, die minder spricht als thut, Und Redlichkeit und unbezwingbarer Muth Mahlt sich darinn, und flößt ein ehrfurchtsvolles Grauen, Mit Liebe gemischt, dem der sie ansieht, ein; Man liebt sie und wünscht zu verdienen, von ihr geliebt zu seyn.

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Weder Sokrates noch Xenophon, sondern P r o d i k u s , einer von den berühmten Sophisten der Zeit des Perikles ist der Erfinder dieses A p o l o g e n . Sokrates, in einer Unterredung mit dem Aristippus, spricht davon als von einem Stücke, welches Prodikus öfters vorgelesen, und entschuldigt sich, daß es (da er es blos aus dem Gedächtniß nacherzähle) die Pracht des Ausdrucks, die dem beredten Erfinder eigen gewesen seyn soll, in seinem Munde verlohren habe. Wer so glücklich ist, mit einem innern Sinn für die schöne Einfalt, Wahrheit, Harmonie und unnachahmliche Grazie, welche Xenophons Schreibart auszeichnen, begabt zu seyn, der wird in seiner Erzählung, wiewohl er sie nur für eine Copie ausgiebt, die schimmernden Farben des Originals schwehrlich

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vermissen. Dreymal und öfters hat es der Verfasser des folgenden musicalischen Dramas versucht, dieses Meisterstück der Sokratischen Grazien aus Xenophons Sprache, das ist, aus der Sprache der Musen, in die unsrige über zu tragen; aber Muth und Hände sanken ihm jedesmal bey den Schwierigkeiten, die er in der letztern, und ohne Zweifel noch mehr in seinem eignen Unver-

Vorbericht

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mögen fand. Die Grazien Xenophons können empfunden und gedacht werden: aber auch übersetzt? Ich habe keine Hofnung dazu: doch wünschte ich durch die That widerlegt zu werden. Unendlich mal leichter war es eine Übersetzung eines englischen Gedichts über dieses Süjet, welches sich unter dem Titel, The Choice of Hercules, im dritten Bande der bekannten Collection of Poems befindet, zu unternehmen. Einer meiner jüngern Freunde, den ich dazu aufgemuntert, hat sich daran gewagt, und da es eigentlich blos eine freye poetische Übersetzung der Prose Xenophons ist, (wiewohl eine Übersetzung im Geschmack des Popischen Homers) so habe ich den Freunden der Litteratur was angenehmes zu erweisen geglaubt, wenn ich sie meinem kleinen

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Drama beyfügte, damit sie sich das Vergnügen machen könnten, die verschiedene Behandlung des nehmlichen Süjets in beyden Stücken zu vergleichen. Der Gedanke, die Erzählung Xenophons in ein lyrisches Drama zu verwandeln, machte so viele Abweichungen von dem griechischen Original nothwendig, daß der teutsche Versuch dadurch selbst zum Original geworden ist. Der junge Herkules mußte den Zuschauern interessanter gemacht; er mußte die erste Figur des Gemähldes und der Held der Action werden — da er im Griechischen nur Zuhörer ist. Daher der Monologe der die erste Scene ausmacht; daher die genauere Bestimmung der wesentlichern Umstände und der gegenwärtigen Gemüthsverfassung des jungen Halbgottes; daher der innere Streit

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worinn seine Seele arbeitet, noch ehe die Göttinnen erscheinen, und wodurch er, wie durch eine (dem göttlichen Theile seiner Natur ohnedies anständigen) D i v i n a t i o n auf die ihm bevorstehende Erscheinung vorbereitet wird; daher die Dichtung seiner Liebe zu der jungen Dejanira, die er zu Calydon an den Ufern des Achelous, bey einem Bachusfeste kennen lernte, eine Liebe, deren er sich schämet, die er bekämpft, weil er fühlt, daß sie ihn von seiner Bestimmung abziehen würde. Die Natur des Drama, so einfach es immer seyn mag, erfordert, daß alles darinn Bewegung und Handlung sey. Die Bemühungen der Wollust, den jungen Helden zu bestricken, konnten und durften nicht ohne alle Würkung bleiben. Wir müssen ihn in Gefahr sehen, zu unterliegen; er muß schwach werden, aber ohne die Hochachtung ganz zu verliehren die er uns in seinem Monologen eingeflößt hat. Die Erscheinung der Tugend wird dadurch dramatisch, daß wir sie nicht eher als in dem Augenblicke, da ihr junger Freund in Gefahr ist, dazwischen kommen lassen. Dieser erblickt in ihr keine Unbekannte; seine Erziehung, der Unterricht eines Linus, eines Am-

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phion, hatte ihn mit ihrem Bilde vertraut gemacht; sein Herz war für sie gebildet; und er fühlt die unmittelbaren Einflüsse ihrer Gegenwart in seiner Seele. Dieser Umstand, verbunden mit allen denen, deren wir bereits gedacht haben, giebt dem Wettstreit der beyden Göttinnen, und dem Kampf des jungen Helden dramatisches Interesse, ohne welches die schönsten Reden, die man sie hätte halten lassen mögen, eine sehr schwache Würkung gethan hätten — Doch wir wollen den Liebhabern der Dichtkunst das kleine Vergnügen, die Gründe warum der Plan gerade so angelegt, die Umstände so bestimmt, die Theile so zusammengesetzt, und Licht und Schatten im Ganzen so ver10

theilt worden, selbst zu entdecken, nicht entziehen, und überhaupt ihrem Urtheil in keine Weise vorgreifen. Nur dies mög uns erlaubt seyn noch zu sagen: Daß die Bestrebung den moralischen Endzweck, welcher diesem Gedichte das Daseyn gegeben hat, mit den Gesetzen der dramatischen Ausführung in einem musikalischen Stücke zu vereinbaren, Schwierigkeiten hatte, die beym ersten Anblick nicht einem jeden in die Augen fallen. Wie glücklich oder unglücklich der Dichter und der Componist (der auch hier wieder wie aus der Seele des ersten gearbeitet hat) in Überwindung dieser Schwierigkeiten gewesen, kan vielleicht nur die Würkung, die das Stück bey der Aufführung a u f d i e M e i s t e n thun wird, gewiß entscheiden. Wir werden daher

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nicht unterlassen, zu seiner Zeit, davon einige Nachricht zu geben.

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¼Die Regierungskunst, oder Unterricht eines alten Persischen Monarchen an seinen Sohn. Nach dem Englischen. Höre meinen Rath, geliebter Sohn, und lerne daß T u g e n d wahre Weisheit ist. Fürchte nichts so sehr als deine eigne Gewalt. Macht ist nur dann ein Glück, wenn Weisheit sie leitet. Laß bey deiner Regierung die Gesetze und die eingeführte Staatsverfassung niemals aus den Augen. Fasse keinen Entschluß, am aller wenigsten in Sachen, wobey deine Lieblingsneigung betroffen ist, ehe du ihn aufs sorgfältigste geprüfet hast; und verwirf ihn sogleich, wenn du erröthen müßtest, ihn öffentlich deinem Volke zu bekennen. In diesem Falle ist er dein Feind.

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Wisse, daß wir nichts lieben können als was unsrer Glückseligkeit beförderlich ist. Lebt das Volk unter deiner Regierung in Friede und Freyheit; schadet ihm kein äuserer Feind; sind ihm die Früchte seiner Arbeit gesichert; findet es Gerechtigkeit bey den Richtern; leidet keiner, ausser um Verbrechen die das Gesetz verdammt; so werden deine Unterthanen auch gewiß den Regenten lieben, der ihnen so viele Glückseligkeiten schaft. Vernachläßige keine einzige der Stunden, die du dem Staate schuldig bist. Gewöhnst du dich deine Pflicht zu erfüllen, so wird dir deine Pflicht leicht und angenehm werden. Versäumst du sie öfters, so wirst du sie bald immer vernachläßigen. Aus Unordnung entsteht Unordentlichkeit. Bist du der Tugend getreu, so hast du ein Recht mit dir selbst zufrieden zu seyn; und alsdann wird das Gefühl deines eignen inneren Werthes jede lasterhafte oder ausschweifende Begierde verstummen machen. Das Laster wird deinem Herzen nicht nahe kommen dürfen, da es mit keiner Neigung desselben in geheimen Verständnis steht. Hat dich die Sinnlichkeit einmal überwunden, dann kanst du dich selbst nicht mehr hochschätzen; und wie sollten andere den hochachten können, der sich selbst verachten muß? T r ä g h e i t ist der größte Fehler eines Fürsten. Ein träger Regent verräth, verkauft sein Volk; denn er überläßt es seinen Dienern um der schlechten Ursache willen, seiner Gemächlichkeit pflegen zu können. Er entsagt niederträchtiger weise dem Ruhme, die Quelle der gemeinen Wohlfarth zu seyn, und vernichtiget gleichsam sich selbst zu einem Schatten, der

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zwar einen Menschen vorstellt, aber blos durch fremde Kräfte in eine anscheinende Bewegung gesetzt wird. Der Unterthan ist unter einem trägen Fürsten weit unglücklicher als unter einem bösen. Die Unterdrückung so vieler Unterregenten, deren Erpressungen autorisirt sind, erstreckt sich bis auf die Hütte des armen Tagelöhners: da hingegen die Wuth eines Tyrannen blos seinen Hofleuten gefährlich ist. (*) Laß das Glück deines Volkes deinen liebsten Wunsch, dein größtes Vergnügen seyn. Freue dich, wenn du deine Unterthanen frölich siehest. Halt’ es für einen Zuwachs deines Schatzes, wenn sich ihre Zahl vermehrt; und setze deinen höchsten Ruhm darinn, wenn keiner von ihnen Ursache findet mißvergnügt zu seyn, oder zu klagen. 10

Gewöhne dich früh aufzustehen. Der Tag ist verlohren, der spät anfängt. Verwehre deinen Unterthanen den Zutritt nie; sie werden schon halb zufrieden von dir weggehen, wenn du ihr Anbringen nur angehört hast. Überwinde deine Verdrossenheit, wenn du dich zu den Geschäften nicht aufgelegt findest. Nie lese man in deinem Gesichte, daß die Beschwerlichkeiten deines Amts dich unmuthig machen. Muntre dich durch den Gedanken auf, daß jeder wohl gebrauchte Tag zehn andre glücklich macht, und durch jede vernachläßigte Stunde zehn andre elend werden. Berathe dich täglich mit den Häuptern deiner Collegien. Mit jedem vernachläßigten Departement sinkt ein Pfeiler des Staats. Gieb keinem deiner Diener Gelegenheit zu hoffen, er werde dich hintergehen, oder ein

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ungerechtes Verfahren durchsetzen können, ohne entdeckt zu werden. Wache über ihnen; überrasche sie unversehens, und bemächtige dich jeder bequemen Gelegenheit, wo du ihre Treue auf die Probe setzen kanst. Liebe die Wissenschaften. Sie sind zugleich nützlich und unterhaltend; sie veredeln die Seele, und flössen ihr die Liebe zur Ordnung ein. Niemand ist geneigter zum Aufruhr als Barbaren. Aufgeklärte, gebildete Nationen lassen sich an einem Faden leiten, da man für jene einen Kappzaum nöthig hat. Suche dein Gebiethe nicht zu erweitern. Ein Reich, das sich nicht für seinen unruhigen Nachbarn fürchten muß, ist immer gros genug; und Eroberungen sind nie des Unglücks werth, welches der Eroberer seinem Volke verursacht. Greif nie an, aber vertheidige dich

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muthig, wenn die Ehre deines Reiches angegriffen wird, oder deine Unterthanen leiden. Hüte dich in Schulden zu fallen. Sey püncktlich und genau im Bezahlen, und wage dich an kein Unternehmen, wozu du die erforderlichen Mittel nicht bey der Hand hast. Schulden des Staats werden zu unvermeidlichen und desto unseligern Ursachen der Unterdrückung; und haben Kriege sie unvermeidlich gemacht, so kan oft der Friede selbst die Bürde des Kriegs nicht erleichtern.

¼Bertuch:½ D i e R e g i e r u n g s k u n s t

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Verehre Treue und Wahrheit auf das gewissenhafteste. Treulosigkeit kan zuweilen einen augenblicklichen Vortheil schaffen; aber sie hinterläßt gewiß allzeit einen fressenden Schaden. Einen König, der nicht Wort hält, verabscheuen heimlich alle seine Nachbarn; er setzt sich immerwährender Gefahr aus, und wird nie einen Freund finden. Verändere die Staatsverfassung deines Reiches nicht im geringsten Theile, selbst nicht aus den scheinbarsten Gründen, ohne zuvor die übrigen Departements, woraus es besteht, zu Rathe gezogen zu haben. Gesetze gelangen nur nach und nach zur gehörigen Festigkeit, und die Ehrfurcht, welche das Volk für sie heget, gründet sich blos auf ihre Unverletzlichkeit und ewige Dauer. Ein neues Gesetz ist ein Bekänntniß, daß der Gesetzgeber einstmals geirrt habe; und, kan er sich nicht wiederum irren? (**)

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Laß nie eine Bedienung des Staats erblich werden. Dieser Fehler hat den Untergang der mächtigsten Reiche verursacht. Halte streng über den Formalitäten der Justiz; denn ohne sie ist alles willkührlich. (***) Eine Nachsicht darinnen zu Gunsten des einen Unterthanen, schadet allezeit dem andern. Überrede nie einen Richter; wähle auch nie besondere Richter für besondere Streitigkeiten oder Verbrechen. Der Schuldige der vor einem willkührlichen Richterstuhl verurtheilt worden wäre, würde durch die öffentliche Stimme der Nation losgesprochen werden. Laß dich nie überreden, die Abgaben deiner Unterthanen zu erhöhen, oder gar neue zu machen. Wo sind deine Reichthümer, wenn dein Volk arm ist? Freue dich, wenn deine Unterthanen etwas über ihre tägliche Nothdurft haben, und im Stande sind, des Lebens froh zu werden. Sie sind Menschen, und haben ihre Gefühle so wohl wie du. Sorge dafür, daß die Landstrassen in gutem Stande und sicher seyen. Beschütze die Kaufleute, und beschränke die Freyheit der Handlung nicht durch unnöthige Gesetze. Sie sind Stützen deines Staats. Ehre sie; dein Thron borgt seinen Glanz von ihrer Arbeit. Beschütze alle Künste. Ermuntre sie durch Preise, Besoldungen, und Ehrenzeichen. Der Erfinder eines neuen Werkzeuges ist ein Wohlthäter des Staats. Wer dich lehrt mehr Garben in einem Morgen Feldes einzuernden, ist dein Bruder. Ziehe ein wohlgebautes Feld dem herrlichsten Garten vor. Der Werth aller Handlungen bestimmt sich nach dem Maase ihrer Mitwürkung zum g e m e i n e n Besten.½

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Zusätze zu den mit Sternchen bezeichneten Stellen dieses Stücks. (*) Die S c h w ä c h e eines Regenten ist unstreitig ein groses Unglück für seinen Staat, und (wenn das Betragen des schwachen Fürsten, seiner Lage nach, einen grosen Einfluß auf das allgemeine System hat) oft kein kleines Unglück für die Welt. Wie viel Unheil hätte dem ganzen Europa erspart werden können, wenn Philipp III. von Spanien, oder Jacob I. und Carl II. von England nicht schwach gewesen wären! Aber es ist falsch, daß ein Tyrann nur seinen Hofleuten gefährlich sey; oder wenn es unter irgend einer Bestimmung wahr seyn könnte, 10

so müßte es in dem Falle seyn, wenn ein unumschränkter Fürst, bey grosen Eigenschaften des Verstandes, einige b r u t a l e Temperamentsfehler und schlimme Gewohnheiten an sich hat, z. E. wenn er sehr gähzornig, oder dem Trunk ergeben, oder beydes zugleich ist. Aber ein solcher Fürst verdient darum noch nicht den Nahmen eines Tyrannen. Alexander und Peter der grose haben sich in Anstössen von Brutalität einiger grausamen Handlungen schuldig gemacht, und sie gehören gleichwohl unter die Helden des menschlichen Geschlechtes. Der Himmel verhüte, daß irgend ein junger Fürst sich durch diese Beyspiele, deren die Geschichte nur zu viele aufweiset, verleiten lasse, wilde Ausbrüche in Zorn und Vergnügungen für kleine Laster anzusehen!

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Was den gemeinsten Menschen zum Vieh herab würdigt, kan an denjenigen nichts erträgliches seyn, der ein sichtbares Bild einer weisen und wohlthätigen Gottheit seyn soll; und es ist ein wahres Unglück für die Menschheit, daß nicht in jedem Staate durch die Grundgesetze dafür gesorgt ist, daß der Regent, von dem Augenblick an da er eine brutale Handlung zum zweyten mal begangen hat, unter Administration gesetzt werde. Alles was wir hier gegen den Verfasser unsers Textes behaupten, ist, daß nur Fürsten wie Tiberius, Nero, Domitian, Phokas, P. Alexander VI. Heinrich VIII. von England, u. s. w. den Nahmen von Tyrannen verdienen; und daß solche Fürsten nicht nur ihren Hofleuten gefährlich, sondern Geisseln für ganze Nationen seyen, wird wohl

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niemand zu läugnen begehren. Übrigens scheint die Frage: ob ein schwacher oder schlimmer Regent ei-

¼Bertuch: Die Regierungskunst½ Z u s ä t z e

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nem Staate mehr Schaden thun könne, unter diejenigen zu gehören, deren Auflösung von keinem grosen Nutzen seyn könnte, wenn sie auch so leicht wäre, als sie es nicht ist. Sie gleicht so ziemlich der Frage: ob Feuer- oder Wassersnoth, Pestilenz oder theure Zeit das grössere Übel sey? Es ist geradezu unmöglich eine solche Aufgabe anders als in e i n z e l n e n F ä l l e n aufzulösen; und dann kömmt es auf die genaue Bestimmung und Aufzählung aller Umstände an. Indessen könnte man sich doch in Staaten, wo der Regent e r w ä h l t wird, zuweilen in dem unglücklichen Falle befinden, zwischen einem Schwachen und einem Schlimmen w ä h l e n z u m ü s s e n ; und da würde einem Wähler, der nur einiges Gefühl für das Glück oder Unglück seiner Mitge-

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schöpfe, oder ein Fünkchen von dem was unsre ehrlichen Voreltern Gewissen nannten, hätte, allerdings unendlich viel daran gelegen seyn, einen beruhigenden Bestimmungsgrund seiner Entschliesung zu haben. Aber in einem solchen Falle würde die Frage nicht seyn, ob ein schwacher oder ein schlimmer Regent dem Staate schädlicher sey? sondern es würde darauf ankommen, diese Aufgabe in viele besondere Fragen aufzulösen, und durch eben so viel wohl beobachtete Facta beantworten zu können. Z. E. W i e schwach ist C a j u s ? W i e schlimm ist T i t i u s ? Hat jener oder dieser nicht neben seiner Schwäche, oder neben seinem verkehrten Herzen Eigenschaften, welche die Schädlichkeit derselben mildern? Was für Schranken setzen ihnen die Staats-

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verfassung, die Beschaffenheit ihres Landes, die übrigen Verhältnisse und Umstände? u. s. w. Ein schwacher Fürst kan das G l ü c k haben, redliche und verständige Diener zu finden. Er kan einige gute oder wenigstens ziemlich gleichgültige Neigungen haben, deren man sich bedienen kan, ihn zu vielem Guten zu bewegen. Er kan aus Schwäche, aus Furchtsamkeit oder Unentschlossenheit v i e l b ö s e s u n t e r l a s s e n . Auf der andern Seite kan der Böse noch immer so viel Verstand haben, um einzusehen, daß er sich selbst Schaden thun würde, wenn er es gar zu arg machte. Er kan vielleicht rechtschaffne Männer um ihrer Geschicklichkeiten willen, und weil sie ihm unentbehrlich sind, etwas gelten lassen müssen. Er kan aus Ehrsucht, oder um seines eignen Vortheils willen, G u t e s t h u n , u. s. w. Alle diese und zwanzig andre Betrachtungen müßten in Erwägung gezogen werden, wenn man die Auflösung dieses Problems nützlich machen und Regeln suchen wollte, wornach man sich in besondern Fällen mit einigem Grade von Sicherheit bestimmen könnte. Der Herausgeber des Merkurs hat die Frage, wovon die Rede ist, in einem

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Manuscript erörtert gefunden, welches ihm vor einiger Zeit durch einen Zufall in die Hände gefallen ist, und (dem Ansehen nach von einer neuern Hand) den Titel A k a d e m i s c h e F r a g e n bekommen hat. Dieses Manuscript besteht aus einer ziemlichen Anzahl von D i a l o g e n zwischen zween oder mehrern Philosophen aus der j ü n g e r n A k a d e m i e , welche bekannter massen alles, was nicht durch das allgemeine Gefühl entschieden wird, für zweifelhaft erklärte, und daher beynahe über alles f ü r u n d w i d e r disputierte. In jedem Dialog wird irgend eine zweifelhafte moralische Aufgabe untersucht und so zergliedert, daß ein denkender Leser sich im Stande sieht, entweder den Aus10

spruch zu thun, oder die Gründe an zu geben, warum er es nicht thun kan. Schon lange haben Personen, denen, in den höhern Kreisen des thätigen Lebens, die Fälle häufig vorkommen, wo es unendlich schwer ist, einen befriedigenden Entscheidungsgrund für unsre Entschließungen zu finden, den Wunsch geäusert: daß die Sittenlehrer, statt allgemeiner Theorien (die uns in der Ausübung fast immer ungewiß lassen) sich häufiger mit genauer Erörterung dessen, was in besondern Fällen moralisch recht ist, beschäftigen möchten. Das besagte Manuscript scheint diesem Wunsche ziemlich zu entsprechen; und wir sind deswegen gesonnen, einige von den Dialogen die es enthält, nach und nach in den Merkur einzurücken. Wir sagen mit Bedacht nur einige;

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denn verschiedene sind mit einer Freyheit geschrieben, welche die Zeit, worinn wir leben, schwerlich ertragen möchte. Es ist wohl wahr, daß ohne Freyheit philosophieren noch ein wenig schlimmer ist als gar nicht philosophieren. Aber es ist auch wahr, daß es einen Grad von Licht giebt, welchen Augen, die seit kurzem zu sehen angefangen haben, nicht ertragen können; und daß die Freyheit über alles kaltblütig und ohne Zurückhaltung zu philosophieren, einen Grad von Aufklärung voraus setzt, dessen sich noch keine Nation des Erdbodens rühmen kan. Immerhin wollen wir es mit etlichen, die uns vorzüglich interessant scheinen, versuchen; und der Dialog über die Frage, ob ein Staat unter einem schwachen oder unter einem bösen Regenten in grösserer

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Gefahr sey übel regiert zu werden, soll die erste Probe machen. Es giebt auf einem gewissen Planeten unsers Sonnensystems eine Nation, welche, unter andern wunderbaren Besonderheiten, auch diese hat: daß noch kein Sterblicher einen Nahmen für ihre Verfassung hat ausfindig machen können. Sie enthält in einem Bezirke von ungefähr zwölftausend Quadratmeilen eine unglaubliche Menge grösserer und kleinerer Staaten, welche (ih-

¼Bertuch: Die Regierungskunst½ Z u s ä t z e

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rer allgemeinen Verbindung unbeschadet) einzelnen Regenten von unterschiedlicher Benennung unterworfen sind; auf deren guten Willen es meistens ankömmt, wie viele oder wenige von ihren Untergebnen sich täglich satt essen sollen. Einige dieser Selbstherrscher sind mächtig genug, grössere Kriegsheere ins Feld zu stellen als Scipio und Cäsar jemals angeführt oder bestritten haben: Andre können den ganzen Umfang ihrer Monarchie von der Spitze eines Maulwurfhügels übersehen. Verschiedene (und unstreitig die Glücklichsten) sind gerade mächtig genug, um viel Gutes thun zu können, wenn sie wollen; aber doch nicht so mächtig, daß sie, bey einem nur mäßigen Antheil von Menschenverstande, der Versuchung Böses zu thun so leicht unterliegen

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sollten. Ein sehr beträchtlicher Theil dieser Regenten wird e r w ä h l t ; und da die Nation nicht für gut befunden hat, der Classe, aus welcher sie genommen werden, eine besondere politische Erziehung zu geben; so soll sich wohl eher zugetragen haben, daß der Zufall den Abgang dieser Vorsicht nicht völlig so gut ersetzt als man es ihm zugetraut hatte. Ausserdem befinden sich unter besagter Nation noch vier bis fünf Dutzend kleine Republiken, deren Regiment ebenfalls durch freye Wahl bestellt wird, und in welchen (wie man uns versichert hat) die Ernennung eines Rathmanns oder eines Spitalvorstehers oft grössere Bewegungen macht, und schwerer zu stande kömmt, als die Wahl eines Doge von Venedig, oder eines Grosmeisters des Hospitals vom heil. Jo-

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hann zu Jerusalem. Unter einer Nation, wo das ganze Jahr durch so viel zu wählen ist, möchte wohl der oben erwähnte leidige Fall häufiger vorkommen, als für das Beste derselben zu wünschen wäre; und man könnte sich also schmeicheln ihr einen kleinen Dienst erwiesen zu haben, wenn man ihr eine sichere Theorie vorgelegt hätte, nach welcher sich in jedem vorkommenden Falle die grösseste Wahrscheinlichkeit bestimmen ließe, ob der Staat bey einem Klotze oder bey einem Drachen am wenigsten übel fahren werde; wenn uns erlaubt ist auf eine bekannte Fabel anzuspielen. Wir unterstehen uns nicht mit Gewißheit zu sagen, daß der versprochne Dialog über diese Materie eine solche Theorie wirklich darstelle; aber wenigstens wird er denkende und die Welt aus Erfahrung kennende Freunde der Menschheit veranlassen, der Sache schärfer als sonst nachzudenken, und auch dies wäre schon Vortheils genug.

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(**) Wenn die Staatsverfassung und die Gesetzgebung einer Nation der ganzen Summe der besondern unveränderlichen Bestimmungen derselben so angemessen, und in jeder Betrachtung so vollkommen wäre, als möglich, so würde jede Abänderung in den Grundgesetzen den Nationalzustand verschlimmern; und in so ferne hat der Persische König recht. Aber so lange die Grundverfassung noch mit wesentlichen Mängeln behaftet ist, d. i. so lange die Rechte des Volks, der Stände und des Oberhaupts nicht aufs genaueste bestimmt, gegen einander abgewogen, und in völlige Sicherheit gesetzt sind: so lange muß noch an ihr gearbeitet werden, und vorher kan sie auch zu keiner 10

dauerhaften Festigkeit gelangen. Die Ehrfurcht des Volkes gegen die Gesetze gründet sich allerdings auf ihre Unverletzlichkeit, und ein unfehlbares Mittel, wie sich eine Regierung verächtlich machen kan, ist, wenn sie Verordnungen macht, über welchen nicht scharf und unpartheyisch gehalten wird, oder welche mit so wenig Überlegung gemacht worden, daß man erst durch die unvorgesehenen schlimmen Folgen belehrt wird, was man gethan habe. Aber die Unverletzlichkeit eines Gesetzes kan sich vernünftiger weise auf nichts anders gründen als auf ein von der Natur selbst festgesetztes unveränderliches Verhältniß zwischen der Art zu handeln, welche das Gesetz vorschreibt, und dem allgemeinen Besten der Gesellschaft und der Menschheit überhaupt. Gesetze,

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welche sich auf veränderliche Umstände und Verhältnisse beziehen, müssen also abgeändert werden, so bald sich ihre Beziehung verändert; denn das erste aller Gesetze, das allgemeine Beste, fodert es alsdann. Der Persische Monarch (oder vielmehr der ehrliche Mann, der diesen Aufsatz in dessen Nahmen entworfen hat, und der es, von der Höhe seines sechsten Stockwerkes herab, so leicht findet, unveränderliche Gesetze zu geben) indem er sagt: Ein neues Gesetz ist ein stillschweigendes Bekenntniß, daß der Gesetzgeber sich einstmals geirret habe: scheint vergessen zu haben, daß Menschen dem unvermeidlichen Loos unterworfen sind, sich zuweilen zu irren; und daß ein Gesetzbuch, worinn, nur auf Tausend Jahre, für jeden möglichen besondern Fall ein dem-

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selben völlig angemessenes Gesetz zu finden wäre, weder von einem Menschen verfaßt, noch von einem Menschen übersehen werden könnte. So wie die Welt bisher gegangen ist, und vermuthlich noch lange gehen wird, hängt das Glück der Menschen viel weniger von der Festigkeit der Gesetze als von der weisen Vertheilung und Verwaltung der gesetzgebenden Macht ab. Die W i l l k ü h r l i c h k e i t der Gesetze und ihrer Anwendung ist das grose Übel,

¼Bertuch: Die Regierungskunst½ Z u s ä t z e

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welchem abgeholfen werden muß, eh eine Nation sich rühmen kan, persönliche Sicherheit, Eigenthum und Freyheit zu haben. So lang es auf meinen Richter ankömmt, ob er mich nach dem Römischen Rechte verliehren oder nach dem Teutschen gewinnen machen will: so lang ist meine und meiner Mitbürger Condition nicht viel besser oder vielleicht wohl gar ein wenig schlimmer als sie damals war, da man sein Recht mit der Faust bewies. Denn damals hatte ich doch nur gegen den verlohren, dessen Faust stärker war als die meinige, oder der mehr Fäuste aufbieten konnte als ich; aber wo die Gesetze willkührlich sind, habe ich gegen einen jeden Richter verlohren, der mein Freund nicht ist, oder Absichten auf meine Dukaten hat. Die Frage ist

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alsdann nicht: ob H a n s oder P e t e r Recht oder Unrecht hat, sondern, o b Hans oder Peter mehr Lust zum gewinnen oder verliehren hat ? Und da kan es denn wohl nicht anders seyn als daß d i e S c h w e r e ihrer respectiven Beutel und die Wage des Richters den Ausschlag geben muß. Daß der Zustand einer Nation, deren Bürger sich in diesem Falle befinden, ein verwünschter Zustand sey, wird vermuthlich von niemand bezweifelt werden. Aber wie unter gewissen gegebenen Umständen zu helfen sey, möchte eine Frage seyn, die alle sieben Weisen aus Griechenland, wenn sie ihnen collegialiter vorgelegt werden könnte, sehr verlegen machen würde. Die Ohren hängen lassen und leiden, ist alles was einem ehrlichen Patrioten, der nichts

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bessers thun kan, übrig bleibt. Geduld, und die Charten gemischt; sagt der bezauberte Ritter D u r a n d a r t e in der Höle Montesinos zu seinem Vetter. — Das Spiel kan doch nicht immer wider uns seyn, oder gewisse Leute müssen mehr Künste können als recht ist. (***) Es ist unwidersprechlich, daß die Art und Weise, wie den Bürgern zu ihrem Rechte geholfen wird, oder wie Verbrechen untersucht und bestraft werden, an genaue bestimmte Formen gebunden, und der Willkühr des Richters auch hierinn nichts überlassen seyn muß, wenn die Bürger eines Staates sich der Sicherheit — des ersten Zwecks weswegen die Menschen in gesellschaftliche Verbindung getreten sind — zu erfreuen haben sollen. Aber die Gesetzgebung muß auch dafür gesorgt haben, daß dasjenige, was blos zur Befestigung der Sicherheit und zur Schutzwehre des Rechts erfunden worden ist, nicht ein Werkzeug der Beraubung und Unterdrückung, oder einer verderblichen Straflosigkeit werde. Wenn ein Land wäre, wo jeder Minister ge-

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siegelte Briefchen im Hause hätte, vermittelst deren er einen jeden, der das Unglück hätte ihm zu mißfallen, alle Augenblicke zwischen vier Mauren stekken lassen könnte, und worinn es auf eine Maitresse, einen Kammerdiener, einen Bonzen oder einen G i t o n ankäme, wer der Richter eines Beklagten seyn sollte; welcher Vernünftige würde dies Land zu seinem Vaterlande wählen? Aber wenn ein Land wäre, wo ich um einer gerichtlichen Spitzfindigkeit willen mit dem sonnenklarsten Recht verurtheilt werden könnte; wo es von der Nachläßigkeit oder Schelmerey eines Advocaten abhienge, einen Hausvater mit Weib und Kindern zum Bettler zu machen; wo ich nach drey gün10

stigen Urtheln, die sich auf mein erwiesenes Recht gründeten, am Ende um einer versäumten Formalität willen mit groser Feyerlichkeit und in bester Form Rechtens meines Eigenthums beraubt und mit dem feinen Troste, daß es nun in meiner Willkühr stehe, mit meinem Sachwalter einen neuen Handel auszufechten, aus dem Tempel der Göttin Gerechtigkeit entlassen würde; — wo aber hingegen auch ein überwiesener Bösewicht, ein Giftmischer, ein Vatermörder, um der geringsten Unförmlichkeit willen, die zufälliger weise in seinem Proceß vorgegangen seyn möchte, von der verdienten Strafe losgesprochen würde; wenn, sage ich, ein solches Land wäre, — sollte es nicht einen jeden Menschen, dem GOtt Vernunft und fünf Sinne gegeben hat, in Verwun-

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derung setzen, in einem solchen Lande — Klagen über Ungerechtigkeiten zu hören? Sollte man nicht denken, diese müßten da etwas viel zu alltägliches seyn, als daß man sich darüber beklagen sollte? In der That macht die Gewohnheit — diese zwoote Natur, die alles aus dem Menschen machen kan — daß man in Ländern, wo die Schikane mit der unleidlichsten Tyrannie herrschet, das Übel, das man durch sie leidet, nur halb zu fühlen scheint. Allein ungefühlte oder vernachläßigte Übel sind nur desto schlimmer; und insonderheit ist das, wovon hier die Rede war, von so ausgebreiteten schädlichen Folgen, daß die Göttin Salus selbst (wenn wir dem Terenz eine Redensart abborgen dürfen) dem Staate nicht helfen kan, worinn ein Vernünftiger lieber

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Unrecht leiden, als bey der öffentlichen Gerechtigkeit eine eben so kostbare als ungewisse Hülfe suchen will.

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Der Geist Shakespears. S h a k e s p e a r ist, däucht mich, unter allen Büchern das letzte, das sich ein Mann von Verstand und Geschmack nehmen lassen sollte. Es ist leicht, dem Sophisten V o l t a i r e (welcher von dem D i c h t e r Voltaire wohl zu unterscheiden ist) der weder Englisch genug weiß, um ihn zu verstehen, noch, wenn er Englisch genug könnte, den unverdorbnen Geschmack hat, der dazu gehört, seinen ganzen Werth zu empfinden — es ist leicht, sage ich, diesem Voltaire und seines gleichen nachzulallen: „Shakespear ist unregelmäßig; seine Stücke sind ungeheure Zwitter von Tragödie und Possenspiel, wahre Tragi- Komi- Lyrico- Pastoral-Farc¸en ohne Plan, ohne

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Verbindung der Scenen, ohne Einheiten; ein geschmackloser Mischmasch von Erhabnen und Niedrigen, von Pathetischen und Lächerlichen, von ächtem und falschem Witz, von Laune und Unsinn, von Gedanken die eines Weisen, und von Possen die eines Pickelherings würdig sind; von Gemählden die einem Homer Ehre brächten, und von Karrikaturen deren sich ein Scarron schämen würde.“ — Aber wer müßte der seyn, der Shakespearn lesen könnte, und über seinen Schönheiten, über seinen Vorzügen vor jedem andern menschlichen Schriftsteller, über allem was man beynahe auf jedem Blatte von ihm lernen kan, seiner Mängel nicht vergessen sollte? Die wahre Quelle dieser Mängel liegt nicht (wie man zu sagen gewohnt ist)

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in der Ansteckung des falschen Geschmacks seiner Zeit, — denn ein Geist wie der seinige läßt sich nicht so leicht anstecken — noch in einer unedlen Gefälligkeit gegen denselben — denn wie frey und stark sagt er nicht im S o m m e r n a c h t s - T r a u m und im H a m l e t den Dichtern, den Schauspielern und dem Publico die Wahrheit? — sie liegt in der Grösse und in dem Umfang seines Geistes. Sein Genius umfaßt, gleich dem Genius der Natur, mit gleich scharfem Blick Sonnen und Sonnenstäubchen, den Elephanten und die Milbe, den Engel und den Wurm; er schildert mit gleich meisterhaftem Pinsel den M e n s c h e n und den C a l i b a n , den M a n n und das W e i b , den H e l d e n und den S c h u r k e n , den W e i s e n und den N a r r e n , die g r o ß e und die s c h w a c h e , die r e i z e n d e und die h ä ß l i c h e S e i t e der menschlichen Natur, eine K l e o -

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p a t r a und ein A u s t e r w e i b , den K ö n i g L e a r und T o m B e d l a m , eine M i r a n d a und eine L a d y M a c b e t h , einen H a m l e t , und einen T o d t e n g r ä b e r . Seine Schauspiele sind, gleich dem grosen Schauspiele der Natur, voller anscheinenden Unordnung; — Paradiese, Wildnisse, Auen, Sümpfe, bezauberte Thäler, Sandwüsten, fruchtbare Alpen, starrende Gletscher; Cedern und Erdschwämme, Rosen und Distelköpfe, Fasanen und Fledermäuse, Menschen und Vieh, Seraphim und Ottergezüchte, Groses und Kleines, Warmes und Kaltes, Trocknes und Nasses, Schönes und Ungestaltes, Weisheit und Thorheit, Tugend und Laster, — alles seltsam durcheinander geworfen — und 10

gleichwohl, aus dem rechten Standpuncte betrachtet, alles zusammen genommen, ein groses, herrliches, unverbesserliches Ganzes! Welcher Schriftsteller hat jemals so tief in die menschliche Natur gesehen? Wer ihre geheimsten Triebräder, ihre verdecktesten Bewegungen, alle ihre Gesetze, Abweichungen und Ausnahmen, — wer das Unterscheidende jeder Leidenschaft, jedes Temperaments, jeder Lebensart, jeder Classe, jedes Geschlechts besser gekannt als Er? Wer besitzt einen grössern Reichthum an Bildern, die von der Natur unmittelbar abgedruckt sind? Wer hat in einem so hohen Grade diese Anschauungskraft, welcher, zu eben der Zeit da sie den ganzen Kreis der Menschheit umspannt, die feinsten Züge, und die leichtesten

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Schattierungen der Individual-Formen nicht entwischen? Wer hat jemals jede Art und Classe von Menschen, jedes Alter, jede Leidenschaft, jeden einzelnen Charakter die ihm eigenthümliche S p r a c h e so meisterlich reden lassen? Für welchen Gedanken findet er nicht ein Bild, für welche Empfindung nicht einen Ausdruck? Für welche Bewegung der Seele nicht die geschickteste Wendung oder den richtigsten Schwung? Welche Stärke in seiner Zeichnung! welche Wahrheit in seinen Gemählden! Wie glühend sind seine Farben, wenn er die Glorie der Tugend, wie schmeichelhaft ist sein Pinsel, wenn er die sanften Wallungen der zärtlichern Leidenschaften, wie stark und glücklichverwegen, wenn er die wilden Stürme der Seele schildert! Ich kenne die Weisen der Grie-

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chen und Römer, und nicht von gestern her; aber ich kenne keinen der Shakespearn an Kenntniß des Menschen übertreffe; ich kenne unter allen Dichtern keinen grössern Dichter, unter allen Sittenlehrern keinen grössern Sittenlehrer. Mit dem feinsten sittlichen Gefühl verbindet er die wärmste Empfindung für seine Mitgeschöpfe, und den lebhaftesten Eifer für die Rechte der Menschheit. Durch alle seine Werke athmet Liebe der Wahrheit und

Der Geist Shakespears

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Tugend, Haß der Ungerechtigkeit und Unterdrückung; alle beseelt ein freyer, unerschrockner, edler und wohlthätiger Geist. Und welcher andre Dichter ist so voll von ungemeinen, starken und erhabnen Gedanken? So voll von Bemerkungen, die durch ihre Neuheit und Scharfsinnigkeit treffen, und doch augenblicklich so stark einleuchten, daß man sie unmittelbar selbst zu machen glaubt? So voll von Stellen, die man dem Gedächtniß einzuprägen wünscht? Die Franzosen haben uns die merkwürdigsten Stellen und die besten Gedanken aus den Schriften des M o n t a i g n e , B a c o n , B a y l e , J . J . R o u s s e a u , u. a. unter den Nahmen des Geistes des Montagne, Bacon, Bayle, Rous-

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seau, gegeben. Wer verdient wohl mehr als Shakespear, daß man, auf eine ähnliche Weise, etwas von dem Geiste seiner Werke ausziehe? Ich kan den Gedanken nicht los werden, wenigstens einen kleinen Versuch davon zu machen. Gefällt mein Einfall den Lesern, so soll dieser Artikel fortgesetzt werden. Ich bediene mich hiezu der bekannten teutschen Übersetzung der Shakespearischen Werke, welche zu Zürch in acht großoctav Bänden heraus gekommen ist. Niemand kennt ihre Mängel besser als ich selbst; aber ich kenne auch das Gute derselben, und weiß sehr wohl, daß ihr Herr L e ß i n g , durch das was er in seiner vortreflichen D r a m a t u r g i e zu ihrem Schutze sagte, blos

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Gerechtigkeit wiederfahren ließ. Angenehm ist es mir, daß ich dem Publico zu einer neuen, und sorgfältig verbesserten, vermuthlich auch vollständigen Ausgabe dieser Übersetzung Hofnung machen kan, an welcher die Herren O r e l l , G e ß n e r , F ü e ß l i u n d C o m p . wirklich arbeiten lassen. Da ich diese Verleger ersuchen mußte, die Verbesserung (welcher ich aus Mangel der dazu erfoderlichen Muße mich nicht selbst unterziehen konnte) einem andern dazu geschickten Gelehrten aufzutragen; so wünsche ich um so mehr, (und gewiß wünscht es jeder Freund der Litteratur mit mir) daß Shakespears guter Genius über dieser Arbeit wachen möge. Der Verbesserer wird nur zu manche Stellen, wo der Sinn des Originals verfehlt oder nicht gut genug ausgedruckt worden, und überhaupt vieles zu polieren und zu ergänzen finden. Aber möchte er sich vor der V e r s c h ö n e r u n g s s u c h t hüten, unter welcher Shakespears Genie mehr leiden würde, als unter meiner vielleicht allzu gewissenhaften Treue! Mein Vorsatz, als ich (in den ersten fünf Jahren der sechsten Dekade unsers Jahrhunderts) in dieser mühsamen Übersetzung Erho-

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lung von noch mühsamern Geschäften und curarum dulce lenimen suchte, war, meinen Autor m i t a l l e n s e i n e n F e h l e r n zu übersetzen; und dies um so mehr, weil mir däuchte, daß sehr oft seine Fehler selbst eine Art von Schönheiten sind. Verschönern ist keine so grose Kunst als sich einige einbilden; und sehr oft würde mir eine Stelle, über welcher ich stundenlang brütete, nur einen Augenblick gekostet haben, wenn ich den Shakespear hätte reden lassen wollen, wie er selbst v i e l l e i c h t sich ausgedrückt hätte, wenn er G a r r i k s Zeitgenosse gewesen wäre. Aber ich glaube, wer in dem Falle ist sich an der Copie von dem Gemählde eines grosen Meisters begnügen lassen zu müs10

sen, wird eine getreue Copie, die mit den Schönheiten des Originals auch seine Fehler darstellt, einer von fremder Hand vermeyntlich oder auch wohl wirklich verschönerten Copie, die eben dadurch keine Copie mehr ist, vorziehen. Ein Homer, ein Lukrez (wo er Dichter ist) ein Shakespear, muß getreu copiert werden (sollte auch der Sprache dadurch einige Gewalt geschehen) oder gar nicht. Und wer könnte dies letztere bey Shakespears Werken wünschen? d. H.

Auszüge aus dem H a m l e t. „Gebrechlichkeit, dein Nahme ist, W e i b ! “ 20

„Schändliche Thaten müssen ans Licht kommen, und wenn der ganze Erdball über sie gewälzt wäre.“ „Das gefälligste Mädchen ist verschwenderisch genug, wenn sie ihre keusche Schönheit dem Mond entschleyert. — Furcht ist die beste Sicherheit gegen die Liebe. Jugend hat einen Feind in sich selbst, wenn sie auch keinen von aussen hat.“

Auszüge aus dem Hamlet

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(Regeln eines Vaters für seinen auf Reisen gehenden Sohn.) „Gieb deinen Gedanken keine Zunge; und, wenn du ja von unregelmäßigen überrascht wirst, so hüte dich wenigstens, sie zu Handlungen zu machen. Sey gegen jedermann leutselig, aber mache dich mit niemand gemein. Hast du bewährte Freunde gefunden, so hefte sie unzertrennlich an deine Seele. Aber gieb deine Freundschaft nicht jeder neuausgebrüteten noch unbefiederten Bekanntschaft preiß. Hüte dich vor Gelegenheiten zu Händeln; bist du aber einmal darinn, so betrage dich so, daß dein Gegner nicht hoffen könne, dich ungestraft zu beleidigen.

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Leyh dein Ohr einem jeden, aber wenigen deinen Mund. Nimm jedermanns Tadel an, aber dein Urtheil halte zurück. Kleide dich so gut, als es dein Beutel bezahlen kan; aber nicht phantastisch; nicht immer kostbar, aber immer mit Geschmack. Der Anzug verräth oft den Mann. Vor allem sey redlich gegen dich selbst, denn nur alsdann wirst du es auch gegen andre seyn.“

Polonius zu Ophelien, da er sie vor der Liebe des Prinzen Hamlet warnt. „Traue seinen Schwüren nicht; traue desto weniger, je feyerlicher sie sind! Sie hüllen sich, gleich den Gelübden, die oft dem Himmel dargebracht werden, in Religion ein, um desto sichrer zu betrügen.“

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Der Geist seines Vaters zu Hamlet. „Wäre mir nicht verboten die Geheimnisse meines Kerkers zu entdecken, ich könnte dir Dinge erzählen, wovon das leichteste Wort deine Seele zermalmen, dein Blut erstarren, deine beyden Augen wie Sterne aus ihren Kreisen taumeln, deine krause dichtgedrängte Locken trennen und jedes einzelne Haar wie die Stacheln des ergrimmten Igels emporstehen machen würde.“ Hora z io . Aber das ist ausserordentlich seltsam. Ha m l e t . Eben darum weil es euch fremde vorkömmt, so heißt den Fremdling willkommen. Mein ehrlicher Horazio, es giebt im Himmel und auf 10

Erden Dinge, wovon kein Wort in unsrer Schulphilosophie steht.

Ein meisterhaftes Gemählde eines staatsklugen Pedanten nach dem Schnitt der Zeiten Jacobs I. ( P o l o n i u s spricht. Die Rede ist, dem König und der Königin die Ursache von Hamlets Wahnsinn zu entdecken.)

„Mein gnädigst gebietender Herr, und meine gnädigste Frau! weitläufig aus einander zu setzen, was Majestät und was Pflicht, warum der Tag, Tag, die Nacht, Nacht, und die Zeit, Zeit, ist, wäre nichts anders als — Tag, Nacht, und Zeit verderben. Demnach und alldieweilen dann die Kürze die Seele des Witzes, und Weitläufigkeit im Vortrag nur der Leib und die äuserliche Aus20

staffirung desselben ist; so will ich mich der Kürze befleissen, und sage also: Dero edler Sohn ist toll. Toll nenn ich es: denn, um von der wahren Tollheit eine Erklärung zu geben, was ist sie anders, als — sonst nichts zu seyn als toll? Doch dies itzt bey Seite gesetzt —“ Königin . Mehr Stoff und weniger Kunst! Polonius . „Gnädigste Frau, ich schwöre, daß ich hier gar keinen Gebrauch von Kunst mache. Daß er toll ist, i s t w a h r ; d a ß e s w a h r i s t , ist zu bedauren; u n d z u b e d a u r e n i s t e s , daß es wahr ist — eine drollichte Figur! aber sie mag reisen; denn ich will gar keine Kunst gebrauchen. Also,

Auszüge aus dem Hamlet

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zum Grunde gelegt, daß er toll ist, so kommt es nun darauf an, die Ursache von diesem Effect, oder vielmehr Defect, ausfindig zu machen. Denn dieser Effect, wiewohl er defectiv ist, muß eine Ursache haben; und nun frägt sich, was für eine Ursache, und wo sie zu suchen ist? Eine kleine Geduld! Ich habe eine Tochter; h a b e , sag’ ich, so lange sie noch mein ist; und diese hat, aus Gehorsam und kindlicher Pflicht, merken Sie wohl, mir dieses Briefchen zu Handen gestellt.“ etc. (Polonius liest nun den Liebesbrief, welchen Hamlet an seine Tochter, Ophelia, geschrieben, und fährt sodann fort, in bisheriger beliebter Kürze zu referiren, wie er, Polonius, seine Tochter instruirt habe, den Prinzen abzuweisen.)

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„Das that sie nun. Aber sehen Sie, was die Früchte meines väterlichen Rathes gewesen sind! Denn, daß ichs kurz mache, wie er abgewiesen wurde, gerieth er in Traurigkeit; hernach verlohr er die Eßlust; darauf den Schlaf; dadurch verfiel er in Schwachheit; aus dieser in ein Delirium, und so von Grad zu Grad, endlich in die Tollheit, worinn er nun raset, und die wir alle beweinen.“

(Polonius hat den Auftrag erhalten, den Hamlet auszuforschen.) Hamlet bedient sich der Meynung, die er von sich erweckt hat, daß er wahnsinnig sey, um die Fragen des alten Pedanten auszuweichen, und ihn zugleich zum besten zu haben; und bey dieser Gelegenheit ironisiert er mit einer un-

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nachahmlich launenhaften Wendung, die gewöhnliche Weise, wie man sich über die Satyre, sobald man sich von ihr getroffen fühlt, zu beschweren pflegt. Hamlet hat ein Buch in der Hand. Polonius will wissen, was er lese. Worte, Worte, Worte, versetzt Hamlet. Polonius frägt, was ihr Inhalt sey. „Verläumdungen, Herr; antwortet Hamlet. Der satyrische Bube da spricht: alte Männer hätten graue Bärte und runzlichte Gesichter, ihre Augen trieften Amber und Pflaumenbaum-Harz, und sie hätten vollen Mangel an Verstand mit sehr schwachen Hammen. Welches alles, mein Herr, ich zwar mächtiglich und festiglich glaube: aber gleichwohl halt ich es für unhöflich, so etwas niederzuschreiben. Denn ihr selbst, mein Herr, würdet nicht älter seyn als ich, wenn ihr, wie ein Krebs, rückwärts gehen könntet.“ „Wenn das Tollheit ist (sagt

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Polonius für sich) wie es dann Tollheit ist, s o i s t d o c h M e t h o d e d a r i n n , “ — ein Zug, der den ganzen Charakter des Pedanten vollendet!

( H a m l e t , zu Rosenkranz und Güldenstern, zween Hofschranzen, die ihm das Geheimniß seiner Schwermuth ablocken sollen.)

„Ich habe seit einiger Zeit, warum weiß ich selbst nicht, alle meine Munterkeit verlohren, alle meine gewohnten Übungen aufgegeben; und, in der That, es ist mit meiner Schwermuth schon so weit gekommen, daß diese schöne Erde mir nur ein kahles Vorgebürge, dieser prächtige Baldachin, die Luft, — seht ihr, dieses kühn überhangende Firmament, dieses majestäti10

sche Gewölbe, mit goldnen Sternen eingelegt, mir nichts bessers scheint, als ein stinkender Sammelplatz pestilenzischer Ausdünstungen. — Welch ein Meisterstück ist der Mensch! Wie edel durch die Vernunft! Wie grenzenlos an Fähigkeiten! An Form und Bewegung wie vollendet und bewundernswürdig! An Wirksamkeit wie ähnlich einem Engel! Im Denken wie ähnlich einem Gott! Die schönste Zierde der Schöpfung; das Vollkommenste aller sichtbaren Wesen! Und doch, was ist diese Quintessenz von Staub in meinen Augen? Ich finde kein Vergnügen mehr am Anblick des Menschen — auch nicht am Anblick des Weibes — wiewohl ihr es durch euer Lächeln zu sagen scheint —“

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(Die folgende Stelle, ein Fragment einer Erzählung von der Eroberung der Stadt Troja, welches der Poet einen Schauspieler, zur Probe, vor dem Prinzen Hamlet declamiren läßt, beweiset, was Shakespear in der hohen Epopöe hätte leisten können.)

„Der rauhe P y r r h u s — hatte nun die furchtbare Schwärze seiner Waffen mit einer noch gräßlichern Farbe befleckt; nun ist er von Kopf zu Fuß ganz blutroth, entsetzlich bespritzt mit Blute von Vätern, Müttern, Söhnen, Töchtern. In die düstre Flamme gehüllt, deren höllischer Schein den Weg grausamer Mörder beleuchtet, — von Wuth und Hitze lechzend, sucht er mit funkelnden Augen den alten P r i a m u s auf. Er findet ihn, von Feinden umringt, die der unvermögende Greis mit zu kurz geführten Streichen

Auszüge aus dem Hamlet

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zurück zu treiben sucht. Sein altes Schwerdt, ungehorsam dem kraftlosen Arm, führt lauter unschädliche Hiebe, und bleibt liegen wohin es fällt. Welch ein Gegner, die Wuth des daherstürzenden Pyrrhus aufzuhalten! Der Wüthrich holt zu einem tödtlichen Streich weit aus; aber von dem blossen Zischen seines blutigen Schwerdtes fällt der nervenlose Vater zu Boden. Das gefühllose Ilion selbst schien diesen Streich zu fühlen: seine brennenden Thürme stürzen ein, und der entsetzliche Ruin macht sogar den Pyrrhus stutzen. Denn seht, sein Schwerdt, indem es auf das milchweisse Haupt des ehrwürdigen Alten herab fallen will, bleibt (so schien es) in der Luft stecken. Pyrrhus steht wie ein gemahlter Tyrann, unthätig, dem

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Unentschloßnen gleich, der zwischen seinem Willen und der That im Gleichgewicht schwebt. Aber, so wie wir oft, wenn ein Sturm bevorsteht, ein tiefes Schweigen durch die Himmel wahrnehmen; das Rad der Natur scheint zu stehen; die trotzigen Winde schweigen und unter ihnen liegt der Erdkreis in banger Todesstille; auf einmal stürzt der krachende Donner Verderben auf die Gegend herab: so feurt den unmenschlichen Pyrrhus, nach dieser kleinen Pause, ein plötzlicher Sturm von Rachsucht wieder zur blutigen Arbeit an; —“ u. s. w. * * * Wann ist jemals unter allen Schriftstellern ein vollkommnerer Mahler gewesen als Shakespear? Und wer muß der Dichter seyn, der, wenn er eine Stunde zugebracht hat, die göttlichen Werke dieses grossen Mannes anzuschauen, nicht in Versuchung kömmt, seine eignen ins Feuer zu werfen? Auf mich wenigstens hat das Lesen im Shakespear diese Wirkung sehr oft gethan; und vielleicht hab’ ich es dieser Empfindung zu danken, daß einige meiner Versuche das Feuer weniger verdienen. O! ihr jungen und alten Söhne des Musengottes, ächte und unächte, leset Shakespearn! und wenn ihr nichts vortrefliches machen könnt, o! so schwört — sein Geist ruft euch, wie der Geist im Hamlet, zu: s c h w ö r t , s c h w ö r t ! — daß ihr lieber nichts machen wollt!

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Der Teutsche Merkur. Des dritten Bandes Drittes Stück. September 1773. Weimar Im Verlag der Gesellschaft.

¼Wiegen-Lied*) an meinen Freund C**, da er mir klagte, daß er nicht schlafen könne.½ *) Der Herausgeber ersucht die Dichterin, die ihn (ohne sich näher zu erkennen zu geben) mit diesen Proben eines sehr liebenswürdigen Talents beschenkt hat, seinen öffentlichen Dank dafür anzunehmen, und er besorgt gar nicht, der einzige zu seyn, der Ihr dafür dankbar ist.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Oktober 1773)

¼An den Herausgeber des teutschen Merkurs. Sollte man nicht vom t e u t s c h e n M e r k u r eben das sagen können, was V i r g i l vom alten Götterboten sagte: Dat somnos, adimitque? *) Gewiß, mein liebster Wieland, weder Sie selbst, noch einer von Ihren Mitarbeitern wird am Ende des Jahrs von sich rühmen können, es habe ihm niemand die 12 Monate durch jemals zugenickt: dat somnos. Der Himmel gebe, daß nur auch das adimitque alsdann über uns alle ausgesprochen seyn möge! 10

Was der hiebeykommende Aufsatz in dieser Absicht zu erwarten habe, davon bin ich sehr begierig, Ihre Ahndungen zu erfahren. Es ist eine Erzählung; folglich ein Ding, bey dem sich entweder sehr gut einschlafen, oder sehr gut wach bleiben läßt. Ihnen, mein Freund, wird sie gewiß gefallen: aber dem größten Haufen der Leser auch? — Werden diese nicht, bey Erblickung des Nahmens J o s e p h , in eine höhnische Miene fahren, den M e r k u r ein andächtiges Journal heissen, und in ein Gelächel darüber ausbrechen, daß man einen Patriarchen bey den e h r l i c h e n L e u t e n einführen wolle? — Vielleicht! Doch glaube ich, mein Freund, diese Gefahr könnte dadurch abgewendet werden, wenn Sie, im rechten Tone, das entscheidende Wort P a r i s aussprächen; und die erhabenen Geister Teutschlandes erinnerten, daß G e ß n e r s T o d A b e l s in dieser Hauptstadt mit Entzücken gelesen worden sey.

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Ich weiß, mein Freund, was Sie von denen Leuten halten, welche vorgeben, sie wüßten H o m e r , X e n o p h o n , E u r i p i d e s zu schätzen, und doch keinen Geschmack an den GeschichtsErzählungen des in seiner Einfalt erhabenen M o s e s finden. Warum sollen diese Leute uns für schwach genug halten, ihnen zu glauben? Warum sollen die Dichter, ihnen zu gefallen, ein Haar breit von ihren Gerechtsamen nachgeben? Ich erinnere mich bey dieser Gelegenheit dessen, was ein Mann von Genie (Herder) in Beziehung auf K l o p s t o c k sagt: „Der Autor möge als Mensch, als Religions-Verwandter, denken, was er wolle: a l s D i c h t e r müsse man ihm g l a u b e n . Ausser dem Gedichte, gäb es vielleicht eben so viel Ungläubige an R a m l e r s F r i e d r i c h , als Ungläubige an den Helden K l o p s t o c k s . “

*)

Er macht den Schlaf, und benimmt ihn.

¼Anmerkung: Jacobi½ A n d e n H e r a u s g e b e r

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A s e - N e i t h a wird schon mehr Leser finden, als C h a r m i d e s : und doch ist die Anzahl derer, welchen C h a r m i d e s gefällt, ganz ansehnlich, ohne daß man E x t e n s i o n durch I n t e n s i o n zu compensieren braucht. Unser gemeinschaftlicher Freund, der Freyh. von **, schrieb mir jüngst: „Sollte der Herausgeber des Merkurs, wegen Einrückung des C h a r m i d e s wohl im Ernste getadelt worden seyn? Mir ist gar nichts ähnliches zu Ohren gekommen. Vielmehr habe ich Gelegenheit zu beobachten, daß selbst einige von denen, w e l c h e g e r a d e n u r s o v i e l S e e l e haben, als vonnöthen ist, um ihren Leib eine Zeitlang vor der Fäulniß zu bewahr e n , ihre Austerschalen vom C h a r m i d e s ein wenig aufgeklemmt fühlen, ob sie gleich nicht eigentlich wissen, wer ihnen diese Gewalt anthue.“ Der Verfasser der beykommenden Erzählung ist ein aufkeimendes Genie, welches mir jüngst an einem Orte aufstieß, wo ich auf ganz andre Dinge ausgieng, und leichtlich alles, was Geist ist und heissen mag, hätte übersehen können. Das Publikum weiß noch nichts von meinem jungen Freunde; desto angenehmer wird es dem M e r k u r seyn, mit einer für alle Liebhaber der Musen interessanten Erscheinung zuerst hervor zu treten. Es ist ja auch, nach dem H e s i o d u s , eines seiner Geschäfte, „die Heerden der wolltragenden Schafe zu vermehren.“ u. s. w.*) W. S. J.½

*) Der Herausgeber behält sich seine Antwort auf diese Zuschrift vor.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Oktober 1773)

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¼Götze von Berlichingen, mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel. 1773. …½

Die Mitarbeiter am Merkur haben nicht auf die Grundsätze und Meynungen des Herausgebers geschworen. Jeder denkt und urtheilt nach seiner Fähigkeit, Überzeugung und eignen Weise; und daher wird es sich nicht selten zutragen, daß der Merkur sich selbst widersprechen, und in einem Stücke behaupten wird, was ein andrer Verfasser in einem andern Stücke bestreitet. Der Urheber der gegenwärtigen Recension denkt, wie der Augenschein lehrt, 10

über einige Grundsätze der Poetischen Kunst und über die Anwendung derselben ganz anders als der Herausgeber. Besonders scheint ihm beynahe alles, was derselbe an Götzen von Berlichingen tadelt, ohne genugsamen Grund getadelt worden zu seyn. Den Beweis muß er aus Mangel des Raums auf eine andere Gelegenheit versparen.

¼Anmerkung: Meiners?/Schmid?½ G ö t z e

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¼Auszug der merkwürdigsten politischen Neuigkeiten. … Der Römische Kayser Joseph II. hat seine neuen Besitzungen durchreiset, und die getroffenen Einrichtungen beurtheilet. Nach einer derselben sollen die neuen Provinzen auf 50000 Recruten abwerfen.* )½

*) Ein Umstand, über den sich viel philosophieren liesse, wenn man vorerst gewiß wäre, ob er wahr ist. H.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Oktober 1773)

Nachrichten an die Leser. 1. Ein Brief von Danzig berichtet mich, daß der dasige Buchhändler F l ä r e k e oder F l ö r e k e zum Nachdruck des Merkurs zwar seinen Nahmen hergegeben habe, daß aber nicht sowohl er als eine ansehnliche Association von Buchhändlern bey der Sache intereßiert seyen, und daß diese letztern behaupteten: die Gelehrten hätten schlechterdings kein Recht, ihre Schriften selbst zu verlegen. Ich weiß nicht, und verlange auch nicht zu wissen, ob diese vorgebliche 10

Conföderation gegen den teutschen Merkur wirklich existiere oder nur vermuthet werde. Eben so wenig werd’ ich mir einfallen lassen, den Satz: „die Gelehrten hätten kein Recht, ihre Schriften selbst zu verlegen und zu verkaufen,“ widerlegen zu wollen; denn man widerlegt keine handgreifliche Ungereimtheiten. Ich stelle also das Schicksal des teutschen Merkurs lediglich in die Willkühr seiner Leser. Ist es diesen angenehm, daß er fortgesetzt werde, und finden sie die Vorschläge, die ich im Vorberichte des zweeten Bandes gethan habe, billig: so hoffe ich, daß sie, anstatt einen offenbar unbefugten Nachdruck zu begünstigen, sich entweder bey mir selbst oder bey denen an den vornehmsten Or-

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ten Teutschlandes erbetnen, vorhin schon bekannten Collecteurs des Merkurs, bis gegen Ende des Monats November dieses Jahres abonnieren werden. Man verlangt vor der Hand, und bis zur wirklichen Ablieferung des Ersten Bandes 1774. keine Vorausbezahlung, sondern blosse, aber verbindliche Versicherung, daß man sich auf den Jahrgang 1774. bey dem Herausgeber des Merkurs abonnieren wolle; und man bittet sich eine solche Erklärung von Seiten der bisherigen und etwan noch hinzukommenden Abonnenten darum aus, weil man, ohne sich eines hinlänglichen Absatzes versichert zu haben, ausser Stande ist, den Merkur fortzusetzen.

Nachrichten an die Leser

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2. Der Herr Capellmeister S c h w e i t z e r , von dessen vortreflicher Composition meines Singspiels A l c e s t e ich dem Publico im Ersten Bande des t e u t s c h e n M e r k u r s einigen, wiewohl nur sehr unvollkommnen Begriff gegeben habe, hat sich, auf nachdrückliches Zureden und Ansuchen vieler Kenner und Beförderer der Musik, welche der öffentlichen Aufführung dieses Stückes beygewohnet, entschlossen, durch den Weg der Subscription einen Auszug desselben abdrucken zu lassen, in so fern sich so viele Liebhaber dazu angeben sollten, daß wenigstens die ziemlich beträchtliche Unkosten des Druckes heraus kommen.

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Herr S c h w e i t z e r hätte wohl wünschen mögen, daß er die Alceste in ihrer musicalischen Einkleidung dem Publico g a n z und vollständig hätte darstellen können. Denn was ist die eingeschränkte Begleitung des Claviers gegen ein besetztes Orchester, wo alle Instrumente (wie besonders in diesem Stücke) zum Vortheile des Ganzen arbeiten? Da sich aber gleichwohl unsre besten teutschen Meister der Tonkunst (wiewohl ungerne, wie ich vermuthe) bequemet haben, viele ihrer Singwerke in Auszügen für das Clavier heraus zu geben; so will er dem besten Beyspiele seines Freundes, des berühmten Musikdirectors, Herrn H i l l e r s , folgen, und die Alceste s o herausgeben, w i e dieser die schöne Cantate, d i e Er 1765. in

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Gegenwart seiner hohen Landesherrschaft im grossen Concerte zu Leipzig mit allgemeinem Beyfall aufgeführt, publiciret hat. Er wird sich bey seinem Auszuge der Alceste überhaupt D r e y e r , zu weilen auch V i e r e r Notenlinien bedienen: damit solcher zugleich die Stelle der Partitur, wenigstens bey der Aufführung des Stückes selbst, vertreten möge, und in einer Privatgesellschaft 2 auch 3 Personen sich zugleich damit beschäftigen können. Er ist aber auch erböthig, alle Partien der Instrumente, ja selbst die ganze Partitur, sauber geschrieben, auf etwaniges Erfordern, um ein billiges zu überlassen. Der Auszug, den ich hiermit ankündige, beträgt 46 Bogen in Quarto. Da Herr S c h w e i t z e r genöthiget ist, dieses Werk auf eigene Kosten drucken zu lassen, so werden nicht mehr Exemplare abgedruckt werden, als sich Subscribenten angeben werden. Der Preiß ist für Ein Exemplar Zween Reichsthaler Sechzehn gute Groschen; und man stellt es den Liebhabern frey, ob sie,

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Oktober 1773)

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zur Erleichterung der Auslagen, die der Druck erfordert, pränumeriren, oder erst bey Empfang des Werkes bezahlen wollen. Sie werden ersucht, sich der Subscription wegen, an die H e r r e n C o l l e c t e u r s d e s t e u t s c h e n M e r k u r s , oder auch allenfalls unmittelbar a n m i c h zu wenden, da ich mir es zur Pflicht mache einem Manne, dessen Charakter eben so schätzbar ist als seine Talente, und der durch seine Composition der Alceste sich ein Recht an meine unbegrenzte Dankbarkeit erworben hat, zumal in einer Unternehmung, welche zur Ehre der Nation gereicht, allen von mir abhangenden Vorschub zu thun. 10

Die Subscription kan nicht länger als bis zu Ende des Novembers dieses Jahres offen bleiben: Und im vierten Bande des Merkurs soll die Zeit zuverlässig bestimmt werden, wenn man im Stande seyn wird, das Werk an die Liebhaber abzuliefern. Sollten sich Gönner und Beförderer der Musenkünste finden, welche aus eigener edelmüthiger Bewegung Subscription für die Musicalische Alceste sammeln wollten, so ersuche ich Sie, über den Erfolg Ihrer Bemühungen mit mir selbst zu communiciren. W e i m a r , den 14ten Septemb. 1773. C. M. Wieland.

Nachrichten an die Leser

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Der Teutsche Merkur. Des vierten Bandes Erstes Stück. October 1773. Weimar Im Verlag der Gesellschaft.

Der Herausgeber des Merkurs an das Publicum, besonders an die Herren Collecteurs und Abonenten. Ein Zusammenfluß von Umständen und Beweggründen, mit deren Erzählung ich das Publicum nicht behelligen will, hat mich zu dem Entschlusse gebracht, den Verlag und Verkauf des nächstfolgenden Jahrganges vom deutschen Merkur dem Weimarischen Hofbuchhändler, Herrn C a r l L u d o l f H o f f m a n n , zu überlassen. Wiewohl nun hierdurch an der bisherigen Einrichtung dieses Periodischen Werkes nichts wesentliches geändert wird: So war gleichwohl nöthig, das Pu-

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blikum davon zu benachrichtigen, daß es mit meiner Einwilligung und vermöge eines von mir hierzu erlangten Rechts geschiehet, wenn besagter Herr H o f f m a n n sich nunmehr und fürs Künftige den Absatz des deutschen Merkurs, auf alle mögliche Weise angelegen seyn lassen wird. Da ich aber dessen ungeachtet als H e r a u s g e b e r , sowohl mit den Lesern überhaupt, als besonders mit den Abonenten auf den Jahrgang 1774 noch immer in dem bisherigen Verhältniß bleibe; so hoffe ich, daß alle diejenigen, welche sich bisher dem Amt eines Collecteurs aus besonderer Freundschaft für mich unterzogen, die Gütigkeit haben werden, dasselbige noch ferner und um so mehr beyzubehalten, als die Fortsetzung des Merkurs, welche das Pu-

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blicum zu wünschen scheint, ohne eine hinlängliche Anzahl von Abonenten nicht wohl möglich seyn könnte. Ich habe mich für den Jahrgang 1774 zu v i e r A l p h a b e t e n anheischig gemacht, und werde dieses Versprechen genau erfüllen. Hingegen sind mir von dem nunmehrigen Verleger, was die Art der Versendung betrift, so dringende Vorstellungen gemacht worden, daß ich nicht umhin kan, die Abonenten zu bitten, Sie möchten sichs gefallen lassen, wenn es hierinn bey der bisherigen Einrichtung verbleibt, und also der ganze Jahrgang in vier Lieferungen, jede von drey Stücken (aber jedes Stück zu a c h t Bogen) P o s t f r e y an die Collecteurs versendet wird. Hingegen, da der Merkur künftig hier in Wei-

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Ende Dezember 1773 /Anfang Januar 1774)

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mar unter meinen Augen gedruckt wird, kan ich um so gewisser versprechen, daß die Abonenten Ursache finden sollen, mit der Expedition besser als bisher zufrieden zu seyn; wiewohl die Schuld, warum einige Paquete so spät an Behörde eingelaufen, blos daran lag, daß sie unterwegs länger als Recht waren liegen gelassen worden. Das B r o s c h i e r e n , welches nicht nur der Spedition sehr hinderlich war, sondern auch dem Unternehmer eine starke, den Abonenten hingegen wenig oder nichts nützende Ausgabe machte, wird, selbst nach dem Wunsche der meisten Abonenten, künftig unterbleiben. Überhaupt mache ich mir Hoffnung, daß die Nachsicht, welche das Publi10

cum mit dem ersten Jahrgang des Merkurs getragen, sich bey dem zweyten in Zufriedenheit verwandeln werde. Wenigstens kan ich für mich und meine Gehülfen sowohl, als für den Verleger versprechen, daß wir uns bestreben werden, dieses periodische Werk, sowohl im Innern als Äusserlichen, des erhaltenen Beyfalls immer würdiger zu machen. Ich habe zu diesem Ende in der künftigen Einrichtung einige Veränderung getroffen; von welchem ich jedoch, aus Ursachen, lieber den Augenschein reden lassen, als mich zum Voraus darüber erklären will. Es würde so klingen als ob ich mich selbst wichtiger machen wollte als ich in meinen Augen bin, wenn ich versicherte, daß ich an dem künftigen Jahrgang

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ungleich stärkern Antheil haben werde, als an dem ersten. Ich sage also auch darüber nichts weiter, als daß ich, zu Vermeidung falscher Muthmasungen, künftig unter alles was von mir selbst ist den Anfangsbuchstaben meines Nahmens setzen werde. Brauchbare Aufsätze werden allezeit willkommen seyn. Ich habe deren noch verschiedene, wovon aus Mangel des Raums noch kein Gebrauch gemacht werden konnte. Mit einem abermaligen Anonymen Briefe, worinn dessen Verfasser, unter dem Nahmen des S c h u s t e r s , mich als angeblichen A p e l l e s gar weidlich zum Narren zu haben vermeynt, hätte ich dem Publico gerne Spaß gemacht,

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wenn es nur der Raum verstattet hätte. Indessen ist die Schäckerey im Grunde doch so erbärmlich, daß man kaum darüber lachen kan. Der Brief scheint den nehmlichen Autor zu haben, wie der vom Veridiouo. Denjenigen Herren C o l l e c t e u r s , welche mich seit den verflossenen Sechs Wochen mit freundschaftlichen Zuschriften beehrt haben, sage ich einsweilen den verbindlichsten Dank; und da die meisten gewünscht, daß zum

Der Herausgeber des Merkurs

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Abonnieren auf das künftige Jahr eine längere Frist gesezt würde, so benachrichtige ich Sie, daß man sich bis nach Versendung des Ersten Bandes 1774, (welche längstens in der Mitte des Monats Merz gewiß erfolgen soll) durch Vorausbezahlung e i n e r h a l b e n P i s t o l e a u f d e n g a n z e n J a h r g a n g abonnieren könne. Die Nahmen der Collecteurs können dermalen, da von vielen noch keine Antworten eingelauffen sind, noch nicht abgedruckt werden. Die meisten sind ohnehin schon an ihrem Orte bekannt. Sie sollen aber sämtlich im Ersten Stück des künftigen Jahrganges nahmhaft gemacht werden. Da der Preiß einer halben Pistole für ein Buch von vier Alphabeten, voraus-

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gesezt daß das Buch an sich selbst irgend etwas werth ist, so billig ist als möglich, und überdies der nunmehrige Verleger, Herr H o f f m a n n , dafür besorgt seyn wird, die Herren B u c h h ä n d l e r sowohl auf den Messen, als im Fall sie sich als Collecteurs gebrauchen lassen wollen, unter annehmlichen Bedingungen mit Exemplaren zu versehen: so habe ich eine so gute Meynung von der Billigkeit der bisherigen Nachdrucker, daß ich hoffe, sie werden von Fortsetzung des Nachdrucks freywillig abstehen, da nicht abzusehen ist, mit welchem scheinbaren Vorwand sie künftig ihr Unternehmen rechtfertigen könnten. Alle den Merkur betreffende Briefe ersuche ich künftig a n d i e E x p e d i t i o n d e s D e u t s c h e n M e r k u r s i n W e i m a r zu richten. W e i m a r den 13ten Decemb. 1773. Wieland.

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Der Teutsche Merkur. October 1773.

Über einige ältere t e u t s c h e S i n g s p i e l e, welche den Nahmen A l c e s t e führen. Man hat der neuern teutschen A l c e s t e die Ehre angethan, sie für das erste teutsche Singspiel dieses Nahmens und Inhalts zu halten. Wäre die Meynung blos, sie in demjenigen Sinne d i e e r s t e zu nennen, in welchem Brutus und Caßius d i e l e t z t e n Römer genennt wurden, so möchte der Verfasser dies Compliment vielleicht annehmen können, ohne sich einer übermäßigen Einbildung von der Vorzüglichkeit seines Werkes über seine längst vergeßnen Vorgänger schuldig zu machen. Aber da den meisten Lesern das Daseyn dieser letztern wirklich unbekannt ist: so können wir nicht umhin, sie über eine

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Sache, welche doch immer einen nicht ganz unbeträchtlichen Umstand in unsrer vaterländischen Litteraturgeschichte ausmacht, aus dem Irrthum zu ziehen. Es wird vielen bekannt, und mehrern unbekannt seyn, daß der sel. G o t t s c h e d — dieser wunderbare Mann, den das Schicksal dazu bestimmte, ohne Genie, ohne Witz, ohne Gefühl, und ohne Geschmack, mit den Fähigkeiten eines Schulmeisters, und mit der Ruhmsucht eines Alexanders, nicht nur eine Zeitlang den Apollo auf dem teutschen Parnasse zu spielen, sondern wirklich in der Geschichte unsrer Sprache, Schaubühne und Litteratur eine E p o c h e zu machen — daß, sage ich, dieser Gottsched, zwanzig oder dreyßig Jahre lang,

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alle Arten von Schauspielen, die seit Erfindung der Buchdruckerkunst in Teutschland zum Vorschein gekommen, geistliche und weltliche, Tragische und Komische, Helden- Schäfer- und Possenspiele, Opern, die auf Fürstlichen Hof-Theatern, und Tragicomödien von Simson und Delila, von Daniel und der keuschen Susanna, von Judith und Holofernes u. s. w., welche zur Übung der lieben Schuljugend von dem Conrector oder Subconrector irgend einer lateinischen Stadtschule in kurzweilig-erbaulichen Reimweisen abgefaßt worden, aus allen Bibliotheken, Plunderkammern, Maculaturgewölben und Pfefferbuden des heiligen Römischen Reichs teutscher Nation, zusammen suchte, und mittelst seines unermüdeten Eifers und des Beystandes seiner beynahe unzählichen Freunde, im Schweisse seines Angesichts endlich eine S a m m -

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l u n g v o n t e u t s c h e n S c h a u s p i e l e n aufbrachte, welche an Vollständigkeit schwerlich ihres gleichen hat, und einem Philosophischen Geschichtschreiber des teutschen Parnasses, zu Bezeichnung der Stufen, auf welchen unsre Sprache und Litteratur seit zweyhundert Jahren bis zu ihrem gegenwärtigen Zustand empor gestiegen, eben so unentbehrlich seyn würde, als sie für einen jeden Liebhaber überhaupt merkwürdig ist. Die Herzogin-Regentin von Weimar hat die besagte Sammlung von den Erben des Herrn Professors an sich gebracht, und indem Sie solchergestalt die Zerstreuung eines für unsre Litteraturgeschichte nicht unerheblichen Schatzes verhütete, den teutschen 10

Musen eine Wohlthat erzeigt, deren Andenken in den Jahrbüchern derselben mit Dankbarkeit erhalten zu werden verdient. Man sagt, daß ein hiesiger Gelehrter im Begriff sey, von dieser Sammlung zu einem Beytrag für die kritische Geschichte unsrer Sprache und unsers Theaters Gebrauch zu machen. Dies war es, was Gottsched in selbsteigner Person zu verrichten gedachte, wenn der Tod ihn nicht (zu gutem Glücke) an einer Arbeit verhindert hätte, wozu er unter allen Menschen seiner Zeit der ungeschickteste war. Ich hatte meine Alceste bereits vollendet, und empfieng die Glückwünsche dazu mit der Treuherzigkeit eines Unwissenden, der sich gar nicht einfallen ließ, daß er hinter drey Vorgängern, welche ihm vielleicht schon das Beste

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weggenommen hatten, herschlendere: als ich, aus besagter Sammlung, drey teutsche Singspiele gleiches Nahmens und Inhalts mit dem meinigen, zu Gesichte bekam, deren Anblick meine Eigenliebe nicht wenig hätte kränken müssen, wenn die E h r e , der erste zu seyn der einen gewissen Stoff bearbeitet, einigen Werth in meinen Augen hätte. Das erste dieser Singspiele führt die Aufschrift: A l c e s t e , i n e i n e r O p e ra, mit Churfürstl. Sächsischer gnädigster Verwilligung auf dem neuerbauten Schauplatze zu Leipzig in der Ostermesse des 1 6 9 3 . J a h r e s v o r z u s t e l l e n — Es ist in der Churfürstl. Hofbuchdruckerey bey Immanuel Bergen gedruckt, und beträgt 70 Quart-Seiten. In einem klei-

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nen Vorberichte sagt d e m h o c h g e n e i g t e n L e s e r sein e r g e b e n s t e r D i e n e r , d e r Ü b e r s e t z e r : „Weil gegenwärtiges Drama, welches ehmals aus der Feder des berühmten Aurelio Aureli geflossen, auf denen Adriatischen Scenen (das ist verdollmetscht, in Venedig) ein ungemeines Lob erhalten; so sey solches auch zum erstenmal auf dem neuerbauten Leipziger Schauplatz aufzuführen beliebt worden.“

Über einige ältere teutsche Singspiele

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Das Singspiel, oder die sogenannte Opera, war zu der Zeit, da A u r e l i o A u r e l i für einen grossen Operndichter paßierte, von der Würde, wozu es durch A p o s t o l o Z e n o und P i e t r o M e t a s t a s i o erhoben worden ist, noch unendlich weit entfernt. Es war eine Art von R a r i t ä t e n - K a s t e n , worinn alles was im Himmel, auf Erden und unter der Erden zu sehen ist, in schönster Unordnung vor den Augen der Zuschauer vorbey zog, wo alles Natürliche durch Wunderwerke geschah; wo die Sinnen immer auf Unkosten des Menschenverstandes belustiget und das Wahrscheinliche, Anständige und Schickliche, eben so sorgfältig vermieden wurde, als ob es mit dem Wesen der Opera nicht bestehen könnte. Je unnatürlicher, je besser, war das erste Gesetz eines

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Schauspiels, welches durch den grossen Aufwand, den es erfoderte, eine Belustigung der Fürsten wurde, und kaum würdig war, Kinder zu belustigen. A u r e l i o A u r e l i scheint bey Entwerfung seines Plans nichts angelegners gehabt zu haben, als in seinen Zuschauern nicht den Schatten eines Zweifels zu erwecken, als ob er die Alceste des Euripides kenne. Das ganze Stück hat von Anfang bis zu Ende, die Nahmen ausgenommen, nicht den mindesten Geschmack von dem Lande und der Zeit, woraus die Begebenheit genommen ist. Admet, Alceste, und alle übrige Personen dieser Oper sind Leute aus einer andern Welt, die den Leuten unsrer Welt ungefehr so ähnlich sehen, wie die Amadis und Esplandians, die Magellonen und Orianen der alten Ritterbücher

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den Helden und Heldinnen der Geschichte. Sie empfinden, reden und handeln nach ganz andern Naturgesetzen, als wir armen Erdenbewohner. Die Dichter dieser wundervollen Schauspiele verdienten den Nahmen der S c h ö p f e r in einem viel höhern Sinne, als Homer oder Sophokles. Diese bilden ihre Personen nach den Menschen, welche GOtt geschaffen hat; jene bringen Wesen von ihrer eigenen Erfindung hervor; Geschöpfe, die uns zwar zu wenig ähnlich sind, um uns i n t e r e ß i e r e n zu können, aber eben dadurch desto geschickter sind, uns in E r s t a u n e n zu setzen; welches die einzige Absicht der ältern Opernmacher gewesen zu seyn scheint. Das E i n f a c h e im Plan würde in den Augen dieser seltsamen Schöpfer ein eben so grosser Fehler gewesen seyn, als das N a t ü r l i c h e in der Ausführung. A u r e l i o würde mit so wenig Personen als Admet, Alceste, Parthenia und Herkules, seine adriatische Zuhörerschaft übel unterhalten haben. Er hat also sehr sinnreich noch einen T h r a s y m e d e s , Bruder des Admet, und eine A n t i g o n e , Prinzeßin von Troja, nebst M e r a s p e , ihrem Großvater, beyde in

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Hirtenhabit, eingeflochten, deren Helden- und Liebesgeschichte d a s I n t e r e s s e d e s S t ü c k s v e r m e h r e n h e l f e n m u ß . Überdies spielen die Hofdame E u r i l l a , die Cavaliers, T r i n e u s und O r i n d u s , L i l l u s der Page der Königin, und L e s b u s , des Königs Liebling, theils die Confidenten, theils die lustigen Personen, mit einer angenehmen Abwechslung, welche den Zuschauer, wenn es auch möglich wäre gerührt zu werden, keinen Augenblick in einem so beschwerlichen Gemüthszustande schmachten lassen. Von der Poesie des Styls und von der Sprache des Originals kan ich nichts sagen, da ich es nur aus der vor mir liegenden Übersetzung eines Ungenann10

ten kenne. Was dieser letzte für ein Mann war, werden unsre Leser am besten aus den Proben abnehmen können, die Ihnen der folgende Auszug vorlegt. I m e r s t e n A u f t r i t t sehen wir, im königlichen Gemach, den A d m e t bettlägerig. Lesbus, sein Liebling, schläft und träumt neben ihm. Der König singt eine Aria. Lesbus im Schlaf singt mit, und daraus entsteht eine Art von poßierlichem Duett; denn Lesbus, dem von Wiedergenesung des Königs träumt, singt g r o s s e F r e u d e , und der König, der in Schmerzen liegt, beklagt sich über g r o s s e P l a g e n — Endlich wacht Lesbus auf, und fragt den König: Ach! sagt, ob euer Krankheitsjoch

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Sich unterdeß verzogen? Mich dünkt jetzund Ihr würdet durch ein blutig Eisen Im Augenblick gesund, Darüber wollt ich mich so froh erweisen. Admet antwortet in einer Ariette: Wenn der Parzen Scheere nicht Herz und Schmerz zugleich zerbricht, Kan mich wohl kein ander Eisen Zur beständgen Ruhe weisen.

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Z w e y t e r A u f t r i t t . Der Kammerjunker Olindus meldet den Herkules beym Admet an.

Über einige ältere teutsche Singspiele

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Herr, der großmüthge Herkules, Der sich der Tugend stets beflissen, Verlangt vor seiner Reise, Nach der bekannten Art und Weise Die königliche Hand zu küssen. Admet verspricht, seinen Schmerz zu bezwingen, und Herkules wird vorgelassen. Dieser Herkules ist Held und Freund so sehr, als er es in der jüngsten Alceste ist; aber die Art, wie er beydes zu Tage legt — Hören Sie ein wenig! He r k. Der gütge Himmel gebe doch,

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Daß meinem Freund’ in diesem Krankheitsjoch Von den gestirnten Höhen Auch wieder mög’ ein Freudenlicht aufgehen. Adm. Alcides, reise wohl! Wenn Fama seine Thaten In die Trompete stößt Und durch die Lüfte bläst, So wird auch meiner Noth gerathen. Jedoch, wenn geht die Reise fort? He r k. Mit einem Wort, Unfehlbar auf den Morgen. Adm. Will denn Alcides sorgen, Daß sich sein Fuß zu uns bemüht, Eh er von dannen zieht? He r k. Weil noch die Sonn am Himmel steht,

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Ende Dezember 1773 /Anfang Januar 1774)

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Will ich nach meinen Pflichten Dem Könige berichten, Wohin die Reise geht. Und seiner Majestät daneben Das letzt’ Adio geben; Denn die Begier zu Ruhm und Ehr Erregt mein Herz vielmehr Als der J o l e n Blicke Und was noch sonst von Cypripor zurücke. 10

Nichts klingt schöner auf der Welt Als der Famen Ruhmtrompete, Wenn sie bey der Grabesstätte Noch die Heldenthaten meldt; Nichts klingt schöner auf der Welt.

(geht ab.)

Nun kömmt auch Alceste, und es erfolgt ein herzbrechender Dialog zwischen den beyden Eheleuten. Alceste, als eine wohlerzogene Prinzeßin, redt mit ihrem Gemahl in der dritten Person. Was dünkt unsre Leser zu der folgenden Arie? Werther Bräutgam, seine Schmerzen 20

Gehn mir eben auch zu Herzen, Seine Pein ist meine Noth, Sein Betrübniß meine Plage, Die ich in dem Busen trage Bis sie tilgt ein sanfter Tod.

Admet wendet sich in seiner Angst an eine Bildsäule des Apollo, die in seinem Schlafzimmer steht, und siehe, die Statua antwortet: Admetus stirbet und verdirbt Wie die verwelkten Amaranthen, Wenn nicht jemand von nächsten Anverwandten 30

Sein Leben durch den Tod erwirbt.

Über einige ältere teutsche Singspiele

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Lesbus, des Königs Liebling, hat die Ehre ein Anverwandter zu seyn. Aber Lesbus läuft davon, da er hört, wie gefährlich diese Ehre ist. So weit geht bey ihm die Freundschaft nicht. Lesbus (singt er) will wohl gerne dienen, Aber sterben mag er nicht. Welcher sich dazu verpflicht, Wird gewiß nicht lange grünen.

D. C.

Al c. Du darfst gar nicht erschrecken. Le s b.

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Ja, ja, wenns so gefährlich steht Und bis ans Leben geht, Muß man sich nach der Decke strecken. Ich bleibe nicht! Al c. Hör’ auf, du Bösewicht! Der König schließt die Augenlieder. Le s b. Adieu, zu tausend guter Nacht! Nehmt meinen Herrn fein wohl in Acht; Ich komme nun so bald nicht wieder. Alceste, die nun allein ist, entdeckt ihren Entschluß in einem Liede von drey Strophen: Ruhet wohl ihr schönsten Sterne! Liebste Lichter, gute Nacht! Wenn ihr ungefehr erwacht, Und erblickt etwan von ferne

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Was die Liebe hat verricht, So entsetzet euch nur nicht. Euch zu helfen, euch zu retten, Euch zu lindern euern Schmerz, Wählet sich mein treues Herz Die pechschwarzen Todesketten u. s. w.

Die Königin geht ab; und damit die Bühne nicht leer stehe, bleibt der Page Lillo zurück, sein Liedlein auch zu singen: Die Königin klagt nicht vergebens, 10

Weil doch der Zucker ihres Lebens So jämmerlich verdirbt, Und in der ersten Blüthe stirbt. Admetus lieget krank, Drum muß auch sie der Liebe Nektartrank Samt tausend süssen Küssen Noch immerfort vermissen. Himmel, was für Bitterkeit Heget doch die süsse Liebe. Heute helle, morgen trübe

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Ist ihr bestes Ehrenkleid.

D. C.

Nach einigen Auftritten, welche die Liebesnöthen des Thrasymedes und der Antigone, der Eurilla und des Trineus zum Gegenstand haben, und blos zum Ausfüllen dienen, erscheint in der dreyzehnten Scene Admet wieder frisch und gesund, und empfängt die Glückwünsche seines Hofes und des Herkules, wird aber bald durch den Anblick der Königin, die sich selbst neben einem Springbrunnen im Garten erstochen hat, wieder in grosse Traurigkeit versetzt. Eine Schrift, welche sie zurück gelassen, entdeckt: Daß sie sich selbst dem Tod ergeben, Daß ihr Admetus möge leben.

Über einige ältere teutsche Singspiele

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Hierüber bricht Admet in diese jämmerliche Klage aus: O Unglück! ach ja, ja, Schießt auf mich los, Ihr schädlichen Cometen! Ob ihr mich gleich noch nicht gedenkt zu tödten. Mein Unstern ist so groß. Ich soll noch länger leben, Und meiner Brust stets neue Marter geben; Weil ich nicht folgen kan Der Sonne meiner Seele,

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Die eure finstre Todeshöhle Aus treuer Liebe liebgewann. Jedoch, ihr meine Treuen, Raumt dieses Jammerbild hinweg, Und endet meinen Lebens-Zweg. Doch nein, es möchte mich gereuen, Ich will, mein liebstes Herz, Ich will noch länger leben, Und auch dem Tode widerstreben. Herkules bittet ihn, s e i n b e n e t z t e s A u g e n p a a r z u w i s c h e n , aber Ad-

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met sagt ihm, daß er mehr als eine blosse Condolenz von ihm erwarte. Habe er den Himmel tragen, und seinen t r e u e n G e s e l l e n , den Theseus, a u s d e s O r k u s S c h w e l l e n erlösen können: so sey es s e i n e r F a u s t auch nur ein kleines, Alcesten wieder zu holen. I c h t h u w a s m i r d e r K ö n i g h a t b e f o h l e n , antwortet Herkules; und s o z i e h t e r z u m H ö l l e n s c h l u n d ; der König geht ab, und die Hofschranzen, Lillo und Orindus, narriren inzwischen über die That der Königin, und das Unternehmen des Herkules; sie finden jene sehr seltsam, und setzen wenig Vertrauen in dieses. Lillo schließt mit einer Aria, in welcher der Autor einen satyrischen Seitenblick auf die ehrlichen Bürgersfrauen in Leipzig wirft. Wie viel Männer in der Stadt Stellten sich wohl krank und matt,

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Hätten sie nur einen Bürgen, Daß sich ihr verdrießlich Weib Auch einmal zum Zeitvertreib Mit Alcesten möchte würgen.

Den Rest dieses ersten Acts füllen Thrasymedes und Trineus mit ihren respective Herzensangelegenheiten aus, und der Act schließt mit einem B a l l e t von des Thrasymedes Cavalieren. Die erste Scene des zweyten Aufzugs zeigt uns Alcesten in der Unterwelt; aber nicht etwan im Elysium, sondern i n d e r H ö l l e , mit Ketten an einen 10

S t e i n f e l s e n gefesselt und von zwoen Furien geplagt. Alcestens Standhaftigkeit hält gegen eine solche Belohnung ihrer Tugend nicht aus. Sie bereut ihre That in folgender Ariette: Verdammter Stoß, Der mir das Herz durchstochen, Und meinen Lebensdrat zerbrochen! Wer macht mich wieder los? Verdammter Stoß!

Indem sie sich der Verzweiflung über die Unmöglichkeit ihrer Befreyung überläßt, erscheint Herkules mit dem dreyköpfigen Cerberus kämpfend. Al20

ceste ruft ihn um Hülfe an. E u c h z u v e r g n ü g e n , antwortet er, h a b i c h d a s u n g e h e u r e L o c h m i t k ü h n e m M u t h e r s t i e g e n . Nun mischt sich auch C l o t h o in die Sache, und erklärt sich, daß sie aus Hochachtung für einen so großmüthigen B e s t r e i t e r alles, was er n o c h w e i t e r begehren werde, zu thun bereit seyn. Der bescheidene Herkules begnügt sich zu verlangen, daß sie Alcestens abgeschnittnen Lebensfaden wieder zusammen knüpfe. Clotho verspricht es ihm, und geht ab. Herkules verjagt indessen die Furien, welche durch die Luft abgehen, und dadurch dem Helden und der befreyten Königin Gelegenheit zu diesem schönen Duett machen: Von dem Tode zu dem Leben

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Von der Finsternis zum Licht

Über einige ältere teutsche Singspiele

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Will

mich dich

Und

mir meine dir deine

Herkules erheben, Freyheit geben,

Drum fürcht sich Alceste nicht.

Indem sie davon gehen wollen, kömmt Pluto, und erzürnt sich sehr darüber, daß d i e G e i s t e r s e i n e s S c h w e f e l p f u h l s sich die Seelen mit Gewalt rauben lassen. Er ruft die Furien zurück und befiehlt ihnen, sich der Alceste wieder zu bemächtigen. Aber Merkurius kündigt ihm an, d e r G o t t , d e r i n d e r L u f t m i t B l i t z u n d D o n n e r s p i e l e t , verlange Alcestens Befreyung. Pluto giebt sich sogleich ohne Widerrede zur Ruh: Hats dieser so versehn,

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Will ich auch seinen Willen Den Augenblick erfüllen, Und wieder in den Schatten ziehn; Me r k u r. Ich aber in den Himmel fliehn. Und so schnappt die Scene zu. Erst in der dreyzehnten finden wir Alcesten und ihren Erretter wieder in einem Dorfe unweit Larissa; aber Alcesten in einem Panzerhemde, um sich unkenntlich zu machen, weil sie sich auf einmal von der Eifersucht befallen fühlt und Admetens Treue auf die Probe setzen will. Die Prüfung schlägt übel aus. Denn wirklich hat Admet sich inzwischen mit der Schäferin Antigone in ein Liebesbündniß eingelassen, wobey an Alcesten gar nicht mehr gedacht wird. Es findet sich auch, daß Antigone die nemliche Trojanische Prinzeßin ist, um die er ehmals durch den Thrasymedes hatte werben lassen. Zum Unglück hatte sich dieser selbst in Antigonen verliebt, und seinem Bruder daher, anstatt des Portraits der Prinzeßin, ein andres gebracht, welches dem Admet so wenig gefiel, daß er von seinem Vorhaben abstund, und die Alceste heyrathete. Alles dies entdeckt sich nun nach und nach, und giebt, wie man sich vorstellen kan, zu gewaltigen Mißverständnissen, zu vielen herrlichen Arien, und den schnakischen Hofjunkern Lesbus und

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Lillus zu feinen Spässen und Satyren über die armen Leipziger-Jungfern Anlaß. Aber die Entwicklung übertrift alles, was man von Genien wie Aurelio und sein Übersetzer erwarten konnte. Admet und Antigone sehen sich nun, T r o t z T h r a s y m e d e n s T r i e g e r e y e n , am Ziel ihrer Wünsche, und haben eben ein sehr zärtliches Duett angestimmt, als Alceste dazu kommt: Was (ruft sie) muß mein Auge hier erblicken? Solls dieser Hirtin so gelücken? Ja, ja; doch nein, Sie muß was mehr als eine Närrin seyn! 10

Admet und Antigone fahren fort, einander Süssügkeiten zu sagen: Antig . Mein König, mein Gemahl!

Adm e t. Du Schauplatz meiner Freuden!

Be y d e. Nun weichet alle Quaal.

Thrasymed, der diesem zärtlichen Auftritt seitwärts zugesehen hat, ruft: Ich kans nicht länger leiden, Er sterbe!

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und geht mit gezücktem Degen auf den König los. Aber die in ihrer soldatischen Verkleidung noch immer unerkannte Alceste schlägt ihm den Degen aus der Hand, und rettet dadurch das Leben ihres Ungetreuen. Zum Dank dafür, läßt sie Admet greifen und vor sich führen. Aber wie wird ihm, da er nun sieht, daß es Alceste ist! O Glück, (ruft er) wie hab ich dies verschuldt? Alceste! — Was, Alceste? (sagt die Prinzeßin) Nun brechen meine Hofnungsäste! —

Über einige ältere teutsche Singspiele

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Admet fühlt sich keinen Augenblick in Verlegenheit über eine so unerwünschte Erscheinung. So weichet dann, Prinzeßin, euerm Glücke, Und nehmt den Thrasymedes an! Mein Herz vergißt, was er gethan, Weil ich Alcesten lebendig erblicke. Alceste hat, natürlicher Weise, gar nichts bey allem diesem zu sagen. Antigone, mit ihrem Loose wohl zufrieden, v e r b i n d e t s i c h den Thrasymed, der sie m e i n K i n d nennt, m i t e i n e m K u s s e . Trineus und Eurilla, welche, ich weiß nicht wie, Mittel gefunden haben auch ein Paar zu werden, m i s c h e n

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s i c h m i t e i n ; nur Lesbus geht von diesem Schmause Ganz leer und ohne Braut nach Hause.

Der Groß-Papa M e r a s p e hingegen i s t e r f r e u t , Daß sich der Streit So glücklich hat geendet, Weil jedes Paar im Liebeshafen ländet.

Um diesen Auszug vollständiger zu machen, mög’ es mir erlaubt seyn, noch eine Probe von den s c h e r z h a f t e n oder vielmehr schnackischen Scenen zu geben, worinn Lillus und Lesbus die Zuhörer von Zeit zu Zeit wegen der Thränen, welche sie etwan in den ernsthaftern vergossen haben könnten, schadlos zu halten suchen. Die folgende kan für alle übrigen gelten: Orindus. Lillo.

Li l l o. Wie stehts denn, guter Freund? Seyd ihr auch durch den Korb gefallen? Ich hätt’ es nicht gemeynt, Daß euch das Herz so treflich sollte wallen.

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Or i n d . So hast du mich ertappt? Li l l o . Du weißt ja meine Pflicht, Daß alles, was mein Ohr erschnappt, Dem Hofe wird bericht’t. Or i n d . Verrathe mich nur nicht! Ich will mich dankbarlich erzeigen. 10

Li l l o . Du wirst dich gar zu hoch versteigen, Weil dir die Schöne widerspricht. Or i n d . Rosilde soll sich doch noch geben. Li l l o . Gedenkst du dieses zu erleben? Or i n d . Ja, ja. Li l l o .

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Ich sage nein, Sie wird gewiß nicht so einfältig seyn. Or i n d o . 1. Jedes Weib ist solcher Art, Durch ihr Weigern, durch ihr Wehren Will sie unsre Glut vermehren, Bis sich Lieb und Glücke paart. Jedes Weib ist solcher Art.

Über einige ältere teutsche Singspiele

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2. Denn ich weiß schon, wie es geht; Frauenzimmer muß man bitten, Weil in solchen spröden Sitten Ihre ganze Kunst besteht. Denn ich weiß schon, wie es geht.

(geht ab.)

Li l l o. Ach geh’ du kleiner Narre, Daß dich der grosse Sparre Nicht etwan ganz und gar erdrückt. Du bist gewiß noch viel zu ungeschickt.

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Denn wer die Mädchen will bezwingen, Muß allgemach Die Pfenn’ge lassen klingen; Das Bitten ist umsonst, die Seufzer sind zu schwach. Wären die Ducaten nicht, Würd ein schönes Angesicht Nimmermehr so theuer stehen, Als es jetzund pflegt zu gehen; Jedes thäte seine Pflicht, Wären die Ducaten nicht.

Orindus hat in dieser Scene noch Muth, wie wir sehen. Aber bald darauf bringt ihn der unglückliche Fortgang seiner Versuche zu dem grausamen Entschluß, der w e i b l i c h e n G e s t a l t auf ewig zu entsagen. Er singt: Gute Nacht, ihr schönen Kinder, Meine Freyheit ist gesünder Als der Strick. Denn durch einen blossen Blick Macht ihr euch zum Überwinder: Gute Nacht, ihr schönen Kinder!

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Sed ohe jam satis est! werden die Leser denken, und sich vielleicht wundern, wie es möglich gewesen sey, daß eine Alceste wie diese, vor dem Churfürsten J o h a n n G e o r g I V . und seinem Hofe, (denn vor diesem wurde sie im Jahre 1693. aufgeführt) Gnade habe finden können. Aber im Jahre 1693. hatte man noch ein ganz anderes Maas für das Schöne in der Dichtkunst, als itzt. Herr P a u l T h i e m i c h , der Schule zu St. Thomas in Leipzig Collega, welchen uns S t o l l e * ) als den Verfasser dieser Alceste nennt, war ein grosser Dichterschwan zu seiner Zeit. „Er scheint (so spricht ein gleichzeitiger gelehrter Kunstrichter) zu Opern recht gebohren zu seyn. Wir können die glückliche 10

Leichtigkeit und Anmuth seines Ausdrucks nicht genug bewundern. Seine Arien und seine Chöre sind — zum Küssen. Man kan nichts lieblichers hören“ u. s. w. **) Er beruft sich hierüber auf die Offenkündigkeit der Sache, und auf den lauten Beyfall, der den Opern dieses ungemeinen Dichters sowohl auf dem Hoftheater des Herzogs J o h a n n A d o l p h v o n W e i s s e n f e l s , als auf dem neuen Schauplatz zu Leipzig so oft und von einer so grossen Menge entzückter Zuschauer zugeklatscht worden. Indessen verbirgt uns eben dieser Kunstrichter nicht, daß kein kleiner Theil dieses Beyfalls auf die Rechnung der bewundernswürdig schönen Stimme und Action der Madame T h i e m i c h , der Ehgattin des Dichters, und der vortreflichen Composition des

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damaligen Chursächsischen Capellmeister S t r u n c k s — von welchem auch diese Alceste in Musik gesetzt worden — zu schreiben sey. ***) Auch trug sonder Zweifel die Kunst des Churfürstlichen Hof-Baumeisters, Signor S a r t o r i o , von welchem die Decorationen und Maschinen zu dieser Alceste herrührten, nicht wenig dazu bey. Und wenn wir dies alles zusammen nehmen, so werden wir nicht unbegreiflich finden, daß M a d a m e T h i e m i c h , als A l c e s t e , mit ihrem — W e r t h e r B r ä u t’ g a m , s e i n e S c h m e r z e n g e h n m i r e b e n a u c h z u H e r z e n , im Jahr 1693. zu Weissenfels vielleicht eben so viel Thränen aus den Augen gelockt habe, als die von M a d a m e K o c h mit *)

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A n l e i t u n g z u r H i s t o r i e d e r G e l a h r t h e i t , S. 192.

**)

S. N e u m e i s t e r s H i s t o r i s c h - k r i t i s c h e D i s s e r t a t i o n de Poetis Germanicis hujus

seculi præcipuis MDCXCV. Miramur certe Thimichianæ dictionis facilitatem; suavitatem, qua ` Ariæ (quas ajunt) qua ` Chori interpositi pollent, exosculamur &c. pag. 109. ***)

Attonito similes, si quando illorum Musurgetarum, S t r u n c k i i puto et K r i e g e r i , nu-

meri accedunt musici, voxque et actio c o n j u g i s T h i m i c h i a n æ mirifice suavis et apta mirifice. I b i d .

Über einige ältere teutsche Singspiele

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allgemeinem Beyfall vorgestellte A l c e s t e im Jahr 1773. zu Weimar gethan hat. Was uns übrigens das Beste an der Sache zu seyn, und dem Genius der damaligen Zeit in Leipzig Ehre zu machen scheint, ist dies, daß e i n S c h u l c o l l e g e v o n S t . T h o m a s O p e r n machen, und seine Frau Ehconsortin die Hauptrolle darinn auf öffentlicher Schaubühne spielen durfte, ohne daß, wie es scheint, jemand etwas dawider einzuwenden hatte. In diesem Stücke haben sich die Zeiten mächtig verändert. Wehe dem Schulcollegen und der Schulcollegin, die sich in den Tagen der **** und *** so etwas zu Sinne kommen lassen wollten! Allein im vorigen Jahrhunderte dachte man freylich noch na-

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türlicher über diese und tausend andre Dinge. Finden wir nicht unter den alten Hamburgischen Opern-Dichtern — (o! ihr G.. und Z.. favete linguis! ) einen P f a r r h e r r n , (Heinrich Elmenhorst) der sich nicht begnügte, in eigner Person Opern zu machen; sondern diese musikalische Schauspiele sogar in einer besondern apologetischen Schrift, Dramatologia genannt, da er bereits im Predigtamte stund, ritterlich vertheidigte. *) Ich würde vermuthen, daß eben dieser Ehrwürdige Herr H e i n r i c h E l m e n h o r s t , P a s t o r z u S t . C a t h a r i n a i n H a m b u r g (dessen Asche, mit Erlaubniß des Hrn. Pastor G*, im Friede ruhe!) derjenige sey, dem d i e z w o o t e A l c e s t e , von welcher ich meinen Lesern Nachricht schuldig bin, ihr Da-

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seyn zu danken hat: wenn M a t h e s o n in seinem M u s i k a l i s c h e n P a t r i o t e n solche nicht einem gewissen Herrn M a t s e n zuschriebe, der übrigens ein unberühmter Erdensohn gewesen seyn muß, weil er sogar in dem Neumeisterischen Dichterverzeichnisse keine Stelle gefunden hat. Laut Berichts des vorbenannten Musikalischen Patriotens wurde diese, nach der Französischen des Q u i n a u l t gemodelte Alceste im Jahr 1680. zu Hamburg aufgeführt, und war unter den seit 1678. bis 1738. daselbst öffentlich gegebenen teutschen Opern und Operetten (deren Zahl über 200 steigt) die dreyzehnte. Das Exemplar, das ich vor mir habe, führt folgenden Titel: A l c e s t e , a u s d e m Französischen ins Teutsche übersetzt, und in die Musik geb r a c h t v o n J o h . W o l f g a n g F r a n c k e n , C . M . d r i t t e r D r u c k (ohne

*)

N e u m e i s t e r l. c. pag. 29. Legi meretur Elmenhorsti D r a m a t o l o g i a , qua ` Dramata

hodierna musica, quas O p e r a s vocare amant, i n m i n i s t e r i o e c c l e s i a s t i c o j a m t u m c o n s t i t u t u s , strenue defendit.

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Benennung des Ortes und der Zeit). In dem ziemlich weitläufigen Vorberichte glaubt der Dichter, es werde nicht undienlich seyn, wegen der Heydnischen Götter, die in seiner Oper hin und wieder vorkämen, ein und anders zu erinnern; indem etliche der Meynung seyen, daß man vermöge Exod. XXIII. v. 13. der Heydnischen Götter nicht einmal gedenken, vielweniger dieselbigen auf einem öffentlichen Schauplatze aufführen sollte. Er setzt aber dieser strengen Meynung unterschiedliche triftige Gründe entgegen; und zwar 1) „daß nach aller verständigen Theologen Auslegung die besagte Schriftstelle blos von einem g o t t e s d i e n s t l i c h e n G e d e n k e n rede, allermassen ansonsten die 10

Heil. Schrift mit sich selbst uneins seyn müßte, als welche an unzählichen Orten der heydnischen Götter Meldung thue. 2) Sey die Wissenschaft von den heydnischen Göttern nicht allein zu vielen Dingen nütze, sondern auch einem Gelahrten hoch nöthig, zumal einem Theologo, als welches er, der Vorredner, mit Zeugnissen und Beyspielen stattlich erweiset. Ferner und 3) könne ja von den heydnischen Autoribus kein einziger ohne rechte Kenntniß der falschen Götter verstanden werden; und wiewohlen freylich unterschiedliche schon getrachtet hätten, diese Heyden aus den Christlichen Schulen auszustossen, so hätten sie dennoch nichts ausgerichtet, weil verständige Leute gesehen, daß alsdann die alte Barbaries in rempublicam literariam wieder einschlei-

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chen würde. Hiezu komme noch 4) daß bishero fast von keinem rechtschaffenen Theologo die Schildereyen der heydnischen Götter (wann nur dieselben in keiner ungebührlichen und ärgerlichen Gestalt *) vorgestellt würden) in totum improbiert worden, weil ansonsten aus den meisten Bibeln und kleinen Kinderlehren die Abbildung des güldnen Kalbes und des abgöttischen Tanzes der Kinder Israel um dasselbe her, und aus der C a t h r i n e n - K i r c h e i n H a m b u r g die Schilderey des grossen güldnen Bildes, welches der König Nebucadnezar (Nabuchodonosor) setzen lassen, nothwendig müßte verbannt werden; ja überdem m a n a u c h s. v. d e n S a t a n s e l b s t i n d i e K i r c h e m a h l e . “ Nun (fährt der wohlmeynende Vorredner fort) folge ganz natürlich,

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daß wenn man Bücher von heydnischen Göttern lesen, und ihre Bildnisse, ja sogar den leidigen Satanas an heiliger Stätte aufstellen dürfe, es auch erlaubt *)

Zum Exempel, nicht g e w a n d l o s . Man weiß, wie übel gewisse Zeloten, nach Constantin

des Grossen Zeiten, den unbekleideten Statuen mitspielten. Die meisten wurden zertrümmert, oder auf eine lächerliche Art überarbeitet; und ein elender Bildhauer, der eine Venus von Alkamenes bekleidete, glaubte ein g u t e s W e r k gethan zu haben.

Über einige ältere teutsche Singspiele

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seyn müsse, selbige in einer Action aufs Theater zu bringen; sintemalen ein solches ja nicht geschehe, daß man sie verehren wolle, sondern die Evolutionem fabulæ oder vielmehr die ehmalige Blindheit der Welt daraus zu erkennen, u. s. w. „Wollte man übrigens einwenden: o b a u c h w o h l e i n e P e r s o n , d i e e i n e n s o l c h e n A b g o t t — zum Exempel einen Apollo, eine Venus, eine Diana, u. s. w. — v o r s t e l l e , i n e i n e m C h r i s t g e b ü h r l i c h e n S t a n d e s e y ? — so könne man per instantiam antworten: ob auch ein Präceptor, der in Schulen den atheistischen Lucianum, oder die heydnischen Poeten, Horatium, Virgilium, erkläre; oder ein Mahler, der den Teufel in die Kirche oder anderswo hinmahle, in einem solchen Stande sich befinde? Welches denn

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wohl kein Vernünftiger werde läugnen wollen. Und da man noch zum Überfluß in dieser neuen Ausgabe, w e g e n d e r S c h w a c h e n u n d U n v e r s t ä n d i g e n , unterschiedliche Redensarten geändert; so werde nichts mehr nöthig seyn, als daß man die gemeine Protestation der Verfertiger der Italiänischen Opern hiehersetze, nemlich: ,man schreibe als ein Poet, und glaube wie ein Christ.‘ Diesem noch mit anfügend: ,man stelle eine Sache für mit ihren Farben, nicht jemand zu verführen, sondern für den Fall zu verwahren‘“ u. s. f. Aus welchem allem denn erhellet, daß unser Dichter wenigstens seine Orthodoxie gegen die Belialssöhne seiner Zeit in Sicherheit zu bringen gewußt habe.

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Das Stück selbst ist eine freye Übersetzung der A l c e s t e des Q u i n a u l t , und wir finden also darinn ausser den Hauptpersonen, und einem L y k o m e d e s , der Alceste Liebhaber, einer C e p h i s e , derselben Staatsjungfer, dem alten P h e r e s , dem C l e a n t h , einem thessalischen Obersten, und zween Bedienten, welche sich ziemlich unnütz machen, noch den Apollo, die Diana, die Thetis, die Proserpina, den Pluto, den Äolus, den Merkur, die Alekto und den Charon i n M a s c h i n e n . Alle diese Personen führt schon Quinault auf; aber unser sinnreicher Landsmann, zu stolz um ein blosser Übersetzer zu seyn, hat ihnen eine Person von seiner eignen Creation zugegeben, einen gewissen R o c h a s , der die Stelle des Hanswurst vertritt. A l c e s t e m i t H a n s w u r s t — ein barockischer Einfall! In der That scheint dem Poeten selbst das Herz ein wenig dabey geschlagen zu haben; allein er rechtfertigt sich in seiner Vorrede damit: „daß dieser R o c h a s nicht für morose und stoische Köpfe, sondern für Leute, welche einen zuläßigen Scherz lieben, hinzu gefüget worden,“ und beweiset die Zuläßigkeit der Sache mit

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einer Stelle d e s g e l a h r t e n D. M o r h o f s , welche, unglücklicher Weise, für seinen Rochas nichts beweist. Wie der Übersetzer dem armen Quinault mitgespielt habe, wird sich der Leser vielleicht ohne nähern Beweis einbilden. Nur ein paar Arien zur Probe! Im 4. Auftritt des ersten Acts läßt sich d i e S t a a t s j u n g f e r C e p h i s e mit J u n k e r S t r a t o , des Königs Lykomedes Vertrauten, in e i n e g a l a n t e C o n v e r s a t i o n ein. Cephise fragt ihn: Warum er an einem so schönen Tage ein so finstres Gesichte mache? Strato antwortet kurz und verdrießlich: weil er unter die Zahl der mißvergnügten Liebhaber gehöre. Die Französische Cephise 10

versetzt hierauf: Un ton grondeur et severe N’est pas un grand agrement; Le chagrin n’avance guere Les affaires d’un Amant.

Dies giebt der teutsche Übersetzer sehr zierlich wie folget: Brummen, Grunzen und Betrüben Bringet wahrlich schlechte Freud! Und befödert nicht im Lieben Der Verliebten Nutzbarkeit.

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Cephise sagt dem Strato geradezu, daß sie ihn nicht mehr liebe; aber wie viel anders klingt dies in Quinaults Sprache — welche freylich nicht die Sprache der Götter, aber doch die Sprache der feinen Welt in Ludwig des Vierzehnten fröhlichern Jahren ist — als in dem plumpen Jargon der Hamburgischen Staatsjungfern vom Jahr 1680? Ce p h i s e . Si je change d’amant, Qu’y trouves-tu d’estrange? Est-ce un sujet d’etonnement De voir une fille qui change?

Über einige ältere teutsche Singspiele

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St r a t o n . Apre´s deux ans passe´s dans un si doux lien Devois-tu jamais prendre une chaine nouvelle?

Ce ph is e . Ne contes-tu pour rien D’estre deux ans fidele?

Der Ton dieser Cephise ist der leichte scherzende Ton eines jungen muthwilligen Mädchens. Wie platt, und schwerfällig ist hingegen der Ton der Staatsjungfer: Unbeständigkeit im Lieben

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Wird den Mädgens nachgesagt; Aber wer ist treu geblieben, Wenn man bey den Männern fragt? Sind wir von der Treu entfernet, Haben wirs von euch gelernet.

Strato . Ich habe dich ins zweyte Jahr gekannt, So lange hat die Lieb uns schon verbunden. Wie ist denn nun dies angenehme Band So lüderlich verschwunden? Ce ph is e . Bedenkst du dann dies nur so obenhin, Daß ich so lang getreu gewesen bin? Ich vermuthe, daß unsre Leser nicht sehr begierig sind, noch mehr Probestücke von dem Geschmack und der Poesie des Styls dieses Operndichters zu sehen. Aber ein kleines Beyspiel von den Facetien und saillies de gayete´ des kurzweiligen R o c h a s können wir ihnen nicht erlassen. Man höre also das Brautlied, welches er Admet und Alcesten singt:

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Es ist das beste Thun der Welt Das zuckersüsse Freyen. Wer Hochzeit macht und Kindtauf hält, Dem wird es nicht gereuen. Es schmeckt als lauter Marzipan Wenn man selbander schlafen kan. Es ist so süß als Mandelmus Und Nürenberger Kuchen, Wenn man nicht mehr um einen Kuß 10

Viel Stunden darf ersuchen. Ich halt, es thut doch treflich sacht Wenn man sich so gemeine macht. Und will man lezlich denn dazu Die Braut ins Bette bringen —

Li c h a s . Pfui, Rochas, still, was denkest du? Mit solchen lahmen Dingen! Ro c h a s . Ha, ha! Ein jeder weiß doch wohl, 20

Daß dies zuletzt geschehen soll. Welch eine Zeit war das! (werden manche unsrer Zeitgenossen denken) wo man, in Städten wie Hamburg und Leipzig, auf der Schaubühne singen hörte, was man zu unsrer Zeit nur noch in gewissen kleinen Reichs-Städten nachts auf den Gassen plärren hört. — Und, was das schlimmste ist, damals hatte Frankreich einen C o r n e i l l e , einen R a c i n e , einen M o l i e r e , einen L a F o n t a i n e , einen B o i l e a u — Gut! hatte sie, und hat sie g e h a b t ! — Hat gehabt, was wir noch zu hoffen haben. Was für armselige Sänger hatten die Franzosen, zu einer Zeit, da die Italiäner auf ihren P e t r a r c a , ihren A r i o s t , ihren T a s s o , ihren G u a r i n i stolz waren? Z u f ä l l i g e U m s t ä n d e und g u -

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t e s G l ü c k haben entschieden, welche von den barbarischen Nationen des neuern Europa’s zuerst den wohlthätigen Einfluß der Musen und Grazien

Über einige ältere teutsche Singspiele

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empfinden sollten. Keine hat Ursache, den frühern Genuß dieses Glückes sich für ein Verdienst anzurechnen; und vielleicht ist diejenige am glücklichsten, die es unter allen am letzten erhält. Wenn man übrigens von diesen beyden Alcesten auf die Poesie der andern Opern der damaligen Zeit schliessen darf: so kan man sich nicht erwehren, die zum Theil vortreflichen Süjets zu bedauren, die unter den Händen dieser E l menhorste, Richter, Matsen, Hinsche, Schröder, Fideler, Bress a n d e , und wie die Herren weiter hiessen, zur kläglichsten Carricatur verunstaltet wurden. Ich finde darunter ( A d a m u n d E v a , einer geistlichen Oper, womit die Unternehmer im Jahr 1668. ihren Schauplatz eröfneten,

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nicht mitgerechnet ) T h e s e u s , S e m i r a m i s , A l e x a n d e r i n S i d o n (das nemliche Süjet, woraus Metastasio seinen Re´ pastore gemacht) X e r x e s , N u m a , u. s. w. und eine Menge der schönsten Mythologischen Süjets, A r i a d n e , S e m e l e , A c i s und G a l a t h e e , E c h o und N a r c i ß , P y g m a l i o n , M e d e a , A d o n i s , E n d y m i o n , P s y c h e , u. s. w. Verschiedene derselben sind von dem einst berühmten, jezt unbekannten Lic. H e i n r i c h P o s t e l l . Ich gestehe, daß ich der Versuchung, einige dieser Fabeln nach meiner Art zu bearbeiten, schwerlich anders los zu werden hoffe, als indem ich ihr unterliege. — Man müßte meines Freundes S c h w e i z e r s Alceste gehört haben, um sich die Stärke dieser Versuchung vorstellen zu

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können. Mit einem Componisten, der so sehr Genie ist, und in so hohem Grade Die Kunst z u m a h l e n mit Tönen, Und d a s g r o s s e G e h e i m n i ß d i e H e r z e n a l l m ä c h t i g z u r ü h r e n

besitzt, — mit einem solchen Componisten an der Seite! Welcher Dichter würde nicht von dem Gedanken versucht, eine Art von Schauspielen in Teutschland wieder herzustellen, welche nach dem Ideal, das ich mir davon mache — Doch davon ein andermal; denn die Sache verdient, in besondere Erwägung gezogen zu werden. Vermuthlich sind unsre Leser müde, von alten mißlungenen Alcesten reden zu hören; ich bin es wenigstens, davon zu schreiben: Aber gleichwohl, um meine Nachricht vollständig zu machen, kan ich sie nicht eher entlassen, bis ich auch noch ein paar Worte von der d r i t t e n A l c e s t e gesagt habe, welche

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Ende Dezember 1773 /Anfang Januar 1774)

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den berühmten J o h a n n U l r i c h K ö n i g zum Verfasser hat, und im Jahr 1719. auf dem grossen Braunschweigischen Theater aufgeführt wurde. K ö n i g sagt uns in seinem Vorbericht, daß sein Werk eines Theils eine Übersetzung der französischen Alceste sey; aber in der That hat er durchaus so viel an dieser verändert, davon und dazu gethan, daß er seine Alceste mit gutem Fug für seine eigne Schöpfung hätte ausgeben können. Was am meisten an ihm gelobt zu werden verdient, ist, daß er die Würde des Süjets besser in Acht genommen und die Komischen Scenen weggelassen hat, welche im Quinault das wenige Interesse, das die ernsthaften allenfalls erregen könnten, 10

fast gänzlich zernichten. Hingegen hat er, durch Vermehrung der Intriguen und Maschinerien, oder, wie er es nennt, durch Vereinigung des (damaligen) Italiänischen und Französischen Geschmacks (worauf er sich nicht wenig zu gut thut) den Vorzug erhalten, daß sein Stück ohne alle Vergleichung abentheuerlicher, unnatürlicher und ungereimter wurde, und also (weil eine Oper damals eben dadurch sich empfehlen mußte) auch desto besser gefiel, je abgeschmackter sie war. Zu einer Probe schreibe ich nur das Register der Maschinen und Flugwerke ab. „Eine Brücke, worüber man zu Schiffe geht, welche einfällt. T h e t i s in ihrem Wagen mit Seepferden, nebst den Nordwinden, welche einen Seesturm erregen. Ä o l u s in der Luft, mit den Westwinden. Des

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Lykomedes Residenz, so bestürmt und eingenommen wird. P a l l a s in ihrer Maschine von Trophäen. D i a n a in einer feurigen Kugel, welche sich theilt und einen halben Mond vorstellt. M e r k u r i u s fliegend. Des C h a r o n s Kahn, worinn er die Seelen überfährt. Des P l u t o und der P r o s e r p i n e n Thron. Der Höllenhund C e r b e r u s , so Feuer speyt. Des P l u t o W a g e n , worauf H e r k u l e s und A l c e s t e wegfahren.“ — Man nehme zu allen diesen schönen Raritäten noch die mit eingeflochtnen T ä n z e der v e r k l e i d e t e n * ) G r a z i e n und L i e b e s g ö t t e r , N a j a d e n und T r i t o n e n , der W e s t w i n d e , welche die N o r d w i n d e vertreiben, der K ü n s t e , welche den Tempel der Ehre bauen, und des P l u t o n i s c h e n H o f s t a a t s , der über Alcestens An-

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kunft seine Freude bezeugt — und gestehe, daß die S t . E v r e m o n d , die R e m o n d v o n S t . M a r d und andre ehrliche Leute nicht sogar unrecht hatten,

*)

Dies soll eigentlich so viel sagen, als b e k l e i d e t e n . König besorgte vermuthlich, man

möchte glauben, daß er die Grazien und Najaden in naturalibus aufführen werde, wenn er nicht ausdrücklich das Gegentheil versichre.

Über einige ältere teutsche Singspiele

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solche Singspiele (und von andern hatte man zu ihrer Zeit keinen Begriff) unsinnig zu finden! Daß die Poesie, die Sprache, die Recitative und die Arien schon merklich besser seyn müssen, als in den vorigen, kan man dem Verfasser des A u g u s t i m L a g e r voraus zutrauen. Im Recitativ trägt er (einem Gesetze zufolge, welches damals niemand abzuschütteln wagen durfte) die Fesseln des Reimes, und diese machen natürlicher Weise seinen Gang ungemächlich, schleppend und schwerfällig. Aber seine Arien sind, größtentheils, ohne Vergleichung schöner und s i n g b a r e r , als in den ältern Alcesten. Hier sind einige Proben, welche, wie mir däucht, dies Urtheil rechtfertigen.

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H e r k u l e s , der in Q u i n a u l t s und K ö n i g s Alceste zugleich der Freund und der heimliche Nebenbuhler des Admets ist, aber seine Liebe wie ein Held bestreitet und zuletzt besiegt, scheidet von Admet und Alcesten, nachdem er sie aus Lykomedens Gewalt befreyt hat, mit dieser Arie, deren Anfang sich auf Admetens dringendes Bitten, länger zu bleiben, bezieht: Der Himmel weiß (und meine Liebe) Wie gern ich länger bey euch bliebe; Doch die Vernunft spricht, Nein! Laßt ab noch mehr in mich zu dringen; Mich hierinn selber zu bezwingen, Das muß mein größter Sieg für diesmal seyn.

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V. A.

H i e r i n n und f ü r d i e s m a l sind sehr entbehrliche Bestimmungs-Wörter, welche die Sprache und den Vers schleppend machen. Mit einer kleinen Veränderung wäre der Schluß dieser Arie runder und zugleich singbarer geworden: Mich selber zu bezwingen Soll meiner Siege größter seyn.

Erst, nachdem Alceste nicht mehr ist, entdeckt Herkules seinem Freunde, daß auch er Alcesten geliebt habe, und noch liebe, und daß er, wenn Admet ihm sein Recht auf sie (die er nun ohnehin auf ewig verlohren habe) abtrete,

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Bis in das finstre Land Der nie bestürmten Hölle dringen, Den Pluto selbst zur Wiedergabe zwingen Und aus dem Grab Alcesten wiederbringen wolle. Diese Erklärung bestätigt er mit einer Arie, die alles enthält, was ein Tonkünstler verlangen kan: Mich spornet der Eifer, mich wafnet die Liebe, So stürm’ ich die Hölle, so trotz ich dem Tod. Laß den Abgrund Flammen speyen! 10

Das Geliebte zu befreyen Verachtet mein Herze die grausamste Noth.

V. A.

Noch eine Arie des Herkules, da er im Begriff ist, dem Höllengott Alcesten zu entführen — Ein grosses Herz kan alles in der Liebe, Verlacht den Zwang, und trotzt die Noth: Denn Amor thut durch seine Stärke In edlen Seelen Wunderwerke, Und zwingt zuletzt auch selbst den Tod.

Auch die folgende Arie, worinn Alceste sich entschließt für Admet zu sterben, 20

ist in ihrer Art, vorzüglich. Da mein Leitstern muß entweichen, Schließt sich auch mein Auge zu. Da das schöne Licht verschwindet, Dessen Glanz mein Herz entzündet, Eilet auch mein Geist zur Ruh.

Noch singbarer und affectvoller ist die folgende, womit Cephise sie von ihrem Entschluß abhalten will:

Über einige ältere teutsche Singspiele

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Ach! lösche doch nicht selbst die holden Kerzen! Ach! trenne doch nicht selbst das süsse Band, Das seine Seele deinem Herzen Und deine Hand verknüpft mit seiner Hand. Ach! trenne doch nicht selbst das süsse Band.

Und die ganze Scene, wo Alcestens Schatten in Elysium eingeführt wird, welchen Reichthum von schönen Gemählden, empfindsamen Modulationen und entzückenden Melodien bietet sie einem grossen Componisten dar! — Der Schauplatz stellt den Pallast des Höllengottes vor; in der Ferne sieht man einen Theil der Elysäischen Felder. Pluto und Proserpine, von einem Chor von

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Geistern umgeben, empfangen Alcestens Schatten. Pl u t o. Empfange nun den Preiß der allerhöchsten Treue In ewig stiller Ruh. Dein neuer Stand läßt nichts als Freude zu; Hinfort sey dir kein Schmerz bekannt, Damit dein edler Geist unendlich sich erfreut. Der Ch o r . Empfange nun den Lohn der allerreinsten Treue! Pr o s e r p .

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Es soll allhier dies stille Leben Dir ewigsüsse Ruh und steten Frieden geben. Der Ch o r

wiederholt diese Worte.

Pr o s e r p . Du sollst hinfort mir stets zur Seite schweben. Pl u t o. Der Höllen Reich mach alle seine Lust Dir, alleredelster und schönster Geist, bewußt.

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Der Ch o r . Einsame Stille! Seliger Ort! Welchen ohn Unterschied endlich die Seelen Williglich oder gezwungen erwählen, Selige Stille! ruhiger Ort! Du bist nach Sorgen, nach Kummer, nach Quälen, Aller Verfolgten der sicherste Port.

Freylich müssen uns die Ausfüllungswörter, die so leicht hätten vermieden werden können, anstößig seyn. Und warum anstatt des H ö l l e n r e i c h s , wel10

ches für uns mit so widrigen Eindrücken vergesellschaftet ist, nicht lieber S c h a t t e n r e i c h ? — Wie kan man sagen: gezwungen e r w ä h l e n ? — Und wie kömmt dieser ungleichartige Begriff in Vorstellungen, welche nichts als Ruhe, Frieden und Seligkeit athmen sollen? — Aber so genau nahmen es freylich die besten Dichter des ersten Drittheils unsers Jahrhunderts noch nicht. Einheit des Tons, Reinigkeit des Ausdrucks, Rundung und Glätte des Styls waren Grade von Vollkommenheit, die man von der Zeit, worinn König seine Alceste schrieb, nicht verlangen kan. In der unsrigen kan man es mit besserm Rechte; aber noch immer lassen sich die meisten Leser mit wenigerm abfinden. Und wie wenig sind der Dichter, welche mehr von sich selbst fodern, als

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die Leser, und die nicht zu ungeduldig oder zu träge sind, die Feile so lange zu gebrauchen, bis alles teres atque rotundum ist?

Über einige ältere teutsche Singspiele

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Der Teutsche Merkur. Des vierten Bandes Zweytes Stück. November 1773. Weimar Im Verlag der Gesellschaft.

¼An einen Kastanienbaum, der einsam im K**schen Garten in D** stand.

Nur immer vorüber, Strahl der Sonne! mit dir Ergießt sich keine Erquickung auf mein Haupt herab. Dein lächelndscheinend heiteres Gesichte Sieht mit feurigrothbrennenden Augen Am schwülen Sommertag Herab auf versengte Gefild’, Und jeder deiner Blicke

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Tödtet Lebensgeister.

Dich nur will ich dankbar, Holder Kastanienbaum, Vor allen Bäumen im Garten Lieben. Deine belaubten Zweige Fangen jeden Blick Der Sonne auf, Wenn ich am schwülen Tage Unter deinem Schatten ein Lüftchen hauche, Das mein vom Sonnenfeuer wallend Blut Wohlthätig kühlt.

Unnütz wärst du? Unfruchtbar, Geliebter Baum? o nein! Wer so wohlthätig ist wie du, Ist fruchtbar, ist nützlich genug.

Dein beschützender Schatten Stärket mein verblendet Auge.

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Mit grösserer Freyheit blickt es Unter deinen wiegenden Ästen hervor, Und sieht die welkende Schönheit des Gartens Mit mattem Blick.

Rauscht hier gleich kein Wasserfall, So rauschen doch deine Blätter, wenn Gauckelnde Zephyrn auf deinen Zweigen Mit leichten Fittigen hüpfen. — In ihrer Gesellschaft Gauckelt Morpheus, fliegt von 10

Einem Zweig’ hin auf den andern, Und hüpft endlich auf meine Von Schwüle müden Augen herab: Und dann zeigt er, in einem leichten Schlummer Mir Vergnügen, Die mir wachend fehlen.

Oft findet mich auch der silberne Mond, Wenn unvermerkt mich Morpheus überrascht hat. Trüblicht blinkt er, Mit halbdämmerndem halb heiterem Gesicht, 20

Das neidisch oft Gewölke verdecken, Zwischen deinen thaubenetzten Blättern Holder Baum! herdurch. Und dennoch spiegelt sich Auf jedem Tropfen Thau Die reizende Scheibe.

Ergötzlich ist Dein heiteres Gesicht, o Mond! Doch lügt nicht oft ein heiteres Gesicht Vergnügen? Und im Herzen 30

Wohnet Traurigkeit? O klagest du nicht auch oft So wie ich?

¼Anmerkung½ A n e i n e n K a s t a n i e n b a u m

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Warum bekleidest du dich sonst oft halb schwarz So wie ich? Doch, lebe wohl, o Mond! Nicht ewig wird Dein sorgenloser Strahl die Nacht erleuchten. Und auch ich — nicht immer werd’ ich Unter diesem Schatten ruhn.

Könnte doch, geliebter Baum, mich Dein ergötzender Schatten Von tausend mürrischen Gedanken Meiner benebelten Seele Ruhig machen! Tausendmal mehr wollt’ ich dich lieben! *)½

*) Ich kan diesem kleinen poetischen Stück einen Platz im Merkur nicht versagen, weil mir der Inhalt gefällt, wiewohl ich nicht weiß, was ich aus der Form machen soll. Vermuthlich mag es vielen unsrer neuesten Dichter sehr bequem seyn, solchergestalt die Fesseln des Sylbenmaßes und des Reims zugleich abzuwerfen. d. H.

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¼Auszug aus des Herrn P. Brydone Reise auf den Ätna. … Grösser wird noch das Erstaunen, wenn man einen Blick auf die höheren Gegenden des Berges wirft. Hier sieht man zwey Elemente mit einander auf immer vereinigt und auf immer in Kriege; einen unermeßlichen Feuerschlund mitten im Schnee, den er nicht schmelzen kan, und ungeheure Schneefelder um diesen Schlund her, den sie nie löschen können.* )½

*) Eine Anspielung auf die Worte des S o l i n u s : invicta in utroque violentia; nec calor frigore mitigatur, nec frigus calore dissolvitur. P o l y h i s t . c. V. H.

¼Anmerkung: Werthes?½ A u s z u g

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Ein sonderbares Beyspiel der herrschenden Sucht w i t z i g z u r e d e n, in den Zeiten der Königin Elisabeth von England. Die Verkleinerer des grossen S h a k e s p e a r s pflegen ihm, unter andern, auch die seinen Personen so geläufigen Wort- und Witz-Spiele, Gegensätze, und andre gekünstelte Wendungen, kurz einen falschen Geschmack in der Art sich auszudrucken, zur Last zu legen. Man müßte seinen eignen Sinnen widersprechen, wenn man läugnen wollte, daß dies der größte Fehler dieses in seinen Vollkommenheiten unübertreflichen Genies ist. Aber es ist auch eben so oft zu seiner Entschuldigung gesagt worden, daß dieser üppige Witz, und die-

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ses immerwährende Schnappen nach Antithesen und Concetti, diese Sucht, die gemeinsten Dinge auf eine neue und sinnreiche Art zu sagen, ein Fehler war, der in seiner Zeit für schön gehalten wurde, ein Fehler, wodurch man gefiel, und womit wir eben deswegen die vornehmsten Schriftsteller unter E l i s a b e t h und J a c o b I . sich brüsten sehen. *) Ein seltsames Beyspiel, welches mir zu beweisen scheint, in welchem Grade diese Sucht, sinnreich zu reden und zu schreiben, damals herrschend war, stößt mir so eben auf, da ich das G e n t l e m a n’ s M a g a z i n vom Monat Merz d. J. durchblättre. Es ist die Anrede, welche der Geheimschreiber und Vertraute des unglücklichen Grafen von Essex, H e i n r i c h C u f f , nach alter eng-

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ländischer Gewohnheit, an das Volk hielt, da er wegen des Antheils, den er an dem Verbrechen des Grafen genommen, den Galgen zu Tyburn besteigen mußte. Aus Besorgniß, daß ich nicht fähig seyn werde, diese Rede in ihrer ganzen Stärke zu übersetzen, lasse ich das Original in der Note **) abdrucken. *)

Hierüber verdient die vortrefliche Betrachtung gelesen und erwogen zu werden, womit

H u m e unter der Rubrik: G e l e h r s a m k e i t u n d K ü n s t e , die Geschichte Jacob I. schließt. **)

I am here adjudged to die for a c t i n g an A c t , never a c t e d ; for plotting a plot, never

plotted. Justice will have her course; accusers must be heard; greatness will have victory; Scholars and Martialists (though Learning and valour should have pre´emined) in England must die like dogs and be hanged. To mislike this were but folly; to dispute it but time lost; to alter it

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„Ich befinde mich hier (sagt Heinrich Cuff) wegen einer That zu sterben, die ich nicht gethan, und wegen eines Complots, das ich nicht complottiert habe. Die Gerechtigkeit muß ihren Lauf haben; Ankläger müssen gehört werden; Macht behält die Oberhand; Gelehrte und brave Soldaten, (wiewohl Gelehrsamkeit und Tapferkeit den höchsten Vorzug geben sollten) müssen in England wie Hunde sterben, und sich hängen lassen. Ungehalten hierüber zu werden, wäre nur Thorheit; Einwendungen dagegen zu machen, nur verlohrne Zeit; es zu ändern, unmöglich; aber es zu dulden ist männlich, und es zu verachten, großmüthig. Die Königin ist ungnädig, die Richter ungerecht, der 10

Tod furchtbar; aber ich bitte die Königin um Verzeyhung, vergebe den Richtern und der Welt, bitte, daß mir vergeben werde, und heisse den Tod willkommen.“ Wie tief eingewurzelt muß die Ambition zierlich zu reden seyn, wenn man am Galgen selbst noch so künstliche Perioden und Figuren dreht? Indessen können wir dem Leser nicht verschweigen, daß C a m b d e n in seinen Annalen der K. Elisabeth, den Secretär C u f f eine ganz andre Rede an die Zuschauer halten läßt, eine Rede, die mit der vorstehenden weder in Gedanken noch im Ausdruck einige Ähnlichkeit hat. Wahr ists, von dem Charakter, welchen Cambden selbst diesem Vertrauten des Essex beylegt, ist in dieser

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Rede wenig oder nichts zu spüren; ihr Ton ist der Ton eines jeden reumüthigen und orthodoxen Sünders; und man sollte sie eher für ein von seinem Beichtvater aufgesetztes Formular halten, das sich eben so gut und besser für zwanzig andre arme Sünder, die von der Leiter herunter predigen, als für denjenigen dem sie Cambden in den Mund legt, zu schicken scheint. Jene aus dem Gentleman’s Magazin gezogene hingegen scheint dem Charakter Heinrich C u f f s viel gemässer zu seyn, und besonders das Sophistische und Spitzfündige zu haben, das (nach Cambdens Bemerkung) in C u f f s Verantwortung bey seinem gerichtlichen Verhör herrschte, und ihm von einem der Richter etwas bitter vorgeworfen wurde. C u f f war ein Mann von Fähigkeiten, und zu

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Unternehmungen aufgelegt, welche Klugheit und Entschlossenheit erforderten. Er hatte aus den Werken der Griechen und Römer eine mit dem Genius

impossible; but to endure it, is manly, and to scorn it, is magnanimity. The Queen is displaised, the lawyers injurious and death terrible; but I crave pardon of the Queen, forgive the Lawyers and the World, desire to be forgiven, and welcome death.

Ein sonderbares Beyspiel

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seiner Zeit und der willkührlichen Regierungsart der K. Elisabeth unverträgliche Art zu denken eingesogen. Sein Unglück war, daß er sich dem Dienst eines Mannes ergeben hatte, dessen Untüchtigkeit zu Unternehmungen vollständig war, weil es ihm bey einer glühenden Einbildung an Verstand, und bey dem Muth eines irrenden Ritters an Überlegung und Standhaftigkeit fehlte. Vierzig Jahre später würde H e i n r i c h C u f f eine grosse Rolle in England gespielt haben. Allein so viel Wahrscheinlichkeit diese Übereinstimmung mit dem Charakter Cuffs der Rede giebt, die wir dem Leser mitgetheilt haben, so ist doch nicht zu läugnen, daß wir für ihre Avthenticität keinen Gewährsmann haben, welcher C a m b d e n s Ansehen überwiegen könnte. Der unter der Un-

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terschrift C a n t a b . verborgne Ungenannte, der den Herausgeber des Gentleman’s Magazin’s ersucht, diese Rede in sein Journal einzurücken, zeigt uns nicht an, wo er sie hergenommen; und wenn gleich die Vermuthung, daß sich keine Ursache denken lasse, warum er das Publikum hätte hintergehen wollen, nicht ohne alles Gewicht ist: so gilt sie doch wenig gegen das Zeugnis eines Geschichtschreibers von entschiednem Ansehen, der überdies mit C u f f in persönlichem Umgang stund, und, so wie bey dessen Verhör, vermuthlich auch bey dessen Hinrichtung zugegen war. Doch vielleicht hat C u f f die Rede, die uns der Ungenannte mittheilt, bey guter Muse im Gefängniß aufgesetzt; und, da er auf der Leiter zu Tyburn stund, diejenige gehalten, die ihm Cambden in den Mund legt. Es wäre, ungeachtet seines entschloßnen Charakters, eben nicht unmöglich, daß er in einem so kritischen Augenblicke wider Willen einen andern Ton angestimmt hätte, als er sich bey kälterm Blute vorgenommen. Wäre dies, so würde man es als ein Beyspiel ansehen können, daß die Natur ihre Rechte nicht leicht verliehrt; und daß mancher Dichter, der an seinem Schreibpulte sitzend seinen Helden Rednerfiguren und Sentenzen sprechen läßt, wie ein Homer reden würde, wenn er sich wirklich in dem Falle befände, in den er sich itzt nur durch Abstraction und Einbildung hineinzudenken sucht.

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Über eine Anekdote in V o l t a i r e’ s Universal-Historie, die Herzogin von Mazarin, Hortensia Mancini, betreffend. Wenige Schriftsteller haben sich jemals so viel Freyheiten mit der historischen Wahrheit herausgenommen, als der Herr von V o l t a i r e . Dies ist schon lange eine weltkündige Sache. Ich besorge ein grosser Dichter ist immer ein gefährlicher Geschichtschreiber. Wenn er auch ehrlich genug ist, die Wahrheit sagen zu w o l l e n , (welches vielleicht nicht allezeit der Fall des Mannes von dem wir reden gewesen ist) so müßte er zu gleicher Zeit eine ganz ausser10

ordentliche Gewalt über sich selbst haben, wenn er immer Meister von seiner Einbildungskraft, oder von der Wärme seines Herzens bleiben, und von der G e w o h n h e i t , die Gegenstände zu verschönern oder zu verhäßlichern, sie nach Belieben zusammenzusetzen, und Schatten und Licht so zu vertheilen, wie sie den b e s t e n E f f e k t machen — einer Gewohnheit, die dem Dichter endlich zur andern Natur wird, — nie verführt werden sollte, die Sachen, auch wider seine ausdrückliche Absicht, anders vorzustellen als sie wirklich in der Natur s i n d oder zu seyn s c h e i n e n . Ob diese Betrachtung hinlänglich sey, den Dichter, der so viel h i s t o r i s c h e G e m ä h l d e ausgeführt hat, in deren jedem man den Pinsel eines

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Meisters erkennt, wiewohl man in allen die Treue des Geschichtschreibers vermißt, gegen die Vorwürfe derjenigen, welche die Sache der Wahrheit an ihm zu rächen unternommen haben, zu schützen, überlassen wir dem Urtheil andrer. Aber dies wenigstens, dünkt uns, sollte man von einem Dichter, der den Geschichtschreiber macht, als eine höchst billige Einschränkung des Horazischen Quidlibet audendi, fodern, und von dem Manne, der sich so oft als einen geschwohrnen Feind alles Wunderbaren und Unbegreiflichen gezeigt hat, mit doppeltem Rechte fodern können: daß er uns keine Begebenheiten als wirklich geschehen vortrage, welche augenscheinlich wider den ordentlichen Lauf der Welt streiten, und wovon man, ausser den F e e n m ä h r c h e n und

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T a u s e n d u n d e i n e r N a c h t , noch niemals ein Beyspiel gesehen hat.

Über eine Anekdote

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Daß der Philosoph von F e r n e y , oder (wie er sich selbst zu nennen liebt) d e r A l t e v o m B e r g e K r a p a c , von dieser Schwachheit — (dies ist doch wohl der gelindeste Nahme, den man der Sache geben kan?) nicht immer frey geblieben sey, davon findet sich im zweyten Theil seines S i e c l e d e L o u i s X I V. oder, im 197 Kapitel seiner Histoire generale (Tom. VI. pag. 157. edit. 1756.) ein Beyspiel von der sonderbarsten Art. Die Sache, die es betrift, ist an sich selbst von geringer Erheblichkeit. Aber die sorglose Dreistigkeit, womit er uns das unglaublichste aller Mährchen, ein Mährchen, das der M u t t e r G a n s würdig ist, zu glauben machen will, ist an einem Schriftsteller wie Voltaire sehr erheblich, und verdient immer, daß wir uns einige Minuten dabey auf-

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halten. Es ist so ziemlich die Gewohnheit des Hrn. v. V. sich auf Zeugen zu berufen, die nicht mehr unter den Sterblichen sind, und die man (wenigstens seitdem Hr. S w e d e n b o r g zu seinen Freunden, den Geistern, gegangen ist, ohne einen Erben seiner Wundergaben zu hinterlassen) in der andern Welt nicht wohl befragen lassen kan, ob sie das auch wirklich gesagt haben, was sie Hr. v. V. sagen läßt. Auch für das Mährchen, wovon diesmal die Rede ist, stellt er einen Mann von Namen und Ansehen aus der andern Welt, den Herrn von C a u m a r t i n , ehmaligen Intendanten der Königl. Finanzen, zum Gewährsmann auf. Herr von Caumartin hat die Sache mit seinen Augen gesehen, und Herr

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von Voltaire hat sie aus dessen Munde mit seinen Ohren gehört. Was kan man mehr verlangen? Ein Augenzeuge wie Monsieur de Caumartin, Intendant des Finances! Ein Ohrenzeuge wie H r . v o n V o l t a i r e ! — K a r n e a d e s und P y r r h o selbst müßten bey solchen Zeugen zweifeln, ob da noch etwas zu zweifeln sey! Aber das Factum, das Factum! Dies ist wohl die Hauptsache — Also „besagter Herr von Caumartin, da er noch ein junger Mensch war, sah einst in dem Hotel de Mazarin, in einem Cabinet einen b r e i t e n und t i e f e n Schrank mit Schubfächern, der eine ganze Seite des Cabinets v o m B o d e n b i s z u r D e c k e e i n n a h m . Der Schrank war ein Stück aus der Erbschaft des d a m a l s s c h o n v o r e i n i g e n J a h r e n v e r s t o r b n e n Cardinals M a z a r i n , dessen Universal-Erbe, bekanntermaßen, der D ü c d e l a M e i l l e r a y e , nachmaliger D ü c d e M a z a r i n , Gemahl der berühmten Nichte des Cardinals, H o r t e n s i a M a n c i n i , war. In einer Erbschaft wie des Cardinals Mazarin, ist ein Schrank mehr oder weniger, freylich keine Sache. Auch hatte man sich aus diesem, wovon der Schlüssel s c h o n l a n g e verloh-

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ren gegangen war, bisher so wenig gemacht, daß keine Seele auf den Einfall gekommen war, wissen zu wollen, was wohl darinn seyn möchte. Hr. von Caumartin fand diesen Mangel an Wissensbegierde unverantwortlich, und überredete endlich die Herzogin durch die Vorstellung: es könnten doch wohl allerley artige Sachen darinn seyn; daß sie den Schrank aufschlagen ließ. Der wundervolle Schrank wurde also geöfnet, und Siehe! alle Schubfächer desselben waren mit Quadrupeln, goldnen Schaustücken und Medaillen von unten bis oben angefüllt.“ — Wunderbar genug! Aber dies ist noch das wenigste. Was hatte Madame Mazarin — welche damals schon sehr übel mit ihrem wunder10

lichen Gemahl stund, über dessen unbegreifliche Verschwendungen die bittersten Klagen führte, und bald darauf von ihm entwich — was hatte sie, nach Entdeckung eines Schatzes, der ihr in ihren damaligen Umständen so wohl zu statten kam, zu thun? „Sie warf alle diese ungeheure Menge Goldes, handvollweise zum Fenster hinaus, und (was nicht der schwächste poetische Zug in dieser Erzählung ist) sie hatte a c h t T a g e l a n g zu thun, bis sie mit dieser großmüthigen, und, wie man denken kan, der Canaille zu Paris sehr angenehmen Arbeit fertig war.“ — Obwohl Hr. von Caumartin jemals — (bey nüchternem Muthe wenigstens) dem Philosophen von Ferney so was erzählt haben mag? Ein Königlicher Fi-

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nanz-Aufseher in Paris ist freylich ein Mann, dem viel Geld durch den Kopf geht. Eine Million mag ohne Zweifel in den Augen des Hrn. v. Caumartin — so wie in den Augen des Hrn. von Voltaire, welchen die größten Dichter aller Zeiten und Völker, mit Vater Homer an ihrer Spitze, zusammen genommen, nicht aufwiegen würden — keine so grosse Summe seyn, als sie es vermuthlich in den Augen des armen T a s s o war; da er seine Katze in einem schönen Sonnet ersuchte, ihm Licht aus den ihrigen zu leyhen, damit er seine Verse dabey schreiben könnte. Allein dem ungeachtet wollte ich doch wetten, daß Herr von Caumartin die Sache nicht halb so arg gemacht hat, als unser Dichter. In den Arabischen und Persianischen Mährchen gehen freylich Dinge vor,

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die, wenn sie nur selbst ein wenig glaublicher wären, eine solche Erzählung glaublich machen könnten. Da sehen wir, zum Exempel, einen gewissen A b u l c a s e m — der, in seiner Jugend als ein armer Junge den Gästen in einer Fiquaa-Bude Blumen und Citronen anbietet — um seiner schönen Augen willen, von einem alten reichen Kaufmann aus Basra zum Erben eingesetzt. Der alte Kaufmann stirbt und entdeckt seinem jungen Erben kurz vor seinem

Über eine Anekdote

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Ende, daß er Herr von einem unermeßlichen Schatze ist. Abulcasem sieht sich nicht sobald im Besitz dieses Schatzes, so fängt er an mit einer Pracht und Freygebigkeit zu leben, worinn es ihm kein Monarch in Asien gleich thun kan. Er verschenkt täglich ungeheure Summen, ohne daß man an seiner Art zu leben den Abgang derselben im mindesten gewahr wird. Endlich dringt der Ruf davon bis zu den Ohren des Kaliphen zu Bagdad. Der unglaubige Haroun Alrashid will mit seinen eignen Augen sehen; er reiset nach Basra, macht unter der Gestalt eines Kaufmanns Bekanntschaft mit dem großmüthigen Abulcasem, und erhält noch an dem nemlichen Tage Proben von dem Reichthum und der Freygebigkeit dieses Mannes, die ihn fühlen machen, daß er nur

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ein kleiner Potentat gegen Abulcasem ist. Er läßt nicht ab, bis er seinen Wirth dahin bringt, ihm seinen Schatz sehen zu lassen. Sie gehen tief in der Nacht, da alles schläft, in den Garten; Abulcasem hebt unter einem gewissen Baume eine versteckte Fallthüre auf. Sie steigen eine Marmorne Treppe hinunter, und — daß ichs kurz mache, sie kommen endlich in einen Saal, der von etlichen Carfunkelsteinen so stark erleuchtet wird, daß es von Schah-Bahams zweytausend diamantnen Kronleuchtern selbst kaum heller werden könnte. Alles, was indessen bey so vielem Licht in diesem Saale zu sehen ist, ist in dessen Mitte ein Becken von weissem Marmor, funfzig Schuh weit und dreyßig Schuh tief. Aber dieses Becken ist voller Goldstücke, und rings herum

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stehen auf zwölf Säulen von gediegnem Golde zwölf Statuen von Edelgesteinen, unvergleichlich gearbeitet, u. s. w. — wie mit mehrerm zu lesen ist, i n z e h n t e n T a g e der sehr wahrscheinlichen und schlafbefördernden Erzählungen, welche sich die Prinzeßin F a r r u c k h n a z , Schwester des S u l t a n s F a r r u c k h r o u z v o n K a s h m i r e , von ihrer getreuen Amme S u t l u m e m e e , alle Morgen im Bade vorerzählen läßt. Vermuthlich hat H r . v o n V . die Amme S u t l u m e m e e und das funfzig Schuh weite und dreyßig Schuh tiefe Marmorbecken voll Goldstücken im Sinne gehabt, da er von einem sehr tiefen Schranke, der die ganze Seite eines Cabinets in einem Hause wie der Mazarinische Pallast einnahm, und bis an die Decke reichte, mit Quadrupeln und goldnen Medaillen angefüllt, als von einer Sache spricht, die nicht die geringste Schwierigkeit hat. Es ist wahr, dieser Schrank konnte, nach einer sehr mäßigen Berechnung, nur ein paar Millionen Quadrupel enthalten, und dies ist allerdings gegen das, was in Abulcasems Marmorbecken war, ja nur gegen eine einzige Statue von Diamanten, eine Kleinigkeit. Aber gesetzt, daß auch

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nur Eine Million Quadrupel in dem Schranke gewesen wären, so würde dieses doch immer in unsern Zeiten, und nach dem ordentlichen Laufe der Natur eine ganz hübsche Summe gewesen seyn. Der H e r r v . V . , der den Königen D a v i d und S a l o m o n so genau nachrechnet, und die Verlassenschaft des ersten an Gold und Silber so unbegreiflich findet, scheint diesesmal vergessen zu haben, daß der zehnte Theil der Quadrupel, die dazu gehören, einen Schrank, der nur zehn Schuh hoch, acht Schuh breit und sechzehn Zoll tief ist, anzufüllen, keine Sache ist, die einer besitzen kan, ohne es zu wissen. Der Cardinal Mazarin mag noch so grosse Einkünfte gehabt, noch so viel Gold 10

aufgehäuft haben; aber daß er dessen so viel gehabt, um sich eines so grossen Schranks voll Quadrupeln gar nicht mehr zu erinnern, wie uns H r . v . V . bereden will, credat Judæus apella! Doch zugestanden, es habe mit dem Schrank und den Quadrupeln seine Richtigkeit: welches Kind wird sich von irgend einer Sutlumemee in der Welt einschwatzen lassen, daß M a d a m e M a z a r i n , welche damals, da diese Entdeckung gemacht worden seyn soll, in höchst mißlichen Umständen war, und zu ihrer vorhabenden Flucht von einem geizigen, verschwenderischen, bigotten, tyrannischen, mit einem Wort, unerträglichen Gemahl (wie sie ihn durch ihre Freunde geschildert hat) nie zuviel Geld haben konnte, daß Sie, so groß

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auch immer ihr Leichtsinn und Muthwille sonst war, albern genug hätte seyn können, einen unverhoft entdeckten Schatz von solcher Wichtigkeit zum Fenster hinaus zu werfen? Wer die von dem Abbe´ de St. Real verfaßte Memoires dieser ausserordentlichen Frau, und die an sie gerichteten Briefe und andre Aufsätze des S t . E v r e m o n d gelesen hat, weiß, daß Madame Mazarin, durch ihre Entweichung von ihrem Gemahl, in solche Umstände kam, daß sie, ohne die Freygebigkeit des Herzogs von Savoyen, so lange sie zu Chambery lebte, und ohne eine Pension von Carl dem 2ten während ihres Aufenthalts in England, nicht einmal zu leben gehabt hätte. Das Abentheuer mit dem Schranke soll e i n i g e

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J a h r e n a c h d e s C a r d i n a l s T o d e begegnet seyn. Nun hielt Mad. Mazarin nicht länger als f ü n f J a h r e bey ihrem Gemahl aus: folglich müßte jene Entdeckung kurz vor ihrer Flucht, und also gerade zu einer Zeit gemacht worden seyn, wo sie ihre Quadrupel besser gebrauchen konnte, als sie zum Fenster hinaus zu werfen. Als ein noch sehr junges Fräulein, in dem muthwilligen, sorglosen Über-

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muth der ersten Jugend, und grenzenloser Erwartungen, konnte sie wohl einmal (sie erzählt es *) von sich selbst) in einem Anstoß von Frölichkeit sich mit ihren Schwestern eine Lust daraus machen, von den 10000 Louisd’or, welche sie von ihrem Bräutigam zum Geschenk erhalten hatte, e t l i c h e h u n d e r t unter die im Hofe stehende Bediente aus dem Fenster zu werfen: aber acht Tage lang wirft niemand, als ein Wahnwitziger, seine Quadrupel bey händevoll auf die Gasse. Es wäre nur ein schwacher Behelf, wenn man sagen wollte, sie habe es gethan, weil sie ihrem verhaßten Gemahl das Vergnügen nicht hätte gönnen wollen, sich unverhoft eines so grossen Schatzes zu bemächtigen. Der Herr

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von Mazarin wußte nichts von der Entdeckung, und da man sie die ganze Woche durch, während welcher Mad. Mazarin dem Pöbel zu Paris R e s t i t u t i o n machte, vor ihm verbergen konnte; warum hätte man sie nicht eben so leicht — und in der That fünf oder sechshundert tausendmal leichter vor ihm verbergen können, falls man den Schatz heimlich auf die Seite geschaft hätte. Es ist unbegreiflich, wie eine Sache, von welcher ganz Paris voll seyn mußte, ihm allein hätte verborgen bleiben können. Hingegen war es sehr leicht, mit einem kleinen Theil des gefundenen Schatzes die Zungen der wenigen Hausgenossen zu binden, welche bey Eröfnung des Schrankes zugegen seyn mochten: und der junge Herr von Caumartin war ein viel zu artiger junger Herr, als

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daß er das Geheimniß einer so schönen Frau, wie Madame Mazarin, hätte verrathen sollen. Doch gesetzt auch, alle diese Einwürfe wären von keinem Gewichte, so sind noch einige andre Schwierigkeiten übrig, an welche H r . v . V . im Feuer der Arbeit nicht gedacht haben muß, weil eine einzige derselben, nach seinen sonst gewöhnlichen Grundsätzen, hinlänglich wäre, ihn eine Erzählung aus der Bibel oder der Kirchengeschichte verwerfen zu machen, wenn sie gleich mit Wundern bekräftiget und mit dem Blute ihrer Zeugen gesiegelt worden wäre. — M a d a m e M a z a r i n wirft ungeheure Summen Goldes acht Tage lang auf die Gasse, und Hr. von Caumartin ist der einzige Gewährsmann einer That, von der man, wenn sie wahr wäre, im ganzen Europa gesprochen haben würde? — Wie kan ein Mann, der sich so gut auf Wirthschaft und Kreislauf des Geldes versteht, wie H r . v . V . , eine solche Anekdote niederschreiben, ohne *)

S. Memoires de Mad. de Mazarin p. 13.

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daß ihm beyfällt, was für einen entsetzlichen Lerm eine Summe von dreyßig oder vierzig Millionen Livres in baaren wichtigen Duplonen und Quadrupeln, in einer Stadt wie Paris, gemacht haben müßten? Es kan nicht so stille zugehen, wenn eine solche Summe auf einmal, wie durch einen Wolkenbruch, in die Circulation, und was am meisten zu bedeuten hat, in die Hände der untersten Classen des gemeinen Volkes gebracht wird. Eine solche Begebenheit würde durch ihre Folgen eine Art von Revolution hervorbringen, und wenigstens den gewöhnlichen Lauf der Welt mächtig stören. — O l a B a u m e l l e , l a B a u m e l l e , wie würde dir mitgespielt worden seyn, wenn es dir begegnet 10

wäre, so eine Anekdote fallen zu lassen, und den Hrn. v. Caumartin zum Gewährsmann davon zu machen! Ich habe alle mögliche Hochachtung für den Verfasser der M e r o p e und S e m i r a m i s , der H e n r i a d e und der P ü c e l l e , des Z a d i g und M i k r o m e g a s , des C a n d i d e und des Siecle de Louis XIV. Ich empfinde die Zauberey seiner Schreibart so stark als irgend jemand, und lasse mich durch den Schimmer seiner Einfälle und die Blendwerke seines Vortrags so gerne hintergehen als ein Andrer; voraus bedungen, daß es mir erlaubt seyn muß, zu merken, daß ich hintergangen werde. Aber ich kan gleichwohl nichts dazu, wenn ich — nach solchen Beyspielen, wie weit ein Mann, der einmal im Besitz

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ist, zu reden und zu schreiben was er will, die Sachen treiben kan — überlaut lachen muß, eben diesen Mann, mit dem Ernst eines Weisen, der zum Unterricht des menschlichen Geschlechtes schreibt, sagen höre: „Die Lebensbeschreibungen der grossen Männer im P l u t a r c h sind eine Sammlung von mehr angenehmen als zuverläßigen Anekdoten. Woher sollte er getreue Nachrichten vom Privatleben des T h e s e u s und L y k u r g u s gehabt haben? In den meisten Maximen, die er seinen Helden in den Mund legt, ist mehr moralischer Werth, als historische Wahrheit. Die geheime Geschichte Justinians von P r o c o p ist eine aus Rachsucht geflossene Satyre; und wiewohl auch die Rache Wahrheit sagen kan, so scheint

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doch diese Satyre, die mit der öffentlichen Geschichte des Procop in Widerspruch steht, nicht immer die Wahrheit zu sagen. I n u n s e r n Z e i t e n i s t e s n i c h t m e h r e r l a u b t , d e m P l u t a r c h , also noch viel weniger dem P r o c o p , n a c h z u a h m e n . Wir nehmen nichts für historische Wahrheit an, als was bewährt ist. Wenn Zeitgenossen wie der C a r d i n a l v o n R e t z und der D ü c d e R o c h e f o u c a u l t , die einander haßten, in

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ihren Nachrichten die nemliche Begebenheit bezeugen, so ist diese Begebenheit wahr; widersprechen sie einander, dann muß man zweifeln. W a s n i c h t wahrscheinlich ist, verdient nicht geglaubt zu werden, es wäre dann, daß verschiedene glaubwürdige Zeitgenossen es einhell i g b e k r ä f t i g t e n . “ — Ain tu? Aus deinem Munde richte ich dich, du — — Bidermann! Aber der ehrliche P l u t a r c h — wie kommt denn der dazu, daß er, aus Gelegenheit der Anekdoten der Regierung Ludwigs XIV. so übel abgeführt wird? „ I n u n s e r n Z e i t e n i s t e s n i c h t m e h r e r l a u b t , d e m P l u t a r c h n a c h z u a h m e n . “ — O, sehr erlaubt, H e r r v o n V * * * , sehr erlaubt! Die

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ganze Welt wird sich Ihnen dafür verbunden halten, wenn sie unser Plutarch seyn wollen. Die Sache stößt sich nur an einer einzigen Kleinigkeit — die Ihnen, so unaussprechlich auch ihre Selbstzufriedenheit ist, unmöglich verborgen geblieben seyn kan, wenn sie den Plutarch jemals so fleißig und so gut gelesen haben, wie ihn Henry IV. las. „Allein, woher (sagen Sie) sollte Plutarch getreue Nachrichten vom Privatleben des T h e s e u s und L y k u r g s genommen haben?“ Und daraus schliessen Sie — einer Logik zufolge, die Ihnen eigen ist, und ewig eigen bleiben möge! — daß er auch keine getreue Nachrichten von dem Privatleben des P e r i k l e s , des A l c i b i a d e s , des E p a m i n o n d a s , des P h o c i o n , der C a -

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t o n e n , des C ä s a r s , des P o m p e j u s , des B r u t u s , des A n t o n i u s , und so vieler andrer, deren Lebenszeit nicht so nahe an das fabelhafte Zeitalter der Griechischen und Römischen Geschichte grenzt, gehabt haben könne? Die Geschichte des Theseus ist mit Fabeln unterwebt, durch Fabeln verfälscht. Es ist die Geschichte eines Griechischen R o l a n d s oder C i d s . Plutarch gesteht es selbst offenherzig. Allein da er für Griechen schrieb, hielt er es der Mühe werth, so viel möglich, das Wahre aus dem Fabelhaften in der Geschichte eines so berühmten National-Helden heraus zu suchen. Gesetzt aber auch, er hätte in der Lebensbeschreibung solcher Helden, wie ein Theseus, ein Lykurgus, ein Romulus, ein Numa, nicht immer zuversichtliche Urkunden gehabt: wie wenig muß demjenigen daran gelegen seyn, ob das, was er selbst sagt, wahr oder falsch ist, der um dieses kleinen und unerheblichsten Theiles des Plutarchischen Werkes willen, das Ganze für eine Sammlung mehr angenehmer als glaubwürdiger Anekdoten ausgiebt? Was der H e r r v . V . dem Hrn. W** wohl zu Leide gethan haben mag? —

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höre ich einige unsrer Leser fragen. Nichts in der Welt. Ich bin seit fünf und zwanzig Jahren einer seiner Leser und Bewunderer. Ob ihm mein Daseyn bekannt ist, weiß ich nicht, und habe mich (meiner Gewohnheit nach) nie darum bekümmert. Was er dazu sagen würde, wenn dieser kleine Ausfall wider ihn zu seiner Wissenschaft käme, kan ich mir sehr gut vorstellen. Aber auch dies beunruhiget mich nicht. Warum sollte ich nicht so viel Recht haben, von einem Schriftsteller, der nur von sehr wenigen Gutes und von jedem grossen Mann vor ihm und neben ihm Böses gesprochen hat, meine Meynung eben so freymüthig zu sagen, als er selbst die seinige über Jedermann und über 10

Alles sagt? Seine Schriften wimmeln von Anekdoten, die keinen andern Gewährsmann haben, als ihn selbst; und von Urtheilen, die keinen andern Grund haben, als seine Einbildung oder seine Laune. Alle Augenblicke giebt er uns witzige Einfälle für Gründe, Sophismen für Vernunftschlüsse, Orakelsprüche für Beweise. Eine glückliche Gabe, alles zu sagen was er will, hat es ihm leicht gemacht, seine Leser zu überreden, wovon er will. Gelingt es mit dem ernsthaften Tone nicht, so macht er einen Spaß, und die Lacher sind auf seiner Seite. Es ist allerdings unläugbar, daß er viel, sehr viel zu der bessern Denkart beygetragen hat, die man in der grossen Welt täglich mehr Platz gewinnen sieht. Er hat

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dem Reiche des Aberglaubens Abbruch gethan, die Rechte der Menschheit verfochten, und den Königen freymüthige Wahrheiten gesagt. Aber, gestehen wir, daß er uns diese Vortheile theuer bezahlen gemacht hat! Die irrigen Sätze, von denen seine Schriften strotzen; die gefährliche Gabe, durch die Magie seiner Farben und die künstliche Vertheilung des Lichts und Schattens in seinen Gemählden, die wahre Gestalt der Gegenstände zu verfälschen; der verwegene Gebrauch, den er schon so lange und mit einer so hartnäckigen Beharrlichkeit von dieser Gabe macht; der Muthwille, womit er Beyfall und Verdammung ausspricht; die Zuversichtlichkeit, womit er Gegenstände einer mühsamen und langwierigen Untersuchung durch einen einzigen flüchtigen

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Blick hinlänglich ergründet zu haben glaubt; seine Fertigkeit, Bücher zu citiren, die er nie gelesen und Meynungen zu widerlegen, die er nie verstanden hat, und zwanzig andre Untugenden dieser Art, machen ihn zu einem verführerischen Schriftsteller für den grossen Haufen, von welchem die Meisten nur zum Zeitvertreibe lesen; die wenigsten hingegen Muße, Geduld, Verstand, oder Wissenschaft genug haben, zu prüfen, was sie lesen.

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Was ich hier von dem Philosophen von Ferney gesagt habe, ist ungefehr, was die ganze Welt von ihm denkt und spricht. — „Wozu brauchte es also gesagt zu werden?“ — Ich habe zwoo oder drey ganz gute Antworten auf diese Frage; aber sie sind so leicht zu errathen, daß es beleidigend für den Verstand der Leser wäre, wenn ich zu zweifeln scheinen würde, ob man sie errathen werde.

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Der Teutsche Merkur. Des vierten Bandes Drittes Stück. December 1773. Weimar Im Verlag der Gesellschaft.

¼Fortsetzung der kritischen Nachrichten vom teutschen Parnaß …½

Zusatz des Herausgebers. Wiewohl ich, meines Orts eben so wenig mit dem Hrn. Verfasser dieses Artikels über alles gleich denke als Er mit mir: so glaube ich, seine meisten Urtheile sind so gegründet und billig, daß wahre Kenner kein Bedenken finden werden, sie zu unterschreiben. Gleichwohl wünschte ich, daß es Ihm gefallen hätte, sich öfters statt des bescheiden tönen sollenden W i r und U n s des noch bescheidnern I c h zu bedienen.

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Mein im dritten Bande des Merkurs geäusertes Urtheil von den Werken des F r e y h e r r n v o n G e b l e r , und des Hrn. Legationsraths H e r m a n n in Weimar gereuet mich nicht, wiewohl diese Dichter noch unlängst in einer gelehrten Zeitung von einem ungenannten, vermuthlich in seinen Augen sehr grossen Geist als k l e i n e G e i s t e r tractiert und meine Wenigkeit wegen des denselben ertheilten Lobes ziemlich ungezogen angeschnarcht worden. Ich denke von den Dichtern und Schriftstellern überhaupt wie C i c e r o , der darum nicht weniger ein so grosser Geist war, als irgend ein Zeitungs-Kriticus und Journalist, weil er sagte: Par est, omnes omnia experiri, qui res magnas et magno opere expetendas concupiverunt. Quod si quem aut n a t u r a s u a aut i l l a p r æ s t a n t i s i n g e n i i v i s forte deficiet, aut m i n u s i n s t r u c t u s erit magnarum artium disciplinis : teneat tamen eum cursum q u e m p o t e r i t . Nam i n P o e t i s , non H o m e r o soli locus est, aut A r c h i l o c h o , aut S o p h o c l i , aut P i n d a r o : sed horum vel s e c u n d i s , vel etiam infra secundos. Orat. ad. M. Brut. c. I.

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An Alcesten.

An M a d a m e K o c h den 17ten Februar 1774. Nein, länger länger kan ich nicht A l c e s t e , deinen Werth in meiner Brust verschließen! Das Herz ist voll, der Damm zerbricht, Der langverhaltne Strom muß endlich sich ergießen. Wenn Thränen dir zum Ruhm von jeder Wange fließen, Entzückung jedes Aug’ erfüllt; Wenn, holde Zaubrin, wie du willt 10

Die Seelen, die du lenkst, dir nachempfinden müßen; Wenn selbst der Neid, von deinem Glanz geblendt Und ausgelöscht, aus innerm Zwang bekennt D a ß d u A l c e s t e b i s t ; wenn jede schwarze Schlange Auf seinem Haupt bey deinem rührenden Unwiderstehlichen Gesange Entschlummert, und den Furien Die Geisseln aus den Händen fallen: Sollt’ ich allein von deinen Hörern allen, Ich, der soviel dir schuldig bin, allein

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Zu deinem Lobe sprachlos seyn? Nimm, Freundin, dieses Lied, die Sprache meines Herzens, Nimm die Ergießungen des wollustreichen Schmerzens Der unsre Seelen schmelzt, wenn du dein zweytes Ich Mit einem Tone rufst, den, wenn der Vorhang dich Verbirgt, wir lange noch tief in der Seele hören; Nimm jede dieser edeln Zähren In deren schönem Thau die Augen sich verklären Wenn dein bezaubernd W e i n e n i c h t Mit Engelstönen Trost in unsre Seele spricht;

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Nimm unser wallendes Entzücken,

An Alcesten

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Wenn wir so wahr, so unnachahmlich schön, Elysiums Glück in deinen Wonneblicken Und deiner schwebenden entzükten Stellung sehn; Nimm, da ich keine andre Gabe Die deiner würdig ist dir anzubieten habe, Die Wunder die du selbst gethan, O Nimm, Alceste, sie von mir zum Opfer an! Dir dank ich es, daß, wenn ich längst im Grabe Der Sorgen Ziel gefunden habe, Daß dann ein Abdruk noch von meinem Herzen lebt,

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Alceste dann noch lebt, und unsre Enkelinnen Der Tugend Reiz in ihr empfinden, liebgewinnen! Dir dank ich es, wenn dann in einer frommern Welt Der schönen Unschuld eine Thräne Auf deines Dichters Grab entfällt. Und wenn dereinst, s e y w i e A l c e s t e , Der Segen ist, der jede Braut Zur Gattin weyht, so ists, ich sag’ es laut, So ists dein Werk! Durch dich entstand das Beste Was je mein Genius erschuf.

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Dich hören, Freundin, war Beruf, Dich sehn, Begeisterung! — Und wißt es, künft’ge Töchter Von meinen Töchtern, wißts, ihr kommenden Geschlechter, Ihr Weisen und Ihr Guten, wißt: Sie war (was stets so selten ist) S i e w a r d a s w a s s i e s c h i e n ! — Ihr Anblik überraschte Des Kenners Geist; er sah was unterm Mond zu sehn Unglaublich ist — ein Weib, das den Göttinnen Der Phidiasse glich, von Wuchs und Bildung schön, Und, wie von aussen, schön von innen. Den keuschen Grazien war ihre Brust geweyht Ihr Aug’ ein Widerschein der innern Heiterkeit, Ihr Leben stets mit unbeflekter Ehre, Wie mit dem Gürtel der Cythere

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A n A l c e s t e n (Mitte Februar 1774)

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Ihr Leib, geschmükt. Der Künste Genius Und die Natur, in seltner Eintracht, hatten Den Bund gemacht, mit jedem Reiz in ihr Alcestens Tugenden zu gatten. Sie ist Alceste — ruffen wir Beym ersten Blick, bey ihren seelenvollen Accenten der Natur, bey jedem schönen Zug, Bey jeder Stellung! Niemals wollen Wir etwas anders sehn! Stets thut sie uns genug! 10

Wir fühlen es, sie ist Alceste! Dies ist ihr Ton! ihr Anstand dies! So muß sie seyn! So war sie ganz gewiß! O! Freundin! fahre fort, und sey die Beste Die Liebenswürdigste der Musentöchter! Sey Die Zierde deiner Kunst! Ersteige Den Gipfel, dem du nahst, und, immer größer, zeige Dir selbst dich immer gleich! Verzeyh Dem Neide, der dich haßt, weil du geliebt zu werden Zu sehr verdienst; und wenn du von der Erden

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Einst wiederkehrst in dein Elysium, So sieh dich, statt Admets, nach deinem Dichter um!

An Alcesten

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Der Teutsche Merkur vom Jahr 1774. Fünfter Band. Weimar, in Carl Ludolf Hoffmanns Verlag.

Der Teutsche Merkur. Des Fünften Bandes Erstes Stück. Jänner 1774. Weimar, bey Carl Ludolf Hoffmann.

Nachricht. Der T e u t s c h e M e r k u r besteht jährlich aus zwölf Stücken, jedes zu acht oder sieben Bogen in Octav, wovon alle Vierteljahre drey Stücke zugleich ausgegeben, und durch die Collecteurs an die Abonnenten abgeliefert werden. Jede Lieferung wird an die Collecteurs postfrey versandt. Die Liebhaber abonniren sich auf den ganzen Jahrgang durch Vorausbezahlung eines halben Louisd’or nach Empfang des ersten Quartals. Das Abonnement bleibt bis in die Mitte des Aprils offen. Der ganze Jahrgang des Merkurs liefert nach und nach 1) Auserlesene poetische Originalstücke.

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2) Gute Übersetzungen ausländischer noch unübersezter Meisterstücke. 3) Prosaische Original-Aufsätze über Gegenstände aus der Historie, Naturwissenschaft und Philosophie des Lebens, in verschiednen Arten der Composition. 4) Alles, was der Endesbenannte Herausgeber des Merkurs künftig in Prosa oder Versen publiciren wird, und besonders auch 5) Miscellanien über allerley interessante literarische und andre Gegenstände. 6) Ausführliche Beurtheilungen von Werken, welche wegen ihres Einflusses auf den National-Geschmack, oder wegen des Vortheils, der den Wis-

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senschaften durch sie zuwächst, vorzüglich wichtig sind. 7) Fortsetzung der angefangenen Beyträge zur Geschichte der Menschheit, aus den Annalen der Teutschen. 8) Zusammenhangende kritische Nachrichten von dem gegenwärtigen Zustande der schönen Literatur in Teutschland. 9) Erzählungen und Anekdoten. 10) Nachricht von neuen Erfindungen. 11) Kurze Anzeigen und Beurtheilungen neuer teutscher Schriften aus allen Fächern. 12) Auszug der merkwürdigsten Staatsbegebenheiten der Zeit, worinn wir leben.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1774)

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13) Allerley gelehrte Anzeigen. Alle diejenigen, welche poetische oder prosaische Aufsätze postfrey an d i e E x p e d i t i o n d e s T e u t s c h e n M e r k u r s einsenden wollen, sollen solche entweder in den Merkur eingerückt, oder zu Ende des nächsten Quartals wenigstens eine kurze Antwort finden; zu welchem Ende sie ersucht werden, sich mit irgend einem erdichteten Namen zu unterzeichnen. Man kann sich, mittelst Vorausbezahlung einer halben Pistole, auf den ganzen Jahrgang bis zu Ende der nächsten Leipziger Ostermesse bey nachbemerkten Herren und Freunden, und, beliebigen Falles, auch in allen Buchhandlun10

gen abonniren. Man hoffet, daß die Herren Abonnenten die Billigkeit der bey einer Unternehmung dieser Art unentbehrlichen Vorausbezahlung von selbst anerkennen, und sich also solche nicht entgegen seyn lassen werden. Die Herren Collecteurs aber werden höflichst ersucht, die Gelder an das neben dem Namen eines Jeden bemerkte Comptoir zu übermachen. Wieland.

Nachricht

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Nahmen der Herren Collecteurs für den Teutschen Merkur. A a c h e n . Hr. J. D. Hasselbach. Comptoir F r a n k f u r t h a m M a y n . A l t e n b u r g . Hr. Prof. Lorenz. Compt. W e i m a r . A l t o n a . Frau Dokt. Unzerin. Compt. H a m b u r g . A m s t e r d a m . Hr. Arend Dietrich Sellschopp, Buchhändler. Compt. Hamburg. A n s p a c h . Hr. Sekretär, Baumgärtner. Compt. A u g s b u r g . A u g s b u r g . Hr. Buchhändler, Tobias Lotter. Compt. A u g s b u r g . A u r i c h . Hr. Rath Wenkebach. Compt. H a m b u r g .

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B a s e l . Hr. Christian v. Mechel. Compt. A u g s b u r g . B a y r e u t h . Hr. Professor, Wanderer. Compt. W e i m a r . B e r l i n . Hr. Buchhändler, Mylius. Compt. B e r l i n . — Hr. Referendarius, Glave. Compt. B e r l i n . B o n n . Hr. Schmith. Compt. F r a n k f u r t h a m M a y n . B r a u n s c h w e i g . Die Hochfürstliche Waysenhaus-Buchhandlung. Compt. Hanover. B r e m e n . Hr. Ingenieur-Lieutenant, Schilling. Compt. H a m b u r g . B r e s l a u . Hr. Hofkammerrath, Meergraf. Compt. B e r l i n . B ü z o w . Hr. Professor, Martini. Compt. B e r l i n .

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C a r l s r u h e . Hr. Geh. Hofrath, Ring. Compt. A u g s b u r g . C a s s e l . Hr. Candidat, Wigand. Compt. W e i m a r . C l e v e . Hr. Konrektor Maas. — Hr. Buchhändl. Bärstecher.

Compt. F r a n k f u r t h a m M a y n .

C o l b e r g . Hr. Rektor, Knaisel. Compt. B e r l i n . C o p e n h a g e n . Hr. Justizrath und Professor Schlegel. Compt. H a m b u r g . D e s s a u . Hr. Prinzenhofmeister, Berisch. Compt. W e i m a r . D r e s d e n . Hr. Sekretär, Ossenfelder. Compt. W e i m a r . D ü s s e l d o r f . Hr. Hofkammerrath, Jacobi. Compt. F r a n k f u r t h a m Mayn. E i n b e c k . Hr. Rektor Crome. Compt. H a n o v e r .

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1774)

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E i s e n a c h . Hr. Sekretär Röder. Compt. W e i m a r . E l l r i c h . Hr. Kriegsrath Barkhausen. Compt. W e i m a r . E m b d e n . Hr. Rektor Decker. Compt. H a m b u r g . E r f u r t h . Hr. Hofrath Meusel. Compt. W e i m a r . E r l a n g e n . Hr. Professor Breyer. Compt. A u g s b u r g . F l e n s b u r g . Hr. Buchhändler Jessen. Compt. H a m b u r g . Frankfurth

Hr. Joh. Casp. Bölling.

am Mayn.

Hr. Buchhändler, H. L. Brönner.

Compt. F r a n k f u r t h .

F r a n k f u r t h a n d e r O d e r . Hr. Professor Zobel. Compt. B e r l i n . 10

G ö t t i n g e n . Die Königl. und Kurfürstl. Postamts-Zeitungs-Expedition. Compt. H a n o v e r . G o t h a . Hr. Archivarius Gotter. Compt. W e i m a r . G r e i f s w a l d e . Hr. Professor Möller. Compt. B e r l i n . H a l b e r s t a d t . Hr. Kanonikus Jacobi. Compt. W e i m a r . H a l l e . Hr. Professor Schütz. Compt. W e i m a r .

— Hr. Lieutenant von Hagen. — Hr. Gebauers Wittib und Joh. Jac. Gebauer.

H a m b u r g . Das königl. Addreß- und ZeitungsComptoir. Compt. H a m b u r g .

— Hr. Buchhändler Bode. 20

— Hr. Tillemann. H a n a u . Hr. Superintendent Stockhausen. Compt. F r a n k f u r t h a m M a y n . H a n o v e r . Hr. Hofapothecker Andreä. Compt. H a n o v e r . H a v e l b e r g . Hr. Rektor Litzmann. Compt. B e r l i n . H e i l b r o n n . Hr. Rektor Schlegel. Compt. A u g s b . H i l d e s h e i m . Hr. Direktor Frömmichen. Compt. H a n o v e r . J a u e r . Hr. Rektor Flögel. Compt. L e i p z i g . J e n a . Hr. Professor Seybold. Compt. W e i m a r . I l m e n a u . Hr. Doktor Scherf. Compt. W e i m a r . I n n s p r u c k . Hr. Archivarius Roschmann. Compt. A u g s b u r g .

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K i e l . Hr. Professor Hirschfeld. Compt. H a m b u r g . K ö n i g s b e r g . Hr. Buchhändler Kanter. Compt. H a m b u r g . L e i p z i g . Hr. Weidmanns Erben und Reich. Compt. L e i p z i g . L e m g o . Hr. Candidat Benzler. Compt. H a n o v e r . L i e g n i t z . Hr. Professor Zorn. Compt. L e i p z i g . L i n g e n . Hr. Professor Withof. Compt. H a n o v e r .

Nahmen der Herren Collecteurs

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L ü b e c k . Hr. Subrektor Behn. Compt. H a m b u r g . L ü n e b u r g . Hr. Professor Gebhardi. — Hr. Buchhändler L. C. Michaelsen.

Compt. H a m b u r g .

M a g d e b u r g . Hr. Hofrath Köpken. Compt. L e i p z . M a n n h e i m . Hr. Hauptmann Dobel. — Hr. Buchhändler Schwan.

Compt. F r a n k f u r t h a m M a y n .

M a r b u r g . Hr. Doktor Schrödter. Compt. F r f . a m M a y n . M a y n z . Hr. Daniel Dümont. — Hr. Hofmeister Büeler.

Compt. F r f . a m M a y n .

M e i ß e n . Hr. Rektor Gottleber. Compt. L e i p z i g .

10

M e m m i n g e n . Hr. Buchhändler Jac. Meyer. Compt. A u g s b u r g . M e r s e b u r g . Hr. Sekretär Schwope. Compt. W e i m a r . M ü n s t e r . Hr. Buchhändler Perrenon. Compt. H a n n o v e r . N a s s e n h u b e n b e y D a n z i g . Hr. Pastor Turner. Compt. B e r l i n . N a u m b u r g . Hr. Advokat Kayser. Compt. W e i m a r . N ö r d l i n g e n . Hr. Hofrath von Tröltsch. Compt. A u g s b u r g . N ü r n b e r g , Hr. Professor Lederer. Compt. A u g s b u r g . Ö t t i n g e n . Hr. Hofrath Lang. Compt. A u g s b u r g . O r a n i e n b u r g . Hr. Postmeister Rapin Thoyras. Compt. B e r l i n . O s n a b r ü c k . Hr. Kanzley-Sekretär Lodtmann. Compt. H a n o v e r .

20

P a t e r b o r n . Hr. Leibmedikus Rödder. Compt. H a n o v e r . P a p p e n h e i m . Hr. KanzleyDirektor Donner. Compt. A u g s b u r g . P i r n a . Hr. Konrektor Leßing. Compt. L e i p z i g . P r a g . Hr. Professor Seibt. Compt. L e i p z i g . P r e n z l o w . Hr. Candidat Seckt. Compt. B e r l i n . Q u e d l i n b u r g . Hr. Rektor Stroth. Compt. L e i p z . Q u e r f u r t h . Hr. Konrektor Tack. Compt. W e i m a r . R i g a . Hr. Buchhändler Hartknoch. Compt. H a m b . R o s t o c k . Hr. Buchhändler Joh. Christian Koppe. Compt. B e r l i n . S a g a n . Hr. Lieutenant von Pannewitz. Compt. B e r l i n . S c h l e u s i n g e n . Hr. Rektor Walch. Compt. W e i m a r . S c h w e i n f u r t h . Hr. Rektor Raßdörfer. Compt. W e i m a r . Solitude bey S t u t t g a r d . Hr. D. und Hofmedikus Storr. Compt. Augsburg. S o n d e r s h a u s e n . Hr. Hofrath von Kaufberg. Compt. W e i m a r .

150

D e r T e u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1774)

30

S t a r r g a r d . Hr. Professor Fromm. — Hr. Rektor und Prof. Tiefensee.

Compt. B e r l i n .

A l t S t e t t i n . Hr. D. und Professor Lieberkühn. Compt. B e r l i n . S t e i n f u r t h . Hr. Hofrath Withof. Compt. H a n o v e r . S t r a s b u r g . Hr. Buchhändler Bauer und Comp. Compt. F r a n k f . a m Mayn. S ö s t . Hr. Apothecker Held. Compt. F r a n k f . a m M a y n . W a r s c h a u . Hr. Kanonikus und Bibliothekar Janotzky. Compt. L e i p z i g . W e i l b u r g . Hr. Rektor Ostertag. Compt. F r f . a m M a y n . 10

W e i m a r . Hr. Bertuch. Compt. W e i m a r . W i e n . Das Kayserl. RealZeitungsComptoir. Compt. A u g s b u r g . W i n d s h e i m . Hr. Rektor Diez. Compt. F r a n k f . a m M a y n . W i s m a r . Hr. Professor Denso. Compt. H a m b u r g . W o n s i e d e l . Hr. Rektor Lang. Compt. W e i m a r . W o r m s . Hr. Rektor Wiener. Compt. F r a n k f . a m M a y n . W e t z l a r . Hr. Hofrath Brandt. Compt. F r a n k f . a m M a y n . Z e i t z . Hr. Kantor Thieme. Compt. W e i m a r . Z e l l e . Hr. Schatzsekretär Jacobi. Compt. H a n o v e r . Z e r b s t . Hr. Professor Huch. Compt. L e i p z i g .

20

Z w e y b r ü c k e n . Hr. Prof. Croll. Compt. F r a n k f . a m M a y n .

HauptComptoirs. A u g s b u r g . Hr. Jakob Hillenbrands Erben. B e r l i n . Hr. Buchhändler Mylius. F r a n k f . a m M a y n . Hr. Joh. Casp. Bölling. H a m b u r g . Das Kayserl. Privilegirte Addreß- und ZeitungsComptoir. H a n o v e r . Hr. Hofapothecker Andreä. L e i p z i g . Weidmanns Erben und Reich. W e i m a r . Hofbuchhändler Hoffmann.

Nahmen der Herren Collecteurs

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Neujahrswunsch. Zum neuen Jahre Wünsche machen Soll euch M e r k u r ? Wohlan, es sey! Die Mode will’s. Sie zu belachen Steht zwar dem weisen Manne frey; Nur daß er nicht zu weise sey Sie lachend gleichwohl mit zu machen! Zwar ist, ich sag’ es ohne Scheu, Von allen wesenlosen Sachen Womit wir bis in Charons Nachen

10

Uns unterm Mond zu schaffen machen, Nichts wesenlosers als ein Wunsch. Und wenn bey ihrem Nektar-Punsch Die Götter unsrer Wünsche lachen, So haben sie, beym Castor! recht. Du schöne Harmonie der Sphären, Wo bliebst du, würde Zevs dem irdischen Geschlecht Nur Einen Wunsch auf jeden Kopf gewähren? Nur Einen Wunsch — (wenn’s euch gefällt Fragt E u l e r n oder P a t e r H e l l e n ! )

20

Mehr braucht es nicht, um eine Welt Wie unsre, auf den Kopf zu stellen. Zum Glück für uns und für die Welt Fällt aller unsrer Wünsche wegen Kein Flökchen Schnee, kein Tröpfchen Regen Mehr oder weniger als fällt, Wenn wir uns auf die Ohren legen, Und lassen alles sich bewegen Wie es dem lieben Gott gefällt.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1774)

//

Der Mensch hat seinen Kreis zum Würken, Und weh uns, wenn wir, statt zu thun Was unsers Thuns ist, gleich den Türken Auf einem Sopha gähnend ruhn, Und hoffen, während daß wir zu den Engeln lachen, Werd’ etwan ein G e n i e d e r L a m p e rüstig seyn Und unsre Arbeit für uns machen. Verlaßt euch drauf! Er wird so gütig seyn Und seiner Wege gehn. Gerad’ in diesem Falle 10

Schlägt, glaubet mir, das Sprüchwort ein: Für sich ein Jeder, Gott für alle! Bey allem dem gesteh ich ein, Von allen unsern Albernheiten Hat diese Wünschesucht am mindsten zu bedeuten. Was man sich wünschet hoft man gern, Und ist die Hofnung nicht des Lebens Angelstern? Noch mehr, ein Wunsch, den wir verschenken, Ist eine Art Wohlthätigkeit, Falls euch beliebt hinzuzudenken,

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Der Wünscher wäre sehr bereit, Wenn er der grosse Mogol wäre, Noch mehr zu thun; — und kurz und gut, Ein frommer Wunsch bey warmen Blut Macht immer unserm Herzen Ehre. Wohlan! was wünsch’ ich dann — an diesem ersten Tag Des Jahres, da man zählen mag Von unsers Herrn Gepurt Eintausend Siebenhundert U n d v i e r u n d S i e b e n z i g , — der werthen Christenheit? Ich sehe wohl, die Leutchen wundert,

30

Wie dies sich enden wird? — Verzeyht Wenn es zu lange währt! Ich lieb’ in allen Sachen Den nächsten Weg, wiewohl er zweymal oft so weit Als jener ist, den andre Wandrer machen.

Neujahrswunsch

1—61

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Ein guter Weg ist einen Umweg werth, Und minder ist oft mehr, wie L e s s i n g s Prinz uns lehrt. Ihr kennt ja, denk ich, die Töchter Schah Bambos, die Colifischetten, Die Schatulliösen, Dindonetten, Und Blaffardinen, und wie die Chronik weiter sie nennt, Die, einem Orakel zu folge, die ganze Welt durchrennt, Vom Indus bis ins Land der Negern und Mulatten, Zu suchen — und was? Natürlich, w a s s i e n i c h t h a t t e n . Nun, däucht mich wäre dies ein Wunsch für jedermann: Was einer nicht hat, ist just was man ihm wünschen kan.

10

So wünsch ich denn uns allen mit einander Zufriedenheit, der Güter höchstes Gut! Den Galliern, Geduld, den Polen, frohen Muth, Den Teutschen, attisch Salz, den Britten, leichtes Blut, Europen, keinen Alexander, Und Alexandern, eine Welt, Nur weit genug von der worauf wir Armen schleichen! Den Zwölfen, deren Hand der Parzen Scheere hält, Sich stets in Güte zu vergleichen; Dem teutschen Bunde, keinen Feind,

20

Dem besten Kayser, Seinesgleichen, Und jedem Fürsten, einen Freund; Den Philosophen, etwas Zweifel An eigener Unfehlbarkeit; Der Priesterschaft viel Duldsamkeit, (Und den Verdammungsgeist, zum T**l !) Den Schulcathedern, Mutterwiz, Den Klöstern keine F r a t i c e l l i ; * ) Und auf Sanct Peters heil’gen Sitz Stets einen Pabst wie G a n g a n e l l i . Den Dichtern, viel Philosophie, *)

S. B a y l e unter diesem Artikel.

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Und sehr viel Schlaf den Dichterlingen, Und, heilt nichts ihre Phrenesie, Die Kunst, in sich hinein zu singen. *) Den Kritikern, ein kleines Ohr, Das desto feiner hört und richtet; Und Eicheln g’nug dem Bardenchor Das sich und uns zu Gothen dichtet. Den Sängern, mehr Gefühl als Kunst, Den Mahlern, reitzende Modele; 10

Und keiner Lais, Fürstengunst, Und jeder Schönen, eine Seele. Den Großvezieren, Menschlichkeit, Viel Freyheit, den Kosmopoliten; Dem Höfling, niemals lange Zeit, Und ach! Verstand den A b d e r i t e n ! Und jedem Autor, einen Kopf, Und Langsamkeit, den Recensenten, Und seinen Deckel jedem Topf, Und dem Merkur viel Abonenten!

20

W.

*)

Wie der Flötenspieler von Alabandus, qui intus canebat. C i c e r o .

Neujahrswunsch

62—112

155

Die Abderiten. Eine sehr wahrscheinliche Geschichte. Vorbericht des Verfassers. Diejenigen, denen etwan daran gelegen seyn möchte, sich der Wahrheit der bey dieser Geschichte zum Grunde liegenden Thatsachen und characteristischen Züge zu vergewissern, können, wofern sie nicht Lust haben, solche in den Quellen selbst, nemlich in den Werken eines Herodots, Diogenes Laertius, Athenäus, Älians, Plutarchs, Lucians, Paläphatus, Cicero, Horaz, Petron, Juvenal, Valerius, Gellius, Solinus, u. a. aufzusuchen, sich aus den Artikeln A b d e r a und D e m o k r i t u s in dem Baylischen Wörterbuche überzeugen, daß

10

diese Abderiten nicht unter die wahren Geschichten im Geschmacke der Lucianischen gehören. Sowohl die Abderiten als ihr gelehrter Mitbürger Demokritus erscheinen hier in ihrem wahren Lichte; und wiewohl der Verfasser, bey Ausfüllung der Lücken, Aufklärung der dunkeln Stellen, Hebung der würklichen und Vereinigung der scheinbaren Widersprüche, die man in den vorbemeldten Schriftstellern findet, nach unbekannten Nachrichten gearbeitet zu haben scheint: so werden doch scharfsinnige Leser gewahr werden, daß er in allem diesem einem Gewährsmanne gefolget ist, dessen Ansehen alle Äliane und Athenäen zu Boden wiegt, und gegen dessen einzelne Stimme das Zeugnis einer ganzen Welt, und die Entscheidung aller Amphictyonen, Areopagiten, Decemvirn, Centumvirn und Ducentumvirn, auch Doctoren, Magistern und Baccalauren, samt und sonders ohne Würkung ist, nemlich, der Natur selbst. Sollte man dieses Werklein als einen, wiewohl geringen Beytrag zur Geschichte des menschlichen Verstandes ansehen wollen, so läßt sichs der Verfasser sehr wohl gefallen; glaubt aber, daß es dann weder mehr noch weniger sey, als was alle Geschichtbücher seyn müssen, wenn sie nicht mit der schönen Melusine, und dem kleinen König Laurin, dem Gezwerg, in Eine Classe gestellt seyn wollen.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1774)

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Sollte aber jemand auf die Gedanken kommen, daß diese A b d e r i t e n wohl eine Art von Satyre auf kleine Republiken seyn könnten: so lassen wir ihm unverhalten, daß es wenigstens des Verfassers Meynung nicht gewesen, eine Satyre zu schreiben; es wäre dann, daß man diesem Wort eine Bedeutung geben wollte, vermöge welcher jede Geschichte zur Satyre würde. Wessen Schuld ist es, wenn die A b d e r i t e n lächerlich sind? Gewiß des Autors nicht; denn es hieng nicht von ihm ab, zu machen, daß die A b d e r i t e n keine A b d e r i t e n seyn sollten; und wer deßwegen über ihn grißgramen wollte, würde mit gleichem Recht über einen Mahler zürnen, der den Homerischen Ther10

sites häßlich gemahlt hätte. Ein Mahler kann Ideale, Bildnisse, oder Grotesken machen, je nachdem es ihm gefällt; aber Ideale und Grotesken sind keine Bildnisse; und wenn es sich zutrift, daß sie jemanden ähnlich sehen, so hat vermuthlich Natur oder Zufall die Schuld daran. Es ist schwer, sich in Gedanken zu einem Grade von Schönheit zu erheben, der das schönste in der Natur merklich übertreffe; aber vielleicht ganz unmöglich, eine Karrikatur zu erfinden, die keinem Geschöpfe Gottes ähnlich sehe.

D i e A b d e r i t e n . ¼…½ V o r b e r i c h t

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Die Abderiten. 1. Das Alterthum der Stadt A b d e r a in Thracien, verliert sich in der fabelhaften Heldenzeit. Auch kann es uns sehr gleichgültig seyn, ob sie ihren Namen von Abdera, einer Schwester des berüchtigten Diomedes, Königs der Bistorischen Thrazier *) — der ein so großer Liebhaber von Pferden war, und deren so viel hielt, daß er und sein Land endlich von seinen Pferden aufgefressen wurde **) — oder von Abderus, einem Stallmeister dieses Königs, oder von Abderus, dem Liebling des Herkules, empfangen habe. Abdera war, einige Jahrhundert nach ihrer ersten Gründung, vor Alter wie-

10

der zusammen gefallen, als Timesius von Klazomene, um die Zeit der ein und dreyßigsten Olympiade, unternahm, sie wieder aufzubauen. Die wilden Thracier, welche keine Städte in ihrer Nachbarschaft aufkommen lassen wollten, liessen ihm nicht Zeit, die Früchte seiner Arbeit zu geniessen ***); Sie trieben ihn wieder fort, und Abdera blieb unbewohnt und unvollendet, bis, ungefehr um das Ende der Olympiade 59, die Einwohner der Jonischen Stadt Teos — weil sie keine Lust hatten sich dem Eroberer Cyrus zu unterwerfen — zu Schiffe giengen, nach Thrazien segelten, und da sie, in einer der fruchtbarsten Gegenden desselben, dieses Abdera schon gebauet fanden, sich dessen als einer verlassenen und niemanden zugehörigen Sache bemächtigten, auch sich

20

darinnen gegen die Thrazischen Barbaren so gut behaupteten, daß sie und ihre Nachkommen von nun an Abderiten hiessen, und einen kleinen Freystaat ausmachten, der (wie die meisten griechischen Städte) ein zweydeutig Mittelding von Demokratie und Aristokratie war, und regiert wurde, — wie kleine Republiken von jeher regiert worden sind. *)

Solin. Polyhist. c. x.

**)

Palaephat. de Incredib. erklärt auf diese Weise die Fabel, daß dieser Fürst seine Pferde mit

Menschenfleisch gefüttert habe, und ihnen endlich selbst vom Herkules zur Speise vorgeworfen worden sey. ***)

Herodot. I. 43.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1774)

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„Wozu (rufen unsre Leser) diese nichtsbedeutende Deduction des Ursprungs und der Schicksale des Städchens Abdera in Thrazien? Was kümmert uns Abdera? Was liegt uns daran, zu wissen, oder nicht zu wissen, wann, wie, wo, warum, von wem, und zu was Ende eine Stadt, welche längst nicht mehr in der Welt ist, erbaut worden seyn mag?“ Geduld, günstige Leser! Geduld, bis wir, eh ich weiter fort erzähle, über unsre Bedingungen einig sind. Verhüte der Himmel, daß man euch zumuthen sollte, die Abderiten zu lesen, wenn ihr gerade was nöthigeres zu thun, oder was besseres zu lesen habt! — „Ich muß auf eine Predigt studiren — Ich habe 10

Kranke zu besuchen. — Ich hab’ ein Gutachten, einen Bescheid, eine Leuterung, einen unterthänigsten Bericht zu machen. — Ich muß recensiren. — Mir fehlen noch sechzehn Bogen an den vier Alphabeten, die ich meinem Verleger binnen acht Tagen liefern muß. — Ich hab’ ein Joch Ochsen gekauft. — Ich hab’ ein Weib genommen —“ In Gottes Nahmen! Studiert, besucht, referirt, recensirt, übersezt, kauft und freyet! — Beschäftigte Leser sind selten gute Leser. Bald gefällt ihnen alles, bald nichts; bald verstehn sie uns halb, bald gar nicht, bald (was das schlimmste ist) unrecht. Wer mit Vergnügen, mit Nutzen lesen will, muß gerade sonst nichts anders zu thun noch zu denken haben. Und wenn ihr euch in diesem Falle befindet, warum solltet ihr nicht zwo oder drey

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Minuten daran wenden wollen, etwas zu wissen, was einem Salmasius, einem Barnes, einem Bayle, — und, um aufrichtig zu seyn, mir selbst, weil mir nicht zu rechter Zeit einfiel, den Artikel Abdera im Bayle nachzuschlagen — eben so viele Stunden gekostet hat? Würdet ihr mir doch geduldig zugehört haben, wenn ich euch die Historie vom König in Böhmenland, der sieben Schlösser hatte *), oder die Geschichte der drey Calender **) zu erzählen angefangen hätte. Die Abderiten also, hätten (dem zu folge, was wir bereits von ihnen — „Ohne Unterbrechung, wer waren doch die drey Calender, von denen eben izt die Rede war?“

30

Verzeihen Sie mir, Madame, — die Rede war von keinen Calendern; von den Abderiten sprachen wir. Aber wenn es ihnen nun just gemüthlich seyn sollte, Geschichten von Calendern (welche, im Vorbeygehen gesagt, mit Calender*) **)

T r i s t r a m S h a n d y . Vol. VIII. p. 60. G o l d . S p i e g e l . III. S. 80.

D i e A b d e r i t e n . 1 . ¼Kapitel½

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geschichten nicht verwechselt werden müssen:) zu lesen, so werden Sie in T a u s e n d u n d e i n e r N a c h t , T a u s e n d u n d e i n e m T a g , und T a u s e n d u n d e i n e r V i e r t e l s t u n d e , deren sehr viele finden. Freylich kann ich Ihnen nicht versprechen, daß sie durchgehends so angenehm, so erbaulich, so natürlich und so wunderbar, als die Geschichte der drey Calender, die ich in petto behalte, seyn werden; aber, wie wollen Sie auch, daß man Ihnen alles erzählen sollte, was man erzählen könnte? oder wie kann man wenigstens alles auf einmal erzählen? Die Abderiten also, hätten (dem zufolge, was bereits von ihnen gemeldet worden ist,) ein so feines, lebhaftes, witziges und kluges Völkchen seyn sollen,

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als jemals eines unter der Sonne gelebt hat. — „Und warum dies?“ (Diese Frage wird uns nicht von den Gelehrten unter unsern Lesern gemacht. Aber, wer wollte auch Bücher schreiben, wenn alle Leser so gelehrt wären, als der Autor? Die Frage: W a r u m d i e s ? ist allemal eine sehr vernünftige Frage. Sie verdient, wo die Rede von menschlichen Dingen ist, allemal eine Antwort; und wehe dem, der verlegen oder beschämt, oder ungehalten wird, wenn er sich auf w a r u m d i e s vernehmen lassen soll. Wir unsers Orts würden die Antwort ungefodert gegeben haben, wenn die Leser nicht so hastig gewesen wären. Hier ist sie! Teos war eine Atheniensische Colonie, von den zwölfen oder dreyzehn eine,

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welche unter Anführung des Neleus, Kodrus Sohns, in Jonien gepflanzt wurden. Die Athenienser waren von jeher ein muntres und geistreiches Volk, und sind es noch, wie man sagt. Athenienser, nach Jonien versezt, gewannen, unter dem schönen Himmel, der dieses von der Natur verzärtelte Land umfließt, wie Burgunder-Reben durch Verpflanzung aufs Vorgebürge. Vor allen andern Völkern des Erdbodens waren die Jonischen Griechen die Günstlinge der Musen. Homerus selbst war, der größten Wahrscheinlichkeit nach, ein Jonier. Die Erotischen Gesänge, die Milesischen Fabeln (die Vorbilder unsrer Novellen und Romanen) erkennen Jonien für ihr Vaterland. Der Horaz der Griechen, Alcäus, die glühende Sappho, Anakreon, der Sänger — Aspasia, die Lehrerin — Apelles, der Mahler, — d e r G r a z i e n waren aus Jonien; Anakreon sogar ein geborner Tejer. Dieser lezte mochte etwan ein Jüngling von achtzehn Jahren seyn, (wenn anders Barnes recht gerechnet hat,) als seine Mitbürger nach Abdera zogen. Er zog mit ihnen; und zum Beweise, daß er seine den

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Liebesgöttern geweyhte Leyer nicht zurück gelassen, sang er dort das Lied a n e i n t h r a z i s c h e s M ä d c h e n , (in Barnesens Ausgabe das Ein und sechzigste,) worinn ein gewisser wilder Thrazischer Ton mit der Jonischen Grazie, die seinen Liedern eigen ist, auf eine ganz besondere Art absticht. Wer sollte nun nicht denken, die Tejer — in ihrem ersten Ursprung Athenienser — so lange Zeit in Jonien einheimisch — Mitbürger eines Anakreons — sollten auch in Thrazien den Charakter eines geistreichen Volkes behauptet haben? Allein (was auch die Ursache davon gewesen seyn mag,) das Gegentheil ist ausser Zweifel. Kaum wurden die Tejer zu Abderiten, so schlugen sie 10

aus der Art. Nicht daß sie ihre vormalige Lebhaftigkeit ganz verlohren, und sich in Schöpse verwandelt hätten, wie J u v e n a l sie beschuldigt *). Ihre Lebhaftigkeit nahm nur eine wunderliche Wendung; und ihre Einbildung gewann einen so grossen Vorsprung über ihre Vernunft, daß es dieser niemals wieder möglich war, sie einzuholen. Es mangelte den Abderiten nie an Einfällen; aber selten paßten ihre Einfälle auf die Gelegenheit, wo sie angebracht wurden, oder kamen erst, wenn die Gelegenheit vorbey war. Sie sprachen viel, aber immer ohne sich einen Augenblick zu bedenken, was sie sagen wollten, oder wie sie es sagen wollten. Die natürliche Folge hievon war, daß sie selten den Mund aufthaten, ohne etwas albernes zu sagen. Zum Unglück erstreckte sich

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diese schlimme Gewohnheit auch auf ihre Handlungen; denn gemeiniglich schlossen sie den Keficht erst, wenn der Vogel entflogen war. Dies zog ihnen den Vorwurf der Unbesonnenheit zu; aber die Erfahrung bewies, daß es ihnen nicht besser gieng, wenn sie sich besannen. Machten sie (welches ziemlich oft begegnete,) irgend einen sehr dummen Streich, so kam es immer daher, weil sie es gar zu gut machen wollten; und wenn sie in den Angelegenheiten ihres gemeinen Wesens recht lange und ernstliche Berathschlagungen hielten, so konnte man sicher darauf rechnen, daß sie unter allen möglichen Entschliessungen die schlechteste ergreifen würden. Sie wurden endlich zum Sprüchwort unter den Griechen. Ein Abderitischer Einfall, ein Abderiten-Stückchen

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war bey diesen ungefehr, was bey uns ein Schildbürger- oder bey den Helvetiern ein Lalleburger-Streich ist. Zum Exempel: Es fiel ihnen ein, daß eine Stadt wie Abdera billig auch einen schönen Brunnen haben müsse. Er sollte in die Mitte ihres grossen Marktplatzes gesezt werden, und zu Bestreitung der *)

I u u e n a l . Satyr. X. v. 50.

D i e A b d e r i t e n . 1 . ¼Kapitel½

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Kosten wurde eine neue Auflage gemacht. Sie liessen einen berühmten Bildhauer von Athen kommen, um eine Gruppe von Statuen zu verfertigen, welche den Gott des Meeres auf einem von vier Seepferden gezogenen Wagen, mit Nymphen, Tritonen und Delphinen umgeben, vorstellte. Die Seepferde und Delphinen sollten eine Menge Wassers aus ihren Nasen hervorspritzen. Aber wie alles fertig stund, fand sich, daß kaum Wasser genug da war, um die Nase eines einzigen Delphins zu befeuchten; und als man das Werk spielen lies, sah es nicht anders aus, als ob alle diese Seepferde und Delphinen den Schnuppen hätten. Um nicht ausgelacht zu werden, liessen sie also die ganze Gruppe in ihr Zeughaus bringen; und so oft man solche einem Fremden wies, bedauerte

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der Aufseher des Zeughauses sehr ernsthaft im Namen der löblichen Stadt Abdera, daß ein so herrliches Kunstwerk a u s K a r g h e i t d e r N a t u r unbrauchbar bleiben müsse. Ein andermal erhandelten sie eine sehr schöne Venus von Elfenbein, die man unter die Meisterstücke des Praxiteles zählte. Sie war ungefehr fünf Fuß hoch, und sollte auf einen Altar der Liebesgöttin gestellt werden. Als sie angelangt war, gerieth ganz Abdera in Entzücken über die Schönheit ihrer Venus; denn die Abderiten gaben sich für feine Kenner und schwärmerische Liebhaber der Künste aus. Sie ist zu schön, riefen sie einhellig, um an einem niedrigen Platz zu stehen. Ein Meisterstück, das der Stadt so viel Ehre macht, und

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so viel gekostet hat, kann nicht zu hoch aufgestellt werden; sie muß das Erste seyn, was den Fremden beym Eintritt in Abdera in die Augen fällt. Diesem glücklichen Gedanken zufolge stellten sie das kleine niedliche Bild auf einen Obelisk von achtzig Fuß; und wiewohl es nun unmöglich war, zu erkennen, ob es eine Venus oder eine Wäschernymphe vorstellen sollte, so nöthigten sie doch alle Fremden, zu gestehen, daß man nichts vollkommners sehen könne. Uns dünkt, diese Beyspiele beweisen schon mehr als zu viel, daß man den Abderiten kein Unrecht that, wenn man sie für warme Köpfe hielt. Aber wir zweifeln sehr, ob sich ein Zug denken läßt, der ihren Charakter stärker zeichnen könnte, als dieser: daß sie, (nach dem Zeugnis *) des J u s t i n u s ) die Frösche in und um ihre Stadt dergestalt überhand nehmen liessen, daß sie selbst endlich genöthiget waren, ihren quäkenden Mitbürgern Platz zu machen, und, bis zu Austrag der Sache, sich unter dem Schutze des Königs Kassander *)

I u s t i n . Epit. L. XV. c. 2.

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an einen dritten Ort zu begeben. Dies Unglück befiel die Abderiten nicht ungewarnt. Ein weiser Mann, der sich unter ihnen befand, sagte ihnen lange zuvor, daß es endlich so kommen würde. Der Fehler lag in der That blos an den Mitteln, wodurch sie dem Übel steuern wollten; wiewohl sie nie dazu gebracht werden konnten, dies einzusehen. Was ihnen gleichwohl die Augen hätte öffnen sollen, war, daß sie kaum etliche Monate von Abdera weggezogen waren, als eine Menge von Kranichen aus der Gegend von Geranien ankamen, und ihnen alle ihre Frösche so rein wegpuzten, daß eine Meile rings um Abdera nicht einer übrig blieb, der dem wiederkommenden Frühling Brekekej koaj 10

koaj entgegen gesungen hätte.)

2. Keine Luft ist so dicke, kein Volk so dumm, kein Ort so unberühmt, daß nicht zuweilen ein grosser Mann daraus hervorgehen sollte, sagt Juvenal. Pindarus und Epaminondas wurden in Böotien gebohren, Aristoteles zu Stagira, Cicero zu Arpinum, Virgil im Dörfchen Andes bey Mantua, Albertus Magnus zu Lauingen, Martin Luther zu Eisleben, Sixtus V. im Dorfe Montalto, in der Mark Ancona, und einer der besten Könige, die jemals gewesen sind, zu Pau in Bearn. Was Wunder, wenn auch Abdera, zufälliger Weise, die Ehre hatte, daß der größte Naturforscher des Alterthums, D e m o k r i t u s , in ihren Mauern 20

das Leben empfieng. Ich sehe nicht, wie ein Ort sich eines solchen Umstandes bedienen kann, um Ansprüche an den Ruhm eines grossen Mannes zu machen. Wer gebohren werden soll, muß irgendwo gebohren werden; das übrige nimmt die Natur auf sich; und ich zweifle sehr, ob ausser dem L y k u r g u s ein Gesetzgeber gewesen, der seine Fürsorge bis auf den Homvncvlvs ausgedehnt, und alle möglichen Vorkehrungen getroffen hätte, damit dem Staat wohlorganisirte, schöne und seelenvolle Kinder geliefert werden. Wir müssen gestehen, in dieser Rücksicht hatte S p a r t a einiges Recht, sich mit den Vorzügen seiner Bürger Ehre zu machen. Aber in Abdera, wie beynahe in der ganzen Welt, ließ man

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den Zufall und den Genius walten, — natale comes, qui temperat astrum.

D i e A b d e r i t e n . 2 . ¼Kapitel½

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und wenn ein P r o t a g o r a s * ) oder Demokritus aus ihrem Mittel entsprang, so konnten sie eben so wenig dazu, als Lykurgus und seine Gesetze, wenn in Sparta ein Dummkopf oder eine Memme gebohren wurde. Doch diese Nachläßigkeit, wiewohl sie eine dem Staat äusserst angelegene Sache betrift, möchte noch immer hingehen. Die Natur, wenn man sie nur ungestört arbeiten läßt, macht meistens alle weitere Fürsorge für das Gerathen ihrer Werke überflüßig. Aber wiewohl sie selten vergißt ihr Lieblingswerk mit allen den Fähigkeiten auszurüsten, aus welchen ein vollkommner Mensch gebildet werden könnte: so ist doch eben diese Ausbildung das, was sie der Kunst überläßt; und es bleibt also einem jeden Staate noch Gelegen-

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heit genug übrig, sich ein Recht an die Vorzüge und Verdienste seiner Mitbürger zu erwerben. Allein auch hierinnen liessen die Abderiten sehr viel an ihrer Klugheit zu vermissen übrig; und man hätte schwerlich einen Ort finden können, wo für die Bildung des innern Gefühls, des Verstandes und des Herzens der künftigen Bürger weniger gesorgt worden wäre. Die Bildung des Geschmacks, d. i. eines feinen, richtigen und g e l e h r t e n G e f ü h l s a l l e s S c h ö n e n , ist die beste Grundlage zu jener berühmten Sokratischen K a l o k a g a t h i e , oder innerlichen Schönheit und Güte der Seele, welche den liebenswürdigen, edelmüthigen, wohlthätigen und glücklichen Menschen macht. Und nichts ist geschickter, dieses richtige Gefühl des Schönen in uns

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zu bilden, als wenn alles, was wir von der Kindheit an sehen und hören, s c h ö n ist. In einer Stadt, wo die Künste der Musen in der größten Vollkommenheit getrieben werden, in einer schön gebauten und mit Meisterstücken der bildenden Künste angefüllten Stadt, in einem A t h e n , gebohren zu seyn, ist daher allerdings kein geringer Vortheil; und wenn die Athenienser zu Platons und Menanders Zeiten mehr Geschmack hatten, als tausend andere Völker, so hatten sie es unstreitig ihrem Vaterlande zu danken. Abdera führt in einem griechischen Sprüchworte (über dessen Verstand die Gelehrten, nach ihrer Gewohnheit, nicht einig sind,) den Beynahmen, womit F l o r e n z unter den Italiänischen Städten prangt. Wir haben schon bemerkt, daß die Abderiten Enthusiasten der schönen Künste waren; und in der That, zur Zeit ihres größten Flors, das ist eben damals, da sie auf einige Zeit den *)

Ein berühmter Sophiste von Abdera (etwas älter als Demokritus) welchen Cicero dem Hip-

pias, Prodikus, Gorgias, und also den größten Männern seiner Profeßion an die Seite sezt.

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Fröschen Platz machen mußten, war ihre Stadt voll prächtiger Gebäude, reich an Mahlereyen und Bildsäulen, mit einem schönen Theater und Musiksaal (Vdeion) versehen, kurz, ein kleines Athen — den Geschmack allein ausgenommen. Denn zum Unglück erstreckte sich die wunderliche Laune, von welcher wir oben gesprochen haben, auch auf ihre Begriffe vom Schönen und Anständigen. Latona, die Schutzgöttin ihrer Stadt, hatte den schlechtesten Tempel; Jason, der Anführer der Argonauten, hingegen (dessen goldenes Vlies sie zu besitzen vorgaben,) den prächtigsten. Ihr Rathhaus sah wie ein Magazin aus, und unmittelbar vor dem Saale, wo die Angelegenheiten des Staats erwogen 10

wurden, hatten alle Kräuter- Obst- und Eyerweiber von Abdera ihre Niederlage. Hingegen ruhte das Gymnasium, worinn sich ihre Jugend im Ringen und Fechten übte, auf einer dreyfachen Säulenreihe. Dieser Fechtsaal war mit lauter Schildereyen von Berathschlagungen, und mit Statuen in ruhigen oder tiefsinnigen Stellungen ausgeziert *). Hingegen stellte das Rathhaus den Vätern des Vaterlandes eine desto reizendre Augenweide dar. Denn wohin sie in dem Saal ihrer gewöhnlichen Sitzungen die Augen warfen, glänzten ihnen schöne nackende Kämpfer oder badende Dianen und schlafende Bacchanten entgegen; und Venus mit ihrem Buler im Netze Vulkans allen Einwohnern des Olympus zur Schau ausgestellt, (ein groses Stück, welches dem Sitz des Ar-

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chons gegen über hieng,) wurde den Fremden mit einem Triumphe gezeigt, der den ernsten Phocion selbst genöthiget hätte, zum erstenmal in seinem Leben zu lachen. Der König Lysimachus (sagten sie) habe ihnen sechs Städte und ein Gebiet von vielen Meilen dafür angeboten. Aber sie hätten sich nicht entschliessen können, ein so herrliches Stück hinzugeben, zumal da es gerade die Höhe und Breite habe, um eine ganze Seite der Rathsstube einzunehmen; und überdies habe einer ihrer Kunstrichter in einem weitläuftigen, mit grosser Gelehrsamkeit angefüllten Werke die Beziehung des allegorischen Sinnes dieser Schilderey auf den Platz, wo sie stehe, sehr scharfsinnig dargethan. Wir würden nicht fertig werden, wenn wir alle Unschicklichkeiten, wovon

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diese wundervolle Republik wimmelte, berühren wollten. In den ältesten Zeiten der Stadt war, vermuthlich einem O r p h i s c h e n Institut zufolge, der N o m o p h y l a x , oder Beschirmer der Gesetze, (eine der obersten Magistratsper*)

Was hier von den Abderiten gesagt wird, erzählen andre alte Schriftsteller von der Stadt

A l a b a n d u s . S. C œ l . R h o d o g . Lect. Ant. L. XXVI. cap. 25.

D i e A b d e r i t e n . 2 . ¼Kapitel½

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sonen) zugleich Vorsinger bey den gottesdienstlichen Chören, und Oberaufseher über das Musikwesen. Dies hatte damals seinen guten Grund. Aber mit der Länge der Zeit ändern sich die Gründe der Gesetze; diese werden alsdann durch buchstäbliche Erfüllung lächerlich, und müssen also nach den veränderten Umständen umgegossen werden. Aber eine solche Betrachtung kam nicht in Abderitische Köpfe. Es hatte sich öfters zugetragen, daß ein Nomophylax erwählt wurde, der zwar die Gesetze ganz leidlich beschirmte, aber entweder schlecht sang, oder gar nichts von der Musik verstund. Was hatten die Abderiten zu thun? Nach häufigen Berathschlagungen machten sie endlich die Verordnung: „Der beste Sänger aus Abdera sollte hinfür allezeit auch

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Nomophylax seyn;“ und dabey blieb es, so lang Abdera stund. Daß der Nomophylax und der Vorsänger zwo verschiedene Personen seyn könnten, war in zwanzig öffentlichen Berathschlagungen keiner Seele eingefallen. Es ist leicht zu erachten, daß die Musik, bey so bewandten Sachen, zu Abdera in grosser Achtung stehen mußte. Alles in dieser Stadt war musikalisch; alles sang, flötete und leyerte. Ihre Sittenlehre und Politik, ihre Theologie und Kosmologie war auf musikalische Grundsätze gebaut; ja, ihre Ärzte heilten sogar die Krankheiten durch Tonarten und Melodien. So weit scheint ihnen, was die Speculation betrift, das Ansehen der größten Weisen des Alterthums, eines Orpheus, Pythagoras und Plato, zu statten zu kommen. Aber in der

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Ausübung entfernten sie sich desto weiter von der Strenge dieser Philosophen. Plato verweiset alle sanften und weichlichen Tonarten aus seiner Republik; die Musik soll seinen Bürgern weder Freude noch Traurigkeit einflössen; er verbannet mit den Jonischen und Lydischen Harmonien *) alle Trink- und Liebes-Lieder; ja die Instrumente selbst scheinen ihm so wenig gleichgültig, daß er vielmehr die vielsaitigen, und die Lydische Flöte, als gefährliche Werkzeuge der Üppigkeit, ausmustert, und seinen Bürgern nur die Leyer und die Cithar, so wie den Hirten und dem Landvolke nur die Rohrpfeife gestattet. So strenge philosophirten die Abderiten nicht. Keine Tonart, kein Instrument war bey ihnen ausgeschlossen, und — einem sehr wahren, aber sehr oft von ihnen mißverstandnem Grundsatze zufolge — behaupteten sie: daß man alle ernsthaften Dinge lustig, und alle lustigen Sachen ernsthaft behandeln müsse. Die Ausdehnung dieser Maxime auf die Musik brachte bey ihnen die widersinnig*)

Plato de Republ. L. III. Tom. opp. II. p. 398.

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ste Würkungen hervor. Ihre gottesdienstlichen Gesänge klangen wie Gassenlieder; allein dafür konnte man nichts feyerlichers hören, als die Melodie ihrer Tänze. Die Musik zu einem Trauerspiel war gemeiniglich komisch; hingegen klangen ihre Kriegslieder so schwermüthig, daß sie sich nur für Leute schickten, die an den Galgen gehen. Diese seltsame Widersinnigkeit erstreckte sich über alle musikalische Künste und über alle Gegenstände des Geschmacks. Ein Leyerspieler wurde in Abdera nur dann für vortreflich gehalten, wenn er die Sayten so zu rühren wußte, daß man eine Flöte zu hören glaubte; und eine Sängerin, um bewundert zu werden, mußte gurgeln und trillern wie eine 10

Nachtigall. Die Abderiten hatten keinen Begriff davon, daß die Musik nur in so fern Musik ist, als sie das Herz rührt; sie waren wohl zufrieden, wenn nur ihre Ohren gekützelt, oder wenigstens mit nichtssagenden, aber vollen und oft abwechselnden Harmonien gestopft wurden. Mit einem Worte, bey aller ihrer Schwärmerey für die Künste hatten die Abderiten keinen Geschmack; und es ahnte ihnen gar nicht, daß das Schöne aus einem höhern Grunde schön sey, als weil es ihnen so beliebte. Dieses alles ungeachtet, konnte Natur, Zufall und gutes Glück mit zusammengesezten Kräften wohl einmal soviel zuwege bringen, daß ein gebohrner Abderite Menschenverstand bekam. Aber wenigstens muß man gestehen;

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wenn sich so etwas begab, so hatte Abdera nichts dabey geholfen. Denn ein Abderite war ordentlicher Weise nur in so fern klug als er kein Abderite war; — ein Umstand, der uns ohne Mühe begreiffen läßt, warum die Abderiten von demjenigen unter ihren Mitbürgern der ihnen in den Augen der Welt am meisten Ehre machte, immer am wenigsten hielten. Dies war keine ihrer gewöhnlichen Widersinnigkeiten. Sie hatten eine Ursache dazu, die so natürlich ist, daß es unbillig wäre, sie ihnen zum Vorwurf zu machen. Diese Ursache war nicht (wie einige sich einbilden) weil sie z. Ex. den Naturforscher Demokritus — lange zuvor eh er ein grosser Mann war — mit dem Kreisel spielen oder auf einem Grasplatze Burzelbäume machen gesehen hat-

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ten; Auch nicht: weil sie aus Neid oder Eifersucht nicht leiden konnten daß einer aus ihrem Mittel klüger seyn sollte als sie — denn — bey der untrüglichen Aufschrift der Pforte des Delphischen Tempels! — dies zu denken hatte kein einziger Abderite Weisheit genug, oder er würde von dem Augenblick an kein Abderite mehr gewesen seyn.

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Der wahre Grund, meine Freunde, warum die Abderiten aus ihrem Mitbürger Demokritus, nicht viel machten, war dieser: weil sie ihn für keinen weisen Mann hielten. „Warum das nicht?“ Weil sie nicht konnten. „Und warum konnten sie nicht?“ Weil sie sich alsdann selbst für Dummköpfe hätten halten müßen. Und dies zu thun waren sie gleichwohl nicht widersinnisch genug. Auch hätten sie eben so leicht auf dem Kopfe tanzen, oder den Mond mit den Zähnen fassen, oder den Zirckel quadrieren können, als einen Menschen,

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der in Allem ihr Gegenfüßler war, für einen weisen Mann zu halten. Dies folgt aus einer Eigenschaft der menschlichen Natur, die schon zu Adams Zeiten bemerkt worden seyn muß, und gleichwohl, da H e l v e t i u s daraus folgerte — was daraus folgt, vielen ganz neu vorkam; die seit dieser Zeit niemanden Neu ist, und dennoch im Leben alle Augenblicke vergessen wird.

3. D e m o k r i t u s — ich denke nicht, daß es Sie gereuen wird den Mann näher kennen zu lernen — Demokritus war ungefehr zwanzig Jahre alt, als er seinen Vater, einen der reichsten Bürger von Abdera, erbte. Anstatt nun darauf zu denken, wie er

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seinen Reichthum erhalten, oder vermehren, oder auf die angenehmste oder lächerlichste Art durchbringen wollte, entschloß er sich, solchen zum Mittel der Vervollkommung seiner Seele zu machen. („Ein Wort in ihr Ohr, Herr Autor —“ — Sie sollen befriediget werden: aber lassen Sie Sich nichts davon gegen diese Herren und Damen merken; Sie sehen doch, daß Sie der einzige sind, dem eine solche Frage einfällt.) „Nun, was soll dies Geflüster?“ — Um Vergebung, ich fahre fort. „Aber was sagten die Abderiten zum Entschlusse des jungen Demokritus?“ Die guten Leute hatten sich nie träumen lassen, daß die Seele ein anderes Interesse habe als der Magen, der Bauch und die übrigen integranten Theile des sichtbaren Menschen. Also mag ihnen freylich diese Grille ihres Lands-

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mannes wunderlich genug vorgekommen seyn. Allein, dies war nun gerade was er sich am wenigsten anfechten ließ. Er gieng seinen Weg fort, und brachte viele Jahre mit gelehrten Reisen durch alle festen Länder und Inseln zu, die man damals bereisen konnte. Denn wer zu seiner Zeit weise werden wollte, mußte mit eignen Augen sehen. Es gab noch keine Buchdruckereyen, keine Journale, Bibliothecken, Magazine, Encyklopädien, Realwörterbücher, und wie alle die Werkzeuge heissen, mit deren Hülfe man itzt, ohne zu wissen wie, ein Philosoph, ein Kunstrichter, ein Autor, ein Alleswisser wird. Damals war die Weisheit so theuer und noch theurer als — die schöne Lais; Nicht jeder10

mann konnte nach Korinth reisen. Die Anzahl der Weisen war sehr klein; aber die es waren, waren es auch desto mehr. Demokritus reisete nicht blos um der Menschen Sitten und Verfassungen zu beschauen, wie Ulysses; nicht bloß um Priester und Geisterseher aufzusuchen, wie Plato; oder um Tempel, Statuen, Gemählde und Alterthümer zu begucken, wie Pausanias und Keißler; oder um Pflanzen und Thiere abzuzeichnen und unter Classen zu bringen, wie Doctor Solander: sondern er reisete, um Natur und Kunst in allen ihren Würkungen und Ursachen, den Menschen in seiner Naktheit und in allen seinen Einkleidungen und Verkleidungen, roh und bearbeitet, bemahlt und unbemahlt, ganz und verstümmelt, und

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die übrigen Dinge in allen ihren Beziehungen auf den Menschen kennen zu lernen. „Die Raupen in Äthiopien (sagte Demokritus) sind freylich nur — Raupen: Was ist eine Raupe, um das erste, angelegenste, einzige Studium eines Menschen zu seyn? Aber, da wir nun einmal in Äthiopien sind, fragen wir immer, nebenher, auch den Raupen nach! Es giebt eine Raupe im Lande der Seren, welche Millionen Menschen kleidet und nährt: wer weiß ob es nicht auch am Niger nützliche Raupen giebt?“ Mit dieser Art zu denken hatte sich Demokritus auf seinen Reisen einen Schatz von Wissenschaft gesammelt, der in seinen Augen alles Gold in den Schatzkammern des Königs von Indien und alle Perlen an den Hälsen und

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Armen seiner Weiber werth war. Er kannte von der Ceder Libanons bis zum Schimmel eines arkadischen Käses eine Menge von Bäumen, Stauden, Kräutern, Gräsern und Moosen; nicht etwan blos nach ihrer Gestalt, und nach ihren Nahmen, Geschlechtern und Arten; er kannte auch ihre Eigenschaften, Kräfte und Tugenden. Aber, was er tausendmal höher schäzte als alle seine übrigen Kentnisse, er hatte allenthalben, wo er es der Mühe werth fand sich aufzuhal-

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ten, die Weisesten und die Besten kennen gelernt. Es hatte sich bald gezeigt, daß er ihres Geschlechtes war. Sie waren also seine Freunde geworden, hatten sich ihm mitgetheilt, und ihm dadurch die Mühe erspart, eignen Fleisses, Jahre lang, und vielleicht doch vergebens, zu suchen, was sie mit Aufwand und Mühe, oder auch wohl glücklicher Weise, schon gefunden hatten. Bereichert mit allen diesen Schätzen des Geistes und Herzens kam Demokritus, nach einer Reise von Zwanzig Jahren, zu den Abderiten zurück, die seiner beynahe vergessen hatten. Er war ein feiner, stattlicher Mann; höflich und abgeschliffen, wie ein Mann, der mit mancherley Arten von Erdensöhnen umgehen gelernt hat, zu seyn pflegt; ziemlich braungelb von Farbe; kam von

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den Enden der Welt, und hatte ein ausgestopftes Krokodil, einen lebendigen Affen, und viele andere sonderbare Sachen mitgebracht. Die Abderiten sprachen etliche Tage von nichts anderm als von ihrem Mitbürger Demokritus, der wiedergekommen war, und Affen und Krokodile mitgebracht hatte. Allein in kurzer Zeit zeigte sichs, daß sie sich in ihrer Meynung von einem so weit gereiseten Manne sehr verrechnet hatten. Demokritus war von den wackern Männern, denen er indessen die Besorgung seiner Güter anvertrauet hatte, um die Hälfte betrogen worden, und gleichwohl unterschrieb er ihre Rechnungen ohne Widerrede. Natürlicher Weise mußte dies der guten Meynung von seinem Verstande den ersten Stoß

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geben. Die Advocaten und Richter wenigstens, die sich zu einem einträglichen Processe Hofnung gemacht hatten, merkten mit einem bedeutenden Achselzücken an, daß es bedenklich seyn würde einem Manne, der seinem eignen Hause so schlecht vorstehe, das gemeine Wesen anzuvertrauen. Indessen zweifelten die Abderiten nicht, daß er sich nun unter die Mitwerber um ihre vornehmsten Ehrenämter stellen würde: sie berechneten schon, wie hoch sie ihm ihre Stimme verkauffen wollten, gaben ihm eine Tochter, Enkelin, Schwester, Nichte, Base, Schwägerin zur Ehe, überschlugen die Vortheile, die sie zur Erhaltung dieser oder jener Absicht von seinem Ansehen ziehen wollten, wenn er einmal Archon, oder Oberrichter, oder Priester der Latona seyn würde, u. s. w. Aber Demokritus erklärte sich, daß er weder ein Rathsherr von Abdera, noch der Ehgemahl einer Abderitin seyn wollte, und vereitelte dadurch abermal alle ihre Anschläge. Nun hofte man wenigstens durch seinen Umgang in etwas entschädiget zu werden. Ein Mann, der Affen, Krokodile und zahme Drachen von seinen Reisen mitgebracht hatte, mußte eine ungeheure

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Menge Wunderdinge zu erzählen haben. Man erwartete, daß er von zwölfellenlangen Riesen und von sechs Daumen hohen Zwergen, von Menschen mit Hund- und Esels-Köpfen, von Meerfrauen mit grünen Haaren, von weissen Negern, und blauen Centauren sprechen würde. Aber Demokritus log so wenig, und in der That weniger, als ob er nie über den Thrazischen Bosphorus gekommen wäre. Man fragte ihn, ob er im Lande der Garamanten keine Leute ohne Kopf angetroffen habe, welche die Augen die Nase und den Mund auf der Brust tragen; und ein abderitischer Gelehrter (der, ohne jemals aus den Mauern 10

seiner Stadt gekommen zu seyn, sich die Mine gab, als ob kein Winkel des Erdbodens wäre, den er nicht durchkrochen hätte), bewies ihm in grosser Gesellschaft, daß er entweder nie in Äthiopien gewesen sey, oder dort nothwendig mit den A g r i o p h a g e n , deren König nur ein Auge über der Nase hat, mit den S a m b e r n , die allezeit einen H u n d zu ihrem König erwählen, und mit den A r t a b a t i t e n , die auf allen Vieren gehen, Bekanntschaft gemacht haben müsse *). Und wofern Sie bis in den äussersten Theil des abendländischen Äthiopien eingedrungen sind, fuhr der Gelehrte Mann fort, so bin ich gewiß, daß Sie ein Volk ohne Nasen angetroffen haben, und ein anderes, wo die Leute einen so kleinen Mund führen, daß sie ihre Suppe durch Strohhalmen

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einzuschlürfen genöthiget sind **). Demokritus betheuerte beym Kastor und Pollux daß er sich nicht erinnere diese Ehre gehabt zu haben. Wenigstens, sagte jener, haben Sie in Indien Menschen angetroffen, die nur ein einziges Bein auf die Welt bringen, aber dem ungeachtet, wegen der ausserordentlichen Breite ihres Fußes so geschwind auf dem Boden fortrutschen, daß man ihnen zu Pferde kaum nachkommen kan ***). Und was sagten Sie dazu, wie Sie an der Quelle des Ganges ein Volk antrafen, das ohne alle andre Nahrung, vom blossen Geruche wilder Äpfel lebt ****)? O Erzählen Sie uns doch, riefen die schönen Abderitinnen, erzählen Sie

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*)

P l i n . N a t u r g e s c h . B . VI.

**)

S o l i n . C. XXX. auch P l i n i u s M e l a , und andere Alte und Neuern, welche uns alle die

Wundermenschen, von denen hier die Rede ist, für würkliche Geschöpfe Gottes zu geben kein Bedenken tragen. ***) **** )

S o l i n u s aus dem Ktesias. Ebenderselbe.

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doch Herr Demokritus! Was müßten Sie uns nicht erzählen können, wenn Sie nur wollten! Demokritus schwur vergebens, daß er von allen diesen Wundermenschen in Äthiopien und Indien nichts gesehen noch gehört habe. Aber was haben Sie denn gesehen, fragte ein runder dicker Mann, der zwar weder einäugig war wie die A g r i o p h a g e n , noch eine Hundsschnauze hatte wie die C y m o l g e n , noch die Augen auf den Schultern trug wie die O m o p h t a l m e n , noch vom blossen Geruche lebte wie die P a r a d i e s v ö g e l ; aber doch gewiß nicht mehr Gehirn in seinem grossen Schädel trug als ein Mexicanischer Colibri, ohne darum weniger ein Rathsherr von Abdera zu seyn:

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aber was haben sie denn gesehen, sagte W a n s t , Sie der zwanzig Jahre in der Welt herum gefahren sind, wenn Sie nichts von allem dem gesehen haben, was man in fernen Landen wunderbares sehen kann? Wunderbares? versezte Demokritus lächelnd; Ich hatte so viel mit Betrachtung des Natürlichen zu thun, daß ich fürs Wunderbare keine Zeit übrig behielt. Nun das gesteh ich, erwiederte W a n s t ; das verlohnt sich auch der Mühe, alle Meere zu durchfahren, und über alle Berge zu steigen, um nichts zu sehen, als was man zu Hause eben so gut sehen konnte! Demokritus zankte sich nicht gerne mit den Leuten um ihre Meynungen,

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am allerwenigsten mit Abderiten; und gleichwohl wollt’ er auch nicht, daß es aussehen sollte, als ob er gar nichts sagen könne. Er suchte unter den schönen Abderitinnen, die in der Gesellschaft waren, eine aus, an die er das richten könnte, was er sagen wollte; und fand eine mit zwey grossen Junonischen Augen, die ihn, trotz seines vieljährigen Studiums der Physionomie, verführten, ihrer Eigenthümerin mehr Verstand oder Empfindung zuzutrauen, als den übrigen. Was wollten Sie, sagte er zu ihr, daß ich, zum Exempel, mit einer Dame die die Augen auf der Stirne oder am Ellebogen trüge, hätte anfangen sollen? oder was würde mirs nun helfen, wenn ich noch so gelehrt in der Kunst wäre das Herz einer Menschenfresserin zu rühren? Ich habe mich immer zuwohl befunden, mich der sanften Gewalt von zwey schönen Augen, die an ihren natürlichen Platze stehen, zu überlassen, um jemals eine Versuchung zu bekommen, das grosse Stierauge auf der Stirn einer Cyklopin zärtlich zu sehen. Die S c h ö n e mit d e n g r o s s e n A u g e n , zweifelhaft was sie aus dieser Anrede machen sollte, gukte dem Mann, der so sprach, mit stummer Verwun-

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derung in den Mund, lächelte ihm ihre schöne Zähne vor, und sah sich zur rechten und linken Seite um, als ob sie den Verstand seiner Rede suchen wollte. Die übrigen Abderitinnen hatten zwar eben so wenig davon begriffen; weil sie aber aus dem Umstande, daß er sich gerade an die Großäugige gewendet hatte, schlossen, er habe ihr etwas Schönes gesagt, so sahen sie einander jede mit einer eignen Grimasse an; diese rümpfte eine kleine Stumpfnase, jene zog den Mund in die Länge, eine dritte spitzte den ihrigen, der ohnehin groß genug war, eine vierte riß ein paar kleine Augen auf, eine fünfte brüstete sich mit zurückgezogenem Kopfe, u. s. w. 10

Demokritus sah es, erinnerte sich, daß er in Abdera war, und schwieg.

4. Schweigen — ist zuweilen eine Kunst; aber doch nie eine so grosse, als uns gewisse Leute glauben machen wollen, die dann am klügsten sind, wenn sie schweigen. Wenn ein weiser Mann sieht, daß er es mit Kindern zu thun hat, warum sollt’ er sich zu weise dünken, nach ihrer Art mit ihnen zu reden? Ich bin zwar (sagte Demokritus zu seiner neugierigen Gesellschaft) aufrichtig genug gewesen, zu gestehen, daß ich von allem, was man will, das ich gesehen haben sollte, nichts gesehen habe: Aber bilden sie sich darum nicht 20

ein, daß mir auf so vielen Reisen zu Wasser und zu Lande nichts aufgestossen sey, das Ihre Neubegierde befriedigen könnte. Glauben Sie mir, es sind Dinge darunter, die Ihnen vielleicht noch wunderbarer vorkommen würden, als diejenigen, wovon die Rede war. Bey diesen Worten rückten die schönen Abderitinnen näher, und spizten Mund und Ohren; dies ist doch ein Wort von einem gereisten Mann, rief der kurze dicke Rathsherr, und des Gelehrten Stirne entrunzelte sich durch die Hofnung, daß er etwas zu tadeln und zu verbessern bekommen würde, Demokritus möchte auch sagen, was er wollte. Ich befand mich einst in einem Lande, fieng Demokritus an, wo es mir so

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wohl gefiel, daß ich in den ersten drey oder vier Tagen, die ich darinne zubrachte, unsterblich zu seyn wünschte, um ewig darinne zu leben. „Ich bin nie aus Abdera gekommen, sagte der Rathsmann; aber ich dachte

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immer, daß es keinen Ort in der Welt gäbe, wo es mir besser gefallen könnte, als in Abdera. Auch geht es mir damit gerade, wie Ihnen mit dem Lande, wo es Ihnen so wohl gefiel; ich wollte mit Freuden auf die ganze übrige Welt Verzicht thun, wenn ich nur ewig in Abdera leben könnte! Aber warum gefiel es Ihnen nur drey Tage lang so wohl in dem Lande?“ Sie werden es gleich hören. Stellen Sie sich ein unermeßliches Land vor, dem die angenehmste Abwechslung von Bergen, Thälern, Wäldern, Hügeln und Auen unter der Herrschaft eines ewigen Frühlings und Herbstes, allenthalben, wohin man sieht, das Ansehen des herrlichsten Lustgartens giebt: Alles angebaut und bewässert, alles blühend und fruchtbar; allenthalben ein

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ewiges Grün, und immer frische Schatten und Wälder von den schönsten Fruchtbäumen, Datteln, Feigen, Citronen, Granaten, die ohne Pflege, wie in Thrazien die Eicheln, wachsen; Hayne von Myrten und Schasmin; Amors und Cytheräens Lieblingsblume nicht auf Hecken, wie bey uns, sondern in dichten Büscheln auf grossen Bäumen wachsend, und voll aufgeblüht, wie die Busen meiner schönen Mitbürgerinnen; (Dies hatte Demokritus nicht gut gemacht; Die Schönen hielten die Hände vor die Augen und errötheten; denn, zum Unglück war unter den Anwesenden keine, die dem schmeichelhaften Gleichniß Ehre gemacht hätte; wiewohl sie nicht ermangelten, sich aufzublähen, so gut sie konnten:)

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— und diese reizenden Hayne vom lieblichen Gesang unzählicher Arten von Vögeln belebt, und mit tausend bunten Papageyen erfüllt, deren Farben im Sonnenglanz die Augen blenden. Welch ein Land! Ich begriff nicht, warum die Göttin der Liebe zu ihrem Wohnsitz Cythere erwählt hätte, da ein Land wie dieses in der Welt war. Wo hätten die Grazien angenehmer tanzen können, als am Rande von Bächen und Quellen, wo zwischen kurzem dichtem Gras vom lebhaftesten Grün, Lilien und Hyacinthen, und zehen tausend noch schönere Blumen, die in unsrer Sprache keinen Nahmen haben, freywillig hervorblühen, und die Luft mit den wollüstigsten Wohlgerüchen erfüllen? Die schönen Abderitinnen hatten, wie leicht zu erachten ist, die Einbildungskraft nicht weniger lebhaft als die Abderiten; und das Gemählde, das ihnen Demokritus, ohne dabey an Arges zu denken, vorstellte, war mehr, als ihre kleinen Seelchen aushalten konnten. Einige seufzten laut vor Behäglichkeit, andere sahen aus, als ob sie die wollüstigen Gerüche, die in ihrer Phantasie düfteten, mit Mund und Nase einschlürfen wollten; die schöne J u n o

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sank mit dem Kopf auf ein Polster des Canape, wo sie saß, zurück, schloß ihre grossen Augen halb, und befand sich unvermerkt am blümichten Rand einer dieser schönen Quellen, von Rosen und Citronenbäumen umschattet, aus deren Zweigen Wolken von Ambrosischen Düften auf sie herab wallten. Sie fieng eben an in einer sanften Betäubung von süssen Empfindungen einzuschlummern, als sie einen Jüngling, schön wie Bacchus, und dringend wie Amor zu ihren Füssen liegen sah. Sie richtete sich auf, ihn desto besser betrachten zu können, und sah ihn so schön, so zärtlich, daß die Worte, womit sie seine Verwegenheit bestrafen wollte, auf ihren Lippen erstarben. Kaum hatte sie — 10

Und wie meynen Sie, (fuhr Demokritus fort) nennt sich dies zauberische Land, von dessen Schönheiten alles, was ich davon sagen könnte, Ihnen kaum den Schatten eines Begriffs geben würde? Es ist eben dieses Äthiopien, welches mein gelehrter Freund hier mit Ungeheuern von Menschen bevölkert, die eines so schönen Vaterlandes ganz unwürdig sind. Aber eine Sache, die er mir für wahr nachsagen kann, ist: daß es im ganzen Äthiopien und Lybien, wiewohl diese Namen eine Menge verschiedener Völker umfassen, keinen Menschen giebt, der seine Nase nicht eben da trüge, wo wir, nicht eben so viel Augen und Ohren hätte, als wir, und kurz — Ein grosser Seufzer von derjenigen Art, wodurch sich ein von Schmerz oder

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Vergnügen gepreßtes Herz Luft zu machen sucht, hob in diesem Augenblicke den Busen der schönen Abderitin, welche, während daß Demokritus in seiner Rede fortfuhr, in dem Traumgesichte, worinn wir sie zu belauschen Bedenken trügen, wie es scheint, auf einen Umstand gekommen war, an welchem ihr Herz auf die eine oder andre Art sehr lebhaft Antheil nahm. Da die übrigen Anwesenden nicht wissen konnten, daß die gute Dame einige hundert Meilen weit von Abdera unter einem Äthiopischen Rosenbaum, in einem Meer der süssesten Wohlgerüche schwamm, tausend neue Vögel das Glück der Liebe singen hörte, tausend bunte Papageyen vor ihren Augen herum flattern sah, und, zum Überfluß, einen Jüngling mit gelben Locken und Corallen Lippen zu

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ihren Füssen liegen hatte, — so war es natürlich, daß man den besagten Seufzer mit einem allgemeinen Erstaunen empfieng. Man begriff nichts davon, daß die lezten Worte Demokrits die Ursache einer solchen Wirkung gewesen seyn könnten. Was fehlt Ihnen, L y s a n d r a , riefen die Abderitinnen aus Einem Munde, indem sie sich sehr besorgt um sie stellten. Die schöne Lysandra, die in diesem Augenblicke wieder gewahr wurde, wo sie war, erröthete und

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versicherte, daß es nichts sey. Demokritus, wiewohl er zu merken anfieng, was es war, versicherte, daß ein paar Züge frische Luft alles wieder gut machen würden; aber in seinem Herzen beschloß er, künftig seine Gemählde nur mit Einer Farbe zu mahlen, wie die Mahler in Thrazien. Gerechte Götter! dacht er, was für eine Einbildungskraft diese Abderitinnen haben. Nun meine schönen Neugierigen (fuhr Demokritus fort) was meynen Sie, von welcher Farbe die Einwohner eines so schönen Landes sind? „Von welcher Farbe? — Warum sollten sie eine andre Farbe haben als die übrigen Menschen? Sagten Sie uns nicht, daß sie die Nase mitten im Gesichte trügen, und in allem Menschen wären wie wir Griechen?“

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Menschen, ohne Zweifel; aber sollten sie darum weniger Menschen seyn, wenn sie schwarz, oder olivenfarb wären? „Was meynen Sie damit?“ Ich meyne daß die schönsten unter den Äthiopischen Nationen, (nemlich diejenigen, die nach unserm Maasstabe die schönsten, das ist uns die ähnlichsten sind) durchaus Olivenfarb wie die Egyptier, und diejenigen, welche tiefer im festen Lande und in den mittäglichsten Gegenden wohnen, vom Kopf bis zur Fußsole so schwarz und noch ein wenig schwärzer sind als die Raben zu Abdera. „Was Sie sagen! — Und erschrecken die Leute nicht vor einander, wenn sie

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sich ansehen?“ Erschrecken? Warum dies? Sie gefallen sich sehr mit ihrer Rabenschwärze, und finden daß nichts schöners seyn kan. „O das ist lustig! — rieffen die Abderitinnen! — Schwarz am ganzen Leibe, als ob sie mit Pech überzogen wären, sich von Schönheit träumen zu lassen! Die Leute müssen dumm seyn! Haben sie denn keine Mahler, die ihnen den Apollo, den Bacchus, die Göttin der Liebe, und die Grazien mahlen könnten? Oder könnten sie nicht schon vom Homer lernen, daß Juno weisse Arme, Thetis Silberfüsse, und Aurora Rosenfinger hat?“ Die guten Leute haben keinen Homer, oder wenn sie einen haben, so dürffen wir uns darauf verlassen, daß seine Juno kohlschwarze Arme hat. Von Mahlern habe ich in Äthiopien nichts gehört. Aber ich sah ein Mädchen, dessen Schönheit unter seinen Landesleuten bey nahe eben so viel Unheil anrichtete als die Tochter der Leda unter den Griechen und Trojanern; und diese africanische Helena war schwärzer als Ebenholz.

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„O beschreiben Sie uns doch dies Ungeheuer von Schönheit“ riefen die Abderitinnen, die, aus dem natürlichsten Grunde von der Welt, an dieser Unterredung unendlich viel Vergnügen fanden. Sie werden Mühe haben sich einen Begriff davon zu machen. Stellen Sie Sich das völlige Gegentheil des Griechischen Ideals der Schönheit vor: die Grösse einer Grazie, und die Dicke einer Ceres *); schwarze Haare, aber nicht in langen wallenden Locken um die Schultern fliessend, sondern kurz und von Natur kraus wie Schafwolle. Die Stirne breit und stark gewölbt, die Nase kurz, aufgestülpt, und in der Mitte des Knorpels flachgedrückt; die Wangen rund 10

wie die Backen eines Trompeters, der Mund groß, — ( P h i l i n n a lächelte um zu zeigen wie klein der ihrige sey), die Lippen sehr dick und aufgeworfen, aber von der schönsten Corallenfarbe, und zwoo Reyhen von Zähnen wie die Perlenschnuren. (Die Schönen lachten insgesamt, wiewohl sie keine andre Ursache dazu haben konnten, als ihre eignen Zähne zu weisen: denn was war sonst hier zu lachen?) „Aber ihre Augen?“ fragte Lysandra —. O was die betrift, die waren so klein, und so wasserfarbigt, daß ich lange nicht von mir erhalten konnte sie schön zu finden —

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„Demokritus ist für Homers K u h a u g e n wie es scheint, sagte M y r i s , indem sie einen hönischen Seitenblick auf die Schöne mit den grossen Augen warf.“ In der That, (versezte Demokritus, mit einer Mine, woraus ein Tauber geschlossen hätte, daß er ihr die größte Schmeicheley sage) schöne Augen müßten sehr groß seyn, wenn ich sie zu groß finden sollte; und häßliche können, däucht mich, nie zu klein seyn. Die schöne Lysandra warf einen triumphirenden Blick auf ihre Schwestern, und schüttete dann eine ganze Glorie von Zufriedenheit aus ihren grossen Augen auf den glücklichen Demokrit herab.

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„Darf man wissen, was Sie unter schönen Augen verstehen?“ fragte die kleine M y r i s , indem sich ihre Nase merklich spizte. Ein Blick der schönen Lysandra schien ihm zu sagen: Sie werden nicht verlegen seyn, die Antwort auf diese Frage zu finden. *)

gemina et mammosa C e r e s est ipsa — L u c r e t . L. IV.

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Ich verstehe darunter Augen in denen sich eine schöne Seele mahlt, sagte Demokritus. Lysandra sah albern aus, wie eine Person der man etwas unerwartetes gesagt hat, und die keine Antwort darauf finden kan. Eine schöne Seele! — dachten die Abderitinnen alle zugleich — Was für wunderliche Dinge der Mann aus fernen Landen mitgebracht hat! Eine schöne Seele! Dies ist noch über seine Affen und Papageyen! Aber mit allen diesen Subtilitäten, sagte der dicke Rathsherr, kommen wir von der Hauptsache ab. Mir däucht, die Rede war von der schönen Helena aus Äthiopien, und ich möchte doch wohl hören, was die ehrlichen Leute so schö-

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nes an ihr finden konnten? Alles, antwortete Demokritus. So müssen sie gar keinen Begriff von Schönheit haben, sagte der Gelehrte. Um Vergebung, erwiederte der Erzähler; weil diese Äthiopische Helena der Gegenstand aller Wünsche war, so läßt sich sicher schliessen, daß sie der I d e e v o n S c h ö n h e i t glich, die Jeder in seiner Einbildung fand. S i e s i n d a u s d e r S c h u l e d e s P a r m e n i d e s * ) ? sagte der Gelehrte, indem er sich in eine streitbare Positur sezte. Ich bin nichts — als ich selbst, welches sehr wenig ist; erwiederte Demokritus halb erschrocken; wenn Sie dem Wort Idee gram sind, so erlauben Sie

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mir mich anders auszudrücken. Die schöne G u l l e r u — so nannte man die Schwarze, von der wir reden — Gulleru! rieffen die Abderitinnen, indem sie in ein Gelächter ausbrachen, das kein Ende nehmen wollte; Gulleru! welch ein Name! — Und wie gieng es mit Ihrer schönen Gulleru? fragte die spitznasige Myris mit einem Blick, und in einem Tone, der noch dreymal spitziger als ihre Nase war. Wenn Sie mir jemals die Ehre erweisen mich zu besuchen, antwortete der Philosoph mit der ungezwungensten Höflichkeit, so sollen Sie erfahren, wie es mit der schönen Gulleru gegangen ist. Izt muß ich diesem Herrn mein Versprechen halten. Die Gestalt der schönen Gulleru also — D e r s c h ö n e n G u l l e r u , wiederholten die Abderitinnen und lachten von

*)

P a r m e n i d e s von E l e a wird für den Erfinder der Lehre von den I d e e n oder wesentlichen

Urbildern gehalten, welche Plato in sein System aufgenommen, und sich so eigen gemacht hat, daß man sie gewöhnlich nach seinem Nahmen zu nennen pflegt.

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neuen; (aber ohne daß Demokritus sich dismal unterbrechen ließ) — flößte zu ihrem Unglück den Jünglingen ihres Landes die stärkste Leidenschaft ein. Dies scheint zu beweisen; daß man sie s c h ö n gefunden habe; und ohne Zweifel lag der Grund, weswegen man sie schön fand, in allem dem warum man sie n i c h t f ü r h ä ß l i c h hielt. Diese Äthiopier fanden also einen U n t e r s c h i e d zwischen dem was ihnen schön und was ihnen nicht schön vorkam; und wenn zehn v e r s c h i e d e n e Äthiopier in ihrem Urtheil von dieser Helena ü b e r e i n s t i m m t e n , so kam es vermuthlich daher, weil sie e i n e r l e y B e g r i f von Schönheit und Häßlich10

keit hatten. „Dies folgt nicht (sagte der Abderitische Gelehrte), konnte nicht unter zehn jeder etwas anderes an ihr liebenswürdig finden?“ Der Fall ist nicht unmöglich; aber er beweißt nichts gegen mich. Gesezt, der eine hätte ihre k l e i n e n A u g e n , ein anderer ihre s c h w e l l e n d e n L i p p e n , ein dritter ihre g r o s e n O h r e n bewundernswürdig gefunden: so sezt auch dies immer eine Vergleichung zwischen ihr und andern Äthiopischen Schönen voraus. Die übrigen hatten Augen, Ohren und Lippen so wohl wie Gulleru. Wenn man also die ihrigen schöner fand, so mußte man ein gewisses M o d e l l der Schönheit haben, mit welchem man z. E. ihre Augen und andre Augen

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verglich, und dies ist alles was ich mit meinem I d e a l sagen wollte. „Indessen (erwiederte der Gelehrte), werden sie doch nicht behaupten wollen, daß diese Gulleru schlechterdings d i e s c h ö n s t e unter allen schwarzen Mädchen vor ihr, neben ihr, und nach ihr gewesen sey? Ich meyne, die Schönste in Vergleichung mit dem Modelle wovon Sie sagten.“ Ich wüßte nicht warum ich dies behaupten sollte, versezte Demokritus. „Es konnte also eine geben, die z. E. noch kleinere Augen, noch dickere Lippen, noch grössere Ohren hatte?“ Möglicher weise, so viel ich weiß. „Und in Absicht dieser leztern gilt ohnezweifel die nehmliche Vorausset-

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zung, und so ins Unendliche. Die Äthiopier hatten also k e i n M o d e l l d e r S c h ö n h e i t ; man müßte dann sagen, daß sich unendlich kleine Augen, unendlich dicke Lippen, unendlich grosse Ohren denken lassen?“ Wie subtil die Abderitischen Gelehrten sind! dachte Demokritus. Wenn ich eingestund, sagte er, daß es ein schwarzes Mädchen geben könne, welche kleinere Augen oder dickere Lippen hätte als Gulleru, so sagte ich damit noch

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nicht, daß dieses schwarze Mädchen den Äthiopiern darum s c h ö n e r hätte vorkommen müssen als Gulleru. Das Schöne hat nothwendig ein bestimmtes Maas, und was über solches ausschweift, entfernt sich eben so davon, wie das was unter ihm bleibt. Wer wird daraus, daß die Griechen in der Größe der Augen in der Kleinheit des Mundes ein Stück der vollkommenen Schönheit setzen, den Schluß ziehen, eine Frau, deren Augäpfel einen Daumen in Durchschnitt hielten, oder deren Mund so klein wäre, daß man Mühe hätte einen Strohhalm hineinzubringen, müßte von den Griechen für desto schöner gehalten werden? Der Abderite war geschlagen, wie man sieht; und er fühlt’ es. Aber ein

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Abderitischer Gelehrter hätte sich eher erdrosseln lassen, als so was einzugestehen. Waren nicht Philinnen und Lysandren, und ein kurzer dicker Rathsherr da, an deren Meynung von seinem Verstand ihm gelegen war? Und wie wenig kostete es ihm, Abderiten und Abderitinnen auf seine Seite zu bringen? — In der That wußte er nicht sogleich, was er sagen sollte. Aber in fester Zuversicht daß ihm wohl noch was einfallen werde, antwortete er indessen durch ein hönisches Lächeln, welches zugleich andeutete, daß er die Gründe seines Gegners verachte, und daß er im Begriff sey, den entscheidenden Streich zu führen. „Ists möglich, rief er endlich in einem Ton, als ob dies die Antwort auf die lezte Rede des Demokritus sey *), können Sie die Liebe zum

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Paradoxen so weit treiben, im Angesicht dieser Schönen, zu behaupten, daß ein Geschöpf, wie Sie uns diese Gulleru beschrieben haben, eine Venus sey?“ Sie haben vergessen, versezte Demokrit sehr gelassen, daß die Rede nicht von mir und dieser Schönen, sondern von Äthiopiern war. Ich behauptete nichts; ich erzählte nur was ich gesehen hatte. Ich beschrieb Ihnen eine Schönheit nach Äthiopischen Geschmack. Es ist meine Schuld nicht, wenn die griechische Häßlichkeit in Äthiopien Schönheit ist; auch seh ich nicht was mich berechtigen könnte, zwischen den Griechen und Äthiopiern zu entscheiden. Ich vermuthe, es könnte seyn, daß beyde recht hätten. Ein lautes Gelächter, dergleichen man aufschlägt, wenn jemand etwas unbegreiflich Ungereimtes gesagt hat, wieherte dem Philosophen aus allen anwesenden Hälsen entgegen. Laß hören, laß doch hören, rief der dicke Rathsherr, indem er seinen Wanst *)

Ein sehr gewöhnlicher Griff der Abderitischen Gelehrten und Kunstrichter.

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mit beyden Händen hielt, was unser Landsmann sagen kan, um zu beweisen, daß Beyde Recht haben! Ich höre für mein Leben gerne so was behaupten. Wofür hätte man auch sonst euch gelehrte Herren? — D i e E r d e i s t r u n d ; der Schnee ist schwarz ; der Mond ist zehnmal so groß als der ganze Peloponesus ; Achilles kan keine Schnecke im Laufen einh o h l e n , — Nicht wahr, Herr A n t i s t r e p s i a s ? — Nicht wahr, Herr Demokritus? — Sie sehen, daß ich auch ein wenig, in ihren Mysterien eingeweyht bin. Ha, Ha, Ha! Die sämtlichen Abderiten und Abderitinnen erleichterten sympathetischer 10

weise ihre Lungen abermals, und Herr Antistrepsiades, der einen Anschlag auf die Abendmahlzeit des Jovialischen Rathsherrn gemacht hatte, unterstüzte gefällig das allgemeine Gelächter mit lautem Händeklatschen.

5. Demokritus war in der Laune sich mit seinen Abderiten und den Abderiten mit sich Kurzweile zu machen. Zu weise, ihnen irgend eine von ihren Nationaloder Individual-Unarten übel zu nehmen, konnt’ er es sehr wohl leiden, daß sie ihn für einen überklugen Mann ansahen, der seinen Abderitischen Mutterwiz auf seiner langen Wanderschaft verdünstet hatte und nun zu nichts gut war, als ihnen mit seinen Einfällen und Grillen etwas zu lachen zu geben. Er 20

fuhr also, nachdem sich das Gelächter über den witzigen Einfall des dicken Rathsherrn endlich gelegt hatte, mit seinem gewöhnlichen Phlegma fort, wo ihn der kleine Jovialische Mann unterbrochen hatte. Sagte ich nicht, wenn die Griechische Häßlichkeit in Äthiopien Schönheit sey, so könnte wohl seyn daß beyde Theile Recht hätten? „Ja, ja, das sagten Sie, und ein Mann steht für sein Wort.“ Wenn ich es gesagt habe, so muß ich’s wohl behaupten; das versteht sich, Herr Antistrepsiades? „Wenn Sie können?“ Bin ich etwan nicht auch ein Abderite? Und zudem brauch ich hier nur die

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Hälfte meines Satzes zu beweisen, um das Ganze bewiesen zu haben. Denn daß die Griechen Recht haben, bedarf nicht erst bewiesen zu werden; dies ist eine Sache, die in allen Griechischen Köpfen schon längst ausgemacht ist. Aber daß

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die Äthiopier auch Recht haben, da liegt die Schwierigkeit! Wenn ich mit Sophismen fechten, oder mich begnügen wollte, meine Gegner stumm zu machen, ohne sie zu überzeugen; so würd’ ich als Anwald der Äthiopischen Venus, die ganze Streitfrage dem i n n e r n G e f ü h l zu entscheiden überlassen. Warum, würd’ ich sagen, nennen die Menschen diese oder jene Figur, diese oder jene Farbe schön? Weil sie ihnen gefällt. Gut; aber warum gefällt sie ihnen? Weil sie ihnen angenehm ist. Und warum ist sie ihnen angenehm? — O mein Herr, Sie müssen endlich aufhören zu fragen, oder — ich höre auf zu antworten — Ein Ding ist uns angenehm, weil es — einen Eindruck auf uns macht, der uns angenehm ist. Ich fordre alle ihre Grübler heraus, einen bes-

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sern Grund anzugeben. Nun würd’ es lächerlich seyn, einen Menschen abstreiten zu wollen, daß ihm angenehm sey, was ihm angenehm ist; oder ihm zu beweisen, er habe Unrecht, sich wohlgefallen zu lassen, was einen gefallenden Eindruck auf ihn macht. Wenn also die Figur einer Gulleru seinen Augen wohl thut, so gefällt sie ihm, und wenn sie ihm gefällt, so nennt er sie schön, oder es müßte nur kein solches Wort in seiner Sprache seyn. Und wenn — und wenn ein Wahnwitziger Pferdäpfel für Pfirschen äße? sagte Antistrepsiades. Pferdäpfel für Pfirschen! — gut gesagt, bey meiner Ehre, gut gesagt, rief der Rathsherr. Knacken Sie das auf, Herr Demokritus? —

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Fi, Fi, doch, Demokritus, lispelte die schöne Myris, indem sie die Hand vor die Nase hielt; wer wird auch von Pferdäpfeln reden? Schonen Sie wenigstens unsrer Nasen! Zu viel ist zu viel. Der gute Demokritus hatte in zwanzig Jahren viel erwandert. Aber seit dem er aus Abdera gegangen war, war ihm kein zwootes Abdera aufgestossen; und nun, da er wieder drinn war, zweifelte er zuweilen auf einen oder zween Augenblicke, o b e r i r g e n d w o s e y ? Wie war es möglich, mit solchen Leuten fertig zu werden? Nun, Vetter? — sagte der Rathsherr, kannst du die Pferdäpfel des Antistrepsiades nicht hinunter kriegen? ha, ha, ha! Dieser Einfall war zu abderitisch, um die Zärtlichkeit der sämtlichen gebogenen, stumpfen, viereckigten und spitzigen Nasen in der Gesellschaft nicht zu überwältigen. Die Damen kicherten ein zirpendes hi, hi, hi, in das dumpfe donnernde ha, ha, ha, der Mannspersonen.

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Sie haben gewonnen, rief Demokritus; und zum Zeichen, daß ich mein Gewehr mit guter Art strecke, sollen Sie sehen, ob ich die Ehre verdiene, ihr Landsmann und Vetter zu seyn. Und nun fieng er an, mit einer Geschicklichkeit, worinn ihm kein Abderite gleich kam, von der untersten Baßnote stufenweise crescendo bis zum Unisono mit dem hi, hi, der schönen Abderitinnen, ein Gelächter aufzuschlagen, dergleichen, so lang Abdera auf Thrazischen Boden stund, nie erhört worden war. Anfangs machten die Damen Mine als ob sie Widerstand thun wollten; aber es war keine Möglichkeit, gegen das verzweifelte crescendo auszuhalten. Sie 10

wurden endlich davon wie von einem reissenden Strom ergriffen; und da die Gewalt der Ansteckung noch dazu schlug, so kam es bald so weit, daß die Sache ernsthaft wurde. Die Frauenzimmer baten mit weinenden Augen um Barmherzigkeit. Aber Demokritus hatte keine Ohren, und das Gelächter nahm überhand. Endlich ließ er sich, wie es schien, bewegen, ihnen einen Stillstand zu bewilligen; allein in der That blos, damit sie die Peinigung, die er ihnen zugedachte, desto länger aushalten könnten. Denn kaum waren sie wieder ein wenig zu Athem gekommen, so fieng er die nemliche Tonleiter, eine Terze höher, noch einmal zu durchlachen an, aber mit so vielen eingemischten Trillern und Rouladen, daß sogar die runzlichten Beysitzer des Höllengerichts,

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Minos, Äakus und Rhadamanthus, in ihrem höllenrichterlichen Ornat, aus der Fassung gekommen wären. Zum Unglück hatten zwoo oder drey von unsern Schönen nicht daran gedacht, ihre Personen gegen alle mögliche Folgen einer so heftigen Leibesübung in Sicherheit zu setzen. Schaam und Natur kämpften auf Leben und Tod in den armen Mädchen. Vergebens flehten sie den unerbittlichen Demokritus mit Mund und Augen um Gnade an; vergebens foderten sie ihre vom Lachen gänzlich erschlaften Sehnen zu einer lezten Anstrengung auf! Die tyrannische Natur siegte, und in einem Augenblicke sahe man den Saal, wo sich die Gesellschaft befand, unter ***** ******.

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Der Schrecken über eine so unversehene Naturerscheinung (die desto wunderbarer war, da das allgemeine Auffahren und Erstaunen der schönen Abderitinnen zu beweisen schien, daß es e i n e W ü r k u n g o h n e U r s a c h e sey,) unterbrach die Lacher auf etliche Augenblicke, um sogleich mit verdoppelter Gewalt wieder loßzudrücken. Natürlicher Weise gaben sich die erleichterten Schönen alle Mühe, den besondern Antheil, den sie an dieser Begebenheit

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hatten, durch Grimassen von Erstaunen und Ekel zu verbergen, und den Verdacht auf ihre schuldlosen Nachbarinnen fallen zu machen, welche durch unzeitige aber unfreywillige Schaamröthe den unverdienten Argwohn mehr als zu viel bestärkten. Der lächerliche Zank, der sich darüber unter ihnen erhub; Demokrit und Antistrepsiades, die sich boshafter Weise ins Mittel schlugen, und durch ironische Trostgründe den Zorn derjenigen, die sich unschuldig wußten, noch mehr aufreizten; und mitten unter ihnen allen der kleine dicke Rathsherr, der unter berstendem Gelächter einmal über das andre ausrief, d a ß e r n i c h t d i e H ä l f t e v o n T h r a z i e n u m d i e s e n A b e n d n e h m e n w o l l t e : alles dies zusammen machte eine Scene, die des Griffels

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eines H o g a r t h würdig gewesen wäre, wenn es damals schon einen Hogarth gegeben hätte. Wir können nicht sagen, wie lange sie gedaurt haben mag: denn es ist eine von den Tugenden der Abderiten, d a ß s i e n i c h t a u f h ö r e n k ö n n e n . Aber Demokritus, bey dem alles seine Zeit hatte, glaubte, daß eine Komödie, die kein Ende nimmt, die langweiligste unter allen Kurzweilen sey. Er pakte also alle die schönen Sachen, die er zur Rechtfertigung der Äthiopischen Venus hätte sagen können, wofern er es mit vernünftigen Geschöpfen zu thun gehabt hätte, ganz gelassen zusammen, wünschte den Abderiten und Abderitinnen was sie nicht hatten, und gieng nach Hause; — nicht ohne Verwunderung über

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die gute Gesellschaft, die man anzutreffen Gefahr lief, wenn man einen Rathsherrn von Abdera besuchte.

6. Gute, kunstlose, sanftherzige G u l l e r u , — sagte Demokritus, da er nach Hause gekommen war, zu einer wohlgepflegten, krauslokichten Schwarzen, die ihm mit ofnen Armen entgegen watschelte — komm an meinen Busen, ehrliche Gulleru! Zwar bist du schwarz wie die Göttin der Nacht; dein Haar ist wollicht und deine Nase platt; deine Augen sind klein, deine Ohren groß, und deine Lippen gleichen einer aufgeborstnen Nelke. Aber dein Herz ist rein und aufrichtig und frölich und fühlt mit der ganzen Natur. Du denkst nie Arges, sagst nie was Albernes, quälst weder andre, noch dich selbst, und thust nichts was du nicht gestehen darfst. Deine Seele ist ohne Falsch, wie dein Gesicht

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ohne Schmincke. Du kennst weder Neid noch Schadenfreude; und nie hat sich deine ehrliche platte Nase gerümpft, um eines deiner Nebengeschöpfe zu höhnen oder in Verlegenheit zu setzen. Unbesorgt ob du gefällst oder nicht gefällst, lebst du, in deine Unschuld eingehüllt, im Frieden mit dir selbst und der ganzen Natur; immer geschickt Freude zu geben und zu empfangen, und werth daß das Herz eines Mannes an deinem Busen ruhe! Gute, sanftherzige Gulleru! Ich könnte dir einen andern Nahmen geben; einen schönen, klangreichen, griechischen Namen auf a n e oder i d e , a r i o n oder e r i o n ; aber dein Name ist schön genug, weil er dein ist; und ich bin nicht Demokritus, 10

oder die Zeit soll noch kommen, wo jedes ehrliche gute Herz dem Namen Gulleru entgegenschlagen soll! Gulleru begriff nicht allzuwohl, was Demokritus mit dieser empfindsamen Anrede haben wollte; aber sie sah daß es eine Ergiessung seines Herzens war, und so verstund sie gerade so viel davon als sie vonnöthen hatte. „War diese Gulleru seine Frau?“ Nein. „Seine Beyschläferin?“ Nein. „Seine Sclavin?“

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Nach ihrem Anzug zu schliessen nicht. „Wie war sie denn angezogen?“ So gut, daß sie eine Fille d’honneur d e r K ö n i g i n v o n S a b a hätte vorstellen können. Schnüre von grossen feinen Perlen zwischen den Locken, und um Hals und Arme; ein Gewand voll schöngebrochner Falten, von dünnem feuerfarbnen Atlas, mit Streiffen von welcher Farbe ihr wollt, unter ihrem Busen von einem reichgestickten Gürtel zusammengehalten, den eine Agraffe von Schmaragden schloß; und — was weiß ichs alles — „Der Anzug war reich genug.“ Wenigstens können Sie mir glauben, daß, so wie sie war, kein Prinz von

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S e n e g a l , A n g o l a , G a m b i a , C o n g o und L o a n g o sie ungestraft angesehen hätte. „Aber —“ Ich sehe wohl daß Sie noch nicht am Ende ihrer Fragen sind. — Wer war denn diese Gulleru? War es eben die, von welcher vorhin gesprochen wurde? Wie kam Demokritus zu ihr? Auf welchen Fuß lebte sie in seinem Hause? —

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Ich gesteh’ es, dies sind sehr billige Fragen; aber sie zu beantworten, seh’ ich vor der Hand keine Möglichkeit. Denken Sie nicht, daß ich hier den Verschwiegnen machen wolle; oder daß ein besonderes Geheimnis unter der Sache stecke. Die Ursache, warum ich sie nicht beantworten kan, ist die allersimpelste von der Welt. Tausend Schriftsteller befinden sich tausendmal in dem nemlichen Falle; nur ist unter Tausend kaum Einer aufrichtig genug, in solchen Fällen die wahre Ursache zu bekennen. Soll ich Ihnen die Meinige sagen? Sie werden gestehen, daß sie über alle Einwendung ist. Denn, kurz und gut, — ich weiß selbst noch kein Wort von allem dem, was Sie von mir wissen wollen; und da ich nicht die Geschichte der schönen Gulleru schreibe, so be-

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greifen Sie, daß ich in Absicht auf diese Dame zu nichts verbunden bin. Vielleicht findet sich in der Folge Gelegenheit, von Demokritus oder von ihr selbst etwas näheres zu erkundigen; und in diesem Falle verlassen Sie Sich darauf, daß Sie alles von Wort zu Wort erfahren sollen.

7. Demokritus hatte noch keinen Monat unter den Abderiten gelebt, als er i h n e n , und zuweilen auch sie i h m , schon so unerträglich waren, als Menschen einander seyn müssen, die mit ihren Begriffen und Neigungen alle Augenblikke wider einander stossen. Die Abderiten hegten von sich selbst, und von ihrer Stadt und Republik eine

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ganz ausserordentliche Meynung. Ihre Unwissenheit alles dessen, was ausserhalb ihrem Gebiet in der Welt Merkwürdiges seyn oder geschehen möchte, war zugleich eine Ursache und eine Frucht dieses lächerlichen Dünkels. Daher kam es denn, durch eine sehr natürliche Folge, daß sie sich gar keine Vorstellung machen konnten, wie etwas recht oder anständig oder gut seyn könnte, wenn es anders als zu Abdera war, oder wenn man zu Abdera gar nichts davon wußte. Ein Begrif, der i h r e n Begriffen widersprach, eine Gewohnheit, die von den ihrigen abgieng, eine Art zu denken oder etwas ins Auge zu fassen, die ihnen fremde war, hieß ihnen, ohne weitere Untersuchung, ungereimt und belachenswerth. Die Natur selbst schrumpfte für sie in den engen Kreis ihrer eigenen Thätigkeit zusammen; und wiewohl sie es nicht so weit trieben, sich, wie d i e J a p a n e r , einzubilden, ausser Abdera wohnten lauter Teufel, Ge-

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spenster und Ungeheuer: so sahen sie wenigstens den Rest des Erdbodens und seiner Bewohner als einen ihrer Aufmerksamkeit unwürdigen Gegenstand an; und wenn sie zufälliger Weise Gelegenheit bekamen, etwas fremdes zu sehen oder zu hören, so wußten sie nichts damit zu machen, als sich darüber aufzuhalten, und sich selbst Glück zu wünschen, daß sie nicht wären wie andere Leute. Dies gieng so weit, daß sie denjenigen für keinen guten Bürger hielten, der an einem andern Orte bessere Einrichtungen oder Gebräuche wahrgenommen hatte, als zu Hause. Wer das Glück haben wollte ihnen zu gefallen, mußte schlechterdings so reden und thun, als ob die Stadt und Republick 10

Abdera, mit allen ihren zugehörigen Stücken, Eigenschaften und Zufälligkeiten, ganz und gar untadelich, und das Ideal aller Republicken gewesen wäre. Von dieser Verachtung gegen alles, was nicht Abderitisch hieß, war die S t a d t A t h e n allein ausgenommen; aber auch diese vermuthlich nur deßwegen, weil die Abderiten, als e h m a l i g e T e j e r , ihr die Ehre erwiesen, sie für ihre Mutterstadt anzusehen. Sie waren stolz darauf, für d a s T h r a z i s c h e A t h e n gehalten zu werden; und wiewohl ihnen dieser Name nie anders als spottweise gegeben wurde, so hörten sie doch keine Schmeicheley lieber als diese. Sie bemühten sich, die Athenienser in allen Stücken zu copiren, und copirten sie genau — wie der Affe den Menschen. Wenn sie, um lebhaft und

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geistreich zu seyn, alle Augenblicke ins Poßierliche fielen, wichtige Dinge leichtsinnig, und Kindereyen ernsthaft behandelten; das Volk oder ihren Rath um jeder Kleinigkeit willen zwanzigmal versammelten, um lange, alberne Reden Pro und Contra über Sachen zu halten, die ein Mann von alltäglichem Menschenverstand in einer Viertelstunde besser als sie entschieden hätte; wenn sie unaufhörlich mit Projecten von Verschönerung und Vergrösserung schwanger giengen, und so oft sie etwas unternahmen, immer erst mitten im Werke ausrechneten, daß es über ihre Kräfte gehe; wenn sie ihre halbthrazische Sprache mit attischen Redensarten spickten; ohne den mindesten Geschmack eine ungeheure Paßion für die Künste affectirten, und immer von

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Mahlerey und Statuen und Musik und Rednern und Dichtern schwazten, ohne jemals einen Mahler, Bildhauer, Redner oder Dichter, der des Namens werth war, gehabt zu haben; wenn sie Tempel bauten, die wie Bäder, und Bäder, die wie Tempel aussahen; wenn sie die Geschichte von Vulkans Netze in ihre Rathsstube, und den grossen Rath der Griechen über die Zurückgabe der schönen Chryseis in ihre Akademie mahlen liessen; wenn sie in Lustspiele

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giengen, wo man sie zu weinen, und in Trauerspiele, wo man sie zu lachen machte; und in zwanzig ähnlichen Dingen glaubten die guten Leute Athenienser zu seyn, und waren — A b d e r i t e n . „Wie e r h a b e n der Schwung in diesem kleinen Gedicht ist, das P h y s i g n a t h u s auf meine W a c h t e l gemacht hat,“ sagte eine Abderitin. — Desto schlimmer, sagte Demokritus. Sehen sie, sprach der erste A r c h o n v o n A b d e r a , die Faßade von diesem Gebäude, welches wir zu unserm Zeughause bestimmet haben? Sie ist von dem besten Parischen Marmor! Gestehen Sie, daß Sie nie ein Werk von größerm Geschmack gesehen haben!

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Es mag die Republik schönes Geld gekostet haben, antwortete Demokritus. Was der Republik Ehre macht, kostet nie zu viel, erwiederte der Archon. Ich weiß sie sind ein Kenner, Demokritus; denn sie haben immer an allem etwas auszusetzen. Ich bitte sie, finden sie mir einen Fehler an dieser Faßade? Tausend Drachmen für einen Fehler, Herr Demokritus, rief ein junger Herr, der die Ehre hatte ein Neffe des Archon zu seyn, und vor kurzem von Athen zurückgekommen war, wo er sich aus einem Abderitischen Bengel für die Hälfte seines Erbgutes zu einem Attischen Gecken ausgebildet hatte. Die Faßade ist schön, sagte Demokritus ganz bescheiden; so schön, daß sie es auch zu Athen oder Korinth oder Syrakus seyn würde. Ich sehe, wenn’s

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erlaubt ist es zu sagen, nur Einen Fehler an diesem prächtigen Gebäude. Einen Fehler? — sprach der Archon, mit einer Mine, die sich nur ein A b d e r i t e , der ein A r c h o n war, geben konnte. Einen Fehler! Einen Fehler! wiederholte der junge Geck, indem er ein lautes Gelächter aufschlug. „Darf man fragen, Demokritus, wie ihr Fehler heißt?“ Eine Kleinigkeit, versezte Demokritus; nichts als daß man eine so schöne Faßade — nicht sehen kan. „Nicht sehen kan? Und wie so?“ Je, beym Anubis! wie wollen Sie daß man sie vor allen den alten übelgebauten Häusern und Scheunen sehen soll, die hier ringsum zwischen die Augen der Leute und ihre Faßade hingesezt sind? Diese Häuser stunden lang eh Sie und ich gebohren wurden, sagte der Archon. So hättet ihr euer Zeughaus anderswohin setzen sollen, sagte Demokritus.

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Dergleichen Dialogen gab es, so lange der Philosoph unter ihnen lebte, alle Tage, Stunden und Augenblicke. „Wie finden sie diesen Purpur, Demokritus? Sie sind zu T y r u s gewesen; nicht wahr?“ Ich wohl, Madame, aber dieser Purpur nicht; dies ist C o c c i n u m , das Ihnen die Syrakusaner aus Sardinien bringen und für tyrischen Purpur bezahlen lassen. „Aber wenigstens werden Sie doch diesen Schleyer für Indianischen Byssus von der feinsten Art gelten lassen?“ 10

Von der feinsten Art, schöne Atalanta, die man in Memphis und Pelusium verarbeiten läßt. Nun hatte sich der ehrliche Mann zwoo Feindinnen in einer Minute gemacht. Konnte aber auch was ägerlicher seyn, als eine solche Aufrichtigkeit? Die Abderiten wußten sich sehr viel mit ihrem Theater. Ihre Schauspieler waren gemeine Bürger von Abdera, die entweder von ihrem Handwerke nicht leben konnten, oder zu faul waren eines zu lernen. Sie hatten keinen gelehrten Begrif von der Kunst, aber eine desto grössere Meynung von ihrer eignen Geschicklichkeit; und würklich konnt’ es ihnen an Anlage nicht fehlen, da die Abderiten überhaupt gebohrne Gaukler, Spaßmacher, und Pantomimen wa-

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ren, an denen immer jedes Glied ihres Leibes mitreden half, so wenig auch das was sie sagten auf sich haben mochte. Sie besassen auch einen eignen Schauspieldichter, H y p e r b o l u s genannt, der, wenn man ihnen glaubte, ihre Schaubühne so weit gebracht hatte, daß sie der Atheniensischen wenig nachgab. Er war im Komischen so stark als im Tragischen, und machte überdies die possierlichsten Satyrenspiele *) von der Welt, worinn er seine eignen Tragödien so schnackisch parodierte, daß man sich, wie die Abderiten sagten, darüber buklicht lachen mußte. Ihrem Urtheile nach vereinigte er in seiner Tragödie den hohen Schwung und die mächtige Einbildungskraft des Ä s c h y l u s mit der Beredsamkeit und dem Pathos

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des E u r i p i d e s , so wie in seinen Lustspielen des A r i s t o p h a n e s Laune und muthwilligen Witz mit dem feinen Geschmack und der Eleganz des A g a -

*)

Griechische Possenspiele, die mit der Opera buffa der Welschen einige Ähnlichkeit hatten,

und wovon uns der C y k l o p s des Euripides, das einzige übriggebliebene Stück dieser Art, einen Begriff giebt.

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t h o n . Die B e h e n d i g k e i t , womit er seiner Werke entbunden wurde, war das Talent, worauf er sich am meisten zu gute that. Er lieferte jeden Monat seine Tragödie, mit einem kleinen Possenspielchen zur Zugabe. Meine beste Komödie, sprach er, hat mich nicht mehr als Vierzehn Tage gekostet, und gleichwohl spielt sie ihre vier bis fünf Stunden, wohlgezählt. — Da sey uns der Himmel gnädig, dachte Demokritus. — Nun drangen die Abderiten immer von allen Seiten in ihn, seine Meynung von ihrem Theater zu sagen; und so ungern er sich mit ihnen über ihren Geschmack in Wortwechsel einließ, so konnt’ er doch auch nicht von sich erhalten, ihnen zu schmeicheln, wenn sie ihm sein Urtheil mit gesamter Hand

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abnöthigten. „Wie gefällt ihnen diese neue Tragödie?“ Das Süjet ist glücklich gewählt. Was müßte der Autor auch seyn, der einen solchen Stoff ganz zu Grunde richten sollte? „Fanden Sie sie nicht sehr rührend?“ Ein Stück könnte in einigen Stellen sehr rührend und doch ein sehr elendes Stück seyn, sagte Demokritus. Ich kenne einen Bildhauer von Sicyon, der die Wuth hat, lauter Liebesgöttinnen zu schnitzen. Diese sehen überhaupt sehr gemeinen Dirnen gleich; aber sie haben alle die schönsten Beine von der Welt. Das ganze Geheimniß von der Sache ist, daß der Mann seine Frau zum Modelle

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nimmt, die, zum Glücke für seine Venusbilder, wenigstens die Beine schön hat. So kann dem schlechtesten Dichter zuweilen eine rührende Stelle gelingen, wenn es sich gerade zutrift, daß er verliebt ist, oder einen Freund verlohren hat, oder daß ihm sonst ein Zufall zugestosen ist, der sein Herz in eine Fassung sezt, die es ihm leichte macht, sich an den Platz der Person, die er reden lassen soll, zu stellen. „Sie finden also d i e H e k u b a unsers Dichters nicht vortreflich?“ Ich finde, daß der Mann vielleicht sein Bestes gethan hat. Aber die vielen, bald dem Äschylus, bald dem Sophokles, bald dem Euripides, ausgerupften Federn, womit er seine Blösse zu decken sucht, und die ihm vielleicht in den Augen mancher Zuhörer, denen jene Dichter nicht so gegenwärtig sind als mir, Ehre machen, schaden ihm in den meinigen. Eine Krähe, wie sie von Gott erschaffen ist, dünkt mich so noch immer schöner, als wenn sie sich mit Pfauen- und Fasanenfedern auspuzt. Überhaupt fodre ich von dem Verfasser eines Trauerspiels mit gleichem Rechte, daß er mir für meinen Beyfall ein

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vortrefliches Trauerspiel, als von meinem Schuster, daß er mir für mein Geld ein paar gute Stiefeln liefere; und wiewohl ich gerne gestehe, daß es schwerer ist ein gutes Trauerspiel als gute Stiefeln zu machen: so bin ich darum nicht weniger berechtiget, von jedem Trauerspiel zu verlangen, daß es a l l e Eigenschaften habe, die zu einem g u t e n Trauerspiel, als von einem Stiefel, daß er alles habe, was zu einem guten Stiefel gehört. „Und was gehört denn, ihrer Meynung nach, zu einem wohlgestiefelten Trauerspiel? fragte e i n j u n g e r A b d e r i t i s c h e r P a t r i z i u s , herzlich über den guten Einfall lachend, der ihm, wie er glaubte, entfahren war.“ 10

Demokritus sprach mit einem kleinen Kreise von Personen, die ihm zuzuhören s c h i e n e n , und fuhr, ohne auf die Frage des witzigen jungen Herrn acht zu haben, fort: die wahren Regeln der Kunstwerke können nie willkührlich seyn. Ich fordre nichts von einem Trauerspiele, a l s w a s S o p h o k l e s v o n d e n s e i n i g e n f o d e r t ; und dies ist weder mehr noch weniger, als die Natur und Absicht der Sache mit sich bringt. Einen einfachen, wohldurchgedachten Plan, worinn der Dichter alles vorausgesehen, alles vorbereitet, alles natürlich zusammen gefügt, alles auf Einen Punkt geführt hat; worinn jeder Theil ein unentbehrliches Glied, und das Ganze ein wohlorganisirter schöner, frey und edel sich bewegender Körper ist! Keine langweilige Exposition, keine

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Episoden, keine Scenen zum Ausfüllen, keine Reden, deren Ende man mit Ungeduld herbey gähnt, keine Actionen, die nicht zum Hauptzwecke arbeiten! Interessante, aus der Natur genommene Charakteren, veredelt, aber so, daß man die Menschheit in ihnen nie verkenne; keine übermenschliche Tugenden, keine Ungeheuer von Bosheit! Personen, die immer ihren eigenen Individualbegriffen und Empfindungen gemäß reden und handeln, immer so, daß man fühlt, nach ihrem besondern Charakter, nach allen ihren vorgehenden und gegenwärtigen Umständen und Bestimmungen, müssen sie im gegebnen Falle so reden, so handeln, oder aufhören zu seyn, was sie sind. Ich fodre, daß der Dichter nicht nur die menschliche Natur kenne, in so ferne sie

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d a s M o d e l l aller seiner Nachbildungen ist; ich fodre, daß er auch auf d i e Z u s c h a u e r Rücksicht nehme, und genau wisse, durch welche Wege man sich ihres Herzens Meister macht; daß er jeden starken Schlag, den er auf solches thun will, u n v e r m e r k t v o r b e r e i t e ; daß er wisse, w e n n e s g e n u g i s t , und, eh er uns durch einerley Eindrücke völlig ermüdet, oder einen Affect bis zu dem Grade, wo er peinigend zu werden anfängt, in uns erregt,

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dem Herzen kleine Ruhepunkte zur Erholung gönne, und die Regungen, die er uns mittheilt, ohne Nachtheil der Hauptwürkung, zu vermannichfaltigen wisse. Ich fodre von ihm eine schöne, und ohne Ängstlichkeit mit äusserstem Fleisse polierte Sprache; einen immer warmen und kräftigen Ausdruck, einfach und erhaben, ohne jemals zu s c h w e l l e n noch zu s i n k e n , stark und nervicht, ohne rauh und steif zu werden, glänzend ohne zu blenden; wahre Heldensprache, die immer der lebende Ausdruck einer grossen Seele, und unmittelbar vom gegenwärtigen Gefühl eingegeben ist, nie zu viel, nie zu wenig sagt, und, gleich einem dem Körper angegoßnen Gewand, immer den eigenthümlichen Geist des Redenden durchscheinen läßt. Ich fodre, daß derje-

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nige, der sich unterwindet Helden reden zu lassen, selbst eine grosse Seele habe, und, indem er durch die Allgewalt der Begeisterung in seinen Helden verwandelt worden ist, alles was er ihm in den Mund legt in seinem eignen Herzen finde. Ich fodre — „O, Herr Demokritus, — riefen die Abderiten, die sich nicht länger zu halten wußten — Sie können, da Sie nun einmal im Fodern sind, alles fodern, was Ihnen beliebt. In Abdera läßt man sich mit wenigerm abfinden. Wir sind zufrieden, wenn uns ein Dichter rührt. Der Mann, der uns lachen oder weinen macht, ist in unsern Augen ein göttlicher Mann, mag er es doch angehen, wie er selbst will. Dies ist seine Sache, nicht die unsrige! Hyperbolus gefällt uns,

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rührt uns, macht uns Spaß; und gesezt auch, daß er uns mit unter gähnen macht, so bleibt er doch immer ein grosser Dichter! Brauchen wir eines weitern Beweises?“ Die Schwarzen an der Goldküste, sagte Demokritus, tanzen mit Entzücken zum Getöse eines armseligen Schaffells und etlicher Bleche, die sie gegen einander schlagen. Gebt ihnen noch ein paar Kuhschellen und eine Sackpfeife dazu, so glauben sie in Elysium zu seyn. Wie viel Witz brauchte eure Amme, um euch, da ihr noch Kinder waret, durch ihre Erzählungen zu rühren? Das albernste Mährchen, in einem kläglichen Tone hergeleyert, war dazu gut genug. Folgt aber daraus, daß die Musik der Schwarzen vortreflich, oder ein Ammen-Mährchen ein herrliches Werk ist? „Sie sind sehr höflich, Demokritus —“ Um Vergebung! Ich bin so unhöflich, jedes Ding bey seinem Namen zu nennen; und so eigensinnig, daß ich nie gestehen werde, Alles sey schön und vortreflich, was man so zu nennen beliebt.

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„Aber das Gefühl eines ganzen Volkes wird doch mehr gelten, als der Eigendünkel eines Einzigen?“ Eigendünkel? Das ist es eben, was ich aus den Künsten der Musen verbannt sehen möchte. Unter allen den Foderungen, wovon die Abderiten ihren Günstling Hyperbolus so gütig loszählen, ist keine einzige, die nicht auf die strengste Gerechtigkeit gegründet wäre. Aber das Gefühl eines ganzen Volkes, wenn es kein gelehrtes Gefühl ist, kann und muß in unzähligen Fällen betrüglich seyn. „Wie, zum Henker (rief ein Abderite, der mit seinem Gefühl sehr wohl zufrieden schien,) Sie werden uns am Ende wohl gar noch unsre fünf Sinnen 10

streitig machen?“ Das verhüte der Himmel, antwortete Demokritus. Wenn Sie so bescheiden sind, keine weitere Ansprüche zu machen, als auf fünf Sinne, so wär’ es die größte Ungerechtigkeit, sie im ruhigen Besitze derselben stören zu wollen. Fünf Sinne sind allerdings, zumal wenn man alle fünfe zusammen nimmt, vollgültige Richter in allen Dingen, wo es darauf ankömmt, zu entscheiden, was weiß oder schwarz, glatt oder rauh, weich oder hart, dick oder dünn, bitter oder süß ist. Ein Mann, der nie weiter geht, als ihn seine fünf Sinne führen, geht immer s i c h e r ; und, in der That, wenn euer Hyperbolus dafür sorgen wird, daß in seinen Schauspielen jeder Sinn ergötzt und keiner belei-

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diget werde, so stehe ich ihm für die gute Aufnahme, und wenn sie noch zehnmal schlechter wären, als sie sind. Wäre Demokritus zu Abdera weiter nichts gewesen, als was Diogenes zu Korinth war, so möchte ihm die Freyheit seiner Zunge vielleicht einige Ungelegenheit zugezogen haben. Denn so gerne die Abderiten über wichtige Dinge spaßten, so wenig konnten sie ertragen, wenn man sich über ihre Puppen und Steckenpferde lustig machte. Aber Demokritus war aus dem besten Hause in Abdera, und, was noch mehr zu bedeuten hat, er war reich. Dieser doppelte Umstand machte, daß man ihm nachsah, was man einem Philosophen in zerrißnem Mantel schwerlich zu gut gehalten hätte. Sie sind auch ein unerträg-

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licher Mensch, Demokritus! schnarrten die schönen Abderitinnen, und — ertrugen ihn doch. Hyperbolus machte noch am nemlichen Abend ein entsetzliches Sinngedicht auf den Philosophen. Des folgenden Morgens lief es bey allen Putztischen herum; und in der dritten Nacht ward es in allen Gassen von Abdera gesungen; denn Demokritus, der ein guter Componiste war, h a t t e e i n e M e lodie dazu gesezt. D i e A b d e r i t e n . 7 . ¼Kapitel½

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8. Es ist ordentlicher Weise eine gefährliche Sache, mehr Verstand zu haben, als seine Mitbürger. S o k r a t e s mußt’ es mit dem Leben bezahlen; und wenn A r i s t o t e l e s mit ganzer Haut davon kam, als ihn der Oberpriester E u r y m e d o n zu Athen der Ketzerey anklagte, so kam es blos daher, weil er sich in Zeiten aus dem Staube machte. I c h w i l l d e n A t h e n i e n s e r n k e i n e G e l e g e n h e i t g e b e n , sagte er, s i c h z u m z w e y t e n m a l e a n d e r P h i l o s o phie zu versündigen*). Die Abderiten waren bey allen ihren menschlichen Schwachheiten wenigstens keine sehr bösartigen Leute. Unter ihnen hätte Sokrates so alt werden

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können als Nestor, sie hätten ihn für eine wunderliche Art von Narren gehalten, und sich über seine vermeyntliche Thorheit lustig gemacht; aber die Sache bis zum Giftbecher zu treiben, war nicht in ihrem Charakter. Demokritus gieng so scharf mit ihnen zu Werke, daß ein weniger jovialisches Volk die Geduld dabey verlohren hätte. Gleichwohl bestund alle Rache, die sie an ihm nahmen, darinn, daß sie (unbekümmert mit welchem Grund) eben so übel von ihm sprachen, als er von ihnen, alles tadelten, was er unternahm, alles lächerlich fanden, was er sagte, und von allem, was er ihnen rieth, gerade das Gegentheil thaten. „Man muß dem Philosophen durch den Sinn fahren, sagten sie; man muß ihm nicht weiß machen, daß er alles besser wisse als wir“ — und,

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dieser weisen Maxime zufolge begiengen die guten Leute eine Thorheit über die andre, und glaubten, wie viel sie dabey gewonnen hätten, wenn es ihn verdrösse. Zum Unglück verfehlten sie darinn ihres Zweckes gänzlich. Denn Demokritus lachte dazu, und wurde, aller ihrer Neckereyen wegen, nicht einen Augenblick früher grau. O die Abderiten, die Abderiten! rief er zuweilen; da haben sie sich wieder selbst eine Ohrfeige gegeben, in Hofnung daß es mir weh thun werde! „Aber (sagten die Abderiten) kan man auch mit einem Menschen schlimmer daran seyn? Über alles ist er andrer Meynung als wir. An allem was uns gefällt hat er etwas auszusetzen. Es ist doch sehr unangenehm, sich immer widersprechen zu lassen!“ *)

A e l i a n . Var. Hist. III. 36.

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„Aber, wenn ihr nun immer Unrecht habt? antwortete Demokritus. — Und laßt doch einmal sehen, wie es anders seyn könnte! Alle eure Begriffe habt ihr eurer Amme zu danken: und über alles denkt ihr noch eben so, wie ihr als Kinder davon dachtet. Eure Körper sind gewachsen, und eure Seelen liegen noch in der Wiege. Wie viele unter euch haben sich die sich die Mühe gegeben, den Grund zu erforschen, warum etwas wahr oder gut oder schön ist? Gleich den Unmündigen und Säuglingen nennt ihr alles gut und schön, was eure Sinnen kitzelt, was euch gefällt; und auf was für kleinfügige oft gar nicht zur Sache gehörende Ursachen und Umstände kömmt es an, ob euch etwas gefal10

len soll oder nicht? Wie verlegen würdet ihr oft seyn, wenn ihr sagen solltet, warum ihr dies liebt und jenes hasset? Grillen, Launen, Eigensinn, die Gewohnheit euch von andern Leuten gängeln zu lassen, mit ihren Augen zu sehen, mit ihren Ohren zu hören, und was sie euch vorgepfiffen haben nachzupfeifen, — sind die Triebfedern, die bey euch die Stelle der Vernunft ersetzen. Soll ich euch sagen, woran der Fehler liegt? Ihr habt euch einen falschen Begriff von Freyheit in den Kopf gesezt. Eure Kinder von drey oder vier Jahren haben freylich den nemlichen Begriff davon; aber dies macht ihn nicht richtiger. Wir sind ein freyes Volk, sagt ihr; und nun glaubt ihr, die Vernunft habe euch nichts einzureden.“ „Warum sollten wir nicht denken dürfen wie es uns

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beliebt? Lieben und hassen wie es uns beliebt? Bewundern oder verachten was uns beliebt? Wer hat ein Recht uns zur Rede zu stellen, oder unsern Geschmack und unsre Neigungen vor seinen Richterstuhl zu fodern?“ — Nun dann, meine lieben Abderiten, so denkt und faselt, liebt und haßt, bewundert und verachtet wie, wenn, und was euch beliebt! Begeht Thorheiten so oft und so viel euch beliebt! Macht euch lächerlich wie es euch beliebt! Wem liegt am Ende was daran? So lang es nur Kleinigkeiten, Puppen und Steckenpferde betrift, wär es unbillig, euch im Besitz des Rechtes, eure Puppe und euer Steckenpferd nach Belieben zu putzen und zu reiten, stören zu wollen. Gesezt auch eure Puppe wäre häßlich, und das, was ihr euer Steckenpferd nennt, sähe

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von Vorn und von Hinten einem Öchslein oder Eselein ähnlich: was thut das? Wenn eure Thorheiten euch glücklich und niemand unglücklich machen, was geht es andre Leute an, daß es Thorheiten sind? Warum sollte nicht der Hochweise Rath von Abdera, in feyerlicher Proceßion, einer hinter dem andern, vom Rathhause bis zum Tempel der Latona Burzelbäume machen dürfen, wenn es dem Rath und Volke von Abdera so gefällig wäre? Warum solltet ihr

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euer bestes Gebäude nicht in einen Winkel, und eure schöne kleine Venus nicht auf einen Obelisk setzen dürfen? Aber, meine lieben Landsleute, nicht alle eure Thorheiten sind so unschuldig wie diese; und wenn ich sehe, daß ihr euch durch eure Grillen und Aufwallungen Schaden thut, so müßt’ ich euer Freund nicht seyn, wenn ich stille dazu schweigen könnte. Zum Exempel, euer Krieg mit den Lemniern, der unnöthigste und unbesonnenste der jemals angefangen wurde, um der albernsten Ursache von der Welt, um einer Tänzerin, willen? — Es fiel in die Augen daß ihr damals unter dem unmittelbaren Einfluß eures bösen Dämons waret, da ihr ihn beschloßet. Allein alles half nichts, was man auch dagegen vorstellte. Die Lemnier sollten gezüchtiget werden;

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und wie ihr Leute von lebhafter Einbildung seyd, so schien euch nichts leichters als euch von der ganzen Insel Meister zu machen. Denn die Schwierigkeiten einer Sache pflegt ihr nie eher in Erwägung zu nehmen, als bis euch eure Nase daran erinnert. Doch dies alles möchte noch hingegangen seyn, wenn ihr nur wenigstens die Ausführung eurer Entwürfe einem tüchtigen Mann aufgetragen hättet. Aber den jungen A p h r o n zum Feldherrn zu machen, ohne daß sich irgend ein möglicher Grund davon erdenken ließe, als weil eure Weiber fanden, daß er in seiner prächtigen neuen Rüstung so schön wie ein P a r i s sey; und — über dem Vergnügen, einen grossen feuerfarben Federbusch auf seinem hirnlosen Kopfe nicken zu sehen — zu vergessen, daß es nicht um ein

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Lustgefechte zu thun war: dies, läugnets nur nicht, dies war ein AbderitenStreich! Und nun, da ihr ihn mit dem Verlust eurer Ehre, eurer Galeeren, und eurer besten Mannschaft, bezahlt habt, was hilft es euch, daß die Athenienser *), die ihr euch in ihren Thorheiten zum Muster genommen habt, eben so sinnreiche Streiche und zuweilen mit eben so glücklichen Ausgang zu spielen pflegen? In diesen Tone sprach Demokritus mit den Abderiten, so oft sie ihm Gelegenheit dazu gaben; aber, wiewohl dies sehr oft geschah, so konnten sie sich doch unmöglich gewöhnen, diesen Ton angenehm zu finden. „So geht es, sagten sie, wenn man naseweisen Jünglingen erlaubet in der weiten Welt herum *)

Die Athenienser hatten zu ihrem Kriege mit Megara keinen bessern Grund, (wenn man dem

Aristophanes glauben dürfte) als daß etliche junge Herren von Megara, um die Entführung einer Megarischen Courtisane zu rächen, ein paar junge Dirnen von der nemlichen Profeßion aus Aspasiens Pflanzschule entführt hatten. Aspasia vermochte alles über den Perikles, Perikles alles in Athen, und so wurde den Megarern der Krieg angekündigt. P l u t a r c h im Leben des Perikles.

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zu reisen, um sich ihres Vaterlandes schämen zu lernen, und nach zehn oder zwanzig Jahren mit einem Kopfe voll ausländischer Begriffe, als K o s m o p o l i t e n zurückzukommen, die alles besser wissen als ihre Grosväter, und alles anderswo besser gesehen haben als zu Hause. Die alten Egyptier, die niemand reisen liesen eh’ er wenigstens funfzig Jahre auf dem Rücken hatte, waren weise Leute!“ Und eilends giengen die Abderiten hin, und machten ein Gesetz; daß kein Abderitensohn hinfür weiter als bis an den Korinthischen Isthmus, länger als ein Jahr, und anders als unter der Aufsicht eines bejahrten Hofmeisters, von 10

altabderitischer Abkunft, Denkart und Sitte, sollte reisen dürfen. „Junge Leute müssen zwar die Welt sehen, sagte das Dekret: aber eben darum sollen sie sich an jedem Orte nicht länger aufhalten, als bis sie alles was mit Augen da zu sehen ist gesehen haben. Besonders soll der Hofmeister genau bemerken, was für Gasthöfe *) sie angetroffen, wie sie gegessen, und wieviel sie bezahlen müssen; damit ihre Mitbürger sich in der Folge diese ersprieslichen Geheimnachrichten zu Nutze machen können. Ferner soll (wie das Dekret weiter sagt) zu Ersparung der Unkosten eines allzulangen Aufenthalts an einem Orte, der Hofmeister dahin sehen, daß der junge Abderite in keine unnöthige Bekanntschaften verwickelt werde. Der Wirth oder der Hausknecht, als an dem Orte

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einheimisch, kan ihm am besten sagen, was da merkwürdiges zu sehen ist, wie die dasigen Gelehrten und Künstler heissen, wo sie wohnen, und um welche Zeit sie zu sprechen sind; dies notiert sich der Hofmeister in sein Tagbuch; und dann läßt sich in zween oder drey Tagen, wenn man die Zeit wohl zu Rathe hält, vieles in Augenschein nehmen.“ Zum Unglück für dieses weise Dekret befanden sich zween abderitische junge Herren von grosser Wichtigkeit eben auf dem Lande, als es abgefaßt, und, nach alter Gewohnheit, dem Volk auf den Hauptplätzen der Stadt vorgesungen wurde. Der eine war der Sohn eines Krämers, der durch Geiz und niederträchtige Kunstgriffe in seinem Gewerbe binnen vierzig Jahren ein be-

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trächtliches Vermögen zusammengekrazt, und, in Kraft desselben, seine Tochter, wiewohl sie das häßlichste und dummste Thierchen von ganz Abdera

*)

Ob diese Stelle, der Gasthöfe wegen, für unächt und eingeschoben zu halten sey, überläßt

man dem Urtheile derjenigen, welche die rem cauponariam Veterum gründlich untersucht haben.

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war, kürzlich an einen Neffen des kleinen dicken Rathsherrn, dessen oben rühmliche Erwähnung gethan worden, verheyrathet hatte. Der andre war der einzige Sohn des N o m o p h y l a x , und sollte, um seinem Vater je bälder je lieber in diesem Amte beygeordnet werden zu können, nach Athen reisen und sich mit dem Musikwesen daselbst genauer bekannt machen; während daß der Erbe des Krämers, der ihn begleiten wollte, mit den Putzmacherinnen und Sträußermädchen von Athen genauere Bekanntschaft zu machen gesonnen war. Nun hatte das Dekret an den besondern Fall, worinn sich diese jungen Herren befanden, nicht gedacht. Die Frage war also, was zu thun sey? Ob man auf eine Modification des Gesetzes antragen, oder beym Senat blos um Dis-

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pensation für den vorliegenden Fall ansuchen sollte? — Keines von beyden, sagte der Nomophylax, der eben mit der Composition eines neuen Tanzes auf das Fest der Latona fertig, und ausserordentlich mit sich selbst zufrieden war. Um etwas am Gesetze selbst zu ändern, müßte man das Volk deßwegen zusammen berufen; und dies würde unsern Mißgünstigen nur Gelegenheit geben die Mäuler aufzureissen. Was die Dispensation betrift, so ist zwar an dem, daß man die Gesetze meistens nur um der Dispensationen willen macht; und ich zweifle nicht, daß der Senat uns ohne Schwürigkeit zugestehen würde, was jeder in ähnlichen Fällen kraft des Gegenrechtes fodern zu können wünscht. Indessen hat doch jede Befreyung das Ansehen einer erwiesenen Gnade, und

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wozu haben wir nöthig, uns Verbindlichkeiten aufzuhalsen? Das Gesetz ist ein schlafender Löwe, bey dem man, so lang er nicht aufgeweckt wird, so sicher als bey einem Lamme vorbeyschleichen kann. Und wer wird die Unverschämtheit oder die Verwegenheit haben, ihn gegen den Sohn des Nomophylax aufzuwecken? Dieser Beschirmer der Gesetze war, wie wir sehen, ein Mann, der von den Gesetzen und von seinem Amte sehr verfeinerte Begriffe hatte, und sich der Vortheile, die ihm das leztere gab, fertig zu bedienen wußte. Sein Name verdient aufbehalten zu werden. Er nannte sich G r y l l u s , des C y n i s k u s Sohn. Die Fortsetzung folgt.

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Fortsetzung der Abderiten. 9. Demokritus hatte sich, da er in sein Vaterland zurückkam, mit dem Gedanken geschmeichelt, daß er demselben, mittelst alles dessen, um was sich sein Verstand und sein Herz indessen gebessert hatte, nützlich werden könnte. Er hatte sich nicht vorgestellt, daß es mit den Abderitischen Köpfen so gar übel stünde, als er es würklich befand. Aber nun, da er sich einige Zeit unter ihnen aufgehalten, sah er augenscheinlich, daß es ein eitles Unternehmen gewesen wäre, sie verbessern zu wollen. Alles war bey ihnen so verschoben, daß man nicht 10

wußte, wo man die Verbesserung anfangen sollte. Jeder ihrer Mißbräuche hieng an zwanzig andern; es war unmöglich einen davon abzustellen, ohne den ganzen Staat umzuschaffen. Eine gute Seuche (dacht er) welche das ganze Völkchen, bis auf etliche Dutzend Kinder, die gerade groß genug wären, um der Ammen entbehren zu können, von der Erde vertilgte, wäre das einzige Mittel, das d e r S t a d t A b d e r a helfen könnte; den A b d e r i t e n ist nicht zu helfen! Er beschloß also, sich mit guter Art von ihnen zurückzuziehen, und gieng ein kleines Gut zu bewohnen, das er in der Gegend von Abdera besaß, und mit dessen Benutzung und Verschönerung er die Stunden beschäftigte, die ihm sein Lieblingsstudium, die Erforschung der Naturwürkungen, übrig ließ.

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Aber zum Unglück für ihn, lag dies Landgut zu nah bey Abdera; und da seine Lage ungemein schön, und der Weg dahin einer der angenehmsten Spatziergänge war, so sah er sich alle Tage Gottes von einem Schwarm Abderiten und Abderitinnen, lauter Vettern und Basen, heimgesucht, welche das schöne Wetter und den angenehmen Spatziergang zum Vorwande nahmen, ihn in seiner glücklichen Einsamkeit zu stören. Wiewohl Demokritus den Abderiten wenigstens eben so wenig gefiel als sie ihm, so war doch die Würkung davon sehr verschieden. Er flohe sie, weil sie ihm lange Weile machten; und sie suchten ihn, weil sie sich die Zeit dadurch vertrieben. Er wußte die seinige anzuwenden, sie hingegen hatten nichts bes-

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sers zu thun.

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Wir kommen, Ihnen in Ihrer Einsamkeit die Zeit kürzen zu helfen, sagten die Abderiten. — Ich pflege in meiner eigenen Gesellschaft sehr kurze Zeit zu haben, sagte Demokritus. Aber wie ist es möglich, daß man immer so allein seyn kan, rief die schöne P i t h ö k a : Ich würde vor Langerweile vergehen, wenn ich einen einzigen Tag leben sollte, ohne Leute zu sehen. — Sie versprachen sich; von Leuten gesehen zu werden, meynen Sie, sagte Demokritus. „Aber woher nehmen sie auch daß Demokritus Langeweile hat? Sein ganzes Haus ist mit Seltenheiten angefüllt. Mit Ihrer Erlaubnis, Demokritus — lassen Sie uns doch alle die schönen Sachen sehen, die Sie auf Ihrer Reise

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gesammelt haben.“ Nun gieng das Leiden des armen Einsiedlers erst recht an. Er hatte in der That eine schöne Sammlung von Naturalien aus allen Reichen der Natur; ausgestopfte Thiere, Vögel, Fische, Schmetterlinge, Muscheln, Versteinerungen, Erzte, u. s. w. Alles war den Abderiten neu; alles erregte ihr Erstaunen. Der gute Naturforscher wurde in einer Minute mit so viel Fragen übertäubt, daß er, wie die Fama, aus lauter Ohren und Zungen hätte zusammengesezt seyn müssen, um auf alles antworten zu können. „Erklären Sie uns doch was dieses ist? Wie es heißt? Woher es ist? Wie es zugeht? Warum es s o ist?“ Demokritus erklärte so gut er konnte und wußte; aber den Abderiten wur-

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de nichts klärer dadurch; es war ihnen vielmehr, als begriffen sie immer weniger von der Sache, je mehr er sie erklärte. Seine Schuld war es nicht! „ W u n d e r b a r ! U n b e g r e i f l i c h ! S e h r w u n d e r b a r ! “ — war ihr ewiger Gegenklang. — So natürlich als etwas in der Welt! — erwiederte Demokritus ganz kaltsinnig. — „Sie sind gar zu bescheiden, Demokritus; oder vermuthlich wollen Sie nur, daß man Ihnen destomehr Complimente über ihren guten Geschmack und über ihre großen Reisen machen soll?“ — Setzen Sie Sich deßwegen in keine Unkosten, meine Herren; ich nehme alles für empfangen an. „Aber es mag doch eine angenehme Sache seyn, so tief in die Welt hinein zu reisen?“ — sagte ein Abderite. „Und ich dächte gerade das Gegentheil, sprach ein anderer. — Nehmen Sie alle die Gefahren und Beschwerlichkeiten, denen man täglich ausgesezt ist; die schlimmen Straßen, die schlechten Gasthöfe, die Sandbänke, die Schiffbrüche, die wilden Thiere, Krokodile, Einhörner, Greiffen und geflügelte Löwen, von denen in der Barbarey alles wimmelt. —“

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„Und dann, was hat man am Ende davon, (sagte ein Matador von Abdera), wenn man gesehen hat, wie groß die Welt ist? Ich dächte, das Stück das ich selbst davon besitze, käme mir dann so klein vor, daß ich keine Freude mehr daran haben könnte.“ „Aber rechnen Sie für nichts, so viel Menschen zu sehen? — erwiederte der Erste.“ „Und was sieht man denn da? Menschen! Die konnte man zu Hause sehen. Es ist allenthalben wie bey uns.“ „Ey, hier ist gar ein Vogel ohne Füße,“ rief ein junges Frauenzimmer. 10

„Ohne Füße?“ — Und der ganze Vogel nur eine einzige Feder! das ist erstaunlich! — sprach eine andere. „Begreiffen Sie das?“ „Ich bitte Sie, Demokritus, erklären Sie uns, wie er gehen kan, da er keine Füße hat?“ „Und wie er mit einer einzigen Feder fliegt?“ „O, was ich am liebsten sehen möchte, sagte eine von den Basen, das wäre ein lebendiger Sphinx! Sie müssen deren wohl viele in Egypten gefunden haben?“ „Aber ists möglich, ich bitte Sie, daß die Weiber und Töchter der Gymnosophisten in Indien — wie man sagt — Sie verstehen mich doch, was ich fragen

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will?“ Nicht ich, Frau S a l a b a n d a . „O, Sie verstehen mich gewiß! Sie sind ja in Indien gewesen? Sie haben die Weiber der Gymnosophisten gesehen?“ O ja, und Sie können mir glauben, daß die Weiber der Gymnosophisten weder mehr noch weniger — Weiber sind als die Weiber der Abderiten. „Sie erweisen uns viele Ehre. Aber dies ist nicht, was ich wissen wollte. Ich frage, ob es wahr ist, daß sie —“ (hier hielt Frau Salabanda eine Hand vor ihren Busen, und die andere — kurz, sie sezte sich in d i e A t t i t ü d e * ) d e r M e d i *)

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Ein fremdes Wort! Ich bitte es den Puristen ab. Aber weder L a g e , noch S t e l l u n g , noch

G e b e h r d e drükt das aus was A t t i t ü d e ; und so oft es uns an unentbehrlichen einheimischen Worten gebricht, werden wir wohl genöthiget bleiben, fremde zu borgen. Und von wem können wir solchenfalls schiklicher borgen als von derjenigen lebenden Sprache, welche die polierteste und allgemeinste ist? So machten es die alten R ö m e r mit der G r i e c h i s c h e n , und warum sollten teutsche Schriftsteller, mit gleicher Bescheidenheit, nicht thun dürfen, was sogar Cicero, dem seine Muttersprache so viel zu danken hatte, für erlaubt hielt?

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c e i s c h e n V e n u s , um dem Philosophen begreiflich zu machen, was sie wissen wollte): Nun verstehen Sie mich doch? sagte Sie. Ja, Madam, die Natur ist nicht karger gegen sie gewesen als gegen Andre. Welch eine Frage das ist! „Sie w o l l e n mich nicht verstehen, Demokritus; ich dächte doch, ich hätte Ihnen deutlich genug gesagt, daß ich wissen möchte, ob es wahr sey, daß sie — weil sie doch wollen, daß ichs ihnen unverblümt sage — so nackend gehen, als sie auf die Welt kommen?“ „Nackend! — riefen die Abderitinnen alle aufeinmal. Da wären sie ja noch unverschämter als die Mädchen in Sparta! Wer wird auch so was glauben?“

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Sie haben Recht, sagte der Naturforscher; die Weiber der Gymnosophisten sind weniger nackend als die Weiber der Griechen in ihrem vollständigsten Anzuge; Sie sind vom Kopf bis zu den Füssen in ihre Unschuld und in die öffentliche Ehrbarkeit eingehüllt *). „Wie meinen Sie das?“ Kan ich mich deutlicher erklären? „Ach, nun verstehe ich Sie! Es soll ein Stich seyn? Aber Sie scherzen doch wohl nur mit ihrer Ehrbarkeit und Unschuld. Wenn die Weiber der Gymnosophisten nicht haltbarer gekleidet sind, so — müssen sie entweder sehr häßlich oder ihre Männer sehr frostig seyn.“

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Keines von beyden. Ihre Weiber sind wohlgebildet, und ihre Kinder gesund, und voller Leben; ein unverwerfliches Zeugnis zu Gunsten ihrer Väter, däucht mich! „Sie sind ein Liebhaber von Paradoxen, Demokritus, sprach der Matador; aber Sie werden mich in Ewigkeit nicht überreden, daß die Sitten eines Volkes desto reiner seyen, je nackender die Weiber desselben sind.“ Wenn ich ein so grosser Liebhaber von Paradoxen wäre als man mich beschuldigt, so würd’ es mir vielleicht nicht schwer fallen, Sie dessen durch Beyspiele und Gründe zu überführen. Aber ich bin dem Gebrauch der Gymnosophistinnen nicht günstig genug, um mich zu seinem Vertheidiger aufzuwerfen. Auch war meine Meynung gar nicht, das zu sagen was mich der scharfsinnige K r a t y l u s sagen läßt. Die Weiber der Gymnosophisten schienen mir *)

Die öffentliche Ehrbarkeit diente ihnen statt eines Schleyers, sagt ich weiß nicht welcher

Alter von den Spartanischen Töchtern.

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nur zu beweisen, daß Gewohnheit und Umstände in Gebräuchen dieser Art alles entscheiden. Die Spartanischen Töchter, weil sie kurze Röcke, und die am Indus, weil sie gar keine Röcke tragen, sind darum weder unehrbarer noch grösserer Gefahr ausgesezt, als diejenigen, die ihre Tugend in sieben Schleyer einwickeln. Nicht die Gegenstände, sondern unsre Meynungen davon, sind die Ursache unordentlicher Leidenschaften. Die G y m n o s o p h i s t e n , welche keinen Theil des menschlichen Körpers für unedler halten als den andern, sehen ihre Weiber, wiewohl blos in ihr a n g e b o h r n e s F e l l gekleidet, für eben so gekleidet an, als die S c y t h e n die ihrigen, wenn sie ein T y g e r k a t 10

z e n f e l l um die Lenden hangen haben. „Ich wünschte nicht, daß Demokritus mit seiner Philosophie soviel über unsre Weiber vermöchte, daß sie sich solche Dinge in den Kopf sezten,“ sagte ein ehrenfester steifer Abderite, der mit Pelzwaaren handelte. Ich auch nicht, sagte ein Leinwandhändler. Ich warlich auch nicht, sagte Demokritus, wiewohl ich weder mit Pelzen noch Leinwand handle. Aber Eins erlauben Sie mir noch zu fragen, lispelte die Base, die so gerne lebendige Sphinxe gesehen haben möchte. Sie sind in der ganzen Welt herumgekommen; und es soll da viele wunderbare Länder geben, wo alles anders ist als bey uns; —

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(Ich glaube kein Wort davon, murmelte der Rathsherr, indem er, wie Homers Jupiter, das ambrosische Haar auf seinem weisheitschwangern Kopfe schüttelte): „Sagen Sie mir doch, in welchem unter allen diesen Ländern es Ihnen am besten gefallen hat?“ Wo könnt’ es Einem besser gefallen, als zu Abdera? „O wir wissen schon daß dies ihr Ernst nicht ist. Ohne Complimente! antworten Sie der jungen Dame wie Sie denken“ sagte der Rathsherr. Sie werden über mich lachen, erwiederte der Philosoph, aber weil Sie es verlangen, schöne K l o n a r i o n , so will ich Ihnen die reine Wahrheit sagen.

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Haben Sie nie von einem Lande gehört, wo die Natur so gut ist, neben ihren eigenen Verrichtungen, auch noch d i e A r b e i t d e r M e n s c h e n auf sich zu nehmen? Von einem Lande, wo ewiger Friede herrscht; wo niemand Knecht und niemand Herr, niemand arm und jedermann reich ist; wo der Durst nach Golde zu keinen Verbrechen zwingt, weil man das Gold zu nichts gebrauchen kan; wo eine Sichel ein eben so unbekantes Ding ist als ein Schwerdt; wo der

D i e A b d e r i t e n . 9 . ¼Kapitel½

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Fleißige nicht für den Müßiggänger arbeiten muß; wo es keine Ärzte giebt, weil niemand krank wird; keine Richter, weil es keine Händel giebt; keine Händel, weil jedermann zufrieden ist; und jedermann zufrieden ist, weil jedermann alles hat, was er nur wünschen kann; — mit einem Worte, von einem Lande, wo alle Menschen so fromm wie die Lämmer und so glücklich wie die Götter sind? Haben Sie nie von einem solchen Lande gehört? „Nicht, daß ich mich erinnerte.“ Dies ist ein Land, Klonarion! Da ist es nie zu warm und nie zu kalt, nie zu naß und nie zu trocken; Frühling und Herbst regieren dort nicht wechselweise, sondern, wie in den Gärten des Alcinous, zugleich in ewiger Eintracht. Berge

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und Thäler, Wälder und Auen sind mit allem angefüllt was des Menschen Herz gelüsten kan. Aber nicht etwan so, daß die Leute sich die Mühe geben müßten die Hasen zu jagen, die Vögel oder Fische zu fangen, und die Früchte zu pflükken, die sie essen wollen; oder daß sie die Gemächlichkeiten deren sie genießen erst mit vielem Ungemach erkauffen müßten. Nein; Alles macht sich da von selbst. Die Rebhüner und Schnepfen fliegen einen gespickt und gebraten um den Mund, und bitten demüthig daß man sie essen möchte; Fische von allen Arten schwimmen gekocht in Teichen von allen möglichen Brühen, deren Ufer immer voll Austern, Krebse, Pasteten, Schinken, und Ochsenzungen, liegen. Hasen und Rehböcke kommen freywillig herbeygelauffen, streiffen sich das

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Fell über die Ohren, stecken sich an den Bratspies, und legen sich, wenn sie gar sind, von selbst in die Schüssel. Allenthalben stehen Tische, die sich selbst decken; und weichgepolsterte Sophas oder niedliche Ruhebettchen laden allenthalben zum Ausruhen vom Nichtsthun und zu angenehmen Ermüdungen ein. Neben denselben rauschen kleine Bäche von Milch und Honig, von Cyprischem Wein, Citronenwasser und andern angenehmen Getränken; und über sie her wölben sich, mit Rosen und Jasmin untermengt, Stauden voller Becher und Gläser, die sich von selbst füllen, so oft sie ausgetrunken werden. Auch giebt es da Bäume, die statt der Früchte kleine Pastetchen, Bratwürste, Mandelkrapfen, und Buttersemmeln tragen; andere, die an allen Ästen mit Geigen, Harfen, Zithern, Theorben, Flöten und Waldhörnern behangen sind, welche von sich selbst das angenehmste Concert machen, das man hören kann. Die glücklichen Menschen, nachdem sie den wärmern Theil des Tages verschlaffen, und den Abend vertanzt, versungen und verscherzt haben, erfrischen sich dann in kühlen marmornen Bädern, wo sie von unsichtbaren Händen sanft

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gerieben, mit feinem Byssus, der sich selbst gesponnen und gewebt hat, abgetrocknet, und mit den kostbarsten Essenzen, die aus den Abendwolken wie feuchter Duft herunterthauen, eingebalsamt werden. Dann legen sie sich auf schwellenden Polstern um volle Tafeln her, und essen und trinken und lachen, singen, und tändeln und küssen, die ganze Nacht durch, die ein ewiger Vollmond zum sanftern Tage macht; und — was noch das Angenehmste ist — „O gehen Sie, Herr Demokritus, Sie haben mich zum besten! was Sie mir da erzählen, ist ja das Mährchen vom S c h l a r a f f e n l a n d e , das ich tausendmal von meiner Amme gehört habe, wie ich noch ein kleines Mädchen war.“ 10

Aber sie finden doch auch, Klonarion, daß sichs gut in diesem Lande leben müßte? Merken Sie denn nicht, daß unter allem diesen eine geheime Bedeutung verborgen liegt? sagte der weise Rathmann; Vermuthlich eine Satyre auf gewisse Philosophen, welche das höchste Gut in der Wollust suchen. Übel gerathen, Herr Rathsherr! dachte Demokritus. Ich erinnere mich in den A m p h i k t y o n e n des Teleklides eine ähnliche Beschreibung des goldnen Alters, die so drollicht als möglich ist, gelesen zu haben, sagte Frau Salabanda *). Das Land, das ich der schönen Klonarion beschrieb, sprach der Naturfor-

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scher, ist keine Satyre; es ist das Land, in welches, von jedem Dutzend unter euch weisen Leuten, zwölfe sich im Herzen hineinwünschen und nach Möglichkeit hineinarbeiten; und in welches uns eure Abderitischen Sittenlehrer hineindeclamiren wollen; wenn anders ihre Declamationen irgend einen Sinn haben. Ich möchte wohl wissen, wie sie dies verstehen, sagte der Rathsherr, der (vermög’ einer vieljährigen Gewohnheit nur mit halben Ohren zu hören, und sein Votum schlummernd von sich zu geben) nicht gerne die Mühe nahm, einer Sache lange nachzudenken. *)

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Frau Salabanda hat Recht. Lange vor dem H a m m e l der Madame Daunoy machte L u c i a n

in seiner w a h r e n G e s c h i c h t e , und lange vor Lucian machten die griechischen KomödienDichter, Metagenes, Pherekrates, Teleklides, Krates und Kratinus, Beschreibungen vom Schlaraffenlande und vom Schlaraffenleben, worinn sie sich in die Wette beeiferten, der ausschweifendsten Einbildungskraft eines neuern Mährchenmachers nichts übrig zu lassen. Die kühnsten Züge in dem Gemählde, welches Demokritus davon macht, sind aus den Fragmenten genommen, die uns Athenäus im sechsten Buche seines Gastmahls der Sophisten davon aufbehalten hat.

D i e A b d e r i t e n . 9 . ¼Kapitel½

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Sie lieben eine starke Beleuchtung, wie ich sehe, Herr Rathsmeister, erwiederte Demokritus. Aber zu viel Licht, ist zum Sehen eben so unbequem, als zu wenig. H e l l d u n k e l ist, däucht mir, gerade so viel Licht, als man gebraucht, um weder zu viel noch zu wenig zu sehen. Ich setze zum voraus, daß Sie überhaupt sehen können. Denn wenn dies nicht wäre, so begreifen Sie wohl, daß wir beym Licht von zehentausend Sonnen nicht besser sehen würden, als beym Schein eines Feuerwurms. „Sie sprechen von Feuerwürmern?“ — (sagte der Rathsherr, indem er bey dem Worte Feuerwurm aus einer Art von Seelenschlummer erwachte, in welchen er über dem Gaffen nach Salabandas Busen, während daß Demokritus

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redete, gefallen war.) — „Ich dachte wir sprächen von den Moralisten.“ Von Moralisten oder Feuerwürmern, wie es Ihnen beliebt, versezte Demokritus. Was ich sagen wollte, um Ihnen die Sache, wovon wir sprachen, deutlich zu machen, war dies: Ein Land, wo ewiger Friede herrscht, und wo alle Menschen in gleichem Grade frey und glücklich sind; wo das Gute nicht mit dem Bösen vermischt ist, Schmerz nicht an Wollust, und Tugend nicht an Untugend grenzt, wo lauter Schönheit, lauter Ordnung, lauter Harmonie ist, — mit einem Wort, ein Land, wie eure Moralisten den ganzen Erdboden haben wollen, ist entweder ein Land, wo die Leute k e i n e n M a g e n u n d k e i n e n U n t e r l e i b haben, oder es muß schlechterdings das Land seyn, das uns

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Teleklides schildert; aus dessen A m p h i k t y o n e n ich (wie die schöne Salabanda sehr wohl bemerkt hat) meine Beschreibung genommen habe. Vollkommene Gleichheit, vollkommene Zufriedenheit mit dem Gegenwärtigen, immerwährende Eintracht — kurz, die S a t u r n i s c h e n Z e i t e n , wo man keine Könige, keine Priester, keine Soldaten, keine Rathsherren, keine Moralisten, keine Schneider, keine Köche, keine Ärzte, und keine Scharfrichter braucht, sind nur in dem Lande möglich, wo einem die Rebhühner gebraten in den Mund fliegen, oder (welches ungefehr eben so viel sagen will) w o m a n k e i n e B e d ü r f n i s s e h a t . Dies ist, wie mich deucht, so klar, daß es demjenigen, dem es dunkel ist, durch alles Licht im Feuerhimmel nicht klärer gemacht werden könnte. Gleichwohl ärgern sich eure Moralisten darüber, daß die Welt so ist, wie sie ist; und wenn der ehrliche Philosoph, der die Ursachen weiß, warum sie nicht anders seyn kann, den Ärger dieser Herren lächerlich findet; so begegnen sie ihm, als ob er ein Feind der Götter und der Menschen wäre; welches zwar an sich selbst noch lächerlicher ist, aber zuweilen da, wo

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die milzsüchtigen Herren den Meister spielen, einen ziemlich tragischen Ausgang nimmt. „Aber was wollen Sie denn, daß die Moralisten thun sollen?“ Die Natur erst ein wenig kennen lernen, eh sie sich einfallen lassen, es besser zu wissen, als sie; Verträglich und duldsam gegen die Thorheiten und Unarten der Menschen seyn, welche die ihrigen dulden müssen; durch Beyspiele bessern, statt durch frostiges Gewäsche zu ermüden, oder durch Schmähreden zu erbittern; keine Würkungen fodern, wovon die Ursachen noch nicht da sind, und nicht verlangen, daß wir die Spitze eines Berges er10

reicht haben sollen, ehe wir hinauf gestiegen sind. „So unsinnig wird doch niemand seyn?“ — sagte der Abderiten einer. So unsinnig sind neun Zehentheile der Gesetzgeber, Projectmacher, Schulmeister und Weltverbesserer auf dem ganzen Erdenrund alle Tage! — sagte Demokritus. Die zeitverkürzende Gesellschaft, welche die Laune des Naturforschers unerträglich zu finden anfieng, begab sich nun wieder nach Hause; und dahlte unterwegs, beym Glanz des Abendsterns und einer schönen Dämmerung, von Sphinxen, Einhörnern, Gymnosophisten und Schlaraffenländern; und, so viel Mannigfaltigkeit auch unter allen den Albernheiten, welche gesagt wurden,

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herrschte, so stimmten doch alle darinn überein: daß Demokritus ein wunderlicher, einbildischer, überkluger, tadelsüchtiger, wiewohl bey allem dem ganz kurzweiliger, Sonderling sey. „Sein Wein ist das beste, was man bey ihm findet, sagte der Rathsherr.“ Gütiger Anubis! dachte Demokritus, da er wieder allein war: was man nicht mit diesen Abderiten reden muß, um sich die Zeit von ihnen vertreiben zu lassen!

10. Daß man sich aber gleichwohl nicht einbilde, als ob alle Abderiten, ohne Ausnahme, durch ein Gelübde oder durch ihren Bürgereyd verbunden gewesen 30

seyen, nicht mehr Verstand zu haben als ihre Großmütter, Ammen, und Rathsherren! Abdera, die Nebenbuhlerin von Athen, hatte auch Philosophen, so wie sie Mahler und Dichter hatte. Der berühmte Sophiste P r o t a g o r a s

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war ein Abderite gewesen, und hatte eine Menge von Schülern hinterlassen, die ihrem Meister zwar nicht an Witz und Beredsamkeit gleich kamen, aber ihm dafür auch an Eigendünkel und Albernheit desto überlegener waren. Diese Herren hatten sich eine bequeme Art von Philosophie zubereitet, vermittelst welcher sie ohne Mühe auf jede Frag’ eine Antwort fanden, und von allem was unter und über der Sonnen ist, so geläufig schwazten, daß — in so ferne sie nur immer Abderiten zu Zuhörern hatten — die guten Zuhörer sich festiglich einbildeten, ihre Philosophen wüßten sehr viel mehr davon als sie selbst; wiewohl im Grunde der Unterschied nicht so groß war, daß ein vernünftiger Mann eine Feige darum gegeben hätte. Denn am Ende lief es

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doch immer darauf hinaus, daß der Abderitische Philosoph, etliche lange nichts bedeutende Wörter abgerechnet, gerade so viel von der Sache wußte, als derjenige unter allen Abderiten, der — am wenigsten davon zu wissen glaubte. Diese Philosophen, vermuthlich weil sie es für zu klein hielten, in den D e t a i l d e r N a t u r herabzusteigen, gaben sich mit lauter Aufgaben ab, die ausserhalb der Grenzen des menschlichen Verstandes liegen. Bis in diese Region, dachten sie, folgt uns niemand, als — wer unsersgleichen ist; und was wir auch den Abderiten davon vorsagen, so sind wir wenigstens gewiß, daß uns niemand Lügen strafen kan. Zum Exempel: eine ihrer LieblingsMaterien war die Frage, „ w i e , w a r -

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u m , und w o r a u s die Welt entstanden sey?“ „Sie gieng aus einem Ey hervor, sagte E i n e r ; der Ether war das Weisse, das Chaos der Dotter, und die Nacht brütete es aus *).“ „Sie ist aus Feuer und Wasser entstanden, sagte ein A n d r e r . “ „Sie ist gar nicht entstanden, sprach der D r i t t e . Alles war immer so wie es ist, und wird immer so bleiben wie es war.“ Diese Meynung fand in Abdera wegen ihrer Bequemlichkeit vielen Beyfall. Sie erklärt alles, sagten sie, ohne daß man nöthig hat, sich erst lange den Kopf zu zerbrechen. E s i s t i m m e r s o g e w e s e n , war die gewöhnliche Antwort *)

Um denjenigen Lesern, welche weder den D i o g e n e s L a e r t i u s , noch des Deslandes oder

B r u c k e r s kritische Geschichte der Philosophie, noch die Kompendien des Hrn. F o r m e y oder D . B ü s c h i n g s , gelesen haben, irrige Vermuthungen zu ersparen, erinnert der Verfasser, daß alle hier vorkommende Hypothesen sich eines sehr ehrwürdigen Alterthums und zum Theil einer Menge Verfechter und Anhänger rühmen können. Die Meynung unsers Demokritus ist die einzige, welche, vermuthlich blos weil sie die gesündeste ist, keine Secte gemacht hat.

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eines Abderiten, wenn man ihn nach der Ursache oder dem Ursprung einer Sache fragte; und wer sich daran nicht ersättigen wollte, wurde für einen stumpfen Kopf angesehen. „Was ihr Welt nennt, sagte der V i e r t e , ist eigentlich eine ewige Reihe von Welten, die, wie die Häute einer Zwiebel, über einander liegen, und sich nach und nach ablösen.“ Sehr deutlich gegeben, riefen die Abderiten, sehr deutlich! Sie glaubten den Philosophen verstanden zu haben, w e i l s i e s e h r g u t w u ß t e n , w a s e i n e Zwiebel war. 10

„Schimäre! sprach der F ü n f t e . Es giebt freylich unzähliche Welten; aber sie entstehen aus der ungefehren Bewegung untheilbarer Sonnenstäubchen, und es ist viel Glück, wenn, nach zehntausendmal tausend übelgerathenen, endlich eine herauskömmt, die noch so leidlich vernünftig aussieht wie die unsrige.“ „Atomen geb’ ich zu sprach der S e c h s t e : aber keine Bewegung von Ungefehr und ohne Richtung. Die Atomen sind nichts, oder sie haben bestimmte Kräfte und Eigenschaften, und, je nachdem sie einander ähnlich oder unähnlich sind, ziehen sie einander an, oder stossen sich zurücke. Daher machte der weise E m p e d o k l e s (der Mann, der um die wahre Beschaffenheit des Ätna zu

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erkundigen, sich weislich mitten in den Becher desselben hineingestürzt haben soll), H a ß und L i e b e zu den ersten Ursachen aller Zusammensetzungen; und Empedokles hat Recht.“ „Um Vergebung, meine Herren, ihr habt alle Unrecht, sprach der S i e b e n d e . In Ewigkeit wird weder aus euerm mystischen Ey, noch aus euerm Bündnis zwischen Feuer und Wasser, noch aus euern Atomen, noch aus euern H o m ö o m e r i e n , eine Welt herauskommen, wenn ihr keinen G e i s t zu Hülfe nehmt. Die Welt ist wie jedes andre Thier eine Zusammensetzung von Materie und Geist. Der Geist ist es der dem Stoffe F o r m giebt; beyde sind von Ewigkeit her vereinigt; und, so wie einzelne Körper aufgelößt werden, sobald der

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Geist der ihre Theile zusammenhielt sich zurückzieht; so würde, wenn der allgemeine Weltgeist aufhören könnte, das Ganze zu umfassen und zu beleben, Himmel und Erde im nehmlichen Augenblick in einen einzigen, ungeheuren, gestaltlosen, finstern und todten Klumpen zusammenfallen.“ Davor wolle Jupiter und Latona seyn! rieffen die Abderiten, nicht ohne sich zu entsetzen, wie sie den Mann eine so fürchterliche Drohung ausstossen hör-

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ten. Es hat keine Gefahr, sagte der Priester S t r o b y l u s ; so lange wir das goldne Fell des Phrixus, und d i e F r ö s c h e d e r L a t o n a in unsern Mauern haben, soll es der Weltgeist des S i s a m i s wohl bleiben lassen, solchen Unfug in der Natur anzurichten. „Meine Freunde sprach der A c h t e , der Weltgeist des weisen Sisamis ist mit den Atomen, Homöomerien, Zwiebeln und Eyern meiner Collegen von gleichem Schlage. Einen D e m i u r g müssen wir annehmen, wenn wir eine Welt haben wollen; denn ein Gebäude sezt einen Baumeister oder wenigstens einen Zimmermeister voraus; und nichts macht sich von sich selbst, wie wir alle wissen.“

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Aber man spricht doch alle Tage: dies wird von sich selbst kommen, von sich selbst gehen — sagten die Abderiten. „Man spricht wohl so, antwortete der Philosoph, allein, wo habt ihr jemals gesehen, daß es würklich so erfolgt wäre? Ich habe freylich unsre Archonten wohl tausendmal sagen hören: es wird sich schon geben; es wird schon kommen! dies oder jenes wird sich schon machen! Aber wir hatten gut warten! Es gab sich nicht, kam nicht, und machte sich nicht.“ Nur allzuwahr, was die Werke unsrer Archonten betrift, (sagte ein alter S c h u h f l i c k e r , der für einen Mann von Einsicht beym Volke galt, und grosse Hofnung hatte bey der nächsten Wahl Zunftmeister zu werden): aber mit den

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Werken der Natur, wie die Welt ist, mag es doch wohl anders bewandt seyn. Warum sollte die Welt nicht eben so gut aus dem Chaos hervorwachsen können, wie ein Pilz aus der Erde wächst? „ M e i s t e r P f r i e m e , versetzte der Philosoph, zum Zunftmeister soll er meine und aller meiner Vettern Stimme haben; aber keine Einwürfe gegen mein System, wenn ich bitten darf! Die Pilzen wachsen freylich von selbst aus der Erde hervor, weil — weil — weil sie Pilzen sind; aber eine Welt wächst nicht von selbst, weil sie kein Pilz ist; versteht er mich nun, Meister Pfrieme?“ Alle Anwesenden lachten von Herzen, daß Meister Pfrieme so abgeführt war. Die Welt ist kein Pilz, dies ist klar wie Taglicht, rieffen die Abderiten, da ist nichts einzuwenden, Meister Pfrieme! — Verzweifelt! murmelte der künftige Zunftmeister; aber so geht es, wenn man sich mit diesen Herren abgiebt, welche beweisen können, daß der Schnee weiß ist — s c h w a r z i s t , w o l l t e t i h r s a g e n , N a c h b a r . — Ich weiß, was ich gesagt habe, und was ich sagen wollte, antwortete Meister Pfrieme; und ich wünsche nur, daß die Republik —

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„Vergeß’ er die vierzehn Stimmen nicht, die ich ihm verschaffe, Meister Pfrieme! rief der Philosoph. —“ Wohl, wohl! alles wohl! Aber D e m i u r g — das klingt mir bald so wie D e m a g o g ; und ich will weder Demagogen noch Demiurgen haben; ich bin für d i e F r e y h e i t , und wer ein guter Abderite ist, der schwinge seinen Hut, und folge mir! Und hiemit gieng Meister Pfrieme davon, (denn der Leser merkt von selbst, daß alles dies in einer Halle von Abdera gesprochen wurde) und einige müßige Tölpel, die ihn allerwegen zu begleiten pflegten, folgten ihm. Aber der Philosoph, ohne zu thun als ob er es gewahr werde, fuhr fort: 10

„Ohne einen Baumeister, einen Demiurgen, oder wie ihr ihn nennen wollt, läßt sich vernünftiger Weise keine Welt bauen. Aber, merket wohl, es kam auf den Demiurg an, ob er bauen wollte oder nicht; und da er nun einmal bauen wollte, laßt sehen wie er es anfieng. Stellt euch die Materie als einen ungeheuren Klumpen von vollkommnen dichten Kristall vor *); und den Demiurg, wie er mit einem grossen Hammer von Diamant diesen Klumpen auf Einen Schlag in so viele unendlich kleine Stückchen zerschmettert, daß sie, durch den leeren Raum viele Millionen Cubikmeilen herumstieben. Natürlicher Weise brachen sich diese unendlich kleine Stückchen Cristall auf verschiedene Art; und indem sie, mit der ganzen Heftigkeit der Bewegung, die ihnen der Schlag mit

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dem diamantnen Hammer gab, auf tausendfache Art wider einander fuhren, und sich unter einander auf allen Seiten stiessen, schlugen und rieben; so entstund daraus nothwendig eine unzählige Menge Körperchen von allerley regelmäßigen und unregelmäßigen Figuren; dreyeckichte, viereckichte, achteckichte, vieleckichte, und runde. Aus den runden wurde Wasser und Luft, welche nichts anders als verdünnertes Wasser ist; aus den dreyeckichten Feuer, aus den übrigen die Erde, und aus diesen vier Elementen sezt die Natur, wie ihr wißt, alle Körper in der Welt zusammen.“ „Das ist wunderbar, sehr wunderbar! aber es begreift sich doch, sagten die Abderiten. Ein Klumpen Kristall, ein diamantner Hammer, und ein Demiurg,

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der den Kristall so meisterhaft in Stücken schlägt, daß aus den Splittern, ohne seine weitere Bemühung, eine Welt entsteht! In der That die scharfsinnigste Hypothese, die man sehen kann, und gleichwohl so simpel, daß man dächte, man hätte sie alle Augenblicke selbst erfinden können!“ *)

Dieser Philosoph war also ein Cartesianer vor dem Cartesius.

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„Ich erkläre mittelst dieser so simpeln Voraussetzung alle möglichen Wirkungen der Natur,“ sagte der Philosoph mit selbst zufriednen Lächeln. „ N i c h t e i n W e s p e n n e s t , rief ein Neunter, D ä m o n a x genannt, der den Behauptungen seiner Mitbrüder bisher mit stillschweigender Verachtung zugehört hatte. Es gehören andre Kräfte und Anstalten dazu, ein so grosses, so schönes, so wundervolles Werk als dieses Weltgebäude ist, zu Stande zu bringen. Nur ein höchstvollkommner Verstand konnte d e n P l a n davon erfinden; wiewohl ich gerne gestehe, daß zur Ausführung geringere Werkmeister hinlänglich waren. Er überlies sie verschiedenen Classen der subalternen Götter, wies einer jeden Classe ihren besondern Kreis an, in welchem sie arbeitet, und

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begnügte sich, die allgemeine Aufsicht über das Ganze zu führen. Es ist lächerlich, den Ursprung der Weltkörper, des Erdbodens, der Pflanzen, der Thiere, und alles dessen was in Luft und Wasser ist, aus Atomen oder Sympathien oder ungefehrer Bewegung oder einem einzigen HammerSchlag erklären zu wollen. G e i s t e r sind es, welche in den Elementen herrschen, die Sphären des Himmels drehen, die organischen Körper bilden, das Frühlingsgewand der Natur mit Blumen sticken, und die Früchte des Herbsts in ihren Schoos ausgießen. Kan etwas faßlicher und angenehmer seyn als diese Theorie? Sie erklärt alles; sie leitet jede Würkung aus einer ihr angemessnen Ursache ab; und durch sie begreift man die in jedem andern System unerklär-

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bare K u n s t d e r N a t u r eben so leicht, als man begreift, wie Zeuxes oder Parhasius mit ein wenig gefärbter Erde eine bezaubernde Landschaft oder ein Bad der Diana erschaffen kan.“ Was für eine schöne Sache es um die Philosophie ist! sagten die Abderiten. Alles was man daran aussetzen möchte, ist, daß einem unter so viel feinen Theorien die Wahl sauer wird. Indessen machte doch d e r P y t h a g o r ä e r , der alles durch Geist bewerkstelligte, das meiste Glück. Die P o e t e n , die M a h l e r , und alle übrigen S c h u t z v e r w a n d t e n d e r M u s e n , mit dem sämtlichen F r a u e n z i m m e r , v o n A b d e r a an ihrer Spitze, erklärten sich für die Geister; doch unter der Bedingung, daß es ihnen erlaubt seyn müsse, sie in so angenehme Gestalten als jedem gefällig sey einzukleiden. Ich bin nie ein besonderer Freund der Philosophie gewesen, (sagte d e r P r i e s t e r S t r o b y l u s ) und aus Ursache: aber wenn die Abderiten ihr Grübeln über das w i e und w a r u m der Dinge nun einmal nicht lassen können, so

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habe ich gegen die Physik des Dämonax noch immer am wenigsten einzuwenden; unter den gehörigen Einschränkungen, verträgt sie sich noch so ziemlich — O sie verträgt sich mit allem in der Welt, sagte Dämonax; dies ist eben die Schönheit davon! Soll ich euch meine Meynung sagen? sprach Demokritus: wenn es euch etwan würklich darum zu thun seyn sollte, die Beschaffenheit der Dinge die euch umgeben kennen zu lernen, so däucht mich, ihr nehmt einen ungeheuren Umweg. Die Welt ist sehr groß; und von dem Standort, woraus wir in sie hineingucken, nach ihren vornehmsten Provinzen und Hauptstädten, ist es so 10

weit, daß ich nicht wohl begreiffe, wie sich einer von uns einfallen lassen kan, die Karte eines Landes aufzunehmen, wovon ihm, sein angebohrnes Dörfchen ausgenommen, alles übrige und so gar die Grenzen unbekannt sind. Ich dächte, ehe wir K o s m o g o n i e n und K o s m o l o g i e n träumten, setzten wir uns hin und beobachteten, zum Exempel den Ursprung e i n e r S p i n n e w e b e , und dies so lange, bis wir soviel davon herausgebracht hätten als fünf MenschenSinne, mit Verstand angestrengt, daran entdecken können. Ihr werdet zu thun finden, das könnt ihr mir auf mein Wort glauben; aber dafür werdet ihr auch erfahren, daß euch diese einzige Spinnewebe mehr Aufschlüsse über das grosse System der Natur, und würdigere Begriffe von seinem Urheber

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geben wird, als alle die feinen Weltsysteme, die ihr, zwischen Wachen und Schlaf, aus euerm eignen Gehirne herausgesponnen habt. Demokritus meynte dies, in ganzem Ernst; aber die Philosophen von Abdera glaubten, daß er ihrer spotten wolle. Er versteht nichts von der Pnevmatik, sagte der eine. Von der Physik noch weniger, sagte der andere. Er ist ein Zweifler — er glaubt keine Grundtriebe — keinen Weltgeist — keinen Demiurg — keinen Gott! — sagte der dritte, vierte, fünfte, sechste und siebende. Man sollte solche Leute gar nicht im gemeinen Wesen dulden, sagte d e r P r i e ster Strobylus.

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11. Bey dem allen war Demokritus ein M e n s c h e n f r e u n d in der ächtesten Bedeutung des Worts. Denn er meynte es gut mit der Menschheit, und freute sich über nichts so sehr als, wenn er irgend etwas Böses verhüten, oder etwas Gutes thun, veranlassen oder befördern konnte. Und, wiewohl er glaubte, daß der Charakter eines W e l t b ü r g e r s Verhältnisse in sich schließe, denen, im Collisionsfall, alle andere weichen müßten: so hielt er sich doch darum nicht weniger verbunden, als e i n B ü r g e r v o n A b d e r a , an dem Zustande seines Vaterlandes Antheil zu nehmen, und, so viel er könnte, zu dessen Verbesserung beyzutragen. Allein, da man nur in so fern Gutes thun kan, als das

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Subject dessen fähig ist; so fand er sein Vermögen, durch die unzählichen Hindernisse die ihm die Abderiten entgegen sezten, in so enge Grenzen eingeschlossen, daß er Ursache zu haben glaubte, sich als eine der entbehrlichsten Personen in dieser kleinen Republik anzusehen. Was sie am nöthigsten haben, dacht’ er, und das Beste was ich an ihnen thun könnte, wäre, sie klug zu machen. Aber die Abderiten sind freye Leute. Wenn sie nun nicht klug seyn w o l l e n ; wer kan sie nöthigen? Da er also bey so bewandten Umständen wenig oder nichts für die Abderiten a l s A b d e r i t e n thun konnte, glaubte er hinlänglich gerechtfertigt zu seyn, wenn er wenigstens seine eigene Person in Sicherheit zu bringen suchte,

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und einen so großen Theil als immer möglich von derjenigen Zeit rettete, die er der Erfüllung seiner weltbürgerlichen Pflichten schuldig zu seyn vermeynte. Weil nun seine bisherige Freystätte entweder nicht weit genug von Abdera entfernt war, oder wegen ihrer Lage und andrer Bequemlichkeiten so viel Reiz für die Abderiten hatte, daß er, ungeachtet seines Auffenthalts auf dem Lande, sich doch immer mitten unter ihnen befand: so zog er sich noch etliche Stadien weiter in einen Wald, der zu seinem Gute gehörte, zurück, und bauete sich in die wildeste Gegend desselben ein kleines Haus, wo er die meiste Zeit in der einsamen Ruhe, die das eigene Element des Philosophen und des Dichters ist, dem Erforschen der Natur, und der Betrachtung oblag. Einige neuere Abderiten haben sich von den Beschäftigungen dieses G r i e c h i s c h e n B a c o n s in seiner Einsamkeit wunderliche, wiewohl auf ihrer Seite sehr natürliche Begriffe gemacht. „Er arbeitete am S t e i n d e r W e i s e n ,

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sagt B o r r i c h i u s , und er fand ihn, und machte Gold.“ Zum Beweis davon, beruft er sich darauf, daß Demokritus ein Buch von S t e i n e n u n d M e t a l l e n geschrieben habe. Die Abderiten, seine Zeitgenossen und Mitbürger, giengen noch weiter; und ihre Vermuthungen — die in Abderitischen Köpfen gar bald zur Gewißheit wurden — gründeten sich auf eben so gute Schlüsse, als jener des Borrichius. Demokritus war von Persischen Magis erzogen worden *); er war zwanzig Jahre in den Morgenländern herumgereist; hatte mit Egyptischen Priestern, Chaldäern, Brachmanen und Gymnosophisten Umgang gepflogen, 10

und war in allen ihren Mysterien initiirt; er hatte tausend A r c a n a von seinen Reisen mit sich gebracht, und wußte zehntausend Dinge, wovon niemals etwas in eines Abderiten Sinn gekommen war. — Machte dies alles zusammengenommen nicht den vollständigsten Beweis, daß er ein ausgelernter Meister in der Magie, und allen davon abhängenden Künsten seyn mußte? — Der ehrwürdige Pater D e l R i o hätte Spanien, Portugall und Algarbien auf die Hälfte eines Beweises wie dieser ist verbrennen lassen. Aber die guten Abderiten hatten noch nähere Beweisthümer in Händen, daß ihr gelehrter Landsmann — ein wenig hexen konnte. Er sagte Sonnen und Mondsverfinsterungen, Miswachs, Seuchen und andre zukünftige Dinge zu-

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vor. Er hatte einem verbuhlten Mädchen aus der Hand geweissagt, daß sie — zu Falle kommen; und einem Rathsherrn von Abdera, dessen ganzes Leben zwischen Schlafen und Schmausen getheilt war, daß er an einer Unverdaulichkeit sterben würde; — und beydes war genau eingetroffen. Überdem hatte man Bücher mit w u n d e r l i c h e n Z e i c h e n in seinem Cabinette gesehen; man hatte ihn bey allerley, v e r m u t h l i c h magischen Operationen mit Blut von Vögeln und Thieren, angetroffen; man hatte ihn v e r d ä c h t i g e Kräuter kochen gesehen, und einige junge Leute wollten ihn sogar in später Nacht, bey sehr blassem Mondschein, zwischen Gräbern sitzend überschlichen haben. „Um ihn zu schrecken, hatten wir uns in die scheuslichsten Larven verkleidet,

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sagten sie: Hörner, Ziegenfüsse, Drachenschwänze, nichts fehlte uns, um leibhafte Feldteufel und Nachtgespenster vorzustellen; wir bliesen sogar Rauch *)

X e r x e s , der bey seinem Kriegszug gegen die Griechen, einige Tage zu Abdera bey dem

Vater des Demokritus sein Hauptquartier gehabt, hatte den damals noch sehr jungen Demokritus lieb gewonnen, und zu dessen besserer Erziehung ein paar von den Magis, die er bey sich hatte, zurückgelassen. D i o g e n . L a e r t .

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aus Nasen und Ohren, und machten es so arg um ihn herum, daß ein Herkules vor Schrecken hätte zum Weibe werden mögen. Aber Demokritus achtete unser nicht; und, da wir es ihm endlich zu lange machten, sagte er blos: Nun, wird das Kinderspiel noch lange währen *)?“ — Da sieht man augenscheinlich, sagten die Abderiten, daß es nicht recht richtig mit ihm ist; Geister sind nichts Neues für ihn; er muß wohl wissen, wie er mit ihnen steht! — „Er ist ein Zauberer; nichts kann gewisser seyn, sagte der Priester Strobylus; wir müssen ein wenig besser acht auf ihn geben!“ Man muß gestehen, daß Demokritus, entweder aus Unvorsichtigkeit, oder (welches glaublicher ist) weil er sich wenig aus der Meynung seiner Landsleute

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machte, zu diesen und andern bösen Gerüchten einige Gelegenheit gab. Man konnte in der That nicht lange unter den Abderiten leben, ohne in Versuchung zu gerathen, i h n e n e t w a s a u f z u h e f t e n . Ihr Vorwitz und ihre Leichtglaubigkeit auf der einen Seite, und die hohe Einbildung, die sie sich von ihrer eignen Scharfsinnigkeit machten, auf der andern, foderten einen gleichsam heraus; und überdies war auch sonst kein Mittel, sich für die Langeweile, die man bey ihnen hatte, zu entschädigen. Demokritus befand sich nicht selten in diesem Falle; und da die Abderiten albern genug waren, alles, was er ihnen i r o n i s c h e r W e i s e sagte, im b u c h s t ä b l i c h e n S i n n e zu nehmen; so entstunden daher die vielen ungereimten Meynungen und Mährchen, die auf

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seine Rechnung in der Welt herumliefen, und noch viele Jahrhunderte nach seinem Tode von andern Abderiten für baares Geld angenommen, oder wenigstens ihm selbst unbilliger Weise zur Last gelegt wurden. Demokritus hatte sich, unter anderm, auch mit der P h y s i o g n o m o n i e abgegeben und theils aus seinen eigenen Beobachtungen, theils aus dem was ihm Andere von den ihrigen mitgetheilt, sich eine Theorie davon gemacht, von deren Gebrauch er (sehr vernünftig wie uns däucht) urtheilte, daß es damit eben so wie mit der Theorie der Poetischen Kunst beschaffen sey. Denn so wie noch keiner durch die bloße Wissenschaft der Regeln ein guter Dichter geworden sey, und nur derjenige, welchen Natur, Begeisterung und lange Übung dazu gemacht habe, geschickt sey, solche recht zu verstehen und anzuwenden: so sey auch die Theorie der Kunst aus dem Äusserlichen des Menschen auf das Innerliche zu schließen nur für Leute von grosser Fertigkeit im Beobachten *)

S. L u c i a n im P h i l o p s e u d e s .

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und Unterscheiden brauchbar, für jeden andern hingegen eine höchst ungewisse und betrügliche Wissenschaft; und eben darum müsse sie als eine von den g e h e i m e n W i s s e n s c h a f t e n oder g r o s s e n M y s t e r i e n der Philosophie immer nur der kleinen Zahl der ächten E p o p t e n * ) vorbehalten bleiben. Diese Art von der Sache zu denken bewies, daß Demokritus k e i n C h a r l e t a n war: aber den Abderiten bewies sie blos, daß er ein Geheimnis aus seiner Wissenschaft mache. Daher ließen sie nicht ab, ihn, so oft sich die Rede davon gab, zu necken und zu plagen, daß er ihnen etwas davon entdecken 10

sollte. Besonders drückte dieser Vorwitz die Abderitinnen. Sie wollten von ihm wissen — an was für äusserlichen Merkmalen ein getreuer Liebhaber zu erkennen sey? Ob M i l o n v o n K r o t o n a * * ) eine sehr grosse Nase gehabt habe? Ob eine blasse Farbe ein nothwendiges Zeichen eines Verliebten sey? — und hundert andre Fragen dieser Art, mit denen sie seine Geduld so sehr ermüdeten, daß er endlich ihrer loß zu werden, auf den Einfall kam, sie ein wenig zu erschrecken. Aber das haben Sie Sich wohl nicht vorgestellt, sagte Demokritus, daß die Jungferschaft ein unbetrügliches Merkzeichen in den Augen haben könnte? „In den Augen? rieffen die Abderitinnen. O! das ist nicht möglich! Warum

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just in den Augen?“ Es ist nicht anders, versezte Demokritus; und was Sie mir gewiß glauben können, ist, daß mir dieses Merkmal schon öfters von den Geheimnissen junger und alter Schönen mehr entdeckt hat, als diese Lust gehabt haben würden, mir von freyen Stücken anzuvertrauen ***). Der zuversichtliche Ton, womit er dies sagte, verursachte einige Entfärbungen; wiewohl die Abderitinnen (die in allen Fällen, wo es auf die gemeine Sicherheit ihres Geschlechtes ankam, einander getreulich beyzustehen pfleg*)

E p o p t e n hießen diejenige, welche, nach ausgestandner Prüfung zum A n s c h a u e n der

grossen Mysterien zu Eleusis zugelassen wurden. S. W a r b u r t o n’ s Divine Legation Vol. I. 30

p. 155. der 4ten Ausgabe. **)

Ein Mann von dessen wunderbarer Leibesstärke und Gefräßigkeit, die fabelhaften Grae-

culi erstaunliche Dinge zu erzählen wissen; z. E. daß er einen wohlgemästeten Ochsen dreyhundert Schritte weit auf den Schultern getragen, und nachdem er ihn mit einem einzigen Faustschlag tod gemacht, in einem Tage aufgegessen habe. ***)

Eine der Hälfte des menschlichen Geschlechtes verhaßte Sagacität — nennt dies Joh.

Chrysostomus M a g n e n u s , in seinem Leben des Demokritus.

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ten) mit grosser Hitze darauf bestunden, daß sein vorgebliches Geheimnis eine Schimäre sey. Sie nöthigen mich durch ihren Unglauben, daß ich Ihnen noch mehr sagen muß, fuhr der Philosoph fort. Die Natur ist voll solcher Geheimnisse, meine schönen Damen; und wofür sollt’ ich auch, wenn es sich der Mühe nicht verlohnte, bis nach Äthiopien und Indien gewandert seyn? die Gymnosophisten, deren Weiber — wie Sie wissen — nackend gehen, haben mir sehr artige Sachen entdeckt. Zum Exempel? — sagten die Abderitinnen. Unter andern ein Geheimnis, welches ich, wenn ich ein Ehmann wäre, lie-

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ber nicht zu wissen wünschen würde. „Ach, nun haben wir die Ursache warum sich Demokritus nicht verheyrathen will, rief die schöne T r y a l l i s . “ „Als ob wir nicht schon lange wüßten sagte Salabanda, daß es seine äthiopische Venus ist, die ihn für unsre Griechische so unempfindlich macht. — Aber Ihr Geheimnis, Demokritus, wenn man es keuschen Ohren vertrauen darf.“ Zum Beweise, daß man es darf, will ich es den Ohren aller gegenwärtigen Schönen anvertrauen, antwortete der Naturforscher. Ich weiß ein unfehlbares Mittel, wie man machen kan, daß ein Frauenzimmer, im Schlafe, mit ver-

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nehmlicher Stimme alles sagt, was sie auf dem Herzen hat. O gehen Sie, rieffen die Abderitinnen, Sie wollen uns bange machen; aber — wir lassen uns nicht so leicht erschrecken. Wer wollte auch an Erschrecken denken, sagte Demokritus, wenn von einem Mittel die Rede ist, wodurch einer jeden ehrlichen Frau Gelegenheit gegeben wird, zu zeigen, daß sie keine Geheimnisse hat, die ihr Mann nicht wissen dürfte. „Würkt Ihr Mittel auch bey Unverheyratheten?“ fragte eine Abderitin, die weder jung noch reizend genug zu seyn schien, um eine solche Frage zu thun. Es würkt vom zehnten Jahre an bis zum achtzigsten (erwiederte Demokritus) ohne Beziehung auf irgend einen andern Umstand, worinn sich ein Frauenzimmer befinden kan. Die Sache fieng an ernsthaft zu werden. — „Aber sie scherzen nur, Demokritus?“ sprach die Gemahlin eines T h e s m o t h e t e n , mit einer Mine, als ob sie besorgte, des Gegentheils versichert zu werden.

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Wollen Sie die Probe machen, L y s i s t r a t a ? „Die Probe? — Warum nicht? — Aber voraus bedungen, daß nichts magisches dazu gebraucht wird! denn mit Hülfe Ihrer Talismanen und Geister könnten Sie eine arme Frau sagen machen, was Sie wollten.“ Es haben weder Geister noch Talismane damit zu thun; alles geht natürlich zu; und das Mittel, das ich gebrauche, ist die simpelste Sache von der Welt. Die Damen fiengen an, bey allen Grimassen von Herzhaftigkeit, wozu sie sich zu zwingen suchten, eine Unruhe zu verrathen, die den Philosophen sehr belustigte. „Wenn man nicht wüßte, daß Sie ein Spötter sind, der die ganze 10

Welt zum Besten hat — Aber darf man fragen, worinn Ihr Mittel besteht?“ Wie ich Ihnen sagte, die natürlichste Sache von der Welt. Ein ganz kleines unschädliches Ding, einem schlafenden Frauenzimmer aufs Herzgrübchen gelegt, das ist das ganze Geheimnis! Aber es thut Wunder, dies können Sie mir glauben. Es macht reden, so lange noch im innersten Winkel des Herzens was zu entdecken ist. Unter sieben Frauenzimmern, die sich in der Gesellschaft befanden, war nur eine, deren Mine und Geberde unverändert die nemliche blieb wie vorher. Man wird denken, sie sey alt, oder häßlich, oder gar tugendhaft gewesen; aber nichts von allem diesen! Sie war — taub.

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„Wenn Sie wollen, daß wir Ihnen glauben sollen, Demokritus, so nennen Sie Ihr Mittel.“ Ich will es dem Gemahl der schönen T h r y a l l i s ins Ohr sagen, sprach der boshafte Naturkündiger. Der Gemahl der schönen Thryallis war, ohne blind zu seyn, so glücklich, als H a g e d o r n einen Blinden schäzt, dessen Gemahlin schön ist. Er hatte immer gute Gesellschaft, oder wenigstens was man zu Abdera so nannte, in seinem Hause. Der gute Mann glaubte, man finde so viel Vergnügen an seinem Umgang, und an den Versen, die er seinen Besuchen vorzulesen pflegte. In der That hatte er das Talent, die schlechten Verse die er machte nicht übel zu

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lesen; und weil er mit vieler Begeisterung las, so ward er nicht gewahr, daß seine Zuhörer, anstatt auf seine Verse Acht zu geben, mit der schönen Thryallis liebäugelten. Kurz der Rathsherr S m i l a x war ein Mann, der eine viel zu gute Meynung von sich selbst hatte, um von der Tugend seiner Gemahlin eine schlimme zu hegen. Er bedachte sich also keinen Augenblick, dem Geheimnis des Demokritus sein Ohr darzubieten.

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Es ist weiter nichts, flüsterte ihm der Philosoph ins Ohr, als die Zunge eines lebendigen Frosches, die man einer schlafenden Dame auf die linke Brust legen muß. Aber Sie müssen sich beym Ausreissen wohl in acht nehmen, daß nicht das geringste von den daranhängenden Theilen mit geht; und der Frosch muß wieder ins Wasser gesezt werden. „Das Mittel mag nicht übel seyn, sagte Smilax leise; nur Schade daß es ein wenig bedenklich ist! Was würde der Priester Strobylus dazu sagen?“ Sorgen Sie nicht dafür, versezte Demokritus: ein Frosch ist doch keine Diana, der Priester Strobylus mag sagen was er will. Und zudem geht es dem Frosche ja nicht ans Leben.

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„Ich darf es also weiter geben? fragte Smilax.“ Von Herzen gerne; alle Mannspersonen in der Gesellschaft dürfen es wissen; und ein jeder mag es ungescheut allen seinen Bekannten entdecken; nur mit der Bedingung, daß es keiner weder seiner Frau, noch seiner Maitresse wieder sage. Die guten Abderitinnen wußten nicht was sie von der Sache glauben sollten. Unmöglich schien sie ihnen nicht; und was sollte auch Abderiten unmöglich scheinen? — Ihre gegenwärtigen Männer oder Liebhaber waren nicht viel ruhiger; jeder sezte sich heimlich vor, das Mittel ohne Aufschub zu probiren, und jeder (den glücklichen Smilax ausgenommen) besorgte, gelehrter da-

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durch zu werden, als er wünschte. „Nicht wahr, Männchen — sagte Thryallis zu ihrem Gemahl, indem sie ihn freundlich auf die Backen klopfte, du kennst mich zu gut, um einer solchen Probe nöthig zu haben?“ „Der meinige sollte sich so was einfallen lassen, sprach L a g i s k a . Eine Probe sezt Zweifel voraus, und ein Mann, der an der Tugend seiner Frau zweifelt“ — ist ein Mann, der Gefahr läuft, seine Zweifel in Gewißheit verwandelt zu sehen, sagte Demokritus; das wollten Sie doch sagen, schöne Lagiska? „Sie sind ein Weiberfeind, Demokritus, rieffen die Abderitinnen allezumal; aber vergessen Sie nicht, daß wir in Thrazien sind, und hüten Sie Sich vor dem Schicksal des Orpheus!“ Wiewohl dies im Scherz gesagt wurde, so war doch Ernst dabey. Natürlicher Weise läßt man sich nicht gern ohne Noth schlaflose Nächte machen; und in der That würde es schwer seyn, den Philosophen von einer solchen Absicht frey zu sprechen, da er die Folgen seines Einfalles nothwendig voraussehen

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mußte. Würklich gab diese Sache den sieben Damen so viel zu denken, daß sie die ganze Nacht kein Auge zuthaten; und da das vorgebliche Geheimniß des Demokritus den folgenden Tag in ganz Abdera herumlief, so verursachte er dadurch etliche Nächte hinter einander eine allgemeine Schlaflosigkeit. Indessen brachten die Weiber bey Tage wieder ein, was ihnen bey Nacht abgieng; und weil verschiedene sich nicht einfallen liessen, daß man ihnen das Arcanum, wenn sie unter Tages schliefen, eben so gut appliciren könne als bey Nacht, und daher ihr Schlafzimmer zu verriegeln vergassen: so bekamen die Männer unverhoft Gelegenheit, von ihren Froschzungen Gebrauch zu ma10

chen. Lysistrata, Thryallis, und einige andre, die am meisten dabey zu wagen hatten, waren die ersten, an denen die Probe, mit demjenigen Erfolg den man leicht voraussehen kan, gemacht wurde. Aber eben dies stellte in kurzem die Ruhe in Abdera wieder her. Die Männer dieser Damen, nachdem sie das Mittel zwey oder dreymal ohne Erfolg gebraucht hatten, kamen in vollen Sprunge zu unserm Philosophen gelauffen, um sich zu erkundigen, was dies zu bedeuten hätte. So? rief er ihnen entgegen; hat die Froschzunge ihre Würkung gethan? Haben Ihre Weiber gebeichtet? — Kein Wort, keine Sylbe, sagten die Abderiten. Desto besser, rief Demokritus; triumphieren Sie darüber! Wenn eine schlafende Frau mit einer Froschzunge auf dem Herzen nichts sagt, so ist es

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ein Zeichen daß sie nichts zu sagen hat. Ich wünsche Ihnen Glück, meine Herrn; Jeder von Ihnen kann sich rühmen, daß er den Phönix der Weiber in seinem Hause besitze. Wer war glücklicher als unsre Abderiten! Sie liefen so schnell als sie gekommen waren, wieder zurück, fielen ihren erstaunten Weibern um den Hals, erstickten sie mit Küssen und Umarmungen, und bekannten nun freywillig, was sie gethan hatten, um sich von der Tugend ihrer Hälften (wiewohl wir davon schon gewiß waren, sagten sie) noch gewisser zu machen. Die guten Weiber wußten nicht, ob sie ihren Sinnen glauben sollten. Aber, wiewohl sie Abderitinnen waren, hatten sie doch Verstand genug, sich auf der

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Stelle zu fassen, und ihren Männern ein so unzärtliches Mißtrauen, als dasjenige war, dessen sie sich selbst anklagten, nachdrücklich zu verweisen. Einige trieben die Sache bis zu Thränen; aber alle hatten Mühe, die Freude zu verbergen, die ihnen eine so u n v e r h o f t e Bestätigung ihrer Tugend verursachte; und, wiewohl sie, der Anständigkeit wegen, auf den Demokritus schmählen mußten, so war doch keine, die ihn nicht dafür hätte umarmen

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mögen, daß er ihnen einen so guten Dienst geleistet hatte. Freylich war dies nicht, was er gewollt hatte. Aber die Folgen dieses einzigen unschuldigen Scherzes mochten ihn lehren, daß man mit Abderiten nicht behutsam genug scherzen kann! — Indessen (wie alle Dinge dieser Welt mehr als eine Seite haben) so fand sich auch, daß aus dem Übel, welches unser Philosoph den Abderiten wider seine Absicht zugefügt hatte, gleichwohl mehr Gutes entsprang, als man vermuthlich hätte erwarten können, wenn die Froschzungen gewürkt hätten. Die Männer machten die Weiber durch ihre unbegrenzte S i c h e r h e i t , und die Weiber die Männer durch ihre G e f ä l l i g k e i t und g u t e L a u n e glücklich. Nirgends in der Welt sah man zufriednere Ehen, als

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in Abdera. Und, bey allem dem waren die Stirnen der Abderiten so glatt, und die Ohren und Zungen der Abderitinnen so keusch, als die von andern Leuten!

12. Ein andermal geschah es, daß sich Demokritus an einem schönen Frühlingsabend mit einer Gesellschaft in einem von den Lustgärten befand, womit die Abderiten die Gegend um ihre Stadt verschönert hatten. — „Würklich verschönert?“ — Dies nun eben nicht; denn woher hätten die Abderiten nehmen sollen, daß die Natur schöner ist als die Kunst; und daß zwischen k ü n s t e l n und v e r s c h ö n e r n ein Unterschied ist? — Doch davon soll nur die Rede nicht

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seyn! Die Gesellschaft lag auf weichen mit Blumen bestreuten Rasen, unter einer hohen Laube im Kreise herum. In den Zweigen eines benachbarten Baums sang eine Nachtigall. Eine junge Abderitin von vierzehn Jahren schien etwas dabey zu empfinden, wovon die übrigen nichts empfanden. Demokritus ward es gewahr. Das Mädchen hatte eine sanfte Gesichtsbildung und Seele in den Augen. Schade für dich, daß du eine Abderitin bist, dacht’ er. Was sollte dir in Abdera eine empfindsame Seele? Sie würde dich nur unglücklich machen. Doch es hat keine Gefahr! Was die Erziehung deiner Mutter und Großmutter an dir unverdorben gelassen hat, werden die Söhnchen unsrer Archonten und Prytanen, und, was diese verschonen, wird das Beyspiel deiner Freundinnen zu Grunde richten. In weniger als vier Jahren wirst du eine Abderitin seyn wie

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die andern; und wenn du erst erfährst, daß eine Froschzunge auf dem Herzgrübchen nichts zu bedeuten hat — Was denken Sie, schöne N a n n i o n ? sagte Demokritus zu dem Mädchen. „Ich denke, daß ich mich dort unter die Bäume setzen möchte, um dieser Nachtigall recht ungestört zuhören zu können.“ Das alberne Ding! sagte die Mutter des Mädchens. Hast du noch keine Nachtigall gehört? Die kleine Nannion schlug erröthend die Augen nieder und schwieg. „Nannion hat Recht, sagte die schöne T h r y a l l i s ; ich selbst höre für mein 10

Leben gern den Nachtigallen zu. Sie singen mit einem solchen Feuer, und es ist etwas so wollüstiges in ihren Modulationen, daß ich schon oft gewünscht habe, zu verstehen, was sie damit sagen wollen. Ich bin gewiß man würde die schönsten Dinge von der Welt hören. Aber Sie, Demokritus, der alles weiß, sollten Sie nicht auch die Sprache der Nachtigallen verstehen?“ Warum nicht? antwortete der Philosoph mit seinem gewöhnlichen Pflegma; und die Sprache aller übrigen Vögel dazu! „Im Ernste?“ Sie wissen ja, daß ich immer im Ernste rede. „O das ist allerliebst! Geschwinde, übersetzen Sie uns was aus der Sprache

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der Nachtigallen! Wie hieß das, was diese dort sang, als Nannion so davon gerührt wurde?“ Das läßt sich nicht so leicht ins Griechische übersetzen, als Sie denken, schöne Thryallis. Es giebt keine Redensarten in unsrer Sprache, die dazu zärtlich und feurig genug wären. „Aber wie können Sie denn die Sprache der Vögel verstehen, wenn Sie nicht auf Griechisch wiedersagen können, was Sie gehört haben?“ Die Vögel können auch kein Griechisch und verstehen einander doch? „Aber Sie sind kein Vogel, wiewohl Sie ein loser Mann sind, der uns immer zum Besten hat.“

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Daß man in Abdera doch so gerne Arges von seinem Nächsten denkt! Indessen verdient Ihre Antwort daß ich mich näher erkläre. Die Vögel verstehen einander durch eine gewisse Sympathie, welche ordentlicher weise, nur unter gleichartigen Geschöpfen statt hat. Jeder Ton einer singenden Nachtigall ist der lebende Ausdruck einer Empfindung, und erregt in der Zuhörenden unmittelbar den Unisono dieser Empfindung. Sie verstehet also, vermittelst ih-

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res eignen innern Gefühls, was ihr jene sagen wollte; und gerade auf die nehmliche Weise versteh ich sie auch. „Aber wie machen Sie denn das?“ — fragten etliche Abderitinnen. Die Frage war, nachdem Demokritus sich bereits so deutlich erklärt hatte, gar zu Abderitisch, als daß er sie ihnen so ungenossen hätte hingehen lassen können. Er besann sich einen Augenblick. Ich verstehe den Demokritus, sagte die kleine Nannion leise. Du verstehst ihn, du naseweises Ding? — schnarrte sie die Mutter an. — Nun laß hören, Puppe, was verstehst du denn davon? Ich kann es nicht zu Worte bringen; aber ich empfind’ es, däucht mich,

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erwiederte Nannion. „Sie ist, wie Sie hören, noch ein Kind, sagte die Mutter; wiewohl sie so schnell aufgeschossen ist, daß viele Leute sie für meine jüngere Schwester angesehen haben. Aber halten wir uns nicht mit dem Geplapper eines läppischen Mädchens auf, das noch nicht weiß was es sagt!“ Nannion hat Empfindung, sagte Demokritus; Sie findet den Schlüssel zur allgemeinen Sprache der Natur in ihrem Herzen, und vielleicht versteht sie mehr davon, als — „O mein Herr, ich bitte Sie, machen Sie mir die kleine Närrin nicht noch einbildischer; sie ist ohnedies naseweis und schnippisch genug —“

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(Bravo, dachte Demokritus; nur so fortgefahren! Auf diesem Wege möchte noch Hofnung für den Kopf und das Herz der kleinen Nannion seyn.) „Bleiben wir bey der Sache! (fuhr die Abderitin fort, die, ohne jemals recht gewußt zu haben, wie und warum, die unerkannte Ehre hatte, Nannions Mutter zu seyn) Sie wollten uns ja erklären, wie es zugienge, daß Sie die Sprache der Vögel verstehen?“ Wir sind den Abderitinnen die Gerechtigkeit schuldig, nicht zu bergen, daß sie alles, was Demokritus von seiner Kenntnis der Vögelsprache gesagt hatte, für blosse P r a l e r e y hielten. Aber dies hinderte nicht, daß die Fortsetzung dieses Gesprächs nicht etwas sehr unterhaltendes für sie gehabt hätte; denn sie hörten von nichts lieber reden, als von Dingen, die sie n i c h t glaubten — und d o c h glaubten, als da ist, von Sphinxen, Meermännern, Sybillen, Kobolten, Popanzen, Gespenstern, und allem, was in diese Rubrik gehört; und die Sprache der Vögel gehörte auch dahin, dachten sie. Es ist ein Geheimnis, sagte Demokritus, das ich von dem Oberpriester zu

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Memphis lernte, da ich mich in den Egyptischen Mysterien initiiren ließ. Er war ein langer hagerer Mann; hatte einen sehr langen Nahmen, und einen langen weissen Bart, der ihm bis an den Gürtel reichte. Sie würden ihn für einen Mann aus der andern Welt gehalten haben, so feyerlich und geheimnisvoll sah er in seiner spitzigen Mütze und in seinem schleppenden Mantel aus. Die Aufmerksamkeit der Abderitinnen nahm merklich zu. Nannion, die sich ein wenig weiter zurückgesezt hatte, lauschte mit dem linken Ohr der Nachtigall entgegen; aber von Zeit zu Zeit schoß sie einen dankvollen Seitenblick auf den Philosophen, den dieser, so oft die Mutter auf ihren Busen sah, 10

oder ihren Hund küßte, mit aufmunterndem Lächeln beantwortete. Das ganze Geheimnis, fuhr er fort, besteht darinn: Man schneidet, unter einer gewissen Constellation, sieben verschiedenen Vögeln, deren Namen ich nicht entdecken darf, die Hälse ab, läßt ihr Blut in eine kleine Grube, die zu dem Ende in die Erde gemacht wird, zusammenfliessen, bedeckt die Grube mit Lorbeerzweigen, und — geht seines Weges. Nach Verfluß von ein und zwanzig Tagen kömmt man wieder, deckt die Grube auf, und findet einen kleinen Drachen von seltsamer Gestalt, der aus der Fäulnis des vermischten Blutes entstanden ist — *) „Einen Drachen! — rieffen die Abderitinnen mit allen Merkmalen des Er-

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staunens;“ Einen Drachen, wiewohl nicht viel grösser als eine gewöhnliche Fledermaus. Diesen Drachen nehmen sie, schneiden ihn in kleine Stücke, und essen

*)

P l i n i u s , der in seiner Natur- und Kunstgeschichte Wahres und Falsches ohne Unterschied

zusammengetragen hat, erzählt im Capit. 49. seines zehnten Buchs, in ganzem Ernst: Demokritus habe in einer seiner Schriften gewisse Vögel benennet, aus deren vermischtem Blut eine Schlange entstehe, welche die Eigenschaft habe, daß derjenige, der sie esse, (ob mit Eßig und Öl? sagt er nicht) von Stund an alles verstehe, was die Vögel mit einander reden. Wegen dieser und anderer ähnlicher Albernheiten, wovon (wie er sagt) die Schriften des Demokritus wimmeln, liest er ihm an einem andern Orte seines Werkes den Text sehr schulmeisterhaft. Aber G e l l i u s (Noct. At30

ticar. L. X. cap. 12.) vertheidigt unsern Philosophen mit besserm Grunde, als Plinius ihn verurtheilt. Was konnte Demokritus dafür, daß die Abderiten dumm genug waren, alles, was er im Ernste sagte, für Ironie, und alles, was er scherzweise sagte, für Ernst zu nehmen? Oder wie konnt’ er verhindern, daß nicht lange nach seinem Tode abderitische Köpfe tausend Albernheiten, an die er nie gedacht hatte, unter seinem Namen und Ansehen an andre Abderiten verkauften? Was für klägliches Zeug ließ ihn nicht erst im Jahr 1646 M a g n e n u s in seinem Democritus rediuiuus sagen? Und was müssen nicht die Leute in der andern Welt von sich sagen lassen?

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ihn mit etwas Eßig, Öl und Pfeffer, ohne das mindeste davon übrig zu lassen; gehen darauf zu Bette, decken sich wohl zu, und schlafen ein und zwanzig Stunden an einem Stücke fort. Darauf erwachen sie wieder, kleiden sich an, (wiewohl dies zur Sache nicht schlechterdings nothwendig ist,) gehen in ihren Garten, oder in ein Wäldchen, und erstaunen nicht wenig, indem sie sich augenblicklich auf allen Seiten von Vögeln umgeben und gegrüßt finden, deren Sprache und Gesang sie so gut verstehen, als ob sie alle Tage ihres Lebens nichts als Elstern, Gänschen und Truthühner *) gewesen wären. Demokritus erzählte den Abderitinnen alles dies mit einer so gelassenen Ernsthaftigkeit, daß sie sich um so weniger entbrechen konnten, ihm Glauben

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beyzumessen, da er, ihrer Meynung nach, die Sache unmöglich mit so vielen Umständen hätte erzählen können, wenn sie nicht wahr gewesen wäre. Indessen wußten sie izt doch gerade nur so viel davon, als nöthig war, um desto ungeduldiger zu werden, alles zu wissen — „Aber, fragten sie, was für Vögel sind es dann, die man dazu braucht?“ Ist der Sperling, der Finke, die Nachtigall, die Elster, die Wachtel, der Rabe, der Kibitz, die Nachteule, u. s. f. auch darunter? Wie sieht der Drache aus? Hat er Flügel? Wie viele hat er deren? Ist er gelb, oder grün, oder blau, oder rosenfarb? Speyt er Feuer? Beißt oder sticht er nicht, wenn man ihn anrühren will? Ist er gut zu essen? Wie schmeckt er? Wie verdaut er sich? Was trinkt man

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dazu? — Alle diese Fragen, womit der gute Naturforscher von allen Seiten bestürmt wurde, machten ihm so warm, daß er sich endlich am kürzesten aus dem Handel zuziehen glaubte, wenn er ihnen gestünde, er habe die ganze Historie nur zum Scherz ersonnen. „O, dies sollen Sie uns nicht weiß machen! — riefen die Abderitinnen: Sie wollen nur nicht daß wir hinter ihre Geheimnisse kommen. Aber wir werden Ihnen keine Ruhe lassen; verlassen Sie sich darauf! Wir wollen den Drachen sehen, betasten, beriechen, kosten und mit Haut und Knochen aufessen, oder — Sie sollen uns sagen warum nicht!“

*)

Dies ist wohl ein Irrthum des Übersetzers. Denn wer weiß nicht, daß die Truthühner dem

Aristoteles selbst unbekannt waren, und unbekannt seyn mußten, weil sie erst aus Westindien zu uns und in die übrigen Theile unsrer Halbkugel gekommen sind. S. B u f f o n Histoire naturelle des Oiseaux. T. 3. p. 187. u. f.

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13. Wir wissen nicht, wie Demokritus es angefangen, um sich die neugierigen Weiber vom Halse zu schaffen. Genug, daß uns diese Beyspiele begreiflich machen, wie ein blosser zufälliger Einfall Gelegenheit habe geben können, den unschuldigen Naturforscher in den Ruf zu bringen, als ob er Abderite genug gewesen wäre, alle die Mährchen, die er seinen albernen Landesleuten aufheftete, selbst zu glauben. Diejenigen, die ihm dies zum Vorwurf nachgesagt haben, beruffen sich auf seine Schriften. Aber schon lange vor den Zeiten des Vitruvius und Plinius wurden eine Menge unächter Büchlein mit vielbe10

deutenden Titeln unter seinem Nahmen herumgetragen. Man weiß, wie gewöhnlich diese Art von Betrug den müßigen Gräculis der spätern Zeiten war. Die Namen Hermes Trismegistus, Zoroaster, Orpheus, Pythagoras, Demokritus, waren ehrwürdig genug, um die armseligsten Geburten schaaler Köpfe verkäuflich zu machen, sonderheitlich nachdem die Alexandrische Schule die Magie in eine Art von allgemeiner Achtung und die Gelehrten in den Geschmack gebracht hatte, sich bey den Ungelehrten das Ansehen zu geben, als ob sie gewaltige Wundermänner wären, die den Schlüssel zur Geisterwelt gefunden hätten, und für die nun in der ganzen Natur nichts geheimes sey. Die Abderiten hatten den Demokritus in den Ruf der Zauberey gebracht, weil sie

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nicht begreifen konnten, wie man, ohne ein Hexenmeister zu seyn, so viel wissen könne, als sie — nicht wußten: und spätere Betrüger fabricirten Zauberbücher in seinem Namen, um sich jenen Ruf bey den Dummköpfen ihrer Zeit zu Nutzen zu machen. Überhaupt waren die Griechen grosse Liebhaber davon, mit ihren Philosophen den Narren zu treiben. Die Athenienser lachten herzlich, als ihnen der witzige Possenreisser Aristophanes weiß machte, Sokrates halte die Wolken für Göttinnen; messe aus, wie viele Flohfüsse hoch ein Floh springen könne *); lasse sich, wenn er meditiren wolle, in einem Korbe aufhängen, damit die *)

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Nichts ist möglicher, als daß Sokrates würklich einmal etwas gesagt haben konnte, das zu

dieser Türlipinade Anlaß gegeben. Er durfte nur in einer Gesellschaft, wo die Rede von Grösse und Kleinheit war, den Irrthum angemerkt haben, den man gewöhnlich begeht, da man von Groß und Klein als von wesentlichen Eigenschaften spricht, und nicht bedenkt, daß es blos auf den Masstab ankommt, ob etwas groß oder klein seyn soll. Er konnte nach seiner scherzhaften Art

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anziehende Kraft der Erde seine Gedanken nicht einsauge, u. s. f. und es däuchtete sie überaus kurzweilig, den Mann, der ihnen immer die Wahrheit, und also oft unangenehme Dinge sagte, wenigstens auf dem Schauplatze platte Pedantereyen sagen zu hören. Und wie mußte sich nicht Diogenes, der einzige unter den Nachahmern des Sokrates, der die Mine seines Originals hatte, von diesem Volke, das so gerne lachte, mißhandeln lassen? So gar der begeisterte Plato und der tiefsinnige Aristoteles blieben nicht von Anklagen frey, wodurch man sie zu dem grossen Haufen der alltäglichen Menschen herabzusetzen suchte. Was Wunder also, daß es dem Manne nicht besser ergieng, der so verwegen war, mitten unter Abderiten Verstand zu haben?

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Demokritus lachte zuweilen, wie wir alle, und würde vielleicht, wenn er zu Korinth oder Smyrna oder Syrakus oder an irgend einem andern Orte der Welt gelebt hätte, nicht mehr gelacht haben, als jeder andre Bidermann, der sich, aus Gründen oder von Temperamentswegen, aufgelegter fühlt, über die Thorheiten der Menschen zu lachen als zu weinen. Aber er lebte unter Abderiten. Es war nun einmal die Art dieser guten Leute, immer etwas zu thun, worüber man entweder lachen oder weinen oder ungehalten werden mußte; und Demokritus lachte, wo ein P h o c i o n die Stirne gerunzelt, ein C a t o gepoltert, und ein S w i f t zugepeitscht hätte. Bey einem ziemlich langen Aufenthalt in Abdera konnte ihm also die Mine der Ironie wohl eigenthümlich wer-

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den: Aber daß er, im buchstäblichen Verstande, immer aus vollem Halse gelacht habe, wie ihm ein Dichter, der die Sachen gern übertreibt, nachsagt *), dies hätte wenigstens niemand in Prosa sagen sollen.

gesagt haben: man habe Unrecht, den Sprung eines Flohs nach der Attischen Elle zu messen; man müsse, um die Schnellkraft des Flohs mit derjenigen eines Luftspringers zu vergleichen, nicht den menschlichen Fuß, sondern den Flohfuß zum Maas nehmen, wenn man anders den Flöhen Gerechtigkeit wiederfahren lassen wolle — und dergleichen. Nun brauchte nur ein Abderite in der Gesellschaft zu seyn, wo so etwas gesprochen wurde; so können wir sicher darauf rechnen, daß er es als eine grosse Ungereimtheit, die dem Philosophen entfahren sey, nach seiner eignen Art wieder erzählt haben werde; und wenn gleich Aristophanes klug genug war, zu begreiffen, daß Sokrates etwas kluges gesagt hatte, so war es doch für einen Mann von seiner Profeßion und zu seiner Absicht, den Philosophen lächerlich zu machen, schon genug, daß man diesem Einfall eine Wendung geben konnte, wodurch er geschickt wurde, die Zwerchfelle der Athenienser, welche (den Geschmack und den Witz abgerechnet) ziemlich Abderiten waren, einen Augenblick zu erschüttern. *)

Perpetuo risu pulmonem agitare solebat Democritus — J u v e n a l . Sat. X. 33.

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Doch diese Nachrede möchte noch immer hingehen; zumal, da ein so gepriesener Philosoph wie S e n e c a unsern Freund Demokritus über diesen Punct rechtfertigt und sogar nachahmenswürdig findet. „Wir müssen uns dahin bestreben, sagt S e n e c a * ) , daß uns die Thorheiten und Gebrechen des großen Hauffens, samt und sonders nicht hassenswürdig sondern lächerlich vorkommen; und wir werden besser thun, wenn wir uns hierinn den Demokritus als den Heraklitus zum Muster nehmen. D i e s e r pflegte so oft er unter die Leute gieng, zu w e i n e n ; j e n e r , zu l a c h e n ; d i e s e r sah in allem unserm Thun eitel N o t h u n d E l e n d ; j e n e r eitel T a n d u n d K i n d e r 10

s p i e l . Nun ist es aber f r e u n d l i c h e r das menschliche Leben a n z u l a c h e n als es a n z u g r i n ß e n ; und man kan sagen, daß sich derjenige um das MenschenGeschlecht verdienter macht, der es belacht, als der es bejammert. Denn jener läßt uns doch noch immer ein wenig H o f n u n g übrig; dieser hingegen weint albernerweise über Dinge, die er bessern zu können v e r z w e i f e l t . Auch zeigt derjenige eine g r ö ß e r e S e e l e , der, wenn er einen Blick über das Ganze wirft, sich nicht des Lachens, als jener, der sich der Thränen nicht enthalten kan; denn er giebt dadurch zu erkennen, daß alles, was andern g r o ß und wichtig genug scheint, um sie in die h e f t i g s t e n Leidenschaften zu setzen, in seinen Augen so k l e i n ist, daß es nur den l e i c h -

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t e s t e n und k a l t b l ü t i g s t e n unter allen Affecten in ihm erregen kan.“ **) Im Vorbeygehen däucht mich, die Entscheidung des Sophisten Seneca habe Verstand, wiewohl er vielleicht besser gethan hätte, die Gründe dazu weder so weit herzuhohlen, noch in so gekünstelte Antithesen einzuschrau*) **)

De Tranquill. Animi c. 15. Bey allem dem erklärt sich doch Seneca bald darauf, daß es noch besser und einem weisen

Manne anständiger sey, die herrschenden Sitten und Fehler der Menschen sanft und gleichmüthig zu ertragen, als darüber zu lachen oder zu weinen. Mich dünkt aber, er hätte mit wenig Mühe finden können, daß es noch was bessers giebt als dies bessere. Warum immer lachen, immer weinen, immer zürnen, oder immer gleichgültig seyn? Es giebt Thorheiten, welche belachens30

werth sind; es giebt andere, die ernsthaft genug sind, um dem Menschenfreund Seufzer auszupressen; andre, die einen Heiligen zum Unwillen reitzen könnten; endlich noch andre, die man der menschlichen Schwachheit zu gute halten soll. Ein weiser und guter Mann, (nisi pituita molesta est, wie Horaz weislich ausbedingt) lacht oder lächelt, bedaurt oder beweint, entschuldigt oder verzeyht, je nach dem es Personen und Sachen, Ort und Zeit, mit sich bringen; denn lachen und weinen, lieben und hassen, züchtigen und loßlassen, hat seine Zeit, sagt Salomo, welcher älter, klüger und besser war als Seneca mit allen seinen Antithesen.

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ben. Doch, wie gesagt, der bloße Umstand, daß Demokritus unter A b d e r i t e n lebte, und über A b d e r i t e n lachte, macht den Vorwurf von welchem die Rede ist, so übertrieben er auch seyn mag, zum erträglichsten unter allem, was unserm Weisen aufgebürdet worden. Läßt doch H o m e r die Götter selbst über einen weit weniger lächerlichen Gegenstand, über den hinkenden Vulkan, der aus der gutherzigen Absicht, Friede unter den Olympiern zu stiften, den Mundschenken macht, in ein u n a u s l ö s c h l i c h e s G e l ä c h t e r ausbrechen! Aber das Vorgeben, daß Demokritus sich selbst freywillig des Gesichts beraubt habe und die Ursachen, warum er es gethan haben soll, dies sezt auf Seiten derjenigen, bey denen es Eingang finden konnte, eine Neigung

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voraus, die wenigstens ihrem Kopfe wenig Ehre macht. Es ist die armselige Neigung, jeden Dummkopf, jeden hämischen Buben für einen unverwerflichen Zeugen gelten zu lassen, sobald er einem großen Manne irgend eine überschwengliche Ungereimtheit nachsagt, welche auch der alltäglichste Mensch bey fünf gesunden Sinnen zu begehen unfähig wäre. Ich möchte nicht gerne glauben, daß diese Neigung so allgemein sey, als die Verkleinerer der menschlichen Natur behaupten; aber dies wenigstens lehrt die Erfahrung: daß die kleinen Anekdoten die man von großen Geistern auf Unkosten ihrer Vernunft circuliren zu lassen pflegt, sehr leicht bey den meisten Eingang finden. Doch vielleicht ist dieser Hang im Grunde nicht sträflicher als das

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Vergnügen, womit die Sternseher Flecken in der Sonne entdeckt haben? Vielleicht ist es bloß das Unerwartete und Unbegreifliche was die Entdeckung solcher Flecken so angenehm macht? Ausserdem findet sich auch nicht selten, daß die armen Leute, indem sie einem großen Manne Widersinnigkeiten andichten, ihm, nach ihrer Art zu denken, noch viel Ehre zu erweisen glauben; und dies mag wohl, was die freywillige Blindheit unsers Philosophen betrifft, der Fall bey mehr als einem Abderitischen Gehirne gewesen seyn. „Demokritus beraubte sich des Gesichtes, sagt man, damit er desto tiefer denken könnte. Was ist hierinn so unglaubliches? Haben wir nicht Beyspiele freywilliger Verstümmelungen von ähnlicher Art? C o m b a b u s * ) , O r i g e nes**)

, — “ Gut! — Combabus und Origenes warfen einen Theil ihrer selbst

von sich, den wohl die Meisten, im Fall der Noth, mit allen ihren Augen, und *) **)

L u c . de Dea Syr. B a y l e im Artick. C o m b a b u s . E u s e b i u s , Kirchengeschichte. B. VI. Cap. 3.

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wenn sie deren soviel als Argus hätten, erkauffen würden. Allein sie hatten auch einen grossen Beweggrund dazu. Was giebt der Mensch nicht um sein Leben? Und was thut oder leidet man nicht, der Günstling eines Fürsten zu bleiben oder gar eine Pagode zu werden? — Demokritus hingegen konnte keinen Beweggrund von dieser Stärke haben. Es möchte noch hingehen, wenn er ein Metaphysiker oder ein Poet gewesen wäre. Dies sind Leute, die zu ihrem Geschäfte des Gesichts entbehren können. Sie arbeiten am meisten mit der Einbildungskraft, und diese gewinnt sogar durch die Blindheit. Aber wenn hat man jemals gehört, daß ein Beobachter der Natur, ein Zergliederer, 10

ein Sternseher, sich die Augen ausgestochen hätte, um desto besser zu beobachten, zu zergliedern, und nach den Sternen zu sehen? Die Ungereimtheit ist so handgreiflich, daß T e r t u l l i a n u s die angebliche That unsers Philosophen aus einer andern Ursache ableitet, die ihm aber zum wenigsten eben so ungereimt hätte vorkommen müssen, wenn er ein besserer Raisonneur gewesen wäre, oder nicht gerade vonnöthen gehabt hätte, die Philosophen, die er zu Boden legen wollte, in Strohmänner zu verwandeln. „Er beraubte sich der Augen, sagte Tertullian *), weil er kein Weib ansehen konnte, ohne ihrer zu begehren.“ — Ein feiner Grund für einen griechischen Philosophen aus dem Jahrhundert des Perikles! Demokritus, der sich gewiß nicht einfallen

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ließ, weiser seyn zu wollen als Solon, Anaxagoras, Sokrates, hatte auch vonnöthen, zu einem solchen Mittel seine Zuflucht zu nehmen! Wahr ists, der Rath des l e z t e r n * * ) (der ihm gewiß nichts unbekanntes war, weil er Verstand genug hatte, sich ihn selbst zu geben) verfängt wenig gegen die Gewalt der L i e b e ; und einem Philosophen, der sein ganzes Leben dem Erforschen der Wahrheit widmen wollte, war allerdings sehr viel daran gelegen, sich vor einer so tyrannischen Leidenschaft zu hüten. Allein von dieser hatte auch Demokritus, wenigstens in Abdera, nichts zu besorgen. Die Abderitinnen waren schön; aber die gütige Natur hatte ihnen die Dummheit zum Gegengift ihrer körperlichen Reizungen gegeben. Eine Abderitin war nur schön bis sie

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den Mund aufthat, oder bis man sie in ihrem Hauskleide sah. Leidenschaften von drey Tagen waren das äusserste, was sie einem ehrlichen Manne, der kein Abderite war, einflößen konnten: Und eine Liebe von drey Tagen ist einem *) **)

Apolog. c. 46 M e m o r a b . S o c r a t . Lib. I. cap. 3. num. 14.

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Demokritus am Philosophiren so wenig hinderlich, daß ich vielmehr allen Naturforschern, Zergliederern, Meßkünstlern und Sternsehern demüthig rathen wollte, sich dieses Mittels, als eines vortreflichen Recepts gegen Milzbeschwerungen, öfters zu bedienen, wenn nicht zu vermuthen wäre, daß diese Herren zu weise sind, meines Rathes vonnöthen zu haben. Ich möchte nicht dafür stehen, daß Demokritus die Kraft dieses Mittels, zufälliger Weise, bey einer oder der andern von den Abderitischen Schönen, die wir kennen gelernt haben, nicht versucht haben sollte. Aber daß er, um gar nicht, oder nicht zu stark, von so unschädlichen Geschöpfen eingenommen zu werden, und, weil er auf allen Fall sicher war, daß sie ihm die Augen nicht auskratzen

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würden, schwach genug gewesen sey, sich solche selbst auszukratzen, dies — mag Tertullianus glauben, so lang es ihm beliebt; ich zweifle sehr, daß es jemand mitglauben wird. Doch, alle diese Ungereimtheiten werden unerheblich, wenn wir sie mit demjenigen vergleichen, was ein sonst in seiner Art sehr verdienter Sammler einiger Materialien zur Geschichte des menschlichen Verstandes *) d i e P h i l o s o p h i e d e s D e m o k r i t u s nennt. Es würde schwer seyn, von einem Haufen einzelner Trümmer, Steine und zerbrochner Säulen, die man als vorgebliche Überbleibsel des grossen Tempels zu Olympia, aus unzählichen Orten zusammen gebracht hätte, mit Gewißheit zu sagen, daß es würklich Trümmer

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dieses Tempels seyen. Aber was würde man von einem Manne denken, der, wenn er diese Trümmer, so gut es ihm in der Eile möglich gewesen wäre, auf einander gelegt und mit etwas Leim und Stroh zusammengeflickt hätte, ein so armseliges Stückwerk, ohne Plan, ohne Fundament, ohne Grösse, ohne Symmetrie und Schönheit, für den Tempel zu Olympia ausgeben wollte? Überhaupt ist es gar nicht wahrscheinlich, daß Demokritus e i n S y s t e m gemacht habe. Ein Mann, der ein Leben von mehr als hundert Jahren mit Reisen, Beobachtungen und Versuchen zubringt, ist ordentlicher Weise kein Hypothesenkrämer. Aber daß ein solcher Mann, mit dem durchdringenden Verstande und mit dem brennenden Durste nach Wahrheit, den ihm das Alterthum einhellig zuschreibt, fähig gewesen sey, handgreiflichen U n s i n n zu behaupten, ist noch etwas weniger als unwahrscheinlich. „Demokritus (sagt *)

B r u c k e r ; vom M a g n e n u s , der den Demokritus nach seiner eignen Phantasie raisonni-

ren und deraisoniren läßt, nichts zu sagen!

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man uns) erklärte das Daseyn der Welt lediglich aus den Atomen, dem leeren Raum, und der Nothwendigkeit oder dem Schicksal. Er fragte die Natur achtzig Jahre lang, und sie sagte ihm kein Wort von ihrem Urheber, von seinem Plan, von seinem Endzweck? Er schrieb den Atomen allen einerley Art von Bewegung zu, und w u r d e n i c h t g e w a h r * ) , daß aus Elementen, die sich in parallelen Linien bewegen, in Ewigkeit keine Körper entstehen können? Er läugnete, daß die Verbindung der Atomen nach dem Gesetze der Ähnlichkeit geschehe; er erklärte alles in der Welt aus einer unendlich schnellen aber blinden Bewegung, und behauptete gleichwohl, daß die Welt ein Ganzes sey“ 10

u. s. w. Diesen und andern ähnlichen Unsinn sezt man auf seine Rechnung, citirt den S t o b ä u s , S e x t u s , C e n s o r i n u s , und bekümmert sich wenig darum, ob es unter die möglichen Dinge gehöre, daß ein Mann von Verstande (wofür man uns gleichwohl den Demokritus ausgiebt) so gar erbärmlich raisonniren könnte. Freylich sind grosse Geister von der Möglichkeit sich zu irren, oder unrichtige Folgerungen zu ziehen, eben so wenig frey, als die kleinen; wiewohl man gestehen muß, daß sie unendlichmal seltener in diese Fehler fallen, als es d i e L i l l i p u t t e r gerne hätten. Aber es giebt Albernheiten, die nur ein Dummkopf zu denken oder zu sagen fähig ist, so wie es Unthaten giebt, die nur ein Schurke begehen kann. Die besten Menschen

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haben ihre Anomalien, und die Weisesten leiden zuweilen eine vorübergehende Verfinsterung. Aber dies hindert nicht, daß man nicht mit hinlänglicher Sicherheit von einem Manne der Verstand hat, sollte behaupten können, daß er gewöhnlich und besonders in solchen Gelegenheiten, wo auch die Dummsten allen den ihrigen zusammenraffen, wie ein Mann von Verstande verfahren werde. Diese Maxime könnte uns, wenn sie gehörig angewendet würde, im Leben manches rasche Urtheil, manche von wichtigen Folgen begleitete Verwechslung des Scheins mit der Wahrheit ersparen helfen. Aber den Abderiten half sie nichts. Denn zum Anwenden einer Maxime wird gerade das Ding erfordert

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das sie nicht hatten. Die guten Leute behalfen sich mit einer ganz andern Logik als vernünftige Menschen; und in ihren Köpfen waren Begriffe associirt, die, wenn es keine Abderiten gäbe, sonst in aller Ewigkeit nie zusammen kommen würden. „Demokritus untersuchte die Natur der Dinge, und bemerkte *)

B r u c k . Histor. Crit. Philos. T. I. p. 1190.

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die Ursachen gewisser Naturbegebenheiten ein wenig früher als die Abderiten, also war er ein Zauberer. Er dachte über alles anders als sie, lebte nach andern Grundsätzen, brachte seine Zeit, auf eine ihnen unbegreifliche Art, mit sich selbst zu, — also war es nicht recht richtig in seinem Kopfe; der Mann hatte sich überstudirt, und man besorgte, daß es einen unglücklichen Ausgang mit ihm nehmen werde.“ Was hört man vom Demokritus? — sagten die Abderiten unter einander. — „Schon sechs ganzer Wochen will niemand nichts von ihm gesehen haben —“ „Man kan seiner nie habhaft werden; oder wenn man ihn endlich trift, so sitzt er in tiefen Gedanken, und ihr seyd eine halbe Stunde vor ihm gestanden, habt

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mit ihm gesprochen, und seyd wieder weggegangen, ohne daß er es gewahr worden ist. Bald wühlt er in den Eingeweyden von Hunden und Katzen herum, bald kocht er Kräuter, oder steht, mit einem großen Blasebalg in der Hand, vor einem Zauberofen, und macht Gold, oder noch was ärgers. Bey Tage klettert er wie ein Gems die steilsten Klippen des Hämus hinan, um — Kräuter zu suchen, als ob es deren nicht genug in der Nähe gäbe; und bey Nacht, wo sogar die unvernünftigen Geschöpfe der Ruhe pflegen, wickelt er sich in einen scythischen Pelz und guckt, beym Kastor! durch ein Blaserohr nach den Sternen.“ Ha, ha, ha! Man könnte sichs nicht närrischer träumen lassen! Ha, ha, ha!

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(lachte der kurze dicke Rathsherr). „Es ist bey allem dem Schade um den Mann, sagte der Archon von Abdera; man muß gleichwohl gestehen, daß er viel weiß.“ „ A b e r w a s h a t d i e R e p u b l i k d a v o n ? “ — versezte ein Rathsherr, der sich mit Projecten, Verbesserungsvorschlägen, und Deductionen veralteter Ansprüche eine hübsche runde Summe von der Republik verdient hatte, und in Kraft dessen immer aus vollen Backen von seinen Verdiensten um d a s A b d e r i t i s c h e W e s e n prahlte, wiewohl das Abderitische Wesen sich durch alle seine Projecte, Deductionen und Verbesserungen nicht um hundert Drachmen besser befand. „Es ist wahr, sprach ein andrer; mit seiner Wissenschaft läuft es auf lauter Spielwerk hinaus; nichts Gründliches! in minimis maximus!“ „Und dann sein unerträglicher Stolz! — Seine Widersprechungssucht! — Sein ewiges Vernünfteln, und Tadeln, und Spötteln!“ „Und sein schlimmer Geschmack!“

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Von der Musik wenigstens versteht er nicht den Guckuck, sagte der N o mophylax. Vom Theater noch weniger, rief H y p e r b o l u s . Und von der hohen Ode gar nichts, sagte P h y s i g n a t h u s . „Er ist ein Scharlatan, ein Windbeutel —“ „Und ein Freygeist, oben drein; ein ausgemachter Freygeist, ein Mensch der nichts glaubt, dem nichts heilig ist, schrie der Priester Strobylus. Man kan ihm beweisen, daß er einer Menge von Fröschen die Zungen bey lebendigen Leibe ausgerissen hat —“ 10

„Man spricht stark davon, daß er deren etliche sogar lebendig zergliedert habe, sagte jemand.“ „Ists möglich? Gerechte Latona! Sollte dies bewiesen werden können? (rief der Priester Strobylus mit allen Merkmalen des äussersten Entsetzens). Wozu diese verfluchte Philosophie einen Menschen nicht bringen kan! Aber, sollt’ es würklich bewiesen werden können?“ „Ich geb’ es wie ich es empfangen habe, erwiederte jener.“ „Es muß untersucht werden, rief Strobylus. Hochpreislicher Herr Archon! — Wohlweise Herren! — ich fodre Sie hiermit, im Nahmen der Latona, auf! die Sache muß untersucht werden!“

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„Wozu eine Untersuchung? sagte T h r a s y l l u s , einer von den Häuptern der Republik, ein naher Anverwandter und vermuthlicher Erbe des Philosophen. Die Sache hat ihre Richtigkeit. Aber sie beweiset weiter nichts, als was ich leider! schon seit geraumer Zeit an meinem armen Vetter wahrgenommen habe, — daß es mit seinem Verstande nicht so gut steht, als zu wünschen wäre. Demokritus ist kein schlimmer Mann; er ist kein Verächter der Götter; aber er hat Stunden wo er nicht bey sich selbst ist. Wenn er einen Frosch zergliedert hat, so wollt’ ich für ihn schwören, daß er den Frosch für eine Katze ansah.“ „Desto schlimmer!“ sagte Strobylus. „In der That, desto schlimmer — für seinen Kopf, und für sein Hauswe-

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sen! — fuhr Thrasyllus fort. Der arme Mann ist in einem Zustande, wobey wir nicht länger gleichgültig bleiben können. Die Familie wird sich genöthigt sehen, die Republik um Hülfe anzurufen. Er ist in keinerley Betrachtung fähig, sein Vermögen länger selbst zu verwalten. Er wird bevogtet werden müssen.“ „Wenn dies ist;“ sagte der Archon mit einer bedenklichen Mine, und hielt inne.

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„Ich werde die Ehre haben, Ihre Herrlichkeit näher von der Sache zu unterrichten,“ versezte der Rathsherr Thrasyllus. „Wie? Demokritus sollte nicht bey Verstande seyn, rief einer aus den Anwesenden. Meine Herren von Abdera, bedenken Sie wohl was Sie thun! Sie sind in Gefahr dem ganzen Griechenland ein grosses Lachen zuzubereiten. Ich will meine beyden Ohren verlohren haben, wenn Sie einen verständigern Mann diesseits und jenseits des Hebrus finden, als diesen nemlichen Demokritus. Nehmen Sie Sich in acht, meine Herren! die Sache ist kitzlichter als Sie vielleicht denken.“ Unsre Leser erstaunen — aber wir wollen Ihnen sogleich aus dem Wunder

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helfen. Derjenige, der dies sagte, war kein Abderite. Er war ein Fremder aus Syrakus, und (was die Rathsherren von Abdera im Respekt erhielt,) ein naher Verwandter des ältern Dionysius, der sich vor kurzem zum Fürsten dieser Republik aufgeworfen hatte. „Sie können versichert seyn, antwortete der Archon dem Syrakusaner, daß wir nicht weiter in der Sache gehen werden, als wir Grund finden.“ „Ich nehme zu viel Antheil an der Ehre, welche der erlauchte Syrakusaner meinem Vetter durch seine gute Meynung erweißt, sagte Thrasyllus, als daß ich nicht wünschen sollte, sie bestätigen zu können. Es ist wahr, Demokritus hat seine hellen Augenblicke; und in einem solchen wird ihn der Prinz ge-

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sprochen haben. Aber leider! es sind nur Augenblicke —“ „So müssen die Augenblicke in Abdera sehr lang seyn,“ fiel der Syrakusaner ein. „Hoch- und Wohlweise Herren, sagte der Priester Strobylus; die Umstände mögen beschaffen seyn wie sie wollen, bedenken Sie, daß die Rede von einem lebendig zergliederten Frosche ist! Die Sache ist wichtig, und ich dringe auf Untersuchung. Denn dafür sey Latona und Apollo, daß ich fürchten sollte —“ „Beruhen Sie Sich, Herr Oberpriester, sprach der Archon, — der (unter uns gesagt), selbst ein wenig im Verdachte stund, von den Fröschen der Latona nicht so gesund zu denken, wie man in Abdera davon denken mußte — Auf die erste Anregung, welche von Seiten der Vorsteher des g e h e i l i g t e n T e i c h e s beym Senat gemacht werden wird, sollen die Frösche Genugthuung erhalten!“ Der Syrakusaner ließ den Demokritus unverzüglich von allem benachrichtigen, was in dieser Gesellschaft gesprochen worden war.

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Laß den fettesten jungen Pfauen *) im Hühnerhofe würgen und an den Bratspies stecken, sagte Demokritus zu seiner Haushälterinn, und benachrichtige mich, wenn er gar ist. Des nehmlichen Abends als sich Strobylus zu Tische setzte, ward der gebratne Pfau in einer silbernen Schüssel, als ein Geschenk des Demokritus aufgetragen. Als man ihn öfnete, siehe, da war er mit hundert goldnen D a r i k e n * * ) gefüllt. — Es muß noch nicht so gar übel mit dem Verstande des Mannes stehen, dachte Strobylus. S t r o b y l u s ließ sich den Pfauen herrlich schmecken, trank Griechischen 10

Wein dazu, strich die hundert Dariken in seinen Beutel, und dankte der Latona für die Genugthuung, die sie ihren Fröschen verschaft hatte. „Wir haben alle unsre Fehler, sagte Strobylus des folgenden Tages in einer grossen Gesellschaft: Demokritus ist zwar ein Philosoph; aber ich finde doch, daß er es so übel nicht meynt als ihn seine Feinde beschuldigen. Die Welt ist schlimm; man hat wunderliche Dinge von ihm erzählt; aber ich denke gern das Beste von jedermann. Ich hoffe, sein Herz ist besser als sein Kopf! Es soll nicht gar zu richtig in dem leztern seyn; und ich glaub es selbst. Einem Menschen in solchen Umständen muß man viel zu gut halten. Ich bin gewiß, daß er der feinste Mann in ganz Abdera wäre, wenn ihm die Philosophie den Ver-

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stand nicht zerrüttet hätte!“ Strobylus fieng durch diese Rede zwoo Fliegen mit Einer Klappe. Er entle*)

Hier scheint sich eine Unrichtigkeit in den Text eingeschlichen zu haben. Der Pfau war vor

Alexanders Eroberung des Persischen Reiches ein unbekannter Vogel in Griechenland, und da er nachmals aus Asien nach Europa übergieng, war er anfangs so selten, daß man ihn zu Athen um Geld sehen ließ; doch war er in kurzer Zeit (nach dem Ausdruck des Comödienschreibers A n t i p h a n e s ) so gemein als die Wachteln. In der üppigen Epoke von Rom wurde deren eine unendliche Menge daselbst gezogen, und der Pfau machte ein vorzügliches Gerichte auf den Römischen Tafeln aus. Woher der Herr von B ü f f o n genommen hat, daß die Griechen keine Pfauen gegessen, weiß ich nicht; das Gegentheil hätte ihm eine Stelle aus dem Poeten A l e x i s beym Athenäus 30

beweisen können. Indessen wäre doch, wenn es vor Alexandern keine Pfauen in Europa gegeben hätte, gewiß, daß Demokritus dem Priester Strobylus keinen gebratnen Pfauen hätte schicken können; man müßte denn voraussetzen, daß dieser Naturforscher, unter andern Seltenheiten auch Pfauen aus Indien mitgebracht hätte. Und warum sollte man dies nicht voraussetzen können? Im Nothfall könnten uns auch die alten Samischen Münzen, auf denen man neben der Juno einen Pfau abgebildet sieht, aus der Schwierigkeit helfen — wenn es der Mühe werth wäre. **)

Eine Persische Goldmünze, die von Cyaxares II. oder Darius aus Medien nach der Erobe-

rung Babylons zuerst soll geschlagen worden seyn.

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digte sich seiner Verbindlichkeit gegen unsern Philosophen, indem er von ihm als von einem guten Manne sprach; und machte sich ein Verdienst um den Rathsherrn Thrasyllus, indem er es auf Unkosten seines Verstandes that. Woraus zu ersehen ist, daß der Priester Strobylus, bey aller seiner Einfalt, oder Dummheit, (wenn man es so nennen will), ein schlauer Gast war. Die Fortsetzung folgt.

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Fortsetzung der Abderiten. 14. Es giebt eine Art von Menschen, die man viele Jahre lang kennen und beobachten kan, ohne mit sich selbst einig zu werden, ob man sie in die Classe der s c h w a c h e n oder der b ö s e n Leute setzen soll. Kaum haben sie einen Streich gemacht, dessen kein Mensch von einiger Überlegung fähig zu seyn scheint, so überraschen sie uns durch eine so wohl ausgedachte Bosheit, daß wir, mit allem guten Willen von ihrem H e r z e n das Beste zu denken, uns in der Unmöglichkeit befinden, die Schuld auf ihren K o p f zu legen. Gestern nahmen 10

wir es für ausgemacht an, daß Herr Q u i d a m so schwach von Verstande sey, daß es Sünde wäre, ihm seine Ungereimtheiten zu Verbrechen zu machen; heute überführt uns der Augenschein, daß der Mann zu übelthätig ist, um ein blosser Dummkopf zu seyn; wir sehen keinen Ausweg, ihn von der Schuld eines bösen Willens frey zusprechen. Aber kaum haben wir hierüber unsre Parthey genommen, so sagt oder thut er etwas, das uns wieder in unsre vorige Hypothese zurückwirft, oder wenigstens in eine der unangenehmsten Seelenlagen, in die Verlegenheit setzt, nicht zu wissen, was wir von dem Manne denken, oder — wenn unser Unstern will, daß wir mit ihm zu thun haben müssen — was wir mit ihm anfangen wollen.

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Die geheime Geschichte von A g r a sagt, daß S c h a h - B a h a m sich einsmals mit einem seiner O m r a h s in diesem Falle befunden habe. Der Omrah wurde beschuldiget, daß er Ungerechtigkeiten ausgeübt habe. So soll er gehangen werden, sagte Schah-Baham. „Aber, Sire, (sagte man) der arme K u r l i , ist ein so schwacher Kopf, daß noch die Frage ist, ob er den Unterschied zwischen Recht und Link deutlich genug einsieht, um zu wissen, wenn er eine Ungerechtigkeit begeht oder nicht.“ Wenn dies ist (sagte Schah-Baham) so schickt ihn ins Narrenhospital! „Gleichwohl, Sire, da er Verstands genug hat, einem Wagen mit Heu aus-

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zuweichen, und bey einem Pfeiler, an dem er sich den Kopf zerschellen könn-

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te, vorbey zu gehen, weil er wohl merkt, daß der Pfeiler nicht bey ihm vorbeygehen würde —“ Merkt er das? rief der Sultan; beym Barte des Propheten! so sagt mir nichts weiter von ihm. Morgen soll man sehen, ob Justiz in Agra ist. „Indessen giebt es Leute, die Eur. Majestät versichern werden, daß der Omrah, — seine Dummheit ausgenommen, die ihn zuweilen boshaft macht — der ehrlichste Mann von der Welt ist.“ „Um Vergebung (fiel ein Andrer von den Anwesenden Höflingen ein) gerade das Gegentheil! Kurli hat alles was noch gut an ihm ist, seiner Dummheit zu danken. Er würde zehnmal schlimmer seyn, als er ist, wenn er Verstand

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genug hätte, um zu wissen wie er es anfangen soll.“ Wißt ihr auch, meine Freunde, daß in allem, was ihr mir da sagt, kein Menschenverstand ist? versezte Schah-Baham. Vergleicht euch mit euch selbst, wenn ich bitten darf! Kurli, spricht dieser, ist ein böser Mann weil er d u m m ist — Nein, spricht Jener, er ist dumm weil er b o s h a f t ist — Gefehlt, spricht der dritte; er würde ein schlimmer Mann seyn, wenn er n i c h t s o d u m m wäre — der Henker mag aus diesem Galimathias klug werden! Da entscheide mir einmal jemand, was ich mit ihm anfangen soll! denn entweder ist er zu boshaft fürs Narrenspital, oder zu dumm für den Galgen. Dies ist es eben, sagte die Sultanin D a r e j a n ; Kurli ist zu dumm, um sehr boshaft zu seyn; und

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doch würde Kurli noch weniger boshaft seyn, als er ist, wenn er weniger dumm wäre. Der Henker hohle den räthselhaften Kerl, rief Schah-Baham. Da sitzen wir und zerbrechen uns die Köpfe, um ausfindig zu machen, ob er ein Esel oder ein Schurke sey; und am Ende werdet ihr sehen, daß er beydes ist. — Alles wohl überlegt — wißt ihr was ich thun will? — Ich will ihn lauffen lassen! Seine Bosheit und seine Dummheit werden einander schon die Wage halten; Er wird, i n s o f e r n e r n u r k e i n O m r a h i s t , weder durch diese noch jene grossen Schaden thun. Die Welt ist weit; laß ihn lauffen, I t i m a d d u l e t ; aber vorher soll er kommen, und sich bey der Sultanin bedanken! Nur noch vor drey Minuten wollt ich ihm keine Feige um seinen Hals gegeben haben! Man hat lange nicht ausfindig machen können, warum S c h a h - B a h a m den Beynahmen des W e i s e n in den Geschichtbüchern von Hindoustan führt. Aber nach dieser Entscheidung kan es keine Frage mehr seyn. Alle sieben Weisen aus Griechenland hätten den Knoten nicht so gut auflösen können, als ihn Schah-Baham zerhieb.

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Der Rathsherr T h r a s y l l u s hatte das Unglück, einer von diesen, zum Glück der Welt, nicht so gar gewöhnlichen Menschen zu seyn, in deren Kopf und Herzen Dummheit und Bosheit, nach dem Ausdruck des Sultans, einander die Wage halten. Seine Anschläge auf das Vermögen des Demokritus waren nicht von gestern her. Er hatte darauf gezählt, daß sein Verwandter, nach einer so langen Abwesenheit, gar nicht wiederkommen würde; und auf diese Voraussetzung hatte er sich die Mühe gegeben, einen Plan zu machen, den die Wiederkunft des Philosophen auf eine sehr unangenehme Art vereitelte. Thrasyllus, dessen Einbildung schon daran gewöhnt war, konnte sich nun 10

nicht so leicht gewöhnen anders zu denken. Er betrachtete also den Demokritus als einen Räuber der ihm das Seinige vorenthielt. Aber, unglücklicherweise hatte der Räuber die Gesetze auf seiner Seite. Der arme Thrasyllus durchsuchte alle Winkel in seinem Kopfe, ein Mittel gegen diesen ungünstigen Umstand zu finden; und suchte lange vergebens. Endlich glaubte er in der Lebensart des Philosophen einen Grund auf den er bauen könnte, gefunden zu haben. Die Abderiten waren schon vorbereitet, dachte Thrasyllus; denn daß Demokritus ein Narr sey, war zu Abdera eine ausgemachte Sache. Es kam nur noch darauf an, dem großen Rath l e g a l i t e r darzuthun, daß seine Narrheit von derjenigen Art sey, welche den damit be-

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hafteten unfähig macht sein eigner Herr zu seyn. Dies hatte nun einige Schwierigkeiten. Mit seinem eignen Verstande würde Thrasyllus schwerlich durchgekommen seyn! Aber in solchen Fällen finden seines gleichen für ihr Geld immer einen Spitzbuben, der ihnen seinen Kopf leyht; und dann ist es soviel als ob sie selbst einen hätten. Es gab damals zu Abdera eine Art von Leuten, die sich von der Kunst nährten, schlimme Händel so zu rechte zu machen, daß sie wie gut aussahen. Sie gebrauchten dazu nur zween Hauptkunstgriffe: entweder sie v e r f ä l s c h t e n das F a c t u m , oder sie v e r d r e h t e n das G e s e t z . Weil diese Lebensart sehr einträglich war, so legten sich nach und nach eine so große Menge von müßi-

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gen Leuten darauf, daß die Pfuscher zuletzt die Meister verdrangen. Die Profeßion verlohr dadurch von ihrem Ansehen. Man nannte diejenigen, die sich damit abgaben, S y k o p h a n t e n , weil die Meisten so arme Schelme waren, daß sie für eine Feige alles sagten was man wollte. Indessen, da die Sykophanten wenigstens den zwanzigsten Theil der Einwohner von Abdera ausmachten, und die Leute gleichwohl nicht bloß von Feigen leben konnten: so reichten die

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gewöhnlichen Gelegenheiten, wobey die Rechtshändel zu entstehen pflegen, nicht mehr zu. Die Vorfahren der Sykophanten hatten gewartet, bis man sie um ihren Beystand ansprach. Aber bey dieser Methode hätten die neuern Sykophanten hungern oder graben müssen! denn zu betteln war in Abdera nicht erlaubt; welches (im Vorbeygehen zu sagen) das einzige war, was die Fremden an der Abderitischen Policey zu loben fanden. Nun waren die Sykophanten zum Graben zu faul; folglich blieb den Meisten kein ander Mittel übrig, als die Händel, die sie führen wollten, selbst zu machen. Weil die Abderiten Leute von sehr hitziger Gemüthsart und von geringer Besonnenheit waren, so fehlt’ es dazu nie an Gelegenheit. Jede Kleinigkeit gab also einen Handel; jeder Abde-

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rite hatte seinen Sykophanten; und so wurde wieder eine Art von Gleichgewicht hergestellt, wodurch sich die Profeßion um so mehr in Ansehen erhielt, weil die Nacheiferung große Talenten entwickelte. Abdera gewann dadurch den Ruhm, daß die Kunst Facta zu verfälschen und Gesetze zu verdrehen in Athen selbst nicht so hoch gebracht worden sey, und dieser Ruhm wurde in der Folge dem Staat einträglich. Denn wer einen ungewöhnlich schlimmen Handel von einiger Wichtigkeit hatte, verschrieb sich einen Abderitischen Sykophanten; und es müßte nicht natürlich zu gegangen seyn, wenn der Sykophant eher von einem solchen Clienten abgelassen hätte, bis nichts mehr an ihm zu saugen übrig war. Doch dies war noch nicht der größte Vortheil, den

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die Abderiten von ihren Sykophanten zogen. Was diese Leute in ihren Augen am vorzüglichsten machte, war die Bequemlichkeit, eine jede Schelmerey ausführen zu können, ohne sich selbst dabey bemühen zu müssen, oder sich mit der Justitz abzuwerfen. Man brauchte die Sache nur einem Sykophanten zu übergeben, so konnte man, gewöhnlicher weise des Ausgangs wegen ruhig seyn. Ich sage gewöhnlicher Weise; denn freylich gab es mit unter auch Fälle, wo der Sykophant, nachdem er sich erst von seinem Clienten wohl hatte bezahlen lassen, gleichwohl heimlich dem Gegentheil zu seinem Rechte verhalf; aber dies geschah auch niemals, als wenn dieser wenigstens zween Drittel mehr gab als der Client. Übrigens konnte man nichts Erbaulichers sehen als das gute Vernehmen, worinn zu Abdera die Sykophanten mit den Magistratspersonen stunden. Die einzigen die sich übel bey dieser Eintracht befanden waren die Clienten. Bey allen andern Unternehmungen, so gefährlich und gewagt sie auch immer seyn mögen, bleibt doch wenigstens eine Möglichkeit, mit ganzer Haut davon zu kommen. Aber ein Abderitischer Client war immer

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gewiß um sein Geld zu kommen, er mochte seinen Handel gewinnen oder verliehren. Nun rechteten zwar die Abderiten darum weder mehr noch weniger; allein ihre Justitz kam dabey in einen Ruf, gegen welchen nur Abderiten gleichgültig seyn konnten. Denn es wurde zu einem Sprüchwort in Griechenlande, demjenigen, dem man das Ärgste an den Hals wünschen wollte, e i n e n P r o c e ß i n A b d e r a zu wünschen. Aber, bey nahe hätten wir über den Sykophanten vergessen, daß die Rede von den Absichten des Rathsherrn Thrasyllus auf das Vermögen unsers Philosophen, und von den Mitteln war, wodurch er seinen vorhabenden Raub 10

u n t e r d e m S c h u t z e d e r G e s e t z e zu begehen versuchte. Um den geneigten Leser mit keiner langweiligen Umständlichkeit aufzuhalten, begnügen wir uns zu sagen, daß Thrasyllus die Sache seinem Sykophanten auftrug. Es war einer von den geschicktesten in ganz Abdera; ein Mann, der die gemeinen Kunstgriffe seiner Mitbrüder verachtete, und stolz darauf war, daß er, seit dem er sein edles Handwerk trieb, ein Paar Hundert schlimme Händel gewonnen hatte, ohne jemals eine einzige d i r e c t e L ü g e zu sagen. Er steifte sich auf lauter u n l ä u g b a r e F a c t a ; aber seine Stärke lag in der Z u s a m m e n s e t z u n g und im H e l l d u n k e l n . Demokritus hätte in keine bessern Hände fallen können; und wir bedauren nur, daß wir, weil die Acten des gan-

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zen Processes längst von Mäusen gefressen worden, ausser Stande sind, jungen neuangehenden Sykophanten zum Besten, die Rede vollständig mitzutheilen, worinnen dieser Meister in der Kunst dem großen Rathe zu Abdera bewies: daß Demokritus seines Vermögens entsezt werden müsse. Alles, was von dieser Rede übrig geblieben, ist ein kleines Fragment, welches uns merkwürdig genug scheint, um, zur Probe, wie diese Herren eine Sache zu wenden pflegten, ein paar Blätter in dieser Geschichte einzunehmen. „Die größten, die gefährlichsten, die unerträglichsten aller Narren (sagte er) sind d i e r a i s o n n i r e n d e n Narren. Ohne weniger Narren zu seyn als andre, verbergen sie dem undenkenden Hauffen die Zerrüttung ihres Kopfes

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durch die Fertigkeit ihrer Zunge, und werden für weise gehalten, weil sie zusammenhangender rasen, als ihre Mitbrüder im Tollhause. Ein u n g e l e h r t e r Narr ist verlohren, so bald es so weit mit ihm gekommen ist, daß er Unsinn spricht. Bey dem g e l e h r t e n N a r r e n hingegen sehen wir gerade das Widerspiel. Sein Glück ist gemacht und sein Ruhm befestiget, so bald er Unsinn zu reden oder zu schreiben anfängt. Denn die Meisten, wiewohl sie sich

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ganz eigentlich bewußt sind, daß sie nichts davon verstehen, sind entweder zu mißtrauisch gegen ihren eigenen Verstand, um gewahr zu werden, daß die Schuld nicht an ihnen liegt, oder zu dumm, um es zu merken, und also zu eitel, um zu gestehen, daß sie nichts verstanden haben. Je mehr also der gelehrte Narr Unsinn spricht, desto lauter schreyen die dummen Narren über Wunder; desto emsiger verdrehen sie sich die Köpfe, um Sinn in dem hochtönenden Unsinn zu finden. Jener, gleich einem durch den öffentlichen Beyfall angefrischten Luftspringer, thut immer desto verwegnere Sätze, je mehr ihm zugeklatscht wird; diese klatschen immer stärker, um den gelehrten Gaukler noch grössere Wunder thun zu sehen; und so geschieht es oft, daß der Schwin-

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delgeist eines Einzigen ein ganzes Volk ergreift und daß, so lange die Mode des Unsinns dauert, dem nemlichen Manne Altäre aufgerichtet werden, den man zu einer andern Zeit, ohne viel Umstände mit ihm zu machen, in einem Hospital versorgt haben würde. Glücklicherweise für unsre gute Stadt Abdera ist es so weit mit uns noch nicht gekommen. Wir erkennen und bekennen alle aus Einem Munde, daß Demokritus ein Sonderling, ein Phantast, ein Grillenfänger ist. Aber wir begnügen uns über ihn zu lachen; und dies ist es eben, worinn wir fehlen. Izt lachen wir über ihn; aber wie lange wird es währen, so werden wir anfangen, etwas Ausserordentliches in seiner Narrheit zu finden? Vom Erstaunen zum Bewundern ist nur ein Schritt; und haben wir diesen erst

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gethan, — Götter! wer wird uns sagen können, wo wir aufhören werden? Demokritus ist ein Phantast, sprechen wir und lachen: aber was für ein Phantast ist Demokritus? Ein eingebildeter starker Geist; ein Spötter unsrer uralten Gebräuche und Einrichtungen; ein Müßiggänger, dessen Beschäftigungen dem Staate nicht mehr Nutzen bringen, als wenn er gar nichts thäte; ein Mann, der Katzen zergliedert, die Sprache der Vögel versteht, und den Stein der Weisen sucht; ein Nekromant, ein Schmetterlingsjäger, ein Sterngukker! — Und wir können noch zweifeln, ob er eine d u n k l e K a m m e r verdient? Was würde aus Abdera werden, wenn seine Narrheit endlich anstekkend würde? Wollen wir lieber die Folgen eines so grossen Übels erwarten, als das einzige Mittel vorkehren, wodurch wir es verhüten könnten? Zu unserm Glücke geben die Gesetze dieses Mittel an die Hand. Es ist einfach; es ist rechtmäßig; es ist unfehlbar. Ein dunkles Kämmerchen, Hochweise Väter, ein dunkles Kämmerchen! So sind wir auf einmal außer Gefahr, und Demokritus mag rasen so viel ihm beliebt.“

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„Aber, sagen seine Freunde; — denn so weit ist es schon mit uns gekommen, daß ein Mann, den wir alle für unsinnig halten, Freunde unter uns hat; — Aber, sagen sie, wo sind die Beweise, daß seine Narrheit schon zu jenem Grade gestiegen ist, den die Gesetze zu einem dunkeln Kämmerchen erfodern? — Wahrhaftig! wenn wir, nach Allem was wir schon wissen, noch Beweise fodern, so wird er glühende Kohlen für Goldstücke ansehen, oder die Sonne am Mittag mit einer Laterne suchen müssen, wenn wir überzeugt werden sollen. Hat er nicht behauptet, daß die Liebesgöttin in Äthiopien schwarz sey? Hat er unsre Weiber nicht bereden wollen, nackend zu gehen, wie die Weiber der 10

Gymnosophisten? Versicherte er nicht neulich in einer großen Gesellschaft, die Sonne stehe still, die Erde überwälze sich dreyhundert und fünf und sechzigmal des Jahrs durch den Zodiacus, und die Ursache, warum wir nicht ins Leere hinausfallen, sey, weil mitten in der Erde ein großer Magnet liege, der uns, gleich eben so viel Feilspänen, anziehe, wiewohl wir nicht von Eisen sind? Doch, ich will es gerne zugeben, daß dies alles Kleinigkeiten sind. Man kann närrische Dinge reden, und kluge thun. Wollte Latona, daß der Philosoph sich in diesem Falle befände! Aber (mir ist leid, daß ich es sagen muß) seine Handlungen setzen einen so ungewöhnlichen Grad von Wahnwitz voraus, daß alle Niesewurz in der Welt zu wenig seyn würde, das Gehirn zu reinigen, worinn

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sie ausgeheckt werden. Um die Gedult des erlauchten Senats nicht zu ermüden, will ich aus unzählichen Beyspielen nur zwey anführen, deren Gewißheit gerichtlich erwiesen werden könnte, falls sie, ihrer Unglaublichkeit wegen, in Zweifel gezogen werden sollten. Vor einiger Zeit wurden unserm Philosophen Feigen vorgesezt, die, wie es ihn däuchte, einen ganz besondern Honiggeschmack hatten. Die Sache schien ihm von Wichtigkeit zu seyn. Er stund vom Tische auf, gieng in den Garten, ließ sich den Baum zeigen, von welchem die Feigen gelesen worden waren, untersuchte den Baum von unten bis oben, ließ ihn bis an die Wurzeln aufgraben, erforschte die Erde, worinn er stund, und, wie ich nicht zweifle, auch

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die Constellation, in der er gepflanzt worden war. Kurz, er zerbrach sich etliche Tage lang den Kopf darüber, wie und welchergestalt die Atomen sich mit einander vergleichen müßten, wenn eine Feige nach Honig schmecken sollte. Er ersann eine Hypothese, verwarf sie wieder, fand eine andre, dann die dritte und vierte, und verwarf alle wieder, weil ihm keine scharfsinnig und gelehrt genug zu seyn schien. Die Sache lag ihm so sehr am Herzen, daß er Schlaf und

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Essenslust darüber verlohr. Endlich erbarmte sich seine Köchin über ihn. Herr, sagte die Köchin, wenn Sie nicht so gelehrt wären, so hätte ihnen wohl längst einfallen müssen, warum die Feigen nach Honig schmeckten. — Und warum denn? fragte Demokritus. — Ich legte sie, um sie frischer zu erhalten, in einen Topf, worinn Honig gewesen war, sagte die Köchin; dies ist das ganze Geheimniß, und da ist weiter nichts zu untersuchen, dächt’ ich. — Du bist ein dummes Thier, rief der mondsüchtige Philosoph. Eine feine Erklärung, die du mir da giebst! Für Geschöpfe deines gleichen mag sie vielleicht gut genug seyn; aber meynst du, daß wir andern uns mit so einfältigen Erklärungen befriedigen lassen? Gesezt, die Sache verhielte sich, wie du sagst; was geht das

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m i c h an? Dein Honigtopf soll mich warlich nicht abhalten, nachzuforschen, wie die nemliche Naturbegebenheit auch ohne Honigtopf erfolgen könnte. Und so fuhr der weise Mann fort, der Vernunft und seiner Köchin zu Trotz, eine Ursache, die nicht tiefer als in einem Honigtopfe lag, in dem unergründlichen Brunnen, worinn seinem Vorgeben nach die Wahrheit verborgen liegt, zu suchen; bis eine andre Grille, die seiner Phantasie in den Wurf kam, ihn zu andern vielleicht noch ungereimteren Nachforschungen verleitete. Doch, so lächerlich diese Anekdote ist, so ist doch nichts mit der Probe von Klugheit zu vergleichen, die er ablegte, als im abgewichenem Jahre die Oliven in Thrazien und allen angrenzenden Gegenden mißgerathen waren. Demo-

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kritus hatte das Jahr zuvor (ich weiß nicht, ob durch Punktation oder andre magische Künste) herausgebracht, daß die Oliven, die damals sehr wohlfeil waren, im folgenden Jahre gänzlich fehlen würden. Ein solches Vorwissen würde hinlänglich seyn, das Glück eines vernünftigen Mannes auf seine ganze Lebenszeit zu machen. Auch hatte es anfangs das Ansehen, als ob Demokritus diese Gelegenheit nicht entwischen lassen wollte; denn er kaufte alles Öl im ganzen Lande zusammen. Ein Jahr darauf stieg der Preis des Öls, theils des Mißwachses wegen, theils weil aller Vorrath in des Demokritus Händen war, viermal so hoch als es ihn gekostet hatte. Nun gebe ich allen Leuten, welche wissen, daß Viere viermal mehr als Eins sind, zu errathen, was Demokritus that? — können Sie Sich vorstellen, daß der Mann unsinnig genug war, seinen Verkäuffern ihr Öl, um den nehmlichen Preiß, wie er es von ihnen erhandelt hatte, zurück zu geben? *) Wir wissen auch, wie weit die Grosmuth bey einem *)

Wie ungleich sich doch das nehmliche F a c t u m erzählen läßt! Von eben dieser That, die

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Menschen, der seiner Sinne mächtig ist, gehen kann. Aber diese That lag soweit außer den Grenzen der Glaubwürdigkeit, daß die Leute, die dabey gewannen, selbst die Köpfe schüttelten, und gegen den Verstand des Mannes, der einen Hauffen Gold für einen Hauffen Nußschaalen ansah, Zweifel bekamen, die, zum Unglück für seine Erben, nur zu wohl gegründet waren.“ So weit geht das Fragment; und wenn man von einem so kleinen Theile auf das Ganze schließen könnte, so hätte der Sykophant allerdings mehr als einen Korb voll Feigen von dem Rathsherrn Thrasyllus verdient. Seine Schuld war es wenigstens nicht, wenn der hohe Senat von Abdera unsern Philosophen nicht 10

zu einem dunkeln Kämmerchen verurtheilte. Aber Thrasyllus hatte Mißgönner im Senate; und Meister Pfrieme, der inzwischen Zunftmeister worden war, behauptete mit großen Eifer, daß es wider die Freyheit von Abdera lauffen würde, einen Bürger für wahnwitzig zu erklären, eh’ er von einem unpartheyischen Arzte so befunden worden sey. Wohl, rief Thrasyllus, ich bin es zufrieden, wenn man den H i p p o k r a t e s selbst über die Sache sprechen lassen will. Sagten wir nicht oben, daß die Dummheit des Rathsherrn Thrasyllus seiner Bosheit die Wage gehalten habe? — Es war ein dummer Streich von ihm, sich in einer so mißlichen Sache auf den Hippokrates zu berufen. Aber freylich fiel

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es ihm auch nicht ein, daß man ihn beym Worte nehmen würde. Hippokrates, sagte der Archon, ist allerdings der Mann, der uns am besten aus diesem bedenklichen Handel ziehen könnte. Zu gutem Glücke befindet er sich würklich zu Thasos, und vielleicht läßt er sich bewegen zu uns herüber zu kommen, wenn wir ihn im Nahmen der Republik einladen lassen. Thrasyllus entfärbte sich ein wenig, da er hörte, daß man Ernst aus der Sache machen wollte. Aber die Mehrheit der Stimmen fiel dem Archon bey. Man schickte unverzüglich einen Deputierten mit einem Einladungsschreiunser Sykophant für den vollständigsten Beweis eines verrückten Gehirnes hält, spricht P l i n i u s als von einer höchstedeln und der Philosophie Ehre machenden Handlung. Demokritus war viel

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zu gutherzig, um sich auf Unkosten Andrer, die nicht so viel entbehren konnten wie er, bereichern zu wollen. Ihre ängstliche Unruhe und Verzweiflung einen so großen Gewinst verfehlt zu haben, rührte ihn; er gab ihnen ihr Öl, oder das daraus erlößte Geld zurück, und begnügte sich, den Abderiten gezeigt zu haben, daß es nur von ihm abhange, Reichthümer zu erwerben, wenn er es für der Mühe werth hielte. In diesem Lichte sieht P l i n i u s die Sache an; und in der That muß man ein Abderite, ein Sykophant, und ein Schurke zugleich seyn, um so wie unser Sykophant davon zu sprechen.

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ben *) an den Arzt ab, und brachte den Rest der Seßion damit zu, sich über die Ehrenbezeugungen zu berathschlagen, womit man ihn empfangen wollte. „Dies war doch so abderitisch nicht“ — werden die Ärzte denken, die sich vielleicht unter unsern Lesern befinden. Aber wann sagten wir denn, daß die Abderiten, so lang ihre Republik gestanden, gar nichts gethan hätten, was auch einem vernünftigen Volke anständig seyn würde? Indessen lag doch der wahre Grund, warum sie dem Hippokrates so viel Ehre erweisen wollten, keinesweges in der Hochachtung, die sie für ihn empfanden, sondern lediglich in der Eitelkeit, für Leute gehalten zu werden, die einen grossen Mann zu schätzen wüßten; und merkten wir nicht schon bey einer andern Gelegenheit an,

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daß sie von jeher ausserordentliche Liebhaber von Feyerlichkeiten gewesen? Die Abgeordneten hatten Befehl, dem Hippokrates nichts weiter zu sagen, als daß der Senat von Abdera seiner Gegenwart und seines Ausspruchs in einer sehr wichtigen Angelegenheit vonnöthen habe; und Hippokrates konnte sich mit aller seiner Philosophie nicht einbilden, was für eine wichtige Sache dies seyn könnte. Denn wozu (dacht’ er) haben sie nöthig, ein Geheimniß daraus zu machen? Der Senat von Abdera kann doch schwerlich mit einer Krankheit befallen seyn, die man nicht gerne kund werden läßt? Indessen entschloß er sich um so williger zu dieser Reise, da er schon lange gewünscht hatte, unsern Philosophen persönlich kennen zu lernen. Aber wie

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groß war sein Erstaunen, da ihm — nachdem er mit grossem Gepränge eingeholt und vor den versammelten Rath geführt worden war, — von dem regierenden Archon in einer wohlgesezten Rede zu wissen gemacht wurde: daß man ihn bloß darum nach Abdera berufen habe, um die Wahnsinnigkeit ihres Mitbürgers Demokritus zu untersuchen, und gutächtlich zu berichten, ob ihm noch geholfen werden könne, oder ob es nicht schon so weit mit ihm gekommen sey, daß man ihn ohne Bedenken für bürgerlich todt erklären könne? — Dies muß ein andrer Demokritus seyn, dachte der Arzt anfangs; aber die Herren von Abdera ließen ihn nicht lang in Zweifel. Gut, gut, sprach er bey sich selbst: bin ich nicht in Abdera? Wie man auch so was vergessen kann! Hippokrates ließ ihnen nichts von seinem Erstaunen merken. Er begnügte *)

Es befindet sich noch etwas unter dieser Rubrik in den Ausgaben der Werke des Hippo-

krates; es ist aber ohne allen Zweifel untergeschoben, und die Arbeit irgend eines schaalen Gräculus späterer Zeiten; so wie die ganze Erzählung von der Zusammenkunft dieses Arztes mit dem Demokritus, in einem der unächten Briefe, die den Namen des ersten führen.

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sich, den Senat und das Volk von Abdera zu loben, daß sie eine so große Empfindung von dem Werth eines Mitbürgers, wie Demokritus, hätten, um seine Gesundheit als eine Sache, woran dem gemeinen Wesen gelegen sey, anzusehen. Wahnwitz (sagte er mit großer Ernsthaftigkeit) ist ein Punkt, worinn die größten Geister und die größten Schöpse zuweilen zusammentreffen. Wir wollen sehen! Thrasyllus lud den Arzt zur Tafel ein, und hatte die Höflichkeit, ihm die feinsten Herren und die schönsten Frauen in der Stadt zur Gesellschaft zu geben. Aber Hippokrates, der ein kurzes Gesicht und keine Lorgnette *) hatte, 10

wurde nicht gewahr, daß die Damen schön waren; und so kam es denn, ohne Schuld der guten Geschöpfe, — die sich, zum Überfluß, in die Wette herausgepuzt hatten — daß sie nicht völlig den Eindruck auf ihn machten, den sie sich sonst versprechen konnten. Es war würklich schade, daß er nicht besser sah! Für einen Mann von Verstande ist der Anblick einer schönen Frau allemal etwas sehr unterhaltendes; und wofern die schöne Frau etwas dummes sagt, (welches den schönen Frauen zuweilen so gut begegnen soll, als den häßlichen) macht es einen merklichen Unterschied, ob man sie nur h ö r t , oder ob man sie zugleich s i e h t ; denn im lezten Falle ist man immer geneigt, alles was sie sagen kann, vernünftig, oder artig, oder wenigstens erträglich zu finden. Da

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die Abderitinnen diesen Vortheil bey dem kurzsichtigen Fremden verlohren; da er genöthiget war, von ihrer Schönheit durch den Eindruck, den sie auf seine O h r e n machten, zu urtheilen; so war nichts natürlicher, als daß der Begriff, den er dadurch von ihnen bekam, demjenigen ziemlich ähnlich war, den sich ein Tauber, mittelst eines Paars gesunder A u g e n , von einem Concerte machen würde. — „Wer ist die Dame, die izt mit dem witzigen Herrn sprach?“ fragte er den Thrasyllus leise. — Man nannte ihm die Gemahlin eines Matadors der Republik. — Verzweifelt! (dacht er bey sich selbst) daß ich mir die verwünschte Austerfrau nicht aus dem Kopfe bringen kann, die ich neulich vor meinem

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Hause zu Larissa mit einem Moloßischen Eseltreiber scherzen hörte. Thrasyllus hatte geheime Absichten auf unsern Äsculap. Seine Tafel war niedlich, sein Wein verführerisch, und zum Überfluß ließ er Milesische Tän*)

Denen, welche sich etwan hierüber verwundern möchten, dienet zur Nachricht, daß die

Lorgnetten damals noch nicht erfunden waren.

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zerinnen kommen. Aber Hippokrates aß wenig, trank Wasser, und hatte in Aspasiens Hause weit schönere Tänzerinnen gesehen. Es wollte alles nichts verfangen. Dem weisen Manne begegnete etwas, das ihm vielleicht in vielen Jahren nicht begegnet war; er hatte Langeweile, und es schien ihm nicht der Mühe werth, es den Abderiten zu verbergen. Die Abderiten bemerkten also, ohne großen Aufwand von Beobachtungskraft, was er ihnen deutlich genug sehen ließ; und natürlicherweise waren die Glossen, so sie darüber machten, nicht zu seinem Vortheil. Er soll sehr gelehrt seyn, flisterten sie einander zu. Schade, daß er nicht mehr Welt hat! — Was ich gewiß weiß, ist dies, daß mir der Einfall nie kommen wird, ihm zu Liebe krank zu werden, sagte die schöne

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Thryallis. Thrasyllus machte inzwischen Betrachtungen von einer andern Art. So ein großer Mann dieser Hippokrates seyn mag, dacht’ er, so muß er doch seine schwache Seite haben. Aus den Ehrenbezeugungen, womit ihn der Senat überhäufte, schien er sich nicht viel zu machen. Das Vergnügen liebt er auch nicht. Aber ich wette, daß ihm ein Beutel voll neuer funkelnder Dariken diese sauertöpfische Mine vertreiben soll! So bald die Tafel aufgehoben war, schritt Thrasyllus zum Werke. Er nahm den Arzt auf die Seite, und bemühte sich (unter Bezeugung eines großen Antheils, den er an dem unglücklichen Zustande seines Verwandten nehme) ihn

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zu überzeugen, daß die Zerrüttung seines Gehirns eine so kundbare und ausgemachte Sache sey, daß nichts, als die Pflicht allen Formalitäten der Gesetze genug zu thun, den Senat bewogen habe, eine Thatsache, woran niemand zweifle, noch zum Überfluß durch den Ausspruch eines auswärtigen Arztes bestätigen zu lassen. „Da man Sie aber gleichwohl in die Mühe gesezt hat, eine Reise zu uns zu thun, die Sie vermuthlich ohne diese Veranlassung nicht unternommen haben würden: so ist nichts billiger, als daß derjenige, den die Sache am nächsten angeht, Sie wegen des Verlustes, den Sie durch Versäumung ihrer Geschäfte dabey erleiden, in etwas schadlos halte. Nehmen Sie diese Kleinigkeit als ein Unterpfand einer Dankbarkeit an, von welcher ich Ihnen stärkere Beweise zu geben hoffe —“ Ein ziemlich runder Beutel, den Thrasyllus bey diesen Worten dem Arzt in die Hand drückte, brachte diesen aus der Zerstreuung zurück, womit er die Rede des Rathsherrn angehört hatte. „Was wollen Sie, daß ich mit diesem Beutel machen soll? fragte Hippokrates mit einem Pflegma, das den Abderi-

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ten völlig aus der Fassung sezte — Sie wollten ihn vermuthlich ihrem Haushofmeister geben. — Sind Ihnen solche Zerstreuungen gewöhnlich? Wenn dies wäre, so wollt’ ich Ihnen rathen, ihrem Arzte davon zu sagen — Aber Sie erinnerten mich vorhin an die Ursach, warum ich hier bin. Ich danke Ihnen dafür. Mein Aufenthalt kann nur sehr kurz seyn; und ich darf den Besuch nicht länger aufschieben, den ich, wie Sie wissen, dem Demokritus schuldig bin.“ Mit diesen Worten machte der Äsculap seine Verbeugung und verschwand. Der Rathmann hatte in seinem Leben nie so dumm ausgesehen, als in diesem Augenblick. — Wie hätte sich aber auch ein Abderitischer Rathsherr ein10

fallen lassen sollen, daß so etwas begegnen könnte? Dies sind doch keine Zufälle, auf die man sich gefaßt hält! Hippokrates traf, wie die Geschichte sagt, unsern Naturforscher bey der Zergliederung verschiedener Thiere an, deren innerlichen Bau und animalische Ökonomie er untersuchen wollte, um vielleicht auf die Ursachen gewisser Verschiedenheiten in ihren Eigenschaften und Neigungen zu kommen. Diese Beschäftigung bot ihnen reichen Stoff zu einer Unterredung an, welche den Demokritus nicht lang über die Person des Fremden ungewiß ließ. Ihr gegenseitiges Vergnügen über eine so unvermuthete Zusammenkunft war der Größe ihres beyderseitigen Werthes gleich, aber auf Demokrits Seite um so

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viel lebhafter, je länger er in seiner Abgeschiedenheit von der Welt des Umgangs mit einem Wesen seiner Art hatte entbehren müssen. Es giebt eine Art von Sterblichen, die sich K o s m o p o l i t e n nennen, und die, ohne Verabredung, ohne Ordenszeichen, ohne Loge zu halten, und ohne durch Eydschwüre gefesselt zu seyn, eine Art von B r ü d e r s c h a f t ausmachen, welche fester zusammenhängt als irgend ein andrer Orden in der Welt, sogar Jesuiten und Freymaurer nicht ausgenommen. Zween Kosmopoliten kommen, der eine von Osten, der andre von Westen, sehen einander zum erstenmale, und sind Freunde; — nicht vermög’ einer geheimen Sympathie, die vielleicht nur in Romanen zu finden ist; — nicht weil beschworne Pflichten

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sie dazu verbinden — sondern, w e i l s i e K o s m o p o l i t e n s i n d . In jedem andern Orden giebt es auch falsche oder wenigstens unwürdige Brüder; in dem Orden der Kosmopoliten giebt es keine; weil ein Kosmopolit, vermöge seiner Natur und Art, weder ein Dummkopf, noch ein Gecke, noch ein Schurke seyn kan. So wenig dies manchen, die den Werth der Wörter nicht nach dem innern Gehalt schätzen, gesagt scheinen mag; so ist es doch in der That kein

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geringer Vorzug der Kosmopoliten vor allen andern Gesellschaften, Gemeinheiten, Innungen, Orden und Brüderschaften in der Welt. Denn wo ist eine von allen diesen welche sich rühmen könnte, daß sich niemals ein Ehrsüchtiger, kein Neidischer, kein Geitziger, kein Wucherer, kein Verläumder, kein Prahler, kein Heuchler, kein Zweyzüngiger, kein heimlicher Ankläger, kein Undankbarer, kein Kuppler, kein Schmeichler, kein Schmarotzer, kein Sklave, kein Mensch ohne Kopf oder ohne Herz, kein Pedant, kein Mückensäuger, kein Verfolger, kein falscher Prophet, kein Bonze, kein Gaukler, kein Plusmacher und kein Hofnarr in ihrem Mittel befunden habe? Die Kosmopoliten sind die einzigen die sich dessen rühmen können. Ihre Gesellschaft hat nicht

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vonnöthen, durch geheimnisvolle Ceremonien und abschreckende Gebräuche, wie ehmals die Egyptischen Priester, oder durch ein procul este Profani, die Unreinen von sich auszuschließen. Diese schließen sich selbst aus, und man kann eben so wenig ein Kosmopolit s c h e i n e n wenn man es nicht i s t , als man sich ohne Talent für einen guten Sänger oder Geiger ausgeben kann. Der Betrug würde an den Tag kommen, so bald man sich hören lassen müßte. Die Art, wie die Kosmopoliten denken, ihre Grundsätze, ihre Gesinnungen, ihre Sprache, ihr Phlegma, ihre Wärme, sogar ihre Launen, Schwachheiten und Fehler, lassen sich unmöglich nachmachen, weil sie für alle, die nicht zu ihrem Orden gehören, ein wahres Geheimniß sind; nicht ein Geheimniß, das

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von der Verschwiegenheit der Mitglieder, oder von ihrer Vorsichtigkeit, nicht behorcht zu werden, abhängt; sondern ein Geheimniß, auf welches die Natur selbst ihren Schleyer gedeckt hat. Denn die Kosmopoliten könnten es ohne Bedenken bey Trompeten-Schall durch die ganze Welt auskündigen lassen; sie dürften sicher darauf rechnen, daß ausser ihnen selbst kein Mensch etwas davon begreifen würde. Bey dieser Bewandniß der Sache ist nichts natürlicher, als das innige Einverständniß, und das gegenseitige Zutrauen, das sich unter zween Kosmopoliten sogleich in der ersten Stunde ihrer Bekanntschaft festsetzt. Pylades und Orestes waren, nach einer zwanzigjährigen Dauer ihrer durch alle Arten von Prüfungen und Opfern bewährten Freundschaft, nicht mehr Freunde, als es jene von dem Augenblick an, da sie einander erkennen, sind. Ihre Freundschaft hat nicht vonnöthen durch die Zeit zur Reife gebracht zu werden; sie bedarf keiner Prüfungen; sie gründet sich auf das nothwendigste aller Naturgesetze, auf die Nothwendigkeit uns selbst in demjenigen zu lieben, der uns am ähnlichsten ist.

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Demokritus und Hippokrates gehörten beyde zu dieser wunderbaren und seltnen Art von Menschen. Sie waren also schon lang, wiewohl unbekannter Weise, die vertrautesten Freunde gewesen; und ihre Zusammenkunft glich vielmehr dem Wiedersehen nach einer langen Trennung als einer neuangehenden Verbindung. Ihre Gespräche, nach welchen der Leser vielleicht begierig ist, waren vermuthlich interessant genug um der Mittheilung werth zu seyn. Aber sie würden uns zu weit von den Abderiten entfernen, die der eigentliche Gegenstand dieser Geschichte sind. Alles was wir davon zu sagen haben, ist: daß unsre Kosmopoliten den ganzen Abend und den größten Theil der 10

Nacht in einer Unterredung zubrachten, wobey ihnen die Zeit sehr kurz wurde; und daß sie ihrer G e g e n f ü ß l e r , der Abderiten, und ihres Senats, und der Ursache, warum sie den Hippokrates hatten kommen lassen, so gänzlich darüber vergaßen, als ob niemals so ein Ort und solche Leute in der Welt gewesen wären. Erst des folgenden Morgens, da sie, nach einem leichten Schlaf von wenigen Stunden, wieder zusammen kamen, um auf einer an die Gärten des Demokritus gränzenden Anhöhe der Morgenluft zu genießen, erinnerte der Anblick der unter ihnen im Sonnenglanz liegenden Stadt, den Hippokrates, daß er in Abdera Geschäfte habe. Kannst du wohl errathen, sagte er zu seinem Freunde,

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zu welchem Ende mich die Abderiten eingeladen haben? — Die Abderiten haben dich eingeladen? rief Demokritus. Ich hörte doch, diese Zeit her, von keiner Seuche, die unter ihnen wüthe! Es ist zwar eine gewisse Erbkrankheit, mit der sie alle samt und sonders, bis auf sehr wenige, von alten Zeiten her behaftet sind; aber — „Getroffen, getroffen, guter Demokritus! dies ist die Sache!“ — Du scherzest, erwiederte Demokritus; die Abderiten sollten zum Gefühle, wo es ihnen fehlt, gekommen seyn? Ich kenne sie zu gut. Darinn liegt eben ihre Krankheit, daß sie dies nicht fühlen. — „Indessen, sagte der Andre, ist nichts gewisser, als daß ich izt nicht in Abdera wäre, wenn die Abderiten nicht von dem nemlichen Übel, wovon du sprichst, geplagt würden. Die ar-

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men Leute!“ — Ach! nun versteh ich dich, versezte der Philosoph — Deine Berufung konnte eine Würkung ihrer Krankheit seyn, ohne daß sie es wußten. Laß doch sehen? — Ha! da haben wirs! Ich wette alles in der Welt, sie haben dich kommen lassen, um dem ehrlichen Demokritus so viel Aderlässen und Niesewurz zu verordnen, als er vonnöthen haben möchte, um ihresgleichen zu werden! Nicht wahr? — „Du kennst deine Leute vortreflich, wie ich sehe,

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Demokritus; und in der That, man muß so an ihre Narrheit gewöhnt seyn wie du, um so kaltblütig davon zu sprechen.“ — Als ob es nicht allenthalben Abderiten gäbe, sagte der Philosoph. — Aber Abderiten in diesem Grade! rief jener; vergieb mir, wenn ich von deinem Vaterlande nicht mit so viel Nachsicht urtheilen kann, als du. Aber, versichre dich, sie sollen mich nicht umsonst zu sich berufen haben! Die Zeit kam heran, wo der Äsculap dem Senat von Abdera seinen Bericht erstatten sollte. Er kam, trat mitten unter die versammelten Väter, und sprach mit einer Wohlredenheit, die alle Anwesenden in Erstaunen sezte: „Friede sey mit Abdera! Edle, Veste, Fürsichtige und Weise, liebe Herren und Abderiten!

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Gestern lobte ich Sie wegen Ihrer Fürsorge für das Gehirn Ihres Mitbürgers Demokritus; und heute rathe ich Ihnen wohlmeynend, diese Fürsorge auf ihre ganze Stadt und Republik zu erstrecken. Gesund an Leib und Seele zu seyn, ist das höchste Gut, das Sie Sich selbst, Ihren Kindern und Ihren Bürgern verschaffen können; und dies würklich zu thun, ist die erste Ihrer obrigkeitlichen Pflichten. So kurz mein Aufenthalt unter Ihnen ist, so ist er doch schon lang genug, um mich zu überzeugen, daß sich die Abderiten nicht so wohl befinden, als es zu wünschen wäre. Ich bin zwar zu Cos gebohren, und wohne bald zu Athen, bald zu Larissa, bald anderswo; izt zu Abdera, morgen vielleicht auf dem Wege nach Byzanz. Aber ich bin weder ein Coer noch ein Athenienser,

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weder ein Larisser noch Abderite; ich bin ein Arzt. So lang es Kranke auf dem Erdboden giebt, ist meine Pflicht, so viel Gesunde zu machen als ich kann. Die gefährlichsten Kranken sind die, die n i c h t w i s s e n , daß sie krank sind; und dies ist, wie ich finde, der Fall der Abderiten. Das Übel liegt für meine Kunst zu tief; aber was ich thun kann, um die Heilung v o r z u b e r e i t e n , ist dies! Senden Sie, mit dem ersten guten Winde, sechs große Schiffe nach A n t i c y r a ; meinethalben können sie mit welcherley Waaren es den Abderiten beliebt, dahin befrachtet werden; aber zu Anticyra lassen Sie alle sechs Schiffe so viel Nießewurz laden, als sie tragen können ohne zu sinken. Man kann zwar auch Nießewurz aus Galatien haben, die etwas wohlfeiler ist; aber die Nießewurz von Anticyra ist die beste. Wenn die Schiffe angekommen seyn werden, so lassen Sie das gesamte Volk auf Ihrem großen Markte versammeln; stellen Sie, mit Ihrer ganzen Priesterschaft an der Spitze, einen feyerlichen Umgang zu allen Tempeln in Abdera an, und bitten Sie die Götter, daß sie dem Senat und dem Volke zu Abdera geben möchten, was dem Senat und dem Volke zu Ab-

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dera fehlt; dann kehren Sie auf den Markt zurück, und theilen den sämtlichen Vorrath von Niesewurz, auf gemeiner Stadt Unkosten, unter alle Bürger aus; auf jeden Kopf sieben Pfund; nicht zu vergessen, daß den Rathsherren, welche (ausserdem was sie für sich selbst gebrauchen) noch für so viel andre Verstand haben müssen, eine doppelte Portion gereicht werde! Die Portionen sind stark, ich gesteh es; aber eingewurzelte Übel sind hartnäckig, und können nur durch anhaltenden Gebrauch der Arzney geheilt werden. Wenn Sie nun dieses Vorbereitungsmittel, nach der Vorschrift, die ich Ihnen geben will, durch die erforderliche Zeit gebraucht haben werden: dann überlasse ich Sie einem an10

dern Arzte; denn, wie ich sagte, die Krankheit der Abderiten liegt zu tief für meine Kunst. Ich kenne funfzig Meilen rings um Abdera nur einen einzigen Mann, der ihnen von Grund aus helfen könnte, wenn sie sich geduldig und folgsam in seine Kur begeben wollten. Der Mann nennt sich Demokritus, des Damasippus Sohn. Stoßen Sie Sich nicht an dem Umstande, daß er zu Abdera gebohren ist; er ist darum kein Abderite, dies können Sie mir auf mein Wort glauben; oder wenn Sie mir nicht glauben wollen, so fragen Sie den Apollo zu Delphi. Es ist ein gutherziger Mann, der sich ein Vergnügen daraus machen wird, Ihnen seine Dienste zu leisten. Und hiermit, meine Herren und Bürger von Abdera, empfehl ich Sie und Ihre Stadt den Göttern. Verachten Sie meinen

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Rath nicht, weil ich ihn umsonst gebe; es ist der Beste, den ich jemals einem Kranken der sich für gesund hielt gegeben habe!“ Als Hippokrates dies gesagt hatte, machte er dem Senat eine höfliche Verbeugung, und gieng seines Weges. Niemals — sagt der Geschichtschreiber Hekatäus, ein desto glaubwürdigerer Zeuge, weil er selbst ein Abderite war *) — Niemals hat man zweyhundert Menschen alle zugleich, in einer so sonderbaren Attitüde gesehen, als diejenige des Senats von Abdera in diesem Augenblicke war; es müßten nur die zweyhundert Phönizier seyn, welche Perseus, durch den Anblick des Kopfs der M e d u s a , auf einmal in eben soviel Statuen verwandelte, als ihm ihr Anfüh-

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rer Phineus seine geliebte und theuer erworbene Andromeda mit Gewalt wieder abjagen wollte **). In der That hatten sie alle möglichen Ursachen von der *)

Zum Unglück sind alle seine Werke verlohren gegangen. v. Recherches sur Hecate´e de Milet

Tom. IX. des Mem. de Litterat. **)

O v i d . M e t a m o r . L. V. v. 218.

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Welt, auf etliche Minuten versteinert zu werden. Beschreiben zu wollen was in ihren Seelen vorgieng, würde vergebliche Mühe seyn. N i c h t s gieng in ihnen vor; ihre Seelen waren so versteinert als ihre Leiber. Mit dummem sprachlosem Erstaunen sahen sie alle nach der Thüre, durch welche der Äsculap sich zurückgezogen hatte: und auf jedem Gesichte drückte sich zugleich die angestrengte Bemühung und das gänzliche Unvermögen aus, etwas von dieser Begebenheit zu begreiffen. Endlich schienen sie nach und nach, einige früher, einige später, wieder zu sich selbst zu kommen. Sie sahen einander mit großen Augen an; funfzig Mäuler öfneten sich zugleich zu der nehmlichen Frage, und fielen wieder zu, weil sie sich aufgethan hatten, eh sie wußten w a s sie fragen

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wollten. Zum Henker, meine Herren, rief endlich der Zunftmeister P f r i e m e , ich glaube gar, der Quacksalber hat uns mit seiner doppelten Portion Nießewurz zum Narren! — Ich versah mir gleich von Anfang nichts gutes zu ihm, sagte T h r a s y l l u s . — Meiner Frau wollt’ er gestern gar nicht einleuchten, sprach der Rathsherr S m i l a x . — Ich dachte gleich es würde übel ablauffen, wie er von den sechs Schiffen sprach, die wir nach Anticyra senden sollten, sagte ein anderer. — Und die verdammte Ernsthaftigkeit womit er uns alles das vordeclamierte, rief ein dritter; ich gestehe daß ich mir gar nicht einbilden konnte, wo es hinaus lauffen würde. — Ha, ha, ha, ein lustiger Zufall, so wahr ich ehrlich bin, sagte der k l e i n e d i c k e R a t h s h e r r , indem er sich vor La-

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chen den Bauch hielt; gestehen wir, daß wir fein abgeführt sind! Ein verzweifelter Streich! Das hätt’ uns nicht begegnen sollen! Ha, ha, ha! — Aber wer konnte sich auch zu einem solchen Manne so etwas versehen? rief der Nomophylax — Ganz gewiß ist er auch einer von euern Philosophen, sagte Meister Pfrieme; der Priester Strobylus hat wahrlich so unrecht nicht; wenn es nicht wider unsre Freyheiten wäre, so wollt’ ich der erste seyn, der darauf antrüge, daß man alle diese Spitzköpfe zum Lande hinaus jagte. Meine Herren, fieng izt der Archon an; die Ehre der Stadt Abdera ist angegriffen, und anstatt daß wir hier sitzen, und uns verwundern, oder Glossen machen, sollten wir mit Ernst darauf denken, was uns in einer so kizlichten Sache zu thun gezieme. Vor allen Dingen sehe man, wo Hippokrates hingekommen ist! Ein Rathsdiener, der zu diesem Ende abgeschickt wurde, kam nach einer ziemlichen Weile mit der Nachricht zurück, daß er nirgends mehr anzutreffen sey.

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Ein verfluchter Streich! rieffen die Rathsherren aus Einem Munde; wenn er uns nun entwischt wäre! — Er wird doch kein Hexenmeister seyn, sagte der Zunftmeister Pfrieme, indem er nach einem Amulet sah, das er gewöhnlich zu seiner Sicherheit gegen böse Geister und böse Augen bey sich zu tragen pflegte. Bald darauf wurde berichtet, daß man den fremden Herrn auf seinem Maulesel ganz gelassen hinter dem Tempel der Dioskuren, dem Landgute des Demokritus zu, traben gesehen habe. Was ist nun zu thun, meine Herren? sagte der Archon. 10

Ja — Allerdings! — was nun zu thun ist — was nun zu thun ist! — dies ist eben die Frage! — sagten die Rathsherren, indem sie einander ansahen. Nach einer langen Pause, zeigte sich, daß die Herren — nicht wußten, was nun zu thun war. Der Mann steht in großem Ansehen beym Könige von Macedonien, — fuhr der Archon fort — er wird im ganzen Griechenlande wie ein zweiter Äsculap verehrt! — Wir könnten uns leicht in böse Händel verwickeln, wenn wir einer wiewohl gerechten Empfindlichkeit Gehör geben wollten. Bey allem dem liegt mir die Ehre von Abdera — Ohne Unterbrechung, Herr Archon; fiel ihm der Zunftmeister Pfrieme ein;

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die Ehre und Freyheit von Abdera kann Niemanden näher am Herzen liegen, als mir selbst. Aber, alles wohl überlegt, seh’ ich warlich nicht, was die Ehre der Stadt mit dieser Begebenheit zu thun haben kann. Dieser Harpokrates oder Hippokritus, wie er sich nennt, ist ein Arzt; und ich habe mein Tage gehört, daß ein Arzt die ganze Welt für ein grosses Siechhaus, und alle Menschen für seine Kranken ansieht. Ein jeder spricht und handelt wie ers versteht; und was einer wünscht, das glaubt er gerne. Hippokritus möcht es, denk’ ich, wohl leiden, wenn wir alle krank wären, damit er desto mehr zu heilen hätte. Nun denkt er, wenn ich sie nur erst dahin bringen kann, daß sie meine Arzneyen einnehmen, dann sollen sie mir krank genug werden. Ich

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heiße nicht Meister Pfrieme, wenn dies nicht das ganze Geheimniß ist. Mein Seele! getroffen, rief der kleine dicke Rathsherr; weder mehr noch weniger! der Kerl ist so närrisch nicht! — Ich wette, wenn er kann, so hängt er uns alle mögliche Flüsse und Fieber an den Hals, blos damit er den Spaß habe, uns für unser Geld wieder gesund zu machen! Ha, ha, ha! Aber vierzehn Pfund Nießewurz auf jeden Rathsherrn! rief einer von den Ältesten, dessen Gehirn,

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nach seiner Mine zu urtheilen, schon völlig ausgetrocknet seyn mochte. Bey allen Fröschen der Latona, dies ist zu arg! Man muß beynahe auf den Argwohn kommen, daß etwas mehr hierunter stecke! Vierzehn Pfund Nießewurz auf jeden Rathsherrn! wiederholte Meister Pfrieme, und lachte aus vollem Halse — Und für jeden Zunftmeister, sezte Smilax mit einem bedeutenden Ton hinzu. Das bitt ich mir aus, rief Meister Pfrieme; er sagte kein Wort von Zunftmeistern — Aber das versteht sich doch wohl von selbst, versezte jener; Rathsherren

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und Zunftmeister, Zunftmeister und Rathsherren; ich sehe nicht, warum die Herren Zunftmeister hierinn was besonders haben sollten. Wie, was? rief Meister Pfrieme, mit großem Eifer; Ihr seht nicht, was die Zunftmeister vor den Rathsherren besonders haben? — Meine Herren, Sie haben es gehört! — Herr Stadtschreiber, ich bitt’ es zum Protocoll zu nehmen — Die Zunftmeister stunden alle mit großem Gemurmel von ihren Sitzen auf. Sagt’ ich nicht, rief der alte hypochondrische Rathsmeister, daß etwas mehr hinter der Sache stecke? Ein geheimer Anschlag gegen die Aristokratie — Aber die Herren haben sich ein wenig zu früh verrathen. Gegen die Aristokratie? schrie Pfrieme mit verdoppelter Stimme; gegen

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welche Aristokratie? Zum Henker, Herr Rathsmeister, seit wenn ist Abdera eine Aristokratie? Sind wir Zunftmeister etwan nur an die Wand hingemahlt? Stellen wir nicht das Volk vor? Haben wir nicht seine Rechte und Freyheiten zu vertreten? — Herr Stadtschreiber, zum Protocoll, daß ich gegen alles Widrige protestiere, und dem löblichen Zunftmeisterthum sowohl als gemeiner Stadt Abdera — Protestirt! protestirt! schrien die Zunftmeister alle zusammen. Reprotestirt! reprotestirt! schrien die Rathsherren. Der Lerm nahm überhand. Meine Herren, rief der regierende Archon, so laut er konnte, was für ein Schwindel hat Sie überfallen? Ich bitte, bedenken Sie, wer Sie sind, und wo Sie sind! Was werden die Eyerweiber und Obsthändlerinnen, da unten, von uns denken, wenn sie uns wie die Zahnbrecher schreyen hören? Aber die Stimme der Weisheit verlohr sich ungehört in dem betäubenden Getöse. Niemand hörte sein eigen Wort.

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Zu gutem Glück war es, seit undenklichen Zeiten, in Abdera gebräuchlich, auf den Punkt zwölf Uhr durch die ganze Stadt zu Mittag zu essen; und, vermöge der Rathsordnung, mußte, so wie eine Stunde abgelauffen war, eine Art von Herold vor die Rathsstube treten, und die Stunde ausruffen. Gnädige Herren, rief der Herold mit der Stimme des Homerischen S t e n tors, die zwölfte Stunde ist vorbey ! „Stille; der Stundenruffer!“ — Was rief er? — „ Z w ö l f e , m e i n e H e r r e n , z w ö l f e ! “ — Schon zwölfe? — Schon vorbey? — So ist es hohe Zeit — Der größte Theil der gnädigen Herren war zu Gaste gebeten. Das glückliche 10

Wort Zwölfe versezte sie also auf einmal in eine Reihe angenehmer Vorstellungen, die mit dem Gegenstand ihres Zankes nicht in der mindesten Verbindung stunden. Schneller als die Figuren in einem Guckkasten sich verwandeln, stund eine große Tafel, mit einer Menge niedlicher Schüsseln bedeckt, vor ihrer Stirne; ihre Nasen weideten sich zum voraus an Düften von bester Vorbedeutung; ihre Ohren hörten das Geklapper der Teller; ihre Zunge kostete schon die leckerhaften Brühen, in deren Erfindung die Abderitischen Köche mit einander wetteiferten; kurz, das unwesentliche Gastmal beschäftigte alle Kräfte ihrer Seelen; und auf einmal war die Ruhe des Abderitischen Staats wieder hergestellt.

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„Wo werden Sie heute speisen?“ — Bey Polyphontens — „Dahin bin ich auch geladen.“ — Ich erfreue mich über die Ehre Ihrer Gesellschaft — „Sehr viele Ehre für mich! — Was werden wir diesen Abend für eine Komödie haben? — Die Andromeda des Euripides — Also ein Trauerspiel! — O! mein Lieblingsstück! — Und eine Musik! Unter uns, der Nomophylax hat etliche Chöre selbst gesezt; Sie werden Wunder hören!“ — Unter so sanften Gesprächen erhuben sich die Väter von Abdera, in eilfertigem aber friedsamem Gewimmel, vom Rathhause, zu großer Verwunderung der Eyerweiber und Obsthändlerinnen, welche kurz zuvor die Wände der Rathsstube von ächtem Thrazischem Geschrey wiederhallen gehört hatten.

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Alles dies hatte man dir zu danken, wohlthätiger Stundenruffer! Ohne deine glückliche Dazwischenkunft würde, wahrscheinlicherweise, der Zank der Rathsherren und Zunftmeister, gleich dem Zorn des Achilles, so lächerlich auch seine Veranlassung war, in ein Feuer ausgebrochen seyn, dessen schnellverbreitete Gewalt die schrecklichste Zerrüttung, wo nicht gar den Umsturz der Republik Abdera hätte verursachen können. Wenn jemals ein Abderite

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mit einer öffentlichen Ehrensäule belohnt zu werden verdient hätte, so war es gewiß dieser Stundenruffer! Zwar muß man gestehen, der große Dienst, den er in diesem Augenblicke seiner Vaterstadt leistete, verliert seine ganze Verdienstlichkeit durch den einzigen Umstand, daß er nur z u f ä l l i g e r w e i s e nützlich wurde; denn der ehrliche Mann dachte, da er zur gesezten Zeit maschinenmäsig Zwölfe rief, an nichts weniger, als an die unabsehbaren Übel, die er dadurch von dem gemeinen Wesen abwendete. Aber niemals hatte sich ein Abderite auf andre Weise um sein Vaterland verdient gemacht. Wenn es sich zutrug, daß sie etwas verrichteten, das durch irgend einen glücklichen Zufall der Stadt nützlich wurde, so dankten sie den Göttern dafür; denn sie

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fühlten wohl, daß sie als bloße W e r k z e u g e oder g e l e g e n h e i t l i c h e U r s a c h e n mitgewürkt hatten. Indessen ließen sie sich doch das Verdienst des Zufalls, so gut bezahlen, als ob es ihr eigenes gewesen wäre; oder richtiger zu reden, eben weil sie sich keines eignen Verdiensts dabey bewußt waren, liessen sie sich das Gute, was der Zufall unter ihrem Namen that, auf eben den Fuß bezahlen, wie ein Mauleseltreiber den täglichen Verdienst seines Esels einzieht. Es versteht sich, daß die Rede hier bloß von Archonten, Rathsherren und Zunftmeistern ist. Denn der ehrliche Stundenruffer mochte sich Verdienste um die Republik machen, so viel oder so wenig er wollte; er bekam seine sechs Pfennige des Tags in guter abderitischer Münze, und — Gott befohlen! Die Fortsetzung folgt.

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Die Abderiten. Zweyter Theil. 1. Die gute Stadt Abdera in Thrazien, ehmals, (wie wir wissen) eine große, volkreiche, blühende Handelsstadt, das Thrazische A t h e n , die Vaterstadt eines P r o t a g o r a s und D e m o k r i t u s , das Paradies der Narren und der Frösche, — diese gute schöne Stadt Abdera ist nicht mehr. Vergebens suchen wir sie in den Landkarten und Beschreibungen des heutigen Thraziens; sogar der Ort, wo sie ehmals gestanden, ist unbekannt, oder kann wenigstens nur durch 10

Muthmaßungen angegeben werden. Aber nicht so d i e A b d e r i t e n ! Diese leben und weben noch immer, wiewohl ihr ursprünglicher Wohnsitz längst von der Erde verschwunden ist. Sie sind ein unzerstörbares, unsterbliches Völkchen; ohne irgendwo einen festen Sitz zu haben, findet man sie allenthalben; und wiewohl sie unter allen andern Völkern leben, haben sie sich doch bis auf diesen Tag rein und unvermischt erhalten, und bleiben ihrer alten abderitischen Art und Weise so getreu, daß man einen Abderiten, wo man ihn auch antrift, nur einen Augenblick zu sehen und zu hören braucht, um eben so gewiß zu sehen und zu hören, daß er ein Abderite ist, als man es zu Frankfurt und Leipzig, Constantinopel und Aleppo einem Juden anmerkt, daß er ein

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Jude ist. Das sonderbarste aber, und ein Umstand, worinn sie sich von den Israeliten, Beduinen, Armeniern und allen andern unvermischten Völkern wesentlich unterscheiden, ist dieses: daß sie sich, ohne mindeste Gefahr ihrer A b d e r i t e n s c h a f t , mit allen übrigen Erdenbewohnern vermischen, und ungeachtet sie allenthalben die Sprache des Landes, wo sie wohnen, reden, Staatsverfassung, Religion und Gebräuche mit den N i c h t - A b d e r i t e n gemein haben, auch essen und trinken, handeln und wandeln, sich kleiden und putzen, sich frisieren und parfümieren, purgieren und klysterisieren lassen, kurz alles, was zur Nothdurft des menschlichen Lebens gehört, ungefehr eben so machen, wie andre Leute, daß sie, sage ich, nichts desto weniger in allem,

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was sie zu Abderiten macht, sich selbst so unveränderlich gleich bleiben, als ob sie von jeher durch eine diamantene Mauer, drey- oder viermal so hoch und dick, als die Mauren des alten Babylons, von den vernünftigen Geschöpfen auf unserm Planeten abgesondert gewesen wären. Alle andre Menschenarten verändern sich durch V e r p f l a n z u n g , und zwoo verschiedene Arten bringen durch V e r m i s c h u n g eine dritte hervor. Aber an den Abderiten, wohin sie auch verpflanzt wurden, und so viel sie sich auch mit andern Völkern vermischt haben, hat man nie die geringste wesentliche Veränderung wahrnehmen können. Sie sind immer noch die nemlichen, die sie vor zweytausend Jahren zu Abdera waren; und wiewohl man schon längst nicht mehr sagen

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kann: siehe, hie ist Abdera, oder da ist Abdera: so ist doch in Europa, Asia, Africa und America, so weit diese großen Erdviertel poliziret sind, keine Stadt, kein Marktflecken, Dorf noch Dörfchen, wo nicht einige Glieder dieser unsichtbaren Genossenschaft anzutreffen seyn sollten. Da ich es immer verschmähet habe, mich für gelehrter, oder weiser, oder besser ausgeben zu wollen, als ich bin — wiewohl ich befunden habe, daß dies ein unfehlbares Mittel ist, oft für weniger gelehrt, weise und gut angesehen zu werden, als man ist: so gestehe ich offenherzig, daß ich alles dies noch vor wenigen Monaten nicht gewußt habe, und es vermuthlich noch bis diese Stunde nicht wissen würde, wenn mir nicht einer von meinen beyden D ä m o n e n

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den Gedanken eingeblasen hätte, die Geschichte der alten Abderiten, der Mitbürger und Zeitgenossen des Demokritus, zu schreiben. Der Himmel weiß, daß mein Herz damals an nichts Arges dachte. Es war ein schöner Herbstabend; ich war allein in einem Zimmer des obersten Stockwerks meiner Wohnung, und sah vor langerweile zum Fenster hinaus; denn schon seit vielen Wochen hatte mich mein Genius gänzlich verlassen. Ich konnte weder denken noch lesen; alle meine Laune, alles Feuer meines Geistes schien erloschen; ich war dumm, — aber ohne an den Seligkeiten der Dummheit Antheil zu haben, ohne einen Gran von dieser stolzen Zufriedenheit mit sich selbst, dieser unerschütterlichen Überzeugung, daß alles, was der Dummkopf träumt und sagt, witzig, weise und in Marmor gegraben zu werden würdig ist — einer Überzeugung, die den ächten Sohn der Göttin Dummheit, wie ein Muttermahl, kennbar und zum Glücklichsten aller Menschen macht. Kurz, ich fühlte meinen Zustand; er lag schwer auf mir; ich schüttelte mich vergebens; und, wie gesagt, ich war dahin gebracht, daß ich zum Fenster hinaus in die Welt guckte,

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ohne zu wissen, was ich sah, und ohne daß in der That was Merkwürdiges zu sehen war. Auf einmal war mir, als ob ich eine Stimme hörte, die mir zurief: S e t z e d i c h , u n d s c h r e i b e d i e G e s c h i c h t e d e r A b d e r i t e n ! — Und plötzlich ward es leichter und heller in meinem Kopfe. Ja, ja, dacht ich, d i e A b d e r i t e n ! die Geschichte der Abderiten! was kann auch natürlicher seyn? Die Geschichte der Abderiten will ich schreiben. — Verzweifelt, wie mir ein so natürlicher Einfall nicht schon längst gekommen ist? — Also sezt ich mich und schrieb, und schlug nach, und compilierte, und ordnete zusammen, und schrieb wieder; und es war eine Lust zu sehen, wie mir das Werk von den 10

Händen gieng. Nun bitte ich die Leser nur noch um eine kleine Geduld; denn es ist in der That ein wunderlich Ding, wie es einem Mann gehen kann, der seinen Weg fortschlendert, und an nichts arges denkt. Indem ich so fortschrieb, kam mir in einem Anstoß von Laune der Einfall, meiner Phantasie den Zügel schiessen zu lassen, und die Sachen so weit zu treiben als sie nur immer gehen könnten. Es betrift ja doch nur A b d e r i t e n , dacht ich; an Abderiten kann man sich nicht versündigen — (im Grund’ hatt’ ich Unrecht so zu denken, und bereute es auch hinten nach) — „Sie sind doch am Ende weiter nichts als ein Pack Narren; und die Narrheiten, die ihnen in

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der Geschichte zur Last liegen, sind groß genug, um das Albernste und Ungereimteste, was du ihnen andichten kannst, zu rechtfertigen.“ Ich gesteh es also unverhohlen — und wenn’s unrecht war, so verzeyh mir’s der Himmel! — ich strengte alle Stränge meiner Einbildungskraft bis zum reissen an, um die Abderiten so närrisch denken, reden und sich aufführen zu lassen, als es nur möglich wäre. Es ist ja schon über zweytausend Jahre, daß sie gestorben und begraben sind, sagt ich zu mir selbst; es kann weder ihnen noch ihrer Nachkommenschaft schaden; denn auch von dieser ist schon lange kein Gebein mehr übrig. Zu allem dem kam noch eine andre Vorstellung, die mich durch einen Schein von Gutherzigkeit täuschte. Je närrischer ich sie mache,

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dacht’ ich, je weniger hab’ ich zu besorgen, daß man einen Schlüssel zu den Abderiten suchen, und Anwendungen auf Leute, deren Daseyn mir nicht einmal bekannt ist, machen wird. Aber ich irrte mich sehr, indem ich so schloß. Der Erfolg zeigte, daß ich, unschuldiger weise, A b b i l d u n g e n gemacht hatte, da ich nur P h a n t a s i e n zu mahlen glaubte. Es ist vielleicht keine Stadt in Teutschland, wo die Abderiten nicht Leser

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gefunden haben; und wo man sie las, da fand man die Originale zu meinen Bildern. In hundert Orten, wo ich weder selbst jemals gewesen bin noch die mindeste Bekanntschaft habe, wunderte man sich, woher ich die A b d e r i t e n , A b d e r i t i n n e n , und A b d e r i t i s m e n dieser Orte und Enden so genau kenne; und man glaubte, ich müßte schlechterdings entweder einen geheimen Briefwechsel, oder einen kleinen Cabinets-Teufel haben, der mir Anekdoten zutrüge, die ich, mit rechten Dingen, nicht hätte erfahren können. Nun wußte ich nichts gewisser, als daß ich weder dieses noch jenes hatte: folglich war klar wie Taglicht, daß das alte Völklein der Abderiten nicht so ausgestorben sey als ich mir eingebildet. Sie hatten einen Saamen hinterlassen, der in allen Landen

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aufgegangen war, und sich in eine Nachkommenschaft ausgebreitet hatte, von welcher man, wie es scheint, ganz eigentlich sagen kann, daß sie unzählbar sey wie die Sterne des Himmels; und da man beynahe allenthalben die Charakteren und Begebenheiten der a l t e n Abderiten für Abbildungen und Anekdoten der N e u e n ansah: so bestätigte sich nun auch die seltsame Eigenschaft der E i n f ö r m i g k e i t und U n v e r ä n d e r l i c h k e i t , welche dieses Volk oben gesagter maßen von andern Völkern des festen Landes und der Inseln des Meeres unterscheidet. Die Nachrichten, die mir hierüber von allen Orten zukamen, gereichten mir aus einem doppelten Grunde zu großem Troste; erstens, weil ich mich nun auf einmal von dem innerlichen Vorwurf, den Ab-

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deriten vielleicht hier oder da zu viel gethan zu haben, erleichtert fand; und zweytens, weil ich vernahm, daß mein Werk überall, auch von den Abderiten selbst, (nur sehr wenige ausgenommen) mit Vergnügen gelesen, und besonders die treffende Ähnlichkeit meiner Gemählde bewundert würde. Die Wenigen, welche sich darüber beschwehrt haben sollen, daß man s i e geschildert habe, kommen in der That gegen die Menge derer, die zufrieden sind, in keine Betrachtung; und (unter uns gesagt) diese Wenigen thäten besser, wenn sie ihre Ohren nicht selbst so unbesonnen aus ihrer Löwenhaut hervorstreckten, daß es unmöglich ist sie n i c h t zu sehen. Kein Mensch dächte vielleicht an sie, wenn sie selbst schwiegen: aber die ganze Welt stimmt darinn überein, daß derjenige, der sein eignes Bild in den Abschilderungcn der Abderiten zu finden glaubt, und sich darüber ungebehrdig anstellt, ein ausgemachter Abderite sey. Eh ich diese Einleitung, oder Abschweifung, oder Herzenserleichterung, oder wie man es sonst nennen will, beschließe, kann ich nicht umhin, einem

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Gelehrten — dessen weitläuftige Wissenschaft und ruhmwürdigen Eifer für die Beförderung aller schönen und nützlichen Künste ich sehr verehre, — einen kleinen Irthum zu benehmen, in welchen er nicht gefallen wäre, wenn nicht zuweilen auch d i e g u t e n H o m e r e s c h l u m m e r t e n . Er soll nehmlich dafür gehalten haben, als ob die Stadt und Republik M o r o p o l i s , (welche wir übrigens, weil wir ihre Geschichte nie gelesen haben, bloß dem Namen nach kennen,) und die Stadt A b d e r a eine und ebendieselbe Individual-Stadt und Republik wäre. Diese Meynung soll sich auf folgende Schlußrede gründen: Moropolis heißt auf Teutsch d i e N a r r e n s t a d t : nun sind die Abderi10

ten, wo sie am besten sind, wenig besser, als was die Kosmopoliten, die Bürger der Republiken des Plato und Diogenes, die Utopianer, der stoische Weise, und der Mann im Mond — in ihrer Sprache N a r r e n nennen; folglich sind die M o r o p o l i t e n und die A b d e r i t e n das nehmliche Volk. Wir ersuchen den gelehrten Mann, diese Schlußrede in die Aristotelische Form zu spannen; oder, wenn ihm dies zu pedantisch schiene, nur zu bedenken, daß es eben so viel sey, als wenn jemand sagen wollte: der Esel hat lange Ohren; der Hase lange Löffel; also sind die Esel — Hasen. Es begegnet freylich den Gelehrten zuweilen, solche Schlüsse zu machen; aber man muß wenigstens gestehen, daß sie besser thäten, wenn sie keine solche Schlüsse machten. Denn wir Ge-

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lehrten sind allenthalben, wo wir gehen und stehen, von diesen u n s i c h t b a r e n A b d e r i t e n umgeben, welche, (so n ä r r i s c h sie auch zuweilen seyn mögen) doch selten so d u m m sind, daß sie uns nicht auslachen sollten, wenn wir — wie die Nachtmützen raisonniren. Und es ist doch warlich gegen alle gute Zucht and Ordnung, wenn gelehrte Leute sich von Abderiten auslachen lassen müssen. Es wäre zu wünschen, daß auf dem ersten L a n d t a g , den der Aldermann unsrer Dichter veranstalten wird, darauf gedacht würde, diesem Unwesen zu steuren. Wenn es übrigens dem Geschichtschreiber der Abderiten nur darum zu thun wäre, eine große Anzahl von Bogen, oder wohl gar ganze Bände anzufül-

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len; so sollte es ihm ein Leichtes seyn, die Geschichte dieses merkwürdigen Völkleins in ein Werk auszudehnen, das den Annalen des Baronius, ja der Englischen Weltgeschichte selbst, an körperlichem Inhalt den Vorzug streitig machen könnte. Die Abderiten haben dafür gesorgt, und sorgen noch täglich dafür, daß es den Pappiermachern eher an Lumpen, den Gänsen an Spulen, und den Materialisten an Dintenpulver, als daß es ihrem Historiographen

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jemals an barokischen Charaktern und farcikalischen Begebenheiten fehlen sollte, um die Zwerchfelle seiner Leser in immerwährender Bewegung zu erhalten. Auch dürfte er sich mit einem mäßigen Antheil von Witz und Laune in der Ausführung, ziemlich sicher Rechnung darauf machen, daß es ihm so bald nicht an Lesern fehlen würde. Denn die Geschichte der Abderiten hat zwoo Eigenschaften, welche selten ermangeln, ein Buch, das damit begabt ist, den M e i s t e n zu empfehlen. Man kann sie zwischen Wachen und Schlaf lesen, und es giebt immer etwas dabey zu lachen oder wenigstens zu schmunzeln. Überdem haben die Adamskinder von jeher die Gutherzigkeit gehabt, gerne über sich selbst zu lachen, in so fern man nur die Bescheidenheit gebraucht, die

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Namen zu ändern; uneingedenk — die ehrlichen Seelen! — daß die Namen der Dinge willkührlich sind, und daß Narr und Närrin nicht um einen Atom weniger Narr und Närrin sind, sie mögen Thrasyllus oder Siegfried, Thryallis oder Ursula heissen. Aber eben aus diesem Grunde findet es der Verfasser dieser Geschichte für gut, ihr nicht den Umfang zu geben, den viele Leser zu wünschen scheinen. Ein Werk, das nur belustiget, ohne zu bessern, kann leicht zu lang werden. Und wen sollte die Geschichte der Abderiten bessern? — D i e A b d e r i t e n s e l b s t ? Daran ist nicht zu denken — D i e N i c h t - A b d e r i t e n und A n t i - A b d e r i t e n ? Gewiß eben so wenig; denn wozu bedürfen die Gesunden des Arztes? Man wird sich also (um gleichwohl dieser Geschichte eine

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Art von Vollständigkeit zu geben,) blos auf eine umständliche, und, wo es nöthig seyn wird, mit hinlänglichen Urkunden belegte Erzählung von den drey merkwürdigsten Begebenheiten der Abderiten von Abdera einschränken; und möchten nur die Umstände — von denen beynahe immer die gute oder schlechte Ausführung der menschlichen Entwürfe abhangt — dem Geschichtschreiber günstig genug seyn, um wenigstens diesen drey Hauptkapiteln seines Werkes ihr ganzes Recht anzuthun! Alsdann dürft’ er sich vielleicht schmeicheln, daß es eben so unsterblich seyn werde, als die Abderiten selbst, deren Witz, Geschmack, feine Lebensart und vortrefliche Polizey er, wiewohl nur in einem unvollkomnen Schattenriß, der Welt darzustellen gesucht hat. Die erste dieser Begebenheiten ist die Krankheit, mit welcher die Abderiten aus Veranlassung der Andromeda des Euripides befallen wurden; eine seltsame Epidemie, welche damals unter dem Namen der A b d e r i t i s c h e n T o l l h e i t viel Redens in der Welt und dem Vater der Heilkunst selbst viel zu schaffen machte. Die andre betrift den berühmten P r o c e ß ü b e r d e s E s e l s

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S c h a t t e n , oder d i e O n o s k i a m a c h i e , welche, wenigstens so gut als die Homerische B a t r a c h o m y o m a c h i e , längst verdient hätte, von einem Epischen Dichter besungen zu werden. Man pflegt zwar gemeiniglich diese Begebenheit auf die Rechnung der Republik Megara zu setzen: aber es ist ganz gewiß, daß sie den Abderiten zugehört. Die dritte ist endlich die merkwürdige E m i g r a t i o n , deren gleich im Anfang dieser Geschichte Erwähnung geschehen ist, und welche um so mehr mit allen ihren Umständen erzählt und aus ihren geheimsten und ersten Ursachen abgeleitet zu werden verdient, da man schwerlich in der ganzen Geschichte der menschlichen Gattung ein an10

ders Beyspiel hat, daß jemals ein poliziertes Volk seine Hauptstadt und sein ganzes Gebiet den Fröschen hätte räumen müssen. Die Fortsetzung folgt.

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Die Abderiten. An den Leser. Es würde schmeichelhaft für den Herausgeber der Abderiten seyn, wenn viele Leser des Teutschen Merkurs bemerkt haben sollten, daß seit dem letzten May 1774, da er in seiner Erzählung von dieser berühmten Nation nur eine kurze Pause zu machen gedachte, und diesem gegenwärtigen 1. Julius, wo er selbst zu bemerken angefangen, daß diese Pause etwas lange währe, — vier volle Jahre, weniger vier Wochen und etliche ungerade Tage, verstrichen sind. Ihnen begreiflich machen zu wollen, wie es zugegangen daß aus vier Wochen eben so viele Jahre geworden, möchte leicht unter allen Abderitenstück-

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chen, womit wir sie im Jahre 1 7 7 3 . und 74. zu unterhalten d a s G l ü c k u n d d i e E h r e hatten (wenns erlaubt ist dem berühmten Herrn J o h a n n B u n k e l seinen Favorit Ausdruck abzuborgen) und — so fern die grossen Aristotelischen B e w e g e r der Welt, Nothwendigkeit, Natur und Zufall, nichts anders verfügen — noch einige Zeit zu unterhalten hoffen, das langweiligste seyn. Wahr ists, an Mahnern hat es uns diese vier Jahr über nicht gefehlt: allein dargegen hat es auch dem H. nicht an Ursachen gefehlt, den Aufschub wenigstens sich selbst zu rechtfertigen; als da ist, zum Exempel, die alte Musikregel: „Klimpre nicht so lange auf einer Sayte bis den Zuhörern die Ohren davon gellen;“ — item, die diätetische Vorsicht des weltberühmten Leibarztes der

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Statthalter der Insel B a r a t a r i a , D . P e d r o R e z i o d e M a l a g u e r o , g e bürtig von Tirteafuera, welches zwischen Caraquel und Almod a b a r d e l C a m p o r e c h t e r H a n d l i e g t , der sein fischbeinernes Stäbchen just in dem Augenblick auf eine Schüssel fallen ließ, wenn er sah daß es dem Herrn Statthalter am besten schmeckte — item: das bekannte Dictum: T u nihil invita ˆ dices faciesve Minerva ˆ — und zwanzig andre Ursachen die diesen an Gewichte wenig nachgeben — unter andern auch, daß wir dem geneigten Leser Zeit lassen wollten, den feinen Abderitischen ofnen Brief wohl zu belesen, zu beherzigen, zu ponderiren, zu vergleichen, zu zergliedern, oder sonst beliebiger Weise sich zu Nutze zu machen, den ich weiß nicht welcher

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Moralischer D. Pedro Rezio, im Nahmen aller kleinen Städte, unter dem respektabeln Nahmen eines Bürgermeisters von irgend einem Neu-Abdera vor Jahren an den Herausgeber ergehen ließ. Ob er dazu einen besondern Auftrag gehabt, oder ob ihn bloß sein patriotischer Eyfer für die gemeine Abderitische Sache zu diesem Schritte bewogen, können wir nicht sagen. Aber dies ist gewiß (wie es denn auch der verständige Leser ohne unser Erinnern sogleich bemerkt haben muß) daß der ausgemachteste Abderitische F e i g e n r e d n e r (wenn es erlaubt ist das Wort S y k o p h a n t im Geschmack unsrer Puristischen Übersetzer zu verdollmetschen) die besagte gute Sache nicht meister10

licher hätte führen können. Insonderheit wird man die Kunst bewundert haben — (wenn es anders Kunst und nicht die liebe Natur selbst war, die manche Köpfe, vermuthlich aus guten Ursachen, von Mutterleib an etwas schief zwischen die Schultern setzt) — womit der Herr Bürgermeister seinen Gegnern, so behende daß es unter zwanzig Abderiten nicht einer merkt, die Volte zu schlagen, und die Beystehenden glaubend zu machen weiß: der ehrliche Demokritus und dessen Apologist führten weitaussehende gefährliche Dinge im Schilde, und giengen auf nichts geringers aus, als den wenigen Überrest von altteutscher Redlichkeit, Bürgerlichkeit, Häuslichkeit und Einfalt der Sitten, der sich noch in einigen kleinen Städten und Marktflecken hier und da erhal-

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ten hat, vollends auszuräuten, und aus dem seligen Mangel an ächter und unächter Verfeinerung, der ihre Unschuld, ihren Reichthum, ihr ganzes Glück theils ausmacht theils sicher stellt, Ursachen und Gelegenheit zu ziehen, sie dem unverständigen Spott leichtfertiger Weltkinder Preiß zu geben. Wie gesagt, da es ungereimt gewesen wäre, uns über diese Dinge mit S r . A b d e r i t i s c h e n H e r r l i c h k e i t in öffentliche Korrespondenz zu setzen: so schien vor der Hand das beste zu seyn, wenn man dem unbefangnen Leser Zeit ließe, alles bey guter Muße selbst zu überlegen, und dann in Sachen Urtheil zu sprechen, wie Vermögen und Umstände, Wind und Wetter, Schlaf, Verdauung, Sekretion und Exkretion, besonders das Medium wodurch sein Seelen-

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auge die Sachen zu sehen pflegt, und der Grad der Aufmerksamkeit, wovon er etwa bey der Untersuchung just Herr seyn möchte, es mit sich bringen würden. Nun bekennen wir zwar, daß es dazu eben keiner vier Jahre bedurft hätte: indessen hat dieserAufschub (an welchem d e r Z u f a l l , dieser grosse Dator Bonorum, am Ende wenigstens so viel Antheil hat als die übrigen vier und

Die Abderiten. Zweyter Theil. An den Leser

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zwanzig Ursachen zusammen genommen) doch immer das Gute hervorgebracht, daß der Herausgeber aus einer gewissen Ungeduld, die man über das Ausbleiben der erwarteten Fortsetzung blicken ließ, und aus den häufigen Mahnbriefen die (ohne Ruhm zu melden) deßhalben an ihn ergiengen, ziemlich sicher schließen konnte: das ehrsame Publikum, sonderlich in Republiken und Residenzstädten, (welches man sich, collective genommen, als einen sehr grossen Herrn, etwa unter dem Bilde des grossen G a r g a n t u a , vorzustellen hat) so viel Belieben es auch manchmal an dem Taschenspiel eines fixen gewandten spitzzungigen Feigenredners finden mag, lasse sich doch am Ende nicht dadurch irre machen; sondern wisse sein Recht, einen jeden zu

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brauchen wozu er gut ist, so meisterlich zu behaupten als irgend ein andrer Sultan in und ausser der Christenheit. Wir schreiten also, ohne weitere Vor- Schutz- und Trutzrede, zur Sache selbst, nachdem wir den geneigten Leser nur noch um zwoo Gefälligkeiten ersucht haben werden. Die erste ist: das einzelne Kapitel, das sich in das siebente Stück des zweyten Jahrgangs des T . M . unter der Rubrik, d i e A b d e r i t e n , z w e y t e r T h e i l , eingeschlichen, entweder gänzlich als ungeschrieben, oder doch als eine Art von I n t e r m e z z o das nicht am rechten Orte steht, anzusehen — und überhaupt zu bemerken, daß die folgende Erzählung mit dem v i e r z e h n t e n K a -

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p i t e l (im 2ten Stück des VI. Bandes vom M e r k u r 1774) unmittelbar zusammenhange, und also eigentlich kein zweyter Theil, sondern bloß eine Fortsetzung und Vollendung des ersten sey. Die andre Gefälligkeit, wobey Sie selbst und Wir gleichstark interessirt sind, besteht darinn: sich die Mühe zu geben, und — nicht eben die ganze Abderitengeschichte ab ovo (wofern Sie nicht etwa ein sonderlich Belieben dazu trügen) — aber doch wenigstens das besagte vierzehnte Kapitel, und, wo möglich, auch einen Theil des z w e y t e n ( T . M . V. Band I. St.) nehmlich von den Worten A b d e r a f ü h r t e t c . S . 4 9 . bis zu den Worten: H a r m o n i e n g e s t o p f t w u r d e n . S . 5 4 . vorher wieder zu überlesen, eh sie uns die Ehre erweisen, sich erzehlen zu lassen, was am Abend des nemlichen merkürdigen Tages, da der Stundenrufer den Senat und gemeine Stadt von Abdera so glücklicherweise aus der Gefahr eines weitaussehenden Bürgerhandels zog, sich ferner mit den Abderiten zugetragen.

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15. Ungeachtet das Abentheuer des Abderitischen Senats mit dem Arzt Hippokrates außerordentlich genug war, um einen Platz in den Jahrbüchern ihrer Republik zu verdienen; und wiewohl es bey den Rathsherren von Abdera eine alte hergebrachte Gewohnheit und Sitte war, die bey Rath verhandelten Materien gleich darauf bey Tische (es sey nun daß sie Gesellschaft hatten oder mit ihrer Familie allein speiseten) zu recapituliren, und zu einer reichen Quelle witziger Einfälle und spaßhafter Anmerkungen, oder patriotischer Stoßseufzer, Klagen, Wünsche, Träume, Aussichten u. dgl. zu machen, zumal wenn 10

etwa in dem abgefaßten Rathschluß die Verschwiegenheit ausdrücklich empfohlen worden war: so wurde doch diesmal an allen Tafeln, wo ein Rathsherr oder Zunftmeister obenan saß, des Hippokrates und Demokritus eben so wenig gedacht, als ob gar keine Männer dieses Nahmens in der Welt gewesen wären. In diesem Stücke hatten die Abderiten einen ganz besondern PublicSpirit, und ein feineres Gefühl als man ihnen in Betracht ihres gewöhnlichen Eigendünkels hätte zutrauen sollen. Ihre Geschichte mit dem Hippokrates konnte in der That, man hätte sie wenden und koloriren mögen wie man gewollt hätte, auf keine Art die ihnen Ehre machte erzählt werden. Das sicherste war die Sache auf sich beruhen zu lassen, und zu schweigen.

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Die heutige Komödie machte also diesmal wie gewöhnlich den Hauptgegenstand der Unterhaltung aus. Denn seitdem sich die Abderiten, nach dem Beyspiel ihres grossen Musters, der Athenienser, mit einem eignen Theater versehen hatten, wurde in Gesellschaften, sobald die übrigen Gemeinplätze, Wetter, Putz, Stadtneuigkeiten und Scandala erschöpft waren, unfehlbar entweder von der Komödie die gestern gespielt worden oder von der Komödie die heute gespielt werden sollte gesprochen — und die Herren von Abdera wußten sich, besonders gegen Fremde, nicht wenig damit, daß sie ihren Mitbürgern und Mitbürgerinnen eine so schöne Gelegenheit zu Verfeinerung ihres Witzes und Geschmacks, einen so unerschöpflichen Stoff zu u n s c h u l d i g e n Ge-

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sprächen in Gesellschaften, und — besonders dem schönen Geschlecht, ein so herrliches Mittel gegen die Leib und Seele verderbliche L a n g e w e i l e verschafft hätten. Wir sagen es nicht um zu tadeln, sondern zum verdienten Lob der Abderi-

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ten, daß sie ihr Komödienwesen für wichtig genug hielten, die Aufsicht darüber einem besondern Rathsausschuß zu übergeben, dessen Vorsitzer immer der zeitige N o m o p h y l a x , folglich einer der obersten Väter des Vaterlandes, war. Dies war unstreitig sehr löblich: aber daß es darum nicht um ein Haar besser mit ihrem Komödienwesen stund, das war — wessen man sich zu Abdera versehen haben wird. — Weil nun die Wahl der Stücke von dieser RathsDeputation abhieng, und die Erfindung der Komödienzettel unter die ansehnliche Menge von Erfindungen gehört, die den Vorzug der N e u e r n vor der Alten ausser allen fernern Widerspruch setzen: so wuste das Publikum — ausgenommen wenn ein neues abderitisches Stück aufs Theater gebracht wur-

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de — selten vorher, was gespielt werden würde. Denn wiewohl die Herren von der Deputation eben kein Geheimniß aus der Sache machten, so mußte sie doch, eh sie publik wurde, durch so manchen schiefen Mund und durch so viele dicke Ohren gehen, daß fast immer ein Quidproquo herauskam, und die Zuhörer, wenn sie zum Exempel die A n t i g o n e des S o p h o k l e s erwarteten, die E r i g o n e des P h y s i g n a t h u s für lieb und gut nehmen mußten — woran sie es dann auch selten oder nie ermangeln liessen. W a s w e r d e n s i e u n s h e u t e f ü r e i n S t ü c k g e b e n ? war also izt die allgemeine Frage in Abdera — eine Frage, die an sich selbst die unschuldigste Frage von der Welt war, aber durch einen einzigen kleinen Umstand Erzab-

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deritisch wurde; nemlich, daß die Antwort schlechterdings von keinem praktischen Nutzen seyn konnte. Denn die Leute giengen in die Komödie, es mochte ein altes oder neues, gutes oder schlechtes Stück gespielt werden. Eigentlich zu reden gab es für die Abderiten gar k e i n e s c h l e c h t e Stücke; denn sie nahmen alles für gut; und eine natürliche Folge dieser unbegrenzten Gutmüthigkeit war, daß es für sie auch k e i n e g u t e Stücke gab. Schlecht oder gut, was sie amüsierte war ihnen recht, und alles was wie ein Schauspiel aussah, amüsierte sie. — Jedes Stück also, so elend es war und so elend es gespielt worden seyn mochte, endigte sich mit einem Geklatsch das gar nicht aufhören wollte; und dann ertönte auf einmal durchs ganze Parterre ein allgemeines: W i e h a t i h n e n d a s h e u t i g e S t ü c k g e f a l l e n ? und wurde stracks durch ein eben so allgemeines S e h r w o h l beantwortet. So geneigt auch unsre werthen Leser seyn mögen, sich nicht leicht über etwas zu v e r w u n d e r n , was wir ihnen von den Idiotismen unsres thrazischen Athens erzählen können: so ist doch dieser eben erwähnte Zug etwas so

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ganz besonderes, daß wir besorgen müssen keinen Glauben zu finden, wofern wir ihnen nicht begreiflich machen, wie es zugegangen, daß die Abderiten mit einer so großen Neigung zu Schauspielen es gleichwohl zu einer so hohen unbeschränkten d r a m a t i s c h e n A p a t h i e oder vielmehr H i d y p a t h i e bringen konnten, daß ihnen ein elendes Stück nicht nur kein Leiden verursachte, sondern sogar eben (oder doch beynahe eben) sowohl that als ein gutes. Man wird uns, wenn wir das Räthsel auflösen sollen, eine kleine Digreßion über das ganze Abderitische Theaterwesen erlauben müssen.

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Als die Abderiten beschlossen hatten, ein stehendes Theater zu haben, wurde zugleich aus patriotischen Rücksichten festgesezt, daß es ein N a t i o n a l theater seyn sollte. Da nun die Nation, wenigstens dem größten Theile nach, aus Abderiten bestund: so mußte ihr Theater nothfolglich ein A b d e r i t i s c h e s werden. Dies war natürlicherweise die erste und unheilbare Quelle alles Übels. Der Respekt, den die Abderiten für die heilige Stadt der Minerva als ihre vermeynte Mutter trugen, bracht es zwar mit sich, daß die Schauspiele der sämtlichen Atheniensischen Dichter, nicht weil sie gut waren, (denn das war eben nicht immer der Fall) sondern weil sie von Athen kamen, in großem

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Ansehen bey ihnen stunden. Und anfangs konnte auch, aus Mangel einer genugsamen Anzahl einheimischer Stücke, beynahe nichts andres gegeben werden. Allein eben deswegen hielt man sowohl zur Ehre der Stadt und Republik Abdera als mancherley anderer Vortheile wegen für nöthig, eine K o m ö d i e n u n d T r a g ö d i e n - F a b r i k in ihrem eigenen Mittel anzulegen, und diese neue poetische Manufaktur, in welcher Abderitischer Witz, Abderitische Sentiments, Abderitische Sitten und Ridicules, als eben so viele rohe N a t i o n a l p r o d u k t e , zu eigenem Gebrauch dramatisch verarbeitet werden sollten, wie guten weisen Regenten und Patrioten zusteht, auf alle mögliche Art a u f z u m u n t e r n . Dies auf Kosten des g e m e i n e n S e c k e l s zu bewerkstelligen,

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gieng aus zwo Ursachen nicht wohl an: erstens, weil nicht viel drinn war; und zweytens, weil es damals noch nicht Mode war, die Zuschauer bezahlen zu lassen, sondern das Ärarium die Unkosten des Theaters tragen mußte, und

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also ohnedies bey diesem neuen Artickel schon genug auszugeben hatte. Denn an eine neue Auflage auf die Bürgerschaft war, vor der Hand, und bis man wußte wie viel Geschmack sie dieser neuen Lustbarkeit abgewinnen würde, nicht zu gedenken. Es blieb also kein ander Mittel, als die Abderitischen Dichter a u f U n k o s t e n d e s G e s c h m a c k s g e m e i n e r S t a d t aufzumuntern; d. i. alle Waaren, die sie gratis liefern würden, f ü r g u t z u n e h m e n — nach dem alten Sprüchwort: geschenktem Gaul sieh nicht ins Maul; oder, wie es die Abderiten gaben: wo man umsonst ißt, wird immer gut gekocht. Was Horaz von seiner Zeit in Rom sagt: scribimus indocti doctique poe¨mata passim,

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galt nun von Abdera im superlativsten Grade. Weil es einem zum V e r d i e n s t angerechnet wurde, wenn er ein Schauspiel schrieb, und weil schlechterdings nichts dabey zu risquieren war: so machte Tragödien, wer Athem genug hatte ein paar Dutzend zusammengerafte Gedanken in eben so viel von Bombast strotzende Perioden aufzublasen; und jeder platte Spaßmacher versuchte es, die Zwerchfelle der Abderiten, auf denen er sonst in Gesellschaften oder Weinhäusern getrommelt hatte, izt auch einmal vom Theater herab zu bearbeiten. Diese patriotische Nachsicht gegen die Nationalprodukte hatte eine natürliche Folge, die das Übel zugleich vermehrte und fortdaurend machte. So ein gedankenleeres, windichtes, aufgeblasenes, ungezogenes, unwissendes, und

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aller Anstrengung unfähiges Völkchen es auch um die jungen Patrizier und Damoiseaux von Abdera war: so ließ sich doch gar bald einer von ihnen, wir wissen nicht, ob von seinem Mädchen, oder von seinen Schmarutzern, oder auch von seinem eignen angestammten Dünkel weiß machen, daß es nur an ihm liege, dramatische Epheukränze zu erwerben so gut als ein anderer. Dieser erste Versuch wurde mit einem so glänzenden Erfolg gekrönt, daß B l e m m i a s , der zweyte Sohn des Archon O n o l a u s , wiewohl ein notorisches Ganshaupt, ein unwiderstehliches Jucken in seinen Fingern fühlte, auch ein B o c k s p i e l zu machen, wie man damals das Ding hieß, das wir izt ein Trauerspiel zu schelten pflegen. Niemals seitdem Abdera auf Thrazischem Boden stund, hatte man ein dummeres Nationalprodukt gesehen; aber der Verfasser war ein Sohn und zwar der Lieblingssohn des Archon; und so konnt’ es ihm nicht fehlen. Der Schauplatz war so voll, daß die jungen Herren den schönen

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Abderitinnen auf dem Schooße sitzen mußten; die gemeinen Leute standen einander auf den Schultern. Man hörte alle fünf Akte in unverwandter dummwartender Stille an, man gähnte, seufzte, wischte die Stirne, rieb die Augen, hatte hündische Langeweile, und hörte d o c h zu; und wie nun das langerseufzte Ende kam, wurde so abscheulich geklatscht, daß etliche zartnervichte wohlvornehme Muttersöhnchen das Gehör darüber verlohren. Nun war’s klar, daß es keine so große Kunst seyn müsse, eine Tragödie zu machen, weil sogar der junge Blemmias eine gemacht hatte; man konnte sich ohne große Unbescheidenheit ebensoviel zutrauen. Es wurde nun ein Familien-Ehren10

punkt, daß jedes g u t e H a u s wenigstens mit Einem Sohn, Schwager oder Vetter mußte prangen können, der die National-Schaubühne mit einer Komödie oder einem Bocksspiel oder wenigstens mit einer Operette beschenkt hatte. Wie groß dies Verdienst, seinem innern Gehalt nach, etwa sey, daran dachte niemand; gutes, mittelmäßiges und elendes lief in einer Heerde untereinander her. Es bedurfte, um ein schlechtes Stück zu schützen, keiner Kabale wie zu Paris oder ***; eine Höflichkeit war der andern werth; und weil die Herren allerseits Eselsöhrchen hatten: so konnte keinem einfallen, dem andern das auriculas asini Mida rex habet zuzuflüstern. Freylich, die Kunst gewann nicht viel bey dieser Toleranz; aber was kümmerte auch die Abderiten

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das Interesse der Kunst? Genug, daß es für die Ruhe ihrer Stadt und das allerseitige Vergnügen der Interessenten zuträglicher war, dergleichen Dinge friedlich und schiedlich abzuthun. „Da kann man sehen, pflegte der Archon O n o l a u s zu sagen, wie viel drauf ankommt, daß man ein Ding beym rechten Ende nimmt. Das Komödienwesen, das zu Athen alle Augenblicke die garstigsten Händel anrichtet, ist zu Abdera ein Band des allgemeinen guten Vernehmens, und der unschuldigste Zeitvertreib von der Welt. Man geht in die Komödie, man amüsiert sich auf die eine oder andre Art, entweder mit Zuhören oder mit seiner Nachbarin, oder mit Träumen und Schlafen, wie es einem jeden beliebt; dann wird geklatscht, jedermann geht zufrieden nach Hause,

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und gute Nacht!“ Wir sagten vorhin; die Abderiten hätten sich mit ihrem Theater soviel zu thun gemacht, daß sie in Gesellschaften beynahe von nichts als von der Komödie gesprochen; und so verhielt sichs auch würklich. Aber wenn sie von Theaterstücken und Vorstellung und Schauspielern sprachen, so geschah es nicht um etwa zu untersuchen, was daran in der That beyfallswürdig seyn

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möchte oder nicht; denn ob sie sich ein Ding gefallen oder nicht gefallen lassen wollten, das hieng, ihrer Meynung nach, lediglich von ihrem freyen Willen ab; und, wie gesagt, sie hatten nun einmal eine Art von schweigender Abrede mit einander getroffen, ihre einheimische dramatische Manufakturen aufzumuntern. „Man sieht doch recht augenscheinlich (sagten sie) was es auf sich hat, wenn die Künste an einem Orte aufgemuntert werden. Noch vor zwanzig Jahren hatten wir kaum zween oder drey Poeten, von denen, ausser etwa an Geburtstagen oder Hochzeiten, kein Mensch Notiz nahm: izt, seit den zehn bis zwölf Jahren daß wir ein eignes Theater haben, können wir schon über 600 Stücke, Groß und Klein in einander gerechnet, aufweisen, die alle auf Abde-

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ritischem Grund und Boden gewachsen sind.“ Wenn sie also von ihren Schauspielen schwatzten, so war es nur um einander zu fragen, ob z. Ex. das gestrige Stück nicht s c h ö n gewesen sey? und einander zu antworten, ja es sey s e h r s c h ö n gewesen — und was die Actrice, welche die Iphigenia vorgestellt (denn zu Abdera wurden die weiblichen Rollen von würklichen Frauenzimmern gemacht; und das war eben nicht so abderitisch) für ein schönes neues Kleid angehabt; und das gab dann Gelegenheit zu tausend kleinen interessanten Anmerkungen, Reden und Gegenreden, über den Putz, die Stimme, den Anstand, den Gang, das Tragen des Kopfs und der Arme und zwanzig andere Dingen dieser Art an den Schauspielern und

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Schauspielerinnen. Mit unter sprach man denn auch von dem Stücke selbst, sowohl von der Musik als von d e n W o r t e n (wie sie die Poesie davon nannten) d. i. ein jedes sagte, was ihm am besten oder wenigsten gefallen hätte; man hob die vorzüglich r ü h r e n d e n und e r h a b n e n Stellen aus, tadelte auch wohl hier und da einen Ausdruck, oder ein allzuniedriges Wort, oder einen Sentiment, das man übertrieben oder anstößig fand: aber immer endigte sich die Kritik mit dem ewigen abderitischen Refrein: e s b l e i b t d o c h i m m e r e i n s c h ö n e s S t ü c k — und h a t v i e l M o r a l i n s i c h , s c h ö n e M o r a l ! pflegte d e r k u r z e d i c k e R a t h s h e r r hinzuzusetzen — und immer trafs sichs zu, daß die Stücke, die er ihrer schönen Moral wegen selig prieß, gerade die elendesten waren. Man wird vielleicht denken: da die besondern Ursachen, die man zu Abdera gehabt, alle e i n h e i m i s c h e Stücke, ohne Rücksicht auf innerlich Verdienst und Würdigkeit, a u f z u m u n t e r n , bey a u s w ä r t i g e n nicht statt gefunden: so hätte doch wenigstens die große Verschiedenheit der Atheniensischen

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Schauspieldichter, und der Abstand eines Astydamas von einem Sophokles etwas dazu beytragen sollen ihren Geschmack zu bilden, und ihnen den Unterscheid zwischen gut und schlecht, vortreflich und mittelmäßig, und besonders den Unterschied zwischen natürlichem Beruf und bloßer Prätension und Nachäfferey, zwischen dem muntern, gleichen, aushaltenden Gang des wahren Meisters, und dem Stelzenschritt, oder dem Nachkeuchen, Nachhinken und Nachkriechen der Nachahmer, anschaulich zu machen. Aber, fürs erste, ist der Geschmack eine Sache, die sich ohne natürliche Anlage, ohne eine gewisse Feinheit des S e e l e n - O r g a n s , w o m i t man schmecken soll, durch kei10

ne Kunst noch Bildung erlangen läßt; und wir haben gleich zu Anfang dieser Geschichte schon bemerkt, daß die Natur den Abderiten diese Anlage, diese Feinheit des innern Sinnes, ganz versagt zu haben schien. Ihnen schmeckte A l l e s ; man fand auf ihren Tischen die Meisterstücke des Genies und Witzes mit den Produkten der schaalsten Köpfe, den Taglöhnerarbeiten der elendesten Pfuscher, peˆle-meˆle unter einander liegen. Man konnte ihnen in solchen Dingen weiß machen was man wollte; und es war nichts leichters, als einem Abderiten die sublimste Ode von Pindar für den ersten Versuch eines Anfängers, und umgekehrt das sinnloseste Geschmier, wenn es nur den äußren Zuschnitt eines Gesangs in Strophen und Antistrophen hatte, für ein Werk von

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Pindar zu geben. Daher war bey einem jeden neuen Stücke das ihnen zu Gesicht kam immer ihre erste Frage: v o n W e m ? — — und man hatte hundert Beyspiele, daß sie gegen das vortreflichste Werk gleichgültig geblieben waren, bis sie erfahren hatten, daß es einem berühmten Nahmen zugehöre. Dazu kam dann noch der Umstand, daß der N o m o p h y l a x G r y l l u s , Cyniskus Sohn, der an der Errichtung des Abderitischen Nationaltheaters den meisten Antheil gehabt und der Intendant über ihr ganzes Schauspielwesen war, Prätension machte ein grosser Musikverständiger und der erste Komponist seiner Zeit zu seyn — eine Prätension, wogegen die gefälligen Abderiten um so weniger einzuwenden hatten, weil er ein sehr p o p u l a r e r H e r r war,

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und weil seine ganze Kompositions-Kunst in einer kleinen Anzahl melodischer Formen oder Leisten bestund, welche zu allen Arten von Texten passen musten, und daher nichts leichter war als seine Melodien zu singen und auswendig zu lernen. Die Eigenschaft auf die sich Herr G r y l l u s am meisten zu gut that, war seine B e h e n d i g k e i t im komponiren. „Nun wie gefällt Ihnen meine I p h i -

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g e n i a , H e k u b a , A l c e s t i s , oder was es sonsten war, he?“ — O , g a n z v o r t r e f l i c h , Herr Nomophylax! — „Gelt! da ist doch ein reiner Satz! fliessende Melodie! hä, hä, hä! Und wie lange denken Sie daß ich daran gemacht habe? — Zählen sie ’nmal — heute haben wir den 13ten — den vierten Morgens um 5 Uhr — Sie wissen ich bin früh — setzt ich mich an meinen Pult und fieng an — und gestern punkt 10 Uhr Vormittags, macht ich den letzten Strich! — Nun zählen sie nach, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, — macht, wie sie sehen, nicht volle 9 Tage, und darunter zwey Rathstage, und zwey oder drey wo ich zu Gaste gebeten war; andre Geschäfte nicht gerechnet — Hm! was sagen Sie? Heißt das nicht fix gearbeitet? — Ich sag es eben nicht um mich zu rühmen —

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aber das getraue ich mir, wenns eine Wette gälte, daß mir kein Komponist im ganzen Europäischen und Asiatischen Griechenland bälder mit einem Stücke fertig werden soll als ich! Hä, hä, hä! — ’s ist nichts! Aber ’s ist doch so eine eigne Gabe die ich habe, hä, hä, hä!“ — Ich denke, unsre Leser sehen den Mann nun vor sich, und, wenn sie einige Anlage zur Musik haben, so muß ihnen seyn, sie hätten ihn bereits seine ganze Iphigenia, Hekuba und Alcestis herunterorgeln gehört. — O r g e l u m , O r g e l e y , D u d e l d u m d e y : , : Nun hatte dieser grosse Mann noch, nebenher, die kleine Schwachheit, daß er keine Musik gut finden konnte als seine eigene. Keiner von den besten Komponisten zu Athen, Theben, Korinth u. s. w. konnt’ es ihm zu Dank ma-

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chen; und den berühmten Damon, dessen gefällige, geistreiche und immer zum Herzen sprechende Art zu komponiren, außerhalb Abdera, alles was eine Seele hatte bezauberte, nannte er unter seinen Vertrauten nur den B ä n k e l s ä n g e r s - K o m p o n i s t e n . Bey dieser Art zu denken, und vermöge der unendlichen Leichtigkeit, womit er seinen musikalischen Laich von sich gab, hatte er nun binnen wenig Jahren zu mehr als 60 Stücken von berühmten und unberühmten Atheniensischen Schauspieldichtern die Musik gemacht — denn die Abderitischen Nationalprodukte überließ er meistens seinen Schülern und Nachahmern, und begnügte sich blos mit der Revision ihrer Arbeit. Freylich fiel seine Wahl, wie man denken kan, nicht immer auf die besten Stücke; die Hälfte wenigstens waren bombastische Karrikatur-Nachahmungen des Äschylus, oder abgeschmackte Possenspiele, Jahrmarktstücke, die von ihren Verfassern selbst blos für die Belustigung des untersten Pöbels bestimmt waren. Aber genug, der N o m o p h y l a x , ein Haupt der Stadt, h a t t e s i e k o m p o n i e r t ; sie wurden also unendlich beklatscht; und wenn sie denn

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auch bey der öftern Wiederhohlung mitunter gähnen und hojahnen machten, daß die Kinnladen hätten auseinander gehen mögen: so versicherte man einander doch beym Herausgehen, sehr tröstlich: es sey gar ein schönes Stück, und gar eine schöne Musik gewesen! Und so vereinigte sich denn alles, nicht nur gegen die Arten und Stufen des Schönen, sondern gegen den innern Unterschied des Vortreflichen und Schlechten selbst, bey diesen G r i e c h e n z e n d e n T h r a z i e r n jene mechanische Kaltsinnigkeit hervorzubringen, wodurch sie sich als durch einen festen National-Charakterzug von allen übrigen polizierten Völkern des Erd10

bodens auszeichneten; und die dadurch desto sonderbarer wurde, weil sie ihnen demungeachtet die Fähigkeit ließ, zuweilen von dem würklich Schönen auf eine gar seltsame Art affiziert zu werden — wie man in kurzem aus einem merkwürdigen Beyspiel ersehen soll. Bey aller dieser anscheinenden Gleichgültigkeit, Toleranz, Apathie, Hidypathie, oder wie man’s nennen will, müssen wir uns die Abderiten gleichwohl nicht als Leute ohne allen Geschmack einbilden. Denn ihre fünf Sinnen hatten sie richtig und vollgezählt; und wiewohl ihnen, unter den angegebnen Umständen, Alles g u t g e n u g schmeckte: so däuchte sie doch, dieses oder jenes schmecke ihnen b e s s e r als ein anders; und so hatten sie denn ihre L i e b -

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l i n g s s t ü c k e und L i e b l i n g s d i c h t e r so gut als andre Leute. Damals, als ihnen der kleine Verdruß mit dem Arzt Hippokrates zustieß, waren unter einer ziemlichen Anzahl von Theaterdichtern, welche Handwerk davon machten — die F r e y w i l l i g e n nicht gerechnet — vornemlich zween im Besitz der höchsten Gunst des Abderitischen Publikums. Der eine machte Tragödien und eine Art Stücke die man izt K o m i s c h e O p e r n nennt; der andere, Namens T h l a p s , eine Art von Mitteldingen, wobey einem weder wohl noch weh geschah, wovon er der erste Erfinder war, und die deswegen, nach seinem Namen, T h l a p s ö d i e n genennet wurden. Der erste war eben der H y p e r b o l u s , dessen schon zu Anfang dieser eben

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so wahrhaften als wahrscheinlichen Geschichte als des berühmtesten unter den Abderitischen Dichtern erwähnt worden ist. Er hatte sich zwar auch in den übrigen Gattungen hervorgethan; die außerordentliche Partheylichkeit seiner Landsleute für ihn hatte ihm in allen den Preis zuerkannt; und eben dieser Vorzug erwarb ihm den hochtrabenden Zunahmen H y p e r b o l u s ; denn von Haus aus nannte er sich Hegesias. Der Grund warum dieser Mensch

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ein so besonderes Glück bey den Abderiten machte, war der natürlichste von der Welt — nehmlich, eben der, weßwegen er und seine Wercke an jedem andern Orte der Welt als in Abdera ausgepfiffen worden wären. Er war unter allen ihren Dichtern derjenige, in welchem der eigentliche Geist von Abdera, mit allen seinen Idiotismen und Abweichungen von den schönern Formen Proportionen und Lineamenten der Menschheit am leibhaftesten wohnte — derjenige mit dem alle übrigen am meisten sympathisierten — der immer alles just so machte wie sie es auch gemacht haben würden — ihnen immer das Wort aus dem Munde nahm — immer das eigentliche Pünctchen traf, wo sie gekützelt seyn wollten — mit einem Wort, der Dichter nach ihrem Sinn und

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Herzen; und das nicht etwa in Kraft eines ausserordentlichen Scharfsinns oder als ob er sich ein besonderes Studium daraus gemacht hätte, sondern lediglich weil er unter allen seinen Brüdern im Marsyas am meisten — A b d e r i t war. Bey ihm durfte man sich darauf verlassen, daß der Gesichtspunkt woraus er eine Sache ansah, immer der schiefste war, woraus sie angesehen werden konnte; daß er zwischen zwey Dingen allemahl die Ähnlichkeit just da fand, wo ihr wesentlichster Unterschied lag; daß er je und allezeit feyerlich aussehen würde, wo ein vernünftiger Mensch lacht, und lachen würde, wo es nur einem Abderiten einfallen kann zu lachen, u. s. w. Ein Mann der des Abderitischen Genius so voll war, konnte natürlicher weise in Abdera alles seyn

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was er wollte; auch war er ihr Anakreon, ihr Alcäus, ihr Pindar, ihr Äschylus, ihr Aristophanes, und seit kurzem arbeitete er an einem großen NationalHelden-Gedicht, in acht und vierzig Gesängen, die A b d e r i a d e genannt — zu grosser Freude des ganzen Abderitischen Volkes! „Denn, sagten sie, ein H o m e r ist das einzige was uns noch abgeht; und wenn Hyperbolus mit seiner Abderiade fertig seyn wird, so haben wir Ilias und Odyßee in einem Stück beysammen, und dann laß die andern Griechen kommen und uns noch über die Achseln ansehen wenn sie das Herz haben! Sollen uns dann einen Mann stellen, dem wir nicht einen aus unserm Mittel gegenüber stellen wollen!“ — Indessen war doch die Tragödie das eigentliche Fach des Hyperbolus. Er hatte deren hundert und zwanzig (vermuthlich a u c h g r o ß u n d k l e i n i n e i n a n d e r g e r e c h n e t ) verfertiget; ein Umstand, der ihm bey einem Volke, das in allen Dingen nur auf Anzahl und körperlichen Umfang sah, allein schon einen außerordentlichen Vorzug geben mußte; denn von allen seinen Nebenbulern hatte es keiner auch nur auf das Drittel dieser Zahl bringen können. Unge-

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achtet ihn die Abderiten, wegen des Bombasts seiner Schreibart, ihren Äschylus zu nennen pflegten, so wußte er sich selbst doch nicht wenig mit seiner O r i g i n a l i t ä t . Man weise mir, sprach er, einen Charakter, einen Gedanken, ein Sentiment, einen Ausdruck, in allen meinen Werken, den ich aus einem andern genommen hätte! — o d e r a u s d e r N a t u r , sezte D e m o k r i t u s hinzu — „O! (rief Hyperbolus) was das betrift, das kan ich ihnen zugeben, ohne daß ich viel dabey verliehre. Natur! Natur! die gemeine Natur — und d i e meynen sie doch — gehört in die Komödie, ins Possenspiel, in die T h l a p s ö d i e , wenn sie wollen: Aber die Tragödie muß ü b e r d i e N a t u r gehen oder 10

ich gäbe nicht eine hohle Nuß darum.“ Von den seinigen galt dies im vollesten Maas. So wie seine Personen hatte nie kein Mensch ausgesehen, nie kein Mensch gefühlt, gedacht, gesprochen noch gehandelt. Aber eben das wollten die Abderiten — und daher kam es auch, daß sie unter allen auswärtigen Dichtern am wenigsten aus dem S o p h o k l e s machten. „Wenn ich aufrichtig sagen soll wie ich denke,“ sagte einst Hyperbolus in einer vornehmen Gesellschaft wo über diese Materie auf gut Abderitisch raisonnirt wurde — „ich habe nie begreiffen können was an dem Ödipus oder an der Elektra des Sophokles, insonderheit was an seinem P h i l o k t e t außerordentliches seyn soll? Für einen Nachfolger eines so erhabnen Dichters wie Äschylus fällt er wahrlich

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gewaltig! N u n j a , a t t i s c h e U r b a n i t ä t , die streit’ ich ihm nicht ab! Urbanität so viel Sie wollen! Aber der Feuerstrom, die wetterleuchtenden Gedanken, die Donnerschläge, der hinreissende Wirbelwind — kurz, die Riesenstärke, der Adlersflug, der Löwengrimm, der Sturm und Drang, der den wahren tragischen Dichter macht, wo ist der?“ — Das nenn’ ich wie ein Meister von der Sache sprechen, sagte einer von der Gesellschaft — O! über solche Dinge verlassen sie sich auf das Urtheil des Hyperbolus (rief ein andrer) wenn E r das nicht verstehen sollte! — Er hat 120 Tragödien gemacht, flüsterte eine Abderitin einem Fremden ins Ohr; ’s ist der erste Theaterdichter von Abdera! Indessen hatte es doch unter allen seinen Nebenbulern, Schülern und C a u -

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d a t a r i e n ihrer Zweenen geglückt, ihn auf dem tragischen Thron, auf den ihn der allgemeine Beyfall hinauf geschwungen, wanken zu machen. — Dem Einem, durch ein Stück, worinn der H e l d gleich in der ersten Scene des ersten Akts s e i n e n V a t e r e r m o r d e t , im zweyten seine l e i b l i c h e S c h w e s t e r h e y r a t h e t , im dritten entdeckt, d a ß e r s i e m i t s e i n e r M u t t e r g e z e u g t h a t t e , im vierten s i c h s e l b e r O h r e n u n d N a s e a b s c h n e i d t ,

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und im fünften, nachdem er d i e M u t t e r v e r g i f t e t und d i e S c h w e s t e r e r d r o s s e l t , von d e n F u r i e n u n t e r B l i t z u n d D o n n e r i n d i e H ö l l e g e h o h l t w i r d . Dem Andern durch eine N i o b e , worinn außer einer Menge

V ! V ! Ai, Ai ! FeyÄ, FeyÄ, und EleleleleyÄ, und einigen Blasphemien, wobey den Zuhörern die Haare zuberge standen, das ganze Stück in lauter A k t i o n und P a n t o m i m e gesezt war. Beyde Stücke hatten den erstaunlichsten Effekt gemacht. — Nie waren binnen drey Stunden so viele Schnupftücher voll geweint worden, seit ein Abdera in der Welt war. Nein, es ist nicht zum Aushalten, sagten die Schönen Abderitinnen — Der arme Prinz! wie er heulte! wie er sich herumwälzte! Und die Rede die er hielt, da er sich die Nase abgeschnitten

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hatte, rief eine andere — und d i e F u r i e n , d i e F u r i e n , schrie eine dritte — ich konnte vier Wochen lang kein Auge vor ihnen zuthun — Es war schrecklich, ich muß gestehen, sagte die vierte; aber, o! d i e N i o b e ! wie sie mitten unter ihren übereinander hergewälzten Kindern dasteht, sich die Haare ausrauft, sie über die dampfenden Leichen hinstreut, dann sich selbst auf sie hinwirft, sie wieder beleben möchte, dann in Verzweiflung wieder auffährt, die Augen wie feurige Räder im Kopf herumrollt, dann mit ihren eigenen Nägeln sich die Brust aufreißt, und Händevoll Bluts unter entsetzlichen Verwünschungen gen Himmel wirft — Nein, so was r ü h r e n d e s muß nie gesehen worden seyn! Was das für ein Mann seyn muß, der P a r a s p a s m u s , der

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Stärke genug hatte, so eine Scene aufs Theater zu bringen! — Nun, was die Stärke anbetrift, sagte die schöne S a l a b a n d a * ) , darauf läßt sich eben nicht immer so sicher schliessen — Ich zweifle, ob Paraspasmus alles halten würde, was er zu versprechen scheint; große Prahler, schlechte Fechter. — Man kannte die schöne Salabande für eine Frau, die so was nicht ohne guten Grund sagte — Dieser einzige Umstand brachte so viel zuwege, daß die Niobe des Paraspasmus bey der nächsten Vorstellung nicht mehr die Hälfte der vorigen Würkung that; und der Dichter selbst konnte sich in der Folge nicht wieder von dem Schlag erhohlen, den ihm Salabanda durch ein einziges Wort in der Einbildungskraft der Abderitinnen gegeben hatte. Indessen blieb ihm und seinem Freunde Antiphilus doch immer die Ehre, der Tragödie zu Abdera einen neuen Schwung gegeben zu haben, und die *)

Eine Dame die vielleicht einigen Lesern noch aus dem 9ten Kapitel dieser Geschichte erin-

nerlich seyn wird.

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Erfinder zwoer neuer Gattungen, der g r i ß g r a m m i s c h e n , und der P a n t o m i m i s c h e n zu seyn, in welchen den Abderitischen Dichtern eine Laufbahn eröfnet wurde, wo es um so viel sichrer war Lorbeern einzuerndten, da im Grunde nichts leichters ist als — Kinder zu erschrecken, und seine Helden vor lauter Affekt — gar nichts sagen zu lassen. Indessen, (wie die menschliche Unbeständigkeit sich auch an dem, was in seiner Neuheit noch so angenehm ist, gar bald ersättiget,) fiengen die Abderiten bereits an, es überdrüßig zu werden, immer und alle Tage g a r s c h ö n zu finden, was ihnen in der That schon lange gar wenig Vergnügen machte: als 10

ein junger Dichter, Namens T h l a p s , auf den Einfall kam, Stücke aufs Theater zu bringen, die weder Komödie noch Tragödie noch Posse, sondern eine Art von lebendigen Abderitischen Familiengemählden wären; wo weder Helden noch Narren, sondern gute ehrliche hausgebackne Abderiten auftreten, ihren täglichen Stadt- Markt- Haus- und Familien-Geschäften nachgehen und vor einem löblichen Spectatorio gerade so handeln und sprechen sollten, als ob sie auf der Bühne zu Hause und sonst keine Leute in der Welt wären als sie. Man sieht, daß dies ungefehr die nemliche Gattung war, wodurch sich M e n a n d e r in der Folge so viel Ruhm erwarb. Der Unterschied bestand bloß darinn: daß Er A t h e n i e n s e r und Jener A b d e r i t e n auf die Bühne brachte;

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und daß er M e n a n d e r und jener T h l a p s war. Allein da dieser Unterschied den Abderiten nichts verschlug, oder vielmehr gerade zu Thlapsens Vortheil gereichte; so wurde sein erstes Stück *) in dieser Gattung mit einem Entzücken aufgenommen, wovon man noch kein Beyspiel gesehen hatte. Nicht als ob das Stück so was Wundervolles gewesen wäre; im Gegentheil es war das platteste Ding von der Welt: aber genug, die Abderiten sahen sich selbst zum erstenmal auf der Schaubühne in puris Naturalibus, ohne Karrikatur, ohne Stelzen, ohne Löwenhäute, Keulen, Scepter und Diademe, in ihren gewöhnlichen Hauskleidern, ihre gewöhnliche Sprache redend, nach ihrer angebohrnen, eigenthümlichen Abderitischen Art und Weise leiben und leben, essen und

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trinken, freyen und sich freyen lassen, u. s. w. und das war eben was ihnen so viel Vergnügen machte. Es gieng ihnen wie einem jungen Mädchen das sich *)

Es nannte sich E u g a m i a , oder die v i e r f a c h e B r a u t . Eugamia war von ihrem Vater an

einen, von der Mutter an den andern, und von einer Tante, an deren Erbschaft ihr gelegen war, an den dritten Mann versprochen worden. Am Ende kam heraus, daß das voreilige Mädchen sich selbst in aller Stille bereits an einen vierten verschenkt hatte.

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zum erstenmal in einem Spiegel sehen würde; Sie konnten ’s gar nicht genug kriegen. Die vierfache Braut wurde vierzehnmal hinter einander gespielt, und eine lange Zeit wollten die Abderiten nichts als T h l a p s ö d i e n sehen. Thlaps, dem es nicht so fix von der Faust gieng als dem großen H y p e r b o l u s und dem Nomophylax G r y l l u s , konnte deren nicht genug fertig kriegen. Aber da er seinen Mitbrüdern einmal den Ton angegeben hatte: so fehlte es ihm nicht an Nachahmern. Alles legte sich auf die neue Gattung; und in weniger als drey Jahren waren alle mögliche Süjets und Titel von Thlapsödien so erschöpft, daß es würklich ein Jammer war, die Noth der armen Dichter zu sehen, wie sie druckten und schwitzten, um aus dem Schwamme, den schon so

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viele vor ihnen ausgedruckt hatten, noch einen Tropfen trübes Wasser herauszupressen. Die natürliche Folge davon war, daß unvermerkt alle Dinge wieder ins gehörige Gleichgewicht kamen. Die Abderiten, die, nach ziemlich allgemeiner menschlicher Weise, anfangs für jede Gattung eine ausschliessende Neigung faßten, fanden endlich daß es nur desto besser sey, wenn sie dem Überdruß durch Abwechslung und Manchfaltigkeit wehren könnten. Die Tragödien, gemeine, grißgrammische und Pantomimische, auch Komödien, Operetten und Possenspiele kamen wieder in Cours; der N o m o p h y l a x komponierte die Tragödien des Euripides; und Hyperbolus, zumal da ihm izt das Projekt Abderitischer H o m e r zu werden im Kopfe stack, ließ sichs, weil’s

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doch nicht zu ändern war, am Ende gerne gefallen, die Ehre der Lieblingschaft des Abderitischen Parterre mit Thlapsen zu theilen, der überdies durch die Heyrath mit der Nichte eines Oberzunftmeisters seit kurzem eine wichtige Person geworden war. Ehe wir von dieser kleinen Digreßion — (eben nicht so klein, aber auf einem bloßen Spatziergang ist jeder Weg der rechte) zurückkehren, möchte vonnöthen seyn dem geneigten Leser einen kleinen Zweifel zu benehmen, der ihm während vorstehender kurzen Abschattung des Abderitischen Schauspielwesens aufgestoßen seyn möchte. Es ist nicht wohl zu begreiffen, wird man sagen, wie das Ärarium von Abdera, dessen Einkünfte eben nicht so gar beträchtlich seyn konnten, eine so ansehnliche Nebenausgabe, wie ein tägliches Schauspiel mit allen seinen Artikeln ist, in die Länge habe bestreiten können, gesetzt auch daß die Dichter ohne Sold noch Lohn aus purem Patriotismus, oder um die bloße Ehre gedient hätten. Wofern aber dies letztere war, wird man kaum glaublich finden, daß es so manchen Theaterdichter von Profeßion

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in Abdera gegeben, und daß der große Hyperbolus, mit allem seinem Patriotismus und Eigennutz, es bis auf 120 dramatische Stücke sollte getrieben haben. Um nun den günstigen Leser nicht ohne Noth aufzuhalten, wollen wir ihm nur gleich unverhohlen gestehen, 1) daß ihre Theaterdichter keineswegs umsonst gearbeitet; denn das große Gesetz — dem Ochsen der da drischt sollst du nicht das Maul verbinden! — ist ein Naturgesetz, dessen allgemeine Verbindlichkeit auch sogar die Abderiten fühlten; und 2) daß, vermöge einer besondern Finanz-Operation, das Stadt-Ärarium durch das Theater eigentlich keine 10

neue Ausgabe zu bestreiten hatte, sondern dieser Aufwand größtentheils an andern nöthigern und nützlichern Artikeln erspart wurde. Die Sache verhielt sich so. Sobald die Gönner des Theaters sahen, daß die Abderiten Feuer gefaßt und Schauspiele zum Bedürfniß für sie geworden, ermangelten sie nicht dem Volk durch die Zunftmeister vorstellen zu lassen: daß das Ärarium einem so großen Zuwachs von Ausgaben ohne neue Einnahmsquellen oder Einziehung andrer Ausgaben nicht gewachsen sey. Dies veranlaßte denn, daß eine Kommißion niedergesetzt wurde, welche nach mehr als 60 zahlbaren Seßionen endlich einen Entwurf einer Einrichtung des gemeinen Abderitischen Theaterwesens vor Rath legte, den man so gründlich und wohlausgesonnen befand,

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daß er stracks in einer allgemeinen Versammlung der Bürgerschaft zu einem F u n d a m e n t a l g e s e t z der Stadt Abdera gestempelt wurde. Wir würden uns ein Vergnügen daraus machen, dieses Abderische Meisterstück auch vor unsre Leser zu legen, wenn wir ihnen Geduld genug zutrauen dürften es zu lesen. Sollte aber irgend ein gemeines Wesen in oder außer dem Heil. Röm. Reiche die Mittheilung desselben wünschen: so ist man erböthig, solche auf beschehene Requisition, gegen bloße Erstattung der Schreibauslagen, unentgeltlich zu kommunicieren. Alles was wir hier davon sagen können, ist: daß, vermöge dieser Einrichtung, sine aggravio Publici hinlängliche Fonds ausgemacht wurden, die Abderiten wöchentlich viermal mit Schau-

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spielen zu traktiren; sowohl Dichter, Schauspieler und Orchester, als die Herren Deputierten und den Nomophylax als Intendanten, condigne z u r e m u n e r i e r e n ; und überdies noch die beyden untersten Klassen der Zuschauer bey jeder Vorstellung viritim mit einem Pfennigbrodt und zwoo trocknen Feigen zu gratificieren. Der einzige Fehler dieser schönen Einrichtung war, daß die Herren von der Kommißion sich in Berechnung der Einnahme und

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Ausgabe (wegen deren Richtigkeit man sich auf ihre b e k a n n t e D e x t e r i t ä t verließ) um 28000 Drachmen (ungefehr dritthalb tausend Thaler unsers Geldes) verrechnet hatten, die das Ärarium mehr bezahlen mußte als die angewiesenen Fonds betrugen. Das war nun freylich kein ganz gleichgültiger Rechnungsverstoß; indessen waren die Herren von Abdera gewohnt, so glattweg und bona ˆ fide bey ihrem Ärario zu Werke zu gehen: daß etliche Jahre verstrichen, bis man gewahr wurde, woran es liege, daß alle Jahre 2500 Thaler in ihrem Stadtseckel zu wenig waren. Wie man es endlich mit vieler Mühe herausgebracht hatte, fanden die Häupter für nöthig die Sache vor das gesammte Volk zu bringen, und — pro forma ˆ auf Einziehung der Schaubühne anzutra-

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gen. Allein die Abderiten gebehrdeten sich zu diesem Vorschlag als ob man ihnen Wasser und Feuer nehmen wolle; kurz, es wurde ein P l e b i s c i t u m errichtet, daß die jährlich abgängigen vierthalb Talente aus dem gemeinen Schatz, der im Tempel der Latona niedergelegt war, genommen, und derjenige, der sich künftig unterfangen würde, auf Abschaffung der Schaubühne anzutragen, für einen Feind der Stadt Abdera angesehen werden sollte. Die Abderiten glaubten nun ihre Sache recht klug gemacht zu haben, und pflegten gegen Fremde sich viel darauf zu gut zu thun, daß ihre Schaubühne jährlich 80 Talente (80,000 Thaler) koste, und gleichwohl der Bürgerschaft von Abdera keinen Heller! „Es kommt alles auf eine gute Einrichtung an,

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sagten sie. Aber dafür haben wir auch ein Nationaltheater, wie kein anders in der Welt seyn muß!“ — Das ist eine große Wahrheit, sagte D e m o k r i t u s ; solche Dichter, solche Schauspieler, solche Musik, und wöchentlich viermal, für 80 Talente! ich wenigstens habe das an keinem andern Ort in der Welt angetroffen. Was man ihnen lassen mußte, war, daß ihr Theater für eines der prächtigen in Griechenland gelten konnte. Freylich hatten sie dem Könige von Macedonien ihr bestes Amt versetzt, um es bauen zu können: aber, da ihnen der König zugestanden, daß der Amtmann, der Amtschreiber und der Rentmeister allezeit Abderiten bleiben sollten, so konnte ja niemand was dagegen einzuwenden haben? Wir bittens den Lesern ab, wann wir Sie mit dieser allgemeinen Nachricht von dem Abderitischen Theaterwesen zu lange aufgehalten haben. Es hat nun 6 Uhr geschlagen, und wir versetzen uns also, ohne weiters, in das Amphitheater dieser preißwürdigen Republik; wo die geneigten Leser nach Gefallen,

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entweder bey dem kleinen dicken Rathsherrn, oder bey dem Priester Strobylus, oder bey dem Schwätzer Antistrepsiades, oder bey irgend einer von den schönen Abderitinnen, mit welchen wir sie in den vorigen Kapiteln bekannt gemacht haben, Platz zu nehmen belieben werden. W. (Die Fortsetzung im nächsten Stücke.)

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Die Abderiten. (Fortgesezt von S. 59. No. 7.)

17. Das Stück das diesen Abend gespielt wurde, war die A n d r o m e d e des Euripides: eines von den 60 oder 70 Werken dieses Dichters, wovon nur wenige kleine Spähne und Splitter der Vernichtung entronnen sind. Die Abderiten trugen, ohne eben sehr zu wissen warum, großen Respekt vor dem Namen Euripides und allem was diesen Namen trug. Verschiedne seiner Tragödien, oder S i n g s p i e l e (wie wir sie eigentlich nennen sollten) waren schon öfters aufgeführt und allemal s e h r s c h ö n gefunden worden. Die Andromede, ei-

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nes der neuesten, wurde izt zum erstenmal auf die Abderitische Schaubühne gebracht. Der N o m o p h y l a x hatte die Musik dazu gemacht, und (wie er seinen Freunden ziemlich laut ins Ohr sagte) diesmal sich selbst übertroffen — das heißt, der Mann hatte sich vorgesezt, alle seine Künste auf Einmal zu zeigen, und darüber war ihm der gute Euripides unvermerkt aus der Acht gekommen. Kurz, Herr G r y l l u s hatte s i c h selbst komponiert; unbekümmert, ob seine Musik den Text oder der Text seine Musik zu Unsinn mache — welches dann gerade der Punkt war, der auch die Abderiten am wenigsten kümmerte. Genug, sie machte großen L e r m , hatte (wie seine Brüder, Vettern, Schwäger, Klienten und Hausbedienten — als sämtliche Kenner — versicherten) sehr e r h a b n e und r ü h r e n d e Stellen, und wurde mit dem lautsten entschiedensten Beyfall aufgenommen. Nicht, als ob nicht sogar in Abdera noch hier und da Leute gesteckt hätten, die — weil sie vielleicht etwas dünnere Ohren auf die Welt gebracht als ihre Mitbürger, oder weil sie anderswo was Bessers gehört haben mochten, einander unter vier Augen gestunden: daß der Nomophylax, mit aller seiner Anmaßung ein Orpheus zu seyn, nur ein Leyermann, und das Beste seiner Werke eine Rhapsodie ohne G e s c h m a c k , und meistens auch ohne S i n n sey. Diese Wenigen hatten sich ehmals sogar erkühnt, etwas von dieser ihrer Heterodoxie ins Publicum erschallen zu las-

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sen: aber sie waren jedesmal von den Verehrern der G r y l l i s c h e n M u s e so übel empfangen worden, daß sie, um mit heiler Haut davon zu kommen, für gut befanden sich in Zeiten den M a j o r i b u s zu submittiren; und nun waren diese Herren immer die, die — bey den elendesten Stellen — am ersten und am lautsten klatschten. Das Orchester that diesmal sein äußerstes, um sich seines Oberhauptes würdig zu zeigen. „ I c h h a b’ i h n e n a b e r a u c h a l l e H ä n d e v o l l z u t h u n g e g e b e n “ sagte G r y l l u s , und schien sich viel darauf zu gut zu thun, daß die armen Leute schon im zweyten Akt keinen trocknen Faden mehr am Leibe 10

hatten. Im Vorbeygehen gesagt, dies Orchester war eins von den Instituten, worinn die Abderiten es mit allen Städten in der Welt aufnahmen. Das erste was sie einem Fremden davon sagten, war: „daß es Hundert und Zwanzig Köpfe stark sey. Das Atheniensische, pflegten sie mit bedeutendem Accent hinzuzusetzen, soll nur 80 haben: Aber freylich mit 120 Mann läßt sich auch was ausrichten!“ — Würklich fehlte es, unter sovielen, nicht an geschickten Leuten, wenigstens an solchen, aus denen ein Vorsteher, wie *) — in Abdera keiner war noch seyn konnte, etwas hätte machen können. Aber was half das ihrem Musikwesen? Es war nun einmal im Götterrathe beschlossen, daß im Thrazischen Athen nichts an seinem Plaz, nichts seinem Zweck entsprechend,

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nichts r e c h t und nichts g a n z seyn sollte. Weil die Leute wenig für ihre Mühe hatten, so glaubte man auch nicht viel von ihnen fodern zu können; und weil man mit einem Jeden zufrieden war der s e i n B e s t e s that (wie sie’s nannten) so that niemand sein Bestes. Die geschickten wurden läßig, und wer noch auf halbem Wege war, verlohr den Muth und zulezt auch das Vermögen weiter zu kommen. Wofür hätten sie sich am Ende auch Mühe um V o l l k o m m e n h e i t geben sollen, da sie für Abderitische Ohren arbeiteten? — Freylich hatten die l e i d i g e n F r e m d e n auch Ohren: aber sie hatten doch keine Stimme zu geben; fandens auch nicht einmal der Mühe werth, oder waren zu höflich, oder zu politisch, um gegen den Geschmack von Abdera Sturm laufen zu wollen.

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Der Nomophylax, so dumm er war, merkte zwar selbst so gut als ein Andrer, daß es nicht so recht gieng wie es sollte. Aber, außerdem daß er keinen Geschmack hatte, oder (welches auf Eins hinauslief) daß ihm nichts schmeckte *)

Wie C a n n a b i c h — wollten wir eben sagen, wenn wir nicht gleich gefühlt hätten, wie

ungereimt es wäre, einen Cannabich und Abdera zusammenzudenken.

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was er nicht selbst gekocht hatte, und also immer die rechten Mittel, wodurch es besser werden konnte, verfehlte, war er auch zu träge und zu ungeschmeidig, sich mit andern auf die gehörige Art abzugeben; und vielleicht mocht’ er’s am Ende wohl leiden, daß er, wenn sein Leyerwerk (wie wohl zuweilen geschah) sogar den Abderiten nicht recht zu Ohren gehen wollte, die Schuld aufs Orchester schieben, und die Herren und Damen, die ihm Ehrenhalben ihr Kompliment deßwegen machten, versichern konnte: daß nicht eine Note, so wie er sie gedacht und geschrieben habe, vorgetragen worden sey. Allein das war doch immer nur eine Feuerthüre für den Nothfall: denn aus dem naserümpfenden Ton, worinn er von allen andern Orchestern zu sprechen

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pflegte, und aus den Verdiensten, die er sich um das Abderitische beylegte, mußte man schließen, daß er so gut damit zufrieden war als es — einem patriotischen Nomophylax von Abdera ziemte. Wie es aber auch mit der Musik dieser Andromeda und ihrer Ausführung beschaffen seyn mochte: gewiß ist, daß in langer Zeit kein Stück so allgemein gefallen hatte. Dem Sänger, der den P e r s e u s machte, wurde so gewaltig zugeklatscht, daß er mitten in der schönsten Stelle aus dem Tone kam, und in eine Stelle aus dem C y k l o p s verirrte; und A n d r o m e d a — in der Scene, wo sie, an den Felsen gefesselt, von allen ihren Freunden verlassen und dem Zorn der Nereiden Preis gegeben, angstvoll das Auftauchen des Ungeheuers erwar-

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tet — mußte ihren Monologen dreymal wiederhohlen. Der Nomophylax konnte seine Freude über einen so glänzenden Succeß nicht bändigen. Er gieng von Reyhe zu Reyhe herum, den Tribut von Lob einzusammeln, der ihm aus allen Lippen entgegenschallte; und mitten unter der Versichrung daß ihm zuviel Ehre wiederfahre, gestand er, daß er selbst mit keinem seiner Spielwerke (wie er seine Opern mit vieler Bescheidenheit zu nennen beliebte) so zufrieden sey wie mit dieser Andromeda. Indessen hätt’ er doch, um sich selbst und den Abderiten Gerechtigkeit zu erweisen, wenigstens die Hälfte des glücklichen Erfolgs auf Rechnung der Sängerin E u k o l p i s setzen müssen; die zwar ohnehin schon im Besitz zu gefallen war, aber in der Rolle der Andromeda Gelegenheit fand, sich in einem so vortheilhaften Lichte zu zeigen, daß die jungen und alten Herren von Abdera sich gar nicht satt an ihr — sehen konnten. Denn da war so viel zu sehen, daß an’s H ö r e n gar nicht zu denken war. E u k o l p i s war eine große wohlgedrehte Figur — zwar um ein nahmhaftes materieller als man in Athen zu

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einer Schönheit erfoderte — aber in diesem Stücke waren die Abderiten, wie in vielen andern, ausgemachte T h r a z i e r ; und ein Mädchen, aus welchem ein Bildhauer in S i c y o n zwoo gemacht hätte, war nach ihrem angenommenen Ebenmaas ein Wunder von einer Nymphenfigur. Da die Andromeda nur sehr dünne angezogen seyn durfte; so hatte Eukolpis, die sich stark bewußt war worinn eigentlich die Kraft ihres Zaubers liege, eine Drapperie von rosenfarbem K o i s c h e m Zeug erfunden, unter welcher, ohne daß der Wohlstand sich just beleidigt finden konnte, von den schönen Formen, die man an ihr bewunderte, wenig oder nichts für die Zuschauer verlohren gieng. Nun hatte sie gut 10

singen! Die Komposition hätte, wo möglich, noch abgeschmackter, und ihr Vortrag noch zehnmal fehlerhafter seyn können; immer würde sie ihren Monologen haben wiederhohlen müssen — weil das doch immer der ehrlichste Vorwand war, sie desto länger mit lüsternen Blicken — betasten zu können. — Wahrlich, beym Jupiter, ein herrliches Stück, sagte einer zum andern mit halbgeschloßnen Augen: ein unvergleichliches Stück! Aber, finden Sie nicht auch, daß Eukolpis heute wie eine Göttin singt? — „O! über allen Ausdruck! Es ist, b e y m A n u b i s ! nicht anders als ob Euripides das ganze Stück bloß um ihrentwillen gemacht hätte!“ — Der junge Herr, der dies sagte, war in Egypten gewesen.

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Die Damen, wie leicht zu erachten, fanden die neue Andromeda nicht ganz so wundervoll als die Mannsleute. — „Nicht übel! Ganz artig! sagten sie: aber wie kömmts, daß die Rollen diesmal so unglücklich ausgetheilt wurden? Das Stück verliert dadurch. Man hätte der d i c k e n E u k o l p i s die Mutter, und der Mutter die Andromeda geben sollen! Zu einer Cassiopea hätte sie sich trefflich geschickt.“ — Gegen ihren Anzug, Kopfputz u. s. w. war auch viel zu erinnern — Sie war nicht zu ihrem Vortheil aufgesetzt — der Gürtel war zu hoch und zu stark geschürzt — und besonders fand man die Ziererey ärgerlich, immer ihren Fuß zu zeigen, „auf dessen u n p r o p o r t i o n i r t e K l e i n h e i t sie sich ein wenig zuviel einbilde“ — sagten die Damen, die aus dem entgegen-

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gesezten Grunde die ihrigen zu verbergen pflegten. Indessen kamen doch Frauen und Herren sämtlich darinn überein, d a ß s i e ü b e r a u s s c h ö n s i n g e , und daß nichts n i e d l i c h e r s seyn könne als die Arie worinn sie ihr Schicksal bejammerte. E u k o l p i s , wiewohl ihr Vortrag wenig taugte, hatte eine gute, klingende biegsame Stimme; aber was sie eigentlich zur Lieblingssängerin der Abderiten gemacht hatte, war die Mühe, die sie sich mit ziemli-

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chem Erfolge gegeben, den Nachtigallen gewisse Läuffer und Tonfälle abzulernen, in denen sie sich selbst und ihren Zuhörern sowohl gefiel, daß sie solche überall, zu rechter Zeit und zur Unzeit einmischte, und immer damit willkommen war. Sie mochte zu thun haben was sie wollte, zu lachen oder zu weinen, zu klagen oder zu zürnen, zu hoffen oder zu fürchten: immer fand sie Gelegenheit ihre N a c h t i g a l l e n anzubringen, und war immer gewiß, beklatscht zu werden, wenn sie gleich die besten Stellen damit verdorben hätte. Von den übrigen Personen, die den P e r s e u s als den primo Amoroso, den Agenor, vormaligen Liebhaber der Andromeda, den Vater, die Mutter, und einen Priester des Neptuns vorstellten, finden wir nicht viel mehr zu sagen, als

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daß man im einzelnen zwar viel an ihnen auszustellen hatte, im Ganzen aber s e h r w o h l mit ihnen zufrieden war. P e r s e u s war ein schöngewachsner Mensch, und hatte ein großes Talent für einen Abderitischen Pickelhäring. Der vorerwähnte C y k l o p s , im Satyrenspiele dieses Namens von Euripides, war seine Meisterrolle. Er spielt den Perseus gar schön, sagten die Abderitinnen; nur Schade daß ihm dann und wann unvermerkt der Cyklops dazwischen kommt. C a s s i o p e a war ein kleines zieraffichtes Ding, voller angemaßter Grazien, und hatte keinen einzigen natürlichen Ton; aber sie galt Alles bey der Gemahlin des zweyten Archon, hatte eine gar drollichte Manier kleine Liedchen zu singen, und — t h a t i h r B e s t e s . Der P r i e s t e r d e s N e p t u n s

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brüllte einen ungeheuren Matrosen-Baß; und A g e n o r — sang so elend als einem z w e y t e n L i e b h a b e r zusteht. Er sang zwar auch nicht besser, wenn er den Ersten machte; aber weil er sehr gut tanzte, so hatte er eine Art von Privilegium erhalten, desto schlechter singen zu dürfen. E r t a n z t s e h r s c h ö n , war immer die Antwort der Abderiten, wenn jemand anmerkte, daß sein Krächzen unerträglich sey; indessen tanzte Agenor nur selten, und sang hingegen in allen Singspielen und Operetten. Um die Schönheit dieser Andromeda ganz zu übersehen, muß man sich noch zwey Chöre, einen von N e r e i d e n , und einen von Jungfrauen als Gespielinnen der Andromeda, einbilden, beyde aus verkleideten Schuljungen bestehend, die sich so ungebehrdig dazu anschickten, daß die Abderiten, zu ihrem großen Troste, genug und satt zu lachen bekamen. Besonders that der Chor der Nereiden, durch die Erfindungen die der Nomophylax dabey angebracht hatte, die schnurrigste Wirkung von der Welt. Die Nereiden erschienen mit halbem Leib aus dem Wasser hervorragend, mit falschen gelben Haaren

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und mit mächtigen falschen Brüsten, die von ferne recht natürlich wie — ausgestopfte Ballons und also sich selbst vollkommen gleich sahen. Die Symfonie, unter welcher sie herangeschwommen kamen, war eine Nachahmung des berühmten W r e c k e c k e k K o a x K o a x in den F r ö s c h e n des Aristophanes; und, um die I l l u s i o n vollkommner zu machen, hatte Herr Gryllus verschiedene K ü h h ö r n e r angebracht, die von Zeit zu Zeit einfielen, um die auf ihren Schnecken-Muscheln blasenden T r i t o n e n nachzuahmen. Von den D e k o r a t i o n e n wollen wir, beliebter Kürze und andrer Ursachen halben, weiter nichts sagen, als daß sie — von den Abderiten s e h r s c h ö n 10

befunden wurden. Insonderheit bewunderte man einen S o n n e n - U n t e r g a n g den sie vermittelst eines mit langen Schwefelhölzern besteckten Windmühlen-Rades zuwegebrachten; welches einen guten Effekt gethan hätte, sagten sie, wenn es nur ein wenig schneller umgetrieben worden wäre. Bey der Art wie Perseus mit seinen Merkurstiefeln aufs Theater angeflogen kam, hätten die Kenner wohl wünschen mögen, daß man die Stricke, in denen er hieng, l u f t f a r b i g angestrichen hätte, damit sie nicht sogar deutlich in die Augen gefallen wären. Sobald das Stück geendigt war, und das betäubende Klatschen ein wenig nachließ, fragte man einander wie gewöhnlich: Nun, wie hat ihnen das Stück

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gefallen? und erhielt überall die gewöhnliche Antwort. Einer von den jungen Herren, der für einen vorzüglichen Kenner paßierte, richtete die große Frage auch an einen etwas bejahrten Fremden, der in einer der mittlern Reyhen saß, und dem Ansehen nach kein gemeiner Mann zu seyn schien. Der Fremde, der sichs vielleicht schon gemerkt hatte, was man zu Abdera auf eine solche Frage antworten mußte, war so ziemlich balde mit seinem S e h r w o h l heraus; aber weil seine Mine diesen B e y f a l l etwas verdächtig machte, und sogar eine unfreywillige, wiewohl ganz schwache, Bewegung mit den Achseln, womit er ihn begleitete, für ein A c h s e l z u c k e n ausgedeutet werden konnte: so ließ ihn der junge Abderitische Herr nicht so wohlfeil durchwischen. „Es scheint,

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sagte er, das Stück hat Ihnen n i c h t gefallen? Es paßiert doch für eine der besten Piec¸en vom Euripides!“ — Das Stück mag nicht übel seyn, erwiederte der F r e m d e . — „So haben sie vielleicht an der Musik etwas auszusetzen?“ — An der Musik? — O! was die Musik betrift, die ist eine Musik — wie man sie nur zu Abdera hört. — „Sie sind sehr höflich! In der That, unser Nomophylax ist ein großer Mann in seiner Art.“ — Ganz gewiß! — „So sind Sie vermuthlich mit

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den Schauspielern nicht zufrieden?“ — Ich bin mit der ganzen Welt zufrieden, sagte der Fremde. — „Ich dächte doch die Andromeda hätte ihre Rolle s c h a r m a n t gemacht?“ — O! s e h r s c h a r m a n t ! — „Sie thut einen großen Effekt, nicht wahr?“ — Das werden S i e am besten wissen; i c h bin dazu nicht mehr jung genug. — „Wenigstens werden Sie doch gestehen, daß Perseus ein großer Akteur ist?“ — In der That, ein hübscher wohlgewachsner Mensch! — „Und die Chöre? Das waren doch Chöre, die dem Meister Ehre machten? Finden Sie z. Ex. den Einfall, wie die Nereiden eingeführt worden, nicht ungemein glücklich?“ — Der Fremde schien des Abderiten satt zu seyn: Ich finde, versezte er mit einiger Ungeduld, daß die Abderiten glücklich sind, an allen diesen Din-

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gen soviel Freude zu haben. — „Mein Herr, sagte der junge Geelschnabel in einem spöttelnden Tone, gestehen Sie nur, daß das Stück die Ehre und das Glück nicht gehabt hat, Ihren Beyfall zu erhalten.“ — Was ist Ihnen an meinem Beyfall gelegen? Die M a j o r a entscheiden. — „Da haben Sie Recht. Aber ich möchte doch, pour la rarete´ du fait, hören, was Sie denn gegen unsre Musik oder gegen unsre Schauspieler einwenden könnten?“ — K ö n n t e n ? sagte der Fremde etwas schnell, hielt aber gleich wieder an sich — verzeyhen Sie mir, ich mag niemand sein Vergnügen abdisputiren. Das Stück, wie es da gespielt worden, hat zu Abdera allgemein gefallen; was wollen Sie mehr? — „Nicht so allgemein, da es I h n e n nicht gefallen hat?“ — Ich bin ein Fremder — „Fremd,

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oder nicht, ihre Gründe möcht’ ich hören, Hi, hi hi! Ihre Gründe, mein Herr, ihre Gründe! Die werden doch wenigstens keine fremde seyn, Hi, hi hi, hi!“ — Dem Fremden fieng die Geduld an auszugehen. Junger Herr, sagte er, ich habe für meine Komödie bezahlt; denn ich habe geklatscht wie ein Andrer. Lassen Sie’s damit gut seyn! Ich bin im Begriff wieder abzureisen. Ich habe meine Geschäfte. — „Ey, ey, sagte ein andrer Abderitischer junger Mensch, der dem Gespräch zugehört hatte; Sie werden uns ja noch nicht schon verlassen wollen? Sie scheinen ein großer Kenner zu seyn; Sie haben unsre Neugier, unsre Lehrbegierde (er sagte dies mit einem dumm naseweisen Hohnlächeln) gereizt; wir lassen Sie wahrlich nicht gehen, bis Sie uns gesagt haben, was Sie an dem heutigen Singspiel zu tadeln finden. Ich will nichts von d e n W o r t e n sagen; ich bin kein Kenner; aber die Musik, dächt ich, war doch unvergleichlich?“ — Das müßten am Ende doch wohl d i e W o r t e entscheiden, wie Sie’s nennen, sagte der Fremde. — „ W i e m e y n e n S i e d a s ? Ich denke Musik ist Musik, und man braucht nur Ohren zu haben, um zu hören was schön ist.“ —

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Ich gebe Ihnen zu, wenn Sie wollen, daß schöne Stellen in dieser Musik sind; es mag überhaupt eine gelehrte, nach allen Regeln der Kunst zugeschnittne, eine Schulgerechte, Artikelmäßige Musik seyn: ich habe d a g e g e n nichts; ich sage nur, d a ß e s k e i n e M u s i k z u r A n d r o m e d a d e s E u r i p i d e s i s t ! — „Sie meynen, daß d i e W o r t e besser ausgedrückt seyn sollten?“ — O! die W o r t e sind zuweilen nur z u s e h r ausgedrückt; aber im Ganzen, meine Herren, im Ganzen ist der Ton des Dichters verfehlt; der Charakter der Personen, die Wahrheit der Affekten und Empfindungen, das Eigene Schickliche der Situationen — das was die Musik seyn kann, und seyn muß, um Sprache der 10

Natur, Sprache der Leidenschaft zu seyn — was sie seyn muß, damit der Dichter auf ihr wie in seinem Elemente schwimme, und emporgetragen, nicht ersäuft werde — das alles ist durchaus verfehlt — kurz, das G a n z e t a u g t n i c h t s ! Da haben Sie meine Beichte in drey Worten! — „ D a s G a n z e , schrien die beyden Abderiten, d a s G a n z e t a u g t n i c h t s ? Nun, das ist viel gesagt! Wir möchten wohl hören wie Sie das beweisen wollten?“ — Die Lebhaftigkeit, womit unsre beyden Verfechter des Abderitischen Geschmacks dem graubärtigen Fremden zusezten, hatte bereits verschiedne andre Abderiten herbeygezogen; jedermann wurde aufmerksam auf einen Streit, der die Ehre ihres Nationaltheaters zu betreffen schien. Alles drängte sich hinzu; und

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der Fremde, wiewohl er ein langer stattlicher Mann war, fand für nöthig, sich an einen Pfeiler zurückzuziehen, um wenigstens den Rücken frey zu behalten. — W i e i c h d a s b e w e i s e n w o l l t e ? erwiederte er ganz gelassen: Ich werde es n i c h t beweisen! Wenn Sie das Stück gelesen, die Aufführung gesehen, die Musik gehört haben, und können noch verlangen, daß ich Ihnen mein Urtheil davon beweisen soll: so würd’ ich Zeit und Athem verliehren, wenn ich mich weiter mit Ihnen einließe. — „Der Herr ist, wie ich höre, ein wenig schwehr zu befriedigen, sagte ein Rathsherr, der sich ins Gespräch mischen wollte, und dem die beyden jungen Abderiten aus Respekt Platz machten. Wir haben doch hier in Abdera auch Ohren! Man läßt zwar jedem seine Freyheit;

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aber gleichwohl — —“ Wie? was? was giebts da? schrie der kurze dicke Rathsherr, der auch herbeygewatschelt kam; hat der Herr da etwas wider das Stück einzuwenden? Das möcht’ ich hören, ha, ha, ha! Eins der beste Stücke, mein Treu! die seit langem aufs Theater gekommen sind! Viel Action! Viel — ä — ä — was ich sage! Ein schön Stück! Und schöne Moral! — Meine Herren, sagte der Fremde, ich habe Geschäfte. Ich kam hieher mich ein wenig auszurasten;

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ich habe geklatscht wie’s der Landesgebrauch mit sich bringt, und wäre still und friedlich wieder meines Weges gegangen, wenn mich diese jungen Herren hier nicht auf die zudringlichste Art genöthigt hätten, ihnen meine Meynung zu sagen. — Sie haben auch vollkommnes Recht dazu, erwiederte der andre Rathsherr, der im Grunde kein großer Verehrer des Nomophylax war, und aus politischen Ursachen seit einiger Zeit auf Gelegenheit laurte, ihm mit guter Art wehzuthun; Sie sind ein Kenner der Musik wie es scheint, und — Ich spreche nach meiner Überzeugung, sagte der Fremde. Die Abderiten um ihn her wurden immer lauter. Endlich kam Herr Gryllus, der von ferne gehört hatte, daß die Rede von seiner Musik war, in eigner Person dazu. Er hatte eine

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ganz eigne Art die Augen zusammenzuziehen, die Nase zu rümpfen, die Achseln zu zucken, zu grinsen, und zu meckern, wenn er jemand, mit dem er sich in einem Wortwechsel einließ, seine Verachtung zum Voraus zu empfinden geben wollte. — „So? sagte er, hat meine Komposition nicht das Glück dem Herrn zu gefallen? Er ist also ein Kenner? Hä, hä, hä! — Versteht ohne Zweifel die Setzkunst? Hä?“ — Es ist der N o m o p h y l a x , sagte jemand dem Fremden ins Ohr. Der Fremde machte dem Nomophylax sein Kompliment, wie’s in Abdera Sitte war, und schwieg. — „Nun, ich möchte doch hören, was der Herr gegen die Komposition vorzubringen hätte? Für die Fehler des Orchesters geb’ ich kein gut Wort; aber hundert Drachmen für einen Fehler in der Kom-

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position! Hä, hä, hä! Nun! Laß hören!“ — Ich weiß nicht was Sie Fehler nennen, sagte der Fremde; meines Bedünkens hat die ganze Musik, wovon die Rede ist, nur Einen Fehler — „ U n d d e r i s t ? “ grinßte der Nomophylax Naserümpfend — D a ß d e r S i n n u n d G e i s t d e s D i c h t e r s d u r c h a u s v e r f e h l t i s t , antwortete der Fremde. — „So? Nichts weiter? Hä, hä, hä, hä! Ich hätte also den Dichter nicht verstanden? und das wissen S i e ? Denken Sie, daß wir hier nicht auch Griechisch verstehen? Oder haben Sie dem Poeten etwa im Kopfe gesessen, hi, hi, hi!“ — Ich weiß was ich sage, versezte der Fremde; und wenn’s denn seyn muß, so erbiet ich mich, von Vers zu Vers durchs ganze Stück mein Urtheil zu Olympia vor dem ganzen Griechenlande zu beweisen. — Das möchte zuviel Umstände machen, sagte der politische Rathsherr. „Es braucht’s auch nicht, rief der Nomophylax; Morgen geht ein Schiff nach Athen; ich schreibe an den E u r i p i d e s , an den Dichter! Schick ihm die ganze Musik! — Der Herr wird das Stück doch wohl nicht besser verstehen wollen als der Poet selbst? Sie alle hier unterschreiben sich als Zeu-

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gen; Euripides soll den Ausspruch thun!“ — Die Mühe können Sie sich sparen, sagte der Fremde lächelnd; denn, um dem Handel mit Einem Wort ein Ende zu machen, der Euripides, an den Sie appellieren — b i n i c h s e l b s t . W. (Die Fortsetzung nächstens.)

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Die Abderiten. 18. Unter allen möglichen schlimmen Streichen, welche Euripides dem Nomophylax von Abdera hätte spielen können, war unstreitig der schlimmste, daß er — in dem Augenblicke, da man an ihn als an einen Abwesenden appellierte — in eigner Person dastand. Aber wer konnte sich auch eines solchen Streichs vermuthen seyn? Was, zum — hatte er in Abdera zu thun? Und gerade in dem Augenblick, wo man lieber einen Wolf gesehen hätte als ihn! Wär er, wie man doch natürlicher Weise glauben mußte, zu Athen gewesen, wo er hin gehörte — nun so wäre alles seinen ordentlichen Weg gegangen. Der No-

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mophylax hätte seine Composition mit einem hübschen Briefe begleitet, und seinem Namen alle seine Tittel und Würden beygefügt. Das hätte doch würken müssen! Euripides hätte eine urbane attische Antwort gegeben; Gryllus hätte sie im ganzen Abdera lesen lassen, und wer hätte ihm dann den Sieg über den Fremden streittig machen wollen? — Aber daß der Fremde, der naseweise kritische Fremde, der ihm so frisch ins Gesichte gesagt hatte — was in Abdera niemand einem Nomophylax ins Gesichte sagen durfte — E u r i p i d e s s e l b s t war: das war einer von den Zufällen, auf die ein Mann, wie er, sich nicht gefaßt gehalten hat, und die vermögend wären, jeden andern als — einen Abderiten zu Schanden zu machen.

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Der Nomophylax wußte sich zu helfen; indessen betäubte ihn doch der erste Schlag auf einen Augenblick. E u r i p i d e s ? rief er, und drey Schritte zurück; und „ E u r i p i d e s ! “ riefen im nemlichen Augenblick, der politische Rathsherr, der kurze dicke Rathsherr, die beyden jungen Herren und alle Umstehenden, indem sie ganz erstaunt hin und her guckten, als ob sie sehen wollten, aus welcher Wolke Euripides so auf einmal mitten unter sie herabgefallen sey. Der Mensch ist nie ungeneigter zu glauben, als wenn er von einer Begebenheit überrascht wird, an die er nur nicht als eine mögliche Sache gedacht hatte. — Wie? Das sollte Euripides seyn? Der nemliche Euripides, von dem die

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Rede war? Der die Andromeda gemacht? An den der Nomophylax zu schreiben drohte? — Wie konnte das zugehen? Der politische Rathsherr war der erste, der sich aus dem allgemeinen Erstaunen erhohlte. Ein glücklicher Zufall, wahrhaftig, rief er; beym Kastor! ein glücklicher Zufall, Herr Nomophylax! so brauchen sie ihre Musik nicht abschreiben zu lassen, und ersparen einen Brief. Der Nomophylax fühlte die ganze entscheidende Wichtigkeit des Moments, und wenn der ein großer Mann ist, der in einem solchen fatalen Augenblick auf der Stelle die einzige Parthey ergreift, die ihn aus der Schwierigkeit ziehen 10

kann; so muß man gestehen, daß Gryllus eine starke Anlage hatte so ein großer Mann zu seyn. „ E u r i p i d e s ! “ rief er — „Wie? Der Herr sollte so auf einmal Euripides worden seyn?“ „Hä, hä, hä! Der Einfall ist gut! Aber wir lassen uns hier in Abdera nicht so leicht Schwarz für Weiß geben. —“ Das wäre lustig, sagte der Fremde, wenn ich mir in Abdera das Recht an meinen Namen streittig machen lassen müßte. Verzeyhen Sie, mein Herr, fiel der S y k o p h a n t d e s T h r a s y l l u s ein, nicht das Recht an ihren Namen, sondern das Recht sich für den Euripides auszugeben auf den der Nomophylax provocierte; Sie können Euripides heissen, aber ob Sie Euripides sind, das ist eine andere Frage. —

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Meine Herren, sagte der Fremde, ich will alles seyn was ihnen beliebt, wenn sie mich nur gehen lassen wollen. Ich verspreche ihnen, mit diesem Schritte gehe ich den geradesten Weg, den ich finden werde, zu ihrem Thore hinaus, und der Nomophylax soll mich — komponieren, wenn ich in meinem Leben wieder komme. „Nä, nä, nä, rief der Nomophylax, das geht so hurtig nicht; der Herr hat sich für den Euripides ausgegeben, und nun, da er sieht, daß es Ernst gilt, tritt er auf die Hinterbeine — Nä! so haben wir nicht gewettet! Er soll nun beweisen, daß er Euripides ist, oder — so wahr ich Gryllus heiße —“ Erhitzen Sie sich nicht, Herr Kollege, sagte der politische Rathsherr: ich bin

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zwar kein Physiognomiste; aber der Fremde sieht mir doch völlig darnach aus, daß er Euripides seyn könnte, und ich wollte unmaasgeblich wohl rathen, piano zu gehen. Mich wundert, fieng einer von den Umstehenden an, daß man hier so viel Worte verliehren mag, da der ganze Handel in Ja und Nein entschieden seyn könnte. Da, oben über dem Portal, steht ja die B ü s t e d e s E u r i p i d e s leib-

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haftig. Es braucht ja nichts weiter als zu sehen, ob der Fremde der Büste gleich sieht? Bravo, bravo, schrie d e r k l e i n e d i c k e R a t h s h e r r ; das ist doch ein Wort von einem gescheidten Manne, ha, ha, ha! die Büste! das ist gar keine Frage, die Büste muß den Ausspruch thun — wiewohl sie nicht reden kann, ha, ha, ha, ha, ha! Die umstehenden Abderiten lachten alle aus vollem Halse über den witzigen Einfall des kurzen runden Männchens, und nun lief alles was Füße hatte dem Portale zu. Der Fremde ergab sich mit guter Art in sein Schicksal, ließ sich von vorn und hinten betrachten, und Stück vor Stück mit seiner Büste

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vergleichen so lange sie wollten. Aber leider! die Vergleichung konnte unmöglich zu seinem Vortheil ausfallen; denn besagte Büste sah jedem andern Menschen oder Thiere ähnlicher als ihm. Nun, schrie der Nomophylax triumphierend — was kann der Herr nun zu seinem Vorstand sagen? Ich kann etwas sagen (versezte der Fremde, den die Komödie nach gerade zu belustigen anfieng) woran von Ihnen allen keiner zu denken scheint: wiewohl es eben so wahr ist als daß Sie — Abderiten, und ich Euripides bin. „Sagen, Sagen! grinßte der Nomophylax; man kann freylich immer sagen, hä, hä, hä! Und was kann der Herr sagen?“

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Ich sage, daß diese Büste dem Euripides ganz und gar nicht ähnlich sieht. Nein, mein Herr, rief der dicke Rathsherr, das müssen Sie nicht sagen! Die Büste ist eine schöne Büste; sie ist von weissem Marmor wie sie sehen, Marmor von Paros, straf mich Jupiter! und kostet uns hundert baare D a r i k e n * ) Species, das können Sie mir nachsagen. Es ist ein schönes Stück, von unserm S t a d t b i l d h a u e r — einem geschickten berühmten Mann; er nennt sich Moschion — werden von ihm gehört haben? — ein berühmter Mann! Und, wie gesagt, alle Fremden, die noch zu uns gekommen sind, haben die Büste bewundert! Sie ist ä c h t , das können Sie mir nachsagen! Sie sehen ja selbst, es steht mit grossen goldnen Buchstaben drunter Eyripidew — Meine Herren, sagte der Fremde, der alle seine angebohrne Ernsthaftigkeit zusammennehmen mußte, um nicht auszubersten: darf ich nur eine einzige Frage thun? *)

Eine damals cursirende Persische Goldmünze.

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Von Herzen gern, riefen die Abderiten. Gesezt, fuhr jener fort, es entstünde zwischen mir und meiner Büste ein Streit darüber, wer mir am ähnlichsten sehe — wem wollen sie glauben, der Büste oder mir? Das ist eine curiöse Frage, sagte der Abderiten einer, sich hinter den Ohren kratzend — Eine captiöse Frage, beym Jupiter! rief ein andrer; nehmen Sie Sich in Acht was Sie antworten, Hochgeachter Herr Rathsherr! Ist der dicke Herr ein Rathsherr dieser berühmten Republik? — fragte der Fremde mit einer Verbeugung — so bitte ich sehr um Verzeyhung; ich gestehe, 10

die Büste ist ein schönes glattes Werk, von schönem Parischen Marmor — und wenn sie mir nicht ähnlich sieht, so kömmt es wohl bloß daher, weil Ihr berühmter Stadtbildhauer die Büste schöner gemacht hat, als die Natur mich. Es ist immer ein Beweis seines guten Willens, und der verdient alle meine Dankbarkeit. Dieses Kompliment that einen großen Effekt; denn die Abderiten hatten’s gar zu gerne, wenn man fein höflich mit ihnen sprach. „Es muß doch wohl Euripides selber seyn“, murmelte einer dem andern ins Ohr, und der dicke Rathsherr selbst bemerkte, bey nochmaliger Vergleichung der Büste mit dem Fremden, d a ß d i e B ä r t e e i n a n d e r v o l l k o m m e n ä h n l i c h s ä h e n .

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Zu gutem Glück kam der Archon O n o l a u s und sein Neffe O n o b u l u s dazu, der den Euripides zu Athen hundertmal gesehen, und öfters gesprochen hatte. Die Freude des jungen Onobulus über eine so unverhofte Zusammenkunft, und seine positive Versicherung, daß der Fremde würklich der berühmte Euripides sey, hieb den Knoten auf einmal durch, und die Abderiten versicherten nun einer den andern: s i e h ä t t e n’ s i h m g l e i c h b e y m e r sten Blick angesehen. Der Nomophylax, wie er sah, daß Euripides gegen seine Büste recht behielt, machte sich seitwärts davon. — Ein verdammter Streich! brummelte er zwischen den Zähnen vor sich her: wozu brauchte es aber auch so hinterm Berge

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zu halten? Wenn er wußte, daß er Euripides war, warum ließ er sich mir nicht p r ä s e n t i r e n ? Da hätte alles einen ganz andern Schwung bekommen! Der Archon Onolaus, der in solchen Fällen gemeiniglich die Honneurs der Stadt Abdera zu machen pflegte, lud den Dichter mit großer Höflichkeit ein, das Gastrecht bey ihm zu nehmen, und bat sich zugleich von dem politischen und dicken Rathsherrn die Ehre auf den Abend aus; welches beyde mit vielem

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Vergnügen annahmen. „Dacht ich’s nicht gleich, (sagte der dicke Rathsherr zu einem der Umstehenden) der leibhafte Euripides! Bart, Nase, Stirne, Ohrenläppchen, Augenbraunen, alles auf ein Haar! Man kann nichts gleichers sehen! Wo doch wohl der Nomophylax seine Sinnen hatte? Aber, — ja — ja, er mochte wohl ein Bischen — Hm! Sie verstehen mich? — Cantores amant humores — Ha, ha, ha, ha! — Basta! Desto besser daß wir den Euripides bey uns haben! Was ich sage, ein feiner Mann, beym Jupiter! und der uns viel Spaß machen soll! — Ha, ha, ha! —“

19. So möglich es an sich selbst war, daß sich Euripides zu Abdera befinden konn-

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te, und eben so gut in dem Augenblick, wo der Nomophylax Gryllus auf ihn provocierte, als in jedem andern — und so gewohnt man dergleichen unvermutheter Erscheinungen auf dem T h e a t e r ist: so begreiffen wir doch wohl, daß es eine andre Bewandtniß hat, wenn sich eine solche Erscheinung im P a r t e r r e ereignet; und es ist solchenfalls der Majestät der Geschichte gemäß, den Leser zu verständigen, wie es damit zugegangen. Wir wollen alles, was wir davon wissen, getreulich berichten; und sollte dem scharfsinnigen Leser demungeachtet noch einiger Zweifel übrig bleiben: so müßte es nur die allgemeine Frage betreffen, die sich bey jeder Begebenheit unter und über dem Monde aufwerfen läßt: nemlich, w a r u m z. Ex. just von einer M ü c k e ,

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und just von d i e s e r individuellen Mücke, just in d i e s e r Secunde — von d i e s e r zehnten Minute — d i e s e r sechsten Nachmittagsstunde, d i e s e s 10ten Augusts — d i e s e s 1778sten Jahres gemeiner Zeitrechnung, just d i e s e s nemliche Fräulein von *** nicht ins Gesicht, nicht in den Nacken, Elnbogen, Busen, nicht auf die Hand, noch in die Ferse, u. s. w. sondern g e r a d e v i e r D a u m e n h o c h ü b e r d e r l i n k e n K n i e s c h e i b e gestochen worden u. s. w. — und da bekennen wir ohne Scheu, daß wir auf dieses W a r u m — nichts zu antworten wissen. F r a g t d i e G ö t t e r — könnten wir allenfalls sagen, aber weil dies offenbar eine impertinende Antwort wäre, so halten wirs für anständiger, die Sache lediglich auf sich beruhen zu lassen. Also — was wir wissen. Der König A r c h e l a u s in Macedonien, ein großer Liebhaber der schönen Künste und der — s c h ö n e n G e i s t e r (wie man da-

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mals gewisse verzärtelte Kinder der Natur n i c h t nannte, und wie man heutigs Tages einen Jeden nennt, von dem man nicht sagen kann, was er ist) Dieser König Archelaus war auf den Einfall gekommen, ein eignes Hofschauspiel zu haben, und, vermöge einer Zusammenkettung von Umständen, Ursachen, Mitteln und Zwecken, woran niemanden mehr viel gelegen seyn kann, *) hatte er den Euripides, unter sehr vortheilhaften Bedingungen, vermocht, mit einer Truppe ausgesuchter Schauspieler und Virtuosen, Baumeister, Mahler und Machinisten mit eingeschlossen, kurz mit allem was zu einem vollständigen Theaterwesen gehört, nach Pella an sein Hoflager zu kommen, und die Direk10

tion über die neue Hofschaubühne zu übernehmen. Auf dieser Reise war izt Euripides mit seiner ganzen Gesellschaft begriffen; und wiewohl der Weg über Abdera weder der einzige noch der kürzeste war, so hatte er ihn doch genommen, weil er Lust hatte, eine wegen des Witzes ihrer Einwohner so berühmte Republik mit eignen Augen zu sehen. Wie es aber gekommen, daß er an dem nemlichen Tage eingetroffen, da der Nomophylax seine Andromeda zum erstenmale gab; davon können wir, wie gesagt, keine Rechenschaft geben. Dergleichen A p r o p o’ s tragen sich häuffiger zu als man denkt; und es ist wenigstens kein größeres Mirakel, als daß z. Ex. der junge Herr von ** eben im Begriff war seine — H*s*n hinaufzuziehen, als unvermuthet seine Nähte-

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rin ins Zimmer trat, die seidnen Strümpfe, die er ihr zu stoppen geschickt hatte, zu überbringen, welches, wie Sie wissen, die Veranlassung zu einer zufälligen Begebenheit war, die in seiner hohen Familie wenigstens eben so große Bewegungen verursachte, als die unvorbereitete Erscheinung des Euripides in dem Abderitischen Parterre. Wer sich über so was wundern kann, muß sich nicht viel auf die Daimonia verstehen, wie eben dieser Euripides sagt. Übrigens, wenn wir sagten, daß d e r K ö n i g A r c h e l a u s ein großer Liebhaber der schönen Künste und schönen Geister gewesen sey, so muß das eben nicht so genau und im strengsten Sinn der Worte genommen werden; denn es ist eigentlich nur so eine Art zu reden, und dieser Herr war im Grunde nichts

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*)

Hier hat der V. offenbar unrecht; denn es wäre uns Iztlebenden und allen künftigen Zeiten

an einer genauen Kenntnis dieser nemlichen Zusammenkettung von Umständen, Ursachen, u. s. w. s e h r v i e l , und wenigstens soviel als an dem Quomodo irgend eines Stücks der Griechischen, Römischen, Bizantinischen, Hunnischen oder Chinesischen Geschichte, gelegen. Der V. hätte lieber schlechtweg dabey bleiben sollen, daß er sie — nicht wisse. A. d. H.

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weniger als ein Liebhaber der schönen Künste und schönen Geister. Das Wahre davon war: daß besagter König Archelaus seit einiger Zeit öfters Langeweile hatte — weil ihn alle seine vormaligen Amusemens, als da sind — F** G**, H**, J**, K**, L**, M**, u. s. w. nicht länger amüsiren wollten. Überdem war er ein Herr von großer Ambition, der sich von seinem Oberkammerherrn hatte sagen lassen, daß es schlechterdings unter die Zuständigkeiten eines großen Fürsten gehöre, Künste und Wissenschaften in seinen Schutz zu nehmen. „Denn, sagte der Oberkammerherr, Ew. Majestät werden bemerkt haben, daß man niemals eine Statue, oder ein Brustbild eines großen Herrn auf einer Medaille oder in Kupfer gestochen sieht, *) an dessen rechter Hand nicht eine

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Minerva stünde, neben einem Trophee von Panzern, Fahnen, Spießen und Morgensternen — zur Linken knien immer etliche geflügelte Jungen, oder halbnackte Mädchen, mit Pinsel und Palet, Winkelmaß, Flöte, Leyer und einer Rolle Papier in den Händen, die Künste vorstellend, die sich dem großen Herrn gleichsam zu Protection empfehlen; oben drüber aber schwebt eine Fama, mit der Trompete am Mund, anzudeuten, daß Könige und Fürsten sich durch den Schutz, den sie den Künsten angedeyhen lassen, einen unsterblichen Ruhm erwerben.“ — Der König Archelaus hatte also die Künste in seinen Schutz genommen, und demzufolge wissen uns die Geschichtschreiber ein Langes und Breites davon zu erzählen, wie viel er gebaut habe, und wie viel er

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auf Mahlerey und Bildhauerey, auf schöne Tapeten, und andre schöne Möbeln verwandt; und wie alles, bis auf die Commodität, bey ihm habe H e t r u r i s c h seyn müssen; und wie er berühmte Künstler, Virtuosen und schöne Geister an seinen Hof berufen habe, u. s. w. welches alles, sagen sie, er um so mehr that, weil ihm daran gelegen war, das Andenken der Übelthaten auszulöschen, durch die er sich den Weg zum Throne, zu dem er nicht gebohren war, gebahnt hatte — wie E. E. aus Ihrem B a y l e mit mehrern ersehen können. Nach dieser kleinen Abschweifung kehren wir zu unserm Attischen Dichter zurück, den wir unter einem schimmernden Zirkel von Abderiten und Abderitinnen vom ersten Rang, unter einem grünen Pavillon im Garten des Archon Onolaus antreffen werden.

*)

In Kupfer gestochen! Ey, ey! was das wieder ein A n a c h r o n i s m u s ist!

Der Schulmeister N. N.

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20. Es ist oben schon bemerkt worden, daß Euripides schon lange, wiewohl unbekannter Weise, bey den Abderiten in großem Ansehn stund. Izt, so bald es erschollen war, daß er in Person zugegen sey, war die ganze Stadt in Bewegung. Man sprach von Nichts als vom Euripides. — „Haben Sie den Euripides schon gesehen? Wie sieht er aus? Hat er eine große Nase? Wie trägt er den Kopf? Was hat er für Augen? Er spricht wohl in lauter Versen? Ist er stolz?“ — und hundert solche Fragen machte man einander schneller als es möglich war auf Eine zu antworten. Die Neugier den Euripides zu sehen zog 10

noch, außer denen, die der Archon hatte bitten lassen, verschiedene herbey, die nicht geladen waren: Alles drängte sich um den guten glazköpfigen Dichter her, um zu beaugenscheinigen, ob er auch so aussehe, wie sie sich vorgestellt hatten, daß er aussehen müsse. Verschiedne insonderheit unter den Damen schienen sich zu verwundern, daß er am Ende doch just so aussah, wie ein andrer Mensch. Andre bemerkten, daß er viel Feuer in den Augen habe; und die schöne T r y a l l i s raunte ihrer Nachbarin ins Ohr, man seh es ihm stark an, daß er ein ausgemachter W e i b e r f e i n d * ) sey. Sie machte diese Bemerkung mit einem Ausdruck von anticipiertem Vergnügen über den Triumf den sie sich davon versprach, wenn ein so erklärter Feind ihres Geschlechts die

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Macht ihrer Reitzungen würde bekennen müssen. Die Dummheit hat ihr S u b l i m e s so gut als der Verstand, und wer darinn bis zum A b s u r d e n gehen kann, hat das Erhabne in dieser Art erreicht, welches für gescheidte Leute immer eine Quelle von Vergnügen ist. Die Abderiten hatten das Glück im Besitz dieser Vollkommenheit zu seyn. Ihre Ungereimtheit machte einen Fremden anfangs wohl zuweilen ungeduldig; aber so bald man sah, daß sie so ganz a u s E i n e m S t ü c k e war, und (eben darum) so viele Zuversicht und Gutmüthigkeit in sich hatte: so versöhnte man sich gleich wieder mit ihnen, und belustigte sich oft besser an ihrer Albernheit als an andrer Leute Witz.

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Euripides war in seinem Leben nie bey so guter Laune gewesen, als bey *)

Es ist bekannt, daß dieses häßliche Laster dem Euripides, wiewohl unverdienter Weise,

Schuld gegeben wurde.

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diesem Abderiten-Schmause. Er antwortete mit der größten Gefälligkeit auf alle ihre Fragen, lachte über alle ihre platten Einfälle, ließ jeden so hoch gelten als er sich selbst würdigte, und erklärte sich sogar über ihr Theater und Musikwesen so billig, daß jedermann vollkommen mit ihm zufrieden war. — E i n f e i n e r G a s t ! raunte der politische Rathsherr der Dame Salabanda, die über ihm saß, ins Ohr; d e r t r i t t l e i s e a u f ! — Und so höflich, so bescheiden, als ob er kein großer Kopf wäre, erwiederte Salabanda. — „Der drolligste Mann von der Welt, beym Jupiter! sagte der kurze dicke Rathsherr, beym Aufstehen von Tische; ein recht kurzweiliger Mann! Hätt’s ihm nicht zugetraut, mein Seel!“ — Die Damen, die er s c h ö n gefunden hatte, waren dafür so höflich,

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und thaten als ob sie ihn um zwanzig Jahre j ü n g e r fänden als er war; kurz, man war ganz von ihm bezaubert, und bedauerte nur, daß man d i e E h r e u n d d a s V e r g n ü g e n ihn in Abdera zu sehen, nicht länger haben sollte. Denn Euripides blieb dabey, daß er sich nicht aufhalten könne. Endlich nahm Frau S a l a b a n d a den politischen Rathsherrn und den jungen Onobulus auf die Seite. Was meynen Sie, sagte sie, wenn wir ihn dahinbringen könnten, daß er uns seine Andromeda gäbe? Er hat seine eigne Truppe bey sich. Es sollen ganz ausserordentliche Virtuosen seyn. — O n o b u l u s fand den Einfall g ö t t l i c h — Ich hatte ihn eben selbst gehabt, sagte der p o l i t i s c h e R a t h s h e r r , und war im Begriff es ihnen vorzutragen. Aber es wird

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Schwierigkeiten absetzen. Der Nomophylax — O, dafür lassen Sie mich sorgen, fiel Salabanda ein; ich will ihm schon warm machen! Das glaub ich gerne, Madam, daß sie das können, versezte der Rathsherr mit einem schlauen Blick; allein wir müssen vor allen Dingen den Archon sondieren. — Für meinen Oheim steh’ ich, sagte O n o b u l u s ; und noch in dieser Nacht will ich unter unsern jungen Leuten eine Parthey zusammen trommeln, die Lerms genug in der Stadt machen soll. Nur nicht zu hitzig, munkelte der p o l i t i s c h e H e r r mit dem Kopf wakkelnd; wir wollen uns nichts merken lassen! Erst das Terrein sondiert, und fein leise aufgetreten! das ist was ich immer sage. „Aber, wir haben keine Zeit zu verliehren, Herr Froschpfleger, *) Euripides geht fort —“ *)

Der Rathsherr war einer von den F ü r s o r g e r n d e s g e h e i l i g t e n F r o s c h g r a b e n s ,

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Wir wollen ihn schon aufhalten, sagte S a l a b a n d a ; er soll morgen bey mir seyn — eine Garten-Partie, und alle unsre hübschen Leute dazu eingeladen — Lassen Sie nur m i c h machen; es soll gewiß gehen! Frau S a l a b a n d a paßierte in Abdera für eine gar weise Frau. Sie war stark in Politicis, und hatte großen Einfluß auf den Archon Onolaus. Der Oberpriester war ihr Oheim, und fünf oder sechs Rathsherren, die sie in ihrer Freundschaft zählte, gaben selten eine andre Meynung im Rath von sich, als die sie ihnen des Abends zuvor eingetrichtert hatte. Überdies stunden ihr die Liebhaber der schönen T h r y a l l i s , mit der sie in engestem Vertrauen lebte, gänz10

lich zu Gebot; nichts von ihren eignen zu sagen, deren sie immer eine hübsche Anzahl hatte, die a u f H o f n u n g dienten, und also so geschmeidig waren wie Handschuhe. Ihr Haus, das unter die besten in der Stadt gehörte, war der Ort, wo alle Geschäfte vorbereitet, alle Händel geschlichtet und alle W a h l e n ins Reine gebracht wurden; mit Einem Wort, Frau Salabanda machte in Abdera was sie wollte. E u r i p i d e s , ohne die mindeste Absicht Gebrauch von ihrer Wichtigkeit zu machen, hatte sich diesen Abend so gut bey ihr insinuirt *) als ob er zum wenigsten eine Froschpfleger-Stelle auf dem Korn gehabt hätte. Brachte sie ein politisches Weidsprüchlein als einen G e d a n k e n vor, so fand er, daß es eine

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s e h r s c h a r f s i n n i g e B e m e r k u n g sey: citierte sie den Simonides oder Homer, so bewunderte er ihr Talent Verse zu declamieren. Sie hatte ihn mit einigen Stellen seiner Werke aufgezogen, die ihn zu Athen in den bösen Ruf eines Weiberfeindes gesezt: und er hatte, indem er sich gegen sie und die schöne Thryallis verbeugte, versichert, daß es sein Unglück sey, nicht eher nach Abdera gekommen zu seyn. Kurz, er hatte sich so aufgeführt, daß Frau Salabanda bereit war einen Aufstand zu erregen, falls ihr mit dem politischen Rathsherrn eingefädeltes Project durch kein gelinderes Mittel hätte durchgesetzt werden können. Man säumte sich nicht, sich vor allen Dingen des A r c h o n s zu versichern,

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der gewöhnlich bald gewonnen war, wenn man ihm sagte, daß eine Sache der Republik Abdera zu großem Ruhm gereichen, und dem Volk sehr angenehm

welches in Abdera eine sehr ansehnliche Stelle war. Man nannte sie die B a t r a c h o t r e p h o n t e n , welches zu teutsch sehr füglich durch F r o s c h p f l e g e r gegeben werden kann. *)

Um Vergebung wegen des f r e m d e n Worts — es hätte e i n g e b u s e n t heissen sollen.

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seyn werde. Aber, weil er ein Herr war, der seine Ruhe liebte, so erklärte er sich; er überlasse es ihnen, alles in d i e g e h ö r i g e W e g e einzuleiten; er seines Orts möchte sich mit niemand deswegen abwerfen; am wenigsten mit dem Nomophylax, der ein Grobian sey, und unter dem Volk einen starken Anhang habe. — Wegen des Volkes machen sich Ew. Herrlichkeit keine Sorge, flüsterte ihm der Rathsherr zu; das will ich durch die dritte Hand schon stimmen lassen, wie wirs nur wünschen können — „und ich, sagte Salabanda, nehme die Rathsherren auf mich.“ — Wir wollen sehen, sprach der Archon, indem er zur Gesellschaft zurückkehrte. „Seyn Sie ruhig, sprach die Dame zum politischen Rathsherrn, indem sie

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ihn auf die Seite nahm: ich kenne den Archon. Wenn man ihn haben will: so muß man ihm nur des Abends von einer Sache sprechen, und wenn er N e i n gesagt hat, des Morgens wiederkommen, und, ohne den Mund zu verkrümmen, so reden als ob er J a gesagt habe, und ihm dabey zeigen, daß man des Erfolgs gewiß ist: so kann man sich auf ihn verlassen wie auf Gold. Es ist nicht das erstemal, daß ich ihn auf diese Art drangekriegt habe.“ Sie sind eine schlaue Frau, versezte der Herr Froschpfleger, indem er sie sachte auf den runden Arm klopfte — Was Sie leise auftreten! — Aber man wird merken, daß wir etwas vorhaben — und das könnte nachtheilig seyn — Wir müssen piano gehn!

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In diesem Augenblik trippelten ein paar Abderitinnen herbey, denen bald alle übrigen von der Gesellschaft folgten, um zu hören, wovon die Rede sey. Der politische Rathsherr schlich sich weg. Nun, wie gefällt euch Euripides, sagte Frau Salabanda; nicht wahr, das ist ein Mann? O! ein scharmanter Mann, riefen die Abderitinnen. Nur Schade, daß er so kahl ist — sezte eine hinzu; und daß ihm ein paar Zähne fehlen, sagte die andre. Närrchen, desto weniger kann er dich beissen, sagte die dritte; und weil dies ein witziger Einfall war, so lachten sie alle herzlich darüber. Ist er schon verheyrathet, fragte ein junges Ding, das so aussah, als ob es, wie ein Pilz, in einer Nacht aus dem Boden aufgeschossen wäre. Möchtest D u ihn etwa haben? antwortete ein andres junges Fräulein spöttisch; ich denke er hat schon Urenkel zu verheyrathen. O! die will ich D i r überlassen, sagte jene schnippisch; und der Stich war

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desto wespenartiger, weil das besagte Fräulein, wiewohl sie so jung that als ein Mädchen von achtzehn, wenigstens ihre volle fünf und dreißig auf dem Nakken trug. Kinder, unterbrach sie Frau Salabanda, von dem allen ist itzt die Rede nicht. Es ist was ganz anders auf dem Tapet. Wie gefiel’ es euch, wenn ich den fremden Herrn beredete etliche Tage hier zu bleiben, und uns, mit der Truppe die er bey sich hat, eine seiner Komödien zu geben? O das ist herrlich, riefen die Abderitinnen alle, vor Freuden aufhüpfend; o Ja, wenn Sie das machen könnten! 10

Das will ich schon machen können, versetzte Salabanda; aber ihr müßt alle dazu helfen — O Ja, o ja, schnatterten die Abderitinnen; und nun liefen sie in hellen Haufen auf den Euripides zu, und schrien alle auf einmal: o Ja, Herr Euripides, sie müssen uns eine Komödie spielen! Wir lassen Sie nicht gehen, bis sie uns eine Komödie gespielt haben. Nicht wahr? Sie versprechens uns? Der arme Mann, dem diese Zumuthung auf den Hals kam wie ein Kübel Wassers übern Kopf, trat ein paar Schritte zurück, und versicherte sie: es sey ihm nie in den Sinn gekommen, in Abdera Komödie zu spielen; er müsse seine Reise beschleunigen, u. s. w. Aber das half alles nichts — O Sie müssen, schrien

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die Abderitinnen; wir lassen ihnen keine Ruhe; Sie sind viel zu artig, als daß Sie uns was abschlagen sollten. Wir wollen Sie so schön bitten — Im Ernst, sagte Frau Salabanda, wir haben einen Anschlag auf Sie gemacht — und der nicht zu Wasser werden soll, fiel Onobulus ein, oder ich will nicht Onobulus heissen. Was giebts? Was giebts, fragte der politische Rathsherr, der den Unwissenden machte, indem er langsam und mit unstetem Blick hinzuschlich, was haben Sie mit dem Herrn vor? — Der kurze dicke Rathsherr kam auch herbeygewatschelt. „Ich glaube gar, straf mich! sie wollen alle auf einmal sein Herz mit Arrest beschlagen, ha, ha, ha!“ — schrie er und lachte, daß er sich die

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Seiten halten mußte. Man verständigte ihn, wovon die Rede sey. — „Ha, ha, ha, ha! Ein schöner Gedanke! straf mich Jupiter! da komm ich gewiß auch, das versprech ich ihnen! Der Meister selbst! Das muß der Mühe werth seyn! Wird recht viel Ehre für Abdera seyn, Herr Euripides, große Ehre! Haben uns glücklich zu schätzen, daß unsre Leute von so einem geschickten Manne profitieren sollen!“ — Noch ein paar Herren von Bedeutung machten ihm ungefehr das nemliche Compliment. D i e A b d e r i t e n . Z w e y t e r T h e i l . 2 0 . ¼Kapitel½

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Euripides, wiewohl er den Einfall nicht so übel fand, sich diese Lust mit den Abderiten zu machen, spielte noch immer den Erstaunten, und entschuldigte sich damit, daß er dem König Archelaus versprochen habe, seine Reise zu beschleunigen. Ey, was, sagte Onobulus, sie sind ein Republikaner, und eine Republik hat ein näheres Recht an Sie. Sagen Sie dem Könige nur, schnarrte die schöne M y r i s , daß wir Sie so gar schön gebeten haben. Er soll ein galanter Herr seyn. Er wird Ihnen nicht übel nehmen, daß Sie sechs Frauenzimmern auf einmal nichts abschlagen konnten.

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O du, Tyrann der Götter und der Menschen,

Amor !*)

rief Euri-

pides im Ton der Tragödie, indem er zugleich die schöne T h r y a l l i s ansah. Wenn das Ihr Ernst ist, sagte Thryallis, mit der Miene einer Person, die nicht gewohnt ist, weder abzuweisen, noch abgewiesen zu werden; wenn das Ihr Ernst ist, so beweisen Sie es dadurch, daß Sie sich von mir erbitten lassen. Dies v o n m i r verdroß die andern Abderitinnen. Wir wollen nicht unbescheiden seyn, sagte Eine, indem sie die Lippen einzog, und auf die Seite sah — Man muß dem Herrn nichts zumuthen, was ihm unmöglich ist, sagte eine Andre. Um Ihnen Vergnügen zu machen, meine schönen Damen, sprach der Dich-

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ter, könnte mir das Unmögliche möglich werden. Weil dies N o n s e n s war, so gefiel es allgemein. Onobulus war hurtig mit seiner Schreibtafel heraus, um sich d e n G e d a n k e n aufzunotieren. Die Weiber und Mädchen warfen einen Blick auf Thryallis, als ob sie sagen wollten: Ä t s c h ! er hat uns auch s c h ö n geheißen! Madam braucht sich eben nicht so viel auf ihre A t a l a n t e n -Figur einzubilden; Er bleibt so gut um unsertwillen hier als um ihrentwillen. Salabanda machte endlich dem Handel ein Ende, indem sie sich blos die Gefälligkeit ausbat, daß er ihr und ihren Freunden, die alle seine großen Verehrer seyen, nur noch den morgenden Tag schenken möchte. Weil Euripides im Grunde nichts zu eilen hatte, und sich in Abdera sehr gut amüsierte, so ließ er sich nicht lange bitten eine Einladung anzunehmen, die ihm hübsche Beyträge zu — Possenspielen für den Hof zu Pella versprach. Und so gieng dann *)

Ein Vers aus der A n d r o m e d a .

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die Gesellschaft, auf die Ehre sich morgen bey Frau Salabanda wiederzusehen, gegen Mitternacht in allerseitigem Vergnügen auseinander. W.

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Die Abderiten. (Fortgesetzt von S. 240. No. 9.)

21. Inzwischen führte O n o b u l u s , in Begleitung etlicher junger Herren seines Schlages, seinen Gast in der Stadt herum, um ihm alles, was darinn sehenswürdig wäre, zu zeigen. Unterwegens begegnete ihnen D e m o k r i t u s , mit welchem Euripides schon von langen her bekannt war; und so giengen sie dann mit einander; und da die Stadt Abdera ziemlich weitläufig war, so hatten die beyden Alten Gelegenheit genug, von den jungen Herren zu profitieren, die immer den Mund offen hatten, über alles entschieden, alles wußten, und

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sich gar nicht zu Sinne kommen ließen, daß es ihresgleichen in Gegenwart von Männern anständiger sey, zu hören als sich hören zu lassen. Euripides hatte also diesen Morgen genug zu hören und zu sehen. Die jungen Abderiten, die nie weiter als bis an die äußersten Schlagbäume ihrer Vaterstadt gekommen waren, sprachen von allem, was sie ihm zeigten, als von Wundern, die gar nicht ihres gleichen in der Welt hätten. Onobulus hingegen, der die große Reise gemacht hatte, verglich alles immer mit dem, was er in eben dieser Art zu Athen, Korinth und Syrakus gesehen, und brachte, in einem albernen Ton von Entschuldigung, eine Menge lächerlicher Ursachen hervor, warum diese Dinge in Athen, Korinth und Syrakus schöner und prächtiger wären als in Abdera. Junger Herr, sagte Demokritus, es ist hübsch, daß sie ihre Vater- und Mutterstadt in Ehren haben; aber wenn sie uns einen Beweis davon geben wollen, so lassen Sie Athen, Korinth und Syrakus aus dem Spiele. Nehmen wir jedes Ding wie es ist, und keine Vergleichung, so brauchts auch keine Entschuldigung! Euripides fand alles, was man ihm zeigte, sehr merkwürdig; und das war es auch! Denn man zeigte ihm eine Bibliothek, worinn viel ungelesene Bücher, ein Münzcabinet, worinnen viel abgegriffene Münzen, ein reiches Spital, wor-

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inn viel übel verpflegte Arme, ein Arsenal, worinn wenig Waffen, und einen Brunnen, worinn noch weniger Wasser war. Man zeigte ihm auch das Rathhaus, wo die gute Stadt Abdera so wohl berathen wurde, den Tempel des J a s o n s und ein vergoldetes Widderfell, welches sie, wiewohl wenig Gold mehr daran zu sehen war, für das berühmte g o l d n e V l i e s a u s g a b e n ; und den alten rauchichten Tempel der Latona, und das Grabmal des A b d e r u s , der die Stadt zuerst erbaut haben sollte, und die Galerie, wo alle Archonten von Abdera in Lebensgröße gemahlt stunden, und einander alle so gleich sahen, als ob der folgende immer die Copie von dem vorgehenden sey. Endlich, da sie 10

alles gesehen hatten, führte man sie auch an den g e h e i l i g t e n T e i c h , worinn, auf Unkosten gemeiner Stadt, die größten und fettesten Frösche gefüttert wurden, die man je gesehen hat; und die, wie der Priester Strobylus sehr ernsthaft versicherte, in gerader Linie von den Lycischen Bauren abstammten, die der umherirrenden, nirgends Ruhe findenden und vor Durst verschmachtenden Latona nicht gestatten wollten, aus einem Teiche, der ihnen zugehörte, zu trinken, und dafür vom Jupiter zur Strafe in Frösche verwandelt wurden. O Herr Oberpriester, sagte Demokritus, erzählen Sie doch dem fremden Herren die Geschichte dieser Frösche, und wie es zugegangen, daß der geheiligte Teich aus Lycien über das Jonische Meer herüber, bis nach Abdera ver-

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setzt worden; welches, wie Sie wissen, eine ziemliche Strecke Wegs über Länder und Meere ausmacht; und, wenn man so sagen darf, beynahe ein noch grösseres Wunder ist als die Froschwerdung der Lycischen Bauren selbst. Strobylus sah dem Demokritus und dem Fremden mit einem bedenklichen Blick unter die Augen; weil er aber nichts darinn sehen konnte, das ihn berechtigt hätte, sie für Spötter zu erklären, welche nicht verdienten zu so ehrwürdigen Mysterien zugelassen zu werden: so bat er sie, sich unter einen großen wilden Feigenbaum zu setzen, der eine Seite des kleinen Latonen-Tempels beschattete, und erzählte ihnen hierauf mit eben der Treuherzigkeit, womit man die alltäglichste Begebenheit erzählen kann, alles, was er von der Sache

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zu wissen glaubte. „Die Geschichte des Latonen-Diensts in Abdera, sagte er, verliehrt sich im Nebel des grauesten Alterthums. Unsre Vorfahren, die Tejer, die sich vor ungefehr 140 Jahren von Abdera Meister machten, fanden ihn bereits seit unendlichen Zeiten eingeführt, und dieser Tempel hier ist vielleicht einer der ältesten in der Welt, wie Sie schon aus seiner Bauart und andern Zeichen eines

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hohen Alterthums schliessen können. Es ist, wie Sie wissen, nicht erlaubt, mit strafbarem Vorwiz den heiligen Schleyer aufzuheben, den die Zeit um den Ursprung der Götter und ihres Dienstes geworfen hat. Alles verliehrt sich in Zeiten, wo die Kunst zu schreiben noch nicht erfunden war; aber die mündliche Überlieferung, die von Vater zu Sohn, durch so viele Jahrhunderte fortgepflanzt wurde, ersezt den Abgang schriftlicher Urkunden mehr als hinlänglich, und macht, so zu sagen, eine lebendige Urkunde aus, die dem todten Buchstaben billig noch vorzuziehen ist. Diese Tradition sagt: als die vorerwähnte Verwandlung der Lycischen Bauren vorgegangen, hätten die benachbarten Einwohner und einige von den besagten Bauren selbst, die an dem

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Frevel der übrigen keinen Theil genommen, als Zeugen des vorgegangenen Wunders, die Latona mit ihren nah an der Brust liegenden Zwillingen, Apollo und Diana, für Gottheiten erkannt, an dem Teiche, wo die Verwandlung geschehen, einen Altar errichtet, auch die Gegend und das Gebüsche, das den Teich umgab, zu einem Hayn geheiligt. Das Land hies damals noch M i l i a , und die in Frösche verwandelten Bauren waren also, eigentlich zu reden, M i l i e r ; als aber, lange Zeit hernach, L y c u s , Pandions des zweyten Sohn, sich mit einer Attischen Colonie des Landes bemächtigte, bekam es von ihm den Nahmen L y c i a , und der ältere Nahme verlohr sich gänzlich. Bey dieser Gelegenheit verließen die Einwohner der Gegend, wo der Altar und Hayn der

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Latona war, weil sie sich der Herrschaft des besagten Lycus nicht unterwerfen wollten, ihr Vaterland, setzten sich zu Schiffe, irrten eine Zeitlang auf dem Ägeischen Meere herum, und ließen sich endlich zu Abdera nieder, welches kurz zuvor durch die Pest beynahe gänzlich entvölkert worden war. Bey ihrem Abzuge schmerzte sie, wie die Tradition sagt, nichts so sehr, als daß sie den geheiligten Hayn und Teich der Latona zurücklassen müßten. Sie sannen hin und her, und fanden endlich: das beste wäre, einige junge Bäume aus dem besagten Hayn mit Wurzel und Erde, und eine Anzahl von Fröschen aus dem besagten Teich in einer Tonne voll geheiligten Wassers, mitzunehmen. Sobald sie zu Abdera anlangten, war ihre erste Sorge, einen neuen Teich zu graben, welches eben dieser ist, den Sie hier vor sich sehen. Sie leiteten einen Arm des Flusses Nestus in denselben, und besetzten ihn mit den Abkömmlingen der in Frösche verwandelten Lycier oder Milier, die sie in dem geweyhten Wasser mit sich gebracht. Um den neuen Teich her, dem sie sorgfältig die völlige Gestalt und Grösse des alten gaben, pflanzten sie die mitgebrachten heiligen

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Bäume, weyheten sie aufs neue der Latona zum Hayn, bauten ihr diesen Tempel, und verordneten einen Priester, der den Dienst desselben versehen, und des geheiligten Hayns und Teiches warten sollte, welche sich auf diese Weise, ohne ein so grosses Wunder als Herr Demokritus für nöthig hielt, aus Lycien nach Abdera versezt befanden. Dieser Tempel, Hayn und Teich erhielt sich, vermöge der Ehrfurcht, welche sogar die benachbarten wilden Thrazier für denselben hegten, durch alle Veränderungen und Unfälle, denen Abdera in der Folge unterworfen war; bis die Stadt endlich von den Tejern, unsern Vorfahren, zu den Zeiten des grossen Cyrus, wiederhergestellt, und, wie man 10

ohne Ruhmredigkeit sagen kan, zu einem Glanz erhoben wurde, daß sie keine Ursache hat, irgend eine andre in der Welt zu beneiden.“ Sie reden wie ein wahrer Patriot, Herr Oberpriester, sagte Euripides. Aber, wenn es erlaubt wäre, eine bescheidene Frage zu thun — Fragen Sie — was Sie wollen, fiel ihm Strobylus ein; ich werde Gottlob! nie verlegen seyn, Antwort zu geben. Mit Ew. Ehrwürden Erlaubnis also! — fuhr Euripides fort — Die ganze Welt kennet die edle Denkart und die Liebe zur Pracht und zu den schönen Künsten, die den Tejischen Abderiten eigen ist, und wovon ihre Stadt überall die merkwürdigsten Beweise darstellt. Wie kömmt es also, da zumal die Tejer

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schon von alten Zeiten her im Ruf einer besondern Ehrfurcht für die Latona stehen, daß die Abderiten nicht auf den Gedanken gekommen sind, ihr einen ansehnlichern Tempel aufzubauen? Ich vermuthete mir diesen Einwurf, sagte Strobylus, mit einem Lächeln, wobey er die Augbrauen in die Höhe zog und mächtig weise aussehen wollte — Es soll kein Einwurf seyn, versetzte Euripides, sondern bloß eine bescheidene Frage — Ich will Sie Ihnen beantworten, sagte der Priester. Ohne Zweifel wär es der Republik leicht gewesen, der Latona, als einer Göttin vom ersten Rang, einen so prächtigen Tempel aufzubauen, wie sie dem Jason, der doch nur ein H e r o s

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war, gebaut hat. Aber sie hat, mit Rechte, geglaubt, daß es der Ehrfurcht, die wir der Mutter des Apollo und der Diana schuldig sind, gemäßer sey, ihren uralten Tempel zu lassen, wie sie ihn gefunden; und er ist und bleibt demungeachtet der oberste und heiligste Tempel von Abdera, was auch immer der Priester des Jasons dagegen einwenden mag. — Strobylus sagte dieses letzte mit einem Eyfer und einem crescendo il Forte,

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daß Demokritus für nöthig fand, ihn zu versichern, daß dieß, wenigstens bey allen Gesunddenkenden, eine ausgemachte Sache sey. „Indessen, fuhr der Oberpriester fort, hat die Republik gleichwohl solche Beweise ihrer besondern Devotion für den Tempel der Latona und dessen Zubehörden abgelegt, daß gegen die Lauterkeit ihrer Absichten nicht der geringste Zweifel übrig seyn kan. Sie hat zu Versehung des Dienstes nicht nur ein Collegium von sechs Priestern, deren Vorsteher zu seyn ich unwürdiger weise die Ehre habe, sondern auch aus dem Mittel des Senats, drey Pfleger des geheiligten Teichs angeordnet, von welchen der Erste allezeit eines von den Häuptern der Stadt ist. Ja sie hat, aus Beweggründen, deren Richtigkeit strei-

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tig zu machen nicht länger erlaubt ist, die Unverletzlichkeit der Frösche des Latonen-Teichs auf alle Thiere dieser Gattung in ihrem ganzen Gebiet ausgedehnt; und zu diesem Ende das ganze Geschlecht der Störche, Kraniche und aller andern Froschfeinde, aus ihren Grenzen verbannt.“ Wenn die Versicherung, daß es nicht länger erlaubt ist an der Richtigkeit dieses Verfahrens zu zweifeln mir nicht die Zunge bände, sagte Demokritus, so würde ich die Freyheit nehmen zu erinnern, daß selbiges mehr in einer, zwar an sich selbst löblichen, aber doch aufs äusserste getriebnen D e i s i d ä m o n i e , * ) als in der Natur der Sache oder der Ehrfurcht, die wir der Latona schuldig sind, gegründet zu seyn scheint. Denn, in der That ist nichts gewisser

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als daß die Frösche zu Abdera und in der Gegend umher, die den Einwohnern bereits sehr beschwerlich sind, mit der Zeit sich unter einer solchen Protection so überschwenglich vermehren werden, daß ich nicht begreiffe, wie unsre Nachkommen sich mit ihnen werden vergleichen können. Ich rede hier bloß m e n s c h l i c h e r w e i s e , und unterwerfe meine Meynung dem Urtheil der Obern, wie einem rechtgesinnten Abderiten zukommt. Daran thun Sie wohl, sagte Strobylus, es mag nun ihr Ernst seyn oder nicht; und Sie würden, nehmen Sie mirs nicht übel, noch besser thun, wenn Sie dergleichen Meynungen gar nicht laut werden liessen. Übrigens kan nichts lächerlichers seyn, als sich vor Fröschen zu fürchten; und unter dem Schutze der Latona können wir, denke ich, gefährlichere Feinde verachten, als diese *)

Der Apostel P a u l bedient sich des von diesem Worte abgeleiteten Beyworts, da er die

Athenienser, ironischer oder wenigstens zweydeutiger Weise, wegen ihrer unbegrenzten Religiosität zu loben scheint. Apost. Gesch. XVII. 22. Man könnte es G ö t t e r f u r c h t , oder D ä m o n e n f u r c h t übersetzen.

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guten unschuldigen Thierchen jemals seyn könnten, wenn sie auch unsre Feinde würden. Das sollt ich auch denken, sagte Euripides. Mich wundert, wie einem so grossen Naturforscher, als Demokritus, unbekannt seyn kan, daß die Frösche, die sich von Insecten und kleinen Schnecken nähren, dem Menschen vielmehr nützlich als schädlich sind. Der Priester Strobylus nahm diese Anmerkung so wohl auf, daß er von diesem Augenblick an ein hoher Gönner und Beförderer unsers Dichters wurde. Die Herren hatten sich kaum von ihm beurlaubt, so gieng er in einige der 10

besten Häuser, und versicherte: Euripides sey ein Mann von grossen Verdiensten. Ich habe sehr wohl bemerkt, sagte er, daß er mit dem Demokritus nicht zum Besten steht; er gab ihm ein oder zweymal tüchtig auf den Kolben — Er ist würklich ein hübscher verständiger Mann — für einen Poeten! W.

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22. Nachdem Euripides die W a h r z e i c h e n von Abdera sämtlich in Augenschein genommen, führte man ihn nach dem Garten der Salabanda, wo er den Rathsherrn, ihren Gemahl — einen Mann, der bloß durch seine Gemahlin merkwürdig wurde — und eine große Gesellschaft von Abderitischem Beau-Monde fand, alle sehr begierig zu sehen, w i e m a n e s m a c h t e u m E u r i p i d e s z u seyn. Euripides sah nur Ein Mittel, sich mit Ehren aus der Sache zu ziehen; und

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das war — in so guter Abderitischer Gesellschaft n i c h t E u r i p i d e s — sondern so sehr Abderit zu seyn, als ihm nur immer möglich war. Die guten Leute wunderten sich, ihn so gleichartig mit ihnen selbst zu finden. Es ist ein scharmanter Mann, sagten sie; man dächte, er wäre sein Lebenlang in Abdera gewesen! Die Cabale der Dame Salabande gieng inzwischen tapfer ihren Gang, und des folgenden Morgens war schon die ganze Stadt des Gerüchtes voll, der fremde Dichter würde mit seinen Leuten eine Komödie aufführen, wie man in Abdera noch keine gesehen habe. Es war ein Rathstag. Die Herren versammelten sich, und einer fragte den andern: wenn Euripides sein Stück geben würde? Keiner wollte was davon wissen, wiewohl jeder positiv versicherte, daß bereits die Zurüstungen dazu gemacht würden. Als der Archon die Sache in Vortrag brachte, formalisierten sich die Freunde des Nomophylax nicht wenig darüber. „Wozu, sagten sie, braucht’s uns noch zu fragen: ob wir erlauben wollen, was schon beschlossen ist, und wovon jedermann als von einer ausgemachten Sache spricht?“ — Einer der hitzigsten behauptete, daß der Senat eben deswegen Nein dazu sagen und dadurch zeigen sollte, daß Er Meister sey.

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Das wäre mir ein sauberes P a r t i c i p i u m , rief der Zunftmeister P f r i e m e ; weil die ganze Stadt für die Sache b o r d i e r t ist, und die fremden Komödianten zu hören wünscht, so soll der Senat Nein dazu sagen? Ich behaupte just das Gegentheil. Eben weil das Volk sie zu hören wünscht, so sollen sie aufspielen! Fox populus, fox Deus! Das ist immer mein S i m p l u m gewesen, und soll es bleiben, so lange ich Zunftmeister Pfrieme heissen werde! Die Meisten traten auf des Zunftmeisters Seite. Der Politische Rathsherr zuckte die Achseln, sprach Pro und Contra, und beschloß endlich: wenn der Nomophylax nichts dabey zu erinnern hätte, so glaubte er, man könnte für 10

diesmal conniuendo geschehen lassen, daß die Fremden auf dem Stadttheater spielten. Der Nomophylax hatte bisher bloß die Nase gerümpft, gegrinßt, seinen Knebelbart gestrichen, und einige abgebrochne Worte, mit untermischtem hä hä hä, gemeckert. Er hätte nicht gerne dafür angesehen werden mögen, als ob ihm daran gelegen sey die Sache zu hintertreiben. Allein je mehr er’s verbergen wollte, desto stärker fiel’s in die Augen. Er schwoll zusehends auf, wie ein Truthahn dem man ein rothes Tuch vorhält, und endlich, da er entweder bersten oder reden mußte, sagte er: „Die Herren mögen nun glauben was sie wollen — aber, ich bin würklich der erste, der das Neue Stück zu hören

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wünscht. Ohnezweifel hat der Poet den Text und die Musik selbst gemacht, und da muß es ja wohl ein ganzes Wunderding seyn. Indessen, weil er sich nicht aufhalten kann, wie man sagt, so seh ich nicht, wie man mit den Decorationen wird fertig werden können. Und wenn wir zu den Chören unsre Leute hergeben sollen, wie zu vermuthen ist — denn er wird wohl schwerlich eine Armee von Choristen mit sich führen, wenigstens hat er meines Wissens nicht um den Durchzug angehalten — so bedaur ich, daß ich sagen muß: vor vierzehn Tagen wird nicht daran zu denken seyn.“ Dafür lassen wir den Euripides sorgen, sagte einer von den Vätern, aus deren Sprachröhre die Stimme der Dame Salabanda sprach; man wird ihm

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ohnehin Ehrenhalben die ganze Direction seines Schauspiels überlassen müßen — Den Rechten eines zeitigen Nomophylax und der Theatercommission unpräiudicierlich, setzte der Archon hinzu. „Ich bin alles zufrieden, sagte G r y l l u s ; die Herren wollen was Neues — gut! Wünsche, daß es wohl bekomme! Bin selbst begierig das Ding zu hören, wie gesagt. Es kommt freylich alles bloß darauf an, ob man Glauben an die

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Leute hat — Verstehen sie mich? — Indessen wird Recht Recht, und Musik Musik bleiben; und ich wette was die Herren wollen, die Terzen und Quinten und Octaven der Herren Athenienser werden just so klingen, wie die unsrigen, hä, hä, hä, hä!“ Es gieng also mit einem großen Mehr durch; „daß den fremden Komödianten, semel pro semper und citra consequentiam, erlaubt seyn sollte, eine Tragödie auf der Nationalschaubühne aufzuführen, und daß ihnen hiezu von Seiten der Theaterdeputation aller Vorschub gethan, und die Kosten von der Cassa bestritten werden sollten.“ Allein, weil der Ausdruck e r l a u b t s e y n s o l l t e dem Euripides, der nichts verlangt hatte, sondern sich bloß erbitten

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lassen, hätte anstößig seyn können: so veranstaltete Frau S a l a b a n d a , daß der Rathsschreiber, der ihr besonderer Freund und Diener war, im B e s c h e i d die Worte e r l a u b t s e y n s o l l t e in e r s u c h t w e r d e n s o l l t e , und die fremden Komödianten in den b e r ü h m t e n E u r i p i d e s , verwandelte — Alles übrigens dem Rathsschluß und der Kanzley o h n p r ä i u d i z i e r l i c h und citra consequentiam! So wie der Senat auseinander gieng, begab sich der Nomophylax zum Euripides, überschüttete ihn mit Complimenten, bot ihm seine Dienste an, und versicherte ihn, daß ihm a l l e r m ö g l i c h e r V o r s c h u b gethan werden sollte, um sein neues Stück recht bald aufführen zu können. Der Effect dieser

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Versicherungen war, daß ihm, ohne daß jemand Schuld daran haben wollte, alle mögliche Hinderniße in den Weg gelegt wurden, und daß es immer an allem fehlte, was er nöthig hatte. Beschwerte er sich, so wieß ihn immer Einer an den Andern — und Jeder betheuerte seine Unschuld und seinen guten Willen, indem er ganz deutlich zu verstehen gab, daß der Fehler bloß an Diesem oder Jenem liege, der eine Viertelstunde zuvor seinen guten Willen eben so stark betheuert hatte. Euripides fand die Abderitische Art, allen möglichen Vorschub zu thun, so beschwerlich, daß er sich nicht entbrechen konnte, der Dame Salabanda am Morgen des dritten Tages zu erklären: seine Meynung sey, sich mit dem ersten Winde, woher er auch blasen möchte, wieder einzuschiffen, wofern sie nicht einen Rathschluß auswürkte, der den Herren von der Commission anbefähle, ihm k e i n e n V o r s c h u b z u t h u n . Da der Archon, wiewohl eigentlich alle e x e c u t i v e Gewalt von ihm abhieng, kein Mann von Execution war; so war das einzige Mittel in dieser Noth, den Zunftmeister Pfriem und den Priester Strobylus, welche alles beym Volke vermoch-

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ten, in Bewegung zu setzen. Salabanda übernahm beydes, mit so guter Würkung, daß binnen Tag und Nacht, alles was von Seiten der Theatercommission besorgt werden mußte, fertig und bereit war; welches um so leichter geschehen konnte, da Euripides seine eignen Decorationen bey sich hatte, und also beynahe nichts weiter zu thun war, als sie dem Abderitischen Theater anzupassen.

23. Die Abderiten hatten ein neues Stück erwartet, und waren daher übel zufrieden, da sie hörten daß es eben die Andromede war, die sie vor wenig Tagen 10

schon gesehen zu haben glaubten. Noch weniger wollten ihnen anfangs die fremden Schauspieler einleuchten, deren Ton und Action so natürlich war, daß die guten Leute, die gewohnt waren, ihre Helden und Heldinnen wie Besessene herumfahren zu sehen, und schreyen zu hören, wie der verwundete Mars in der Iliade — gar nicht wußten, was sie daraus machen sollten. Das ist eine wunderliche Art zu agiren, flüsterten sie einander zu; man merkt ja gar nicht, daß man in der Komödie ist; es klingt ja ordentlich, als ob die Leute ihre eigne Rollen spielten. Indessen bezeugten sie doch ihr Erstaunen über die Decorationen, die zu Athen von einem berühmten Meister in der Theaterperspectiv gemahlt waren; und da die meisten in ihrem Leben nichts Gutes in

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dieser Art gesehen hatten: so glaubten sie bezaubert zu seyn, wie sie das Ufer des Meers, und den Felsen, an den Andromede gefesselt war, und den Hayn der Nereiden an einer kleinen Bucht auf der einen Seite, und den Pallast des Königs Cepheus in der Ferne auf der andern, so natürlich vor sich sahen, daß sie geschworen hätten, es sey alles würklich und wahrhaftig so, wie es sich darstellte. Da nun über dieß die Musik vollkommen nach dem Sinn des Dichters, und also das alles war, was die Musik des Nomophylax Gryllus n i c h t war; da sie immer gerad aufs Herz würkte, und ungeachtet der größten Einfalt und Singbarkeit, doch immer neu und überraschend war: so brachte alles dieß, mit der Lebhaftigkeit und Wahrheit der Declamation und Pantomime,

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und mit der Schönheit der Stimmen und des Vortrags, einen Grad von Täuschung bey den guten Abderiten hervor, wie sie noch in keinem Schauspiel erfahren hatten. Sie vergaßen gänzlich, daß sie in ihrem Nationaltheater sa-

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ßen; glaubten unvermerkt, mitten in der würklichen Scene der Handlung zu seyn; nahmen Antheil an dem Glück und Unglück der handelnden Personen, als ob es ihre nächsten Blutsfreunde gewesen wären; betrübten und ängstigten sich; hoften und fürchteten; liebten und haßten; weinten und lachten, wie es dem Zauberer, unter dessen Gewalt sie waren, gefiel. — Kurz, die Andromede würkte so außerordentlich auf sie, daß Euripides selbst gestand, noch niemals des Schauspiels einer so vollkommnen Empfindsamkeit genoßen zu haben.

24. Wir bitten — in Parenthesi — die empfindsamen Damen und Herren, Frauen-

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zimmerchen und Jüngelchen unsrer vor lauter Empfindsamkeit höchst unempfindsamen Zeit sehr um Verzeyhung! — aber es war in der That unsre Meynung nicht, durch diesen Zug der außerordentlichen E m p f i n d s a m k e i t der Abderiten — I h n e n einen Stich zu geben — und gleichsam dadurch einigen Zweifel gegen Dero g u t e n V e r s t a n d in Ihnen selbst oder andern Leuten zu erwecken. — In ganzem Ernst, wir erzählen die Sache bloß wie sie sich zutrug; und wem eine so große Empfindsamkeit an A b d e r i t e n befremdlich vorkommt, den ersuchen wir höflichst — zu bedenken, daß sie, bey aller ihrer A b d e r i t h e i t , am Ende doch Menschen waren, wie andre; ja, in gewissem Sinn, nur desto mehr Menschen — je mehr Abderiten sie waren.

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Denn gerade ihre Abderitheit machte, daß es eben so leicht war sie zu betrügen, als die Vögel, die in die gemahlten Trauben des Zeuxes hineinpikten; und daß sie sich jedem Eindruck, besonders den Illusionen der Kunst, viel ungewahrsamer und treuherziger überließen als feinere und kältere, folglich auch gescheidtere Leute zu thun pflegen, die man so leicht nicht verhindern kann, durch jeden Zauberdunst, den man um sie her macht, hindurch zusehen. — Übrigens macht der Verfasser dieser Geschichte hier die Anmerkung: die große Disposition der Abderiten, sich von den Künsten der Einbildungskraft und der Nachahmung täuschen zu lassen, sey eben nicht das, was er am wenigsten an ihnen liebe. Er mag aber wohl dazu seine besondern Ursachen gehabt haben. In der That haben Dichter, Tonkünstler, Mahler, einem aufgeklärten und

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verfeinerten Publico gegenüber, schlimmes Spiel; und just die e i n g e b i l d e t e n Kenner, die unter einem solchen Publico immer den größten Haufen ausmachen, sind am schwersten zu befriedigen. Anstatt der Einwürkung still zu halten, thut man alles, was man kann, um sie zu verhindern; anstatt zu geniessen was da ist, raisonniert man darüber was da seyn könnte; anstatt sich zur Illusion zu bequemen, *) wo die Vernichtung des Zaubers zu nichts dienen kann, als uns eines Vergnügens zu berauben, setzt man, ich weiß nicht welche, kindische Ehre darinn den Philosophen zur Unzeit zu machen; zwingt sich zu lachen, wo Leute die sich ihrem natürlichen Gefühl überlassen — Thränen im 10

Auge haben, und wo diese lachen, die Nase aufzurümpfen, um sich das Ansehen zu geben, als ob man zu stark oder zu fein oder zu gelehrt sey, um sich v o n s o w a s aus seinem Gleichgewicht setzen zu lassen. — Aber auch die würklichen Kenner verkümmern sich selbst den Genuß, den sie von tausend Dingen, die i n i h r e r A r t gut sind, haben könnten, durch V e r g l e i c h u n g e n derselben mit Dingen anderer Art; Vergleichungen, die meistens ungerecht, und immer wider unsern eignen Vortheil sind. Denn was unsre Eitelkeit dabey gewinnt, ein Vergnügen zu verachten, ist doch immer nur ein Schatten, nach dem wir schnappen, indem uns das Würkliche entgeht. Wir finden daher, daß es allezeit unter noch rohen Menschen war, wo die

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Söhne des Musengottes jene großen Wunder thaten, wovon man noch immer spricht, ohne recht zu wissen was man sagt. Die Wälder in Thrazien tanzten zur Leyer des O r p h e u s , und die wilden Thiere schmiegten sich zu seinen Füßen, nicht weil Er — ein H a l b g o t t war, sondern weil die Thrazier — B ä r e n waren; nicht, weil er übermenschlich s a n g , sondern weil seine Zuhörer wie bloße Naturmenschen h ö r t e n ; kurz, aus eben dem Grunde, warum (nach Forsters Bericht) eine Schottische Sackpfeiffe die guten Seelen von T a h i t i in Entzücken setzte. Die Anwendung dieser nicht sehr neuen, aber sehr praktischen Bemerkung, die man so oft gehört hat und doch fast immer aus der Acht läßt, wird

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der geneigte Leser selbst machen, wenn’s ihm beliebt. Unser Gewissen mag uns sagen, ob und in wie fern wir in andern Dingen, mehr oder weniger, *)

Es versteht sich von selbst, daß der Dichter das seinige gethan haben muß, um die Illusion zu

bewürcken und zu unterhalten; denn sonst hat er freylich kein Recht, von uns zu verlangen, daß wir, ihm zu gefallen, thun sollen, als ob wir sähen, was er uns nicht zeigt, fühlten, was er uns nicht fühlen macht, u. s. w.

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Thrazier und Abderiten sind: aber wenn wir’s in diesem einzigen Puncte wären, so möcht’ es nur desto besser für uns — und freylich auch für den größten Theil unsrer Poetischen Sackpfeiffer, seyn.

25. Als der Vorhang gefallen war, sahen die Abderiten noch immer mit ofnem Aug und Munde nach dem Schauplaz hin, und so groß war ihre Verzückung, daß sie nicht nur ihrer gewöhnlichen Frage w i e h a t i h n e n d a s S t ü c k g e f a l l e n ? vergassen; sondern sogar des Klatschens vergessen haben würden, wenn Salabanda und Onolaus, die bey der allgemeinen Stille am ersten wieder zu sich selbst kamen, nicht eilends diesem Mangel abgeholfen, und dadurch ihren

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Mitbürgern die Beschämung erspart hätten, gerade zum erstenmale, wo sie würklich Ursache dazu hatten, nicht geklatscht zu haben. Aber dafür brachten sie auch das Versäumte mit Wucher ein. Denn sobald der Anfang gemacht war, wurde nun so laut und so lange geklatscht, bis kein Mensch mehr seine Hände fühlte. Diejenigen, die nicht mehr konnten, pausierten einen Augenblick, und fiengen dann wieder desto stärcker an, bis sie von andern, die inzwischen ausgeruht, wieder abgelößt wurden. Es blieb nicht bey diesem lärmenden Ausbruch ihres Beyfalls. Die guten Abderiten waren so voll von dem was sie gehört und gesehen hatten, daß sie sich genöthiget fanden, ihrer Repletion noch auf andre Weise Luft zu machen. Verschiedene blieben im Nach-

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hausegehen auf öffentlicher Straße stehen, und declamierten überlaut die Stellen des Stücks, wovon sie am stärksten gerührt worden waren. Andre, bey denen die Leidenschaft so hoch gestiegen war, daß sie singen mußten, fiengen zu singen an, und wiederhohlten, wohl oder übel, was sie von den schönsten Arien im Gedächtniß behalten hatten. Unvermerkt wurde, wie es bey solchen Gelegenheiten zu gehen pflegt, der Paroxysmus allgemein; eine Fee schien ihren Stab über Abdera ausgereckt und alle seine Einwohner in Komödianten und Sänger verwandelt zu haben. Alles was Odem hatte, sprach, sang, trallerte, leyerte und pfiff, wachend und schlafend, viele Tage lang nichts als Stellen aus der Andromede des Euripides. Wo man hin kam hörte man die große Arie — o D u d e r G ö t t e r u n d d e r M e n s c h e n H e r r s c h e r A m o r u . s . w . und sie wurde so lange gesungen, bis von der ursprünglichen Melodie

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gar nichts mehr übrig war, und die Handwerksbursche, zu denen sie endlich herabsank, sie bey Nacht auf der Straße nach eigner Melodie abbrüllten.

26. Wenn der Rath nicht (wie so viele andre, die uns von den Weisen gegeben werden) den einzigen Fehler hätte — daß er nicht praktikabel ist, so würden wir eilen was wir könnten, allen Menschen den Rath zu geben, n i e m a l s v o n irgend einer Begebenheit, die ihnen erzählt wird, ein Wort zu g l a u b e n . Denn unzählige Erfahrungen, die wir hierüber seit mehr als dreyßig Jahren gemacht, haben uns überzeugt, daß an allen solchen Erzählungen 10

ordentlicher Weise kein Wort w a h r ist; und wir wüßten uns in ganzem Ernst nicht eines einzigen Falles zu besinnen, wo eine Sache, wiewohl sie sich erst vor wenigen Stunden zugetragen, nicht von jedem, der sie erzählte, anders, und also (weil doch ein Ding nur auf Eine Art wahr ist) von jedem falsch erzählt worden wäre. Da es diese Bewandniß mit Dingen hat, die zu unsrer Zeit, an dem Ort unsers Auffenthalts und beynahe vor unsern sichtlichen Augen geschehen: so kann man leicht ermessen, wie es um die historische Treue und Zuverläßigkeit solcher Begebenheiten stehen müsse, die sich vor langer Zeit zugetragen haben, und für die wir keine andre Gewähr haben, als was uns davon in ge-

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schriebenen oder gedruckten Büchern weißgemacht wird. Weiß der liebe Gott, wie sie da der armen ehrlichen Wahrheit mitspielen, und was von ihr übrig bleiben kann, wenn sie ein paar tausend Jahre lang durch alle die verfälschenden Media von Traditionen, Chroniken, Jahrbüchern, pragmatischen Geschichten, kurzen Inbegriffen, historischen Wörterbüchern, Anekdotensammlungen u. s. w. und durch so manche gewaschne oder ungewaschne Hände von Schreibern und Abschreibern, Setzern und Übersetzern, Censoren und Correctoren, etc. durchgebeutelt, geseigt und gepreßt worden ist! Ich meines Orts bin durch die genauere Betrachtung dieser Umstände schon lange bewogen worden, ein Gelübde zu thun, keine andre Geschichte zu schreiben, als

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von Personen, an deren Existenz, und von Begebenheiten, an deren Zuverläßigkeit keinem Menschen in der Welt gelegen seyn kann. Was mich zu dieser kleinen Expectoration veranlaßt, ist gerade die Bege-

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benheit, die wir vor uns haben, und die von den verschiedenen Schriftstellern, welche ihrer Erwähnung thun, so seltsam behandelt und mißhandelt worden ist, als ein gutherziger nichts Arges wähnender Leser sichs kaum vorstellen kann. Da ist nun, zum Exempel, dieser Y o r i k , dieser Erfinder, Vater, Protoplastus und Prototypus aller empfindsamen Reisen und empfindelnden Wandersleute, die ohne Beutel und Tasche, ja größtentheils ohne nur ein Paar Schuhsolen darüber abgenutzt zu haben, empfindsame Reisen, wer weiß wohin, bloß in der Absicht gethan haben, mit deren Beschreibung ihre — Bierund Tabaks-Rechnung zu saldieren, — ich sage, da ist nun dieser Y o r i k , der

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um ein hübsches Capitelchen in sein berüchtigtes Sentimental Journey daraus zu machen, diese nehmliche Begebenheit so accomodiert hat, daß sie zwar so wunderbar und abentheuerlich als ein Feenmährchen worden ist, aber auch darüber alle ihre individuelle Wahrheit, und sogar alle Abderitische Familienähnlichkeit verlohren hat. Man höre nur an! — „Die Stadt Abdera (sagt er) war die s c h ä n d l i c h s t e und g o t t l o s e s t e Stadt in ganz Thrazien — wimmelte und brudelte von Giftmischerey, Verschwörungen, Meuchelmord — Schmähschriften, Pasquillen und Tumult — bey hellem Tag war man seines Lebens nicht sicher; bey Nacht wars noch ärger. Nun begab sichs (fährt er fort) als der Gräuel aufs höchste

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gestiegen war, daß man zu Abdera die Andromeda des Euripides vorstellte. Sie gefiel allen Zuschauern; aber von allen Stellen, die dem Volke gefielen, würkten keine stärker auf seine Imagination als die zärtlichen Naturzüge, die der Dichter in die rührende Rede des Perseus verwebt hatte — O du, der Götter und der Menschen Herrscher, Amor.

Alle Welt sprach den folgenden Tag in Jamben und von nichts als der rührenden Anrede des Perseus — O Amor, du der Götter und der Menschen Herrscher! *) — In jeder Gasse von Abdera, in jedem Hause, O A m o r , O A m o r ! — In jedem Munde u. s. w. nichts als: O du, der Götter und der Menschen Herr-

*)

Aufrichtig zu reden, dieser Vers ist der einzige r ü h r e n d e in dem ganzen Fragment der

Rede des Perseus, das zufälliger Weise noch vorhanden ist, wie unsre des Griechischen kundige Leser selbst urtheilen mögen — denn so lauten die Worte:

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scher, Amor! Das Feuer griff um sich, und die ganze Stadt, gleich dem Herzen eines einzigen Mannes, öfnete sich der Liebe. Kein Drogist konnte einen Scrupel Niesewurz los werden — Kein Waffenschmid hatte das Herz ein einziges Werkzeug des Todes zu schmieden — F r e u n d s c h a f t u n d T u g e n d begegneten sich auf den Gassen — das goldne Alter kehrte zurück und schwebte über der Stadt Abdera. Jeder Abderit nahm sein Haberrohr, und jede Abderitin verlies ihr Purpurgewebe, und setzte sich keusch und horchte auf den Gesang“ — In der That ein hübsches Capitelchen! Alle jungen Knaben und Maidel fanden es d e l i z i ö s — „ O A m o r , A m o r ! D e r G ö t t e r u n d d e r 10

M e n s c h e n H e r r s c h e r , A m o r ! “ — und daß ein einziger Vers aus dem Euripides — ein Vers, wie wahrlich, bey beyden Ohren des Königs Midas! der geringste unter euern Haberrohrsängern sich alle Augenblicke zwanzig auf Einem Beine zu machen getrauen kann — ein Wunder gewürkt haben soll, das alle Priester, Propheten und Weisen der ganzen Welt, mit gesammter Hand, nicht im Stande gewesen sind nur ein einzigesmal zu bewürken — das Wunder, eine so schändliche, heillose und Gottesvergessene Stadt und Republik, wie Abdera gewesen seyn soll, auf einmal in ein unschuldiges, Liebevolles Arkadien zu verwandeln — Das gefällt freylich den Gauchhaarigten, empfindsamen, geelschnäblichten Turteltäubchen und Turteltaubern! Nur Schade, wie

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gesagt, daß am ganzen Histörchen, so wie es Bruder Yorik erzählt, kein wahres Wort ist. Das ganze Geheimniß ist, der wunderliche Mensch war v e r l i e b t , als er sich das alles einbildete; und so schrieb er (wie es jedem ehrlichen Amoroso und Virtuoso, Steckenpferdler und Mondritter zu gehen pflegt) alles, was er sich einbildete, für Wahrheit hin. — Nur ists nicht hübsch an ihm, daß er, um seinem Leibgötzen und Fetisch, Amor, ein desto größeres Kompliment zu machen, den armen Abderiten das Ärgste nachsagt, was sich von Menschen denken und sagen läßt. Aber das ganze Griechische und Römische Alterthum soll auftreten und zeugen, ob jemals so etwas auf die guten Leute gebracht

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worden sey? Sie hatten freylich, wie man weiß, ihre Launen und Mucken, und was man, im eigentlichen Verstand, Klugheit und Weisheit nennt, war nie ihre AllÆ v Ä tyranne Uevn te kÆanurvpvn, Ervw, H mh didaske ta kaka Faineuai kala, H toiw ervsin, v Ä n sy dhmioyrgow ei, Moxuoysi moxuoyw eytyxv Ä w synekponei, k. t. l.

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Sache gewesen; aber ihre Stadt deswegen zu einer Mördergrube zu machen, das geht ein wenig über die Grenzen der berüchtigten Dichterfreyheit, die, so einen großen Tummelplatz man ihr auch immer zugestehen will, doch am Ende, wie alle andere Dinge in der Welt, ihre Grenzen haben muß. L u c i a n v o n S a m o s a t a , im Eingang seines berühmten Büchleins, w i e m a n d i e G e s c h i c h t e s c h r e i b e n m ü ß t e — wenn man könnte, erzählt die Sache ganz anders, wiewohl, mit seiner Erlaubniß, nicht viel richtiger als Yorik. Er muß, wie es scheint, etwas vom König Archelaus und von der Andromeda des Euripides und von der seltsamen Schwärmerey, die sich der Abderiten bey diesem Anlaß bemächtigte, gehört haben, und daß man zuletzt

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genöthiget war den Hippokrates zu Hülfe zu ruffen, damit er alles zu Abdera wieder ins alte Gleis setzen möchte — und nun sehe man einmal, wie der Mann das alles durcheinander wirft! — „Der Komödiant A r c h e l a u s (der damals soviel war, als wenn man bey uns B r o k m a n n , oder, ne vous deplaise, der t e u t s c h e G a r r i k sagt) dieser Archelaus kam in den Tagen des Königs Lysimachus nach Abdera, und gab die Andromeda des Euripides. Es war just ein außerordentlich heisser Sommertag. Die Sonne brannte den Abderiten auf ihre Köpfe, die wahrlich ohnehin schon warm genug waren; die ganze Stadt brachte ein starkes Fieber aus der Komödie nach Hause. Am siebenten Tage brach sich bey den Meisten die Krankheit entweder durch heftiges Nasen-

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bluten oder einen starken Schweiß: hingegen blieb ihnen eine seltsame Art von Zufall davon zurück. Denn wie das Fieber vorbey war, überfiel sie allesammt ein unwiderstehlicher Drang Tragische Verse zu declamiren. Sie sprachen in lauter Jamben, schrien, wo sie stunden und giengen, aus vollem Halse ganze Tiraden aus der Andromeda daher, sangen den Monologen des Perseus“ u. s. w. Lucian, nach seiner spöttischen Art, macht sich sehr lustig mit der Vorstellung, wie närrisch es ausgesehen haben müße, alle Straßen in Abdera von bleichen, entbauchten, und vom siebentägigen Fieber ausgemergelten Tragikern wimmeln zu sehn, die aus allen ihren Leibeskräften, „ d u a b e r , o d e r G ö t t e r u n d d e r M e n s c h e n H e r r s c h e r A m o r , “ u. s. w. gesungen; und er versichert, diese Epidemie habe so lange gedauert, bis der Winter und eine eingefallne große Kälte dem Unwesen endlich ein Ende gemacht. Man muß gestehen, Lucians Art den Hergang zu erzählen hat vor der Yorikischen vieles voraus: denn so seltsam dieses Abderitische Fieber scheinen mag, so werden doch alle Ärzte gestehen, daß es wenigstens möglich, und alle Dichter,

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daß es Charaktermäßig ist; und es gilt davon, was die Italiener zu sagen pflegen: se non `e vero, `e ben trovato. Wahr aber ists freylich nicht; wie schon aus dem einzigen Umstand erhellt, daß um die Zeit, da sich diese Begebenheit in Abdera zugetragen haben soll, eigentlich kein Abdera mehr war, weil die Abderiten schon einige Jahre zuvor ausgezogen waren, und ihre Stadt den Fröschen und Ratten überlassen hatten. Kurz, die Sache begab sich wie wir sie erzählt haben; und wenn man den Paroxysmus, der die Abderiten nach der Andromeda des Euripides überfiel, ein Fieber nennen will, so war es wenigstens von keiner andern Art als das Schauspielfieber, womit wir bis auf diesen 10

Tag manche Städte unsers werthen teutschen Vaterlandes behaftet sehen. Das Übel lag nicht sowohl im Blute, als in der Abderitheit der guten Leute überhaupt. Indessen ist es nicht zu leugnen, daß es bey einigen, bey denen es mehr Zunder und Nahrung als bey andern finden mochte, ernsthaft genug wurde, um des Arztes zu bedürfen — woraus dann vermuthlich in der Folge der Irthum Lucians entstanden seyn mag, die ganze Sache für eine Art von hitzigem Fieber zu halten. Zum Glücke befand sich Hippokrates noch in der Nähe; und da er die Natur der Abderiten schon ziemlich kennen gelernt hatte, so setzten e t l i c h e P f u n d e N i e s e w u r z alles in kurzem wieder in den alten Stand — d. i. die Abderiten hörten auf O d u , d e r G ö t t e r u n d d e r M e n s c h e n

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H e r r s c h e r , A m o r ! zu singen, und waren nun samt und sonders wieder so weise als zuvor. W. (Die Fortsetzung im künftigen Jahre.)

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Onoekiamaxia oder der Proceß um des Esels Schatten. Ein Anhang zur Geschichte der Abderiten.

Einleitung. Wir zweiffeln sehr, ob unter allen seltnen Rechtshändeln, die jemals in teutschen oder welschen Landen vor einem Gerichtshof entschieden, und von einem Samler gesammelt worden, sich einer findet, der an Merkwürdigkeit demjenigen gleich käme, dessen Geschichte wir unsern Lesern hier mitzutheilen gedenken. Wenigstens können wir ihnen garantiren, daß es ein ächter A b d e r i t i s c h e r P r o c e ß ist; wiewohl uns leid thut, hinzusetzen zu müssen:

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daß er vor vielen andern berühmten Fehden, die seit mehr als funfzehnhundert Jahren die werthe Christenheit erschüttert, und mehr als einmal in große Noth gebracht haben, den Vorzug hat: daß die Leute wenigstens doch w u ß t e n , w a s s i e w o l l t e n , und daß kein Mensch in ganz Abdera war, der von des Esels Schatten nicht einen eben so k l a r e n B e g r i f f gehabt hätte, als von seinem eignen. Vielleicht könnte sich jemand einbilden, als ob dieser Abderitische Proceß mit unserm Altteutschen u m d e s K a y s e r s B a r t (mit allem Respekt zu sagen) in einerley Kategorie gehöre. Aber man würde sich betrügen. Der Unterschied ist sehr groß; wiewohl wir weder Beruf noch Muße haben, solchen hier umständlich zu entwickeln. Der Proceß um des Kaysers Bart (um nur ein Wort davon zu sagen) schreibt sich aus Zeiten her, da die Kayser noch lange Bärte trugen, und deßwegen, wie es scheint, vielerley Anfechtungen auszustehen hatten. Allein, da sie sich für ihren Bart gegen alle und jede, die daran rupfen wollten, meistens ritterlich wehrten, und Manchem solcher Muthwillen sehr übel bekam: so wurd es in der Folge zum Sprichwort, von Leuten, die um eine Sache rechteten, die in keines von beyden Gewalt war, zu sagen: sie stritten um des Kaysers Bart, d. i. um etwas das einem dritten zugehört, der

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sich so leicht weder bereden noch zwingen lassen wird, es ihnen abzutreten. Hingegen bey dem Proceß um des Esels Schatten kam es lediglich auf eine subtile Rechtsfrage an, die der Areopagus zu Athen vermuthlich brevi manu mit der Schärfe des gemeinen Menschenverstandes entzweygeschnitten, und damit dem Handel auf der Stell’ ein Ende gemacht haben würde. Aber zu Abdera gieng man nicht so p r ä c i p i t a n t zu Wercke. Denn die Sykophanten dieser Republik waren große R e c h t s k ü n s t l e r , ihre Rathsherren (wie wir wissen) s e h r s u b t i l e K ö p f e , und überhaupt ihr J u s t i z w e s e n auf einen so scharfen Fuß gesezt, daß sie eher hundert Jahre processiert und zehn Fa10

milien darüber zu Grunde gerichtet hätten, als den rechtmäßigen Eigenthümer des hundertsten Theils eines Obolus zweifelhaft zu lassen. Ein Proceß um einen Eselsschatten scheint freylich Leuten, die nach dem ersten flüchtigen Anblick zu urtheilen gewohnt sind, ein unbedeutender Handel; und wir müssen gestehen, seitdem die Familie der Esel von dem Ansehen, worinn sie in den Patriarchalischen und Homerischen Zeiten gestanden, so weit herunter gekommen ist, daß der schlechteste Mensch, durch Voraussetzung der mindesten Verwandschaft mit derselben, sich beleidigt findet: seitdem würd’ es schwer seyn, zu sagen, was geringfügiger wäre, als ein Esel, wenn es nicht — der Schatten eines Esels ist. Eines Esels Schatten! Es ist bey-

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nahe noch weniger — als der berühmte und so oft kopierte T r a u m s c h a t t e n des hohen Pindars. Und gleichwohl veranlaßte ein so nichtswürdiges Ding, ein Ding das man, Realistice zu reden, kaum ein Ding nennen kann, so große Bewegungen in dem gemeinen Wesen von Abdera! — O du kurzsinniges, ewigkindisches Menschengeschlecht! Möchte doch des E s e l s S c h a t t e n so glücklich seyn, bewürken zu können, was weder Plato noch Euripides, weder Theologische noch Kosmologische Gründe, weder Swifts Lilliputt noch Voltairens Mikromegas — noch eine Erfahrung von mehr als fünftausend Jahren bewürken konnten; möcht’ er so glücklich seyn, dich endlich einmal zu überführen: daß nichts groß und nichts klein ist — oder vielmehr: daß es nur auf die Um-

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stände ankömmt, damit eine sehr große Sache Nichts, und eine armselige Kleinigkeit Alles sey! Aber wozu eine moralisirende Vorrede vor eine Geschichte, die an sich selbst und in allen ihren Theilen, bis auf die kleinsten Fäserchen und ersten Elemente, l a u t e r M o r a l ist? — Zur Sache!

Onoe kiamaxia. Einleitung

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1. Veranlassung des Prozesses, und Facti Species. Der P e r i o d u s f a t a l i s der Stadt Abdera schien endlich gekommen zu seyn. Kaum hatten sie sich von dem wunderbaren Theaterfieber, womit sie des ehrlichen, arglosen Euripides G ö t t e r u n d M e n s c h e n - H e r r s c h e r A m o r heimgesucht hatte, wieder ein wenig erhohlt; kaum sprachen die Bürger wieder in Prosa mit einander auf den Strassen; kaum verkauften die Drogisten wieder ihre Nießewurz, schmideten die Waffenschmidte ihre Rappiere und Transchiermesser, machten sich die Abderitinnen wieder keusch und emsig an ihr Purpurgewebe, und warfen die Abderiten ihr leidiges Haberrohr weg,

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um ihren respektiven Berufarbeiten wieder mit ihrem gewöhnlichen guten Verstand obzuliegen: als die Schicksalsgöttinnen ganz in geheim aus dem schaalsten, dünnsten, unhaltbarsten Stoff, der jemals von Göttern oder Menschen versponnen worden ist, ein so verworrenes Gespinnste von Abentheuern, Händeln, Verbitterungen, Verhetzungen, Kabalen, Partheyen, und anderm Unrath herauszogen, daß endlich ganz Abdera davon umwickelt und umsponnen wurde, und, da das heillose Zeug durch die unbesonnene Hitze der Helfer und Helfershelfer in Flammen gerieth, diese berühmte Stadt darüber beynahe, und vielleicht gänzlich, zu Grunde gegangen wäre, wofern sie, nach des Schicksals Schluß, durch eine geringere Ursache als — Frösche und

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Ratten hätte vertilgt werden können. Die Sache fieng sich (wie alle große Weltbegebenheiten) mit einer sehr geringfügigen Veranlaßung an. Ein gewisser Zahnarzt, nahmens Struthion, von Geburt und Voreltern aus Megara gebürtig, hatte sich schon seit vielen Jahren in Abdera häuslich niedergelassen; und weil er vielleicht im ganzen Lande der einzige von seiner Profession war: so erstreckte sich seine Kundschaft über einen ansehnlichen Theil des mittäglichen Thrazien. Seine gewöhnliche Weise, denselben in Kontribution zu setzen, war, daß er die Jahrmärkte aller kleinen Städte und Flecken auf mehr als dreissig Meilen in der Runde bereisete; wo er, neben seinem Zahnpulver und Zahntincturen, gelegenheitlich auch seine Arkana wider Milz und Mutterbeschwerungen, Engbrüstigkeit, böse Flüsse u. s. w. mit gutem Erfolg geltend zu machen wußte. Er hatte zu diesem

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Ende eine eigene Eselin im Stalle, die bey solchen Gelegenheiten zugleich mit seiner eignen kurzdicken Person, und mit einem großen Qversack voll Arzneyen und Victualien beladen wurde. Nun begab sichs einsmals, da er den Jahrmarkt zu Geranium besuchen sollte, daß seine Eselin Abends zuvor ein Füllen geworfen hatte, folglich nicht im Stande war, die Reise mitzumachen. Struthion miethete sich also einen andern Esel, bis zum Ort wo er sein erstes Nachtlager nehmen wollte, und der Eigenthümer begleitete ihn zu Fuß, um das lastbare Thier zu besorgen, und wieder nach Hause zu reiten. Der Weg gieng über eine große Haide. Es war mitten im Sommer, und die Hitze diesen 10

Tag sehr groß. Der Zahnarzt, dem sie unerträglich zu werden anfieng, sah sich lechzend nach einem Schattenplaz um, wo er einen Augenblick absteigen und etwas frische Luft schöpfen könnte. Aber da war weit und breit weder Baum noch Staude, noch irgend ein andrer schattengebender Gegenstand zu sehen. Endlich, als er seinem Leibe keinen Rath wußte, machte er Halt, stieg ab, und setzte sich in den Schatten des Esels. Nu, Herr, was macht ihr da, sagte der Eseltreiber, was soll das? — Ich setze mich ein wenig in den Schatten, versetzte Struthion, denn die Sonne giebt mir ganz unleidlich auf den Schädel. — Nä, mein guter Herr, erwiederte der andre, so haben wir nicht gehandelt! Ich vermiethete euch den Esel, aber des Schattens wurde mit keinem Wort dabey

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gedacht. — I, sagte der Zahnarzt lachend, der Schatten geht mit dem Esel, das versteht sich. — Ey, beym Jason! Das versteht sich nicht, rief der Eselmann ganz trotzig; ein anders ist der Esel, ein anders ist des Esels Schatten. Ihr habt mir den Esel um so und so viel abgemiethet; hättet ihr den Schatten auch dazu miethen wollen, so hättet ihrs sagen müssen. Mit einem Wort, Herr, steht auf, und sezt eure Reise fort, oder bezahlt mir für des Esels Schatten, was billig ist. Was, schrie der Zahnarzt, ich habe für den Esel bezahlt, und soll izt auch noch für seinen Schatten bezahlen? Nennt mich selbst einen dreygedoppelten Esel, wenn ich das thue! Der Esel ist einmal für diesen ganzen Tag mein, und ich will mich in seinen Schatten setzen, so oft mirs beliebt, und so lange darinn

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sitzen bleiben, als mirs beliebt, darauf könnt ihr euch verlassen. — Ist das im Ernst eure Meynung, fragte der andre mit der ganzen Kaltblütigkeit eines thrazischen Eseltreibers. — In ganzem Ernste, versetzte Struthion — So komm der Herr nur gleich stehenden Fußes wieder zurück nach Abdera vor die Obrigkeit, sagte jener, da wollen wir sehen, wer von uns beyden Recht behalten wird. So wahr Priapus mir und meinem Esel gnädig sey, ich will sehen, wer

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mir den Schatten meines Esels wider meinen Willen abtrotzen soll! — Der Zahnarzt hatte große Lust, den Eseltreiber durch die Stärke seines Arms zur Gebühr zu weisen. Schon ballte er seine Faust zusammen, schon hob sich sein kurzer Arm: aber als er seinen Mann genauer betrachtete, fand er für besser, ihn — allmählig wieder sinken zu lassen, und es noch einmal mit gelindern Vorstellungen zu versuchen. Aber er verlohr seinen Athem dabey. Der ungeschlachte Mensch bestand darauf, daß er für den Schatten seines Esels bezahlt seyn wollte; und da Struthion eben so hartnäckig dabey blieb, nichts bezahlen zu wollen: so war zulezt kein andrer Weg übrig, als nach Abdera zurückzukehren, und die Sache bey dem Stadtrichter anhängig zu machen.

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2. Verhandlung vor dem Stadtrichter Philippides. Der Stadtrichter P h i l i p p i d e s , vor den alle Händel dieser Art in erster Instanz gebracht werden mußten, war ein Mann von vielen guten Eigenschaften; ein ehrbarer, nüchterner, seinem Amte fleissig vorstehender Mann, der jedermann mit großer Geduld anhörte, den Leuten freundlichen Bescheid gab, und in dem allgemeinen Ruf stund, daß er unbestechlich sey. Überdies war er ein guter Musikus, sammelte Naturalien, hatte in seinen jüngern Jahren einige Schauspiele gemacht, die, nach Gewohnheit der Stadt, s e h r w o h l gefallen hatten, und war so viel als gewiß, beym ersten Erledigungsfalle Nomo-

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phylax zu werden. Zu allen diesen Verdiensten hatte der gute Philippides nur einen einzigen kleinen Fehler, und das war: daß so oft zwo Partheyen vor ihn kamen, ihm allemal derjenige Recht zu haben schien, der zulezt gesprochen hatte. Die Abderiten waren so dumm nicht, daß sie das nicht gemerkt hätten; aber sie glaubten, daß man einem Manne, der so viele gute Eigenschaften besitze, e i n e n e i n z i g e n F e h l e r leicht zu gut halten könne. Ja, sagten sie, wenn Philippides d i e s e n Fehler nicht hätte, er wäre der beste Stadtrichter, den Abdera jemals gesehen hat. — Indessen hatte doch der Umstand, daß dem ehrlichen Manne immer beyde Partheyen recht zu haben schienen, natürlicher Weise die gute Folge, daß er nichts angelegners hatte, als die Händel, die vor ihn gebracht wurden, in Güte auszumachen; und so würde die Blödigkeit

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des guten Philippides ein wahrer Seegen für Abdera gewesen seyn, wenn die Wachsamkeit der Sykophanten, denen mit seiner Friedfertigkeit übel gedient war, nicht Mittel gefunden hätte, ihre Würkung fast in allen Fällen zu vereiteln. Der Zahnarzt Struthion und der Eseltreiber Anthrax kamen also brennend vor diesen würdigen Stadtrichter gelauffen, und brachten beyde zugleich mit großem Geschrey ihre Klage vor. Er hörte sie mit seiner gewöhnlichen Langmuth an; und, da sie endlich fertig oder des Schreyens müde waren, zuckte er die Achseln, und der Handel däuchte ihm einer der verworrensten, die ihm 10

jemals vorgekommen. Und wer von euch beyden ist denn eigentlich der Kläger, fragte er? I c h klage gegen den Eselmann, antwortete Struthion, daß er unsern Kontract gebrochen hat. Und ich, sagte dieser, klage gegen den Zahnarzt, daß er sich ohnentgeltlich einer Sache angemaßt hat, die ich ihm nicht vermiethet hatte. Da haben wir zween Kläger, sagte der Stadtrichter, und wo ist der Beklagte? Ein wunderlicher Handel! Erzählt mir die Sache noch einmal mit allen Umständen; aber einer nach dem andern: denn es ist unmöglich klug daraus zu werden, wenn beyde zugleich schreyen. — Hochgeachter Herr Stadtrichter, sagte der Zahnarzt, ich habe ihm den Gebrauch des Esels auf einen Tag abgemiethet. Es ist wahr, des Esels Schatten wurde dabey nicht

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erwähnt. Aber wer hat auch jemals erhört, daß bey einer solchen Miethe, eine Klausel wegen des Schattens wäre eingeschaltet worden? Es ist ja, beym Herkules, nicht der erste Esel, der zu Abdera vermiethet wird — Da hat der Herr Recht, sagte der Richter — der Esel und sein Schatten gehen mit einander (fuhr Struthion fort) und warum sollte der, der den Esel selbst gemiethet hat, nicht auch den Nießbrauch seines Schattens haben? — Der Schatten ist ein Accessorium, das ist klar, versetzte der Stadtrichter — Gestrenger Herr, schrie der Eseltreiber, ich bin nur ein gemeiner Mann, und verstehe nichts von euren Ariums und Oriums. Aber das geben mir meine vier Sinne, daß ich nicht schuldig bin, meinen Esel umsonst in der Sonne stehen zu lassen, damit sich

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ein andrer in seinen Schatten setze. Ich habe dem Herrn den Esel vermiethet, und er hat mir die Hälfte voraus bezahlt; das gesteh ich: aber ein anders ist der Esel, ein anders ist sein Schatten — Auch wahr, murmelte der Stadtrichter — Will er diesen haben, so mag er halb so viel dafür bezahlen, als für den Esel selbst, denn ich verlange nichts als was billig ist, und ich bitte, mir zu meinem Rechte zu verhelfen. — Das Beste, was ihr hierbey thun könnt, sagte Philip-

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pides, ist, euch in Güte von einander abzufinden. Ihr, ehrlicher Mann, laßt immerhin des Esels Schatten, weils doch nur ein Schatten ist, mit in die Miethe gehen: und ihr, Herr Struthion, gebt ihm eine halbe Drachme dafür, daß sein Esel indessen in der Sonne stehen mußte: so können beyde Theile zufrieden seyn. — Ich gebe nicht den vierten Theil von einem Blaffert, schrie der Zahnarzt, ich verlange mein Recht! — Und ich, schrie sein Gegenpart, besteh auf dem meinigen. Wenn der Esel mein ist, so ist der Schatten auch mein, und ich kann damit als mit meinem Eigenthum schalten und walten; und weil der Mann da nichts von Recht und Billigkeit hören will: so verlang ich izt das Doppelte, und will sehen, ob noch Justiz in Abdera ist!

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Der Richter war in großer Verlegenheit. Wo ist denn der Esel, fragte er endlich, da ihm in der Angst nichts anders einfallen wollte um etwas Zeit zu gewinnen. — Der steht unten auf der Gasse vor der Thüre. — Führt ihn in den Hof herein, sagte Philippides. Der Eigenthümer des Esels gehorchte mit Freuden, denn er hielt es für ein gutes Zeichen, daß der Richter die Hauptperson im Spiele sehen wollte. Der Esel wurde herbeygeführt. Schade, daß er seine Meynung nicht auch zu der Sache sagen konnte! Aber er stund ganz gelassen da, schaute mit gereckten Ohren erst den beyden Herren, dann seinem Meister ins Gesichte, verzog das Maul, ließ die Ohren wieder sinken, und — sagte kein Wort. Da seht nun selbst, gnädger Herr Stadtrichter, rief Anthrax, ob der

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Schatten eines so schönen, stattlichen Esels nicht seine zwoo Drachmen unter Brüdern werth ist, zumal an einem so heissen Tag, wie der heutige? — Der Stadtrichter versuchte die Güte noch einmal, und die Partheyen fiengen schon an es allmählig näher zu geben: als unglücklicher Weise, P h y s i g n a t h u s und P o l y p h o n u s , zween von den nahmhaftesten Sykophanten in Abdera, dazu kamen, und, nachdem sie gehört, wovon die Rede war, der Sache auf einmal eine andere Wendung gaben. Herr Struthion hat das Recht völlig auf seiner Seite, sagte P h y s i g n a t h u s , der den Zahnarzt für einen wohlhabenden und dabey sehr hitzigen und eigensinnigen Mann kannte. Der andre Sykophant, wiewohl ein wenig verdrießlich, daß ihm sein Handwerksgenosse so eilfertig zuvorgekommen war, warf einen Seitenblick auf den Esel, der ihm ein hübsches wohlgenährtes Thier zu seyn schien, und erklärte sich sogleich mit dem grösten Nachdruck für den Eseltreiber. Beyde Partheyen wollten nun kein Wort mehr vom Vergleichen hören, und der ehrliche Philippides sah sich genöthigt ihnen einen Rechtstag anzusetzen. Sie begaben sich nun jeder mit

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seinen Sykophanten nach Hause; der Esel aber mit seinem Schatten, als dem Object des Rechtshandels, wurde bis zu Austrag der Sache in dem Marstall gemeiner Stadt Abdera abgeführt. (Die Fortsetzung künftig.) W.

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Der Proceß um des Esels Schatten. (Fortgesetzt von S. 31. No. 1.) 3. Wie die Partheyen sich höhern Orts um Unterstützung bewerben. Nach dem Stadtrecht der Abderiten wurden alle über Mein und Dein unter den gemeinen Bürgern entstandne Händel vor einem Gerichte von zwanzig Ehren-Männern abgethan, welche sich wöchentlich dreymal in der Vorhalle des Tempels der Nemesis versammelten. Alles wurde, aus billiger Rücksicht auf die Nahrung der Sykophanten, s c h r i f t l i c h vor diesem Gerichte verhan-

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delt; und weil der Gang der Abderitischen Justiz eine Art von Schnecken-Linie beschrieb, und sich auch mit der Geschwindigkeit der Schnecke fortbewegte; zumal die Sykophanten nicht eher zum Beschließen verbunden waren, bis sie nichts mehr zu sagen hatten: so währte das Libelliren gemeiniglich so lange, als es die Mittel der Partheyen wahrscheinlicherweise aushalten konnten. Allein diesesmal kamen so viele besondere Ursachen zusammen, der Sache einen schnellern Schwung zu geben, daß man sich nicht darüber zu verwundern hat, wenn der Prozeß über des Esels Schatten binnen weniger als vier Monaten schon soweit gediehen war, daß nun am nächsten Gerichtstage das Endurtheil erfolgen sollte. Ein Rechtshandel über eines Esels Schatten würde sonder Zweifel in jeder Stadt der Welt Aufsehen machen. Man denke also, was er in Abdera thun mußte? Kaum war das Gerüchte davon erschollen, als von Stund an alle andre Gegenstände der gesellschaftlichen Unterhaltung fielen, und jedermann mit eben so viel T h e i l n e h m u n g von diesem Handel sprach, als ob er ein großes dabey zu gewinnen oder zu verliehren hätte. Die einen erklärten sich für den Zahnarzt, die andern für den Eseltreiber; ja sogar der Esel selbst hatte seine Freunde, welche davor hielten, daß derselbe ganz wohl berechtigt wäre,

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i n t e r u e n i e n d o einzukommen, da er durch die Zumuthung, den Zahnarzt in seinem Schatten sitzen zu lassen und unterdessen in der brennenden Sonnenhitze zu stehen, offenbar am meisten p r ä g r a v i r t worden sey. Mit Einem Worte, der wohlbesagte Esel hatte seinen Schatten auf ganz Abdera geworfen, und die Sache wurde mit einer Lebhaftigkeit, einem Eyfer, einem Interesse getrieben, die kaum größer hätten seyn können, wenn das Heil gemeiner Stadt und Republik auf dem Spiele gestanden hätte. Wiewohl nun diese Verfahrungsweise überhaupt Niemanden, der die Abderiten aus der vorgehenden wahrhaften Geschichtsklitterung kennen ge10

lernt hat, befremden wird: so glauben wir doch denen Lesern, welche eine Geschichte nur alsdenn recht zu wissen glauben, wenn ihnen das Spiel der Räder und Triebfedern, mit dem ganzen Zusammenhang der Ursachen und Folgen einer Begebenheit aufgeschlossen wird — keinen unangenehmen Dienst zu erweisen, wenn wir ihnen etwas umständlicher erzählen: wie es zugegangen, daß dieser Handel, der in seinem Ursprung nur zwischen Leuten von geringer Erheblichkeit und über einen äusserst unerheblichen Gegenstand vorgewaltet, so großes Aufsehen gemacht, und zulezt die ganze Republik in seinen Strudel hineingezogen. Die sämmtliche Bürgerschaft in Abdera, war (wie von jeher die meisten

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Städte in der Welt) in Zünfte abgetheilt, und vermöge einer alten Observanz gehörte der Zahnarzt Struthion in die — Schusterzunft. Der Grund davon war, wie die Gründe der Abderiten immer zu seyn pflegten, mächtig — spitzfindig. In den ersten Zeiten der Republik hatte nehmlich diese Zunft bloß die Schuster und Schuhflicker in sich begriffen. Nachmals wurden alle Arten von F l i k k e r n mit dazu genommen; und so kam es, daß in der Folge die Wundärzte, als M e n s c h e n f l i c k e r , und somit, ob paritatem rationis, alle Arten von Ärzten zu dieser Zunft geschlagen wurden. Struthion hatte also (bloß die Ärzte ausgenommen, mit denen er immer stark über’n Fuß gespannt war) die ganze löbliche Schusterzunft, und besonders alle Schuhflicker auf seiner Seite, die

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(wie man sich noch erinnern wird) einen sehr ansehnlichen Theil der Bürgerschaft von Abdera ausmachten. Natürlicher weise wandte sich also der Zahnarzt vor allen andern sogleich an seinen Vorgesezten, den Zunftmeister Pfrieme, und dieser Mann, dessen patriotischer Eifer für die Constitution der Republik Niemanden unbekannt ist, erklärte sich sogleich mit seiner gewöhnlichen Hitze: daß er sich eher mit seinem eigenen Schusterahl erstechen, als

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geschehen lassen wollte, daß die Rechte und Freyheiten von Abdera in der Person eines seiner Zunftverwandten verlezt würden. B i l l i g k e i t , sagte er, i s t d a s h ö c h s t e R e c h t ; was kann aber billiger seyn, als daß derjenige, der einen Baum gepflanzet hat, wiewohl es dabey eigentlich auf die Früchte angesehen war, nebenher auch den Schatten des Baums genieße? Und warum soll das, was von einem Baum gilt, nicht eben so wohl von einem Esel gelten? Wo, zum Henker, soll es mit unsrer F r e y h e i t hinkommen, wenn einem zünftigen Bürger von Abdera nicht einmal frey stehen soll, sich in den Schatten eines Esels zu setzen? Gleich als ob ein Eselsschatten vornehmer wäre, als der Schatten des Rathhauses oder des Jasontempels, in den sich stellen, setzen und

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legen mag, wer da will. Schatten ist Schatten, er komme von einem Baum oder von einer Ehrensäule, von einem Esel, oder von Sr. Gnaden, dem Archon, selbst! Kurz und gut, sezte Meister Pfrieme hinzu, verlaßt euch auf mich, Herr Struthion; der Grobian soll euch nicht nur den Schatten, sondern, zu eurer gebührenden Saxfazion, den Esel noch oben drein lassen, oder es müßte weder Freyheit noch Eigenthum mehr in Abdera seyn; und dahin solls, beym Element! nicht kommen, so lang ich der Zunftmeister Pfrieme heisse! Während daß der Zahnarzt sich der Gunst eines so wichtigen Mannes versichert hatte, ließ es der Eseltreiber Anthrax seines Orts auch nicht fehlen, sich um einen Beschützer zu bewerben, der jenem wenigstens das Gleichge-

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wicht halten könnte. Anthrax war eigentlich kein Bürger von Abdera, sondern nur ein Freygelassener, der sich in dem Bezirk des Jasontempels aufhielt, und stand als ein Schutzverwandter desselben unter der unmittelbaren Gerichtsbarkeit des Erzpriesters dieses H e r o e n , der bekannter maßen zu Abdera göttlich verehrt wurde. Natürlicherweise war also sein erster Gedanke, wie er dazu gelangen könnte, daß der Erzpriester A g a t h y r s u s sich seiner mit Nachdruck annehmen möchte. Allein der Erzpriester Jasons war zu Abdera eine sehr große Person, und ein Eseltreiber konnte schwerlich hoffen, ohne einen besondern Kanal, den Zutritt zu einem Herrn von diesem Rang zu erhalten. Nach vielen Berathschlagungen mit seinen vertrautesten Freunden, wurde endlich folgender Weg beliebt. Seine Frau, Krobyle, war mit einer Putzmacherin bekannt, deren Bruder der begünstigte Liebhaber des Aufwartmädchens einer gewissen Milesischen Tänzerin war, welche, wie die Rede gieng, bey dem Erzpriester in großen Gnaden stund. Nicht als ob er etwan — wie es zu gehen pflegt — — sonderlich weil die Priester des Jasons unverheyrathet seyn

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mußten — kurz, wie die Welt argwöhnisch ist. — man sprach freylich allerley — Aber das Wahre von der Sache war: der Erzpriester Agathyrsus war ein großer Liebhaber von Pantomimischen Solotänzen; und weil er die Tänzerin, um kein Ärgerniß zu geben, nicht bey Tage zu sich kommen lassen wollte: so blieb ihm nichts anders übrig, als sie, mit der erforderlichen Vorsicht, bey Nacht, durch eine kleine Gartenthür, in sein Kabinet führen zu lassen. Da nun einst gewisse Leute eine dichtverschleyerte Person in der Morgendämmerung wieder herausgehen gesehen hatten: so war das Gemurmel entstanden, als ob es die Tänzerin gewesen sey, und als ob der Erzpriester eine besondere 10

Freundschaft auf diese junge Person geworfen habe; welche in der That fähig gewesen wäre, in jedem andern als einem Erzpriester noch etwas mehr zu erregen. — Wie nun dem auch seyn mochte, genug, der Eseltreiber sprach mit seiner Frau, Frau Krobyle mit der Putzmacherin, die Putzmacherin mit ihrem Bruder, der Bruder mit dem Aufwartmädchen; und weil nun das Aufwartmädchen alles über die Tänzerin vermochte, von welcher vorausgesetzt wurde, daß sie alles über den Priester vermöge, der Alles über die Proceres von Abdera und — ihre Weiber vermochte: so zweifelte Anthrax keinen Augenblick, seine Sache in die besten Hände von der Welt gelegt zu haben. Aber unglücklicherweise zeigte sichs, daß die Favoritin der Tänzerin ein Gelübde

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gethan hatte, ihre Allvermögenheit eben so wenig gratis auszuleyhen, als Anthrax den Schatten seines Esels. Sie hatte eine Art von Taxordnung, vermöge deren der geringste Dienst, den man von ihr verlangte, wenigstens eine Erkentlichkeit von vier Drachmen voraussetzte; und in gegenwärtigem Falle war ihr um so weniger zuzumuthen, auch nur eine halbe Drachme nachzulassen, da sie ihrer Schamhaftigkeit eine so große Gewalt anthun sollte, eine Sache zu empfehlen, worinn ein E s e l die Hauptfigur war. — Wenn es wenigstens nur eine Eselin gewesen wäre! — Kurz, die Iris bestand auf vier Drachmen, welches just doppelt soviel war, als der arme Teufel, im glücklichsten Falle, mit seinem Proceß zu gewinnen hatte. Er sah sich also wieder in der

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vorigen Verlegenheit. Denn wie konnte ein schlechter Eseltreiber hoffen, ohne eine haltbarere Stütze, als die Gerechtigkeit seiner Sache, gegen einen Gegner zu bestehen, der von einer ganzen Zunft unterstützt wurde, und sich überall rühmte, daß er den Sieg soviel als in Händen habe? Endlich besann sich der ehrliche Anthrax eines Mittels, wie er vielleicht den Erzpriester ohne Dazwischenkunft der Tänzerinn und ihres Aufwartmädchens auf seine Seite

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bringen könnte; und das Beste davon däuchte ihm, daß er es nicht weit zu suchen brauchte. Ohne Umschweiffe — er hatte eine Tochter, die, in Hofnung auf eine oder andre Weise beym Theater unterzukommen, ganz leidlich Singen und Citharspielen gelernt hatte. Das Mädchen war eben keine von den schönsten. Aber eine schlanke Figur, ein paar grosse schwarze Augen, und die frische Blume der Jugend ersetzten, seinen Gedanken nach, reichlich, was ihrem Gesicht abgieng; und würklich, wenn sie sich tüchtig gewaschen hatte, sah sie in ihrem Festtagsstaat, mit ihren langen pechschwarzen Haarzöpfen, und mit einem Blumenstraus vor dem Busen, so ziemlich dem w i l d e n T h r a z i s c h e n M ä d c h e n A n a k r e o n s ähnlich. Da sich nun bey näherer Erkun-

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digung fand, daß der Erzpriester Agathyrsus auch ein Liebhaber vom Citharspielen und von kleinen Liedern war, deren die junge Gorgo eine große Menge ganz angenehm zu singen wußte: so machten sich Anthrax und Krobyle große Hoffnung, durch das Talent und die Figur ihrer Tochter am kürzesten zu ihrem Zweck zu kommen. Anthrax wandte sich also an den Kammerdiener des Erzpriesters, und Krobyle unterrichtete inzwischen das Mädchen, wie sie sich zu betragen hätte, um, wo möglich, die Sängerin auszustechen, und von der kleinen Gartenthür allein Meister zu bleiben. Die Sache gieng nach Wunsch. Der Kammerdiener, der durch die Neigung seines Herrn zum N e u e n und M a n c h f a l t i g e n nicht selten ins Gedränge kam, ergriff diese gute

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Gelegenheit mit beyden Händen; und die junge Gorgo spielte ihre Rolle für eine Anfängerin meisterlich. Agathyrsus fand eine gewisse Mischung von Naivheit und Muthwillen und eine Art wilder Grazie bey ihr, die ihn reizte, weil sie ihm neu war — Kurz, sie hatte kaum zwey oder dreymal in seinem Cabinette gesungen, so erfuhr Anthrax schon von sichrer Hand, daß Agathyrsus seine gerechte Sache verschiednen Richtern empfohlen: und sich mit einigem Nachdruck habe verlauten lassen, wie er nicht gesonnen sey, auch den allergeringsten Schutzverwandten des Jasontempels ein Schlachtopfer der Schikanen des Sykophanten Physignathus, und der Partheylichkeit des Zunftmeisters Pfrieme werden zu lassen.

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4. Gerichtliche Verhandlung. Relation des Assessor M i l t i a s. Urthel, und was daraus erfolgt. Inzwischen war nun der Gerichtstag herbeygekommen, da dieser seltsame Handel durch Urthel und Recht entschieden werden sollte. Die Sykophanten hatten in Sachen beschlossen, und die Akten waren einem Referenten, Nahmens M i l t i a s , übergeben worden, gegen dessen Unpartheylichkeit die Mißgönner des Zahnarztes verschiedenes einzuwenden hatten. Denn es war nicht zu läugnen, daß er mit dem Sykophanten Physignatus sehr vertraut umgieng; 10

und überdies wurde ganz laut davon gesprochen, daß die D a m e S t r u t h i o n * ) (die für eine von den hübschen Weibern in ihrer Klasse passierte) ihm die gerechte Sache ihres Mannes zu verschiedenen Malen in eigner Person empfohlen habe. Allein, da diese Einwendungen auf keinem rechtsbeständigen Grunde beruhten, und der Turnus nun einmal an diesem Miltias war, so blieb es bey der Ordnung. Miltias trug die Geschichte des Streits so unbefangen, und beydes, sowohl Zweifels- als Entscheidungsgründe, so ausführlich vor, daß die Zuhörer lange nicht merkten, wo er eigentlich hinaus wolle. Er läugnete nicht, daß beyde Partheyen vieles für und wider sich hätten. Auf der einen Seite scheine nichts

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klärer, sagte er, als daß derjenige, der den Esel, als das Principale, gemiethet, auch das Accessorium, des Esels Schatten, stillschweigend mit einbedungen habe; oder, falls man auch keinen solchen stillschweigenden Vertrag zugeben wollte, daß der Schatten seinem Körper von selbst folge, und also demjenigen, der die Nutznießung des Esels an sich gebracht, auch der beliebige Gebrauch seines Schattens ohne weitere Beschwehrde zustehe; um so mehr, als dem Esel selbst dadurch an seinem Seyn und Wesen nicht das mindeste benommen werde. Hingegen scheine auf der andern Seite nicht weniger einleuchtend: daß, wiewohl der Schatten weder als ein wesentlicher noch ausserwesentli-

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Wir wissen wohl, daß dies nicht a ` la grecque gesprochen ist; aber die D a m e S t r u t h i o n

ist, wie F r a u D a m o n in unsern Komödien: und was liegt dem Leser daran, wie die Zahnärztin mit ihrem eignen Nahmen geheissen haben mag?

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cher Theil des Esels anzusehen sey, folglich von dem Abmiether des letztern keinesweges vermuthet werden könne, daß er jenen zugleich mit diesem stillschweigend habe miethen wollen; gleichwohlen, da besagter Schatten schlechterdings nicht für sich selbst, oder ohne besagten Esel, bestehen könne, und ein Esels-Schatten im Grunde nichts anders, als ein S c h a t t e n e s e l sey: der Eigenthümer des leibhaften Esels mit gutem Fug auch als Eigenthümer des von jenem ausgehenden Schattenesels betrachtet, folglich keineswegs angehalten werden könne, letztern ohnentgeltlich an den Abmiether des erstern zu überlassen, überdies, und wenn man auch zugeben wollte, daß der Schatten ein Accessorium des mehr eröfterten Esels sey, dem Abmiether doch dadurch

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noch kein Recht an denselben zuwachse, indem er durch den Miethcontract nicht j e d e n G e b r a u c h desselben, sondern nur denjenigen, ohne welchen die Absicht des Contracts, nehmlich seine vorhabende Reise, ohnmöglich erzielt werden könne, an sich gebracht habe. Allein (so fuhr Miltias in seinem Vortrag fort) da sich unter den Gesetzen der Stadt Abdera keines finde, worinn der vorliegende Fall klar und deutlich enthalten sey, und das Urtheil also lediglich aus der Natur der Sache gezogen werden müsse; so komme es hauptsächlich auf einen Punct an, der von den beyderseitigen Sykophanten aus der Acht gelassen oder wenigstens nur obenhin berührt worden; nehmlich auf die Frage: ob dasjenige, was man S c h a t t e n nenne, unter die g e m e i n e n D i n -

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g e , an welche jedermann gleiches Recht hat, oder unter die e i g e n t h ü m l i c h e n , zu welchen einzelne Personen ein ausschliessendes Recht haben oder erwerben können, zu zählen sey? Da nun, in Ermanglung eines positiven Gesetzes, die Übereinstimmung und allgemeine Gewohnheit des menschlichen Geschlechts, als ein wahres Orakel der Natur selbst, billig die Kraft eines positiven Gesetzes habe; vermöge dieser allgemeinen Gewohnheit aber die Schatten der Dinge, auch selbst dererjenigen, die nicht nur einzelnen Personen, sondern ganzen Gemeinheiten, ja den unsterblichen Göttern selbst eigenthümlich zugehören, bisher aller Orten einem jeden, wer er auch sey, frey, ungehindert und ohnentgeltlich zur Benutzung überlassen worden: so erhelle daraus, daß, ex Consensu et Consuetudine generis humani, besagte Schatten, eben so wie freye Luft, Wind und Wetter, fliessendes Wasser, Tag und Nacht, Mondschein, Dämmerung, u. dergl. mehr, unter die gemeinen Dinge zu rechnen seyen, deren Genuß jedem offen stehe, und auf welche, in so fern etwa besagter Genuß, unter gewissen Umständen, etwas Ausschliessendes bey sich

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führe, der erste, der sich ihrer bemächtige, ein momentanes Besitzrecht erhalten habe. — Diesen Satz (zu dessen Bestätigung der scharfsinnige Miltias eine Menge Inductionen vorbrachte, die wir unsern Lesern erlassen wollen) diesen Satz zum Grunde gelegt, könne er also nicht anders, als dahin stimmen: daß der Schatten aller Esel in Thrazien, folglich auch derjenige, der zu vorliegendem Rechtshandel unmittelbaren Anlas gegeben, eben so wenig einen Theil des Eigenthums einer einzelnen Person ausmachen könne, als der Schatten des Berges Athos oder des Stadthurms von Abdera; folglich mehrbesagter Schatten weder geerbt, noch gekauft, noch inter viuos oder mortis causa 10

geschenkt noch vermiethet noch auf irgend eine andre Art zum Gegenstand eines bürgerlichen Contracts gemacht werden könne: und daß also aus diesen und andern angeführten Gründen, in Sachen des Eseltreibers Anthrax, Klägern, an einem, entgegen und wider den Zahnarzt Struthio, Beklagten, am andern Theil, pcto. des von Beklagten zu Klägers Gefährde und Schaden angemaaßten Eselsschatten (saluis tamen melioribus) zu Recht zu erkennen sey: daß Beklagter sich des besagten Schattens zu seinem Gebrauch und Nutzen zu bedienen, wohl befugt gewesen; Kläger aber, Einwendens ungeachtet, nicht nur mit seiner unbefugten Foderung abzuweisen, sondern auch in alle Kosten, wie nicht weniger zum Ersatz alles dem Beklagten verursachten Ver-

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lusts und Schadens, nach vorgängiger gerichtlicher Ermäßigung, zu verurtheilen sey. V. R. W. Wir überlassen es dem geneigten und rechtserfahrnem Leser, über dieses, zwar nur auszugsweise, mitgetheilte Gutachten des weisen Miltias, nach Belieben, seine Betrachtungen anzustellen; und da wir in dieser ganzen Sache uns keines Urtheils anzumaaßen, sondern bloß die vices eines unpartheyischen Geschichtschreibers zu vertreten entschlossen sind: so begnügen wir uns, zu berichten, daß es seit undenklichen Zeiten eine Observanz bey dem Stadtgerichte zu Abdera war, das gutächtliche Urtheil des Referenten jedesmal entweder einhellig, oder doch mit einer grossen Mehrheit der Stimmen zu

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bestätigen. Wenigstens hatte man seit mehr als hundert Jahren kein Beyspiel vom Gegentheil gesehen. Es konnte auch, nach Gestalt der Sachen, nicht wohl anders seyn. Denn während der Relation, welche gemeiniglich sehr lange dauerte, pflegten die Herrn Beysitzer eher alles andre zu thun als auf die Rationes dubitandi et decidendi des Referenten Acht zu geben. Die meisten stunden auf, gukten zum Fenster hinaus, oder giengen in einem Nebenzimmer, Ku-

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chen oder kleine Bratwürste zu frühstücken, oder machten einen fliegenden Besuch bey einer guten Freundin; und diejenigen, welche sitzen blieben und einigen Theil an der Sache zu nehmen schienen, hatten alle Augenblicke etwas mit ihrem Nachbarn zu flüstern, oder schliefen wohl gar überm Zuhören ein. Kurz, es waltete eine Art von stillschweigenden Compromiß auf den Referenten vor, und es geschah bloß um der Form willen, daß einige Minuten eh er zur würklichen Conclusion kam, sich jedermann wieder auf seinem Platz einfand, um mit gehöriger Feyerlichkeit das abgefaßte Urthel zu bekräftigen. So war es bisher immer, auch bey ziemlich wichtigen Händeln, gehalten worden. Allein dem Prozeß über des Esels Schatten wiederfuhr die unerhörte Ehre, daß das

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ganze Gericht beysammen blieb, und (drey bis vier Beysitzer ausgenommen, welche dem Zahnarzt ihre Stimme schon versprochen hatten, und ihr Recht in der Session zu schlafen nicht vergeben wollten) jedermann mit aller Aufmerksamkeit zuhörte, die eines so wundervollen Prozesses würdig war; und als die Stimmen gesammelt wurden, fand sich, daß das Urthel nur mit einem Mehr von 12 gegen 8 bekräftiget wurde. Sogleich nach geschehener Publication ermangelte P o l y p h o n u s , der klägerische Sykophant, nicht, seine Stimme zu erheben, und gegen das Urthel, als ungerecht, partheyisch und mit unheilbaren Nullitäten behaftet, an den großen Rath von Abdera zu appelliren. Da der Prozeß über eine Sache geführt

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wurde, die der beschwert zu seyn vermeynende Theil selbst nicht höher als zwoo Drachmen geschäzt hatte, und dieses, auch selbst mit Einschluß aller billig mäßigen Kosten und Schaden, noch lange nicht Summa appellabilis war; so erhub sich hierüber ein großer Lerm im Gerichte. Die Minora erklärten sich, daß es hier gar nicht auf die Summe, sondern auf eine allgemeine Rechtsfrage ankomme, die das Eigenthum betreffe, und noch durch kein Gesetz in Abdera bestimmt sey, folglich, vermöge der Natur der Sache, vor den Gesetzgeber selbst gebracht werden müsse; als welchem allein es zukomme, in zweifelhaften Fällen dieser Art den Ausspruch zu thun. Wie es zugegangen, daß der Referent, bey aller seiner Affection zur Sache des Beklagten, nicht daran gedacht, daß die Gönner des Gegentheils sich dieses Vorwandes bedienen würden, die Sache vor den großen Rath zu spielen — davon wissen wir keinen andern Grund anzugeben, als d a ß e r e i n A b d e r i t w a r , und, nach der allgemeinen althergebrachten Gewohnheit seiner Landesleute, jedes Ding nur von Einer Seite, und auch da nur ziemlich obenhin, anzusehen pflegte.

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Doch kann vielleicht noch zu seiner Entschuldigung dienen, daß er einen Theil der letzten Nacht bey einem großen Gastmal zugebracht, und als er nach Hause gekommen, der Dame Struthion noch eine ziemlich lange Audienz hatte geben müssen, und also vermuthlich — nicht ausgeschlafen hatte. Genug nach langem Streiten und Lermen erklärte sich endlich der Stadtrichter Philippides: daß er, bewandten Umständen nach, nicht umhin könne, die Frage, ob die von Klägern eingewandte Appellation statt finde, vor den Senat zu bringen. Hiermit stund er auf; das Gericht gieng ziemlich tumultuarisch auseinander; und beyde Partheyen eilten, sich mit ihren Freunden, Gönnern und 10

Sykophanten zu berathen, was nun weiter in der Sache anzufangen sey. (Die Fortsetzung künftig.) W.

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Der Prozeß über des Esels Schatten. (Fortgesetzt von S. 133. No. 2.) 5. Gesinnungen des Senats. Tugend der schönen Gorgo, und ihre Würkungen. Der Priester Strobylus tritt auf, und die Sache wird ernsthafter. Der Prozeß über des Esels Schatten, der anfangs die Abderiten bloß durch seine Ungereimtheit belustigt hatte, fieng nun an, eine Sache zu werden, in welche die Gerechtsamen, das Point d’honneur, und allerley Leidenschaften und Interessen verschiedner zum Theil ansehnlicher Glieder der Republik

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verwickelt wurden. Der Zunftmeister P f r i e m e hatte seinen Kopf darauf gesetzt, daß sein Zunftangehöriger gewinnen müßte; und da er sich meistens alle Abende in den Versamlungsorten der gemeinen Bürger einfand, hatte er schon beynahe die Hälfte des Volks auf seine Seite gebracht, und sein Anhang nahm täglich zu. Der E r z p r i e s t e r hingegen hatte den Handel bisher nicht für wichtig genug gehalten, sein ganzes Ansehn zu Gunsten seines Beschützten anzuwenden. Allein da die Sachen zwischen ihm und der schönen Gorgo ernsthafter zu werden anfiengen, indem sie, anstatt einer gewissen Gelehrigkeit, die er bey ihr zu finden gehofft hatte, einen Widerstand that, dessen man sich zu ihrer Herkunft und Erziehung nicht hätte vermuthen sollen; ja sich sogar vernehmen ließ: „Wie sie Bedenken trage, i h r e T u g e n d noch einmal den Gefahren eines Besuchs durch die kleine Gartenthüre auszusetzen“ — So war es ganz natürlich, daß er nun nicht länger säumte, durch den Eyfer, womit er die Sache des Vaters zu unterstützen anfieng, sich ein näheres Recht an die Dankbarkeit der Tochter zu erwerben. Der neue Lerm, den der Eselsprozeß, durch die Provokation an den großen

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Rath, in der Stadt machte, gab ihm Gelegenheit mit einigen von den vornehmsten Rathsherrn aus der Sache zu sprechen. „So lächerlich dieser Handel an sich selbst sey, sagte er, so könne doch nicht zugegeben werden, daß ein armer Mann, der unter dem Schutze Jasons stehe, durch eine o f f e n b a r e K a b a l e unterdrückt werde. Es komme nicht auf die V e r a n l a s s u n g an, die oft zu den wichtigsten Begebenheiten sehr gering sey: sondern a u f d e n G e i s t , w o m i t m a n d i e S a c h e t r e i b e , und auf die Absichten, die man im Schilde, oder wenigstens in petto, führe. Die Insolenz des Sykophanten P h y s i g n a t h u s , der eigentlich an diesem ganzen Skandal Schuld habe, müsse gezüch10

tigt, und dem herrschsüchtigen, unverständigen D e m a g o g e n (dem Zunftmeister Pfrieme) noch in Zeiten ein Zügel angeworfen werden, eh es ihm gelinge, die Aristokratie gänzlich über den Hauffen zu werfen, u. s. w.“ Wir müssen es zur Steuer der Wahrheit sagen, anfangs waren verschiedene Herren des Raths, die die Sache ungefehr so ansahen, wie sie anzusehen war, und es dem Stadtrichter Philippides sehr verdachten, daß er nicht Sinn genug gehabt, einen so ungereimten Zwist gleich in der Geburt zu ersticken. Allein unvermerkt änderten sich die Gesinnungen; und der Schwindelgeist, der bereits einen Theil der Bürgerschaft auf die Köpfe gestellt hatte, ergriff endlich auch den größern Theil der Rathsherrn. Einige fiengen an die Sache für wich-

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tiger anzusehen, weil ein Mann, wie der Erzpriester Agathyrsus, sich derselben so ernstlich anzunehmen schien. Andre setzte die Gefahr, die der Aristokratie aus den Unternehmungen des Zunftmeisters Pfrieme erwachsen könnte, in Unruhe. Verschiedene ergriffen die Parthey des Eseltreibers bloß aus Widersprechungsgeist; andre aus einem würklichen Gefühl, daß ihm Unrecht geschehe; und noch andre erklärten sich für den Zahnarzt, bloß weil gewisse Personen, mit denen sie nie Einer Meynung seyn wollten, sich für seinen Gegner erklärt hatten. Mit allem dem würde dennoch dieser geringfügige Handel, so sehr die Abderiten auch — Abderiten waren, niemals eine so heftige Gährung in ihrem

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gemeinen Wesen verursacht haben, wenn der böse Dämon dieser Republik nicht auch d e n P r i e s t e r S t r o b y l u s angeschürt hätte, sich, ohne einigen nähern Beruf, als seinen unruhigen Geist und seinen Haß gegen den Erzpriester Agathyrsus, mit ins Spiel zu mischen. Um dies dem geneigten Leser verständlicher zu machen, werden wir die Sache, wie jener alte Dichter seine Ilias, ab ovo anfangen müssen; um so

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mehr, als auch gewisse Stellen in unsrer Erzählung des Abentheuers mit dem Euripides, und gewisse Ausdrücke, die dem Priester Strobylus gegen den Demokrit entfielen, ihr gehöriges Licht dadurch erhalten werden. Der Dienst der L a t o n a war (wie Strobylus den Euripides versichert hatte) so alt zu Abdera, als die Verpflanzung der Lycischen Kolonie; und die äusserste Einfalt der Bauart ihres kleinen Tempels konnte als eine hinlängliche Bekräftigung dieser Tradition angesehen werden. So unscheinbar dieser Latonentempel war, so gering waren auch die gestifteten Einkünfte ihrer Priesterschaft. Wie aber die Noth erfindsam ist, so hatten diese Herren schon von Langem her Mittel gefunden, zu etwelcher Entschädigung für die Kargheit

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ihres ordentlichen Einkommens, den Aberglauben der Abderiten in Kontribution zu setzen; und da auch dieses nicht zureichen wollte, hatten sie es dahin gebracht, daß der Senat (weil er doch von keiner B e s o l d u n g s z u l a g e hören wollte) z u U n t e r h a l t u n g d e s g e h e i l i g t e n F r o s c h g r a b e n s gewisse Einkünfte aussetzte, deren größten Theil die billigdenkenden Frösche ihren Versorgern überließen. Eine ganz andre Beschaffenheit hatte es mit dem Tempel des J a s o n s , dieses berühmten Anführers der Argonauten, welchem in Abdera die Ehre der Erhebung in den Götterstand und eines öffentlichen Dienstes wiederfahren war, ohne daß wir hievon einen andern Grund anzugeben wissen, als daß

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verschiedne der ältesten und reichsten Familien in Abdera ihr Geschlechtsregister von diesem H e r o s ableiteten. Einer von dessen Enkeln hatte sich, wie die Tradition sagte, in dieser Stadt niedergelassen; und war der gemeinsame Stammvater verschiedener Geschlechter geworden, von welchen einige noch, in den Tagen unsrer gegenwärtigen Geschichte, in voller Blüthe stunden. Dem Andenken des Helden, von dem sie abstammten, zu Ehren, hatten sie anfangs, nach uraltem Gebrauch, nur eine kleine Hauskapelle gestiftet. Mit der Länge der Zeit war eine Art von öffentlichem Tempel daraus geworden, den die Frömmigkeit der Abkömmlinge Jasons nach und nach mit vielen Gütern und Einkünften versehen hatten. Endlich, als Abdera, durch Handelschaft und glückliche Zufälle, eine der reichsten Städte in Thracien geworden war, entschlossen sich die Jasoniden, ihrem vergötterten Ahnherrn einen Tempel zu erbauen, dessen Schönheit der Republik und ihnen selbst bey der Nachwelt Ehre machen könnte. Der neue Jasonstempel wurde ein herrliches Werk, und machte mit den dazugehörigen Gebäuden, Gärten, Wohnungen

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der Priester, Beamten, Schutzverwandten u. s. w. ein ganzes Quartier der Stadt aus. Der Erzpriester desselben mußte allezeit v o n d e r ä l t e s t e n L i n i e d e r J a s o n i d e n seyn; und da er, bey sehr beträchtlichen Einkünften, auch die Gerichtsbarkeit über die zu dem Tempel gehörige Personen und Güter ausübte: so ist leicht zu erachten, daß die Oberpriester der Latona alle diese Vorzüge nicht mit gleichgültigen Augen ansehen konnten; und daß zwischen diesen beyden Prälaten eine Eyfersucht obwalten mußte, die auf die Nachfolger forterbte, und bey jeder Gelegenheit in ihrem Betragen sichtbar wurde. 10

Der Oberpriester der Latona wurde zwar als das Haupt der ganzen Abderitischen Priesterschaft angesehen; allein der Erzpriester Jasons stand nicht unter ihm, sondern machte mit seinen Untergebnen ein besonderes Kollegium aus, welches, außer der Schutzherrlichkeit der Stadt Abdera, von aller andern Abhänglichkeit frey war. Die Feste des Latonentempels waren zwar die eigentlichen großen Festtage der Republik; allein, da die Mäßigkeit seiner Einkünfte keinen sonderlichen Aufwand zuließ; so war das Fest des Jasons, welches mit ungemeiner Pracht und großen Feyerlichkeiten begangen wurde, in den Augen des Volks, wo nicht das vornehmste, wenigstens das, worauf es sich am meisten freute; und alle die Ehrerbietung, die man für das Alterthum

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des Latonendiensts hegte, und der große Glaube des Pöbels an den Priester desselben und seine heiligen Frösche konnte doch nicht verhindern, daß die g r ö ß r e F i g u r , die der Erzpriester machte, ihm auch einen höhern Grad von Ansehen gab. Und wiewohl das gemeine Volk überhaupt mehr Zuneigung zu dem Latonenpriester trug; so wurde doch dieser Vorzug dadurch wieder überwogen, daß der Jasonpriester mit den A r i s t o k r a t i s c h e n H ä u s e r n in einer Verbindung stund, die ihm so viel Einfluß gab, daß es einem ehrgeitzigen Manne an diesem Platz ein leichtes gewesen wäre, einen kleinen Tyrannen von Abdera vorzustellen. Zu so vielen Ursachen der althergebrachten Eyfersucht und Abneigung

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zwischen diesen beyden Fürsten der Abderitischen Klerisey, kam bey Strobylus und Agathyrsus noch ein p e r s ö n l i c h e r W i d e r w i l l e , der eine natürliche Frucht des Kontrasts ihrer Sinnesarten war. Agathyrsus, mehr Weltmann als Priester, hatte in der That vom leztern wenig mehr als die Kleidung. Die Liebe zum Vergnügen war seine herrschende Leidenschaft; denn wiewohl es ihm nicht an Stolz fehlte; so kann man doch von niemand sagen, daß er

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ehrgeizig sey, so lange sein Ehrgeiz eine andre Leidenschaft neben sich herrschen läßt. Er liebte die Künste, und den vertraulichen Umgang mit Virtuosen aller Arten; und stund in dem Ruf, einer von den Priestern zu seyn, die wenig Glauben an ihre eignen Götter haben. Wenigstens ist nicht zu läugnen, daß er öfters ziemlich frey ü b e r d i e F r ö s c h e d e r L a t o n a scherzte; und es war jemand, der es beschwören wollte, aus seinem eignen Munde gehört zu haben, „die Frösche dieser Göttin wären schon längst alle in e l e n d e P o e t e n und A b d e r i t i s c h e S ä n g e r verwandelt worden.“ — Daß er mit dem D e m o k r i t u s in ziemlich gutem Vernehmen lebte, war auch nicht sehr geschickt, seine Orthodoxie zu bestättigen. Kurz, Agathyrsus war ein Mann von gutem

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Temperament, muntern Kopf und ziemlich freyem Leben; beliebt bey dem Abderitischen Adel, noch beliebter bey dem schönen Geschlecht, und wegen seiner Freygebigkeit und Jasonmäßigen Figur beliebt sogar bey den untersten Klassen des Volks. Nun hätte die Natur, in ihrer launigsten Minute, keinen völligern Antipoden von allem was Agathyrsus war, machen können, als den Priester Strobylus. Dieser Mann hatte, wie viele seines gleichens, ausfindig gemacht, daß eine in Falten gelegte Mine und ein steiffes Wesen unfehlbare Mittel sind, bey dem grossen Hauffen für einen weisen und unsträflichen Mann zu gelten; und, da er von Natur ziemlich sauertöpfisch aussah, hatte es ihn wenig Mühe gekostet, sich diese G r a v i t ä t anzugewöhnen, die bey den

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Meisten weiter nichts beweißt als die S c h w e h r e i h r e s W i t z e s und die U n g e s c h l i f f e n h e i t i h r e r S i t t e n . Ohne Sinn für das Große und Schöne, war er ein gebohrner Verächter aller Talente und Künste, die diesen Sinn voraussetzen; und sein Haß gegen die Philosophie war bloß eine Maske für den natürlichen Groll eines Dummkopfs gegen alle, die mehr Verstand und Wissenschaft haben als er. In seinen Urtheilen war er schief und einseitig, in seinen Meynungen eigensinnig, im Widerspruch hitzig und grob, und, wo er entweder in seiner eignen Person oder in den Fröschen der Latona beleidigt zu seyn glaubte, äußerst rachgierig; aber nichts destoweniger bis zur Niederträchtigkeit geschmeidig, sobald er eine Sache, an der ihm gelegen war, nicht ohne Hülfe einer Person, die er haßte, durchsetzen konnte. Überdies stand er mit einigem Grund in dem Ruf, daß er mit einer gehörigen Dose von D a r i k e n und P h i l i p p e n zu allem in der Welt zu bringen sey, was mit dem Äußerlichen seines Charakters nicht ganz unverträglich war. Aus so entgegengesezten Gemüthsarten, und so vielen Veranlassungen zu

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Neid und Eifersucht auf Seiten des Priester Strobylus, entsprang nothwendig bey beyden ein wechselseitiger Haß, der den Zwang, den ihnen ihr Stand und Platz auferlegte, mit Mühe ertrug, und nur darinn verschieden war, daß Agathyrsus den Oberpriester zu sehr v e r a c h t e t e , um ihn sehr zu hassen, und dieser jenen zu sehr b e n e i d e t e , um ihn so herzlich verachten zu können, als er wohl gewünscht hätte. Zu diesem allem kam noch, daß A g a t h y r s u s , kraft seiner Geburt und ganzen Lage, f ü r d i e A r i s t o k r a t i e ; S t r o b y l u s hingegen, ohngeachtet seiner Verhältnisse zu einigen Rathsherren, ein e r k l ä r t e r F r e u n d d e r 10

D e m o k r a t i e , und, nächst dem Zunftmeister Pfrieme, derjenige war, der durch seinen persönlichen Charakter, seine Würde, seine schwärmerische Hitze, und eine gewisse populäre Art von Beredsamkeit den meisten Einfluß auf den Pöbel hatte. Man sieht nun leicht voraus, daß die Sache mit dem Eselsschatten, oder Schattenesel, nothwendig ernsthafter werden mußte, sobald ein paar Männer, wie die beyden Oberpriester von Abdera, darein verwickelt wurden. Strobylus hatte, so lange der Prozeß v o r d e n S t a d t r i c h t e r n geführt wurde, nicht anders Theil daran genommen, als daß er sich gelegenheitlich erklärte: er würde an des Zahnarztes Platz eben so gehandelt haben. Aber

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kaum erfuhr er durch die Dame S a l a b a n d a , seine Nichte, daß Agathyrsus die Sache seines in der ersten Instanz verurtheilten Schutzverwandten zu seiner eignen mache: so fühlte er sich auf einmal berufen, sich mit an die Spitze der Parthey des Beklagten zu stellen, und die Kabale des Zunftmeisters mit allem Ansehen, das er bey den Rathsherrn sowol als bey dem Volk hatte, zu unterstützen. S a l a b a n d a war zu sehr gewohnt, ihre Hand in allen Abderitischen Händeln zu haben, als daß sie unter den letzten gewesen seyn sollte, die in dem gegenwärtigen Parthey nahmen. Ausser ihrem Verhältniß mit dem Priester Strobylus, hatte sie noch eine besondere Ursache es mit ihm zu halten; eine

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Ursache, die darum nicht weniger wog, weil sie solche i n P e t t o behielt. Wir haben bey einer andern Gelegenheit erwähnt, daß diese Dame, es sey nun aus bloß politischen Absichten, oder daß sich vielleicht auch ein wenig Koketterie — und wer weiß, ob nicht auch zuweilen das, was man in der neuern Französischen Feinenweltsprache das H e r z einer Dame nennt, mit einmischen mochte: genug, ausgemacht war es, daß sie immer eine Anzahl demüthiger

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Sclaven an der Hand hatte, unter denen (wie man glaubte) doch immer wenigstens der eine oder andre wissen müsse, w a r u m e r d i e n e . Die geheime Chronik von Abdera sagte, daß der Erzpriester Agathyrsus eine geraume Zeit die Ehre gehabt, einer von den leztern zu seyn; und in der That kamen eine Menge Umstände zusammen, warum man dieses Gerüchte für etwas mehr als eine bloße Vermuthung halten konnte. Kurz, die vertrauteste Freundschaft hatte seit geraumer Zeit unter ihnen obgewaltet, als die T ä n z e r i n nach Abdera kam, und dem flatterhaften Jasoniden in kurzem so merkwürdig wurde, daß Salabanda endlich nicht länger umhin konnte, sich selbst für aufgeopfert zu halten. Agathyrsus besuchte zwar ihr Haus noch immer auf den Fuß eines

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alten Bekannten; und die Dame war zu politisch um in ihrem äussern Betragen gegen ihn die geringste Veränderung durchscheinen zu lassen. Aber ihr Herz kochte Rache. Sie vergaß nichts, was den Erzpriester immer tiefer in die Sache verwickeln und immer mehr in Feuer setzen konnte; heimlich aber beleuchtete sie alle seine Schritte und Tritte, und alle großen und kleinen, Vorder- und Hinterthüren, die zu s e i n e m K a b i n e t führen konnten, so genau: daß sie seine Intrigue mit der jungen G o r g o gar bald entdeckte, und den Priester Strobylus in den Stand setzen konnte, den Eyfer des Erzpriesters für die Sache des Eseltreibers in ein eben so v e r h a ß t e s Licht zu stellen, als sie selbst unter der Hand bemüht war, ihm einen l ä c h e r l i c h e n Anstrich zu

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geben. A g a t h y r s u s , so wenig es ihm kostete, politische und ehrgeitzige Vortheile dem Interesse seiner Vergnügungen aufzuopfern, hatte doch Augenblicke, wo der kleinste Widerstand in einer Sache, an der ihm im Grunde gar nichts gelegen war, seinen ganzen Stolz aufrührisch machte; und so oft dies geschah, pflegte ihn seine Lebhaftigkeit gemeiniglich unendlich weiter zu führen, als er gegangen wäre, wenn er die Sache einiger kühlen Überlegung gewürdiget hätte. Die Ursache, warum er sich anfangs mit diesem abgeschmackten Handel bemengt hatte, fand izt zwar nicht länger statt; denn die schöne Gorgo hatte, ungeachtet des Unterrichts ihrer Mutter Krobyle, entweder nicht Geschicklichkeit oder nicht innern Halt genug gehabt, den anfänglich entworfnen Vertheidigungsplan gegen einen so gefährlichen und erfahrnen Belagerer gehörig zu befolgen. Allein er war nun einmal in die Sache verwickelt; seine Ehre war dabey betroffen; er erhielt täglich und stündlich Nachrichten, wie unziemlich der Zunftmeister und der Priester Strobylus mit

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ihrem Anhang wider ihn loßzögen, wie sie drohten, wie übermüthig sie die Sache durchzusetzen hofften, und dergleichen — und dies war mehr, als es brauchte, um ihn dahin zu bringen, daß er seine ganze Macht anzuwenden beschloß, um Gegner, die er so sehr verachtete, zu Boden zu werfen, und für die Verwegenheit, sich gegen ihn aufgelehnt zu haben, zu züchtigen. Der Kabalen der Dame Salabanda ungeachtet, die nicht fein genug gesponnen waren, um ihm lange verborgen zu bleiben, war der gröste Theil des Senats auf seiner Seite; und wiewohl seine Gegner nichts unterließen, was das Volk gegen ihn erbittern konnte; so hatte er doch, zumal unter den Zünften der Gerber, Flei10

scher, und Becker, einen Anhang von derben stämmichten Gesellen, die eben so hitzig vor der Stirne als nervicht von Armen, und auf jeden Wink bereit waren, für ihn und seine Parthey, je nachdem es nöthig wäre, zu schreyen oder zuzuschlagen.

6. Abdera theilt sich in zwoo Partheyen. Die Sache kommt vor Rath. In dieser Gährung befanden sich die Sachen, als auf einmal die Namen S c h a t t e n und E s e l in Abdera gehört, und in kurzem durchgängig dazu gebraucht wurden, die beyden Partheyen zu bezeichnen. Man hat über den wahren Ur20

sprung dieser Übernamen keine ganz zuverläßige Nachricht. Vermuthlich, weil doch Partheyen nicht lang ohne Nahmen bestehen können, hatten die Anhänger des Zahnarzts Struthion unter dem Pöbel den Anfang gemacht, s i c h s e l b s t , weil sie für sein Recht an des Esels S c h a t t e n stritten, der Schatten, und i h r e G e g n e r , weil sie den Schatten gleichsam zum E s e l s e l b s t machen wollten, aus Spott und Verachtung die Esel zu nennen — und da die Anhänger des Erzpriesters diese Benennung nicht verhindern konnten, so hatten sie, wie es zu gehen pflegt, sich unvermerkt daran gewöhnt, sie anfänglich wohl nur zum Scherz zu gebrauchen; nur mit dem Unterschiede, daß sie den Spies umdrehten, und das Verächtliche mit dem Schatten, und das

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Ehrenvolle mit dem Esel verknüpften — Wenn es ja eins von beyden seyn soll, sagten sie, so wird jeder braver Kerl doch immer lieber ein würklicher leib-

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hafter tüchtiger Esel mit all seinem Zubehör, als der bloße Schatten von einem Esel seyn wollen. Wie es auch damit zugegangen seyn mag, genug, in wenigen Tagen war ganz Abdera in diese zwoo Partheyen getheilt; und, so wie sie nun einen Nahmen hatten, nahm auch der Eyfer auf beyden Seiten so schnell und heftig zu, daß es gar nicht mehr erlaubt war, neutral zu bleiben. B i s t d u e i n S c h a t t e n o d e r e i n E s e l , war immer die erste Frage, die die gemeinen Bürger an einander thaten, wenn sie sich auf der Straße oder in der Schenke antraffen; und wenn ein Schatten just das Unglück hatte, an einem solchen Ort der einzige seines gleichen unter einer Anzahl Eseln zu seyn, so blieb ihm, wofern er sich nicht

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gleich mit der Flucht rettete, nichts übrig, als entweder auf der Stelle zu a p o s t a s i e r e n oder sich mit tüchtigen Stößen zur Thüre hinaus werfen zu lassen. Die Unordnungen, die hieraus entstehen mußten, kann man sich ohne unser Zuthun vorstellen. Die Verbitterung gieng in Kurzem so weit, daß e i n S c h a t t e n sich lieber vor Hunger zum würklichen Stygischen Schatten abgezehrt, als einem Becker von der Gegenparthey für einen Dreyer Brodt abgekauft hätte. Auch die Weiber nahmen, wie leicht zu erachten, Parthey, und gewiß nicht mit der wenigsten Hitze. Denn das erste Blut, das aus Gelegenheit dieses seltsamen Bürgerkriegs vergossen wurde, kam von den Nägeln z w o e r H ö k e r -

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w e i b e r her, die einander auf öffentlichem Markte in die Physionomie gerathen waren. Man bemerkte indessen, daß bey weitem der gröste Theil der Abderiten sich für d e n E r z p r i e s t e r erklärte; und wo in einem Hause der Mann ein Schatten war, da konnte man sich darauf verlassen, die Frau war e i n e E s e l i n , und gemeiniglich eine so hitzige und unbändige Eselin, als man sich eine denken kann. Unter einer Menge theils heilloser theils lächerlicher Folgen dieses Partheygeists, der in die Abderitinnen fuhr, war keine der geringsten: daß mancher Liebeshandel dadurch auf einmal abgebrochen wurde, weil der eigensinnige Seladon lieber seine Ansprüche als seine Parthey aufgeben wollte; so wie hingegen auch Mancher, der sich schon Jahre lang vergebens um die Gunst einer Schönen beworben, und ihre Antipathie gegen ihn durch nichts, was jemals von einem unglücklichen Liebhaber versucht worden, hatte überwinden können, itzt auf einmal keines andern Titels bedurfte, um glücklich zu werden, als seine Dame zu überzeugen, daß er — ein E s e l sey.

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Inzwischen wurde die Präjudicial-Frage: ob die von Klägern eingewandte Abberufung an den großen Rath Statt finde oder nicht, vor den Senat gebracht; und wiewohl dies das erstemal war, daß es über die Eselssache bey diesem ehrwürdigen Kollegio zur Sprache kam: so zeigte sich doch bald, daß jedermann schon seine Parthey genommen hatte: und d e r A r c h o n O n o l a u s war der einzige, der in Verlegenheit zu seyn schien, wie er der Sache einen leidlichen Anstrich geben könnte. Denn man bemerkte, daß er viel leiser als gewöhnlich sprach, und am Schluß seines Vortrags in die merkwürdigen und o m i n o s e n Worte ausbrach: er besorge sehr, der Eselsschatten, über 10

welchem itzt mit so vieler Hitze gestritten werde, m ö c h t e d e n R u h m d e r R e p u b l i k a u f v i e l e J a h r h u n d e r t e v e r f i n s t e r n . Seine Meynung war, man würde am besten thun, die eingelegte Appellation als unstatthaft abzuweisen, den Spruch des Stadtgerichts, (bis auf den Punkt der Kosten, die gegen einander aufgehoben werden könnten) zu bestättigen, und beyden Partheyen ein ewiges Stillschweigen aufzulegen. Indessen setzte er doch hinzu: wofern die Majora davor hielten, daß die Gesetze von Abdera nicht zureichend wären, einen so geringfügigen Handel auszumachen, so m ü s s e er sich gefallen lassen, daß der große Rath den Ausspruch darüber thue; jedoch wollte er darauf angetragen haben, vorher im Archiv nachsuchen zu lassen, ob sich nicht etwa

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schon in ältern Zeiten dergleichen ungewöhnliche Fälle ereignet, und wie man sich dabey benommen habe. Diese Mäßigung des Archon, — die ihm von der unpartheyisch richtenden Nachwelt einstimmig als ein Beweis von wahrer Regentenweisheit zum Verdienst angerechnet werden wird — wurde damals, da der Partheygeist alle Augen verblendet hatte, als Schwachheit und flegmatische Gleichgültigkeit ausgelegt. Verschiedene Senatoren von der Parthey des Erzpriesters ließen sich weitläuftig und mit großem Eyfer vernehmen: Man könne nichts geringfügig nennen, was die Rechte und Freyheiten der Abderiten betreffe; wo kein Gesetz sey, finde auch kein gerichtliches Verfahren Statt; und das erste Bey-

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spiel, wo den Richtern gestattet würde, einen Handel nach einer w i l l k ü h r l i c h e n B i l l i g k e i t zu entscheiden, würde das Ende der Freyheit von Abdera seyn. Wenn der Streit auch noch was Geringers beträffe, so komme es nicht auf die Frage an, w i e v i e l o d e r w e n i g e r w e r t h s e y , sondern, w e l c h e v o n d e n P a r t h e y e n R e c h t h a b e ; und da kein Gesetz vorhanden sey, welches in vorliegendem Fall entscheide, ob des Esels Schatten stillschweigend in

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der Miethe begriffen sey oder nicht: so könne sich weder das Untergericht noch der Senat selbst, ohne die offenbarste Tyrannie, anmaßen, dem Abmiether etwas zuzusprechen, woran der Vermiether wenigstens eben so viel Recht habe; oder vielmehr ein ungleich besseres, da aus der Natur ihres Kontrakts keineswegs n o t h w e n d i g f o l g e , daß die Meynung des letztern gewesen, jenem auch den Schatten seines Esels zu vermiethen, u. s. w. Einer von diesen Herren gieng so weit, daß er in der Hitze herausfuhr: er sey jederzeit ein eifriger Patriot gewesen; und eh er zugeben würde, daß einer seiner Mitbürger sich anmaßen sollte, nur d e n S c h a t t e n e i n e r t a u b e n N u ß dem andern willkührlich abzusprechen, eh wollt’ er ganz Abdera in Feuer und Flam-

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men sehen. Izt verlohr der Zunftmeister Pfrieme alle Geduld: das Feuer, sagte er, womit man die ganze Stadt mit solcher Verwegenheit bedrohe, sollte mit demjenigen angezündet werden, der sich so zu reden unterstehe. „Ich bin kein studierter Mann, fuhr er fort; aber, bey allen Göttern, ich lasse mir Mäusedreck nicht für Pfeffer verkauffen! Man muß den Verstand verlohren haben, um einem gesunden Menschen weiß machen zu wollen, daß es ein eignes Gesetz brauche, wenn die Frage ist, ob sich einer auf eines Esels Schatten setzen dürfe, der mit baarem Geld das Recht erkauft hat, auf dem Esel selbst zu sitzen. Überhaupt ist es Schande und Spott, daß so viel ernsthafte gescheid-

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te Männer sich den Kopf über einen Handel zerbrechen, den jedes Kind auf der Stelle entschieden haben würde. Wenn ist denn jemals in der Welt erhört worden, daß Schatten unter die Dinge gehören, die man einander vermiethet?“ — Herr Zunftmeister, fiel der Rathsherr B u p h r a n o r ein, ihr schlagt euch selbst auf den Mund, wenn ihr das behauptet; denn wenn des Esels Schatten nicht vermiethet werden konnte, so ist klar, daß er nicht vermiethet w o r d e n i s t ; denn a non posse ad non esse valet consequentia. Der Zahnarzt k a n n also, nach eurem eignen Grundsatz, kein Recht an dem Schatten haben, und das Urthel ist an sich null und nichtig. Der Zunftmeister stutzte; und da ihm nicht gleich einfiel, was sich auf dieses feine Argument antworten ließe: so fieng er desto lauter an zu schreyen, und rief Himmel und Erde zu Zeugen an, daß er eher seinen grauen Bart Haar vor Haar ausrauffen, als sich noch in seinen alten Tagen zum Esel machen lassen wollte. Die Herren von seiner Parthey unterstützten ihn aus allen Kräf-

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ten; allein sie wurden überstimmt; und alles, was sie endlich mit Beyhülfe des Archon und des Rathsherrn, der immer l e i s e a u f t r a t , erhalten konnten, war: d a ß d i e S a c h e e i n s w e i l e n i n s t a t u q u o b l e i b e n s o l l t e , b i s man im Archiv nachgesehen hätte, ob sich kein Präjudicium fände, wodurch dieser Handel ohne größre Weitläuftigkeiten entschieden werden könnte. (Die Fortsetzung künftig.) W.

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Die Onoskiamachie fortgesetzt. 7. Gute Ordnung in der Kanzley von Abdera. Präjudizial-Fälle, die nichts ausmachen. Das Volk will das Rathhaus stürmen, und wird von Agathyrsus besänftigt. Der Senat beschließt die Sache dem großen Rath zu überlassen. Die Kanzley der Stadt Abdera — weil es doch die Gelegenheit mit sich bringt, ihrer hier mit zwey Worten zu erwähnen — war überhaupt so gut eingerichtet und bedient, als man es von einer so weisen Republik erwarten kann; nur hatte sie mit vielen andern Kanzleyen zween Fehler gemein, über welche zu

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Abdera, schon seit zehn Jahrhunderten, fast täglich Klage geführt wurde, ohne daß darum jemand auf den Einfall gekommen war: o b e s n i c h t e t w a möglich seyn könnte, dem Übel auf eine oder andre Weise abz u h e l f e n ? Das eine dieser Gebrechen war, daß die Urkunden und Akten in einigen sehr dumpfen und feuchten Gewölben verwahrt lagen, wo sie aus Mangel der Luft verschimmelten, moderten, von Motten gefressen und nach und nach ganz unbrauchbar wurden; das andre: d a ß m a n , a l l e s S u c h e n s u n g e a c h t e t , n i c h t s d a r i n n f i n d e n k o n n t e . So oft dies begegnete, pflegte irgend ein patriotischer Rathsherr, meistens mit Beystimmung des ganzen Senats, die Anmerkung zu machen: „es komme bloß daher, w e i l k e i n e O r d n u n g i n d e r K a n z l e y g e h a l t e n w e r d e . “ In der That ließ sich schwerlich eine Hypothese erdenken, vermittelst welcher diese Erscheinung auf eine leichtere und begreiflichere Weise zu erklären gewesen wäre. Daher kam es nun, daß fast allemal, wenn bey Rath beschlossen wurde, daß in der Kanzley nachgesehen werden sollte, jedermann schon voraus wußte, und meistens sicher darauf rechnete, d a ß s i c h n i c h t s f i n d e n w ü r d e . Und eben daher kam es auch, daß die gewöhnliche Erklärung, die bey der nächsten Rathssitzung erfolgte: „es habe sich, alles Suchens ungeachtet, nichts in der Kanzley gefunden,“ mit der kaltsinnigsten Gelassenheit, als eine

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Sache, die man erwartet hatte, und die sich von selbst verstund, aufgenommen wurde. Dies war nun auch dermalen der Fall gewesen, da die Kanzley den Auftrag erhalten hatte, in den ältern Akten nachzusehen, ob sich nicht vielleicht ein Präjudizium finde, das der Weisheit des Senats bey Entscheidung des höchstbeschwerlichen Handels über den Eselsschatten zur Fackel dienen könnte. Es hatte sich nichts gefunden; ungeachtet verschiedene Herren in der letzten Session ganz positiv versichert hatten: es müßten u n z ä h l i c h e ähnliche Fälle vorhanden seyn. 10

Indessen hatte gleichwohl der Eifer eines Rathsherrn von der Parthey der E s e l die Akten von zween alten Rechtshändeln aufgetrieben, die einst vielen Lärm in Abdera gemacht hatten, und mit dem gegenwärtigen einige Ähnlichkeit zu haben schienen. Der eine betraf einen Streit zwischen den Besitzern zweyer Grundstücke in der Stadtflur, über das Eigenthumsrecht an einem zwischen beyden gelegnen kleinen Bühel, der ungefehr fünf oder sechs Schritte im Umfang betrug, und mit Verlauf der Zeit aus etlichen zusammengeflossenen Maulwurfshaufen entstanden seyn mochte. Tausend kleine Nebenumstände hatten nach und nach eine so heftige Verbitterung zwischen den beyden im Streite befangnen Familien angestiftet, daß jeder Theil entschlos-

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sen war, lieber Haus und Hof, als sein vermeyntes Recht an diesen Maulwurfshügel, zu verliehren. Die Abderitische Justiz wurde dadurch in eine desto größere Verlegenheit gesezt, da Beweis und Gegenbeweiß von einer so ungeheuern Kombination unendlich kleiner, zweifelhafter und unaufklärbarer Umstände abhieng, daß, nach einem Prozeß von fünf und zwanzig Jahren, die Sache nicht nur der Entscheidung nicht um einen Schritt näher gekommen, sondern im Gegentheil gerade fünf und zwanzigmal verworrner geworden war, als sie anfangs schien. Wahrscheinlicherweise würde sie auch nie zu Ende gebracht worden seyn: wenn sich nicht beyde Partheyen endlich gezwungen gesehen hätten, die Grundstücke, zwischen welchen der strittige Maulwurfs-

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hügel lag, ihren Sykophanten für Prozeßkosten und Advokaten-Gebühren cum omni causa & actione abzutreten. Da nun hierunter auch das vermeyntliche Recht an den besagten kleinen Bühel begriffen war, so hatten die Sykophanten sich noch selbigen Tages in Güte dahin verglichen, dieses Hügelchen der großen T h e m i s zu heiligen, einen F e i g e n b a u m darauf zu pflanzen, und unter denselben auf gemeinschaftliche Kosten die Bildsäule besagter Göt-

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tin, aus gutem Förenholz, steinfarb angestrichen, setzen zu lassen; mit der Verordnung, daß die Besitzer beyder Grundstücke zu ewigen Zeiten schuldig seyn sollten, besagte Bildsäule nebst dem Feigenbaum gemeinschaftlich zu unterhalten; — gestalten dann auch beyde, und zwar der Feigenbaum in sehr ansehnlichen, die Bildsäule aber in sehr verfallnen und wurmstichigen Umständen, zum ewigen Gedächtniß dieses merkwürdigen Handels, noch zur Zeit des gegenwärtigen zu sehen waren. Der andre Prozeß schien mit dem vorliegenden noch eine nähere Verwandschaft zu haben. Ein Abderite, Nahmens Pamphus, besaß ein Landgut, dessen vornehmste Annehmlichkeit darinn bestund, daß es auf der Südwestlichen

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Seite eine ganz herrliche Aussicht über ein schönes Thal hatte, das zwischen zween waldichten Bergen hinlief, in der Ferne immer schmäler wurde, und sich endlich in das Ägeische Meer verlohr. Pamphus pflegte oft zu sagen: daß ihm diese Aussicht nicht um hundert Attische Talente feil wäre; und er hatte um so mehr Ursache, sie so hoch zu taxiren, da das Gut an sich selbst so unerheblich war, daß ihm niemand, der bloß auf den Nutzen sah, fünf Talente darum gegeben haben würde. Unglücklicherweise fand ein ziemlich begüterter Abderitischer Bauer, der auf eben dieser Südwestlichen Seite sein Nachbar war, sich veranlaßt, eine Scheune bauen zu lassen, die dem guten Pamphus einen so großen Theil seiner Aussicht entzog, daß sein Landgütchen, seiner

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Rechnung nach, wenigstens um 80 Talente dadurch schlechter wurde. Pamphus wandte alles mögliche an, den Nachbar in Güte und Ernst von einem so fatalen Bau abzuhalten. Allein der Bauer war ein Starrkopf, und bestand auf seinem Rechte, seinen erbeigenthümlichen Grund und Boden zu überbauen, wo und wie es ihm beliebte; und so kam es zum Prozeß. Pamphus konnte zwar nicht erweisen, daß die strittige Aussicht ein nothwendiges und wesentliches Pertinenzstück seines Gutes sey, oder daß ihm Luft und Licht dadurch entzogen werde; oder daß sein Großvater, der es käuflich an seine Familie gebracht, um besagter Aussicht willen nur eine Drachme mehr bezahlt habe, als das Gut, nach damaligem Preise, an sich selbst werth war; noch daß ihm sein Nachbar, der Bauer, mit einiger Servitut verhaftet sey, Kraft deren er ein Recht hätte, ihm den Bau quaestionis niederzulegen. Allein sein Sykophant behauptete, daß die Entscheidungsgründe dieser Sache viel tiefer lägen, und aus der ersten ursprünglichen Quelle alles Eigenthumsrechts unmittelbar geschöpft werden müßten. Wäre die Luft nicht ein durchsichtiges Wesen, sagte

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der Sykophant, so möchte Elysium und der Olympus selbst dem Landgute meines Principals gegenüber liegen, er würde so wenig jemals davon zu sehen bekommen haben, als ob unmittelbar vor seinen Fenstern eine Mauer stünde, die bis an den Himmel reichte. Die durchsichtige Natur und Eigenschaft der Luft ist also die erste und wahre Grundursache der schönen Aussicht, die das Gut meines Prinzipals beseligt. Nun ist aber die freye durchsichtige Luft, wie jedermann weiß, eines von den gemeinen Dingen, an welche ursprünglich Alle ein gleiches Recht haben; und eben darum ist jede noch von niemand occupierte Portion derselben, als eine Res Nullius, als eine Sache, die noch nie10

manden eigenthümlich angehört, anzusehen, und wird folglich ein Eigenthum des ersten der sie occupiert. Seit unfürdenklichen Zeiten haben die Vorfahren meines Prinzipals an diesem Gute die Aussicht quaestionis innegehabt, besessen und genossen, von männiglichen ungehindert und unangefochten. Sie haben also die dazu erforderliche Portion der Luft wirklich m i t i h r e n A u g e n occupiert, und sie ist durch diese Occupation so wohl, als durch einen Besitz seit unfürdenklicher Zeit, ein eigenthümlicher Theil des mehrbesagten Gutes geworden, wovon solchem nicht das Geringste entzogen werden kann, ohne die Grundgesetze aller bürgerlichen Ordnung und Sicherheit umzustoßen. — Der Senat von Abdera fand diese Gründe ganz bedenk-

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lich; es wurde lange für und wider mit großer Subtilität gestritten; und da Pamphus einige Zeit darauf in den Rath gewählt worden war, schien die Sache nur um so viel verwickelter und seine Gründe um so viel bedenklicher zu werden. Der Bauer starb endlich ohne den Ausgang des Handels zu erleben; und seine Erben, welche zulezt merkten, daß arme Bauersleute, wie sie, gegen einen so großen Herrn, als ein Rathsherr von Abdera war, nichts gewinnen könnten, ließen sich von ihrem Sykophanten zu einem Vergleich bereden: vermöge dessen sie die Prozeßkosten bezahlten, und von dem Bau der strittigen Scheune um so mehr abstanden, da sie kein Geld mehr dazu hatten, und der Prozeß von ihrem Erbgut so viel weggefressen hatte, daß sie keiner neuen

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Scheune mehr bedurften, um die wenigen Früchte, die ihnen noch zu bauen übrig blieben, aufzubehalten. Nun war es zwar ziemlich klar, daß diese beyden Rechtshändel zu Entscheidung des vorliegenden sehr wenig Licht geben konnten; zumal da in keinem von beyden definitive war gesprochen worden, sondern beyde durch gütlichen Vergleich ihre Endschaft erreicht hatten; allein der Rathsherr, der sie

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produzierte, schien auch keinen andern Gebrauch davon machen zu wollen, als dem Senat zu zeigen: daß diese beyden Händel, die sowohl in Rücksicht auf die W i c h t i g k e i t d e s G e g e n s t a n d e s als die S u b t i l i t ä t d e r R e c h t s g r ü n d e sehr viele Ähnlichkeit mit dem Eselsproceß zu haben schienen, so viele Jahre lang vor dem Abderitischen kleinen Rath geführt und verhandelt worden, ohne daß sich jemand habe beygehen lassen, an den großen Rath zu provoziren, oder nur zu zweifeln, ob der Kleine auch wohl Fug und Macht habe, in Sachen dieser Art zu erkennen. Die sämtlichen E s e l unterstützten diese Meynung ihres Partheyverwandten mit desto größerm Eifer, da sie die Majora in Händen hatten, wofern die Sache vor Rath abgethan worden wäre;

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allein eben darum beharrten die S c h a t t e n desto hartnäkiger bey ihrem Widerspruch. Der ganze Morgen wurde mit Streiten und Schreyen zugebracht; und die Herren würden endlich, (wie ihnen öfters zu begegnen pflegte) um Mittagessenszeit unverrichteter Dinge auseinander gegangen seyn: wenn eine große Anzahl gemeiner Bürger von der Schattenparthey, die sich auf Veranstaltung des Zunftmeisters Pfrieme vor dem Rathhause versammelt hatte, und durch eine Menge herbeygelauffnen Pöbels von der niedrigsten Gattung verstärckt worden war, der Sache nicht endlich den Ausschlag gegeben hätte. Die Parthey des Erzpriesters legte in der Folge dem Zunftmeister zur Last, daß er geflissentlich ans Fenster getreten sey, und das Volk durch gegebne

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Zeichen zum Aufruhr angereitzt habe. Allein die Gegenparthey läugnete diese Beschuldigung schlechterdings, und behauptete, das unziemliche Geschrey, das einige Esel auf einmal erhoben hätten, habe die unten versammelten Bürger auf die Gedanken gebracht, als ob den Herren von ihrem Anhang Gewalt geschehe, und dieser Irthum habe den ganzen Lärm veranlaßt. Wie dem auch seyn mochte, auf einmal schallte ein brüllendes Geschrey zu den Fenstern des Rathhauses hinauf: Freyheit, Freyheit! Es lebe der Zunftmeister Pfrieme! Weg mit den Eseln! Weg mit den Jasoniden! u. s. w. Der Archon kam ans Fenster, und gebot den Aufrührern Ruhe; aber ihr Geschrey nahm über Hand, und einige der frechesten drohten, das Rathhaus auf der Stelle anzuzünden, wenn die Herren nicht unverzüglich aus einander gehen und die Sache dem großen Rath und dem Volk anheimstellen würden. Einige lose Buben und Häringsweiber drangen würklich mit Gewalt in die benachbarten Häuser ein, rissen Brände von den Feuerheerden und kamen damit zurück. Indessen hatte der Auflauf, der hierdurch verursacht wurde, eine Anzahl von Eseln herbey-

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geruffen, die den Herren von ihrer Parthey mit Knitteln, Feuerzangen, Fleischmessern, Mistgabeln, und dem ersten dem Besten, was ihnen in die Hände gefallen war, zu Hülfe kommen wollten; und wiewohl sie von den Schatten bey weiten übermehrt waren: so trieb sie doch ihre Herzhaftigkeit und die Verachtung, womit sie die ganze Parthey der Schatten ansahen, die wörtlichen Beleidigungen mit so nachdrücklichen Hieben und Stössen zu erwiedern, daß es blutige Köpfe absetzte, und das Handgemeng in wenig Augenblicken allgemein wurde. Bey so gestalten Sachen war nun freylich in der Rathsstube nichts anders zu thun, als einhellig zu beschliessen: daß man, le10

diglich aus Liebe zum Frieden und um des gemeinen Bestens Willen, für diesesmal und citra praeiudicium, sich gleichwohl gefallen lassen wolle, daß der Handel wegen des Eselsschattens vor den großen Rath gebracht und der Entscheidung desselben überlassen werde. Inzwischen war den guten Rathsherren so enge in ihrer Haut, daß sie, sobald man sich (wiewohl auf eine sehr tumultuarische Weise) dieses Schlusses vereiniget hatte, den Zunftmeister Pfrieme mit aufgehabnen Händen baten, sich herunter zu begeben, und das aufgebrachte Volk zu beruhigen. Der Zunftmeister, dem es mächtig wohl that, die stolzen Patrizier so tief unter die Gewalt des Knieriemens gedemüthigt zu sehen, zögerte zwar nicht, Ihnen

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diese Probe seines guten Willens und seines Ansehens bey dem Volke zu geben; aber der Tumult war schon so groß, daß seine Stimme, wiewohl es eine der besten Bierstimmen von ganz Abdera war, eben so wenig gehört wurde, als das Geschrey eines Schifjungens im Mastkorbe unter dem donnernden Geheul des Sturms und dem Brausen der zusammenprallenden Wellen. Er würde sogar in der ersten Wuth, in welche der Pöbel (der ihn nicht sogleich erkannte) bey seinem Anblick aufbrannte, seines eignen Lebens nicht sicher gewesen seyn: wenn nicht, glücklicherweise, der Erzpriester A g a t h y r s u s — der diesen zufälligen Tumult für den geschicktesten Augenblick hielt, seinem Gegner in die Flancke zu fallen — mit seinem vergoldeten Hammelsfell an

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einer Stange vor sich her, und mit seiner ganzen Priesterschaft hinter drein, in eben diesem Momente herbeygekommen wäre, dem Aufruhr Einhalt zu thun; indem er dem Pöbel die Versicherung gab, daß ihnen genug gethan werden sollte, und daß er selbst der erste sey, der darauf antrage, daß die Sache vor dem großen Rath abgethan werden müsse. Diese öffentliche Versicherung des Erzpriesters, und seine Herablassung und Leutseligkeit, zugleich mit der Ehr-

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furcht, die das Abderitische Volk für das vergoldete Hammelsfell zu tragen gewohnt war, that eine so gute Würkung, daß in wenig Augenblicken alles wieder ruhig war, und der ganze Markt von einem lauten: Vivat der Erzpriester Agathyrsus! erschallte. Die Verwundeten schlichen sich ganz geruhig nach Hause, um sich ihre Köpfe verbinden zu lassen, und der übrige Troß strömte hinter dem zurückkehrenden Erzpriester her; der Zunftmeister aber hatte den Verdruß, zu sehen, daß ein großer Theil seiner Schatten, von der Ansteckung des übrigen Hauffens hingerissen, den Triumph seines Gegners vergrößern half, und in diesem Augenblick des Taumels leicht dahin hätte gebracht werden können, allen den wilden Muthwillen, den sie kurz zuvor an

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ihren vermeyntlichen Feinden, d e n E s e l n , auszuüben bereit waren, nun an ihren Freunden, d e n S c h a t t e n , auszulassen.

8. Politik beyder Partheyen. Der Erzpriester verfolgt seinen erhaltenen Vortheil; die Schatten ziehen sich zurück, und der entscheidende Tag wird fest gesetzt. Dieser unvermuthete Vortheil, den der Erzpriester über die S c h a t t e n gewann, kränkte sie um soviel empfindlicher, da er ihnen nicht nur die Freude und Ehre des Sieges verkümmerte, den sie im Senat erhalten hatten, sondern ihre Parthey selbst merklich schwächte und ihnen überhaupt zu erkennen

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gab, wiewohl sie sich auf die Unterstützung eines leichtsinnigen Pöbels verlassen dürften, der von jedem Wind auf eine andere Seite geworfen wird, und selten recht weiß, was er selbst will, geschweige was diejenigen mit ihm machen wollen, von denen er sich treiben läßt. Agathyrsus, der nun das erklärte Haupt der Esel war, hatte durch seine Emissarien erfahren, daß die Gegenparthey durch nichts mehr bey der gemeinen Bürgerschaft gewonnen hatte, als durch den Widerstand, den die Beschützer des Eseltreibers anfänglich thaten, da die Sache vor den großen Rath gespielt werden sollte. Da dieser Rath aus 400 Männern bestund, welche als die Repräsentanten der gesammten Bürgerschaft von Abdera angesehen wurden, und wovon beynahe die Hälfte auch wirklich bloße Krämer und Hand-

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wercksleute waren: so glaubte sich jeder gemeine Mann durch die vermeynte Absicht, die Vorrechte desselben einschränken zu wollen, persönlich beleidigt; und die Vorspieglung des Zunftmeister Pfriem, daß es auf einen gänzlichen Umsturz ihrer demokratischen Verfassung abgezielt sey, fand desto leichter Eingang. In der That war es auch um das, was in der Abderischen Staatseinrichtung demokratisch schien, bloßes Schattenwerk und politisches Gaukelspiel. Denn der kleine Rath, dessen zwey Drittel aus alten Geschlechtern bestund, machte im Grund alles was er wollte; und die Fälle, wo die Vierhundert zusammenberufen werden mußten, waren in dem Abderitischen 10

Grundgesetz auf solche Schrauben gesetzt: daß es beynahe gänzlich von dem Urtheil des kleinen Rathes abhieng, wann und wie oft sie die VierhundertMänner zusammenberufen wollten, um zu dem, was jener schon beschlossen hatte, ihre Beystimmung zu geben. Aber eben darum, weil dieses Vorrecht der Abderitischen Gemeinen nicht sehr viel zu bedeuten hatte, waren sie desto eyfersüchtiger darauf; und um so nöthiger war es, dem Volk das Gängelband zu verbergen, an welchem man es führte, indem es allein zu gehen glaubte. Es war also ein wahrer Meisterstreich von dem Erzpriester, daß er sich nun auf einmal und in einem Augenblick, wo die Würkung davon plötzlich und entscheidend seyn mußte, dem Volk in einer Sache zu Willen erklärte, auf die es

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einen so hohen Werth legte. Und da er, anstatt etwas dabey zu wagen, vielmehr dadurch einen starken Riß in den Plan der Gegenparthey machte: so hatte diese letztere alle Ursache, nun auf neue Mittel und Wege zu denken, wie sie den Erzpriester und seinen Anhang wieder aus dem Vortheil heben, und den günstigen Eindruck auslöschen möchte, den er auf das gemeine Volk gemacht hatte. Die Häupter der S c h a t t e n kamen noch an selbigem Abend in dem Hause der Dame Salabanda zusammen, und das Resultat ihrer Berathschlagung war: daß man, anstatt die Ernennung eines nahen Tages zur Zusammenberufung der V i e r h u n d e r t bey dem Archon zu betreiben, sich vielmehr, (falls

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es nöthig seyn sollte) verwenden wolle, solche zu verzögern, um dem Volke Zeit zu geben, sich wieder abzukühlen. Inzwischen wollte man die Bürgerschaft unter der Hand und mit aller Gelassenheit zu überzeugen suchen: wie thöricht sie wären, sich von dem Erzpriester und seinen Miteseln als etwas Verdienstliches anrechnen zu lassen, was doch nichts weniger als guter Wille, sondern bloße gezwungne Folge ihrer Schwäche sey. Wenn die E s e l es in

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ihrer Gewalt gehabt hätten, die Sache dem großen Rath aus den Händen zu reissen, so würden sie es gethan, und sich wenig darum bekümmert haben, ob es dem Volke lieb oder leid sey. Dieser plötzliche Absprung von ihrem vorigen stadtkündigen Betragen sey ein allzu grober Kunstgriff, die Volksparthey zu trennen, als daß man sich dadurch betrügen lassen könne. Vielmehr habe man nun desto mehr Ursache auf seiner Hut zu seyn, da es augenscheinlich darauf angesehen sey, das Volk durch süsse Worte einzuschläfern und unvermerkt dahin zu bringen, daß es unwissenderweise ein Werkzeug seiner eignen Unterdrückung werde. Der Oberpriester Strobylus, der bey dieser Berathschlagung zugegen war,

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billigte zwar alles, was man thun könnte, um das Ansehen seines Nebenbulers bey der Bürgerschaft zu vermindern, und seine Absichten verdächtig zu machen; allein ich zweifle sehr, setzte er hinzu, daß wir die gehoften Früchte davon erleben werden. Ich bereite ihm aber eine andere und schärfere Lauge zu, die desto besser würken wird, wenn sie ihm ganz unversehens über den Kopf kommt. Es ist noch nicht Zeit, mich deutlicher zu erklären. Aber laßt mich nur machen. Mag er sich doch eine Weile mit der Hofnung schmeicheln, den Priester Strobylus im Triumph hinter sich herzuschleppen! Die Freude soll ihm übel versalzen werden, darauf verlaßt euch! Aber, wenn wir, wie ich hoffe, ehrlich an einander sind, und wenn es uns Ernst ist, den Sieg über unsre

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Feinde zu erhalten; so müßen wir reinen Mund über das halten, was ich euch von meinem geheimen Anschlag habe merken lassen, und, seiner Zeit, davon entdecken werde. Agathyrsus muß sicher gemacht werden. Er muß glauben, daß wir nur noch mit Einem Flügel schlagen; und daß alle unsre Hofnung auf unserm Vertrauen, das Übergewicht im großen Rathe zu machen, beruht — Jedermann fand, daß der Oberpriester die Sache sehr richtig gefaßt habe, und die Gesellschaft trennte sich, sehr neugierig, was das wohl für ein Anschlag seyn könne, den er gegen den Erzpriester in petto behalte; aber auch sehr überzeugt, daß wenn es auf den Sturz des leztern angesehen sey, die Sache in keine bessere als in des Priesters Strobylus Hände gestellt werden könne. Agathyrsus ermangelte inzwischen nicht, aus dem kleinen Sieg, den er durch eine ihm eigene Gegenwart des Geistes zu so gelegener Zeit über seine Gegner erhalten hatte, allen möglichen Vortheil zu ziehen. Er hatte unter den Hauffen gemeinen Volks, der ihn bis in den Vorhof des erzpriesterlichen Palasts begleitete, Brod und Wein austheilen lassen, bevor er sie mit einer ernst-

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lichen Vermahnung ruhig zu seyn, wieder nach Hause gehen hieß; wo sie nun vom Lobe seiner Person, seiner Leutseligkeit und Freygebigkeit, gegen ihre Nachbarn und Bekannten überfloßen. Aber, wiewohl er den Geist der Republiken zu gut kannte, u m d i e G u n s t d e s P ö b e l s f ü r N i c h t s z u a c h t e n ; so wußte er doch wohl, daß er damit noch n i c h t v i e l gewonnen hatte. Das Nothwendigste war, sich der Zuneigung des grösten Theils der V i e r h u n d e r t gänzlich zu versichern; theils, weil itzt auf diese Alles ankam; theils, weil man, wenn sie einmal gewonnen waren, mehr Staat auf sie machen konnte, als auf das übrige Volk. Er hatte zwar bereits einen ansehnlichen Anhang unter 10

ihnen; aber außer einer Anzahl erklärter und eifriger S c h a t t e n , mit denen er sich nicht einlassen mochte, befanden sich noch sehr viele — und sie bestanden meistens aus den vermöglichsten und angesehensten von der Bürgerschaft — die sich entweder noch gar nicht erklärt hatten, oder nur darum zur Parthey der Schatten neigten, weil ihnen die Häupter der Gegenparthey als herschsüchtige, gewaltthätige Leute beschrieben worden waren, die diese ganze lächerliche Onoskiamachie bloß darum angezettelt hätten, um die Stadt in Verwirrung zu setzen, und die Unruhen, wovon sie selbst die Urheber wären, zum Vorwand und zu Werkzeugen ihrer ehrgeitzigen Absichten zu gebrauchen. Diese Leute auf seine Seite zu bringen, schien ihm nun eben so

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leicht, als es für den Triumph seiner Parthey entscheidend war. Er ließ sie alle noch an selbigem Abend zu Gaste bitten. Die meisten erschienen; und der Erzpriester, der eine besondere Gabe hatte, seiner Politik einen Firnis von Offenheit und aufrichtigem Wesen anzustreichen, machte ihnen kein Geheimniß daraus, daß er sie zu sich gebeten hätte, um mit Hülfe so braver und verständiger Männer die Vorurtheile zu zerstreuen, die man, wie er hörte, in der Stadt wider ihn gefaßt habe. „Daß man, sagte er, in dem Handel zwischen einem Eseltreiber und einem Zahnarzt, und in einem Handel, wo es bloß um den Schatten eines Esels zu thun sey, einen Mann seines Standes zum Haupt einer Parthey machen wolle, komme ihm allzu lächerlich vor, als daß er sich

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jemals einfallen lassen werde, eine so alberne Beschuldigung von sich abzulehnen. Indessen sey der arme Anthrax ein Schutzverwandter des Jasontempels, und er habe ihm also nicht versagen können, sich seiner, soweit als es die Gerechtigkeit erfodre, anzunehmen. Ohne die bekannte auffahrende Hitze des Zunftmeisters Pfrieme, der sich etwas unzeitig zum Sachwalter des Zahnarztes aufgeworfen habe, nicht weil dieser Recht habe sondern bloß, weil er

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bey den Schustern zünftig sey — würde eine so unbedeutende Sache ohnmöglich zu solcher Weitläuftigkeit gekommen seyn. Sey aber einmal ein Feuer angezündet, so fänden sich immer Leute, denen damit gedient sey, es anzublasen und zu nähren. Er seines Orts habe sichs immer zum Gesetz gemacht, sich in nichts zu mischen, das ihn nichts angehe; daß er sich aber dazu verwendet habe, den gefährlichen Tumult, der diesen Morgen von den Anhängern des Zunftmeisters vor dem Rathhause erregt worden, durch seine Dazwischenkunft und gütliche Zureden zu stillen, werde ihm hoffentlich von keinem Billigdenkenden als eine ungeziemende Anmaßung, sondern vielmehr als die That eines guten Bürgers und Patrioten ausgelegt werden; zumal,

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da es dem Charakter eines Priesters immer anständiger sey, Friede zu machen und Unordnungen zu verhüten, als Öl ins Feuer zu giessen; wie von Manchen bekannt sey, die er nicht zu nennen nöthig habe. Im Übrigen läugne er nicht, daß er — da die Sache mit dem Eselsschatten nun einmal in erster Instanz verdorben worden, und zu einem Handel erwachsen sey, an welchem ganz Abdera Antheil zu nehmen sich gleichsam genöthigt sehe — immer gewünscht habe, daß die Sache je bälder je lieber vor den großen Rath gebracht würde; nicht sowol, damit der arme Anthrax die gebührende Genugthuung erhalte (wiewohl nicht zu zweifeln sey, daß ihm solche bey dieser hohen Gerichtsstelle keineswegs werde versagt werden) als damit der zügellose Muthwille der

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Sykophanten endlich einmal durch irgend ein angemeßnes Gesetz eingeschränkt, und dergleichen Händeln, die der Stadt Abdera zu schlechter Ehre gereichten, fürs Künftige nach Möglichkeit vorgebaut werden möchte.“ — A g a t h y r s u s brachte alles dies mit so vieler Gelassenheit und Mäßigung vor, daß seine Gäste sich nicht genug über die Ungerechtigkeit derjenigen verwundern konnten, welche einen so gutdenkenden Herrn zum vornehmsten Anstifter dieser Unruhen hätten machen wollen. Sie hielten sich nun alle von dem Gegentheil vollkommen überzeugt; und es gelang ihm, in wenigen Stunden, diese wackern Leute, ohne daß sie es selbst merkten, und indem sie noch immer ganz unpartheyisch zu seyn glaubten, zu so guten E s e l n zu machen, als es vielleicht in ganz Abdera gab; zumal nachdem die vortreflichen Weine, womit er sie bey der Abendmalzeit beträufte, jeden Schatten des Mistrauens vollends ausgelöscht, und jede Seele zur Empfänglichkeit aller Eindrücke, die er ihnen geben wollte, geöfnet hatten. Man kann sich leicht vorstellen, daß dieser Schritt des A g a t h y r s u s die

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Gegenparthey nicht wenig beunruhigen mußte; und da die Revolution, welche unter demjenigen Theil der Bürgerschaft, der bisher gleichgültig geblieben war, dadurch bewürkt worden, bald darauf sehr merklich zu werden anfieng; und alle Batterien, die man mit verdoppeltem Eifer dagegen spielen ließ, nicht nur ohne Würkung blieben, sondern gerade die gegentheilige Würkung thaten, und die Übelgesinntheit der S c h a t t e n durch die Vergleichung mit der Mäßigung und den patriotischen Gesinnungen des Prälaten nur desto auffallender machten: so würden die besagten Schatten äusserst verlegen gewesen seyn, was sie anfangen wollten, um ihrer beynahe ganz gesunknen Par10

they wieder einen Schwung zu geben; wenn der Priester Strobylus sie nicht bey Muth erhalten, und versichert hätte, daß er, sobald der Gerichtstag festgesetzt seyn würde, dem k l e i n e n J a s o n (wie er ihn zu nennen pflegte) ein Gewitter über den Hals schicken wolle, dessen er sich mit aller seiner Schlauheit gewiß nicht versehe, und wodurch die Sache sogleich ein ganz ander Aussehen gewinnen werde. Die S c h a t t e n schienen sich nun so ruhig zu halten, daß Agathyrsus und sein Anhang diese anscheinende Niedergeschlagenheit ihrer Geister sehr wahrscheinlich der wenigen Hofnung zuschreiben konnte, welche ihnen, nach dem über sie erhaltnen zwiefachen Vortheil, übrig blieb. Sie verdoppelten

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daher ihre Bemühungen bey dem Archon Onolaus (dessen Sohn ein vertrauter Freund des Erzpriesters und einer der hitzigsten Esel war) einen nahen Tag zur Versammlung des großen Raths anzuberaumen; und sie erhielten endlich durch ihr ungestümmes Anhalten, daß diese Feyerlichkeit auf den sechsten Tag nach der letzten Rathssitzung festgestellt wurde. Diejenigen, welche die Weisheit eines Plans oder einer genommenen Maasregel nach dem Erfolg zu beurtheilen pflegen, werden vielleicht die Sicherheit des Erzpriesters bey der plötzlichen Unthätigkeit seiner Gegenparthey eines Mangels an Klugheit und Vorsicht beschuldigen, von welchem wir ihn allerdings nicht gänzlich freysprechen können. Wir läugnen es nicht, es würde

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behutsamer an ihm gewesen seyn, diese Unthätigkeit vielmehr irgend einem wichtigen Streich, über welchem sie in der Stille brüteten, als einem zu Boden gesunknen Muthe zuzuschreiben. Allein es war einer von den Fehlern dieses Jasoniden, daß er, aus allzulebhaftem Gefühl seiner eignen Stärke, seine Gegner immer mehr verachtete, als die Klugheit erlaubt. Er handelte fast immer wie einer, der es nicht der Mühe werth hält zu berechnen, was ihm seine

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Feinde schaden können, weil er sich überhaupt bewußt ist, daß es ihm nie an Mitteln fehlen werde, das Ärgste, was sie ihm thun können, von sich abzutreiben. Indessen ist doch in gegenwärtigem Falle zu vermuthen, daß tausend Andre an seinem Platz, und bey so günstigen Anscheinungen, eben so gedacht, und, wie er, geglaubt hätten, sehr wohl daran zu thun, wenn sie sich den guten Willen ihrer neuen Freunde zu Nutze machten, bevor er wieder erkaltete, und ihren Feinden keine Zeit liessen, wieder zu sich selbst zu kommen. Daß der Erfolg seiner Erwartung nicht gemäß war, kam von einem Streich des Priesters Strobylus her, den er mit aller seiner Klugheit nicht voraussehen konnte, und der, so sehr er auch in dem Charakter dieses Mannes gegründet seyn mochte, doch so beschaffen war, daß man nur durch die unmittelbare Erfahrung dahin gebracht werden konnte, ihn dessen für fähig zu halten. (Die Fortsetzung künftig.) W.

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Die Onoskiamachie. (fortgesezt von S. 24. No. 4.) 9. Was für eine Mine der Priester Strobylus gegen seinen Kollegen springen läßt. Zusammenberufung der Zehnmänner. Der Erzpriester wird vorgeladen, findet aber Mittel, sich sehr zu seinem Vortheil aus der Sache zu ziehen. Tages vorher, eh der Prozeß über den Eselsschatten, der seit einigen Wochen die unglückliche Stadt Abdera in so weitaussehende Unruhen gestürzt hatte, 10

vor dem großen Rath entschieden werden sollte, kam der Oberpriester Strobylus, mit zween andern Priestern der Latona und verschiedenen Personen aus dem Volke, in großer Gemüthsbewegung und Eilfertigkeit frühmorgens zu dem Archon Onolaus, um Sr. Gnaden ein Wunderzeichen zu berichten, welches (wie man die höchste Ursache habe zu fürchten) die Republik mit irgend einem großen Unglück bedrohe. Es hätten nehmlich schon in der ersten und zweyten Nacht vor dieser leztern einige zum Latonentempel gehörige Personen zu hören geglaubt, daß die Frösche des geheiligten Teiches, anstatt des gewöhnlichen W r e c k e c k e k K o a x K o a x , welches sie sonst mit allen andern natürlichen Fröschen, und selbst mit denen in den S t y g i s c h e n S ü m p f e n

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(wie aus dem A r i s t o p h a n e s zu ersehen) gemein hätten, ganz ungewöhnliche und klägliche Töne von sich gegeben; wiewohl besagte Leute sich nicht getraut, so nahe hinzuzugehen, um solche genau unterscheiden zu können. Auf die Anzeige, die ihm, dem Oberpriester, gestern Abends hievon gemacht worden, habe er die Sache wichtig genug gefunden, um mit seiner untergebnen Priesterschaft die Nacht bey dem geheiligten Teiche zuzubringen. Bis gegen Mitternacht habe die tiefste Stille auf demselben geruht; allein um besagte Zeit habe sich plötzlich ein dumpfes, unglückweissagendes Getön aus dem Teich erhoben; und da sie näher hinzugetreten, hätten sie insgesamt die Töne:

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W e h ! W e h ! P f e u ! P f e u ! E l e l e l e l e l e u ! ganz deutlich unterscheiden können. Dieses Wehklagen habe eine ganze Stunde lang gedauert, und sey, außer den Priestern, noch von allen denen gehört worden, die er als Zeugen eines so unerhörten und höchstbedenklichen Wunders mit sich gebracht habe. Da nun gar nicht zu bezweifeln sey, daß die Göttin ihr bisher geliebtes Abdera durch dieses drohende und wundervolle Anzeichen vor irgend einem bevorstehenden großen Unglück habe warnen, oder vielleicht zur Untersuchung und Bestrafung irgend eines noch unentdeckten Frevels auffodern wollen, der den Zorn der Götter auf die ganze Stadt ziehen könnte: so wolle er, kraft seines Amtes und im Namen der Latona, seine Gnaden hiemit ersucht haben, das

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Kollegium der Z e h n m ä n n e r unverzüglich zusammenberufen zu lassen; damit die Sache, ihrer Wichtigkeit gemäs, erwogen, und die weitern Vorkehrungen, die ein solcher Vorfall erfodere, getroffen werden könnten. Der Archon, der in dem Ruf war, in Absicht der geheiligten Frösche ziemlich stark auf die freyen Meynungen des D e m o k r i t u s zu neigen, schüttelte bey diesem Vortrag den Kopf, und stund eine Weile, ohne den Priestern eine Antwort zu geben. Allein der Ernst, womit diese Herren die Sache vorbrachten, und der seltsame Eindruck, den solche bereits auf die gegenwärtigen Personen aus dem Volke gemacht zu haben schien, ließen ihn leicht voraussehen, daß in wenig Stunden die ganze Stadt von diesem vorgeblichen Wunder

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voll seyn und in schreckenvolle Ahndungen gesetzt werden würde, bey denen ihm nicht erlaubt seyn würde, gleichgültig zu bleiben. Es war ihm also nichts übrig, als sogleich, in Gegenwart der Priester, den Befehl zu geben, daß die Zehnmänner sich wegen eines außerordentlichen Vorfalls binnen einer Stunde in dem Tempel der Latona versammeln sollten. Inzwischen hatte, durch Veranstaltung des Oberpriesters, das Gerücht von einem furchtbaren Wunderzeichen, welches seit drey Nächten in dem Hayne der Latona gehört worden, sich bereits durch ganz Abdera verbreitet. Die Freunde des Erzpriesters Agathyrsus, die nicht so einfältig waren, sich durch solches Gaukelwerk täuschen zu lassen, wurden dadurch erbittert; weil sie nicht zweifelten, daß irgend ein böser Anschlag gegen ihre Parthey darunter verborgen liege. Verschiedene junge Herren und Damen von der ersten Klasse affectierten über das vorgegebene Wunder zu spotten, und machten Parthien, in der nächsten Nacht dieser neumodischen Trauermusik im Froschteich der Latona beyzuwohnen. Aber auf das gemeine Volk und auf einen großen Theil

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der Vornehmern, die in Sachen dieser Art allenthalben gemeines Volk zu seyn pflegen, machte die Erfindung des Oberpriesters ihre vollständige Wirkung. Das P h e u , P h e u , E l e l e l e l e l e u der Latonenfrösche unterbrach auf einmal alle bürgerliche und häusliche Beschäftigungen; Alte und Junge, Weiber und Kinder lieffen auf den Gassen zusammen, und forschten mit erschrocknen Gesichtern nach den Umständen des Wunders; und, da beynahe ein jedes die Sache aus dem eignen Munde der ersten Zeugen gehört haben wollte, und der Eindruck, den man dergleichen Erzählungen auf die Zuhörer machen sieht, eine natürliche Anreitzung für den Erzähler zu seyn pflegt, immer etwas, das 10

die Sache interessanter macht, hinzuzuthun: so wurde das Wunder in weniger als einer Stunde in den verschiedenen Gegenden der Stadt mit so furchtbaren Umständen gefüttert, daß den Leuten beym bloßen Hören die Haare zu Berge standen. Einige versicherten, die Frösche, als sie den fatalen Gesang angestimmt, hätten M e n s c h e n k ö p f e aus dem Teich emporgereckt; andere, daß sie ganz feurige Augen von der Größe einer Wallnuß gehabt hätten; noch andere, daß man zu eben der Zeit allerley fürchterliche Gespenster, ungeheure heulende Töne von sich gebend, im Hayn umherfahren gesehen; wieder andere, daß es, bey hellem Himmel, ganz erschrecklich über dem Teich geblitzt und gedonnert habe; und endlich betheuerten einige Ohrenzeugen, daß

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sie ganz deutlich die Worte W e h d i r A b d e r a , zu wiederholtenmalen, hätten unterscheiden können. Kurz das Wunder wurde, wie gewöhnlich, immer größer, je weiter es sich fortwälzte, und fand desto mehr Glauben, je ungereimter, widersprechender und unglaublicher die Berichte waren, die davon gegeben wurden. Und da man bald darauf die Z e h n m ä n n e r , zu einer ungewöhnlichen Zeit, in großer Hast und mit bedeutungsvollen Gesichtern, dem Tempel der Latona zueilen sah: so zweifelte nun niemand mehr, daß Begebenheiten von der größten Wichtigkeit in dem Becher des Abderitischen Schicksals gemischt würden, und die ganze Stadt schwebte in zitternder Erwartung der Dinge, die da kommen sollten.

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Das Kollegium der Z e h e n m ä n n e r war aus dem Archon, den vier ältesten Rathsherren, den zween ältesten Zunftmeistern, dem Oberpriester der Latona und zween Vorstehern des geheiligten Teiches zusammengesetzt, und stellte das ehrwürdigste unter allen Abderitischen Tribunalien vor. Alle Sachen, bey denen die Religion von Abdera unmittelbar betroffen war, standen unter seiner Gerichtsbarkeit; und sein Ansehen war beynahe unumschränkt.

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Es ist eine alte Bemerkung, daß verständige Leute durchs Alter gewöhnlich weiser, und Narren mit den Jahren immer alberner werden. Ein Abderitischer Nestor hatte daher selten viel dadurch gewonnen, daß er zwoo oder drey neue Generationen gesehen hatte; und so konnte man ohne Gefahr voraussetzen, daß die Z e h n m ä n n e r v o n A b d e r a , im Durchschnitt genommen, den Ausschuß der blödesten Köpfe in der ganzen Republik ausmachten. Die guten Leute waren so bereitwillig, die Erzählung des Oberpriesters für eine Thatsache, die gar keinem Einwurf ausgesetzt seyn könne, anzunehmen: daß sie die Abhörung der Zeugen für eine bloße Formalität anzusehen schienen, womit man so schnell als möglich fertig zu werden suchen müsse. Da nun Stro-

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bylus die Herren von der Richtigkeit des Wunders schon zum voraus so wohl überzeugt fand: so glaubte er um so weniger zu wagen, wenn er ohne Zeitverlust zu demjenigen fortschritte, weswegen er sich die Mühe genommen, die ganze Fabel zu erfinden. Von dem ersten Augenblick an, sagte er, da meine eignen Ohren Zeugen dieses Wunderzeichens gewesen sind, welches, wie ich wohl sagen kann, in den Jahrbüchern von Abdera niemals seines gleichen gehabt hat, stieg der Gedanke in mir auf: daß es eine Warnung der Göttin seyn könnte vor den Folgen ihrer Rache, die, wegen irgend eines geheimen unbestraften Verbrechens, über unsern Häupten schweben möchte; und dies setzte mich in die Nothwendigkeit, des Archons Gnaden zu gegenwärtiger Ver-

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sammlung des sehr ehrwürdigen Zehnmännergerichts zu veranlassen. Was damals bloß Vermuthung war, hat sich seit einer einzigen Stunde zur Gewißheit aufgeklärt. Der Frefler ist bereits entdeckt, und das Verbrechen durch Augenzeugen erweislich, gegen deren Wahrhaftigkeit um so weniger einiger Zweifel vorwaltet, da der Thäter ein Mann von zu großem Ansehen ist, als daß etwas geringers, als die Furcht der Götter, Leute von gemeinem Stande dahin bringen könnte, als Zeugen wider ihn aufzutreten. Sollten Sie es jemals für möglich gehalten haben, Hochgeachte Herren, daß jemand mitten unter uns verwegen genug seyn könne, unsren uralten, von den ersten Stiftern unsrer Stadt auf uns angeerbten, und durch so viele Jahrhunderte unbefleckt erhaltenen Gottesdienst und dessen Gebräuche und heilige Dinge zu verachten und, ohne Ehrerbietung weder für die Gesetze noch den gemeinen Glauben und die Sitten unsrer Stadt, muthwilligerweise zu mißhandeln, was uns allen heilig und ehrwürdig ist? Mit einem Wort, können Sie glauben, daß ein Mann mitten in Abdera lebt, der, dem Buchstaben des Gesetzes zu Trotz, S t ö r c h e

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i n s e i n e m G a r t e n u n t e r h ä l t , die sich täglich mit Fröschen aus dem Teich der Latona und andern geheiligten Teichen füttern? Erstaunen und Entsetzen drückte sich bey diesen Worten auf jedem Gesicht aus; wenigstens mußte der Archon, um nicht der einzige zu seyn, der die Ausnahme machte, sich eben so bestürzt anstellen, als es seine übrigen Kollegen wirklich waren. Ists möglich, schrien drey oder vier von den Ältesten zugleich aus; und wer kann der Bösewicht seyn, der sich eines solchen Verbrechens schuldig gemacht hat? Verzeihen Sie mir, erwiederte Strobylus, wenn ich sie bitte, diesen harten 10

Ausdruck zu mildern. Ich meines Orts will lieber glauben, daß nicht Gottlosigkeit, sondern bloßer Leichtsinn, und was man heut zu Tage, zumal seit Demokritus sein Unkraut unter uns ausgestreut hat, P h i l o s o p h i e zu nennen pflegt, die Quelle dieser anscheinenden Verachtung unsrer heiligen Gebräuche und Ordnungen sey; und ich will und muß dies um so mehr glauben, da der Mann, der des besagten Frefels durch das einhellige Zeugniß von mehr als sieben glaubwürdigen Personen überwiesen werden kann, selbst ein Mann von geheiligtem Stande, selbst ein Priester, mit einem Wort, da es d e r J a s o n i d e A g a t h y r s u s ist. Agathyrsus? riefen die erstaunten Zehnmänner aus Einem Munde; und

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drey oder vier von ihnen erblaßten und schienen verlegen zu seyn, einen Mann von solcher Bedeutung, und mit dessen Hause sie immer in gutem Vernehmen gestanden, in einen so schlimmen Handel verwickelt zu sehen. Strobylus ließ ihnen keine Zeit sich zu erholen. Er befahl die Zeugen hereinzurufen. Sie wurden einer nach dem andern abgehört, und es ergab sich, daß Agathyrsus allerdings seit einiger Zeit zween Störche in seinen Gärten unterhielt; daß man sie öfters über dem geheiligten Teiche schweben, und wirklich einen seiner quackenden Bewohner, der sich eben am Ufer sonnen wollte, die Beute derselben werden gesehen habe. Wiewohl nun hierdurch die Wahrheit der Beschuldigung außer allen Zweifel gesetzt schien: so glaubte der Archon Ono-

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laus dennoch, daß es der Klugheit gemäß seyn würde, zu Verhütung unangenehmer Folgen, mit einem Manne, wie der Erzpriester Jasons, säuberlich zu verfahren. Er trug also darauf an: daß man sich begnügen sollte, ihm von Seiten der Zehnmänner freundlich bedeuten zu lassen: „man sey geneigt vor diesmal zu glauben, daß die Sache, worüber man sich zu beklagen habe, ohne sein Vorwissen geschehen sey; man verspreche sich aber von seiner bekannten

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billigen Denkart, daß er keinen Augenblick Anstand nehmen werde, die verbrecherischen Störche an die Vorsteher des heiligen Teiches auszuliefern, und den Zehnmännern sowohl als der ganzen Stadt hiedurch eine gefällige Probe seiner Achtung gegen die Gesetze und religiosen Gebräuche seiner Vaterstadt zu geben.“ Drey Stimmen von Neunen bekräftigten den Antrag des Archon: aber Strobylus und die übrigen setzten sich mit großem Eifer dagegen. Sie behaupteten: außerdem, daß es auf keine Weise zu billigen sey, eine so übermäßige Gelindigkeit gegen einen Bürger von Abdera zu gebrauchen, der eines Verbrechens von solcher Schwere überwiesen sey; so erfordere auch die Gerichtsordnung, daß man ihn nicht eher verurtheile, eh er gehört und zur Ver-

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antwortung gelassen worden. Strobylus trug also darauf an: daß der Erzpriester sogleich vorgeladen werden sollte, unverzüglich vor den Zehnmännern zu erscheinen, und sich auf die wider ihn angebrachte Klage zu verantworten; und dieser Antrag gieng, Einwendens ungeachtet, mit sechs Stimmen gegen viere, durch. Der Erzpriester wurde also mit allen in solchen Fällen üblichen Förmlichkeiten vorgeladen. Agathyrsus war nicht unvorbereitet, als die Abgeordneten der Zehnmänner in seinem Haus erschienen. Nachdem er sie über eine Stunde hatte warten lassen, wurden sie endlich in einen Saal geführt, wo der Erzpriester, in seinem ganzen Ornat, auf einem erhöhten elfenbeinernen Lehnstuhl sitzend,

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das stotternde Anbringen ihres Worthalters mit großer Gelassenheit anhörte. Als sie damit fertig waren, winkte er mit der Hand einem Bedienten, der seitwärts hinter seinem Stuhle stand. Führe die Herren, sagte er zu ihm, in die Gärten, und zeig ihnen die Störche, von denen die Rede ist; damit sie ihren Prinzipalen sagen können, daß sie solche mit eignen Augen gesehen haben; hernach bringe sie wieder hieher. Die Abgeordneten machten große Augen; aber die Ehrfurcht vor dem Erzpriester band ihre Zungen, und sie folgten dem Diener stillschweigend und als Leute, denen nicht ganz wohl bey der Sache war. Als sie wieder zurückgekommen, fragte sie Agathyrsus: ob sie die Störche gesehen hätten? und da sie insgesamt mit Ja geantwortet hatten, fuhr er fort: nun so geht, macht dem sehr ehrwürdigen Gericht der Zehnmänner mein Kompliment, und sagt denen, die euch geschickt haben: ich lasse ihnen wissen, daß diese Störche, wie alles übrige, was in dem Umfang des Jasontempels lebt, unter Jasons Schutze stehen; und daß ich die Anmaßung, einen Erzpriester dieses Tempels vorzuladen, und nach Abderitischen Gesetzen

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richten zu wollen, sehr lächerlich finde — und damit winkte er ihnen, sich wegzubegeben. Diese Antwort, deren sich die Herren Zehnmänner um so mehr hätten versehen sollen, da ihnen nicht unbekannt seyn konnte, daß der Jasontempel mit seiner Priesterschaft von der Gerichtsbarkeit der Stadt Abdera gänzlich befreyt war, sezte sie in eine unbeschreibliche Verlegenheit. Der Oberpriester S t r o b y l u s zwar gerieth darüber in einen heftigen Zorn; er schien vor Wuth gar nicht mehr zu wissen was er sagte, und endigte endlich damit, der ganzen Republik den Untergang zu drohen, wofern dieser unleidliche Stolz eines klei10

nen aufgeblasenen Pfaffen, der, wie er sagte, nicht einmal als ein öffentlicher Priester anzusehen sey, nicht gedemüthigt und der beleidigten Latona die vollständigste Genugthuung gegeben werde. Allein der A r c h o n und seine drey Rathsherren erklärten sich: daß Latona (für deren Frösche sie übrigens alle schuldige Ehrerbietung hegten) nichts damit zu thun habe, wenn die Zehnmänner die Grenzen ihrer Gerichtsbarkeit überschritten. Ich hab’ euchs vorhergesagt, sprach der A r c h o n ; aber ihr wolltet mich nicht hören. Würde mein Vorschlag angenommen worden seyn, so bin ich gewiß, der Erzpriester hätte uns eine höfliche und gefällige Antwort gegeben; denn ein gut Wort findt eine gute Statt. Aber der ehrwürdige Oberpriester glaubte eine Gelegenheit

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gefunden zu haben, seinen alten Groll an dem Erzpriester auszulassen; und nun findet sich, daß er und diejenigen, die sich von seinem unzeitigen Eyfer hinreissen ließen, dem Gericht der Zehnmänner einen Schandfleck zugezogen haben, den alles Wasser des H e b r u s und N e s t u s in hundert Jahren nicht wieder abwaschen wird. Ich gestehe es, (sezte er mit einer Hitze hinzu, die man in vielen Jahren nicht an ihm wahrgenommen hatte) ich bin es müde der Vorsteher einer Republik zu seyn, die sich von Eselsschatten und Fröschen zu Grunde richten läßt, und ich bin sehr gesonnen, mein Amt eh es Morgen wird niederzulegen; aber, so lang’ ich es noch trage, Herr Oberpriester, sollt ihr mir für jede Unordnung haften, die von diesem Augenblick an auf den Straßen

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von Abdera entstehen wird. Und mit diesen Worten, die mit einem sehr ernstlichen Blick auf den betroffnen S t r o b y l u s begleitet waren, begab sich der A r c h o n mit seinen drey Anhängern hinweg, und ließ die übrigen in sprachloser Bestürzung zurücke. Was ist nun anzufangen, sagte endlich der Oberpriester, den die Wendung, die das Werk seiner Erfindung wider alles Vermuthen genommen hatte, nicht

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wenig zu beunruhigen anfieng; was ist nun zu thun, meine Herren? — Das wissen wir nicht, sagten die beyden Zunftmeister und der vierte Rathsherr, und giengen ebenfalls davon; so daß S t r o b y l u s mit den zween Vorstehern des geheiligten Teichs allein blieben, und nachdem sie eine Zeitlang alle drey zugleich gesprochen hatten, ohne selbst recht zu wissen, was sie sagten, endlich des Schlusses eins wurden: fördersamst bey dem einen der Vorsteher die Mittagsmahlzeit einzunehmen, und sodann mit ihren Freunden und Anhängern zu Rathe zu gehen, wie sie es nun anzufangen hätten, um die Bewegung, worein das Volk diesen Morgen gesezt worden war, auf einen Zweck zu lenken, der den Sieg ihrer Parthey entscheiden könnte.

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10. Agathyrsus beruft seine Anhänger zusammen. Substanz seiner Rede an sie. Er ladet sie zu einem großen Opferfeste ein. Der Archon Onolaus will sein Amt niederlegen. Unruhe der Parthey des Erzpriesters über dieses Vorhaben. Durch was für eine List sie solches vereitelten. Inzwischen ließ A g a t h y r s u s , so bald die Abgeordneten der Zehnmänner sich wieder wegbegeben, unverzüglich die Vornehmsten von seinem Anhang im Rath und unter der Bürgerschaft, nebst allen J a s o n i d e n , zu sich berufen. Er erzählte ihnen, was ihm so eben, auf Anstiften des Priesters S t r o b y l u s ,

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mit den Zehnmännern begegnet sey; und stellte ihnen vor, wie nothwendig es nun für das Ansehen ihrer Parthey sowohl als für die Ehre und selbst für die Erhaltung der Stadt Abdera sey, die Anschläge dieses ehrsüchtigen ränkevollen Mannes zu vereiteln, und dem Volke, welches er durch die lächerliche Fabel von der angeblichen Wehklage der Latonenfrösche in Unruhe gesezt, wieder einen entgegengesezten Stoß zu geben. Es falle einem jeden von selbst in die Augen, daß S t r o b y l u s dieses armselige Mährchen nur deßwegen ersonnen habe, um die eben so ungereimte, aber wegen der abergläubischen Vorurtheile des Volkes, desto gefährlichere Anklage, die er gegen ihn, den Erzpriester, bey den Zehnmännern angebracht, vorzubereiten, und eine wichtige, die Wohlfart der ganzen Republik betreffende Sache daraus zu machen.

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Aber auch dies sey im Grunde doch nur ein Mittel, wozu er in der Verzweiflung gegriffen habe, um seiner darnieder gesunknen Parthey wieder auf die Füße zu helfen, und von den Bewegungen, welche in der Stadt dadurch erregt worden, bey der bevorstehenden Entscheidung des Eselsschatten-Handels Vortheil zu ziehen. Weil nun, aus eben diesem Grunde, leicht vorauszusehen sey, daß der unruhige Priester aus dem, was diesen Morgen mit den Zehnmännern vorgegangen, neuen Stoff hernehmen werde, ihn, den Erzpriester, bey dem Volke verhaßt zu machen, und im Nothfall wohl gar einen abermaligen noch gefährlichern Aufstand zu erregen: so habe er für nöthig gehalten, 10

seine und des gemeinen Wesens zuverläßigste Freunde in den Stand zu setzen, dem Volke und allen, die dessen bedürften, richtigere Begriffe von dem heutigen Vorgang und dessen allenfallsigen Folgen geben zu können. Was also die Störche anbelange, so wären solche, ohne sein Zuthun, von selbst gekommen und hätten sich auf einem Baum seines Gartens ein Nest gebaut. Er habe sich nicht für berechtigt gehalten, sie darinn zu stören; theils, weil die Störche seit undenklichen Zeiten bey allen gesitteten Völkern im Besitz einer Art von geheiligtem Gastrechte stünden; theils, weil die Freyheit des Jasontempels und der Schutz dieses Gottes alle lebende und leblose Dinge angehe, die sich in dem Umfang seiner Mauern befänden. Das Gesetz, wodurch die Zehnmänner

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vor einigen Jahren die Störche aus dem Gebiet von Abdera verwiesen hätten, gehe ihn nichts an; indem die Gerichtsbarkeit dieses Tribunals sich nur über dasjenige erstrecke, was auf den Dienst der Latona und die Gebräuche desselben Bezug habe; und überhaupt sey bekannt: daß der Jasontempel in so fern zwar mit der Republik in Verbindung stehe, als sich diese bey dessen Stiftung öffentlich verbindlich gemacht, ihn gegen alle gewaltsame Unternehmungen einheimischer oder auswärtiger Feinde mit allen ihren Kräften zu beschützen; übrigens aber von allem Gerichtszwang der Abderitischen Tribunalien, und von aller Oberherrlichkeit der Republik selbst, vollkommen und auf ewig befreyt sey. Er habe also, indem er die unbefugte Vorladung von sich abge-

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wiesen, nichts gethan, als was seine Würde von ihm erfodert; die Zehnmänner hingegen hätten durch diesen unbesonnenen Schritt, wozu die Mehrheit derselben von dem Priester S t r o b y l u s verleitet worden, ihn in den Fall gesezt, von der Republik wegen einer so groben Verletzung seiner Erzpriesterlichen Vorrechte, im Nahmen des Jasons und aller Jasoniden, deren Haupt er sey, die strengste und vollständigste Genugthuung zu fodern. Die Sache wäre von

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wichtigern Folgen, als die Anhänger des Zunftmeister P f r i e m e und S t r o b y l u s mit seinen Froschpflegern sich vielleicht vorstellten. Das goldne Vließ, welches die Jasoniden als ihr wichtigstes Erbgut in diesem Tempel aufbewahrten, wäre seit Jahrhunderten als das Palladium von Abdera betrachtet und verehrt worden; und die Abderiten hätten sich also wohl vorzusehen, keine Schritte zu thun noch zuzulassen, wodurch sie vielleicht durch eigne Schuld desjenigen beraubt werden könnten, an welches, nach einem uralten und zur Religion gewordnen Glauben, das Schicksal und die Erhaltung ihrer Republik gebunden sey. Der Erzpriester empfieng auf diesen Vortrag von allen Anwesenden die

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stärksten Versicherungen ihres Eyfers für die gemeine Sache sowohl, als für die Rechte und Freyheiten des Jasontempels. Man besprach sich über die verschiednen Maasregeln, die man nehmen wollte, um die Bürgerschaft in ihren guten Gesinnungen zu befestigen, und diejenigen wieder zu gewinnen, die entweder das vorgegebne Wunderzeichen mit den Fröschen der Latona irre gemacht, oder Strobylus gegen die Störche des Erzpriesters aufgewiegelt haben würde. Die Versammlung trennte sich hierauf, und jeder begab sich an seinen Posten, nachdem Agathyrsus sie alle zu einem feyerlichen Opfer eingeladen hatte, welches er diesen Abend dem Jason in seinem Tempel bringen wollte.

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Während, daß dies im Palast des Erzpriesters vorgieng, war der Archon äusserst mißvergnügt über die nicht allzuehrenfeste Rolle, die er wider Willen hatte spielen müssen, nach Hause gekommen, und hatte alle seine Verwandte, Brüder, Schwäger, Söhne, Tochtermänner, Neffen und Vettern, zu sich berufen lassen, um ihnen anzukündigen: wasgestalten er fest entschlossen sey, morgendes Tages vor dem großen Rath seine Würde niederzulegen, und sich auf ein Landgut, das er vor einigen Jahren auf der Insel Thasos gekauft hatte, zurückzuziehen. Sein ältester Sohn und noch etliche von der Familie waren bey diesem Familien-Konvent nicht zugegen, weil sie eine halbe Stunde zuvor zu dem Erzpriester waren gebeten worden. Da nun die übrigen sahen, daß Onolaus, aller ihrer Bitten und Vorstellungen ungeachtet, unbeweglich auf seinem Vorsatz beharrte: so schlich sich einer von ihnen weg, um der Versammlung im Jasonstempel Nachricht davon zu geben, und sie um ihren Beystand gegen einen so unverhofften widrigen Zufall zu ersuchen. Er langte eben an, da die Versammlung im Begriff war, auseinander zu gehen. Diejenigen,

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denen die Gemüthsart des Archons von langem her bekannt war, fanden die Sache bedenklicher, als sie beym ersten Anblick den meisten vorkam. Seit zehn Jahren, sagten sie, ist dies vielleicht das erstemal, daß der Archon eine Entschließung aus sich selbst genommen hat. Gewiß ist sie ihm nicht plötzlich gekommen! Er brütet schon eine geraume Zeit darüber, und der heutige Vorgang hat nur die Schale gesprengt, die über kurz oder lange doch hätte brechen müssen. Kurz, diese Entschließung ist sein eigen Werk, und man kann also sicher darauf rechnen, daß es nicht so leicht seyn wird, ihn davon zurückzubringen. — Die ganze Versammlung gerieth darüber in Unruhe. Man fand, 10

daß dieser Streich in einem so schwankenden Zeitpunkt, wie der gegenwärtige, der ganzen Parthey und der Republik selbst, fatal werden könnte. Es wurde also einhellig beschlossen: daß man zwar soviel von diesem Vorhaben des Archons unter das Volk kommen lassen müßte, als vonnöthen sey, solches in Furcht und Ungewißheit zu setzen; zugleich aber wollte man auch veranstalten, daß, noch vor dem Opfer im Jasonstempel, die angesehensten von den Räthen und Bürgern beyder Partheyen sich zu dem Archon begeben, und ihn im Namen des ganzen Abdera beschwören sollten, das Ruder der Republik nicht mitten in einem Sturm zu verlassen, wo sie eines so weisen Piloten am meisten vonnöthen hätten.

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Der Gedanke, die vornehmsten von beyden Partheyen hierinn zu vereinigen, wurde dadurch nothwendig, weil man voraussah, daß ohne dieses alle ihre Arbeit an dem Archon fruchtlos seyn würde. Denn wiewohl er von Jugend an der Aristokratie eifrig ergeben war: so hatte er sich doch zu einem Grundsatz gemacht, nicht dafür angesehen seyn zu wollen; und die Popularität, die er zu diesem Ende schon so lange affectierte daß sie ihm endlich ganz natürlich ließ, war es eben, was ihm beym Volke so beliebt gemacht hatte, als noch wenige von seinen Vorfahren gewesen waren. Besonders aber hatte er, seitdem sich die Stadt in die zwo Partheyen der Esel und der Schatten getheilt befand, einen ordentlichen Ehrenpunct darinn gesetzt, sich so zu betragen,

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daß er keiner von beyden Partheyen Ursach gäbe, ihn zu der ihrigen zu zählen; und wiewohl beynahe alle seine Freunde und Anverwandte erklärte E s e l waren, so blieben die S c h a t t e n doch überzeugt, daß sie nichts dadurch verlöhren und die E s e l nichts dabey gewännen; indem diese genöthigt waren, alle ihre Schritte vor ihm zu verbergen, und bey jedem Vortheil, den sie über die Schatten erhielten, sich darauf verlassen konnten, daß er, um die Sachen

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wieder ins Gleichgewicht zu bringen, sich auf die Seite der letztern neigen würde, wiewohl er keinen einzigen von ihnen persönlich liebte. Die Bekanntmachung der Entschließung des Archons hatte alle die Wirkung, die man sich davon versprochen hatte. Das Volk gerieth darüber in neue Bestürzung, und die meisten sagten, man brauche nun weiter nicht nachzuforschen, was die Wehklage der geheiligten Frösche vorbedeute. Wenn der Archon die Republik in dem betrübten Zustande, worinn sie sich befinde, verlasse, so sey alles verlohren. Der Priester Strobylus und der Zunftmeister Pfrieme erhielten die Nachricht von dem großen Opfer, das der Erzpriester veranstalte, und das Gerüch-

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te von dem Vorsatz des Archon, seine Stelle niederzulegen, zu gleicher Zeit. Sie übersahen beym ersten Blick die Folgen dieses gedoppelten Streichs, und eilten den einen zu erwiedern und dem andern zuvorzukommen. Strobylus ließ das Volk zu einer öffentlichen E x p i a t i o n einladen, welche auf den Abend in dem Tempel der Latona mit großen Feyerlichkeiten angestellt werden sollte, um die Stadt von geheimen Verbrechen zu reinigen, und die schlimme Vorbedeutung des E l e l e l e l e l e u der geheiligten Frösche abzuwenden. Der Zunftmeister hingegen gieng, die Räthe, Zunftmeister und angesehensten Bürger von seiner Parthey aufzusuchen, und sich mit ihnen zu berathen, wie der Archon auf andere Gedanken zu bringen seyn möchte. Die meisten waren

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schon durch die geheimen Werkzeuge der Gegenparthey vorbereitet, welche als ein großes Geheimniß herumgeflüstert hatten: man wüßte ganz gewiß, daß die Esel sich alle mögliche Mühe gäben, den Archon unterhand in seinem Entschluß zu bestärken. Die Schatten hielten sich dadurch überzeugt, daß ihre Gegner einen aus ihrem Mittel zu der höchsten Würde in der Republik zu erheben gedächten, und also der Mehrheit im großen Rath, bey welchem die Wahl stund, schon ganz gewiß seyn müßten. Diese Betrachtung setzte sie in so großen Allarm, daß sie, mit einer Menge Volks hinter ihnen her, zur Wohnung des Onolaus eilten, und während der Pöbel ein Vivat nach dem andern erschallen ließ, hinaufgiengen, um Seine Gnaden im Namen der ganzen Bürgerschaft flehentlich zu bitten, den unglücklichen Gedanken an Resignation aufzugeben, und sie niemals, am wenigsten zu einer Zeit zu verlassen, wo seine Weisheit zu Beruhigung der Stadt unentbehrlich sey. Der Archon zeigte sich über diesen öffentlichen Beweis der Liebe und des Vertrauens s e i n e r w e r t h e n M i t b ü r g e r sehr vergnügt. Er verhielt ihnen nicht, daß kaum vor

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einer Viertelstunde der größte Theil der Rathsherren, der Jasoniden und aller übrigen alten Geschlechter von Abdera bey ihm gewesen, und eben diese Bitte in eben so geneigten und dringenden Ausdrücken an ihn gethan hätten. So große Ursache er auch habe, der beschwerlichen Regierungslast müde zu seyn, und zu wünschen, daß sie auf stärkere Schultern als die seinige gelegt werden möchte: so habe er doch kein Herz, das diesem so lebhaft ausgedrückten Zutrauen beyder Partheyen widerstehen könne. Er sehe diese ihre Einmüthigkeit in Absicht auf seine Person und Würde als eine gute Vorbedeutung für die baldige Wiederherstellung der gemeinen Ruhe an, und werde seines 10

Orts alles Mögliche mit Vergnügen dazu beytragen. Als der Archon diese schöne Rede geendigt hatte, sahen die guten S c h a t t e n einander aus großen Augen an, und fanden sich, wiewohl zu ihrem empfindlichsten Mißvergnügen, auf einmal um die Hälfte klüger als zuvor. Denn sie merkten nun, daß sie von den E s e l n betrogen und zu einem falschen Schritt verleitet worden waren. Sie hatten, in der Meynung, daß sie diesen Schritt a l l e i n thäten, den Archon ganz dadurch auf ihre Seite zu ziehen gehoft; und nun befand sichs, daß er ihren Gegnern eben so viel Verbindlichkeit hatte, als ihnen; welches just so viel war, als ob er ihnen gar keine hätte. Aber das war noch nicht das Ärgste. Das hinterlistige Betragen der E s e l war ein

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offenbarer Beweis, wie viel ihnen daran gelegen sey, daß die Stelle des Archons nicht ledig würde. Nun konnte ihnen aber an der Person des Onolaus selbst nicht viel gelegen seyn; denn er hatte nie das Geringste für ihre Parthey gethan. Wenn sie also so eifrig wünschten, daß er seinen Platz behalten möchte: so konnt’ es aus keiner andern Ursache geschehen, als weil sie Ursache hatten zu glauben, daß die S c h a t t e n Meister von der Wahl des neuen Archons bleiben würden. Diese Betrachtungen, die sich ihnen itzt in Einem Blick darstellten, waren von einer so verdrießlichen Art, daß die armen S c h a t t e n alle Mühe von der Welt hatten, ihren Unmuth zu verbergen; und sich, zu großem Vergnügen des Archons, ziemlich eilfertig wegbegaben; ohne daß es diesem

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eingefallen wäre, sich darüber zu verwundern, oder die Veränderung in ihren Gesichtern wahrzunehmen. Der heutige Tag war ein großer Tag für den guten Onolaus gewesen, und er war nun vollkommen wieder mit Abdera und sich selbst zufrieden. Er befahl also, daß seine Thüre geschlossen werden sollte, zog sich in sein Gynäceum zurück, warf sich in seinen Lehnstuhl, schwazte mit seiner Frau und seinen

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Töchtern, aß zu Nacht, gieng zeitig zu Bette, und schlief, wohlgetröstet, und unbesorgt um das Schicksal von Abdera, bis an den hellen Morgen. W. (Die Fortsetzung künftig.)

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Beschluß der Onoskiamachie. (fortgesetzt von S. 182. No. 5.) 11. Der Entscheidungstag. Maasregeln beyder Partheyen. Die Vierhundert versammeln sich, und das Gericht nimmt seinen Anfang. Philantropisch-patriotische Träume des Herausgebers dieser merkwürdigen Geschichte. Die verschiednen Maschinen, welche man diesen Tag über auf beyden Seiten hatte spielen lassen, brachten den Abderitischen Staatskörper bey dem An10

schein der größten innerlichen Bewegung, durch die Stöße, die er nach entgegengesetzter Richtung erhielt, in eine Art von wagerechtes Schwanken, vermöge dessen um die Zeit, da die V i e r h u n d e r t zu Entscheidung des Eselsschatten-Handels zusammenkamen, sich alles ungefähr in eben dem Stande befand, worinn es einige Tage zuvor gewesen war, d. i. daß die E s e l den größten Theil des Raths, die Patrizier und die ansehnlichsten und vermöglichsten von der Bürgerschaft auf ihrer Seite hatten; die Schatten hingegen ihre meiste Stärke von der größern Anzahl zogen, indem der Pöbel von Abdera, seit dem großen feyerlichen Umgang um den Tempel und Froschteich der Latona, welchen Strobylus an dem gestrigen Abend veranstaltet, und

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dem die sämmtlichen S c h a t t e n mit dem Nomophylax G r y l l u s und dem Zunftmeister P f r i e m an ihrer Spitze, sehr andächtig beygewohnt hatten, wieder gänzlich für diese letztere Parthey erklärt war. Es würde bey dieser Gelegenheit dem Priester Strobylus und den übrigen Häuptern derselben ein leichtes gewesen seyn, mittelst ihres Ansehens über diesen fanatischen Haufen, welcher größtentheils bey gänzlicher Zerrüttung der Republik mehr zu gewinnen als zu verlieren hatte, noch an selbigem Abend viel Unheil in Abdera anzurichten. Allein außerdem, daß der Oberpriester im Namen des Archons noch einmal nachdrücklichst angewiesen

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worden war, den Pöbel in gehöriger Ordnung zu erhalten, und dafür zu sorgen, daß der Tempel und alle Zugänge zu dem geheiligten Teiche noch vor Sonnenuntergang geschlossen wären — so waren sie auch selbst weit entfernt, die Sache ohne höchste Noth aufs Äußerste treiben, oder die ganze Stadt in Blut und Flammen setzen zu wollen; und so klug waren sie doch, Trotz ihrer übrigen Abderitheit, alle, um einzusehen, daß, wenn ihnen der Pöbel einmal die Zügel aus der Hand gerissen hätte, es nicht mehr in ihrer Gewalt seyn würde, der ungestümen Wuth eines so blinden reißenden Thiers wieder Einhalt zu thun. Der Zunftmeister begnügte sich also, da der Umgang vorbey war, und die Thüren des Tempels geschlossen wurden, dem auseinandergehenden

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Volke zu sagen: er hoffte, daß sich alle redliche Abderiten morgen um neun Uhr auf dem Markte bey dem Urtheil über den Handel ihres Mitbürgers Struthion einfinden, und, soviel an ihnen wäre, dazu verhelfen würden, daß seine gerechte Sache auch den Sieg Rechtens davon trage. Diese Einladung war zwar, ungeachtet der glimpflichen, und, seiner Meynung nach, sehr behutsamen Ausdrücke, worinn er sie vorbrachte, nicht viel besser, als ein höchst illegales Verfahren eines aufrührischen Zunftmeisters, der im Nothfall die Richter durch die unmittelbare Gefahr eines Tumults nöthigen wollte, das Urtheil nach seinem Sinn abzufassen. Allein dies war es auch, worauf es ankommen zu lassen die S c h a t t e n fest entschlossen waren;

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und, da die andere Parthey hievon völlig überzeugt war: so hatten sie ihrerseits alle mögliche Maasregeln genommen, sich auf das Äußerste, was begegnen könnte, gefaßt zu machen. Der Erzpriester ließ, sobald das Gericht den Anfang nahm, alle Zugänge zum Jasontempel von einer Schaar handfester Gerber und Fleischer, die mit tüchtigen Knitteln und Messern versehen waren, besetzen; und in den Häusern der vornehmsten E s e l hatte man sich in eine Verfassung gesetzt, als ob man eine Belagerung auszuhalten gedenke. Die E s e l selbst erschienen mit Dolchen unter ihren langen Kleidern auf dem Gerichtsplatz; und einige von denen, die am lautesten sprachen, hatten die Vorsicht gebraucht, sogar einen Panzer unter ihrem Brustlatz zu tragen, um ihren patriotischen Busen mit desto größerer Sicherheit den Stößen der Feinde der guten Sache entgegensetzen zu können. Die neunte Stunde kam nun heran; ganz Abdera war in zitternder Bewegung, erwartungsvoll des Ausgangs, den ein so unerhörter Handel nehmen

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würde; und kein Mensch hatte sein Frühstück ordentlich zu sich genommen, wiewohl alles schon mit Tagesanbruch auf den Füßen war. Die Vierhundert versammelten sich auf der Terrasse der Tempel des Apollo und der Diana (dem gewöhnlichen Platz, wo der große Rath unter freyem Himmel gehalten wurde), dem großen Marktplatz gegenüber, von welchem man auf einer breiten Treppe von vierzehn Stuffen zur Terrasse hinaufstieg. Auch die Partheyen mit ihren nächsten Anverwandten und mit ihren beyden Sykophanten hatten sich bereits eingefunden und ihren gehörigen Platz eingenommen; indessen sich der ganze Markt mit einer Menge Volks anfüllte, dessen Gesinnungen 10

durch ein lermendes Vivat, so oft ein Rathsherr oder Zunftmeister von der Schattenparthey einhergestiegen kam, sich deutlich genug verriethen. Alles wartete nun auf den N o m o p h y l a x , der, nach den Gewohnheiten der Stadt Abdera, in allen Fällen, wo die Versammlung des großen Rathes nicht unmittelbare Angelegenheiten des gemeinen Wesens betraf, das Präsidium bey demselben führte. Die E s e l hatten zwar alles angewandt, den Archon Onolaus dahin zubringen, daß er, weil es doch um ein neues Gesetz zu thun wäre, das bey dieser Gelegenheit abgefaßt werden sollte, den elfenbeinernen Lehnstuhl (der, um drey Stufen über die Bänke der Räthe erhöht, für den Präsidenten gesetzt war) mit seiner eignen ehrwürdigen Person ausfüllen

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möchte. Aber er erklärte sich: daß er lieber das Leben lassen, als sich dazu verstehen wolle, über ein Eselsschatten-Gericht zu präsidiren. Man hatte sich also gezwungen gesehen, seiner Delicatesse nachzugeben. Der Nomophylax, als ein großer Anhänger der Etikette, gewohnt, bey dergleichen Gelegenheiten auf sich warten zu lassen, hatte dafür gesorgt, daß die Versammlung indessen mit einer Musik von seiner Komposition unterhalten, und (wie er sagte) zu einer so feyerlichen Handlung vorbereitet würde. Dieser Einfall, wiewohl er eine Neuerung war, wurde dennoch sehr wohl aufgenommen, und that, (gegen die Absicht des Nomophylax, der seine Parthey dadurch in verstärkte Bewegungen von Muth und Eifer hatte setzen wollen) eine sehr

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gute Würkung. Denn die Musik gab denen von der Parthey des Erzpriesters zu einer Menge späsiger Einfälle Anlaß, über welche sich von Zeit zu Zeit ein großes Gelächter erhob. Einer sagte: dieses A l l e g r o klingt ja wie ein Schlachtgesang — z u e i n e m W a c h t e l k a m p f e , fiel ein anderer ein. Dafür tönt aber auch, sagte ein dritter, das A d a g i o , als ob es dem Zahnbrecher Struthion und Meister K n i e r i e m e n , seinem Schutzpatron, zu Grabe singen

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sollte. Die ganze Musik, sagte ein vierter, verdient von Schatten gemacht und von Eseln gehört zu werden, — u. s. w. So frostig nun diese Scherze waren, so brauchte es doch bey einem so jovialischen und so leicht anzusteckenden Völkchen, wie die Abderiten waren, nicht mehr, um die ganze Versammlung unvermerkt in ihre natürliche komische Laune umzustimmen, die mit der Partheywut, wovon sie noch kaum besessen waren, einen seltsamen Kontrast machte, und vielleicht mehr als irgend etwas anders zur Erhaltung der Stadt in diesem kritischen Augenblicke beytrug. Endlich erschien der Nomophylax mit seiner Leibwache von armen alten Invaliden-Handwerkern, die, mit stumpfen Hellebarten und mit einer fried-

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samen Art von eingerosteten Degen bewaffnet, mehr das Ansehen von den lächerlichen Figuren hatten, womit man in den Gärten die Vögel schreckt, als von Kriegsmännern, die dem Gericht beym Pöbel Würde und Furchtbarkeit verschaffen sollten. Wohl indessen der Republik, die zu Beschirmung ihrer Thore und innerlichen Sicherheit keiner andern Helden nöthig hat als solcher! Der Anblick dieser grotesken Militzer, und der ungeschickten possierlichen Art, wie sie sich in dem kriegerischen Aufzug, worein man sie vor drey Stunden verkleidet hatte, gebehrdeten, erweckten bey dem zuschauenden Volke einen neuen Anstoß von Lustigkeit; so daß der Herold viele Mühe hatte, die Leute endlich zu einer leidlichen Stille, und zu dem Respect, den sie ihrem

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höchsten Gerichte schuldig waren, zu bringen. Der Präsident eröffnete darauf die Session mit einer kurzen Rede; der Herold gebot ein abermaliges Stillschweigen, und die Sykophanten beyder Theile wurden namentlich aufgefodert, sich mit ihrer Klage und Verantwortung mündlich vernehmen zu lassen. Den Sykophanten, die für große Meister in ihrer Art passierten, mußte die Gelegenheit, ihre Kunst an einem E s e l s s c h a t t e n sehen zu lassen, an sich allein schon eine große Aufmunterung seyn. Man kann also leicht denken, wie sie sich nun vollends zusammengenommen haben werden, da dieser Eselsschatten ein Gegenstand geworden war, an dem die ganze Republik Antheil nahm, und um dessentwillen sie sich in zwoo Partheyen getrennt hatte, deren jede die Sache ihres Klienten zu ihrer eignen machte. Seit ein Abdera in der Welt war, hatte man noch keinen Rechtshandel gesehen, der so lächerlich an sich selbst, und so wichtig durch die Art, wie er behandelt wurde, gewesen wäre. Ein Sykophant müßte nur ganz und gar kein Genie und keinen S y k o -

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p h a n t e n s i n n gehabt haben, der bey einer solchen Gelegenheit nicht sich selbst übertroffen hätte. Um so mehr ist es zu beklagen, daß der übelberüchtigte Zahn der Zeit, dem so viele andere große Werke des Genies und Witzes nicht entgehen konnten, noch künftig entgehen werden, leider! auch der Originale dieser beyden berühmten Reden nicht verschont hat! wenigstens soviel uns bekannt ist. Denn wer weis, ob es nicht vielleicht einen künftigen F o u r m o n t oder S e v i n , der auf Entdeckung alter Handschriften ausgeht, dereinst gelingen mag, eine Abschrift derselben in irgend einem bestaubten Winkel einer alten griechischen 10

Klosterbibliothek aufzuspüren? Oder, wenn dies nicht zu hoffen stünde, wer kann sagen, ob nicht in der Folge der Zeiten Thrazien selbst wieder in die Hände christlicher Fürsten fallen wird, die sich, nach dem Beyspiel einiger großen Könige unsres philosophisch-heroischen Alters, eine Ehre daraus machen werden, mächtige Beförderer der Wissenschaften zu seyn, Akademien zu stiften, versunkne Städte ausgraben zu lassen, u. s. w. Wer weis, ob nicht alsdann diese gegenwärtige Abderitengeschichte selbst, so unvollkommen sie ist, in die Sprache dieses künftig b e s s e r n T h r a z i e n s übersetzt, die Ehre haben wird, Gelegenheit zu geben, daß ein solcher neuthrazischer Musagete auf den Einfall kommt, die Stadt Abdera aus ihrem Schutte hervorgraben zu lassen;

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da dann ohne Zweifel auch die Kanzley und das Archiv dieser berühmten Republik, und in demselben die sämmtlichen Originalakten des Prozesses um des Esels Schatten, nebst den beyden Reden, deren Verlust wir beklagen, sich wieder finden werden? — Es ist wenigstens angenehm, sich solchergestalt auf den Flügeln patriotisch-menschenfreundlicher Träume in die Zukunft zu schwingen, und sich an den Glückseligkeiten zu laben, die unsern Nachkommen noch bevorstehen; Glückseligkeiten, für welche die (bekanntermaaßen) immer steigende Vervollkommnerung der Wissenschaften und Künste, und der von ihnen sich über alles Fleisch ergießenden Erleuchtung, Verschönerung und Sublimirung der Denkart, des Geschmacks und der Sitten uns sichre

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Bürgschaft leistet! Inzwischen gereicht es uns doch zu einigem Troste, daß wir uns im Stande sehen, aus den Pappieren, aus welchen gegenwärtige Fragmente der Abderitengeschichte genommen sind, wenigstens einen A u s z u g dieser Reden zu liefern, dessen Ächtheit um so weniger verdächtig ist, da kein Leser, der eine Nase hat, den D u f t d e r A b d e r i t h e i t verkennen wird, der daraus empor-

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steigt — ein innerliches Argument, das am Ende doch immer das beste zu seyn scheint, das für das Werk irgend eines Sterblichen, er sey nun ein O s s i a n , oder ein A b d e r i t i s c h e r F e i g e n r e d n e r , sich geben läßt.

12. Rede des Sykophanten Physignatus. Der Sykophant P h y s i g n a t u s , der als Sachwalter des Zahnarztes Struthion zuerst redete, war ein Mann von Mittelgröße, starken Muskeln und breiten Lungenflügeln; er wußte sich viel damit, daß er ein Schüler des berühmten Gorgias gewesen war, und machte Ansprüche, einer der großen Redner seiner Zeit zu seyn; aber darinn war er, wie in vielen andern, ein offenbarer Abderit.

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Seine größte Kunst bestund darinn, daß er, um seinem Vortrag durch die manchfaltige Modulation seiner Stimme mehr Lebhaftigkeit und Ausdruck zu geben, in dem Umfang von anderthalb Oktaven von einem Intervall zum andern wie ein Eichhorn herumsprang, und so viel Grimassen und Gestikulationen dazu machte, als ob er Arabisch spräche, und sich seinen Zuhörern nur durch Gebehrden verständlich machen könnte — Physignathus trat mit der ganzen Unverschämtheit eines Sykophanten auf, der sich darauf verläßt, daß er Abderiten zu Zuhörern hat, und fieng also an: Edle, Ehrenfeste und Weise, Großmögende Vierhundertmänner! Wenn jemals ein Tag war, an welchem sich die Vortreflichkeit der Verfassung

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unsrer Republik in ihrem größten Glanz enthüllt hat, und wenn jemals ich mit dem Gefühl, was es ist, ein Bürger von Abdera zu seyn, unter euch aufgetreten bin: so ist es an diesem großen festlichen Tage, da vor diesem ehrwürdigen höchsten Gerichte, vor dieser erwartungsvollen und theilnehmenden Menge des Volks, vor diesem ansehnlichen Zusammenfluß von Fremden, die der Ruf eines so außerordentlichen Schauspiels zu ganzen Schaaren herbeygezogen hat, ein Rechtshandel zur Entscheidung gebracht werden soll, der in einem minder freyen, minder wohleingerichteten Staat, der selbst in einem Theben, Athen oder Sparta nicht für wichtig genug gehalten worden wäre, die stolzen Verwalter des gemeinen Wesens nur einen Augenblick zu beschäftigen. Edles,

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preiswürdiges, glückliches, dreymal glückliches Abdera! Du allein genießest unter dem Schutz einer Gesetzgebung, der auch die geringsten, auch die zweifelhaftesten und spitzfündigsten Rechte und Ansprüche der Bürger heilig sind, du allein genießest das Wesen einer Sicherheit und Freyheit, von denen andere Republiken, was auch sonst die Vorzüge seyn mögen, womit sich ihre patriotische Eitelkeit brüstet, nur den Schatten zum Antheil haben. Oder, saget mir, in welcher andern Republik würde ein Rechtshandel zwischen einem gemeinen Bürger und einem der Geringsten aus dem Volke, ein Handel, der dem ersten Anblick nach kaum zwoo oder drey Drachmen beträgt, ein 10

Handel über einen Gegenstand, der so unbedeutend scheint, daß die Gesetze ihn bey Benennung der Dinge, welche ins Eigenthum kommen können, gänzlich vergessen zu haben scheinen, ein Handel über etwas, dem ein subtiler Dialektiker sogar den Namen eines Dinges streitig machen könnte, mit einem Wort, ein Streit über den Schatten eines Esels — zum Gegenstand der allgemeinen Theilnehmung, zur Sache eines Jeden, und also, wenn ich so sagen darf, gleichsam zur Sache des ganzen Staats geworden seyn? In welcher andern Republik sind die Gesetze des Eigenthums so bestimmt, die gegenseitigen Jura vel quasi der Bürger vor aller Willkühr der obrigkeitlichen Personen so sicher gestellt, die geringfügigsten Ansprüche oder Foderungen selbst des

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ärmsten Bürgers in den Augen der Obrigkeit so wichtig und hochangesehen, daß das höchste Gericht der Republik selbst es nicht unter seiner Würde hält, sich feyerlich zu versammeln, um über das zweifelhaftscheinende Recht an einen Eselsschatten zu erkennen? Wehe dem Mann, der bey diesem Worte die Nase rümpfen, und aus albernen kindischen Begriffen von dem, was groß oder klein ist, mit unverständigem Hohnlächeln ansehen kann, was die höchste Ehre unsrer Justizverfassung, der Ruhm unsrer Obrigkeit, der Triumph des ganzen Abderitischen Wesens und eines jeden guten Bürgers ist! Wehe dem Mann, ich wiederhol’ es zum zweyten und drittenmal, der keinen Sinn hat, dies zu fühlen; und Heil der Republik, in welcher — sobald es auf die Gerecht-

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same der Bürger, auf einen Zweifel über Mein und Dein, die Grundfeste aller bürgerlichen Sicherheit, ankömmt — auch ein Eselsschatten keine Kleinigkeit ist! Aber, indem ich solchergestalt auf der einen Seite mit aller Wärme eines Patrioten, allem gerechten Stolz eines ächten Abderiten fühle und erkenne, welch ein glorreiches Zeugniß von der vortreflichen Verfassung unsrer Re-

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publik sowohl als von der unpartheyischen Festigkeit und nichts übersehenden Sorgfalt, womit unsre ruhmwürdigst regierende Obrigkeit die Wage der Gerechtigkeit handhabet, dieser vorliegende Handel bey der spätesten Nachkommenschaft ablegen wird: wie sehr muß ich auf der andern Seite die Abnahme jener treuherzigen Einfalt unsrer Voreltern, das Verschwinden jener mitbürgerlichen und freundnachbarlichen Sinnesart, jener gegenseitigen Dienstgeflissenheit, jener freywilligen Geneigtheit, aus Liebe und Freundschaft, aus gutem Herzen, oder wenigstens um des Friedens willen, etwas von unserm vermeynten strengen Recht fahren zu lassen, wie sehr, mit Einem Wort, muß ich den Verfall der guten alten Abderitischen Sitten beklagen, der

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die wahre und einzige Quelle des unwürdigen, des schaamvollen Rechtshandels ist, in welchem wir heute befangen sind. Wie? werd ichs ohne glühende Schaamröthe heraussagen können? — O du einst so berühmte Biederherzigkeit unsrer guten Alten, ist es dahin mit dir gekommen, daß Abderitische Bürger — Sie, die bey jeder Gelegenheit, aus vaterländischer Treu und nachbarlicher Freundschaft, bereit seyn sollten, das Herz im Leibe mit einander zu theilen — so eigennützig, so karg, so unfreundlich, was sag’ ich, so unmenschlich sind, einander sogar den Schatten eines Esels zu versagen? — Doch — verzeyht mir, werthe Mitbürger — ich irrte mich in dem Worte — verzeyht mir eine unvorsezliche Beleidigung. Derjenige, der einer so niedrigen, so rohen

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und barbarischen Denkart fähig war, ist keiner unsrer Mitbürger — es ist ein bloßer geduldeter Einwohner unsrer Stadt, ein bloßer Schutzverwandter des Jasontempels, ein Mensch aus der dicksten Hefe des Pöbels, ein Mensch, von dessen Geburt, Erziehung und Lebensart nichts bessers zu erwarten war, mit einem Wort, ein Eseltreiber — der ausser dem gleichen Boden, und der gemeinsamen Luft, die er athmet, nichts mit uns gemein hat, als was uns auch mit den wildesten Völkern der Hyperboreischen Wüsten gemein ist, und seine Schande klebt an ihm allein; u n s kann sie nicht besudeln. Ein Abderitischer Bürger, ich unterstehe michs zu sagen, hätte sich keiner solchen Unthat schuldig machen können. Aber — nenn ich sie vielleicht mit einem zu strengen Namen, diese That? Stellet euch, ich bitte, an den Platz eures guten Mitbürgers Struthion, und — fühlet! Er reiset, in seinen Geschäften, in Geschäften seiner edeln Kunst, die es bloß mit Vermindrung der Leiden seiner Nebenmenschen zu thun hat, von Abdera nach Geranium; der Tag ist einer der schwülsten Sommertage — die strengste Sonnenhitze scheint den ganzen Ho-

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rizont in den holen Bauch eines glühenden Backofens verwandelt zu haben. Kein Wölkchen, das ihre sengenden Stralen dämpfe! Kein wehendes Lüftchen, den verlechzten Wandrer anzufrischen. Die Sonne flammt über seiner Scheitel und saugt das Blut aus seinen Adern, das Mark aus seinen Knochen. Lechzend, die dürre Zung’ am Gaumen, mit trübem, von Hitze und Glanz erblindenden Augen, sieht er sich nach einem Schattenplaz, nach irgend einem einzelnen mitleidigen Baum um, unter dessen Schirm er sich erholen, er einen Mund voll frischerer Luft einathmen, einen Augenblick vor den glühenden Pfeilen des unerbittlichen Apollo sicher seyn könnte. Umsonst! Ihr kennet 10

Alle die Gegend von Abdera nach Geranium. Zwey Stunden lang, zur Schande des ganzen Thraziens sey es gesagt! kein Baum, keine Staude, die das Auge des Wandrers in dieser abscheulichen Fläche von magern Brach- und Kornfeldern erfrischen, oder ihm gegen die mittägliche Sonne Zuflucht geben könnte! Der arme Struthion sank endlich von seinem Thier herab. Die Natur vermocht’ es nicht länger auszudauren. Er ließ den Esel halten, und sezte sich in seinen Schatten. Schwaches, armseliges Erholungsmittel! Aber so wenig es war, war es doch etwas! Und welch ein Ungeheuer mußte der Gefühllose, der Felsenherzige seyn, der seinem leidenden Nebenmenschen, in solchen Umständen, den Schatten eines Esels versagen konnte? Wär’ es glaublich, daß es einen

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solchen Menschen gebe, wenn wir ihn nicht mit eignen Augen vor uns sähen? Aber hier steht er, und, was beynahe noch ärger, noch unglaublicher als die That selbst ist — er bekennt sich von freyen Stücken dazu; scheint sich seiner Schande noch zu rühmen; und, damit er keinem seines gleichen, der künftig gebohren werden mag, eine Möglichkeit, ihm an schaamloser Frechheit gleich zu kommen, übrig lasse, treibt er sie so weit, nachdem er schon von dem ehrwürdigen Stadtgericht in erster Instanz verurtheilt worden, sogar vor der Majestät dieses höchsten Gerichtshofes der V i e r h u n d e r t - M ä n n e r zu behaupten, daß er Recht daran gethan habe. „Ich versagte ihm den Eselsschatten nicht, spricht er, wiewohl ich nach dem strengen Recht nicht schuldig war, ihn

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darinn sitzen zu lassen; ich verlangte nur eine billige Erkenntlichkeit dafür, daß ich ihm, zu dem Esel, den ich ihm vermiethet hatte, nun auch den Schatten des Esels überlassen sollte, den ich ihm nicht vermiethet hatte.“ Elende, schändliche Ausflucht! Was würden wir von dem Manne denken, der einem halbverschmachtenden Wandrer verwehren wollte, sich ohnentgeltlich in den Schatten seines Baumes zu setzen? Oder wie würden wir denjenigen nennen,

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der einem vor Durst sterbenden Fremdling nicht gestatten wollte, sich aus dem Wasser zu laben, das auf seinem Grund und Boden flösse? Erinnert euch, o ihr Männer von Abdera, daß dies allein, und kein andres, das Verbrechen jener Lycischen Bauren war, die der Vater der Götter und der Menschen zur Rache wegen einer gleichartigen Unmenschlichkeit, die diese Elenden an seiner geliebten Latona und ihren Kindern ausübten — zum schrecklichen Beyspiel aller Folgezeiten, in Frösche verwandelte. Ein furchtbares Wunder, dessen Wahrheit und Andenken mitten unter uns in dem heiligen Hayn und Teich der Latona, der ehrwürdigen Schutzgöttin unsrer Stadt, lebendig erhalten, verewigt, und gleichsam täglich erneuert wird! Und du, Anthrax, du ein Ein-

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wohner der Stadt, in welcher dieses furchtbare Denkmal des Zorns der Götter über verweigerte Menschlichkeit ein Gegenstand des öffentlichen Glaubens und Gottesdienstes ist, du scheutest dich nicht, ihre Rache durch ein ähnliches Verbrechen auf dich zu ziehen? Aber, du trotzest auf dein Eigenthumsrecht — „Wer sich seines Rechts bedient, sprichst du, der thut niemand unrecht. Ich bin einem andern nicht mehr schuldig, als er um mich verdient. Wenn der Esel mein Eigenthum ist, so ist es auch sein Schatten.“ — Sagst du das? Und glaubst du, oder glaubt der scharfsinnige und beredte Sachwalter, in dessen Hände du die schlimmste Sache, die jemals vor ein Götter- oder Menschen-Gericht gekommen, gestellt

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hast, glaubt er mit aller Zauberey seiner Beredsamkeit, oder mit allem Spinnegewebe sophistischer Trugschlüsse unsern Verstand dergestalt zu überwältigen und zu umspinnen, daß wir uns überreden lassen sollten, einen Schatten für etwas Würkliches, geschweige für etwas, an welches Jemand ein direktes und ausschließendes Recht haben könne, zu halten? Ich würde, großmögende Herren, eure Geduld mißbrauchen, und eure Weisheit beleidigen, wenn ich alle die Gründe hier wiederholen wollte, womit ich bereits in der ersten Instanz, aktenkundigermaaßen, die Nichtigkeit der gegnerischen Scheingründe dargethan habe. Ich begnüge mich, für izt, nach Erfoderniß der Nothdurft nur dies Wenige davon zu sagen. Ein Schatten kann, genau zu reden, nicht unter die würklichen Dinge gerechnet werden. Denn das, was ihn eigentlich zum Schatten macht, ist nichts Würkliches und Positives, sondern gerade das Gegentheil, nehmlich die Entziehung desjenigen Lichtes, welches auf den übrigen, den besagten Schatten umgebenden, Dingen liegt. In vorliegendem Fall ist die schiefe Stellung der Sonne und die Undurch-

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sichtigkeit des Esels (eine Eigenschaft, die ihm nicht, in so fern er ein Esel, sondern in so fern er ein opaker Körper ist, anklebt) die einzige wahre Ursache des Schattens, den der Esel zu werfen scheint, und den jeder andre Körper an seinem Platze werfen würde; denn die Figur des Schattens thut hier nichts zur Sache. Mein Klient hat sich also, genau zu reden, nicht in den Schatten eines E s e l s , sondern in den Schatten eines K ö r p e r s gesezt; und der Umstand, daß dieser Körper ein Esel, und der Esel ein Hausgenosse eines gewissen Anthrax aus dem Jasontempel zu Abdera war, gieng ihn eben so wenig an, als er zur Sache gehörte; denn, wie gesagt, nicht die A s i n i t ä t oder E s e l h e i t 10

(wenn ich so sagen darf) sondern die Körperlichkeit und Undurchsichtigkeit des mehrbesagten Esels ist der Grund des Schattens, den er zu werfen scheint. Allein, wenn wir auch zum Überfluß zugeben, daß der Schatten unter die D i n g e gehöre: so ist aus unzähligen Beyspielen klar und weltbekannt, daß er zu den g e m e i n e n D i n g e n zu rechnen ist, an welche ein jeder so viel Recht hat, als der andre, und an die sich derjenige das nächste Recht erwirbt, der sie zuerst in Besitz nimmt. Doch, ich will noch mehr thun: ich will sogar zugeben, daß des Esels Schatten ein Z u b e h ö r des Esels sey, so gut als es seine Ohren sind: Was gewinnt der Gegentheil dadurch? Struthion hatte den Esel gemiethet, folglich auch

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seinen Schatten. Denn es versteht sich bey jedem Miethkontrakt, daß der Vermiether dem Abmiether die Sache, wovon die Rede ist, mit allem ihrem Zubehör und mit allen ihren Nießbarkeiten zum Gebrauch überläßt. Mit welchem Schatten eines Rechts konnte Anthrax also begehren, daß ihm Struthion für den Schatten des Esels noch besonders bezahle? Das Dilemma ist außer aller Widerrede: entweder ist der Schatten des Esels ein Theil und Zubehör des Esels, oder nicht: Ist er es nicht, so hat Struthion und jeder andre eben so viel Recht daran als Anthrax; ist er’s aber, so hatte Anthrax, indem er den Esel vermiethete, auch den Schatten vermiethet; und seine Forderung, ist eben so ungereimt, als wenn mir einer seine Leyer verkauft hätte, und verlangte dann,

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wenn ich drauf spielen wollte, daß ich ihm auch noch für ihren K l a n g bezahlen müßte. Doch wozu so viele Gründe in einer Sache, die dem allgemeinen Menschensinn so klar ist, daß man sie nur zu hören braucht, um zu sehen, auf welcher Seite das Recht ist? Was ist ein Eselsschatten? Welche Unverschämtheit von diesem Anthrax, wofern er kein Recht an ihn hat, sich dessen anzumaßen, um

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Wucher damit zu treiben? Und wofern der Schatten würklich sein war, welche Niederträchtigkeit, ein so weniges, das Wenigste, was sich nennen oder denken läßt, etwas in tausend andern Fällen gänzlich Unbrauchbares, einem Menschen, einem Nachbar und Freunde in dem einzigen Falle zu versagen, wo es ihm unentbehrlich ist? Lasset, Edle und Großmögende Vierhundert-Männer, lasset nicht von Abdera gesagt werden, daß ein solcher Muthwill, ein solcher Frevel vor einem Gericht, vor welchem, wie vor jenem berühmten zu Athen, Götter selbst nicht erröthen würden, ihre Streitigkeiten entscheiden zu lassen, Schutz gefunden habe! Die Abweisung des Klägers mit seiner unstatthaften, ungerechten und

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lächerlichen Klage und Apellation, die Verurtheilung desselben in alle Kosten und Schäden, die er dem unschuldigen Beklagten durch sein unbefugtes Betragen in dieser ganzen Sache verursacht hat, ist izt das wenigste, was ich im Nahmen meines Klienten fodern kann. Auch Genugthuung, und warlich eine ungeheure Genugthuung, wenn sie mit der Größe seines Frevels in Ebenmaase stehen soll, ist der unbefugte Kläger schuldig — Genugthuung dem Beklagten, dessen häusliche Ruhe, Geschäfte, Ehre und Leumund von ihm und seinen Beschützern, während dem Lauf dieses Handels auf unzähliche Art gestört und angegriffen worden; Genugthuung dem ehrwürdigen Stadtgerichte, von dessen gerechtem Spruch er, ohne Grund, an dieses hohe Tri-

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bunal appelliert hat; Genugthuung diesem höchsten Gerichte selbst, welches er mit einem so nichtswürdigen Handel muthwilligerweise zu behelligen sich unterstanden; Genugthuung endlich der ganzen Stadt und Republik Abdera, die er bey dieser Gelegenheit in Unruhe, Zwiespalt und Gefahr gesezt hat. Fodre ich zu viel, Großmögende Herren! Fodre ich etwas Unbilliges? Sehet hier, das ganze Abdera, das sich unzählbar an die Stuffen dieser hohen Gerichtsstätte drängt, und im Nahmen eines verdienstvollen schwergekränkten Mitbürgers, ja im Nahmen der Republik selbst Genugthuung e r w a r t e t , Genugthuung f o r d e r t . Bindet die Ehrfurcht ihre Zungen: so funkelt sie doch aus jedem Auge, diese gerechte, diese nicht zu verweigernde Forderung. Das Vertrauen der Bürger, die Sicherheit ihrer Gerechtsame, die Wiederherstellung unsrer innerlichen und öffentlichen Ruhe, die Begründung derselben auf die Zukunft, mit einem Worte, die Wohlfart unsers ganzen Staats hängt von dem Ausspruch ab, den ihr thun werdet, hängt von Erfüllung einer gerechten und allgemeinen Erwartung ab. Und wenn in den ersten Zeiten der Welt ein

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Esel ( d e r E s e l S i l e n s ) das Verdienst hatte, die schlummernden Götter, bey dem nächtlichen Überfall der Titanen, mit seinem Geschrey zu wecken, und dadurch den Olympus selbst vor Verwüstung und Untergang zu retten: so möge izt d e r S c h a t t e n e i n e s E s e l s die Gelegenheit, und der heutige Tag die glückliche Epoke seyn, in welcher diese uralte Stadt und Republik, nach so vielen und gefahrvollen Erschütterungen wieder beruhiget, das Band zwischen Obrigkeit und Bürgern wieder fest zusammen gezogen, alle vergangne Mißhelligkeiten in den Abgrund der Vergessenheit versenkt, und durch gerechte Verurtheilung eines einzigen frevelhaften Eseltreibers der ganze Staat 10

gerettet, und sein blühender Wohlstand auf ewige Zeiten sicher gestellt werde!

13. Antwort des Sykophanten Polyphonus. Sobald Physignatus zu reden aufgehört hatte, gab das Volk, oder vielmehr der Pöbel, der den Markt erfüllte, seine Beystimmung mit einem lauten Geschrey, welches so heftig und anhaltend war, daß die Richter endlich zu besorgen anfiengen, die ganze Handlung möchte dadurch unterbrochen werden. Die Parthey des Erzpriesters gerieth in Verlegenheit; die S c h a t t e n hingegen, wiewohl sie im großen Rath die kleinere Zahl ausmachten, faßten neuen 20

Muth, und versprachen sich von dem Eindruck, den dieses Vorspiel auf die Esel machen mußte, einen günstigen Erfolg. Indessen ermangelten die Zunftmeister nicht, das Volk durch Zeichen zur Ruhe zu vermahnen; und nachdem der Herold endlich durch einen dreymaligen Ruf die allgemeine Stille wiederhergestellt hatte: trat der Sykophant des Eseltreibers, ein untersetzter stämmichter Mann, mit kurzem krausem Haar und dicken pechschwarzen Augenbraunen, auf, erhob eine Baßstimme, die auf dem ganzen Markt wiederhallte, und ließ sich folgendermaaßen vernehmen: „Großmögende Vierhundert-Männer! Wahrheit und Licht haben das vor allen andern Dingen in der Welt voraus, daß

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sie keiner fremden Hülfe bedürfen, um gesehen zu werden. Ich überlasse

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meinem Gegenpart willig alle Vortheile, die er von seinen Rednerkünsten zu ziehen vermeynt hat. Dem, der Unrecht hat, kommt es zu, durch Figuren und Wendungen, und Fechterstreiche, und das ganze Gaukelspiel der Schulrhetorik, Kindern und Narren einen Dunst vor die Augen zu machen. Gescheute Leute lassen sich nicht dadurch blenden. Ich will nicht untersuchen, wie viel Ehre und Nachruhm die Republik Abdera bey diesem Handel über einen Eselsschatten gewinnen wird. Ich will die Richter weder durch grobe Schmeicheleyen zu bestechen, noch durch versteckte Drohungen zu schrecken suchen; und dem Volk nicht durch aufwiegelnde Reden das Signal zu Lärmen und Aufruhr geben. Ich weiß, warum ich da bin, und zu wem ich rede; kurz,

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ich werde mich begnügen zu beweisen, daß der Eseltreiber Anthrax R e c h t h a t ; und der Richter wird alsdann schon wissen, was seines Amtes ist, ohne daß ich ihn daran zu erinnern brauche.“ Hier fiengen einige wenige vom Pöbel, die zunächst an den Stufen der Terrasse standen, an, den Redner mit Geschrey, Schimpfreden und Drohungen zu unterbrechen: da aber der Nomophylax von seinem elfenbeinernen Thron aufstund, der Herold abermals Stille gebot, und die Bürgerwache, die an den Stufen stund, ihre langen Spieße lupfte: so ward plötzlich Alles wieder stille, und der Redner, der sich nicht so leicht aus der Fassung bringen ließ, fuhr also fort:

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„Großmögende Herren, ich stehe hier nicht als Sachwalter des Eselstreibers Anthrax, sondern als Bevollmächtigter des Jasontempels, und von wegen des erlauchten und sehr ehrwürdigen A g a t h y r s u s , zeitigen Erzpriesters und Obervorstehers desselben, Hüters des wahren goldnen Vließes, obersten Gerichtsherrn über alle dessen Stiftungen, Güter, Gerichte und Gebiete, Oberhaupts des hochedeln Geschlechts der Jasoniden, etc. etc. um, im Namen Jasons und seines Tempels, von euch zu begehren, daß dem Eseltreiber Anthrax Genugthuung geschehe, w e i l e r i m G r u n d e d o c h a m m e i s t e n R e c h t h a t ; und daß ers habe, hoffe ich, trotz allen den schönen Künsten, die mein Gegner von seinem Meister G o r g i a s gelernt zu haben sich rühmt, so klar und laut zu beweisen, daß es die Blinden sehen und die Tauben hören sollen. Also, ohne weitere Vorrede, zur Sache! Anthrax vermiethete dem Zahnarzt Struthion seinen Esel auf einen Tag, nicht zu selbstbeliebigem Gebrauch, sondern um ihn, den Zahnarzt, mit seinem Mantelsack halbenweges nach Gerania zu tragen, welches, wie jeder-

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mann weis, acht starke Meilen von hier entfernt liegt. Bey der Vermiethung des Esels dachte, natürlicherweise, keiner von beyden an seinen Schatten: aber als der Zahnarzt mitten auf dem Felde abstieg, den Esel, der warlich von der Hitze noch mehr gelitten hatte als Er, in der Sonne halten ließ, und sich in dessen Schatten setzte; war es eben so natürlich, daß der Herr und Eigenthümer des Esels dabey nicht gleichgültig blieb. Ich begehre nicht zu läugnen, daß Anthrax eine alberne und eselhafte Wendung nahm, da er von dem Zahnbrecher verlangte, daß er ihm für des Esels S c h a t t e n deßwegen bezahlen sollte, weil er ihm den S c h a t t e n nicht mit 10

vermiethet habe. Aber dafür ist er auch nur ein Eseltreiber von Voreltern her, d. i. ein Mann, der eben darum, weil er unter lauter Eseln aufgekommen ist, und mehr mit Eseln als ehrlichen Leuten lebt, eine Art von Recht hergebracht und erworben hat, selbst nicht viel besser als ein Esel zu seyn. Im Grunde war’s also bloß der Spas eines Eseltreibers. Aber in welche Klasse von Thieren sollen wir den setzen, der aus einem solchen Spas Ernst machte? Hätte Herr Struthion wie ein verständiger Mann gehandelt, so brauchte er dem Grobian nur zu sagen: „guter Freund, wir wollen uns nicht um eines Eselsschattens willen entzweyen. Weil ich dir den Esel nicht abgemiethet habe, um mich in seinen Schatten zu setzen, sondern um darauf nach Gerania zu reiten: so ists

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billig, daß ich dir die etliche Minuten Zeitverlust vergüte, die dir mein Absteigen verursacht; zumal da der Esel um so viel länger in der Hitze stehen muß, und dadurch nicht besser wird. Da, Bruder, hast du eine halbe Drachme; laß mich einen Augenblick hier verschnaufen; und dann wollen wir uns, in aller Frösche Namen, wieder auf den Weg machen.“ — Hätte der Zahnarzt aus diesem Tone gesprochen, so hätt’ er gesprochen wie ein ehrliebender und billiger Mann; der Eseltreiber hätte ihm für die halbe Drachme noch: Vergelts Gott! gesagt; und die Stadt Abdera wäre des ungewissen Nachruhms, den ihr mein Gegentheil von diesem Eselsprozeß verspricht — und aller der Unruhen, die daraus entstehen mußten, sobald sich so viele große und angesehene Her-

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ren und Damen in die Sache mischten — überhoben gewesen. Statt dessen setzt sich der Mann auf seinen eignen Esel, besteht auf seinem bodenlosen Recht, sich vermöge seines Miethkontrakts in des Esels Schatten zu setzen, so oft und so lang er wolle; und bringt dadurch den Eseltreiber in die Hitze, daß er vor den Stadtrichter läuft, und eine Klage anbringt, die eben so abgeschmackt und unsinnig ist, als die Verantwortung des Beklagten.

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Ob es nun nicht, zu Statuirung eines lehrreichen Beyspiels, wohl gethan wäre, wenn dem Sykophanten Physignatus, meinem werthesten Kollegen — als dessen Aufhetzung es ganz allein zuzuschreiben ist, daß der Zahnbrecher den von dem ehrwürdigen Stadtrichter Philippides vorgeschlagnen billigen Vergleich nicht eingegangen — für den Dienst, den er dem Abderitischen gemeinen Wesen dadurch geleistet, die Ohren abgeschnitten, und allenfalls, zum ewigen Andenken, ein Paar Eselohren dafür angesetzt würden; imgleichen, was für einen öffentlichen Dank der ehrwürdige Zunftmeister Pfriem und andre, die durch ihren patriotischen Eifer Öl ins Feuer gegossen, für ihre Mühe verdient haben möchten: überläßt der erlauchte Erzpriester, mein

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Principal, dem eignen einsichtsvollen Ermessen des höchsten Gerichts der Vierhundert. Er, seines Ortes, wird, als angebohrner Oberherr und Richter des Eseltreibers Anthrax, nicht ermangeln, ihm, zu wohlverdienter Belohnung seines in diesem Handel bewiesenen Unverstands, unmittelbar nach geendigtem Prozeß fünfundzwanzig Prügel geben zu lassen. Da aber darum das Recht des mehrbesagten Eseltreibers, wegen der von dem Zahnarzt Struthion erlittnen Ungebühr, des Mißbrauchs, den dieser von seinem Esel gemacht, und der Weigerung einer billigen Vergütung des dadurch verursachten Zeitverlusts und Deterioration seines lastbaren Thieres, Genugthuung zu fordern, nichts destoweniger in seiner ganzen Kraft besteht: so begehret und erwartet der erlauchte Erzpriester von der Gerechtigkeit dieses hohen Gerichts, daß seinem Unterthanen ohne längern Aufschub die gebührende vollständigste Entschädigung und Genugthuung verschafft werde. Euch aber (setzte er hinzu, indem er sich umdrehte und gegen das Volk kehrte) soll ich im Namen Jasons ankündigen, daß alle diejenigen, die auf eine ungebührliche und aufrührische Art an der bösen Sache des Zahnbrechers Antheil genommen, so lange, bis sie dafür gebührenden Abtrag gethan haben werden, von den Wohlthaten, die der Tempel Jasons alle Monate den armen Bürgern zufließen läßt, ausgeschlossen seyn und bleiben sollen. Dixi.“

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14. Bewegungen, welche die Rede des Polyphonus verursachte. Nachtrag des Sykophanten Physignatus. Verlegenheit der Richter. Unvermuthete Entwicklung der ganzen Komödie und Wiederherstellung der Ruhe in Abdera. Diese kurze und unerwartete Rede brachte auf einige Augenblicke ein tiefes allgemeines Stillschweigen hervor. Der Sykophant Physignatus schien zwar große Lust zu haben, sich über die Stelle, die ihn persönlich betroffen hatte, mit Hitze vernehmen zu lassen; allein, da er die Niedergeschlagenheit be10

merkte, die der Inhalt der letzten Periode seines Gegners unter dem gemeinen Volke hervorgebracht zu haben schien: so begnügte er sich, gegen die ehrenrührige Stelle vom Ohrenabschneiden und andre Anzüglichkeiten sich bloß quaevis competentia vorzubehalten. Das Licht, in welches der Sykophant P o l y p h o n u s den wahren Statum controversiae gestellt hatte, that einen so guten Effekt, daß unter den sämmtlichen Vierhundert-Männern kaum ihrer zwanzig überblieben, die nicht versicherten, daß sie die Sache gleich von Anfang an eben so angesehen hätten; und es wurde in ziemlich lebhaften Ausdrücken gegen diejenigen gesprochen, welche Schuld daran hätten, daß eine so simple Sache zu solchen Weitläufig-

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keiten getrieben worden sey. Die Meisten schienen darauf anzutragen: daß dem Erzpriester nicht nur die für seinen Angehörigen verlangte Entschädigung und Genugthuung zugesprochen, sondern auch eine Kommission aus dem großen Rath niedergesetzt werden sollte, um nach der Schärfe zu untersuchen: wer die ersten Anstifter und Verhetzer dieses Handels eigentlich gewesen seyen. Dieser Antrag brachte den Zunftmeister und die wenigen, die ihre Parthey mit ihm gegen allen Erfolg zum voraus genommen hatten, auf einmal wieder in Harnisch. Der Sykophant Physignatus, dem es um seine Ohren zu thun war, verlangte von dem Nomophylax noch einmal zum Gehör gelassen zu werden,

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weil er auf die Rede seines Gegentheils etwas Neues vorzubringen habe; und da ihm dieses, den Rechten nach, nicht versagt werden konnte, so ließ er sich, quoad substantiam, folgendermaaßen vernehmen:

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„Wenn das gerechte Vertrauen zu einem so ehrwürdigen Gericht, wie das gegenwärtige, den verhaßten Namen einer bestechenden Schmeicheley, womit mein Gegentheil solches zu belegen sich nicht gescheut hat, verdient — so muß ich mich darein ergeben, einen Vorwurf auf mir sitzen zu lassen, den ich nicht vermeiden kann; und ich glaube allenfalls durch eine allzuhohe Meynung von Euch, Großmögende Herren, weniger zu sündigen, als mein Gegner durch die Einbildung, eure Gerechtigkeit und Einsicht in einer so groben Schlinge zu fangen, als diejenige ist, die er euch gelegt hat. Der Schein von gesunder Vernunft, womit er seine plumpe Vorstellungsart der Sache überstrichen, und ein Ton, den er seinem Klienten abgeborgt zu haben scheint,

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können höchstens eine augenblickliche Überraschung würken: aber daß sie die Weisheit des obersten Raths von Abdera ganz umzuwerfen vermögend wären, wäre an mir Lästerung zu fürchten, und war Unsinn an ihm, zu hoffen. Wie? Polyphonus, anstatt, wie er vor dem ehrwürdigen Stadtgericht und bisher immer hartnäckig gethan hat, die gerechte Sache seines Klienten zu behaupten, gesteht nun auf einmal selbst ein, daß der Eseltreiber unrecht und unsinnig daran gethan habe, seine gegen den Zahnarzt Struthion erhobne Klage auf sein vermeyntes Eigenthumsrecht an den Eselsschatten zu gründen: er bekennt öffentlich, daß der Kläger eine unbefugte, ungegründete, frivole Klage erhoben habe: und er untersteht sich von R e c h t an Schadloshaltung und

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Genugthuung zu schwatzen, und in dem trotzigen Ton eines Eseltreibers Genugthuung zu f o r d e r n ? Was für eine neue unerhörte Art von Rechtsgelehrsamkeit, wenn der unrechthabende Theil damit durchkäme, daß er am Ende, wenn er sich nicht mehr anders zu helfen wüßte, selbst gestünde, er habe Unrecht, und mit fünfundzwanzig Prügel, die er sich dafür geben ließe (und die ein Kerl, wie Anthrax, schon auf seinen Buckel nehmen kann) sich noch ein Recht an Entschädigung und Satisfaction erwerben könnte? Gesezt auch, des Eseltreibers Fehler bestünde bloß darinn, daß er nicht die rechte Action instituiert: was geht das den unschuldigen Gegentheil oder den Richter an? Jener muß sich mit seiner Verantwortung nach der Klage richten: und dieser urtheilt über die Sache, nicht wie sie vielleicht in einem andern Licht und unter einem andern Gesichtspunct erscheinen könnte, sondern wie sie ihm vorgetragen worden. Ich verspreche mir also im Namen meines Klienten, daß, der gegentheilischen Luftstreiche ungeachtet, die vorliegende Sache nicht nach dem neuen und allen bisherigen Verhandlungen zuwiderlauffenden Schwung,

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den er ihr zu geben gesucht, sondern nach Beschaffenheit der Klage und des Beweises abgeurtheilt werde. Die Rede ist in gegenwärtigem Rechtsstreit nicht von Zeitverlust und Deterioration des Esels, sondern v o n d e s E s e l s S c h a t t e n . Kläger behauptete, daß sein Eigenthumsrecht an den Esel, sich auch auf dessen Schatten erstrecke, und hat es nicht bewiesen; Beklagter behauptete, daß er soviel Recht an des Esels Schatten habe, als der Eigenthümer, oder was allenfalls daran abgehen könnte, hab’ er durch den Miethkontrakt erworben; und was er behauptete, hat er bewiesen. Ich stehe also hier, Großmögende Herren, und verlange einen richterlichen Spruch über das was bisher 10

den Gegenstand des Streits ausgemacht hat; um dessentwillen allein ist gegenwärtiges höchste Gericht niedergesezt worden; dies allein macht izt die Sache aus, worüber es zu erkennen hat; und ich unterstehe michs vor diesem ganzen mich hörenden Volke zu sagen: entweder ist kein Recht in Abdera mehr, oder meine Forderung ist gesetzmäßig, und die Rechte eines jeden Bürgers sind darunter befangen, daß meinem Klienten das Seinige zugesprochen werde!“ Der Sykophant schwieg, die Richter stuzten, das Volk fieng von neuem an zu murmeln und unruhig zu werden, und die Schatten reckten ihre Köpfe wieder empor. Nun, sagte der Nomophylax, indem er sich an Polyphonus wandte, was hat der klägerische Anwald hierauf beyzubringen?

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Hochgeachter Herr Oberrichter, erwiederte Polyphonus, N i c h t s — als Alles von Wort zu Wort, was ich schon gesagt habe. Der Prozeß über des Esels Schatten ist ein so böser Handel, daß er nicht bald genug ausgemacht werden kann. Der Kläger hat dabey gefehlt, der Beklagte hat gefehlt, die Anwälde haben gefehlt, der Richter der ersten Instanz hat gefehlt, ganz Abdera hat gefehlt! Man sollte denken, ein böser Wind habe uns alle angeblasen, und es sey nicht so ganz richtig mit uns gewesen, als wohl zu wünschen wäre. Käm’ es schlechterdings darauf an, uns noch länger zu prostituiren: so sollte mirs wohl auch nicht an Athem fehlen, für das Recht meines Klienten an seines Esels Schatten eine Rede zu halten, von Sonnenaufgang bis zu Sonnenuntergang.

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Aber, wie gesagt, wenn die Komödie, die wir gespielt haben, so lange sie bloß Komödie blieb, noch zu entschuldigen ist: so wär’ es doch, dünkt mich, auf keine Weise recht, sie vor einem so ehrwürdigen Gerichte, wie der hohe Rath von Abdera, länger fortzuspielen. Wenigstens habe ich keine Instruktion dazu, und überlasse euch also, Großmögende Herren, unter nochmaliger Wiederholung alles dessen, was ich im Namen des erlauchten und sehr ehrwürdigen

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Erzpriesters zu Recht gefodert habe, den Handel nun abzuurtheln und auszumachen — wie euch die Götter eingeben werden. Die Richter befanden sich in großer Verlegenheit; und es ist schwer zu sagen, was für ein Mittel sie endlich ergriffen haben würden, um mit Ehren aus der Sache zu kommen: wenn der Zufall, der zu allen Zeiten die große Ressource aller Abderiten gewesen ist, sich ihrer nicht angenommen, und diesem feinen b ü r g e r l i c h e n D r a m a eine Entwicklung gegeben hätte, deren sich einen Augenblick vorher kein Mensch versah, noch versehen konnte. Der Esel, dessen Schatten zeither (nach dem Ausdruck des Archon Onolaus) eine so seltsame Verfinsterung in den Hirnschädeln der Abderiten angerich-

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tet hatte, war, bis zu Austrag der Sache, in den öffentlichen Stall der Republik abgeführt, und bisher daselbst nothdürftig verpflegt worden. Das Beste, was man davon sagen kann, ist, daß er nicht fetter davon geworden war. Diesen Morgen nun war es den Stallbedienten der Republik, welche wußten, daß der Handel nun zu Ende gehen sollte, auf einmal eingefallen, der Esel, der gleichwohl eine Hauptperson bey der Sache vorstellte, sollte doch billig auch von der Partie seyn. Sie hatten ihn also gestrigelt, mit Blumenkränzen und Bändern herausgeputzt, und brachten ihn nun, unter der Begleitung und dem Nachjauchzen unzähliger Gassenjungen, in großem Pomp herbey. Der Zufall wollte, daß sie in der nächsten Gasse, die zum Markt führte, anlangten,

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als Polyphonus eben seinen Nachtrag geendigt hatte, und die armen Richter sich gar nicht mehr zu helfen wußten; das Volk hingegen zwischen der Furcht vor dem Erzpriester und dem neuen Stoß, den ihm die zwoote Rede des Sykophanten Physignatus gegeben, in einer ungewissen und unmuthigen Art von Bewegung schwankte. Der Lerm, den die Jungen um den Esel her machten, drehte jedermanns Augen nach der Seite, woher er kam. Man stutzte und drängte sich hinzu. Ha! rief endlich einer aus dem Volke; da kommt der Esel selbst! — Er wird den Richtern wohl zu einem Ausspruch helfen wollen, sagte ein andrer. Der verdammte Esel, rief ein dritter, er hat uns alle zu Grunde gerichtet! Ich wollte daß ihn die Wölfe gefressen hätten, ehe er uns diesen unseligen Handel auf den Hals zog! — Heyda! schrie ein Kesselflicker, der immer einer der eifrigsten S c h a t t e n gewesen war, was ein braver Abderit ist, über den Esel her; er soll uns die Zeche bezahlen! Laßt nicht ein Haar aus seinem schubigten Schwanz von ihm übrig bleiben! In einem Augenblick stürzte sich die ganze Menge auf das Thier, und, ehe

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man eine Hand umkehren konnte, war es in tausend Stücke zerrissen. Jedermann wollte auch einen Bissen davon haben; man riß, schlug, zerrte, krazte, balgte und raufte sich darum mit einer Hitze, die gar nicht ihres gleichen hatte. Bey einigen gieng die Wuth so weit, daß sie ihren Antheil auf der Stelle roh und blutig auffraßen; die meisten aber liefen mit dem, was sie davon gebracht, nach Hause; und da ein jeder eine Menge hinter sich her hatte, die ihm seinen Raub mit großem Geschrey abzujagen suchten: so wurde der ganze Markt in wenigen Minuten so leer als um Mitternacht. Die Vierhundert-Männer waren im ersten Augenblick dieses Aufruhrs, wo10

von sie die Ursache nicht sogleich sehen konnten, in so große Bestürzung gerathen, daß sie alle, ohne selbst zu wissen was sie thaten, die Dolche hervorzogen, die sie heimlich unter ihren Mänteln bey sich führten; und die Herren sahen einander mit keinem kleinen Erstaunen an, da auf einmal vom Nomophylax bis zum untersten Beysitzer, in jeder Hand ein bloßer Dolch funkelte. Als sie aber endlich sahen und hörten was es war, steckten sie geschwinde ihre Messer wieder in den Busen, und brachen allesammt, gleich den Göttern im ersten Buch der Ilias, in ein unauslöschliches Gelächter aus. Dank sey dem Himmel, rief endlich, nachdem die sehr ehrwürdigen Herren wieder zu sich selbst gekommen waren, der Nomophylax lachend aus: mit

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aller unsrer Weisheit hätten wir der Sache keinen schicklichern Ausgang geben können. Wozu wollten wir uns nun noch länger die Köpfe zerbrechen? Der Esel, der (wiewohl unschuldige) Anlaß dieses leidigen Handels, ist (wie es zu gehen pflegt) das Opfer davon worden; das Volk hat sein Mütchen an ihm abgekühlt; und es kommt itzt nur noch auf eine gute Entschließung von unsrer Seite an: so kann dieser Tag, der noch kaum so aussah, als ob er ein trübes Ende nehmen würde, ein Tag der Freude und der Wiederherstellung der allgemeinen Ruhe werden. Da der Esel selbst nicht mehr ist, was hälf es noch lange über seinen Schatten zu rechten? Ich trage also darauf an: daß diese ganze Eselssache hiemit öffentlich für geendigt und abgethan genommen,

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beyden Theilen, u n t e r V e r g ü t u n g a l l e r i h r e r K o s t e n u n d S c h ä d e n a u s d e m S t a d t - Ä r a r i o , ein ewiges Stillschweigen auferlegt, dem armen Esel aber auf gemeiner Stadt Kosten ein Denkmal aufgerichtet werde, das zugleich uns und unsern Nachkommen zur ewigen Erinnerung diene, w i e leicht eine große und blühende Republik sogar um eines Esels Schatten willen hätte zu Grunde gehen können.

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Jedermann klatschte dem Antrag des Nomophylax seinen Beyfall zu, als dem klügsten und billigsten Ausweg, den man, nach Gestalt der Sachen, treffen könne. Beyde Partheyen konnten damit zufrieden seyn, und die Republik erkaufte ihre Beruhigung und Verhütung grösseren Schimpfs und Unheils noch immer wohlfeil genug. Der Schluß wurde also von den V i e r h u n d e r t M ä n n e r n einhellig diesem Vortrag gemäß abgefaßt, wiewohl es einige Mühe kostete, den Zunftmeister Pfriem dahin zu bringen, daß er nicht den Ungeraden machte; und der große Rath, mit seiner martialischen Bürgerwache im Vor- und Hintertreffen, begleitete den Nomophylax bis vor seine Wohnung zurück, wo er die Herren Kollegen samt und sonders auf den Abend zu einem

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großen Konzert einlud, welches er ihnen, zu Befestigung der wiederhergestellten Eintracht, zum Besten geben wollte. Der Erzpriester Agathyrsus erließ dem Eseltreiber nicht nur die versprochnen fünfundzwanzig Prügel, sondern schenkte ihm noch oben drein drey schöne Maulesel aus seinem eignen Stalle, mit dem ausdrücklichen Verbot, keine Schadloshaltung aus dem Abderitischen Ärario anzunehmen. Des folgenden Tages gab er den sämtlichen S c h a t t e n aus dem kleinen und großen Rath ein prächtiges Gastmal; und am Abend ließ er unter die gemeinen Bürger von allen Zünften, eine halbe Drachme auf den Mann, austheilen, um dafür auf seine und aller guten Abderiten Gesundheit zu trinken. Diese Freygebigkeit

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gewann ihm auf einmal wieder alle Herzen; und da die Abderiten ohnehin (wie wir wissen) Leute waren, denen es nichts kostete, von einer Extremität zur andern überzugehen: so ist sich, bey einem so edeln Betragen des bisherigen Oberhaupts der stärkern Parthey, nicht zu verwundern, daß die Namen von Eseln und Schatten in kurzem gar nicht mehr gehört wurden. Die Abderiten lachten izt selbst über ihre Thorheit als einen Anstoß von fiebrischer Raserey, der nun, Gottlob! vorüber war; einer ihrer Balladenmänner (deren sie sehr viele und sehr schlechte hatten) eilte was er konnte, die ganze Geschichte in ein Gassenlied zu bringen, das sogleich auf allen Straßen gesungen wurde; und der Dramen-Macher T h l a p s ermangelte nicht, binnen wenigen Wochen sogar eine Komödie daraus zu machen, wozu der Nomophylax eigenhändig die Musik komponierte. Die Komödie wurde öffentlich mit großem Beyfall aufgeführt, und beyde ehmalige Partheyen lachten so herzlich darinn, als ob die Sache sie gar nichts angienge. D e m o k r i t u s , der sich von dem Erzpriester hatte bereden lassen, mit in dies Schauspiel zu gehen, sagte beym

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Herausgehen: D i e s e Ähnlichkeit mit den Atheniensern muß man den Abderiten wenigstens eingestehen, daß sie recht treuherzig über ihre eigne Narrenstreiche lachen können. Sie werden zwar nicht weiser darum: aber es ist immer schon viel gewonnen, wenn ein Volk leiden kann, daß ehrliche Leute sich über seine Thorheiten lustig machen, und mitlacht, anstatt, wie die Affen, tückisch darüber zu werden. — Es war die letzte Abderitische Komödie, in welche Demokritus in seinem Leben gieng; denn bald darauf zog er mit Sack und Pack aus der Gegend von Abdera weg, ohne einem Menschen zu sagen, wo er hingienge; und von dieser Zeit an hat man keine weitere Nachrichten von 10

ihm. W.

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Das lezte Kapitel der Abderiten. Und so sind wir dann, in einem Zeitlauf von sechs Jahren, eben soviel Monaten und fünf oder sechs Tagen, durch mancherley ambages und discrimina rerum, endlich bis zum lezten Kapitel der beruhmten Abderitengeschichte gekommen; dem einzigen Kapitel, vor welchem dem Verfasser immer so sehr gegraut hat, daß er — ungeachtet er gleich im ersten Augenblicke, da er, auf die Stimme eines gewissen Dämons, sich hinsezte von den Abderiten zu schreiben, vorhersah, daß es endlich zu diesem Kapitel kommen w ü r d e , und schlechterdings kommen m ü ß t e , wofern er sich nicht der unverzeyhlichen Sünde schuldig machen wollte, eine der wahrhaftesten und lehrreichsten Ge-

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schichten, die jemals seit Erfindung der Buchstaben geschrieben worden, unvollendet zu lassen — daß er, sage ich, demungeachtet, aus bloßer Furcht vor diesem besagten lezten Kapitel, und (aufrichtig zu seyn) aus gerechtem Mißtrauen, ob er jemals Weisheit, Stärke, Muth und Glück genug haben würde, es zu Stande zu bringen, die Abfassung immer von Einem Monate, Quartale, halben und ganzen Jahre zum andern aufgeschoben, und lieber (so furchtbar einem Autor die Ungnade des Publicums ist) sich allen Folgen der so lange getäuschten Erwartung aussetzen, als aus eigner freyer Bewegung die Hand an dieses gefahrvolle Werk legen wollen. Was auch die Philosophen zu Gunsten andrer natürlicher Leidenschaften,

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und zu Rechtfertigung der Natur, die uns damit auf unsre Fahrt durch dies Lebensmeer ausgerüstet hat, sagen können — dies bleibt richtig: daß die Furcht vor einer unvermeidlichen Sache eine Schwachheit ist, die sich auf keine Weise entschuldigen läßt. Was hat nun der Verfasser davon, daß er sich so lange vor diesem Abentheuer gefürchtet hat? Es muß nun doch einmal bestanden werden, es koste was es wolle! Das Beste wird also seyn — was er schon lange hätte thun sollen — ohne längeres Zaudern und Achselzucken, nach ächter Ritterart, den Degen hoch, die Augen zugeschlossen,

gerade darauf loß zu gehen, und aus dem Erfolg werden zu lassen, was die höhern Mächte wollen!

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Ein anders wäre freylich, wenn sich der Verfasser durch eigne Schuld in dieser Verlegenheit befände; wenn er in dem Falle der Romanschreiber und tragischen Dichter wäre, die, um ihre Leser in desto größere Bestürzung zu setzen, sich oft so abscheulich in ihrem Süjet verwickeln, daß sie sich am Ende selbst nicht wieder herauszuhelfen wissen; mit Einem Worte, wenn die solenne Emigration der Abderiten aus ihrer geliebten und so viele hundert Jahre lang gegen Griechen und Barbaren behaupteten Vaterstadt, aus der großen, schönen, weltberühmten Abdera, weil sie solche gegen Frösche und Mäuse nicht länger behaupten konnten, — wenn, sage ich, dieß eine bloße Erdichtung 10

wäre, wodurch wir das Maas des Lächerlichen über die Häupter der guten Leute anhäuffen, und gleichsam den lezten Strich an dem Gemählde ihrer Thorheit hätten ziehen wollen — dann wär’ es ein anders. Aber dies ist hier keineswegs der Fall. Die Aussage des Geschichtschreibers T r o g u s P o m p e j u s und seines Epitomators J u s t i n u s liegt vor aller Welt Augen; und es würde, denke ich, dem subtilsten aller alten und neuen Sykophanten ewig unmöglich seyn, ihr einen andern Sinn zu geben, als den sie beym ersten Anblik darbietet. „Kassander (sagt J u s t i n u s mit dürren Worten) stieß auf seinem Rükzug von Apollonien auf D i e A b d e r i t e n , d i e v o n d e n ü b e r handgenommenen Fröschen und Mäusen aus ihrem Vaterlande

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v e r d r u n g e n , e i n e n a n d e r n W o h n s i z s u c h t e n “ — Histor. L. XV. c. 2. 1. pag. 258. der Elzevirischen Ausgabe von 1669. Das Factum hat also seine völlige Richtigkeit. Denn gewiß, ernsthafte Geschichtschreiber wie T r o g u s und J u n i a n u s J u s t i n u s , würden nicht aus ihrem Kopf ersonnen und als eine geschehene Sache hingeschrieben haben, was der kühnste Mährchenschreiber nie zu dichten gewagt hätte; und ihre Glaubwürdigkeit ist um so weniger zu bezweifeln, da sich nirgends die mindeste Spur zeigt, daß sie etwa einigen Groll oder bösen Willen gegen die Abderiten gehegt, und schlechterdings nicht abzusehen ist, was sie mit einer solchen Lüge gewonnen haben könnten. Ist aber das Factum richtig: so sind

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alle Gönner, Freunde, Erbverbrüderte und Erbvereinte der Abderiten berechtigt, von dem Geschichtschreiber derselben einen umständlichen Bericht zu erwarten, wie es mit einer so sonderbaren und in ihrer Art einzigen Begebenheit *) zugegangen. *)

Um dem Leser eine vollkommne Probe unsrer Aufrichtigkeit zu geben, wollen wir ihm

Das lezte Kapitel der Abderiten

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Übrigens wünscht der Verfasser nicht so verstanden zu werden, als ob er, nachdem er einmal seinen Entschluß gefaßt, nicht alle ersinnliche Vorsichtigkeit aufgeboten habe, um sich, wo möglich, mit heiler Haut aus der Sache zu ziehen, und dem unangenehmen Verdacht auszubeugen: als ob er entweder den Abderiten selbst zuviel gethan, oder sie nur zum Vorwand genommen habe, um (nach Art jener mit d e m H a ß d e s m e n s c h l i c h e n G e s c h l e c h t s gebrandmarkten Leute, die man S a t y r i s t e n und M e n i p p i s t e n nennt) unter verdektem Namen die Schaam unsrer eignen Zeit aufzudecken. Es ist freylich wunderlich genug, und für den Geschichtschreiber allerdings sehr unangenehm, daß diese Froschgeschichte, so läppisch und lächerlich ihre blinde

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Seite immer seyn mag, auf so mancherley Art in die politischen, bürgerlichen, ökonomischen und andere Transactionen aller Völker eingreift, daß es beynahe eben so leicht wäre einen Tractat de C o n cordia oder D i s cordia Imperii et Sacerdotii (es läuft auf Eins hinaus) zur Zufriedenheit beyderley hoher Interessenten zu schreiben, als das lezte Kapitel der Abderiten so abzufassen, daß niemand Anstoß daran nehmen, und Leute, die ein Werk dieser Art immer mit emporgerekten Nüstern zu beschnuffeln pflegen, nicht Anspielungen riechen sollten, wo der Erzähler am wenigsten an so was gedacht hat. Er sieht aber keine Möglichkeit, diesem Ungemach auszuweichen; und es bleibt ihm also nichts übrig, als die Sache, zu seiner eignen Beruhigung, so

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schlecht und recht hinzuerzählen, wie M u t t e r G a n s ihr Mährchen vom rothen Mützchen und blauen Bart’ erzählt — und, wenn die Leute denn doch nicht verbergen, daß, wenn der ältere P l i n i u s und sein aufgestellter Gewährsmann V a r r o hierinn Glauben verdiente, Abdera nicht die einzige Stadt in der Welt gewesen wäre, die von Fröschen und Mäusen ihren natürlichen Einwohnern abgejagt worden. Besagter Varro soll nicht nur einer Stadt in S p a n i e n Erwähnung thun, die von K a n i n c h e n , und einer andern die von M a u l w ü r f e n zerstört worden — sondern auch einer Stadt in G a l l i e n , deren Einwohner den F r ö s c h e n hätten Platz machen müssen. (S. P l i n . N a t u r g e s c h i c h t e B. VIII. in dem Kapitel von Städten und Völkern, denen kleine Thierchen den Garaus gemacht.) Allein, da Plinius weder die Stadt, der dies Unglük begegnet seyn soll, nennt, noch ausdrüklich sagt, aus welchem von den unzählichen Büchern, die der gelehrte Varro geschrieben (und wovon, zu unserm großen Bedauren, die meisten verlohren gegangen sind) er diese Anekdote genommen habe; und da überdies bekannt ist, daß Plinius sich zuweilen mehr auf sein Gedächtnis verließ, als er Ursache hatte: so glauben wir dem Respect, den man diesem großen Manne schuldig ist, nicht zu nahe zu treten, wenn wir vermuthen, daß sein Gedächtnis ihm für T h r a z i e n Gallien unterschoben habe, und daß die Stadt, von welcher beym Varro die Rede war, keine andre gewesen, als unser Abdera selbst. Salvis tamen melioribus!

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mit Gewalt Ärgernis nehmen w o l l e n , ihnen ihren Willen zu lassen, und, nach dem alten Sprüchwort, als ein fromm Mann sich dessen nichts anzunehmen. Er seines Orts ist fest überzeugt, daß es nur auf den guten Verstand und Willen (bonam mentem) der Leser ankommen werde, dies lezte Hauptstück der Abderiten so lehrreich und praktisch zu finden, als alle vorhergehenden, und als jede andre unverfälschte Erzählung menschlicher Begebenheiten und Handlungen, die handelnden Personen mögen nun große Herren und Damen — oder Sakträger, Schuhflicker und Heringsweiber seyn. * * * 10

Meine Herren, sagte der Archon Onokradias, indem er mit einiger Hitze von seinem elfenbeinernen Stuhl auffuhr, da die B a t r a c h o s e b i s t e n so laut zu schreyen anfiengen, daß niemand sein eigen Wort mehr hören konnte — Nein! — S o geht’s nicht! Es ist nicht die gute Art zu erzählen, wiewohl’s die Art des Ersten und Einzigen ist, dem sie wohl anstund, war, und es izt Mode ist, alles was man schreibt, bis auf die Schulprogrammen, so ex abrupto anzufangen — bleiben wir, wie gescheuten Leuten zukommt, bey der alten Weise, und fangen beym Anfang an! Um also dem geneigten Leser begreiflich zu machen, w a r u m die Batrachosebisten so laut geschrien, und wer die Batrachosebisten waren; wird es

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nöthig seyn, den Faden der Geschichte da wieder aufzuknüpfen, wo wir ihn nach Erzählung des unverhoften Ausgangs der O n o s k i a m a c h i e , oder des weltberühmten Rechtshandels des Esels-Schatten, abgebrochen hatten. Die Republik Abdera genoß einige Jahre auf diese so gefährliche, und — dank ihrem gutlaunigen Genius! — so glüklich abgelaufne Erschütterung, der vollkommensten Ruhe von innen und aussen; und wenn es natürlicherweise möglich wäre, daß Abderiten sich lange wohl befinden könnten: so hätte man, dem Anschein nach, ihrem Wohlstande die längste Dauer versprechen sollen. Aber, zu ihrem Unglück, arbeitete eine ihnen allen verborgene Ursache, ein geheimer Feind, der nur desto gefährlicher war, weil sie ihn in ihrem eignen

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Busen herumtrugen, unvermerkt an ihrem Untergang. Die Abderiten verehrten (wie wir wissen) seit undenklichen Zeiten die L a t o n a als ihre Schutzgöttin. So viel sich auch immer mit gutem Fug gegen den Latonendienst einwenden läßt, so war es nun einmal ihre von Voreltern auf sie geerbte Volks- und Staats-Religion, und sie waren in diesem Stücke nicht

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schlimmer dran, als alle übrigen griechischen Völkerschaften. Ob sie, wie die Athenienser, Minerven, oder Juno wie die von Samos, oder Dianen, wie die Ephesier, oder die Grazien, wie die Orchomenier, oder ob sie Latonen verehrten, darauf kam’s nicht an: eine Religion mußten sie haben, und in Ermanglung einer bessern, war eine jede besser als gar keine. Aber der Latonendienst hätte auch ohne den geheiligten Froschgraben bestehen können. Wozu hatten sie nöthig, den einfältigen Glauben der alten Tejer, ihrer Voreltern, durch einen so gefährlichen Zusatz aufzustutzen? Wozu die Frösche der Latona, da sie die Latona selbst hatten? — Oder, wenn sie ja ein sichtbares Denkmal jener wundervollen Verwandlung der Milischen Bauern zur Nahrung ihres Abde-

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ritischen Glaubens bedurften: hätten ein Halbdutzend ausgestopfte Froschhäute, mit einer schönen goldnen Inschrift, in einer Kapelle des Latonentempels aufgestellt, mit einem brokatnen Tuch umschleyert, und alle Jahr mit gehörigen Feyerlichkeiten dem Volke vorgezeigt, ihrer Einbildungskraft nicht die nemlichen Dienste gethan? Demokritus, ihr guter Mitbürger, aber zum Unglük ein Mann, dem man nichts glauben konnte, weil er in dem bösen Rufe stand, selbst nichts zu glauben, hatte, während er sich unter ihnen aufhielt, bey Gelegenheit zuweilen ein Wort davon fallen lassen: d a ß m a n d e s G u t e n , z u m a l w o F r ö s c h e m i t i m S p i e l e w ä r e n , l e i c h t z u v i e l t h u n k ö n n e ; und da seine Ohren, nach

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einer zwanzigjährigen Abwesenheit, an das liebliche Brekekekek Koax Koax, das ihm zu Abdera bey Nacht und Tag um die Ohren schnarrte, nicht so gewöhnt waren, als die etwas dicken Ohren seiner Landesleute: so hatte er ihnen oft einigemal nachdrükliche Vorstellungen gegen ihre D e i s i b a t r o c h i e (wie er’s nannte) gethan, und ihnen öfters bald im Scherz, bald im Ernst, vorhergesagt, daß, wenn sie nicht in Zeiten Vorkehrung thäten, ihre quakenden Mitbürger sie endlich aus Abdera hinausquaken würden. Die Vornehmern konnten über diesen Punct sehr gut Scherz vertragen; denn sie wollten wenigstens nicht dafür angesehen seyn, als ob sie mehr von den Fröschen der Latona glaubten, als Demokritus selbst. Aber das Übel war, daß er sie weder durch Schimpf noch Ernst dahin bringen konnte, die Sache aus einem vernünftigen Gesichtspuncte zu beherzigen. Scherzte er darüber, so scherzten sie mit; sprach er ernsthaft, so lachten sie über ihn, daß er ü b e r s o w a s ernsthaft seyn könne — und so blieb es denn, Einwendens ungeachtet, wie in allen Dingen so auch hierinn, zu Abdera immer beym Alten Brauch.

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Indessen wollte man doch zu Demokritus Zeiten eine gewisse L a u i g k e i t in Absicht auf die Frösche unter der edeln abderitischen Jugend wahrgenommen haben. Gewiß ist, daß der Priester Strobylus öfters große Klaglieder darüber anstimmte, daß die meisten guten Häuser die Froschgräben, die sie von Altersher in ihren Gärten unterhalten hätten, unvermerkt eingehen liessen; und daß der gemeine Mann beynahe der einzige sey, der in diesem Stüke noch fest an dem löblichen alten Brauch hange, und seine Ehrfurcht für den geheiligten Teich noch überdies durch freywillige Gaben zu Tage lege. Wer sollte nun vermuthet haben, daß gerade unter allen Abderiten derjenige, auf den am 10

wenigsten ein Verdacht, daß er an der D e i s i b a t r o c h i e krank sey, fallen konnte — kurz, daß der Erzpriester Agathyrsus der Mann war, der bald nach Endigung der Fehde zwischen den E s e l n und S c h a t t e n , dem erkalteten Eyfer der Abderiten für die Frösche wieder ein neues Leben gab — indem er, in einem fröhlichen Anstoß von P o p u l a r i t ä t , oder vielmehr, um sich a u f d i e w o h l f e i l s t e A r t bey dem Volke in Ansehen und Einfluß zu erhalten, nicht nur die Störche, über welche d i e F r o s c h p f l e g e r Klage geführt hatten, aus allen Gerichten und Gebieten des Jasontempels verbannte; sondern mitten auf einer zu dessen Umfang gehörigen Esplanade (die einer seiner Vorfahren zu einem öffentlichen Spazierplaz gewidmet hatte) einen Kanal graben ließ,

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und sich zu Besatzung desselben auf eine sehr verbindliche Art einige Fässer mit Froschleich aus dem geheiligten Teiche von dem Oberpriester Strobylus ausbat; welche ihm denn auch, nach einem der Latona gebrachten feyerlichen Opfer, in Begleitung des ganzen Abderitischen Pöbels, mit großem Pompe zugeführt wurden. Von diesem Tage an war Agathyrsus der Abgott des Volks, und ein Froschgraben, zu rechter Zeit angelegt, verschafte ihm, was er mit aller seiner Politik, Wohlredenheit und Freygebigkeit vielleicht nie erlangt haben würde. Er herrschte, ohne die Rathsstube jemals zu betreten, so unumschränkt in Abdera als ein König; und weil er den Rathsherren und Zunftmeistern alle Wo-

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chen zwey- oder dreymal zu essen gab, und ihnen seine Befehle nie anders als in vollen Bechern von Chier-Wein insinuierte: so hatte niemand etwas gegen einen so liebenswürdigen Tyrannen einzuwenden. Die Herren glaubten nichts destoweniger auf dem Rathhause ihre eigne Meynung zu sagen, wenn ihre Vota gleich nur der Wiederhall der Schlüsse waren, die Tages zuvor im Speisesaal des Erzpriesters abgefaßt wurden.

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Agathyrsus war zwar der erste, der sich, unter guten Freunden, über seinen neuen Froschgraben lustig machte; aber das Volk hörte nichts davon; und da sein Beyspiel auf die Edeln von Abdera mehr wirkte, als seine Scherze: so hätte man den Wetteyfer sehen sollen, womit sie, um ebenfalls Proben von ihrer Popularität abzulegen, entweder die vertrokneten Froschgräben in ihren Gärten wiederherstellten, oder neue anlegten, wo noch keine gewesen waren. Wie in Abdera alle Thorheiten ansteckend waren, so blieb auch von dieser niemand frey. Anfangs war es nur eine Mode, eine Sache die zum guten Ton gehörte. Ein Bürger von einigem Vermögen würde sichs zur Schande gerechnet haben, hierinn hinter seinem vornehmern Nachbar zurükzubleiben. Aber

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unvermerkt wurde es ein unvermeidliches Requisitum eines guten Bürgers; und wer nicht wenigstens eine kleine Froschgrube innerhalb seiner Pfähle aufweisen konnte, würde für einen Feind Latonens und für einen Verräther am Vaterlande ausgeschrien worden seyn. Bey einem so warmen Eyfer der Privatpersonen, ist leicht zu erachten, daß der Senat, die Zünfte und übrigen Kollegien nicht die lezten waren, der Latona gleichmäßige Beweise ihrer Devotion zu geben. Jede Zunft ließ sich ihren eignen Froschzwinger graben; auf jedem öffentlichen Platz der Stadt, und sogar vor dem Rathhause (wo die Kräuter- und Eyerweiber ohnehin Lerms genug machten) wurden große mit Schilf und Rasen eingefaßte Bassins zu diesem Ende angelegt; und das Policey-

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Collegium, dem hauptsächlich d i e V e r s c h ö n e r u n g d e r S t a d t in seine Pflichten gegeben war, kam endlich gar auf den Einfall, durch die Alleen, womit Abdera rings umgeben war, zu beyden Seiten schmale Kanäle ziehen, und mit Fröschen besetzen zu lassen. Das Projekt wurde vor Rath gebracht, und passirte nemine contradicente; wiewohl man sich genöthigt sah, um diese Kanäle und die übrigen öffentlichen Froschteiche mit dem benöthigten Wasser zu versehen, den Fluß Nestus beynahe gänzlich abgraben zu lassen. Weder die Kosten, die durch alle diese Operationen dem Ärario aufgeladen wurden, noch der vielfältige Nachtheil, der aus dem Abgraben des Flusses entstund, wurden in die mindeste Betrachtung gezogen; und als ein junger Rathsherr, nur im Vorbeygehn, erwähnte, daß der Nestus nahe am Eintrocknen wäre — desto besser, rief einer von den Froschpflegern; so haben wir einen großen Froschgraben mehr, ohne daß er der Republik einen Heller kostet. Wer sich bey diesem — freylich nur in Abdera möglichen — Enthusiasmus für die Verschönerung der Stadt durch Froschgräben am besten befand, wa-

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ren die Priester des Latonentempels. Denn, ungeachtet sie den Leich aus dem heiligen Teiche sehr wohlfeil, nemlich den Abderitischen C y a t h u s (der ungefehr ein Nößel unsers Maaßes betragen mochte) nur für zwoo Drachmen verkauften: so wollte doch jemand berechnet haben, daß sie in den ersten zwey bis drey Jahren, da die Schwärmerey am wirksamsten war, über fünftausend D a r i k e n damit gewonnen hätten. Die Summe scheint uns, bey allem dem, zu hoch angesezt; wiewohl nicht zu läugnen ist, daß sie sich, für den Leich, den sie d e r R e p u b l i k ablieferten, wie gewöhnlich, das Duplum aus der Baukasse bezahlen liessen. 10

Übrigens dachte in ganz Abdera niemand an die Folgen dieser schönen Anstalten. Die Folgen kamen, wie gewöhnlich, von sich selbst. Aber, weil sie nicht auf einmal dastunden, so währte es nicht nur eine geraume Zeit, bis man sie bemerkte; sondern, da sie endlich auffallend genug wurden, um nicht länger, sogar von Abderiten, übersehen zu werden: so konnten diese doch, troz ihrem bekannten Scharfsinn, die Quelle derselben nicht ausfindig machen. Die Abderitischen Ärzte zerbrachen sich die Köpfe, um zu errathen, woher es käme, daß Schnuppen, Flüße und Hautkrankheiten aller Arten von Jahr zu Jahr so mächtig überhand nahmen, und so hartnäckig wurden, daß sie aller ihrer Kunst und aller Niesewurz von Anticyra trotz boten; und, kurz, Abdera

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mit der ganzen Gegend umher, war beynahe in Einen allgemeinen unabsehbaren Froschteich verwandelt, eh es einem ihrer Philosophen einfiel, die Frage aufzuwerfen: ob eine grenzenlose Vermehrung der F r o s c h m e n g e einem Staat nicht vielleicht mehr Schaden thun könnte, als die Vortheile, die man sich davon verspreche, jemals wieder gut zu machen vermöchten? Der merkwürdige Kopf, der zuerst die Wahrnehmung machte, daß die Menge der Frösche in Abdera in der That übermäßig sey und mit der Anzahl und dem Bedürfnis der zweybeinigten unbefiederten Einwohner ganz und gar in keinem Verhältnis stehe, nannte sich K o r a x . Es war ein junger Mann von gutem Hause, der sich etliche Jahre zu Athen aufgehalten und in der Akade-

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mie, (wie die von Plato gestiftete Philosophenschule bekanntermaaßen genennt wurde) gewisse Grundsätze eingesogen hatte, die den Fröschen der Latona nicht allzugünstig waren. Die Wahrheit zu sagen, Latona selbst hatte durch seinen Auffenthalt zu Athen soviel bey ihm verlohren, daß es kein Wunder war, wenn er ihre Frösche nicht mit aller der Ehrfurcht ansehen konnte, die von einem orthodoxen Abderiten gefodert wurde. Eine jede schöne Frau

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ist eine Göttin, pflegte er zu sagen, wenigstens eine Göttin der Herzen; und Latona war unstreitig eine sehr schöne Frau: aber was geht das d i e F r ö s c h e , und — die Sache bloß menschlich und im Lichte der Vernunft betrachtet — was gehen am Ende die Frösche L a t o n e n an? Und gesezt auch, die Göttin — für die ich übrigens soviel Ehrfurcht hege, als einer schönen Frau und einer Göttin gebührt — habe die Frösche vor allem andern Geziefer und Ungeziefer der Welt in ihren besondern Schutz genommen: folgt denn daraus, daß man der Frösche nie z u v i e l haben könne? Korax war, als er so zu räsonniren anfieng, ein Mitglied der Akademie, welche in Abdera, zur Nachahmung der Atheniensischen, gestiftet worden

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war. Denn die Abderiten waren, wie wir wissen, schon von langem her darauf gestellt, alles wie die Athenienser haben zu wollen. Diese Akademie war ein kleiner in Spatziergänge ausgehauener Wald, ganz nahe bey der Stadt; und, da sie unter dem Schutz des Senats stund, und auf Kosten des Ärariums angelegt worden war; so hatten die Herren von der Polizeykommission nicht ermangelt, sie reichlich mit Froschgräben zu versehen. Die Glieder der Akademie fanden sich zwar nicht selten durch den monotonischen Chorgesang dieser quakenden Philomelen in ihren tiefsinnigen Betrachtungen gestört: aber, da dies an jedem andern Orte in und um die Stadt Abdera ebensowohl der Fall gewesen wäre; so hatten sie sich immer in Geduld darein ergeben; oder, rich-

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tiger zu reden, man war des Froschgesangs in Abdera so gewohnt, daß man nicht mehr davon hörte als die Einwohner von Katadupa von dem großen Nilfall, in dessen Nachbarschaft sie leben, oder als die Anwohner irgend eines andern Wasserfalls in der Welt. Allein mit Korax, dessen Ohren durch seinen Auffenthalt zu Athen die Empfindlichkeit, die allen gesunden menschlichen Ohren natürlich ist, wieder erlangt hatten, war es eine andre Sache; und man wird es also nicht befremdlich finden, daß er gleich bey der ersten Sitzung, der er beywohnte, die spitzige Anmerkung machte: er glaube, das Käuzlein der Minerva qualificire sich ungleich besser zu einem ausserordentlichen Mitglied der Akademie, als die Frösche der Latona. Ich weiß nicht, meine Herren, wie S i e die Sache ansehen, sezte er hinzu: aber mich däucht, die Frösche haben seit einigen Jahren auf eine ganz unbegreifliche Art in Abdera zugenommen — Die Abderiten waren ein dumpfes Völklein, wie wir alle wissen, und es war vielleicht (eine Einzige berühmte Nation ausgenommen) kein anderes in der

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Welt, das in der sonderbaren Eigenschaft, „den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen zu können“ ihnen den Vorzug streitig machen konnte. Aber dies mußte man ihnen lassen: sobald es nur Einem unter ihnen einfiel, eine Bemerkung zu machen, die jedermann eben so gut hätte machen können als Er, wiewohl sie niemand vor ihm gemacht hatte: so schienen sie allesamt plözlich aus einem langen Schlaf zu erwachen, sahen nun auf einmal — was ihnen vor der Nase lag, verwunderten sich der gemachten Entdeckung, und glaubten demjenigen sehr verbunden zu seyn, der ihnen dazu verholfen hatte. In der That, sagten die Herrn von der Akademie, die Frösche haben seit einiger Zeit auf 10

eine ganz unbegreifliche Art zugenommen. Wenn ich sagte „auf eine unbegreifliche Art“ versezte Korax, so will ich damit keineswegs gesagt haben, daß etwas übernatürliches in der Sache sey. Im Grunde ist nichts begreiflichers als daß die Frösche sich auf eine ganz ungeheure Art an einem Orte vermehren müssen, wo man solche Anstalten zu ihrer Unterhaltung vorkehrt, wie zu Abdera: das Unbegreifliche liegt, meiner geringen Meynung nach, bloß darinn, wie die Abderiten einfältig genug seyn können, diese Anstalten vorzukehren? Die sämmtlichen Mitglieder der Akademie stuzten über die Freyheit dieser Rede, sahen einander an, und schienen verlegen zu seyn, was sie von der Sache

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denken sollten. Ich rede bloß menschlicherweise, sagte Korax. Wir zweifeln nicht daran, versezte der Präsident der Akademie, der ein Rathsherr und einer von den Z e h n m ä n n e r n war; allein die Akademie hat sichs bisher zum Gesetz gemacht, dergleichen schlüpfrige Materien, auf welchen die Vernunft so leicht ausglitschen kann, lieber gar nicht zu berühren — Die Akademie zu Athen hat sich kein solches Gesetz gemacht, fiel ihm Korax ein; wenn man nicht über Alles philosophiren darf, so wär’s eben so gut, man philosophirte über gar nichts. Über alles, sagte der Präsident Zehnmann mit einer bedenklichen Mine,

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nur nicht über Latonen, und — Ihre Frösche? — sezte Korax lächelnd hinzu. Dies war’s auch würklich, was der Präsident hatte sagen wollen; aber bey dem Wörtchen u n d überfiel ihn eine Art von Beklemmung, als ob er wider Willen fühlte, daß er im Begriff sey eine Sottise zu sagen; und so hielt er plözlich mit ofnem Munde still, und überließ es dem Korax, die Periode zu vollenden.

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Ein jedes Ding kann von sehr vielerley Seiten, und in mancherley Lichte betrachtet werden, fuhr Korax fort; und dies zu thun, ist, däucht mich, just was dem Philosophen zukömmt, und was ihn von dem dummen undenkenden Haufen unterscheidet. Unsere Frösche, zum Exempel, können als F r ö s c h e s c h l e c h t w e g , und als F r ö s c h e d e r L a t o n a betrachtet werden. Denn in so fern sie Frösche schlechtweg sind, sind sie weder mehr noch weniger Frösche als andre; ihr Verhältnis gegen die Abderiten ist, in s o fern, ungefehr das nemliche, wie das Verhältnis aller übrigen Frösche zu allen übrigen Menschen; und in s o fern kann nichts unschuldigers seyn, als zu untersuchen, ob z. E. die F r o s c h m e n g e in einem Staat mit der V o l k s m e n g e in gehörigem

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Verhältnis stehe oder nicht; und, wenn sich fände, daß der Staat einen großen Theil mehr Frösche ernähren müßte, als er nöthig hätte, die diensamsten Mittel vorzuschlagen, wodurch ihre übermäßige Menge vermindert werden könnte. Korax spricht verständig, sagten etliche junge Akademisten. Ich rede bloß menschlicherweise von der Sache, sagte Korax. Ich wollte lieber, daß wir gar nicht davon angefangen hätten, sagte der Präsident. Dies war der erste Funke, den Korax in die schwindlichten Köpfe einiger spekulativen jungen Abderiten warf. Unvermerkt wurde er zum Haupt und Worthalter einer philosophischen Secte, von deren Grundsätzen und Meynun-

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gen in Abdera nicht allzuvortheilhaft gesprochen wurde. Sie wurden nicht ohne Grund beschuldiget, daß sie nicht nur unter sich, sondern sogar in großen Gesellschaften und auf den öffentlichen Spazierplätzen behaupteten: „es lasse sich mit keinem einzigen triftigen Grunde beweisen, daß die Frösche der Latona etwas bessers als gemeine Frösche wären; die Sage, daß sie von den Milischen Froschbauren, oder Bauerfröschen abstammten, wäre ein albernes Volksmährchen; und selbst die alte Tradition, daß Jupiter die Milischen Bauern, weil sie Latonen mit ihren Zwillingen nicht aus ihrem Teiche hätten trinken lassen wollen, in Frösche verwandelt habe, sey etwas, woran man allenfalls zweifeln könnte, ohne sich eben darum an Jupitern oder Latonen mächtig zu versündigen. Es möchte aber auch damit seyn wie es wollte, so sey es doch ungereimt, aus Devotion gegen die schöne Latona, die ganze Stadt und Republik Abdera zu einer Froschpfütze zu machen“ — und was dergleichen Behauptungen mehr waren, die, so simpel und vernunftmäßig sie uns heutiges Tages vorkommen, zu Abdera gleichwohl, zumal in den Ohren der Latonenpriester,

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sehr ü b e l k l i n g e n d gefunden wurden, und dem Philosophen Korax und seinen Anhängern den verhaßten Namen der B a t r a c h o m a c h e n oder G e g e n f r ö s c h l e r zuzogen; ein Titel, dessen sie sich jedoch um so weniger schämten, weil es ihnen gelungen war, beynahe die ganze junge und schöne Welt auf ihre Seite zu bringen, und mit ihren freyen Meynungen anzustecken. Die Priester des Latonentempels und das Kollegium der Froschpfleger ermangelten nicht, bey jeder Gelegenheit ihr Mißfallen an dem muthwilligen Witze der Gegenfröschler zu zeigen; und der Oberpriester Stilbon vermehrte, aus dieser Veranlassung, sein Buch von den Alterthümern des Latonentempels 10

mit einem großen Kapitel über die Natur der Latonenfrösche. Indessen hatten sie einen sehr wesentlichen Beweggrund, es dabey bewenden zu lassen; und dieser war: daß, ungeachtet der freygeisterischen Denkart über die Frösche, welche Korax in Abdera zur M o d e gemacht hatte, nicht ein einziger Froschgraben in und um die Stadt weniger zu sehen war, als zuvor. Der Philosoph Korax und seine Anhänger waren schlau genug gewesen, zu merken, daß sie sich die Freyheit, „von den Fröschen überlaut zu denken, was sie wollten“ nicht wohlfeiler erkaufen könnten, als wenn sie es, was die Ausübung betraf, gerade eben so machten, wie alle andre Leute. Ja, der weise Korax, als derjenige, auf den man am meisten Acht gab, hatte für schiklich angesehen, lieber zu viel als

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zu wenig zu thun; und also, gleich nach seiner Aufnahme in die Akademie, auf seinem angeerbten Grund und Boden einen der schönsten Froschgräben in ganz Abdera angelegt und mit einer beträchtlichen Menge schöner wohlbeleibter Frösche aus dem geheiligten Teich besezt, wovon er den Priestern jedes Stük mit vier Drachmen bezahlte; eine Höflichkeit, für welche diese Herren, so wenig sie sich ihm auch sonst dafür verbunden halten mochten, doch, um des guten Beyspiels willen, nicht umhin konnten, dankbar zu scheinen; zumal da diese nemliche Handlung des sogenannten Philosophen hinlänglichen Vorwand gab, diejenigen, die sich an seinen freyen Meynungen und witzigen Einfällen hätten ärgern mögen, zu überzeugen, d a ß e s i h m n i c h t E r n s t d a -

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m i t s e y . Seine Zunge ist schlimmer als sein Gemüth, pflegten sie zu sagen; er will dafür angesehen seyn, als ob er zuviel Witz hätte um zu denken wie andre Leute: aber im Grunde ists bloße Affectation; wenn er nicht im Herzen eines bessern überzeugt wäre, würde er wohl seine freygeisterischen Meynungen durch seine Handlungen widerlegen? Man muß solche Leute nicht nach dem was sie sprechen beurtheilen, sondern nach dem was sie thun.

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Bey allem dem ist nicht zu läugnen, daß Korax unter der Hand mit keinem geringern Anschlag umgieng, als, gleich einem neuen Herkules oder Theseus oder Harmodius, sein Vaterland von den — Fröschen zu befreyen; von welchen es, wie er zu sagen pflegte, mit größerm Unheil bedroht würde, als alle die Ungeheuer, Räuber und Tyrannen, von denen jene Heroen das ihrige befreyten, jemals im ganzen Griechenlande angerichtet hätten. Das Ungemach, das die Abderiten von der ungeheuren Vermehrung ihrer heiligen Frösche zu erdulden hatten, wurde inzwischen von Tag zu Tag drükkender. Gleichwohl hatte der damalige Archon O n o k r a d i a s — ein Schwestersohn des berühmten Onolaus, und, die Wahrheit zu sagen, der lockerste

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Kopf, der jemals am Ruder von Abdera gewackelt hatte — noch immer nicht vermocht werden können, die Sache vor den Senat zu bringen — bis bey einer großen Feyerlichkeit, wo der Rath und die ganze Bürgerschaft in Proceßion durch die Hauptstraßen ziehen mußte, das Unglück begegnete, daß ein Paar Dutzend Frösche, die sich zuweit aus ihren Gräben herausgewagt hatten, im Gedränge des Volks zertreten wurden, und, aller schleunig vorgekehrten Hülfe ungeachtet, jämmerlich ums Leben kamen. Dieser Vorfall schien so bedenklich, daß sich der Archon genöthiget fand, eine ausserordentliche Rathsversammlung ansagen zu lassen, um sich zu berathen, was für eine Genugthuung die Stadt für dieses zwar unvorsezliche aber nichts desto weniger

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höchst unglükliche S a c r i l e g i u m der Latona zu leisten hätte, und durch was für Vorkehrungen einem ähnlichen Unglücke fürs künftige vorgebaut werden könnte. Nachdem eine gute Weile viel abderitische Plattheiten über die Sache vorgetragen worden waren, plazte endlich der Rathsherr M e i d i a s , ein Verwandter und Anhänger des Philosophen Korax heraus: „Ich begreife nicht, warum die Herren um ein halb Schok Frösche mehr oder weniger ein solches Aufheben machen mögen. Jedermann ist überzeugt, daß die Sache ein bloßer Zufall war, den uns Latona unmöglich übel nehmen kann; und weil das Schiksal, das über Götter, Menschen und Frösche zu befehlen hat, doch nun einmal den Untergang einiger quakenden Geschöpfe bey dieser Gelegenheit verhängen wollte: möchten’s doch anstatt vier und zwanzig, eben so viele Myriaden gewesen seyn!“ Es waren im ganzen Senat vielleicht nicht fünfe, die in ihrem Hause, oder in Privatgesellschaften, (wenigstens seit Korax die erste Entdeckung gemacht)

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nicht tausendmal über die allzugroße Vermehrung der Frösche geklagt hätten; und gleichwohl, da es in vollem Senat noch nie darüber zur Sprache gekommen war, stuzte jedermann über die Kühnheit des Rathsherrn Meidias nicht anders, als ob er der Latona selbst an die Kehle gegriffen hätte; und einige alte Herren sahen so erschrocken aus, als ob sie erwarteten, daß ihr Herr Kollege für diese verwegene Rede auf der Stelle zum Frosch werden würde. „Ich hege alle gebührende Achtung für den geheiligten Teich (fuhr Meidias, der alles wohl bemerkte, ganz gelassen fort) aber ich berufe mich auf die 10

innere Überzeugung aller Menschen, deren Mutterwiz noch nicht ganz eingetroknet ist; ob jemand unter uns ohne Unverschämtheit läugnen könne, daß die Menge der Frösche in Abdera ungeheuer ist?“ Die Rathsherrn hatten sich indessen von ihrem ersten Schrecken wieder erhohlt; und wie sie sahen, daß Meidias noch immer in seiner eignen Gestalt dasaß, und ungestraft hatte sagen dürfen, was sie im Grunde allesammt als Wahrheit fühlten: so fieng einer nach dem andern an zu bekennen; und nach einer kleinen Weile zeigte sichs, daß der ganze Senat einhellig der Meynung war: e s w ä r e z u w ü n s c h e n , d a ß d e r F r ö s c h e i n A b d e r a w e n i g e r s e y n m ö c h t e n . — Man ist in seinem eignen Hause nicht mehr vor ihnen

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sicher, sagte einer. — Man kann nicht über die Straße gehen, ohne Gefahr zu laufen, einen oder ein Paar zugleich mit jedem Tritte zu zerquetschen, sagte ein andrer. — Man hätte der Freyheit, Froschgräben anzulegen, gleich anfangs Schranken setzen sollen, sagte ein dritter. — Wär ich damals im Senat gewesen, da die Stiftung der öffentlichen Froschteiche beschlossen wurde, ich würde meine Stimme nimmermehr dazu gegeben haben, sagte ein vierter. — Wer hätte aber auch gedacht, daß sich die Frösche in wenig Jahren so unmenschlich vermehren würden, sagte ein fünfter. — Ich sah es wohl vorher, sagte der Präsident der Akademie; aber ich habe mir zum Gesetze gemacht, mit den Priestern der Latona in Frieden zu leben.

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Ich auch sagte Meidias; aber unsre Umstände werden dadurch nichts gebessert. Was ist also bey so gestalten Sachen anzufangen, meine Herren? sagte endlich in seinem gewöhnlichen nieselnden Tone der Archon Onokradias. Da sizt eben der Knoten, antworteten die Rathsherrn aus Einem Munde! Wenn uns nur jemand sagen wollte, was anzufangen ist?

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Was anzufangen ist? rief Meidias hastig, und hielt plözlich wieder inne. Es erfolgte eine allgemeine Stille in der Rathsstube; die weisen Männer liessen ihre Häupter auf die Brust fallen, und schienen mit Anstrengung aller ihrer Gesichtsmuskeln nachzusinnen, w a s a n z u f a n g e n s e y ? Aber wofür haben wir denn eine Akademie der Wissenschaften in Abdera? rief nach einer Weile der Archon zu allgemeiner Verwunderung aller Anwesenden; denn man hatte ihn seit seiner Erwählung zum Archontat noch nie seine Meynung in einer rhetorischen Figur vorbringen hören. Der Gedanke Seiner Hochweisheit ist unverbesserlich, versezte der Rathsherr Meidias; man trage der Akademie auf, ihr Gutachten zu geben, durch was

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für Mittel — Das ists eben, was ich meyne, unterbrach ihn der Archon; wofür haben wir eine Akademie, wenn wir uns mit dergleichen subtilen Fragen die Köpfe zerbrechen sollen? Vortreflich! riefen eine Menge dicker Rathsherrn, indem sie sich alle zugleich mit der flachen Hand über ihre platten Stirnen fuhren — die Akademie! die Akademie soll ein Gutachten stellen! Ich bitte Sie, meine Herren, rief H y p s i b o a s , einer der Häupter der Republik; denn er war zur Zeit N o m o p h y l a x , erster Froschpfleger und Mitglied des ehrwürdigen Kollegiums der Zehnmänner. Aller dieser Titel unge-

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achtet lebte schwerlich im ganzen Abdera ein Mann, der an Latonen und ihren Fröschen im Herzen weniger Antheil nahm als er; aber weil ihm der Jasonide Onokradias bey der lezten Archonswahl vorgezogen worden war, so hatte er sichs zum Grundsatz gemacht, dem neuen Archon immer in allem zuwider zu seyn; und er wurde von den Jasoniden und ihren Freunden nicht unbillig beschuldiget, daß er ein unruhiger Kopf sey, und mit nichts geringerm umgehe, als eine Parthey im Rathe zu formiren, welche sich allen Absichten und Schlüssen der Jasoniden, die seit langer Zeit den Meister in der Stadt gespielt hatten, entgegen setzen sollte. — Ich bitte Sie, meine Herren, übereilen sie sich nicht, rief Hypsiboas: Die Sache gehört nicht vor die Akademie, sie gehört vor das Kollegium der B a t r a c h o t r e p h o n t e n . Es wäre wider alle gute Ordnung, und würde von den Priestern der Latona als die gröbste Beleidigung aufgenommen werden müssen, wenn man eine Frage von dieser Natur und Wichtigkeit der Akademie auftragen wollte! Es betrift aber keine bloße F r o s c h s a c h e , Hochgeachter Herr Nomo-

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phylax, sagte Meidias mit seiner gewöhnlichen spöttelnden Gelassenheit: leider! ists, dank sey den schönen Anstalten, die man seit einigen Jahren getroffen hat, eine S t a a t s s a c h e — Und vielleicht die wichtigste, die jemals ein allgemeines Zusammentreten aller Vaterländischgesinnten Gemüther nothwendig gemacht hat, fiel ihm Stentor ins Wort; Stentor, einer der heissesten Köpfe in der Stadt, und der seiner polternden Stimme wegen viel im Senat vermochte. Die Jasoniden hatten ihn, wiewohl er nur ein Plebejer war, durch die Vermählung mit einer natürlichen Tochter des verstorbnen Erzpriesters Agathyrsus auf ihre Seite 10

gebracht, und pflegten sich gewöhnlich seiner guten Stimme zu bedienen, wenn etwas gegen den Nomophylax Hypsiboas durchzusetzen war, der eine eben so starke, wiewohl nicht völlig so p o l t e r n d e Stimme hatte als Stentor. Wohl kam es diesmal den Ohren der Abderitischen Rathsherrn, daß sie durch das ewige Koax Koax ihrer Frösche ein wenig dikhäutig geworden waren: sie würden sonst in Gefahr gewesen seyn, bey dieser Gelegenheit völlig taub zu werden. Aber man war solcher Artigkeiten auf dem Rathhause zu Abdera schon gewohnt, und man ließ also die beyden mächtigen Schreyer, gleich zween eyfersüchtigen Bullen, einander so lange anbrüllen, bis sie — vor Heiserkeit nicht mehr schreyen konnten.

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Da es von diesem Augenblik an nicht mehr der Mühe werth war, ihnen zuzuhören; so fragte der Archon den Stadtschreiber: wieviel die Uhr sey? — und auf die Versicherung desselben, daß die Mittagessenszeit herannahe, wurde unverzüglich zur Umfrage geschritten. Hier beliebe man sich zu erinnern, daß es auf dem Rathhause zu Abdera bey Abfassung eines Schlusses niemals darum zu thun war, die Gründe, welche für oder wider eine Meynung vorgetragen worden waren, kaltblütig gegen einander abzuwägen, und sich auf die Seite desjenigen zu neigen, der d i e b e s t e n gegeben hatte: sondern man schlug sich entweder zu dem, der am längsten und lautsten geschrien hatte, oder, welches ordentlicherweise der

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Fall war, zu dem, dessen Parthey man hielt. Nun pflegte zwar die Parthey des Archon in kurrenten Sachen fast immer die stärkere zu seyn; aber diesesmal, da es (mit dem Präsidenten der Akademie zu reden) eine so schlüpfrige Sache betraf, würde Onokradias schwerlich die Oberhand erhalten haben, wenn Strephon seine Lungenflügel nicht so ausserordentlich angegriffen hätte. Es wurde also mit 28 Stimmen gegen 22 beschlossen: daß der Akademie ein Gut-

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achten abgefodert werden sollte, durch was für Mittel und Wege der übermäßigen Vermehrung der Frösche in und um Abdera, (jedoch der schuldigen Ehrfurcht für Latonen und den Rechten ihres Tempels in allwege unbeschadet) Einhalt gethan werden könnte? Die Klausel hatte der Rathsherr Meidias ausdrüklich einrücken lassen, um die Parthey des Nomophylax entweder zu gewinnen, oder ihr wenigstens keinen Vorwand zu lassen, dessen sie sich bedienen könnte, das Volk gegen die Majorität aufzuwiegeln. Aber der Nomophylax und sein Anhang versicherten, daß sie nicht so einfältig wären, sich durch Klauseln eine Nase drehen zu lassen. Sie protestierten gegen den Schluß ad Protocollum, ließen sich davon

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Extractum in forma probante ertheilen, und begaben sich unverzüglich in Procession zu dem Oberpriester S t i l b o n , um ihm von diesem unerhörten Eingriff in die Rechte der Batrachotrephonten und des Latonentempels Nachricht zu geben, und die Maasnehmungen abzureden, welche zu Aufrechterhaltung ihres Ansehens schleunigst ergriffen werden mußten. Der Oberpriester Stilbon war bereits der dritte, der dem ehrwürdigen Strobylus (dessen Asche in Frieden ruhen möge!) in dieser Würde gefolgt war. In den Charaktern dieser beyden Männer war, den Eifer für die Sache ihres Ordens ausgenommen, sonst wenig ähnliches. Stilbon hatte von Jugend an die Einsamkeit geliebt, und sich in den unzugangbarsten Gegenden des Latonen-

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hayns, oder in den abgelegensten Winkeln ihres Tempels mit Spekulationen beschäftigt, die desto mehr Reiz für seinen Geist hatten, je weiter sie sich über die Grenzen der menschlichen Erkenntnis zu erheben schienen, oder, richtiger zu reden, je weniger sich der mindeste praktische Gebrauch zum Vortheil des menschlichen Lebens davon machen ließ. Gleich einer unermüdeten Spinne saß er im Mittelpunct seiner Gedanken und Wortgewebe, ewig beschäftigt, den kleinen Vorrath von Ideen, den er in dem engen Bezirke des Latonentempels und bey einer so abgeschiedenen Lebensart hatte erwerben können, in so klare und dünne Fäden auszuspinnen, daß er alle die unzählbaren leeren Zellen seines Gehirns über und über damit austapezieren konnte. Ausser diesen metaphysischen Spekulationen hatte er sich am meisten mit den Alterthümern von Abdera, Thrazien und Griechenland, und besonders mit der Geschichte aller festen Länder, Inseln und Halbinseln, die, nach uralten Traditionen, einst dagewesen, aber seit undenklichen Zeiten nicht mehr dawaren, zu thun gemacht. Der ehrliche Mann wußte kein Wort davon, was zu seiner

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eignen Zeit in der Welt vorgieng, und noch weniger, was 50 Jahre v o r seiner Zeit darinn vorgegangen; sogar die Stadt Abdera, an deren Einem Ende er lebte, war ihm wenig bekannter als Memphis oder Persepolis. Dafür aber war er desto einheimischer in dem alten Pelasgerlande, wußte genau, wie jedes Volk, jede Stadt und jeder kleine Flecken geheissen, ehe sie ihren gegenwärtigen Namen führten; wußte, wer jeden in Ruinen liegenden Tempel gebauet hatte, und zählte die Succeßionen aller der Könige her, die vor der Überschwemmung Deukalions unter den Thoren ihrer kleinen Städte saßen, und jedem Recht sprachen, der — sichs nicht selbst zu verschaffen im Stande war. 10

Die berühmte Insel Atlantis war ihm so bekannt, als ob er alle ihre herrlichen Palläste, Tempel, Marktplätze, Gymnasien, Amphitheatern u. s. w. mit Augen gesehen hätte, und er würde untröstbar gewesen seyn, wenn ihm jemand in seinem dicken Buche v o n d e n W a n d e r u n g e n d e r I n s e l D e l o s , oder in irgend einem andern von den dicken Büchern, die er über eben so interessante Materien hatte ausgehen lassen, die kleinste Unrichtigkeit hätte zeigen können. Mit allen diesen Kenntnissen war nun der Oberpriester Stilbon freylich ein sehr gelehrter, aber auch, ungeachtet derselben, ein sehr beschränkter und in allen Sachen die das praktische Leben betrafen, höchsteinfältiger Mann. Seine Begriffe von den menschlichen Dingen waren fast alle unbrauch-

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bar, weil sie selten oder nie auf die Fälle paßten, wo er sie anwandte. Er urtheilte immer schief von dem was gerade vor ihm stund, schloß immer richtig aus falschen Vordersätzen, wunderte sich immer über die natürlichsten Ereignisse, und erwartete immer einen glücklichen Erfolg von Mitteln die seine Absichten nothwendig vereiteln mußten. Sein Kopf war und blieb so lang er lebte ein Sammelplaz aller populären Vorurtheile; das blödeste alte Mütterchen in Abdera war nicht leichtgläubiger als er; und, so ungereimt es vielen unsrer Leser scheinen wird, so gewiß ist es, daß er vielleicht der einzige Mann in Abdera war, der in vollem Ernst an die Frösche der Latona glaubte. Mit allem dem wurde der Priester Stilbon durchgehends für einen wohlgesinnten

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und friedliebenden Mann gehalten — und in so ferne man ihm alle die negativen Tugenden, die eine nothwendige Folge seiner Lebensart, seines Standes und seiner Neigung zum spekulativen Leben waren, für voll anrechnete: so konnte er allerdings für einen weisern und bessern Mann gelten, als irgend einer seiner Mitabderiten. Diese hielten ihn für einen Mann ohne Leidenschaften, weil sie sahen, daß nichts von allem, was die Begierden andrer Leute

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zu reizen pflegt, Gewalt über ihn hatte. Aber sie dachten nicht daran, daß er auf alle diese Dinge keinen Werth legte; entweder weil er sie nicht kannte, oder weil er, durch eine lange Gewohnheit bloß in Spekulationen zu leben, sich Untüchtigkeit und Abneigung zu allem, was andre Gewohnheiten voraussezt, zugezogen hatte. Indessen hatte der gute Stilbon, wiewohl ohne es selbst zu wissen, Eine Leidenschaft, welche ganz allein hinreichend war soviel Unheil in Abdera anzustiften, als alle übrigen die er n i c h t hatte — und das war die Leidenschaft für seine Meynungen. Selbst aufs vollkommenste von ihrer Wahrheit überzeugt, konnte er nicht begreifen, wie ein Mensch, wenn er auch nichts als seine bloßen fünf Sinne und den allgemeinsten Menschenverstand

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hätte, über irgend etwas eine andre Vorstellungsart haben könne als Er; und wenn sich also der Fall zutrug, so wußte er sich die Möglichkeit desselben nicht anders zu erklären, als durch die Alternative: daß ein solcher Mensch entweder nicht bey Sinnen — oder daß er ein boshafter, vorsezlicher und verstokter Feind der Wahrheit, und also ein ganz verabscheuenswürdiger Mensch seyn müße. Durch diese Denkart war der Oberpriester Stilbon, mit aller seiner Gelehrsamkeit und mit allen seinen negativen Tugenden, ein gefährlicher Mann in Abdera; und würde es noch ungleich mehr gewesen seyn, wenn seine Indolenz und sein entschiedener Hang zur Einsamkeit nicht alles was um ihn her geschah so weit von ihm entfernt hätte, daß es ihm selten

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bedeutend genug vorkam, um die mindeste Kenntnis davon zu nehmen. Ich habe nie gehört, daß man Ursache haben könnte, sich über eine allzugroße Menge der Frösche zu beklagen, sagte Stilbon ganz gelassen, als der Nomophylax mit seinem Vortrag zu Ende war. Davon soll izt die Rede nicht seyn, Herr Oberpriester, versezte jener: Der Senat ist über diesen Punct so ziemlich Einer Meynung, und, ich denke, die ganze Stadt dazu; aber daß der Akademie aufgetragen worden, die Mittel und Wege, wodurch der übermäßigen Froschmenge am füglichsten abgeholfen werden könne, vorzuschlagen; das ists, was wir niemals zugeben können. Hat der Senat der Akademie einen solchen Auftrag gethan? fragte Stilbon. Sie hören ja, rief der Nomophylax etwas ungeduldig; das ists ja eben, was ich Ihnen sagte, und warum wir da sind. So hat der Senat einen Schritt gethan, wobey ihn seine gewöhnliche Weisheit gänzlich verlassen hat, erwiederte der Priester eben so kaltblütig, wie zuvor. Haben Sie den Rathschluß bey sich?

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„Hier ist eine Abschrift davon!“ Hm, hm, sagte Stilbon und schüttelte den Kopf, nachdem er ihn sehr bedächtlich ein- oder zweymal überlesen hatte; hier sind ja beynahe soviel Absurditäten als Worte! P r i m o , muß erst erwiesen werden, daß zu viel Frösche in Abdera sind; oder vielmehr, dies kann in Ewigkeit nicht erwiesen werden. Denn, um bestimmen zu können, was z u v i e l ist, muß man erst wissen, was g e n u g ist; und dies ist gerade, was wir unmöglich wissen können; es wäre denn, daß der delphische Apollo oder seine Mutter selbst uns durch ein Orakel darüber verständigen wollte. Die Sache ist s o n n e n k l a r . Denn da die Frö10

sche unmittelbar unter dem Schutz und Einfluß der Göttin stehen: so ist es ungereimt zu sagen, daß ihrer jemals mehr seyen, als der Göttin beliebt; und also braucht die Sache nicht nur gar keiner Untersuchung, sondern sie läßt auch keine Untersuchung zu. S e c u n d o : Gesezt, daß der Frösche würklich zu viele wären: so ist es doch ungereimt, von Mitteln und Wegen zu reden, wodurch ihre Anzahl vermindert werden könnte; denn es giebt keine solche Mittel und Wege, wenigstens keine, die in unsrer Willkühr stehen; welches eben so viel ist, als ob es gar keine gebe. T e r t i o , ist es ungereimt, der A k a d e m i e einen solchen Auftrag zu machen; denn die Akademie hat nicht nur kein Recht, über Gegenstände von dieser Wichtigkeit zu erkennen, sondern sie

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besteht auch, wie ich höre, größtentheils aus Wizlingen und seichten Köpfen, die von solchen Dingen gar nichts verstehen; und zum klaren Beweis daß sie nichts davon verstehen, sollen sie, wie ich höre, sogar albern genug seyn, darüber zu scherzen und zu spotten. Ich traue diesen armen Leuten zu, daß es aus Unverstand geschieht: denn, hätten sie mein Buch v o n d e n A l t e r t h ü m e r n d e s L a t o n e n t e m p e l s mit Bedacht gelesen; so müßten sie entweder aller Sinnen beraubt, oder offenbare Bösewichter seyn, wenn sie der Wahrheit, die ich darinn s o n n e n k l a r dargelegt habe, widerstehen könnten. Das S e n a t u s c o n s u l t u m ist also, wie gesagt, durchaus ungereimt, und kann folglich von keinem Effekt seyn; indem ein absurder Satz eben soviel ist als gar kein

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Satz. Sagen Sie dies unsern gnädigen Herren in der nächsten Session, hochgeachter Herr Nomophylax! Deyterai Frontidew sofoterai. Unsre gnädigen Herren werden sich unfehlbar eines bessern besinnen; und solchenfalls werden wir am besten thun, die Sache a u f s i c h b e r u h e n z u l a s s e n . Herr Oberpriester, antwortete ihm Hypsiboas, Sie sind ein grundgelehrter Mann, das wissen wir alle; aber, nehmen Sie mir nicht übel, auf Welthändel

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und Staatssachen verstehen Sich Ew. Hochwürden nicht. Die Majora im Senat haben einen Schluß gefaßt, der den Gerechtsamen der Batrachotrephonten präjudicierlich ist. Indessen nach der Regel „Majora concludunt“ bleibts bey diesem Rathschlusse, und der Archon wird ihn zur Exekution gebracht haben, eh ich in der nächsten Seßion Ihre logikalischen Einwendungen vortragen könnte, wenn ich mich auch damit beladen wollte. Es kommt aber ja in solchen spekulativen Dingen nicht auf die Majora, sondern auf die Saniora an, sagte Stilbon. Vortreflich, Herr Oberpriester, versezte der Nomophylax. Das ist ein Wort! Die Saniora! Die Saniora haben ohnstreitig Recht. Die Frage ist also izt nur,

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wie wir es anzugreifen haben, daß sie auch Recht b e h a l t e n ? Wir müssen auf ein schleuniges Mittel denken, die Vollstreckung des Rathschlusses zu suspendiren. Ich will Sr. Gnaden, dem Archon, augenbliklich mein Buch von den Alterthümern des Latonentempels schicken — Er muß es noch nicht gelesen haben; denn in dem Kapitel von den Fröschen ist alles, was über diesen Gegenstand zu sagen ist, ins Klare gesezt. Der Archon hat in seinem Leben kein Buch gelesen, Herr Oberpriester, (sagte einer von den Rathsherrn lachend) als das abderitische Intelligenzblat; dies Mittel wird nicht anschlagen, dafür bin ich Ihnen gut!

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Desto schlimmer, erwiederte Stilbon. In was für Zeiten leben wir, wenn das wahr ist? Wenn das Oberhaupt des Staats ein solches Beyspiel giebt — Doch, ich kann unmöglich glauben, daß es schon soweit mit Abdera gekommen sey. Sie sind auch gar zu unschuldig, Herr Oberpriester, sagte der Nomophylax; aber lassen wir das auf sich beruhen! Es stünde noch gut genug, wenn das der größte Fehler des Archons wäre. Ich sehe nur Ein Mittel in der Sache, sprach izt einer von den Priestern, Namens Pamphagus; das hochpreisliche Kollegium der Zehnmänner ist ü b e r den Senat, — folglich — „Um Vergebung, fiel ihm ein Rathsherr ins Wort, nicht über den Senat, sondern nur —“ Sie haben mich nicht ausreden lassen, sagte der Priester etwas hitzig; die Zehnmänner sind nicht über den Senat, in Justiz- Staats- und Polizeysachen: Aber, da alle Sachen, wobey der Latonentempel betroffen ist, vor die Zehnmänner gehören, und von ihrer Entscheidung nicht weiter appelliert werden kann: so ist klar, daß —

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„Die Zehnmänner n i c h t über den Senat sind; denn der Senat behängt sich mit Latonensachen gar nicht, und kann also nie mit den Zehnmännern in Kollision kommen.“ Desto besser für den Senat, sagte der Priester; aber wenn sich denn ja einmal der Senat beygehen liesse, über einen Gegenstand, der dem Dienst der Latona wenigstens sehr nahe verwandt ist, erkennen zu wollen, wie dermalen würklich der Fall ist: so sehe ich kein ander Mittel, als die Zehnmänner zusammenberufen zu lassen. Aber das kann nur der Archon, wandte Hypsiboas ein, und natürlicherwei10

se wird er sich dessen weigern. Er kann nicht, wenn er von dem Kollegio der Priester darum angegangen wird, sagte Pamphagus. Herr Kollege, ich bin nicht Ihrer Meynung, fiel der Oberpriester ein: es wäre wider die Würde der Zehnmänner, und sogar wider die Ordnung, wenn wir in vorliegendem Falle auf ihre Zusammenberufung dringen wollten. Die Zehnmänner können und müssen sich versammeln, wenn die Religion würklich verlezt worden ist. Wo ist aber hier die Verletzung? Der Senat hat einen absurden Schluß gefaßt, das ist alles: es ist schlimm, aber nicht schlimm genug; sie müsten denn erweisen können, daß die Zehnmänner darum da seyen,

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den Senat zu syndiziren, wenn er ungereimte Schlüsse macht. Der Priester Pamphagus biß die Lippen zusammen, drehte sich nach dem Sitze des Nomophylax, und murmelte ihm etwas ins linke Ohr. Stilbon, ohne darauf acht zu geben, fuhr fort: ich will stehenden Fußes selbst zum Archon gehen; ich will ihm mein Buch von den Alterthümern des Latonentempels bringen; er soll das Kapitel von den Fröschen lesen; es ist unmöglich, daß er nicht sogleich von der Ungereimtheit des Rathsschlusses überzeugt werde. So gehen Sie dann und versuchen Sie ihr Heil, sagte der Nomophylax. Der Oberpriester gieng unverzüglich.

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Was das für ein Kopf ist! sagte der Priester Pamphagus. Er ist ein sehr gelehrter Mann, versezte der Rathsherr Bucephalus; aber — Ein gelehrter Mann? (sagte jener) Was nennen Sie gelehrt? Gelehrt in lauter Dingen, die kein Mensch zu wissen verlangt — Davon können Ew. Ehrwürden besser urtheilen als unser einer, erwiederte der Rathsherr; ich verstehe nichts davon; aber es ist mir doch immer unbe-

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greiflich vorgekommen, daß ein so gelehrter Mann in Geschäftssachen so einfältig seyn kann wie ein kleines Kind. Es ist unglüklich für den Latonentempel, sagte ein andrer Priester — Und für den ganzen Staat, sezte ein dritter hinzu. Das weiß ich eben nicht, sprach der Nomophylax mit einem spizfündigen Naserümpfen; wir wollen aber bey der Sache bleiben. Die Herren scheinen mir sämmtlich der Meynung zu seyn, daß die Zehnmänner zusammenberufen werden müßten — Um so mehr, sagte der Rathsherr… weil wir gewiß sind, die Majora gegen den Archon zu machen.

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Wenn wir uns nicht besser helfen können, fuhr der Nomophylax fort, so bin ichs zufrieden. Aber sollten wir in einer Sache, wobey Latona und ihre Priesterschaft auf unsrer Seite sind, uns nicht noch besser helfen können? Machen wir nicht beynahe die Hälfte des Raths aus? Wir sind bloß mit acht Stimmen majorisiert worden; und wenn wir fest zusammenhalten — Das wollen wir — schrien die Rathsherren aus voller Kehle — Ich habe einen Gedanken, meine Herren; aber ich muß ihn reifer werden lassen. Erkiesen Sie drey oder vier aus ihrem Mittel, mit denen ich mich diesen Abend auf meinem Gartenhause näher von der Sache besprechen könne. Es wird sich inzwischen zeigen, wie weit es der Oberpriester mit dem Archon

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Onokradias gebracht haben wird. Ich wette meinen Kopf gegen eine Melone, sagte der Priester Charox, er wird aus arg ärger machen. Desto besser, sagte der Nomophylax. Während daß dies in dem Vorsaal des Oberpriesters verhandelt wurde, hatte sich dieser in eigner Person zum Archon erhoben, und über eine Sache woran dem Archon viel gelegen sey Audienz verlangt. O, das wird ganz gewiß die Frösche betreffen, sagte der Rathsherr Meidias, der eben allein bey dem Archon war, und ihm berichtet hatte, daß man den Nomophylax mit seinem ganzen Anhang nach dem Latonentempel gehen gesehen habe. — Daß doch der Henker — verzeyh mirs Latona! alle Frösche hätte, rief der Archon ungeduldig; da wird mir der sauertöpfische Pfaffe die Ohren so voll w a r u m s und d a r u m s schwatzen, daß ich am Ende nicht wissen werde, wo mir der Kopf steht! Helfen Sie mir, ich bitte Sie, von dem gespenstmäßigen alten Kerl! — Meidias lachte über die Verlegenheit des Ar-

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chons. Hören Sie ihn immer an, sagte er, aber halten Sie fest über Ihrem Ansehen, und an dem Grundsatze, daß Noth kein Gesetz hat. Wir können uns doch wahrlich nicht von Fröschen auffressen lassen; und wenn’s so fortgehen sollte, wie bisher, so möchte uns Latona eben sowohl allzumal in Frösche verwandeln. Es wäre immer noch das glüklichste was uns wiederfahren könnte, wenn uns nicht bald auf andre Weise geholfen wird. Allenfalls kann’s auch nicht schaden, wenn Ew. Gnaden dem Priester zu verstehen geben, daß Jason auch einen Tempel zu Abdera hat, und daß Götter nur in so fern Götter sind als sie Gutes thun — Schön, schön, sagte der Archon; wenn ich nur alles so 10

behalten könnte, wie Sie mir’s da gesagt haben! Aber ich will mich schon zusammen nehmen. Laßt den Priester nur anrücken! — Gehn Sie indessen in mein Kabinet, Meidias. Sie werden eine feine Anzahl kleiner Stücke vom Parrhasius darinn finden, die man nicht überall sieht — aber sagen Sie meiner Frau nichts davon! Sie verstehen mich doch? Meidias schlich sich also in das Kabinet, der Archon stellte sich in Positur, und Stilbon wurde vorgelassen. Gnädiger Herr Archon, sagte er, ich komme Ew. Gnaden einen guten Rath zu geben, weil ich eine große Meynung von Dero Weisheit hege, und gerne Unheil verhüten möchte.

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„Ich danke Ihnen für beydes, Herr Oberpriester! Ein guter Rath findet, wie Sie wissen, eine gute Statt. Was haben Sie anzubringen?“ Der Senat, fuhr Stilbon fort, hat sich, wie ich höre, in Sachen die Frösche der Latona betreffend eines übereilten Schlusses schuldig gemacht — „Herr Oberpriester!“ — Ich sage nicht, daß sie es aus bösem Willen gethan; die Menschen sündigen bloß, weil sie unwissend sind. Hier bringe ich Ew. Gnaden ein Buch, woraus sie sich belehren können, was es mit unsern Fröschen für eine Bewandtnis hat. Es hat mir viele Mühe und Nachtwachen gekostet. Sie können daraus lernen, daß die Akademie, die von gestern her ist, kein Recht haben kann über Frö-

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sche zu erkennen, die so alt sind als die Gottheit der Latona. Die Frösche zu Abdera sind, wie wir alle wissen sollten, ganz ein ander Ding als die Frösche aller andern Orte in der Welt. Sie gehören der Latona an; sie sind niemals aussterbende Zeugen und lebendige Dokumente ihrer Gottheit. Es ist Unsinn, zu sagen, daß ihrer zu viel seyn könnten, und ein Sakrilegium, von Mitteln zu reden, ihre Anzahl zu vermindern.

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„Ein Sakrilegium, Herr Oberpriester?“ Ich verdiente nicht Oberpriester zu seyn, wenn ich zu solchen Dingen schweigen wollte. Denn wenn wir einmal zugelassen hätten, daß die Anzahl der Latonenfrösche vermindert werden dürfe, so möchten unsre noch schlimmern Nachkommen wohl gar soweit verfallen, sie gänzlich ausrotten zu wollen. Wie gesagt, in diesem Buche werden Ew. Gnaden alles finden, was von der Sache zu glauben ist. Sorgen Sie dafür, daß Abschriften davon gemacht und jedes Haus mit einem Exemplar versehen werde. Wenn dies geschehen ist, dann wird das sicherste seyn, gar nicht mehr über die Sache zu räsonniren. Die Akademie mag Gutachten stellen, worüber sie sonst immer will; die ganze

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Natur liegt vor ihr offen; sie kann reden vom Elefanten bis zur Blatlaus, vom Adler bis zur Wassermotte, vom Wallfisch bis zur Schmerle, und von der Zeder bis zum Lykopodion: aber von den Fröschen soll sie schweigen! Herr Oberpriester, sagte der Archon, die Götter sollen mich bewahren, daß ich mir jemals einfallen lasse zu untersuchen, was es mit ihren Fröschen für eine Bewandtnis hat. Ich bin Archon um alles in Abdera zu lassen wie ich es gefunden habe. Indessen liegt am Tage, daß wir uns vor lauter Fröschen nicht mehr rühren können; und diesem Unwesen muß gesteurt werden. Denn schlimmer darfs nicht mit uns werden, das sehen Sie selbst. Unsre Voreltern begnügten sich den geheiligten Teich zu unterhalten, und wer seinen eignen

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Froschgraben haben wollte, dem stund’s frey. Dabey hätte man’s lassen sollen. Da es aber nun einmal soweit mit uns gekommen ist, daß wir nächstens in Gefahr sind, lebendig oder todt von Fröschen gefressen zu werden: so werden uns Ew. Ehrwürden doch wohl nicht zumuthen wollen, daß wirs darauf ankommen lassen sollen? Denn wenn einer von Fröschen gefressen würde, so möchts ihm wohl ein schlechter Trost seyn, zu denken, daß es keine gemeine Frösche seyen — Kurz und gut, Herr Oberpriester, die Akademie soll ihr Gutachten stellen, weil ihr’s vom Senat aufgetragen worden ist; und, mit aller Achtung, die ich Ew. Ehrwürden schuldig bin, ich werde Ihr Buch n i c h t lesen; und es soll mir ein- für allemal ausgemacht werden, ob die Frösche um der Abderiten willen, oder die Abderiten um der Frösche willen da sind. Denn sobald die Republik durch die Frösche in Gefahr gesezt wird, sehen Sie, so wird eine Staatssache daraus, und da haben die Priester der Latona nichts drein zu reden, wie Sie wissen; denn Noth hat kein Gesetz, und — mit Einem Wort, Herr Oberpriester, wir wollen uns nicht von Ihren Fröschen essen las-

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sen. Sollten Sie aber wider Verhoffen darauf bestehen; so thäte mirs leid, wenn ich Ihnen sagen müßte: daß der Latonentempel nicht der einzige in Abdera ist, und daß das goldne Vlies, dessen Verwahrung die Götter meiner Familie anvertraut haben, vielleicht eine bisher noch unerkannte Tugend äussern und Abdera auf einmal von — aller Noth befreyen könnte. Mehr will ich nicht sagen; aber merken Sie Sich das, Herr Oberpriester! Der Krug geht so lange zum Wasser bis er bricht. Der gute Oberpriester wußte nicht, ob er wache oder träume, da er den Archon, den er immer für einen wohldenkenden und exemplarischen Regen10

ten gehalten hatte, eine solche Sprache führen hörte. Er stund eine Weile da, ohne ein Wort hervorbringen zu können; nicht weil er nichts zu sagen wußte, sondern weil er soviel zu sagen hatte, daß er nicht wußte wo er anfangen sollte. Das hätte ich nimmermehr für möglich gehalten, fieng er endlich an, daß ich die Zeit erleben sollte, wo der Oberpriester der Latona aus dem Munde eines Archons hören müßte, was ich gehört habe! Dem Archon fieng bey diesen Worten an unheimlich zu werden; denn, weil er selbst nicht mehr so eigentlich wußte, was er dem Oberpriester gesagt hatte: so wurde ihm bange, daß er mehr gesagt haben möchte als sich geziemte. Er sah mit einiger Verlegenheit nach der Kabinetthüre, als ob er seinen

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geheimen Rath Meidias gerne zu Hülfe gerufen hätte, da er sich aber diesmal allein helfen mußte, so zupfte er sich wechselsweise bald an der Nase, bald am Bart, hustete, räusperte sich, und erwiederte endlich dem Oberpriester mit aller Würde, die er sich in der Eile geben konnte: Ich weiß nicht wie ich das nehmen soll, was Sie mir da sagten; aber das weiß ich, wenn Sie was gehört zu haben glauben, das Sie nicht hätten hören sollen, so müssen Sie mich ganz unrecht verstanden haben. Sie sind ein sehr gelehrter Mann, und ich trage alle mögliche Achtung für ihre Person und ihr Amt — Sie wollen also mein Buch lesen? fragte Stilbon. „Das eben nicht — aber — wenn sie darauf bestehen — wenn Sie glauben,

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daß es schlechterdings —“ Man soll das Gute niemand aufdringen, sagte der Priester mit einer Empfindlichkeit, über die er nicht Meister war. Ich will es Ihnen dalassen. Lesen Sie es oder nicht! — Desto schlimmer für Sie, wenn Ihnen gleichgültig ist, ob Sie richtig oder unrichtig denken — Herr Oberpriester, fiel ihm der Archon, der endlich auch warm zu werden

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anfieng, ins Wort, Sie sind ein empfindlicher Mann, wie ich sehe. Ich verdenk’ es Ihnen zwar nicht, daß Ihnen die Frösche am Herzen liegen, denn dafür sind Sie Oberpriester; aber Sie sollten auch bedenken, daß ich Archon über Abdera und nicht über einen Froschteich bin. Bleiben Sie in Ihrem Tempel, und regieren Sie dort wie Sie wollen und können; aber auf dem Rathhause lassen Sie u n s regieren. Die Akademie soll ihr Gutachten über die Frösche stellen, dafür geb’ ich Ihnen mein Wort — und es soll Ihnen kommuniciert werden eh der Senat einen Schluß darüber faßt, darauf können Sie Sich auch verlassen! Der Oberpriester verschlang seinen Unwillen über den ganz unerwarteten schlechten Erfolg seines Besuchs so gut er konnte, machte seinen Bükling und

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zog sich zurük, mit der Versicherung: daß er vollkommen überzeugt sey, daß der Senat nichts in Sachen weiter verfügen werde, ohne mit den Priestern des Latonentempels vorher einverstanden zu seyn. Der Archon versicherte ihm dagegen zurük, daß ihm die Rechte des Latonentempels so heilig seyen, als die Rechte des Senats und das Beste der Stadt Abdera; und somit schieden sie, nach Gestalt der Sachen, noch ziemlich höflich von einander. Der — hat mir warm gemacht, sagte der Archon zum Rathsherrn Meidias, indem er sich mit seinem Schnupftuch die Stirne wischte — Sie haben Sich aber auch tapfer gehalten, versezte der Rathsherr. Das Pfäfchen wird Gift und Galle kochen; aber seine Blitze sind nur von Bärenlappen. Man braucht nur

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sich auf seine Distinctionen und Syllogismen nicht einzulassen, so ist er geschlagen und weiß weder wo aus noch wo an. Ja, wenn der Nomophylax nicht hinter ihm stäke, erwiederte der Archon; ich wollte, daß ich mich nicht so weit herausgelassen hätte — Aber was das auch für eine Zumuthung ist, das dicke Buch zu lesen, woran sich der hohlaugige alte Kerl blind geschrieben hat! Wer hätte nicht ungeduldig werden sollen? Sorgen Sie für nichts, Herr Archon! Wir haben die Akademie für uns, und in wenig Tagen sollen auch die Lacher in ganz Abdera auf unsrer Seite seyn. Ich will Liedchen und Gassenhauer unter das Volk streuen, und der Balladenmacher Lelex soll mir die Geschichte der Lycischen Froschbauern in eine Ballade bringen, über die sich die Leute krank lachen sollen — Man muß die Herren mit ihren Fröschen lächerlich machen — Auf eine feine Art, versteht sich; aber Schlag auf Schlag, Gassenhauer auf Gassenhauer! Sie sollen sehen, wie das Mittel anschlagen wird!

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Ich will es herzlich wünschen, sagte der Archon; denn Sie können sich kaum vorstellen, wie mir die verwetterten Frösche diesen nassen Sommer über meinen Garten zugerichtet haben! Ich kann den Jammer gar nicht mehr ansehen — Es fehlt uns nichts als daß nächstens ein troknes Jahr käme und uns noch eine Armee von Feldmäusen und Maulwürfen über den Hals schikte! Fürs erste wollen wir uns die Frösche vom Leibe schaffen, versezte Meidias: für die Mäuse, die noch kommen sollen, wirds dann auch Mittel geben! Aber was, zum Henker, soll ich mit dem dicken Buche machen, das mir der Oberpriester zurükgelassen hat? sagte der Archon — Sie werden mir doch 10

nicht zumuthen wollen, daß ichs lesen soll? Da sey Jason und Latona für, Herr Archon, versezte Meidias; geben Sie m i r’ s ; ich will’s meinem Vetter Korax bringen, dem ohnezweifel die Ausfertigung des Gutachtens von der Akademie aufgetragen werden wird; er wird guten Gebrauch davon machen, dafür bin ich Ihnen Bürge. Es mag schönes Zeug drinn stehen — sagte der Archon. Wenn’s sonst zu nichts zu gebrauchen ist, erwiederte der Rathsherr, so machen wir’s zu Pulver, und geben’s den Ratten ein, die, nach Ew. Gnaden Weissagung, noch kommen sollen. Es muß ein herrliches Rattenpulver geben! (Die Fortsetzung nächstens.)

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Fortsetzung und Beschluß des lezten Kapitels der Abderiten. Das erste was der Oberpriester Stilbon that, als er wieder in seiner Zelle angelangt war — — „So wohnten die Priester der Latona in Z e l l e n ? —“ Ich bitte, mein Herr, sehen Sie nicht so spitzfündig aus, indem Sie mich mit dieser — abderitischen Frage unterbrechen. Es stekt gar kein geheimer Sinn unter dem Wort, so wenig als unter allen übrigen landüblichen Worten, deren wir uns, um dieser Geschichte nicht ein gar zu fremdes und geziertes Ansehen zu geben, bedienen. Zelle, oder Zimmerchen, Kabinetchen oder Klosetchen,

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oder alles was Sie wollen — es gilt gleich — Ich habe Ihnen ein für allemal gesagt, daß es in diesem ganzen Kapitel nicht um Anspielungen, sondern um eine arglose Erzählung einer zwar sehr abderitischen aber doch sehr m e n s c h l i c h e n Geschichte zu thun ist. Spiegle sich darinn wer’s nicht lassen kann! Aber die A n s p i e l u n g e n , mein Herr, die sind nicht im Buche, sondern in Ihrem Kopfe — daher bitte ich, sich in Acht zu nehmen! Das erste also, was der ehrliche Oberpriester Stilbon nach seiner Zurükkunft von dem Archon that, war, daß er sich hinsezte, und sein Werk von den Alterthümern des Latonentempels vor die Hand nahm, in der Absicht, das Kapitel von den Fröschen, welches das größte Kapitel in dem ganzen Buche

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war, wieder zu durchlesen, und zwar (wie er sich wenigstens schmeichelte) mit aller Unpartheylichkeit eines Richters, der kein ander Interesse bey der Sache hat als die Entdeckung der Wahrheit. Denn so überzeugt er auch von den Resultaten seiner Untersuchungen war, so hielt er doch für billig und nöthig, eh er sich weiter einließe, sein ganzes System und die Beweise desselben, noch einmal Punct vor Punct zu prüfen, um, wenn er es auch bey dieser neuen und scharfen Untersuchung wahr befände, es desto zuversichtlicher gegen alle Anfechtungen des Witzes und der Modephilosophie seiner Zeit behaupten zu können. Armer Stilbon! wenn du, wie ich lieber glauben will, aufrichtig warst, was für ein betrügliches Ding ist es, um eines Menschen V e r n u n f t ! und was für eine glatte verführerische Schlange ist die große Erzzauberin E i g e n l i e b e ! — Stilbon durchlas sein Kapitel von den Fröschen mit aller Unparthey-

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lichkeit deren er fähig war, prüfte jeden Satz, jeden Beweis, jeden Syllogismus mit der Kaltblütigkeit eines A r c e s i l a s , und fand: „daß man entweder dem allgemeinen Menschensinn entsagen, oder von seinem System überzeugt werden müsse.“ Das kann nicht möglich seyn, sagt ihr? — Um Verzeyhung, das kann sehr möglich seyn; denn es ist geschehen, und geschieht noch immer alle Tage. — Nichts ist natürlicher. Der gute Mann liebte sein System wie sein eigen Fleisch und Blut; er hatte es aus sich selbst gezeugt; es war ihm statt Weib und Kind, statt aller Güter, Ehren und Freuden der Welt, auf die er bey seinem Eintritt 10

in den Latonentempel Verzicht gethan hatte; es war ihm über Alles. Als er sich hinsezte, es von neuem zu prüfen, war er bereits so vollkommen von der Wahrheit und Schönheit desselben überzeugt, als von seinem eignen Daseyn; und es ergieng ihm also natürlicherweise gerade als wenn er sich hingesezt hätte, um mit aller Kaltblütigkeit von der Welt zu untersuchen, ob der Schnee auf dem Gipfel des Hämus weis oder schwarz sey? „Daß die Milischen Bauren, die der durstenden Latona aus ihrem Teiche zu trinken verwehrten, in Frösche verwandelt worden, (sagte Stilbon in seinem Buche) das ist T h a t s a c h e — Daß eine Anzahl dieser Frösche, auf die Art und Weise, wie die Tradition

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berichtet, nach Abdera in den Teich des Latonenhayns versezt worden, ist Thatsache. Beyde Facta gründen sich auf das, worauf sich alle historische Wahrheit gründet, auf menschlichen Glauben an menschliches Zeugnis; und so lange Abdera steht, hat sich kein vernünftiger Mensch einfallen lassen, dem allgemeinen Glauben der Abderiten an diese Facta zu widersprechen. Denn wer sie läugnen wollte, müßte ihre Unmöglichkeit beweisen können, und wo ist der Mensch auf Erden, der dies könnte? Aber, ob die Frösche, die sich zu unsern heutigen Zeiten, in dem geheiligten Teiche befinden, eben diejenigen seyen, die von Latonen, oder (was auf Eines

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hinausläuft) von Jupitern auf Latonens Bitte, in Frösche verwandelt worden: darüber sind bisher verschiedene Meynungen gewesen. Unsre Gelehrten haben größtentheils davor gehalten, daß die Unterhaltung des geheiligten Teichs als bloßes Institut unsrer Voreltern, und die darinn aufbewahrten Frösche, als bloße Erinnerungszeichen der Macht unsrer Schutzgöttin, mit gebührender Ehre anzusehen seyen —

Fortsetzung und Beschluß

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Das gemeine Volk hingegen hat von diesen Fröschen immer eben so gesprochen und geglaubt, als ob sie die nemlichen wären, an denen das bekannte Wunder geschehen sey. — Und Ich — Stilbon, von Jupiters und Latonens Gnaden zur Zeit Oberpriester von Abdera, habe nach reiflicher Erwägung der Sache befunden, daß dieser Glaube des Volks sich auf unumstößliche Gründe stüzt; und hier ist mein Beweis! —“ Der geneigte Leser würde sich wahrscheinlicherweise schlecht erbaut finden, wenn wir ihm diesen Beweis so weitläuftig als er in besagtem Buche des Oberpriesters Stilbon vorgetragen ist, zu lesen geben wollten; zumal da wir Alle von dem Ungrund desselben zum voraus wenigstens eben so vollkommen

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überzeugt sind, als es der gute Stilbon von dessen Gründlichkeit war. Wir begnügen uns also nur mit zwey Worten zu sagen: daß sich sein ganzes System über die mehrbesagten Frösche um eine heutigs Tages sehr gemeine, damals aber (in Abdera wenigstens) ganz neue, und, nach Stilbons ausdrüklicher Versicherung, von ihm selbst erfundene Hypothese drehte, nemlich um die Lehre, daß alle Zeugung nichts anders als Entwiklung ursprünglicher Keime sey. Stilbon fand diese Entdeckung, als er sie zuerst machte, so schön, und wußte sie mit so vielen — dialektischen und moralischen Gründen (denn die Physik war seine Sache nicht) zu unterstützen, daß sie ihm mit jedem Tage wahrscheinlicher vorkam.

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Endlich glaubte er sie auf den h ö c h s t e n G r a d d e r W a h r s c h e i n l i c h k e i t gebracht zu haben; und da von dieser zur Gewisheit nur noch ein leichter Sprung zu thun ist: was Wunder, daß ihm eine so sinnreiche, so subtile, so wahrscheinliche Hypothese, eine Hypothese, die er selbst erfunden, mit so vieler Mühe ausgearbeitet, mit allen seinen übrigen Ideen in Verbindung gesezt, und zur Grundlage eines neuen durchaus räsonnierten Systems über die Latonenfrösche gemacht hatte, zulezt eben so gewiß, anschaulich und unzweifelhaft vorkam, als irgend ein Lehrsatz im Euklides? „Als die Milischen Bauren verwandelt wurden, (sagte Stilbon) führten sie die Keime aller Bauren und Nicht-Bauren, die von damals an bis auf diesen Tag, und von diesem Tage bis ans Ende der Tage nach dem ordentlichen Lauf der Natur von ihnen entspringen konnten und sollten, in ebensoviel in einandergeschobenen Keimen bey sich; und in dem Augenblik, da besagte Milische Bauren zu Fröschen wurden, wurden auch die sämtlichen Menschenkeime, die jeder bey sich führte, in Froschkeime verwandelt. Denn, sagt er, entweder

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wurden diese Keime v e r n i c h t e t , oder sie wurden r a n i f i z i e r t , oder sie wurden g e l a s s e n w i e s i e w a r e n . Das erste ist unmöglich, weil aus Etwas eben so wenig Nichts, als aus Nichts Etwas werden kann. Das dritte läßt sich auch nicht denken; denn wären die besagten Keime M e n s c h e n k e i m e geblieben, so müßten die Milischen Anurvpobatraxoi oder Menschenfrösche w ü r k l i c h e M e n s c h e n gezeugt haben, welches wider die historische Wahrheit, und an sich selbst in allewege ungereimt ist. Es bleibt also nur das zweyte übrig, nemlich: sie sind ranifiziert, d. i. in F r o s c h k e i m e verwandelt worden; und man kann also mit vollkommner Richtigkeit sagen: daß die Frösche, 10

die sich auf diesen Tag in dem geheiligten Teiche befinden, und alle übrigen, deren Abstammung von denselben erweislich ist, folglich die sämtlichen Frösche in Abdera, eben diejenigen sind, welche von Latonen in Frösche verwandelt worden, nemlich insofern sie damals in den froschwerdenden Bauern im Keim vorhanden waren, und zugleich uno eodemque actu mit ihnen verwandelt wurden.“ Dies nun ein für allemal als erwiesene Wahrheit angenommen, schien dem ehrlichen Stilbon nichts sonnenklarer (wie er zu sagen pflegte) als die Folgerungen, die gleichsam von selbst daraus abflossen. „So wie, zum Beyspiel, eine vom Stral getrofne Eiche, als eine Res sacra, als dem Donnerer Zevs ange-

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hörig und geheiligt, mit schaudernder Ehrfurcht angesehen wird: eben so müssen, sagte er, die von Latonen oder Jupitern verwandelten Menschenfrösche, nebst allen ihren im Keim mitverwandelten Abkömmlingen bis ins tausendste und zehntausendste Glied als eine Art wundervoller der Latona angehöriger M i t t e l w e s e n angesehen, und also auch als solche behandelt und geehret werden. Sie sind zwar, dem äußerlichen nach, Frösche wie andre; aber sie sind gleichwohl auch k e i n e Frösche wie andre: denn, da sie von Geburt und Natur M e n s c h e n gewesen waren, und alles was wir von Natur und Geburt sind, uns einen unauslöschlichen Charakter giebt: so sind sie nicht so wohl Frösche als Froschmenschen, und also, in gewissen Sinne, noch immer

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u n s e r s G e s c h l e c h t s , unsre Brüder, unsre verunglükten Brüder, zu unsrer Warnung mit dem furchtbaren Stempel der Rache der Götter bezeichnet, aber eben darum unsers zärtlichsten M i t l e i d e n s würdig. Res est sacra Miser! — Doch nicht nur unsers Mitleidens (sezte Stilbon hinzu) sondern auch unsrer E h r e r b i e t u n g ; da sie fortdaurende unverletzliche Denkmäler der Macht unsrer Göttin sind, an denen man sich nicht vergreiffen kann, ohne sich an ihr

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selbst zu vergreiffen; indem ihre Erhaltung durch so viele Jahrhunderte der redendste Beweis ist, daß sie solche erhalten wissen wolle.“ Der gute Oberpriester — ein Mann, der unsern Lesern so gar verächtlich, wie er ihnen vermuthlich ist, nicht vorkommen würde, wenn sie sich recht an seinen Platz zu stellen wüßten — hatte den ganzen Abend mit Durchlesung und Überdenkung seines Kapitels über die Frösche zugebracht, und sich in die Bestrebung, sein System mit neuen Gründen zu befestigen, so vertieft, daß ihm gänzlich aus dem Sinne gekommen war, daß er dem Nomophylax versprochen hatte, ihm von dem Erfolg seines Besuchs bey dem Archon Nachricht zu geben. Er erinnerte sich dessen nicht eher, als da er, um die Däm-

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merungszeit die Thüre seiner Zelle aufgehen hörte, und den Nomophylax in eigner Person vor sich stehen sah. — Ich habe Ihnen nicht viel tröstliches zu berichten, rief er ihm entgegen; wir sind in schlechtern Händen als ich mir jemals vorgestellt hätte. Der Archon weigerte sich mein Buch zu lesen, vielleicht weil er überall g a r n i c h t lesen kann — Dafür wollt’ ich nicht Bürge seyn, sagte Hypsiboas. „Und er sprach in einem Tone, dessen ich mich zu einem Oberhaupte der Republik nimmermehr versehen hätte.“ Was sagte er denn? „Ich danke dem Himmel, daß ich das Meiste wieder vergessen habe, was er

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sagte. Genug, er bestand darauf, daß die Akademie ihr Gutachten geben müßte —“ Das soll sie wohl bleiben lassen müssen, fiel der Nomophylax ein; die Gegenfröschler sollen mehr Widerstand finden, als sie sich vermuthen waren. Aber, damit man uns nicht beschuldigen könne, daß wir gewaltthätig zu Werke gehen, eh wir die gelindern Mittel versucht haben, ist die sämtliche Minorität entschlossen, dem Senat ungesäumt eine schriftliche Vorstellung zu thun, wofern die Latonenpriesterschaft geneigt ist, gemeine Sache mit uns zu machen. Von Herzen gerne, sagte Stilbon — ich will die Vorstellung selbst aufsetzen; ich will ihnen darthun — Vor der Hand, unterbrach ihn der Nomophylax, kann es an einem kurzen Promemoria, welches ich bereits, sub spe rati et grati, aufgesezt habe genug seyn: wir müssen eine so gelehrte Feder wie die Ihrige auf den lezten Nothfall aufsparen.

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Der Oberpriester ließ sich zwar berichten, sezte sich aber vor, noch in dieser Nacht an einem kleinen Tractätchen zu arbeiten, worinn er sein System über die Latonenfrösche in ein neues Licht setzen, und auf eine noch faßlichere Art, als es in seinem Werke von den Alterthümern des Latonentempels geschehen war, allen Einwendungen zuvor kommen wollte, welche der Philosoph Korax dagegen machen könnte. Vorgesehene Pfeile schaden desto weniger, sagte er zu sich selbst. Ich will die Sache so klar und deutlich hinlegen, daß auch die einfältigsten überzeugt werden sollen. Es müßte doch wahrlich nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn die Wahrheit ihre natürliche Macht 10

über den Verstand der Menschen nur gerade in diesem Falle verlohren haben sollte. Inzwischen hatte, während allen diesen Bewegungen unter der Minorität des Senats und unter den Latonenpriestern, die Akademie eine Weisung bekommen, ihr Gutachten, „durch was für diensame Mittel der übermäßigen Froschmenge (den Gerechtsamen der Latona unbeschadet) aufs schleunigste gesteuert werden könnte“ binnen sieben Tagen an den Senat abzugeben. Die Akademie ermangelte nicht, sich den nächstfolgenden Morgen zu versammeln; und da die Gegenfröschler zur Zeit den größten Theil derselben ausmachten: so wurde die Ausfertigung des Gutachtens dem Philosophen Korax

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aufgetragen; jedoch von Seiten des Präsidenten mit der ausdrüklichen Erinnerung: daß er sich aufs sorgfältigste hüten möchte, die Akademie in keine böse Händel mit der Latonenpriesterschaft zu verwickeln. Korax versprach, daß er alle seine Weisheit aufbieten wolle, die Wahrheit, wo möglich, auf eine unanstößige Art zu sagen — Denn zum Unmöglichen, sezte er hinzu, ist, wie meine Hochgeehrten Herren wissen, niemand in keinem Falle verbunden. Darinn haben Sie Recht, versezte der Präsident: meine Meynung gieng auch bloß dahin, daß Sie sich m ö g l i c h s t in Acht nehmen sollten; denn der Wahrheit darf die Akademie freylich — so viel möglich — nichts vergeben — Das ists was ich immer sage, erwiederte Korax.

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In was für eine seltsame Lage doch ein ehrlicher Mann kommen kann, sobald er das Unglük hat, ein Abderit zu seyn! sagte Korax zu sich selbst, da er sich anschikte, das Gutachten der Akademie über die Froschsache zu Papier zu bringen. In welcher andern Stadt auf dem Erdboden würde man sichs einfallen lassen, einer Akademie der Wissenschaften eine solche Frage vorzulegen? — Und gleichwohl ists dem Senat noch zum Verdienste anzurechnen, daß

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er noch so viel Verstand und Muth gehabt hat, die Akademie zu fragen. Es giebt Städte in der Welt, wo man so was nicht auf die Akademie ankommen läßt. Man muß gestehen, daß die Abderiten zuweilen vor lauter Narrheit auf einen guten Einfall stoßen! Korax sezte sich also an seinen Schreibtisch, und arbeitete mit so viel Lust und Liebe zum Ding, daß er noch vor Sonnenuntergang mit seinem Gutachten fertig war. Da wir dem geneigten Leser eine wo nicht ausführliche doch hinlängliche Nachricht von dem System des Oberpriesters Stilbon gegeben haben: so erfodert nun die Unpartheilichkeit, welche die erste Pflicht eines Geschicht-

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schreibers ist, daß wir ihnen auch von dem Inhalt dieses akademischen Gutachtens wenigstens soviel mittheilen, als zum Verständnis dieser merkwürdigen Geschichte vonnöthen zu seyn scheint. „Der hohe Senat, sagte Korax im Eingang seiner Schrift, sezt in dem der Akademie zugefertigten verehrlichen Rathsschlusse voraus, daß die Froschmenge in Abdera die Volksmenge dermalen in einem unmäßigen und enormen Grade übersteige; und überhebt dadurch die Akademie der unangenehmen Arbeit, erst beweisen zu müssen, was, als eine stadt- und weltkundige Thatsache, vor jedermanns Augen liegt. Es gewinnt demnach das Ansehen, als ob die Akademie, bey s o bewandter

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Sache, sich bloß über die Mittel zu erklären hätte, wodurch diesem Unwesen am schleunigsten abgeholfen werden kann. Allein, da die Frösche in Abdera, vermöge eines uralten und ehrwürdig gewordnen Instituts und Glaubens unsrer Voreltern, Vorrechte erlangt haben, in deren Besitze sie zu stören Vielen bedenklich und Manchen wohl gar unerlaubt scheinen mag; und da es, vermöge der Natur der Sache, leicht geschehen könnte, daß die einzigen diensamen Mittel, welche die Akademie in dem gegenwärtigen äussersten Nothstande des gemeinen Wesens, vorzuschlagen haben möchte, jenen würklichen oder vermeynten Gerechtsamen der abderitischen Frösche, Abbruch zu thun scheinen könnten: so wird es eben so zwekmäßig als unumgänglich seyn, eine historisch-pragmatische Beleuchtung der Frage, „was es mit unsern besagten Fröschen für eine besondere Bewandnis habe“ vorauszuschicken. Die Akademie bittet sich also bey diesem theoretischen Theile ihres unterthänigsten und unmaaßgeblichen Gutachtens von allen respective hoch- und

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wohlansehnlichen Mitgliedern des hohen Senats um so mehr geneigte Aufmerksamkeit aus, als der glükliche Erfolg dieser ganzen der Republik so hoch angelegnen Sache, lediglich von Berichtigung der Präliminarfrage abhängt: ob und in wiefern die Frösche zu Abdera a l s w ü r k l i c h e F r ö s c h e anzusehen seyen oder nicht?“ Diese Berichtigung nimmt in dem Gutachten selbst mehr als zwey Drittel des Ganzen ein. Der schlaue Philosoph, wohl eingedenk dessen was er dem vorsichtigen Präsidenten versprochen, erwähnt der Verwandlung der milischen Bauern nur im Vorbeygehen, und mit aller Ehrerbietung die man einer 10

alten Volkssage schuldig ist. Er sezt sie, mit Beziehung auf das Buch des Oberpriesters Stilbon von den Alterthümern des Latonentempels, als eine Sache voraus, die keinem mehrern Zweifel ausgesezt ist als die Verwandlung des Narcissus in eine Blume, des Cyknus in einen Schwan, der Dafne in einen Lorbeerbaum, oder irgend eine andre Verwandlung die auf einem eben so festen Grunde beruhet. Wenn es auch nicht unzuläßig und unanständig wäre, dergleichen uralte Sagen läugnen zu wollen: so wäre es, meynt er, unverständig. Denn, da es auf der einen Seite unmöglich sey, ihre Glaubwürdigkeit durch historische Zeugnisse umzustoßen, und auf der andern kein Naturforscher in der Welt im Stande sey, ihre absolute Unmöglichkeit zu erweisen: so

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werde jeder Verständige sich um so lieber enthalten sie zu bezweifeln, als er doch weiter nichts dagegen sagen könnte als die gemeinen Plattheiten „ e s i s t u n g l a u b l i c h , e s i s t w i d e r d e n L a u f d e r N a t u r “ und dergleichen Formeln, die auch dem schaalsten Kopfe beym ersten Anblik eben so gut einfallen müßten. Er betrachte also die Umgestaltung der milischen Bauern in Frösche als e i n e a u f s i c h b e r u h e n d e S a c h e ; behaupte aber daß ihre Wahrheit bey der vorliegenden Frage vollkommen gleichgültig sey. Denn, es werde doch wohl niemand läugnen wollen, daß diese milischen Froschmenschen schon ein Paar tausend Jahre wenigstens todt und abgethan seyen — und gesezt auch, daß die abderitischen Frösche ihre Abstammung von denselben genüglich

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erweisen könnten; so würden sie damit doch weiter nichts erwiesen haben, als daß sie seit undenklichen Zeiten von Vater zu Sohn wahre ächtgebrochne F r ö s c h e seyen. Denn so wie die mehrbesagten milischen Bauern durch ihre Verwandlung, und von dem Augenblik ihrer Einfroschung an, aufgehört hätten Menschen zu seyn: so hätten sie auch, von solchem Augenblik an, nichts anders als ihres gleichen, nehmlich leibhafte natürliche Frösche zeugen können;

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mit Einem Wort, F r ö s c h e s e y e n F r ö s c h e , und der Umstand, daß ihre ersten Stammväter vor ihrer V e r w a n d l u n g milische Bauern gewesen, verändre eben so wenig an ihrer gegenwärtigen Frosch-Natur, als wenig ein von zwey und dreissig Ahnen her gebohrner Bettler für einen Königssohn angesehen werde, wenn gleich erweislich wäre, daß der erste Bettler seines Stammbaums in gerader Linie von Ninus und Semiramis entsprossen sey. Die Anhänger der entgegenstehenden Meynung schienen dieses auch selbst so gut einzusehen, daß sie, um die vorgebliche höhere Natur der abderitischen Frösche zu begründen, ihre Zuflucht zu einer Hypothese nehmen müßten, deren bloße Darstellung alle Widerlegung überflüßig mache.

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Der scharfsinnige Leser (und es versteht sich von selbst, daß ein Werk wie dies keine andre Leser haben kann) wird sogleich ohne unser Erinnern bemerkt haben, daß Korax durch diese Einlenkung auf des Oberpriesters Stilbon S y s t e m v o n d e n K e i m e n kommen wollte, welches er — ehe er es wagen durfte mit seinem Vorschlag wegen Vermindrung der Frösche hervorzurükken — entweder widerlegen oder lächerlich machen mußte. Da von diesen zween Wegen der lezte zugleich der bequemste und der Fähigkeit der Hochund Wohlweisheiten, mit denen er’s zu thun hatte, der angemessenste war: so begnügte sich Korax das Unbegreifliche dieser Hypothese durch eine komische Berechnung der unendlichen Kleinheit der angeblichen Keime zum Un-

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gereimten zu treiben. „Wir wollen, sagte er, um die Aufmerksamkeit des hohen Senats nicht ohne Noth mit arithmetischen Subtilitäten zu ermüden, annehmen, der Sohn des größten und dicksten von den froschgewordnen Miliern habe sich in seinem Keimstande zu seinem Vater verhalten wie 1 zu 10,000000 — wir wollen es, bloß um der runden Zahl willen, so annehmen, wiewohl ohne große Mühe zu erweisen wäre, daß der größte unter allen Homunculis als Keim wenigstens noch zehnmal kleiner ist als ich angegeben habe. Nun stekt, nach des Priester Stilbons Meynung, in diesem Keim, nach gleicher Proportion verkleinert, der Keim des Enkels, im Keim des Enkels der Keim des Urenkels, und so, in jedem folgenden Abkömmling, bis ins tausendste Glied, immer mit jedem Grad 10millionenmal kleiner der Keim des nächstfolgenden, so daß der Keim eines iztlebenden abderitischen Frosches, gesezt daß er auch nur im dreyssigsten Grade von seinem Stammvater, dem milischen Froschmenschen entfernt wäre, damals, da er sich als Keim in seinem besagten Stammvater befand, um so viele Millionen, Billionen, Trillionen

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u. s. w. kleiner als eine Käsemilbe hätte gewesen seyn müssen, daß der geschwindeste Schreiber, den der hohe Senat von Abdera in seiner Kanzley hat, in zweyhundert Jahren mit allen den Nullen, die er um diese Zahl zu bezeichnen schreiben müßte, kaum fertig werden könnte; und daß das ganze Gebiet der preiswürdigen Republik, (soviel nehmlich davon noch nicht in Froschgräben verwandelt ist) schwerlich Raum genug für das Papier oder Pergament hätte, das diese ungeheure Zahl zu fassen groß genug wäre. Die Akademie überläßt es dem eignen hohen Ermessen des Senats, ob das allerwinzigste aller kleinen Thierchen in der Welt winzig genug sey, sich von einer solchen unaus10

sprechlich winzigen Kleinheit einen Begriff zu machen? und ob man also anders glauben könne, als daß dem ehrwürdigen Oberpriester etwas Menschliches begegnet seyn müsse, da er diese Hypothese von den Keimen erfunden, um der vorgeblichen Heiligkeit der abderitischen Frösche eine zwar nicht sehr scheinbare, aber wenigstens doch sehr dunkle und unbegreifliche Unterlage zu geben? Die Akademie hat mit allem Fleiß die Einbildungskraft der erlauchten Väter des Vaterlandes nicht über die Gebühr anstrengen wollen. Wenn man aber bedenkt, wie kurz das natürliche Leben eines Frosches ist, und daß unsre dermaligen Frösche, nach der Voraussetzung, wenigstens im fünfhundertsten

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Grade von den milischen Bauern abstammen: so verliehrt sich die Hypothese des sehr ehrwürdigen Oberpriesters in einem solchen Abgrund von Kleinheit, daß es ungereimt, und, die Wahrheit zu sagen, grausam gegen ihn wäre, nur ein Wort weiter davon zu sagen. Die Natur ist, wie die berühmte Aufschrift zu Sais sagt, alles was ist, was war und was seyn wird, und ihren Schleyer hat noch kein Sterblicher aufgedekt. Die Akademie, von dieser großen Wahrheit tiefer als sonst irgend jemand durchdrungen, ist weit entfernt, sich einiger besondern und genauern Einsicht in Geheimnisse, welche unergründlich bleiben sollen, anzumaaßen. Sie glaubt, daß es vergebens sey, von der Entstehungsart der organisierten

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Wesen mehr wissen zu wollen, als was die Sinnen einer anhaltenden Aufmerksamkeit davon entdecken; und wenn sie es ja für erlaubt hält, dem angebohrnen Triebe des menschlichen Geistes — sich alles begreiflich machen zu wollen — durch Hypothesen nachzuhängen: so findet sie diejenige noch immer die natürlichste, vermöge deren die Keime der organischen Körper durch die geheimen Kräfte der Natur erst alsdann gebildet werden, wenn sie ihrer würk-

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lich vonnöthen hat. Dieser Erklärungsart zufolge, ist der Keim eines jeden iztlebenden quakenden Geschöpfes in allen Sümpfen und Froschgräben von Abdera nicht älter als der Moment seiner Zeugung, und hat mit dem individuellen Frosche, der zur Zeit des Trojanischen Krieges quakte, und von welchem der iztlebende in gerader Linie abstammt, weiter nichts gemein, als daß die Natur beyde nach einem gleichförmigen Modell, durch gleichförmige Werkzeuge, und zu gleichförmigen Absichten, gebildet hat.“ Der Philosoph Korax, nachdem er ein langes und breites zu Befestigung dieser Meynung vorgebracht, zieht endlich die Folgerung daraus: daß die abderitischen Frösche eben so natürliche, gemeine und alltägliche Frösche

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seyen als alle übrige Frösche in der Welt; und daß also die sonderbaren Vorrechte, deren sie sich in Abdera zu erfreuen hätten, sich nicht auf irgend eine Vorzüglichkeit ihrer Natur und vorgebliche Verwandtschaft mit der menschlichen, sondern bloß auf einen populären Glauben gründeten, welchen man, zu größtem Nachtheil des gemeinen Wesens, allzulange unbestimmt und in einem Dunkel gelassen habe, unter dessen Begünstigung die Einbildungskraft der Einen und der Eigennutz der Andern freyen Spielraum gehabt habe, mit diesen Fröschen eine Art von Unfug zu treiben, wovon man ausserhalb Egypten schwerlich ein ähnliches Beyspiel in der Welt finden werde. „Die Alterthümer von Abdera (fährt er fort) liegen, ungeachtet alles Lich-

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tes, welches der ehrwürdige und gelehrte Stilbon so reichlich über sie ausgegossen, noch immer — wie die Alterthümer aller andern Städte in der Welt — in einem Nebel, dessen Undurchdringlichkeit dem wahrheitsbegierigen Forscher wenig Hoffnung läßt, seine Begierde jemals befriediget zu sehen. Aber, wozu hätten wir denn auch vonnöthen, mehr davon zu wissen als wir würklich wissen? Was es auch mit dem Ursprung des Latonentempels und seines geheiligten Froschgrabens für eine Bewandnis haben mag, würde etwa, wenn wir diese Bewandnis wüßten, Latona mehr oder weniger G ö t t i n , ihr Tempel mehr oder weniger T e m p e l und ihr Froschgraben mehr oder weniger F r o s c h g r a b e n seyn? — Latona soll und muß in ihrem uralten Tempel verehrt, und ihr uralter Froschgraben soll und muß in gebührenden Ehren gehalten werden. Beydes ist Institut unsrer ältesten Vorfahren, ehrwürdig durch das graueste Alterthum, befestigt durch die Gewohnheit so vieler Jahrhunderte, unterhalten durch den ununterbrochen fortgepflanzten allgemeinen Glauben unsers Volkes, geheiligt und unverlezlich gemacht durch die

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Gesetze unsrer Republik, welche die Bewachung und Beschützung desselben dem ansehnlichsten Kollegio des Staats anvertraut haben. Aber, wenn Latona oder Jupiter um Latonens willen die milischen Bauren in Frösche verwandelt hat; folgt denn daraus, daß a l l e Frösche der Latona heilig sind, und sich des priesterlichen Vorrechts der persönlichen Unverlezlichkeit anzumaaßen haben? Und, wenn unsre wackern Vorfahren für gut befunden haben, zum ewigen Gedächtnis jenes Wunders, im Bezirk des Latonentempels einen kleinen Froschgraben zu unterhalten: folgt denn daraus, daß ganz Abdera in eine Froschlache verwandelt werden muß? 10

Die Akademie kennt sehr wohl die Achtung, die man gewissen Meynungen und Gefühlen des Volks schuldig ist. Aber dem Aberglauben, in welchen sie immer auszuarten bereit sind, kann doch nur so lange nachgesehen werden, als er die Grenzen der Unschädlichkeit nicht gar zu weit überschreitet. F r ö sche können in Ehren gehalten werden : aber die Menschen den F r ö s c h e n a u f z u o p f e r n i s t u n b i l l i g . Der Zweck, um dessentwillen die Abderiten, unsre Vorfahren, den geheiligten Froschteich einsezten, hätte freylich auch durch einen einzigen Frosch erreicht werden können. Doch, laß es seyn, daß ein ganzer Teich voll gehalten wurde; wenn es nur bey diesem einzigen geblieben wäre! Abdera würde darum nicht weniger blühend, mäch-

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tig und glüklich gewesen seyn. Bloß der seltsame Wahn, daß man der Frösche und Froschteiche nicht zuviel haben könne, hat uns dahin gebracht, daß uns nun würklich keine andre Wahl übrig bleibt — als, uns entweder dieser überlästigen und allzufruchtbaren Mitbürger ungesäumt zu entladen, oder alle insgesamt mit bloßen Häuptern und Füssen nach dem Latonentempel zu wallen, und mit fußfälligem Bitten so lange bey der Göttin anzuhalten, bis sie das alte Wunder an uns erneuert, und auch uns, soviel unsrer sind, in Frösche verwandelt haben wird. Die Akademie müßte sich sehr gröblich an der Weisheit der Häupter und Väter des Vaterlandes versündigen, wenn sie nur einen Augenblik zweifeln

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wollte, daß das Mittel, welches sie in einer so verzweifelten Lage vorzuschlagen aufgefodert worden, und das Einzige, welches sie vorzuschlagen im Stande ist, nicht mit beyden Händen ergriffen werden sollte. Dieses Mittel hat alle von dem hohen Senat erfoderten Eigenschaften; es ist in unsrer Gewalt, es ist zwekmäßig und von unmittelbarer Würkung; es ist nicht nur mit keinem Aufwand, sondern sogar mit einer namhaften Ersparnis verbunden; und we-

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der Latona noch ihre Priester können, unter den gehörigen Einschränkungen, etwas dagegen einzuwenden haben.“ Und nun rathe der geneigte Leser, was für ein Mittel das wohl seyn konnte? — Es ist, um ihn nicht lange aufzuhalten, das simpelste Mittel von der Welt; es ist etwas in Europa, von langen Zeiten her bis auf diesen Tag, sehr gewöhnliches; eine Sache worüber in der ganzen Christenheit, zumal in der katholischen, sich niemand das mindeste Bedenken macht, und wovor gleichwohl, wie diese Stelle des Gutachtens im Senat zu Abdera abgelesen wurde, der Hälfte der Rathsherren die Haare zu Berge stunden. — Mit Einem Worte, das Mittel das die Akademie von Abdera vorschlug, um der überzählichen

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Frösche mit guter Art loßzuwerden, war — s i e z u e s s e n . Der Verfasser des Gutachtens betheuerte, daß er auf seinen Reisen zu Athen und Megara, zu Korinth, in Arkadien und an hundert andern Orten Froschkeulen essen gesehen und selbst gegessen habe. Er versicherte, daß es eine sehr gesunde, nahrhafte und wohlschmeckende Speise sey, man möchte sie nun gebacken oder mariniert, frikassiert oder in kleinen Pastetchen auf die Tafel bringen. Er berechnete, daß auf diese Weise die übermäßige Froschmenge in kurzer Zeit auf eine sehr gemäßigte Zahl gebracht, und dem gemeinen und Mittelmann, bey dermaligen klemmen Zeiten keine geringe Erleichterung durch diese neue Eßwaare verschaft werden würde. Und wiewohl der daher

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entstehende Vortheil sich vermöge der Natur der Sache von Tag zu Tage vermindern müßte: so würde hingegen der Abgang um so reichlicher ersezt werden, indem man nach und nach einige Tausend Froschteiche und Gräben austroknen und wieder urbar machen könnte; ein Umstand wodurch wenigstens der vierte Theil des zu Abdera gehörigen Grund und Bodens wieder gewonnen werden und den Einwohnern zu Nutzen gehen würde. Die Akademie (sezt er hinzu) habe die Sache aus allen möglichen Gesichtspunkten betrachtet, und könne nicht absehen, wie von Seiten der Latona oder ihrer Priester die mindeste Einwendung dagegen sollte gemacht werden können. Denn was die Göttin selbst betreffe, so würde sie sich ohnezweifel durch den bloßen Argwohn als ob ihr an den Fröschen mehr als an den Abderiten gelegen sey, sehr beleidiget finden; von den Priestern aber sey zu erwarten, daß sie zu gute Bürger und Patrioten seyen, um sich einem Vorschlag zu widersetzen, durch welchen dasjenige, was bisher das gröste Übel und Drangsal des abderitischen gemeinen Wesens gewesen, bloß durch eine geschikte Wendung, in den größten Nutzen

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desselben verwandelt würde. Und da es nicht mehr als billig sey, sie, die Priester, um des gemeinen Bestens willen nicht zu beschädigen, so hielte die Akademie ohnmaaßgeblich davor: daß ihnen nicht nur die Unverlezlichkeit des uralten Froschgrabens am Latonentempel von neuem zu garantiren, sondern auch die Verordnung zu machen wäre: daß von dem Augenblik an, da die abderitischen Froschkeulen für eine erlaubte Eßwaare erklärt seyn würden, von jedem Schok derselben eine Abgabe von 2 oder 3 O b o l e n an den Latonentempel bezahlt werden müßte — eine Abgabe, die, nach einem sehr mäßigen Überschlag, in kurzer Zeit eine Summe von dreyssig bis vierzig tausend Drachmen 10

abwerfen, und also den Latonentempel wegen aller andern kleinen Vortheile, die durch die neue Einrichtung aufhörten, reichlich schadlos halten würde. Endlich beschloß der Philosoph Korax sein Gutachten mit diesen merkwürdigen Worten: „Die Akademie glaube durch diesen eben so nothgedrungnen als gemeinnützigen Vorschlag ihrer Schuldigkeit genug gethan zu haben. Sie sey nun wegen des Erfolgs ganz ruhig, da sie dabey nicht mehr betroffen sey als alle übrigen Bürger von Abdera. Aber da sie überzeugt sey, daß nur ganz erklärte B a t r a c h o s e b i s t e n fähig seyn könnten, sich einer so unumgänglichen Reformation entgegenzusetzen: so hofften sie daß die preiswürdigen Väter des Vaterlandes nicht zugeben würden, daß eine so lächerliche

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Secte die Oberhand gewinnen, und vor den Augen aller Griechen und Barbaren den abderitischen Namen mit einem Schandflecken beschmitzen sollten, den keine Zeit wieder ausbeitzen würde.“ Es ist s c h w e r von den A b s i c h t e n eines Menschen aus seinen H a n d l u n g e n zu urtheilen, und h a r t , schlimme Absichten zu argwohnen, bloß weil eine Handlung eben so leicht aus einem bösen als guten Beweggrunde hergeflossen seyn k o n n t e . Aber einen jeden, dessen Vorstellungsart nicht die unsrige ist, bloß darum für einen schlimmen Mann zu halten, ist d u m m . Wiewohl wir also nicht mit Gewisheit sagen können, wie rein die Absichten des Philosophen Korax bey Abfassung dieses Gutachtens gewesen seyn moch-

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ten: so können wir doch nicht umhin zu glauben, daß der Priester Stilbon in seiner Leidenschaft zu weit gegangen, da er besagten Korax, dieses Gutachtens wegen, für einen offenbaren Feind der Götter und der Menschen erklärte, und einer augenscheinlichen Absicht alle Religion über den Haufen zu werfen beschuldigte. So überzeugt auch immer der Hohepriester Stilbon von seinem System war, so ist doch, bey der großen und unwillkührlichen Verschieden-

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heit der Vorstellungsarten unter den armen Sterblichen nicht unmöglich, daß Korax von der Wahrheit s e i n e r Meynungen eben so aufrichtig überzeugt war, daß er die abderitischen Frösche im innersten seines Herzens für nichts mehr als bloße natürliche Frösche hielt, und durch seinen Vorschlag seinem Vaterlande würklich einen wichtigen Dienst zu leisten glaubte. Indessen bescheidet sich Schreiber dieses ganz gerne, daß es für uns Iztlebende, und in Betrachtung daß die allgemein in Europa angenommenen Grundsätze den Fröschen wenig günstig sind, eine äusserst delicate Sache ist, über diesen Punkt ein vollkommen unpartheyisches Urtheil zu fällen. Wie es also auch um die Moralität der Absichten des Philosophen Korax

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stehen mochte, soviel ist wenigstens gewiß daß er so wenig ohne Leidenschaften war als der Oberpriester, und daß er sich die Vermehrung seiner Anhänger viel zu eifrig angelegen seyn ließ, um nicht den Verdacht zu erwecken, daß die Eitelkeit das Haupt einer Parthey zu seyn, die Begierde über Stilbon den Sieg davon zu tragen, und der stolze Gedanke in den Annalen von Abdera dereinst Figur zu machen, wenigstens eben soviel zu seiner großen Thätigkeit in dieser Froschsache beygetragen als seine Tugend. Aber daß er alles was er gethan aus bloßer Gourmandise gethan habe, halten wir für eine Verläumdung schwachköpfiger und passionirter Leute, woran es bekanntermaßen bey solchen Gelegenheiten, zumal in kleinen Republiken, nie zu fehlen pflegt.

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Korax hatte solche Maaßregeln genommen, daß sein Gutachten bey der zweyten Zusammenkunft der Akademie einhellig genehmigt wurde; denn der Präsident und drey oder vier Ehrenmitglieder, die sich nicht bloß geben wollten, hatten Tags zuvor eine Reise aufs Land gethan. Das Gutachten wurde also in der vorgeschriebenen Zeit dem Archon eingehändigt, und bey der nächsten Sitzung des Senats von dem Stadtschreiber Pyrops, einem erklärten Gegenfröschler, aus voller Kehle, und, mit ungewöhnlich scharfer Beobachtung aller Komma’s und übrigen Unterscheidungszeichen, abgelesen. Die Minorität hatte zwar indessen bey dem Archon Onokradias große Bewegungen gemacht, um ihn dahinzubringen, die Execution des Rathsschlusses aufzuschieben, und es in einer ausserordentlichen Rathsversammlung noch einmal auf die Mehrheit ankommen zu lassen, ob die Sache nicht, mit Vorbeygehung der Akademie, dem Kollegio der Zehnmänner übergeben werden sollte. Onokradias hatte auch diesen Antrag auf Bedenkzeit angenom-

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men; aber, ungeachtet des täglichen Anhaltens der Gegenparthey seine Antwort um so mehr aufgeschoben, da er versichert worden war, daß das Gutachten bis zum nächsten gewöhnlichen Rathstage fertig seyn sollte. Der Nomophylax Hypsiboas und seine Anhänger fanden sich also nicht wenig beleidigt, da, nachdem die gewöhnlichen Geschäfte abgethan waren, der Archon ein großes Heft unter seinem Mantel hervorzog, und den Senat berichtete, daß es das Gutachten sey, welches, vermöge des lezten Schlusses, der Akademie in der bekannten l e i d i g e n Froschsache aufgetragen worden. Sie stunden alle auf einmal mit Ungestüm auf, beschuldigten den Archon daß 10

er hinterlistig zu Werke gegangen, und erklärten sich, daß sie die Verlesung des Gutachtens nimmermehr zugeben würden. Onokradias, der unter andern kleinen Naturfehlern auch diesen hatte, immer hitzig zu seyn wo er kalt, und kalt wo er hitzig seyn sollte, war im Begriff eine sehr hitzige Antwort zu geben, wenn ihn der Rathsherr Meidias nicht gebeten hätte, ruhig zu seyn und die Herren schreyen zu lassen. Wenn sie Alles gesagt haben werden, flisterte er ihm zu, so werden sie Nichts mehr zu sagen haben, und dann müssen sie wohl von selbst aufhören. Dies war auch was geschah. Die Herren lermten, krähten und fochten mit den Händen bis sie es müde waren; und da sie endlich merkten, daß ihnen

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niemand zuhörte, sezten sie sich brummend wieder hin, wischten den Schweis von der Stirne und — das Gutachten wurde verlesen. Wir kennen die Art der Abderiten, so schnell wie man die Hand umdreht vom Tragischen zum Komischen überzugehen, und über der kleinsten Gelegenheit zum Lachen die ernsthafte Seite eines Dinges gänzlich aus den Augen zu verliehren. Kaum war der dritte Theil des Gutachtens gelesen, so zeigte sich schon die Würkung dieser jovialischen Laune sogar bey denjenigen, die kurz zuvor so laut dagegen geschrieen hatten. Das nenn’ ich doch beweisen, sagte einer der Rathsherren zu seinem Nachbar, während daß Pyrops inhielt, um, nach damaliger Gewohnheit, eine Prise Nießwurz zu nehmen. Man muß ge-

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stehen, sagte ein andrer, das Ding ist meisterhaft geschrieben. Ich will gerne sehen, sagte ein dritter, was man gegen den Beweis, daß Frösche am Ende doch nur Frösche sind, wird einwenden können. Ich habe schon lange so was gemerkt, sagte ein vierter mit einer schlauen Mine, aber es ist doch angenehm wenn man sieht, daß gelehrte Leute mit uns Einer Meynung sind. — Nur weiter, Herr Stadtschreiber, sagte Meidias, denn das Beste muß noch erst kommen. Fortsetzung und Beschluß

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Pyrops las fort. Die Rathsherrn lachten daß sie die Bäuche halten mußten über die Berechnung der Kleinheit der Keime des Priesters Stilbon; wurden aber auf einmal wieder ernsthaft, da die traurige Alternative vorkam, und sie sich vorstellten, was für ein Jammer das wäre, wenn sie in corpore, den regierenden Archon an der Spitze, nach dem Latonentempel ziehen müßten, um sichs noch zur besondern Gnade anrechnen zu lassen, wenn sie in Frösche verwandelt würden. Sie rekten die dicken Hälse und schnappten nach Odem bey dem bloßen Gedanken, wie ihnen bey einer solchen Katastrophe zu Muthe seyn würde, und waren geneigt jedes Mittel gutzuheissen, wodurch ein solches Unglük verhütet werden könnte. Aber wie das Geheimnis nun heraus

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war, wie sie hörten daß die Akademie kein ander Mittel vorzuschlagen hätte, als die Frösche, deren sie einen Augenblik zuvor um jeden Preis loßzuwerden gewünscht hatten, z u e s s e n — Welche Zunge vermöchte das Gemisch von Erstaunen, Entsetzen und Verdruß über fehlgeschlagene Erwartung zu beschreiben, das sich auf einmal in den verzerrten Gesichtern der alten Rathsherrn mahlte, welche beynahe die Hälfte des Senats ausmachten. Die Leute sahen nicht anders aus, als ob man ihnen zugemuthet hätte ihre eignen leiblichen Kinder in kleine Pastetchen hacken zu lassen. Auf einmal von der unbegreiflichen Macht des Vorurtheils überwältigt fuhren sie alle mit Entsetzen auf, und erklärten daß sie nichts weiter hören wollten, und daß sie sich einer

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solchen Gottlosigkeit zu der Akademie nimmermehr versehen hätten. Sie hören aber ja, daß es nur gemeine natürliche Frösche sind die wir essen sollen, rief der Rathsherr Meidias. Essen wir doch Pfauen und Tauben und Gänse, ungeachtet jene der Juno und Venus, und diese dem Priapus selbst heilig sind. Bekömmt uns denn etwa das Rindfleisch schlechter, weil die Princessin Jo in eine Kuh verwandelt worden? oder machen wir uns das mindeste Bedenken, alle Arten von Fischen zu essen, ungeachtet sie unter dem Schutze der Wassergötter stehen? Aber die Rede ist weder von Gänsen noch Fischen sondern von Fröschen, schrien die alten Rathsherren und Zunftmeister; das ist ganz was anders. Gerechte Götter! die Frösche der Latona zu essen! Wie kann ein Mensch von gesundem Kopfe sich so etwas nur zu Sinne kommen lassen. So fassen Sie Sich doch, meine Herren, schrie ihnen der Rathsherr Stentor entgegen; sie werden doch nicht solche B a t r a c h o s e b i s t e n seyn wollen. — Lieber Batrachosebisten als B a t r a c h o p h a g e n , rief der Nomophylax,

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der diesen glüklichen Augenblik nicht entwischen lassen wollte, sich zum Haupt einer Parthey aufzuwerfen, auf deren Schultern er sich in kurzem zum Archontat erhoben zu sehen hofte. Lieber alles in der Welt als Batrachophagen, schrien die Rathsherrn von der Minorität, und ein Paar graubärtige Zunftmeister, die sich zu ihnen schlugen. „Meine Herren, sagte der Archon Onokradias, indem er mit einiger Hitze von seinem elfenbeinernen Stuhl auffuhr, da die Batrachosebisten so laut zu schreyen anfiengen, daß ihm um sein Gehör bange wurde; Ein Vorschlag der Akademie ist noch kein Rathsschluß. Setzen Sie Sich und hören Sie Vernunft 10

an, wenn sie können! Ich will nicht hoffen daß hier jemand ist, der sich einbildet, daß mir soviel daran gelegen sey, Frösche zu essen; auch werd’ ich noch wohl Rath zu schaffen wissen, daß sie m i c h nicht fressen sollen. Aber die Akademie, die aus den gelehrtesten Leuten in Abdera besteht, muß doch wohl wissen was sie sagt —“ (Nicht immer, murmelte Meidias zwischen den Zähnen.) „und da das gemeine Beste allem vorgeht, und nicht billig ist, daß die Frösche den Menschen — daß die Menschen, sage ich, den Fröschen aufgeopfert werden, wie die Akademie sehr wohl erwiesen hat: so ist meine Meynung — daß das Gutachten, ohne weiters, der ehrwürdigen Latonenpriesterschaft com-

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municiert werde. Können sie einen bessern Vorschlag thun, so will ich der erste seyn, der ihn unterstützen hilft; denn ich für meine Person habe nichts gegen die Frösche, in so fern sie keinen Schaden thun.“ Da der Antrag des Archons nichts anders war, als worauf beyde Partheyen ohnehin hätten antragen müssen, so wurde die Communication des Gutachtens zwar einhellig beliebt; aber die Ruhe im Senat wurde dadurch nicht hergestellt; und von dieser Stunde an fand sich die arme Stadt Abdera, wieder, nur unter andern Namen, in E s e l und S c h a t t e n getheilt. Jedermann bildete sich ein daß der Oberpriester über das Gutachten der Akademie Feuer und Flammen sprühen werde, und man war nicht wenig

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verwundert, da er, dem Anschein nach, so gelassen dabey blieb als ob ihn die Sache gar nichts angienge. Was für armselige Köpfe, sagte er den seinigen schüttelnd, indem er das Gutachten mit flüchtigem Blicke überlief; und gleichwohl sollte man denken, sie müßten mein Buch von den Alterthümern gelesen haben, worinn alles so augenscheinlich dargelegt ist. Es ist unbegreiflich wie man mit fünf gesunden Sinnen so dumm seyn kann. Aber ich will

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ihnen noch wohl das Verständnis öfnen. Ich will ein Buch schreiben — ein Buch das mir alle Akademien der Welt widerlegen sollen wenn sie können! Und Stilbon, der Oberpriester, sezte sich hin und schrieb ein Buch, dreymal so dik als das erste das der Archon Onokradias nicht lesen wollte; und er bewies darinn daß der Verfasser des Gutachtens keinen Menschenverstand habe, und ein Unwissender sey, der nicht einmal gelernt habe, daß nichts groß und nichts klein in der Natur sey, daß die Materie ins Unendliche getheilt werden könne, und daß die unendliche Kleinheit der Keime, wenn man sie auch noch unendlich kleiner annähme als Korax in seiner ganz lächerlich übertriebnen Berechnung gethan habe, gegen ihre Möglichkeit nicht ein Mi-

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nimum beweise. Er unterstüzte die Gründe seines Systems von den abderitischen Fröschen mit neuen Gründen, beantwortete mit großer Genauigkeit und Weitläuftigkeit alle mögliche Einwürfe die er sich selbst dagegen machte, und seine Einbildung und seine Galle erhizte sich unterm Schreiben unvermerkt so sehr, daß er in sehr bittere Sarkasmen gegen seine Gegner ausbrach, sie eines vorsezlichen und verstokten Hasses gegen die Wahrheit anklagte, und ziemlich deutlich zu verstehen gab, daß solche Menschen in einem wohlpolirten Staat gar nicht geduldet werden sollten. Der Senat von Abdera erschrak, da der Archon nach etlichen Monaten (denn eher hatte Stilbon wiewohl er Tag und Nacht schrieb nicht mit seinem

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Buche fertig werden können) die Gegenschrift des Oberpriesters vor Rath brachte, die so voluminos war, daß er sie, um die Sache kurzweiliger zu machen, durch zween von den breitschultrigsten Sakträgern von Abdera, auf einer Trage herein schleppen und auf den großen Rathstisch legen ließ. Die Herren fanden daß es keine Möglichkeit sey eine so weitläuftige Deduction verlesen zu lassen. Es wurde also durch die Mehrheit der Stimmen beschlossen, das Werk geradenwegs dem Philosophen Korax zuzuschicken, mit dem Auftrag, dasjenige was er etwa dagegen zu erinnern hätte schriftlich und sobald als möglich an den regierenden Archon gelangen zu lassen. Korax stund eben mitten unter einem Haufen naseweiser abderitischer Jünglinge in der Vorhalle seines Hauses, als die Sakträger mit ihrer gelehrten Ladung bey ihm anlangten; und wie er von dem mitkommenden Rathsboten vernommen hatte warum es zu thun sey, entstund ein so unmäßiges Gelächter unter der gegenwärtigen Versammlung, daß man es über drey oder vier Gassen bis in der Rathsstube hören konnte. Der Priester Stilbon hat einen

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schlauen Genius, sagte Korax; er hat gerade das unfehlbarste Mittel ergriffen, um nicht widerlegt zu werden: aber er soll sich doch betrogen finden. Wir wollen ihm zeigen daß man ein Buch widerlegen kann ohne es gelesen zu haben. — Wo sollen wir denn abladen, fragten die Sakträger, die schon eine gute Weile mit ihrer Trage dagestanden waren, und von allen den scherzhaften Einfällen der gelehrten Herren nichts verstunden. In meinem Häuschen ist kein Platz für ein so großes Buch, sagte Korax. Wissen Sie was, fiel einer von den jungen Philosophen ein: weil das Buch doch geschrieben ist um n i c h t gelesen zu werden, so stiften Sie es auf die Rathsbibliothek; dort liegt 10

es sicher und wird unter dem Schutz einer Kruste von fingerdickem Staub ungelesen und wohlbehalten auf die späte Nachwelt kommen. Der Einfall ist treflich, sagte Korax. Gute Freunde, fuhr er fort, sich an die Sakträger wendend, hier sind zwo Drachmen für eure Mühe; tragt eure Ladung auf die Rathsbibliothek, und bekümmert euch weiter um Nichts; ich nehme die ganze Sache auf meine Verantwortung. Die Träger zogen also unter Begleitung einer Menge von Gassenjungen nach der Rathsbibliothek; und einer von den jungen Herren eilte, die ganze Geschichte in ein Lied zu bringen, das in der nächsten Nacht schon in allen Straßen von Abdera gesungen wurde. Stilbon, dem das Schiksal eines Buches, das ihm so viele Zeit und Mühe

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gekostet hatte, nicht lange verborgen bleiben konnte, wuste vor Erstaunen und Ingrimm weder was er denken noch thun sollte. Große Latona, rief er einmal übers andre aus, in was für Zeiten leben wir! Was ist mit Leuten anzufangen, die nicht hören wollen? — Aber sey es darum! Ich habe das Meinige gethan. — Wollen sie nicht hören, so mögen sie’s bleiben lassen! Ich setze keine Feder mehr an, rühre keinen Finger mehr für ein so undankbares, ungeschlifnes und unverständiges Volk. So dachte er im ersten Unmuth; aber der gute Priester betrog sich selbst durch diese anscheinende Gelassenheit. Seine Eigenliebe war zu sehr beleidigt, um so ruhig zu bleiben. Je mehr er der Sache nachdachte (und er konnte die ganze Nacht an nichts anders denken) je stärker

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fühlte er sich überzeugt, daß es ihm nicht erlaubt sey bey einer so lauten Aufforderung für die gute Sache stille zu sitzen. Der Nomophylax und die übrigen Feinde des Archons Onokradias ermangelten nicht, seinen Eyfer durch ihre Aufstiftungen vollends zu entflammen. Man hielt fast täglich Zusammenkünfte um sich über die Maaßregeln zu berathschlagen, welche man zu nehmen hätte, dem einreissenden Strom der Unordnung und Ruchlosig-

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keit (wie es Stilbon nannte) Einhalt zu thun. Aber die Zeiten hatten sich würklich sehr geändert. Stilbon war kein Strobylus. Das Volk kannte ihn wenig, und er hatte keine von den Gaben, wodurch sich sein besagter Vorgänger mit unendlichmal weniger Gelehrsamkeit so wichtig in Abdera gemacht hatte. Beynahe alle junge Leute beyderley Geschlechts waren von den Grundsätzen des Philosophen Korax angestekt; und der größere Theil der Rathsherren und angesehenen Bürger, neigte sich, o h n e G r u n d s ä t z e , auf die Seite wo es am meisten zu lachen gab. Sogar unter dem gemeinen Volke hatten die Gassenlieder, womit einige Versifexe von Koraxens Anhang die Stadt angefüllt hatten, so gute Würkung gethan, daß man sich vor der Hand wenig Hoffnung

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machen konnte, den Pöbel so leicht als ehmals zu den Zeiten des Priesters Strobylus in Aufruhr zu setzen. Und was noch das allerschlimmste war, man hatte große Ursache zu glauben, daß es unter den Priestern selbst einen und den andern gebe, der ingeheim mit den Gegenfröschlern in Verbindung stehe, und es war mehr als bloßer Argwohn, daß der Priester Pamphagus mit einem Anschlag schwanger gehe, sich die gegenwärtigen Umstände zu Nutze zu machen, und den Oberpriester von einer Stelle zu verdrängen, der er (wie Pamphagus unter der Hand zu verstehen gab) wegen seiner gänzlichen Unerfahrenheit in Geschäften, zumal in einer so bedenklichen Krisis, in keinem Betrachte gewachsen sey. Bey allem dem machten gleichwohl die Batracho-

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sebisten eine Parthey, und Hypsiboas, der die Seele derselben war, hatte Geschiklichkeit genug, sie immer in einer innerlichen Bewegung zu erhalten, welche mehr als einmal einen gefährlichen Ausbruch hätte nehmen können, wenn die Gegenparthey, zufrieden mit ihren erhaltenen Siegen, und ungeneigt das Übergewicht, in dessen Besitz sie war, in Gefahr zu setzen, in Absicht der Froschsache nicht so unthätig geblieben, und alles was zu ungewöhnlichen Bewegungen hätte Anlaß geben können, sorgfältig vermieden hätte. Denn, wiewohl sie sich des Namens der Batrachophagen, womit sie von ihren Gegnern belegt wurden, nicht zu weigern schienen, und die Frösche der Latona den gewöhnlichsten Stoff zu lustigen Einfällen in ihren Gesellschaften hergaben; so hatte man es doch, nach ächter abderitischer Weise, bisher immer dabey bewenden lassen, und die Frösche waren, trotz dem Gutachten der Akademie, noch immer ungestört und ungegessen im Besitz der Stadt und Landschaft von Abdera geblieben. Aller Wahrscheinlichkeit nach, würden sie dieser Sicherheit noch lange

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genossen haben, wenn nicht unglüklicherweise im nächsten Sommer eine unendliche Menge Mäuse und Ratten von allen Farben auf einmal die Felder der unglüklichen Republik überschwemmt, und dadurch die ganz unschuldige und ungefehre Weissagung des Archons Onokradias auf eine unvermuthete Art in Erfüllung gebracht hätten. Von Fröschen und Mäusen zugleich aufgegessen zu werden, war für die armen Abderiten zuviel auf einmal. Die Sache wurde ernsthaft. Die Gegenfröschler drangen nun ohne weiters auf die Nothwendigkeit den Vorschlag der Akademie unverzüglich ins Werk zu setzen. Die Batrachosebisten schrien: die gel10

ben, grünen, blauen, blutrothen und flohfarben Mäuse, die in wenig Tagen die greulichste Verwüstung auf den abderitischen Feldern angerichtet hätten, seyen eine sichtliche Strafe der Gottlosigkeit der Batrachophagen, und augenscheinlich von Latonen unmittelbar abgeschikt, die Stadt, die sich des Schutzes der Göttin unwürdig gemacht, gänzlich zu verderben. Vergebens bewies die Akademie, daß gelbe, grüne und flohfarbe Mäuse darum nicht mehr Mäuse seyen als andre; daß es mit diesen Mäusen und Ratten ganz natürlich zugehe; daß man in den Jahrbüchern aller Völker ähnliche Beyspiele finde, und daß es nunmehr, da die besagten Mäuse entschlossen schienen, den Abderiten ohnehin nichts anders zu essen übrig zu lassen, um so nöthiger sey, sich des

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Schadens, den beyderley gemeine Feinde der Republik verursachten, wenigstens an der eßbaren Hälfte derselben, nemlich an den Fröschen zu erhohlen. Vergebens schlug sich der Priester Pamphagus ins Mittel, indem er den Vorschlag that, die Frösche künftig zu ordentlichen Opferthieren zu machen, und, nachdem der Kopf und die Eingeweide der Göttin geopfert worden, die Keulen, als Opferfleisch, zu ihren Ehren zu verzehren. Das Volk, bestürzt über eine Landplage, die es sich nicht anders als unter dem Bilde eines Strafgerichts der erzürnten Götter denken konnte, und von den Häuptern der Froschparthey empört, lief in Rotten vor das Rathhaus, und drohte kein Gebein von den Herren übrig zu lassen, wenn sie nicht auf der Stelle ein Mittel fänden die

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Stadt vom Verderben zu erretten. Guter Rath war noch nie so theuer auf dem Rathshause zu Abdera gewesen, als izt. Die Rathsherren schwizten Angstschweis; sie schlugen vor ihre Stirne, aber es hallte hohl zurük; je mehr sie sich besannen, je weniger konnten sie

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finden was zu thun wäre. Das Volk wollte sich nicht abweisen lassen, und schwur, Fröschlern und Gegenfröschlern die Hälse zu brechen, wenn sie nicht Rath schaften. Endlich fuhr der Archon Onokradias auf einmal, wie begeistert, von seinem Stuhl auf. — Folgen Sie mir, sagte er zu den Rathsherren, und gieng mit großen Schritten auf die marmorne Tribüne hinaus, die zu öffentlichen Anreden an das Volk bestimmt war. Seine Augen funkelten von einem ungewöhnlichen Glanz; er schien eines Haupts länger als sonst, und seine ganze Gestalt hatte etwas Majestätischeres als man jemals an einem Abderiten gesehen hatte. Die Rathsherren folgten ihm stillschweigend und erwartungsvoll.

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Höret mich, ihr Männer von Abdera, sagte Onokradias mit einer Stimme die nicht die seinige war; Jason, mein großer Stammvater, ist vom Sitz der Götter herabgestiegen, und giebt mir in diesem Augenblik das Mittel ein, wodurch wir uns alle retten können. Gehet, jeder nach seinem Hause, packet alle eure Geräthschaften und Haabseligkeiten zusammen, und morgen bey Sonnenaufgang stellet euch mit Weibern und Kindern, Pferden und Eseln, Rindern und Schafen, kurz mit Sak und Pak vor dem Jasonstempel ein. Von da wollen wir mit dem goldnen Vließe, dem heiligen Palladio der Abderiten, an unsrer Spitze, ausziehen, diesen von den Göttern verachteten Mauren den Rücken wenden, und in den weiten Ebnen des glüklichern Macedoniens einen

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andern Wohnort suchen, bis der Zorn der Götter sich gelegt haben, und uns oder unsern Kindern wieder vergönnt seyn wird, unter glüklichen Vorbedeutungen in die schöne Abdera zurükzukehren. Die verderblichen Mäuse, wenn sie nichts mehr zu zehren finden, werden sich unter einander selbst auffressen, und was die Frösche betrift — denen mag Latona gnädig seyn! — Geht, meine Kinder, und macht euch fertig. Morgen, mit Aufgang der Sonne, werden alle unsre Drangsale ein Ende haben. Das ganze Volk jauchzte dem begeisterten Archon Beyfall zu, und in Einem Augenblik athmete wieder nur Eine Seele in allen Abderiten. Ihre leicht bewegliche Einbildungskraft stund auf einmal in voller Flamme. Neue Aussichten, neue Scenen von Glük und Freuden tanzten vor ihrer Stirne. Die weiten Ebnen des glüklichen Macedoniens lagen wie Paradiese vor ihren Augen ausgebreitet; sie athmeten schon die mildern Lüfte, und sehnten sich mit unbeschreiblicher Ungeduld aus dem dicken froschsumpfichten Dunstkreise ihrer eckelhaften Vaterstadt heraus. Alles eilte, sich zu einem Auszug zu rüsten, von

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dem, wenige Augenblicke zuvor, kein Mensch sich etwas hätte träumen lassen. Am folgenden Morgen war das ganze Volk von Abdera reisefertig. Alles was sie von ihren Haabseligkeiten nicht mitnehmen konnten, liessen sie ohne Bedauren in ihren Häusern, so ungeduldig waren sie an einen Ort zu ziehen, wo sie weder von Fröschen noch Mäusen mehr geplagt werden würden. Am vierten Morgen ihrer Auswanderung begegnete ihnen der König Kassander. Man hörte das Getöse ihres Zugs von weitem, und der Staub, den sie erregten, verfinsterte das Tageslicht. Kassander befahl den seinigen Halt zu 10

machen, und schikte jemand aus, sich zu erkundigen was es wäre. Sire, sagte der zurükkommende Abgeschikte, es sind die Abderiten, die vor Fröschen und Mäusen nicht mehr in Abdera zu bleiben wußten, und einen andern Wohnplatz suchen. Wenn’s dies ist, so sind’s gewiß die Abderiten, sagte Kassander. Indem erschien Onokradias an der Spize einer Deputation von Rathsmännern und Bürgern, dem Könige ihr Anliegen vorzutragen. Die Sache kam dem König Kassander und seinen Höflingen so lustig vor, daß sie sich, mit aller ihrer Höflichkeit, nicht enthalten konnten, den Abderiten überlaut ins Gesichte zu lachen; und die Abderiten, wie sie den ganzen Hof lachen sahen, hielten es für ihre Schuldigkeit mitzulachen. Kassander

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versprach ihnen seinen Schutz, und wies ihnen einen Ort an den Grenzen von Macedonien an, wo sie sich solange aufhalten könnten, bis sie Mittel gefunden haben würden, mit den Fröschen und Ratten ihres Vaterlandes einen billigen Vergleich zu treffen. Von dieser Zeit an weiß man wenig mehr als nichts von den Abderiten und ihren Begebenheiten; doch ist soviel gewiß, daß sie, wenig Jahre nach dieser seltsamen Auswanderung, wieder nach Abdera gezogen; und daß sie die Ratten in ihren Köpfen, die sonst immer mehr Spuk darinn gemacht als alle Ratten und Frösche in ihrer Stadt und Landschaft, allem Vermuthen nach in Macedonien gelassen haben müssen. Denn von dieser Epoche an sagt die Ge-

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schichte weiter nichts von ihnen, als daß sie, unter dem Schutze der Macedonischen Könige und der Römer, verschiedene Jahrhunderte durch ein stilles und geruhiges Leben geführt, und, da sie weder witziger noch dummer gewesen als andre Municipalen ihres Gleichens, den Geschichtschreibern keine Gelegenheit gegeben weder Böses noch Gutes von ihnen zu sagen. * * * Fortsetzung und Beschluß

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Nachschrift des Herausgebers an die sämmtlichen S. T. Herren Nachdrucker im H. R. Reich, in specie die zu Carlsruh und Tübingen. P. P. Die G e s c h i c h t e d e r A b d e r i t e n ist nun hiemit soviel als beschlossen; und e s v e r s t e h t s i c h a l s o v o n s e l b s t , daß die Herren Nachdrucker nunmehr v o l l e M a c h t u n d G e w a l t haben, solches ihres Gefallens, so theuer oder wohlfeil als sie können, nachzudrucken; zumal da verlauten will, daß sie zu ihrem gemeinersprieslichen Institut ausdrüklich p r i v i l e g i e r t seyn sollen. Damit aber wohlbesagte Privilegierte oder Unprivilegierte Herren durch den

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rühmlichen Eifer, ein so lehrreiches, curioses und kurzweiliges Werk, wie diese Abderitengeschichte ist, recht bald in Jedermanns Hände zu spielen — sich nicht etwa übereilen lassen mögen, das Publicum, w i d e r i h r e M e y n u n g , mit einem unbrauchbaren Nachdruk anzuführen; so hält es der Herausgeber für seine Schuldigkeit, sie hiemit dienstfreundlich zu benachrichtigen: daß er binnen 6 oder 8 Monaten eine v e r b e s s e r t e , v e r m e h r t e , u n d , a u s s e r a n d e r n Z u s ä t z e n , m i t e i n e m wo nicht unentbehrlichen, doch zu besserer Verständnis des Werkes diensamen S c h l ü s s e l versehene A u s g a b e , wiewohl ohne Kupfer von Chodowiecky, zu veranstalten entschlossen sey. Ob er nun gleich durch diese Nachricht die weltkündige Freyheit mehrersag-

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ter Herren Nachdrucker, sich aller seiner Schriften (als auf die er bekanntermaaßen sein Eigenthumsrecht durch die Publication verlohren hat) Ihres Gefallens zu bemächtigen, und sie in welchem Format und um welchen Preis Ihnen beliebt, nachzudrucken, keineswegs einzuschränken begehrt: so ist er doch der unmaaßgeblichen Meynung, daß sie, aus schuldiger Achtung gegen dasjenige Publicum, welches Ihren Eifer um die Ausbreitung der Litteratur so rühmlich begünstiget, nicht übel thun würden, besagte neue Ausgabe der Abderiten um so mehr ruhig abzuwarten, da es Ihnen alsdann ein leichtes seyn wird, solche binnen 8 Tagen um halben Preis nachzudrucken, und Ihnen also an ihren Rechten und Emolumenten wenig oder nichts dadurch abgehen kann. Der Herausgeber erwartet übrigens für diesen Avis keinen andern als den

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gewohnten Weltdank, und beharret mit aller Hochachtung die man Privilegierten Leuten schuldig ist, u. s. w. * * * Noch Eins! Es ist doch sonderbar, daß in der Abderitengeschichte der dasigen Nachdrucker mit keinem Worte gedacht wird; und es läßt sich nicht ohne Grund daraus schliessen, daß sich diejenigen irren, welche vorgeben, daß die edle Buchdruckerkunst bey den Abderiten erfunden worden sey. Hätten die Abderiten schon gedrukte Bücher gehabt, so ist gar nicht zu zweifeln, daß sie, nach ihrer bekannten Weisheit, die Nachdrucker auf alle mögliche Weise auf10

gemuntert haben würden; nicht etwa bloß um des kleinen verächtlichen Profits willen etliche Kreuzer zu ersparen: sondern hauptsächlich aus der edlen Absicht, den übermüthigen Schriftstellern zu zeigen, daß man nicht so schwach und einfältig sey, sich ihnen für das Vergnügen und den Nutzen, den man aus ihren Werken zieht, im mindesten verbunden zu halten. — Doch dies nur im Vorbeygehen!

Nachschrift des Herausgebers

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Über ein seltsames Compliment, das der deutschen Litteratur im London Magazine gemacht worden. Vielleicht irre ich mich, — aber wenigstens hat kein unzeitiger Patriotismus, noch ein Vorsatz den Deutschen eine Schmeicheley zu sagen, Theil daran, — wenn mich däucht, die Aufmerksamkeit unsrer Nation auf auswärtige Gelehrsamkeit, und die Sorgfalt unsrer Gelehrten, dem deutschen Publikum immer zuverläßige Nachrichten von dem Zustande der Litteratur und der Künste in dem verfeinerten Theile von Europa zu geben, sey ein verdienstlicher Vorzug, den wir vor den Franzosen, Italiänern, Engländern und der

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ganzen übrigen Welt voraus haben. Es ist schon lange, daß wir von der Geschichte der Philosophie und des Geschmacks bey den drey vorbenamten, ja bey allen übrigen Europäern so viel wissen als sie selbst. Wir kennen den Anfang und Fortgang ihrer Sprache und Litteratur, jeden merkwürdigen Schriftsteller, jedes Werk das auf irgend eine Art Epoke gemacht hat; wir kennen ihre Kunstrichter, und die Geschichtschreiber ihres Parnasses: und wer ist unter uns, der eine gelehrte, oder doch nicht ganz vernachläßigte Erziehung genossen hat, dem wenigstens die Namen der größten Dichter und Prosaisten von Italien, Frankreich, und England, und das Verhältnis eines jeden derselben gegen ähnliche Schriftsteller andrer Nationen, ganz unbe-

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kannt wären? Es mag seyn, daß uns der Vorwurf einer zu grossen Neigung zum Ausländischen nicht ohne allen Grund gemacht wird, und daß wir uns vielleicht weniger um fremde Litteratur bekümmern würden, wenn wir von unsrer eigenen nicht gar zu demüthig dächten. Indessen ist doch schwerlich zu läugnen, daß diese Achtung für den Geist und die Werke fremder Nationen gerade das Gegentheil einer sehr häßlichen, und dem Fortgang der allgemeinen Geselligkeit sehr hinderlichen Untugend ist, nemlich der Verachtung der übrigen Weltbürger neben uns; daß wir dieser Art zu denken grosentheils den Fortschritt unsrer eigenen Litteratur zu danken haben; und daß sie uns we-

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nigstens verhindert, ungerecht gegen andre Völker zu seyn, und uns, durch schiefe und unwissende Urtheile über sie, lächerlich zu machen. Die E n g l ä n d e r mögen immer grose Ursache haben auf ihren B a c o n , ihren M i l t o n , ihren D r y d e n und P o p e , ihren L o c k e und H u m e , und vornemlich auf ihren großen N e w t o n und ihren noch größern S c h a k e s p e a r stolz zu seyn: aber Vorzüge geben kein Recht zur Verachtung Andrer; und es kan einer so aufgeklärten Nation nie zur Ehre gereichen, wenn in ihrem Mittel von der Teutschen, die den Mann hervor brachte, der ihrem Newton die Fakel vortrug *), wie von einer Horde von Barbaren gesprochen wird, welche 10

nur eben aus dem langen Schlafe der Unwissenheit und Dummheit aufgewacht, Augen und Ohren, Hände und Füsse zu versuchen anfiengen, sich aber gleichwol so dabey gebehrdeten, daß man gute Hofnung schöpfen könne, sie würden mit der Zeit so ziemlich den übrigen Menschen ähnlich sehen. Was mir zu dieser Betrachtung den nächsten Anlaß gegeben hat, ist ein Aufsatz in L o n d o n M a g a z i n e , M a y 1773, unter der Rubrik: V e r s u c h ü b e r d i e l ä n d l i c h e P o e s i e , worinn ein sich so nennender M u s i d o r u s die Teutschen als ein Beyspiel aufstellt, was der Geist einer aus der Barbarey erwachenden Nation für einen Schwung zu nehmen pflege. Ich ziehe nicht gerne unbestimmte Sätze aus einem einzelnen Falle, wie viele der neuesten

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Philosophen unsrer westlichen Nachbarn zu thun gewohnt sind; und noch weniger möchte ich die Unwissenheit eines Einzigen einer ganzen Nation vorrücken. Aber mich däucht, wenn mitten in London, in einem öffentlichen, in Jedermanns Hände kommenden Journale, an welchem Gelehrte von allen Arten Antheil haben, von einer Nation, die schon lange genug mit der Englischen in nähern Verhältnissen steht um ihr nicht mehr unbekannt zu seyn, so gesprochen wird, wie dieser Musidorus spricht: so kann man, ohne sich zu versündigen, voraus setzen, daß man sich in England um den Zustand der Gelehrsamkeit der besagten Nation kaum so viel bekümmere, als man sich bey uns um die Litteratur der Lappen und Kamtschadalen bekümmert. Hören wir

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doch, was dieser Musidorus von uns sagt! Zuförderst offenbaret er seinen Lesern: „er habe jederzeit bemerkt, (und er ist wohl nicht der erste, der so was gemerkt hat,) daß in jedem Lande, w o der Geschmack seinen goldenen Saamen auszustreuen beginne, *)

J o h a n n K e p l e r , Mathematicus der Kayser R u d o l p h I I . und M a t t h i a s .

Über ein seltsames Compliment

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und die feinere Gelehrsamkeit über die Ruinen der Gothischen B a r b a r e y e m p o r s t e i g e , die Poesie allemal i h r e e r s t e E r s c h e i n u n g i n e i n e m K l e i d e v o n m u s i k a l i s c h e r P r o s a g e m a c h t h a b e ; welche musikalische Prosa Er (unmittelbar vorher) j e n e s a n f t e , h a r m o n i ö s e , h a l b - e p i s c h e , h a l b - s c h ä f e r i s c h e P o e s i e nennt, die mit so gutem Glükke von den Italiänischen B a r d e n der beyden lezten Jahrhunderte getrieben, und hernach durch die blühende Phantasie des e l e g a n t e n F e n e l o n ungemein vervollkommet worden sey; und welche er, obiger Ursache wegen, die Sprache der Natur zu nennen pflege. — Um diese Behauptung zu bestärken (fährt er fort) laßt uns nur unsre Nachbarn, die Deutschen, ansehen. Diese

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alle, in dem finstern und abscheulichen Arbeiten juristischer und mönchischer Gelehrsamkeit lange versunkene, und allen Überbleibseln der Ungeschliffenheit ihrer barbarischen Voreltern hartnäckig anhangende Nation hat endlich ihren Klöstern und Schulen gute Nacht gegeben, und die C e l l e d e s H e i n e c c i u s (risum teneatis, amici) mit dem Schreine des Apollo vertauscht. Viele von ihren Barden haben (um ihre eigenen Worte zu gebrauchen) das leichte Rohr zu stimmen versucht, und Alle haben zuerst um die Gunst der ländlichen Muse gebuhlt. G e ß n e r s simple Dichtart (da haben wir unsern Geßner mit einem Worte herrlich charakterisirt) ist unsern Landsleuten bereits wohl bekannt, und wird allgemein bewundert; und wären die poetischen

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Werke seiner Zeitgenossen eben sowohl in England bekannt, so bin ich gewiß ( i c h , w a r l i c h , n i c h t ! ) sie würden mit allem Beyfall, den sie verdienen, aufgenommen werden. B o d m e r , B r e i t i n g e r , K l e i s t , K l o p s t o c k , W e i l a n d sind ehrwürdige Namen, wo man sie kennt.“ Was der ehrliche Musidorus sich für eine Vorstellung von uns armen Germanen macht! Der gute H e i n e c c i u s , der die Sprache der Römer so schön schrieb, mit ihren claßischen Schriftstellern so vertraut war, und so viel beytrug, die Barbarey aus den Schulen der Themis verbannen zu helfen, wie kömmt wohl dieser dazu, als ein furchtbarer Tribonianischer Popanz dargestellt zu werden, aus dessen dumpfer Höhle wir armen Hirtendichter allzumal uns in die Nische des Apollo ( t h e s h r i n e o f P h o e b u s , denn Herr Musidorus spricht durchaus m u s i k a l i s c h e P r o s a ) geflüchtet haben? Doch, es wäre lächerlich über diese ganze Stelle Anmerkungen machen zu wollen. Der Mann mußte wohl sehr wenig von der Nation, von der er spricht, wissen, der nicht wußte, wer Hagedorn, Gleim, Utz und Gellert ist, dem sogar

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1774)

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R a m m l e r und L e ß i n g unbekannte Namen sind, und der, um etliche wenige Namen zusammenzubringen, sogar B r e i t i n g e r n , der zwar ein Lehrer unsrer meisten Dichter, aber niemals selbst Dichter gewesen ist, veluti Iudaeus, nöthigt, in hanc concedere turbam. Indessen verdient Musidorus doch immer für seinen guten Willen Dank. Denn daß er uns Ehre hat erweisen wollen, dies sieht man offenbar; und (wenn mich die besondere Wendung seiner lezten Periode nicht auf eine irrige Vermuthung bringt) so meynt er es wohl gar so gut mit uns, daß es ihn verdrossen zu haben scheint, daß vielleicht die Englischen Kunstrichter (die im Durch10

schnitt genommen, ungefehr eben solche Leute sind, wie die unsrigen) vor dem einen oder andern von den respectablen Dichtern, die er nennt, wenigstens vor dem sogenannten W e i l a n d , nicht völlig so viel Respect haben, als er glaubt, daß ihm gebühre. Ob die Schuld hievon an den englischen Ü b e r s e t z u n g e n , oder an den K u n s t r i c h t e r n , oder an W e i l a n d s e l b s t liege, wird die Zeit lehren. W.

Über ein seltsames Compliment

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Druckfehler. S. 1, 49, 65, 81, 97 muß die Signatur der Bogen in F ü n f t e n B a n d e s 1 s t e s S t ü c k verwandelt werden.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1774)

Der Teutsche Merkur. Des Fünften Bandes Zweytes Stück. Februar 1774. Weimar, bey Carl Ludolf Hoffmann.

¼Poesien*) …½

*) Die folgenden drey Stücke sind von eben dem ungenannten jungen Frauenzimmer, deren erste Versuche im 3ten Stücke des 3ten B. vom Merkur 1773, so viel ich weiß, mit vielem Vergnügen gelesen worden. Sie hat die Gütigkeit gehabt, dieses Geschenke mit einem Briefe zu begleiten, worinn sie mir ankündigt, daß sie sich, seit dem sie jene Lieder gesungen, unter den Schutz der Ehestifterin Juno begeben habe, und der Würde ihres nunmehrigen Standes gemäß finde, künftig entweder gar nicht mehr, oder allenfalls nur Wiegenlieder zu singen. Übrigens hat es ihr beliebt, ihren Namen noch immer sorgfältig vor mir zu verbergen, und sie sezt mich dadurch in die Nothwendigkeit, Ihr den Irthum, worinn Sie in Ansehung meiner ist, öffentlich zu benehmen, und Sie zu versichern, daß ich mich bereits über sieben Jahre in dem Falle befinde, von den Glückseligkeiten des häuslichen Standes zu singen, wenn ich sie nicht für eine Art von M y s t e r i e n hielte, an denen man nur die I n i t i i r t e n Antheil nehmen lassen muß.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1774)

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¼Die Freuden des Landlebens * ). Eine Umschreibung der zweyten Epode des Horaz. Wie glüklich ist, wer fern von Neid, Entfernt vom städtischen Getümmel, Vom schnöden Eigennuz befreyt, Umwölbt von einem reinern Himmel, Mit eignem Stier die angeerbte Flur Bebaut nach alter Väter Sitte: 10

Ein froher Zögling der Natur, Und Fürst in seiner niedern Hütte! In dessen Brust kein kriegrisch Feuer glüht; Der, wenn des wilden Meeres Wellen

*) Dieses Stück ist mir von einem Ungenannten zugeschickt worden der mir sonst nichts von sich selbst entdeckt, als daß er sich erst in seinem sechzehnden Jahre befindet, und zu wissen begierig ist, ob die Kenner finden werden, daß er Aufmunterung verdiene, oder ob er es bey diesem ersten Versuche bewenden lassen solle? Wenn ich bey diesem Gericht eine Stimme hätte, so würde ich ihn aufmuntern, noch mehr Versuche zu thun, aber sich dabey 20

hauptsächlich das inutiles falce ramos amputans, feliciores inserit, empfohlen seyn zu lassen, auch unter anderm dahin zu sehen, daß ihn der Reim niemals nöthige, was er sonst kurz und stark hätte sagen können, matt und wäßrig vorzutragen, oder Verse einzuschieben, die bloß darum da stehen, um auf einen vorgehenden Vers zu reimen, und deren etliche wegzustreichen ich die Freyheit genommen habe. Wegen andrer Veränderungen und einiger Zusätze habe ich wohl nicht nöthig um Entschuldigung zu bitten, da sie dem jungen Dichter vielleicht mehr Dienste leisten können als eine Kritik, welche nicht zeigt wie man besser machen soll. D. H.

¼Anmerkung: Catel½ D i e F r e u d e n d e s L a n d l e b e n s

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Bald thürmend himmelan sich schwellen, Bald Schiff und Mann des Meeres Schlund begräbt, Vor Wellen und vor Meer nicht bebt: Der sich nicht vor den Großen schmieget, Noch Tag und Nacht auf Gönner Schwellen lieget: Ein solcher ist beglückt, dreimal beglückt! Sein sind des Landmanns Freuden! Ihn entzückt Das liebliche Geschäft, um stolzer Pappeln Rinden Den schlanken Weinstock zu umwinden, Und mit gekrümmtem scharfen Stahl

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Die dürren Zweige, die nicht taugen, Herab zu haun, und dann an ihrer Statt Fruchtbare Knospen einzuaugen. Wer hat das Glück, das unser Landmann hat, Wenn er im krummen Thal Die muntre Heerde weiden siehet, Ihr Blöken hört, wenn sie nach Hause irrt, Wenn Abendroth den Himmel überziehet, Der Tag sich neigt, die ganze Gegend glühet, Und jezt in Thetis Schoos die Sonne sinken wird?

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Wenn er die Arbeit seiner Bienen, Den Honig, den ihr Fleis gesammelt und gespart, In reinen Krügen aufbewahrt, Zum süßen Labsal ihm zu dienen; Wenn er das Schaaf, still, unbewehrt Auf seinem Schoose liegend scheert? Und — wenn der Herbst, sein Haupt mit reifen Obst bekränzet, In unsre Thäler lacht, auf unsre Fluren glänzet, Die Traube färbt, die göldnen Äpfel reift Und Bacchus und Pomonens Schätze In Kellern und auf Böden häuft — Wie freut er sich, wenn er des Baumes Früchte bricht Den seine Hand gepflanzt, begossen, Wenn er die erste Traube bricht Die an dem Stok, den er gesenkt, entsprossen,

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1774)

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Und mit dem Purpur um den Vorzug ficht. Ihm beut, wenn er nach Einsamkeit sich sehnet, Der stille schattenreiche Wald Den freudenvollsten Aufenthalt. Da athmet er, am Eichenstamm gelehnet, In sich gekehrt, die reinste Luft, Heilsamer Kräuter süßen Duft; Hört, wie verliebt die Turteltaube stöhnet, Und durch die Dämmerung der Nachtigallen Lied 10

Aus allen Zweigen wiedertönet. Ihn wiegt des Baches sanftes Säuseln, Der Silberwellen plätschernd Kräuseln, Der schäumende, der rauschende Cristall, Der sich im hohen Wasserfall Von Felsenspitzen stürzt, in süße Träume ein: Wenn er auf grüne Matten hingestrecket, Die tausend Blumen überstreun, Vom Schatten einer Linde überdecket In deren Zweigen sich ein Hänflings-Chor verstecket,

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Dem Abendroth, das an dem Himmel glüht, Mit frohen Blick entgegen sieht.

Und wenn der Winter Baum und Wald entlaubet, Die Felder ihres Schmucks beraubet; Wenn Boreas mit kalter Hand Die regenschwangre Urne schwinget Wenn Grün und Reiz von Wies und Flur verschwand: Wenn blendend Weis den Bach, die Felder decket, Der Baum die eisbeschwerten Zweige strecket, Der Tag sich in die Nacht verliert: 30

Kurz, wenn der winterliche Zevs regiert, Jagt er, mit abgerichten Meuten, Ins aufgestellte Garn das wilde Schwein: Weis Leim und Netze zu bereiten, Legt Schlingen, schleifet Knoten ein,

¼Anmerkung: Catel½ D i e F r e u d e n d e s L a n d l e b e n s

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Gefräs’ge Drosseln drinn zu fangen; Die süssen Vögelchen, die Lerchen, scheucht Er in die Stufennetze, beugt Ihr zartes Hälschen um, wenn sie noch zappelnd hangen; Den flücht’gen Haasen, den sein Schuß erreicht, Den Kranich, der aus ungemeßner Weite In langen Reihen durch die Lüfte zieht; Bringt er — die angenehmste Beute — Nach Haus. — Sein ruhiges Gemüth Kennt nicht der harten Liebe Qualen, flieht

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Die Sorge, welche oft des Reichen Stirn umzieht: Wenn eine keusche Gattin ihn beglücket, Die süssen Kinder ihm erzieht, Sein Lager, seinen Tisch mit frischen Blumen schmücket; Und ihn mit ihrem Kuß entzücket, Wenn er, von seinem Raub beschwert, Auf seinen sichern Stab gebücket, Mit schnellem Schritt nach Hause kehrt.

Indeß er Wald und Feld durchstreifet, Und flüchtig Wild erleget, häuffet

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Die Gattin, auf dem heil’gen Heerd Das trockne Holz, um, wenn er wiederkehrt, Ihm lodernd Feuer anzufachen. Sie schließt das satte Vieh in sichre Hürden ein: Melkt ihre Schafe, schöpft den heur’gen Wein Aus süssem Faß, und weiß ihr kleines Mahl Den Götterschmäusen gleich zu machen. Die ungewürzte Kost, die ihren Tisch bedeckt, Ist ihm Ambrosia. Dem ekeln Sultan schmeckt Das köstlichste Gericht aus einer fernen Zone Gewiß nicht halb so gut, als unserm Erdensohne Des Ölbaums süsse Frucht, die er mit äms’ger Müh Vom reichbeladnen Baume las: Und Kräuter, die sein Söhnchen früh

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Im nahen Hayn, aus dem bethauten Gras Und auf dem schrägen Hügel las, Und kömmt, des Weltgetümmels satt, Ein Freund zu ihm, um fern von Hof und Stadt Des Lebens einmal zu geniessen; Dann schlachtet er, den Gastfreund zu begrüssen, Ein zartes Lamm, der Mutter kaum entrissen, Ein jährig Kalb, das noch kein Joch gedrückt, Ein Böckchen, das er selbst dem Zahn 10

Des raubbegier’gen Wolfs entrückt, Und seines Hofes Zier, den wachen Hahn. Und, o! wie freut er sich, an seines Freundes Brust Die Abendstunden zu durchwallen! Sie horchen mit getheilter Lust Dem Abendlied der Nachtigallen; Sehn wie, mit süsser Milch beschwehrt, Das satte Vieh zum Stalle wiederkehrt, Und um die Mutter her die kleinen Lämmer springen, Und winken fern dem Hirten zu,

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Der sie begaft, sein Liedchen fortzusingen. Und welch ein Anblick, welch ein Mahl Für sein zufriednes Herz, wenn er beym Abendstrahl Umwölbt von blauer Luft, die, gleich dem reinsten Spiegel, Kein Wölkchen trübt, von einem freyen Hügel Sein Eigenthum, wie es im Abendschimmer glüht, Sein ganzes Glück, wollüstig übersieht! Dann spät zurücke kehrt, und sieht die Mitgenossen Von seiner Arbeit, seinem Glück, Gelagert um den Heerd, sieht wie ihr froher Blick

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Ihn seegnet, — sieht wie ihm die anmuthsvollen Sprossen, Die Kinderchen, so blühend, so gesund, So lebensfroh! in lieblichen Gewimmel, Entgegen laufen — hört aus jedem kleinen Mund Der Namen süssesten — erinnert dann mit Lust Der eignen Kindheit sich bey ihrem Lustgetümmel,

¼Anmerkung: Catel½ D i e F r e u d e n d e s L a n d l e b e n s

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Sieht, seines ganzen Glücks sich inniglich bewußt, Dann ihre Mutter an, sieht seinen irdschen Himmel In ihrem Aug’, aus dem sich eine Thräne schleicht, Und küßt die Thräne weg — o sagt, ist unterm Himmel Ein ander Glück, das diesem Glücke gleicht?

Von einem Ungenannten.½

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1774)

¼Von Bildung des moralischen Charakters in Schulen* ) …½

*) Dieser Aufsatz ist von dem Verfasser der B e y t r ä g e z u r a l l g e m e i n e n N a t u r l e h r e ; und ist bey Gelegenheit der vortreflichen Churmaynzischen neuen Schulanstalten entstanden. Übrigens ist hier die Rede von Kindern zwischen 10 und 15 Jahren.

¼Anmerkung: von Dalberg½ V o n B i l d u n g d e s m o r a l i s c h e n C h a r a k t e r s

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Druckfehler. S. 193. Zeil. 4 von unten, statt w a r u m d i e u n e r k a n n t e lese man, w a r u m sie die unerkannte.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1774)

Der Teutsche Merkur. Des Fünften Bandes Drittes Stück. März 1774. Weimar, bey Carl Ludolf Hoffmann.

Von schönen Seelen. Was ich unter einer s c h ö n e n S e e l e verstehe, mein lieber *** ? Sie haben meine Schriften gelesen; Sie kennen P a n t h e a , P s y c h e , D a n a e und O l i n d e ; (von dem schönen C o m b a b u s , der gewiß eine so schöne Seele hatte, als jemals der Günstling eines Königs und einer Königin gehabt hat, nichts zu sagen) und Sie können problematisch finden, was ich unter einer s c h ö n e n S e e l e verstehe? Doch, vergeben Sie mir; ich besinne mich! Sie haben ein Privilegium, von mir zu urtheilen, ohne mich gelesen zu haben. Denn sind Sie nicht mein Recensent? Und was würde aus den meisten Recensenten werden, wenn sie alle

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die Bücher gelesen haben müßten, über welche sie bald mit höllenrichterlichem Ernst, bald mit scurrilischen Muthwillen Urtheil sprechen? — Es versteht sich, daß ich unter lesen recht lesen meyne; denn Männer spielen nicht mit Worten. Ich will mich also bemühen, Ihnen aus Büchern, die Sie gelesen haben, begreiflich zu machen, was ich unter einer schönen Seele verstehe. Ich will Sie nicht auf den Begriff der Sokratischen K a l o k a g a t h i e , noch auf C i c e r o n s Beschreibung der Seelenschönheit (Tuscul. IV. 13.) verweisen. Beyspiele mahlen oft mit einem einzigen Zug unsre Begriffe besser als schwankende Schulerklärungen. Sie haben die C y r o p ä d i e

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gelesen *)?

— Es ist ein vortrefliches Buch, wie

Sie wissen; eines von denen, worinn man nicht zu oft lesen kann, weil man es *)

Ich finde im 19. B. der A l l g e m . d e u t s c h . B i b l i o t h e k S. 263. in einer Recension, welche

für ein Modell von P e r s i f l a g e , wie es izt in Recensionen Mode ist, gelten kann, etwas von S ü ß l i n g e n d e r n e u e n S c h ä f e r t u g e n d geschwazt, d e n e n d e r N a m e X e n o p h o n s o s ü ß k l i n g e n s o l l . Ich weiß zwar eben so wenig, wer diese S ü ß l i n g e seyn sollen, als ich begreife, daß es wohlgethan sey, den großen Haufen der Leser durch solche schielende Urtheile in Ungewißheit und Verwirrung zu setzen. Aber natürlicher Weise besitze ich Eigenliebe genug, zu glauben, daß mich niemand unter die Süßlinge der neuen Schäfertugend zählen werde, weil ich den Xenophon von meiner Jugend an gerne gelesen habe, und bey jeder Gelegenheit wünsche, daß er eines von den Handbüchern der jungen Leute, und besonders der jungen Schriftsteller, unter uns seyn möchte.

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nie aus den Händen legt, ohne weiser und besser dadurch geworden zu seyn. Ich, meines Orts, gestehe Ihnen, daß ich es noch besonders liebe, weil ich ihm die Genesung meiner Seele von der gutartigen *) aber gefahrvollen Schwärmerey meines zwey und zwanzigsten Jahres zu danken habe. Aber diese Anekdote erzähle ich Ihnen vielleicht ein andermal. Sie erinnern sich also wohl, aus der Cyropädie, der j u n g e n G e m a h l i n des T i g r a n e s , dieses liebenswürdigen Prinzen, dessen Klugheit und edle Gesinnungen zu eben der Zeit, da sie ihm die Hochachtung und das Vertrauen des Cyrus erwarben, seinen Vater und sein ganzes Haus vom Untergang ret10

teten? C y r u s hatte mit dem überwundnen Könige von Armenien, dem Vater des Prinzen, von dem Lösegeld gesprochen, welches er für die Zurückgabe seiner Gemahlin und Kinder zu geben gedächte. Darauf wendte er sich an den Tigranes; „und wie viel würdest du geben, um deine Gemahlin wieder zu bekommen?“ (Man muß aber wissen, sagt Xenophon, daß Tigranes erst seit kurzem vermählt war, und seine junge Frau aufs zärtlichste liebte.) Ich, sagte der Prinz, ich würde sie mit meiner Seele loskaufen, eh ich zugeben wollte, daß ein so trefliches Geschöpf dienen sollte. Cyrus fand, daß das Recht eines solchen Liebhabers besser sey als das Recht des Überwinders, und gab sie ihm auf eine sehr edle Art wieder. Er that noch mehr; er machte den Armenier aus

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einem unwilligen Vasallen zu einem dankbaren Freunde; schloß einen neuen Vertrag mit ihm, stellte seine Familie unentgeltlich auf freyen Fuß, und beschloß die Scene mit einem freundschaftlichen Gastmal. An alle diese Umstände mußt’ ich Sie erinnern, um das was folget verständlich zu machen. Denn nun kommen wir zur Sache. Wie die Armenier mit ihren Weibern nach Hause fuhren (sagt Xenophon) so machte Cyrus unterwegs den einzigen Inhalt ihres Gespräches aus. Der eine erhob seinen Verstand, der andre seine Tapferkeit, der dritte seine Leutseligkeit, und noch jemand zuletzt seine Schönheit und stattliche Figur. Hier wandte sich Tigranes an seine junge Frau; „sage mir, meine Liebe, ist dir Cyrus auch so schön vorgekom-

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men?“ — W a h r h a f t i g , antwortete sie, i c h h a b’ i h n n i c h t a n g e s e h e n . — „Und wen sahest du denn an?“ — „ W e n a n d e r s h ä t t e i c h a n s e -

*)

So gutartig nemlich als Schwärmerey seyn kann; denn unter andern hatte sie den Fehler,

daß sie mich u n d u l d s a m machte; und dies ist doch wohl kein gutartiges Symptom dieser Seelenkrankheit.

Von schönen Seelen

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hen können, als den, welcher sagte, daß er seine Seele geben w ü r d e , u m m i c h v o n d e r D i e n s t b a r k e i t l o s z u k a u f f e n , “ erwiederte die junge Frau. Nun sage ich, vorausgesetzt, daß es keine Grimasse sondern Empfindung war, was sie da sagte: d i e s e j u n g e F r a u w a r e i n e s c h ö n e S e e l e . In eben dieser Stelle der Cyropädie werden Sie eines W e i s e n Erwähnung gethan finden, der ehemals die Stelle eines Hofmeisters bey dem Prinzen von Armenien vertreten hatte. Cyrus, der ihn vermißte, fragte den Tigranes nach ihm. „Hat ihn nicht mein Vater hier hinrichten lassen? —“ antwortete der Prinz. Was hatte er denn Übels gethan, sagte Cyrus. „Mein Vater beschuldigte

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ihn, daß er mich verführe. Und gleichwohl, mein bester Cyrus, war es ein so guter, so rechtschaffener Mann, daß er mich noch unmittelbar vor seinem Tode zu sich bitten ließ, um mich zu beschwören, daß ich meinen Vater seine Hinrichtung verzeihen sollte.“ „ E r t h u t e s n i c h t a u s b ö s e m H e r z e n , s o n d e r n w e i l e r n i c h t w e i ß w a s e r t h u t , sagte er. W a s a b e r d i e M e n schen aus Unwissenheit sündigen, das nehme ich ihnen so auf, a l s o b s i e e s w i d e r i h r e n W i l l e n t h ä t e n . —“ Wie schade für einen solchen Mann! rief Cyrus. D i e s e r M a n n , mein lieber ***, h a t t e , w a s i c h e i n e s c h ö n e u n d z u gleich eine große Seele nenne.

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Noch ein Beyspiel aus meinem Liebling Xenophon! Sie kennen seine P a n t h e a , die reitzende und tugendhafte Gemahlin des Königs von Susiane, A b r a d a t e s . Es ist augenscheinlich, daß Xenophons Absicht war, in dieser Panthea das I d e a l einer a n L e i b u n d S e e l e s c h ö n e n F r a u zu schildern; wenigstens gesteh ich Ihnen, daß mein Kopf und mein Herz mit zusammengesetzten Kräften sich kein vollkommeneres Weib denken können. Sie war unter den Gefangenen, welche Cyrus in einem wider den König von Assyrien gewonnenen Treffen gemacht hatte. Cyrus übergab sie dem A r a s p e s , einem jungen Officier den er liebte, zur Bewahrung und Aufsicht, nachdem er ihm die ganze Wichtigkeit des Gutes das er ihm anvertraute vorgestellt hatte. Sie wurde nach einem festen Schlosse gebracht, und Araspes leistete ihr da Gesellschaft. Nun begegnete dem guten Jüngling wider Verhoffen etwas menschliches. Er wurde in die schöne Panthea verliebt, und es kam endlich so weit mit ihm, daß er sich gezwungen fand (sagt Xenophon) sie um etwas anzusprechen, das ihm die schöne Panthea, weil sie ihren abwesenden Gemahl inniglich lieb-

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te, nothwendig abschlagen mußte. Gleichwohl wollte sie beym Cyrus noch keine Klage deswegen führen, weil sie den jungen Mann nicht in Gefahr setzen wollte, einen Freund zu verliehren. Aber da der Unglückliche, selbst von seiner Leidenschaft überwältiget, anfieng mit Gewalt zu drohen, säumte sie sich nicht dem Cyrus wissen zu lassen, was für einem unzuverläßigen Hüter er sie anvertraut habe. Cyrus berief sogleich den Araspes zu sich, und fand ein Mittel ihn mit guter Art von Panthea zu entfernen. Diese Prinzeßin benachrichtigte inzwischen ihren Gemahl von allen Verbindlichkeiten, die er in Rücksicht ihrer dem edelmüthigen Cyrus schuldig 10

war, und rieth ihm sich je bälder je lieber von der assyrischen Parthey loßzumachen, und der Freund eines Fürsten zu werden, der durch seine Weisheit und Güte mehr Eroberungen machte, als durch seine Waffen. Abradates folgte dem Rathe seiner Gemahlin; und die schöne Panthea, indem sie ihren Geliebten wieder umarmte, genoß das Vergnügen, die Stifterin einer schönen Freundschaft zu seyn, und dem Cyrus sein großmüthiges Betragen gegen sie auf eine edle Art vergolten zu haben. Bald darnach kam es zwischen diesem Prinzen und dem König Crösus zu einer entscheidenden Schlacht. Panthea hatte ihrem Abradates in Geheim eine schöne goldne Waffenrüstung verfertigen lassen; und nun da er sich zum Treffen anschickte, überraschte sie ihn

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damit unverhoft. Abradates bezeugte ihr ein angenehmes Erstaunen darüber, daß sie sich ohne Bedenken hatte entschliessen können, ihre kostbarsten Sachen aufzuopfern, um sie in einen ritterlichen Schmuck für ihren Mann zu verwandeln. „ H a b e i c h e i n e n a n d e r n v o n n ö t h e n a l s d i c h , erwiederte ihm Panthea; u n d w o m i t s o l l t’ i c h m e h r p r a n g e n , a l s w e n n d i c h j e d e r m a n n m i t m e i n e n A u g e n a n s i e h t ? “ Indem sie dies sagte, legte sie ihm die schönen Waffen an; aber, wiewohl sie es zu verbergen suchte, schlichen sich doch Thränen ihre Wangen herab. Abradates, der an sich selbst einer der schönsten Männer war, sah nun in dieser prächtigen Rüstung so reitzend und edel aus, daß man die Augen nicht von ihm verwenden konnte. Er hatte

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schon die Zügel in den Händen, und war im Begriff seinen Streitwagen zu besteigen, als Panthea allen Anwesenden sich zu entfernen winkte, und mit diesen Worten, die der edelsten Spartanerin würdig waren, Abschied von ihm nahm: „Abradates, sprach sie, wenn jemals ein Weib ihren Mann werther als ihre eigene Seele hielt, so weißt du, ob ich eine von diesen Weibern bin! Wozu sollte ich viel Worte machen? Ich glaube dich durch meine Handlungen besser

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davon überzeugt zu haben, als durch alles, was ich jetzt sagen könnte, geschehen würde. Aber, wiewohl ich so für dich gesinnt bin wie du weißt, so schwör’ ich doch bey deiner und meiner Liebe; daß ich lieber neben dir, als einem tapfern Manne, von gemeinschaftlicher Erde bedeckt liegen, als, wenn du ohne Ehre zurück kämest, ehrlos mit einem ehrlosen leben wollte. So denk ich, und so muß ich denken, wenn ich dich und mich den Besten unter den Sterblichen gleich schätze. Überdies, welchen Dank sind wir nicht dem Cyrus schuldig, der, da mich der Kriegsglück zu seiner Sclavin machte, anstatt sich dieses Vortheils wider meine Ehre bedienen, mein Beschützer wurde, und mich dir wie das Weib seines eigenen Bruders aufbewahrte? Können wir zu-

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viel für den großmüthigen Mann thun, der soviel für uns gethan hat?“ Wer müßte der gewesen seyn, den eine solche Frau — in dem Augenblicke, da er von ihr schied, um sie vielleicht nie wieder zu sehen — nicht begeistert hätte? Mit Bewundrung und Entzücken legte Abradates seine Hand auf ihr Haupt, sah gen Himmel auf, und betete: „Laß mich, o großer Oromasdes, laß mich durch Thaten zeigen, daß ich würdig bin, der Mann dieser Panthea, und der Freund eines Cyrus zu seyn!“ Mit dem lezten Wort entriß er sich ihren Armen, stieg den Wagen hinauf, und die Thüre ward hinter ihm zugeschlossen. Panthea, da sie ihn selbst nun nicht mehr erreichen konnte, folgte dem Wagen so lange, bis Abradates, da er es gewahr wurde, sie bat, gutes Muthes zu

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seyn, und sich zu entfernen. Xenophon mahlt seine Bilder selten oder niemals aus, wie sie wissen. Es sind nur leichte Umrisse. Aber, o! wie viel mehr sind diese Umrisse werth als die Gemählde von tausend andern, und wie groß ist nicht oft die Würkung eines einzigen Zugs! In der That (sagt er) machte Abradates und sein Wagen einen schönen Anblick; aber niemand hatte Augen für ihn, bis Panthea weggegangen war. Abradates überlebte die Schlacht nicht; aber sein Muth hatte sie gewinnen helfen, und er starb einen edeln Tod. Die Eroberung von Sardes, welche die unmittelbare Frucht dieses Sieges war, beschäftigte den Sieger so sehr, daß ein paar Tage hingiengen, eh er sich des unglücklichen Prinzen erinnerte. Wo ist Abradates, fragte Cyrus endlich. Man sagte ihm, daß er in der Schlacht umgekommen sey; und seine Gemahlin (sezte einer von den Bedienten hinzu) hat seinen Leichnam aufgesucht, und auf ihrem eigenen Wagen mit sich hieher irgendwo an den Fluß Paktolus gebracht; und während daß ihre Bedienten und Verschnittne sein Grab graben, sizt sie auf der Erde, sein Haupt auf ihren

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Knien haltend, nachdem sie allen ihren Schmuck abgerissen, um ihn damit zu schmücken. Cyrus eilt an den Ort dieses traurigen Schauspiels; aber wie er die schöne Unglückliche, den Leichnam in ihrem Schoos liegend, auf der Erde sitzen sieht, bricht ihm sein männliches Herz; seine Thränen fallen auf den Leichnam herab. — Du edle und getreue Seele, ruft er, so bist du gegangen, und uns hast du zurückgelassen! — Er will ihn mit diesen Worten bey der Hand nehmen, und die Hand bleibt in der seinigen; denn sie war mit einem Egyptischen Säbel abgehauen worden. Dieser Umstand vermehrte den Schmerz des Cyrus; 10

die Unglückliche schrie laut, nahm die geliebte Hand aus des Cyrus seiner, küßte sie, und fügte sie wieder an, so gut sie konnte. — „So ist alles übrige zugerichtet, sagte sie. Aber wozu solltest du es sehen? — Und ich; ich weiß, daß ihm alles dies um meinet willen wiederfuhr! — Ich Thörin war es, die ihn anreizte, alles zu wagen, um sich als deinen Freund zu beweisen, und deine Hochachtung zu verdienen. Und o! ich bin gewiß, er dachte nicht an das, was ihm begegnen könnte, sondern bloß, was er thun wollte, um sich dir angenehm zu machen! — Und so gab er, ohne es zu bereuen, sein Leben hin — und ich, ich sitze hier neben ihm und athme!“ Cyrus antwortete ihr eine Zeitlang nur mit Thränen. Endlich, da er wieder

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Worte fand, bemühte er sich, sie durch die einzigen Vorstellungen, die ihre Seele in einem solchen Zustand ertragen konnte, aufzurichten. Zugleich ließ er alles vor ihr ausbreiten, was er zur Ausschmückung des Leichnams und zu einer prächtigen Bestattung herbeyzuschaffen befohlen hatte. Und denke nicht, sagte er, daß du nun verlassen seyest. Ich ehre deine Keuschheit, deine ganze Tugend; ich werde nie aufhören, dir Beweise davon zu geben; und überdies will ich dich einem von den Meinigen empfehlen, der dich begleiten soll, wohin du selbst verlangst. Sage nur, zu wem du gebracht werden willst? Sey ruhig, Cyrus, versetzte Panthea; ich werde dir nicht verbergen, zu wem ich gehen will.

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Cyrus mußte sie verlassen. Er gieng (sagt Xenophon) und ihn jammerte des Weibes, die einen solchen Mann verlohren hatte; und des Mannes, der eine so vortrefliche Frau sein eigen genannt hatte, und nun nicht mehr sehen konnte. Aber Panthea befahl den Verschnittenen sich zu entfernen; bis ich mich recht satt über ihn geweint habe, sprach sie. Ihre Pflegmutter bat sie zu bleiben. Wenn ich tod bin, sagte Panthea zu ihr, so hülle ihn und mich in das nehmliche

Von schönen Seelen

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Tuch. Die Unglückliche fiel ihrer Königin zu Füssen, flehte ihr, keinen solchen Gedanken Raum zu geben. Aber Panthea durchbohrte sich die Brust mit einem Dolche, den sie schon lange zu diesem Gebrauch bey sich trug, legte ihr Haupt auf ihres Mannes Herz, und starb. Haben Sie wohl acht gegeben, mein lieber *** ? Ich ersuche Sie darum, lesen Sie diese Geschichte noch einmal, und wenn Sie Griechisch können, lesen Sie solche im Original; denn Xenophon ist unübersetzlich; er sagt immer mit drey Worten, was ich auf teutsch mit dreymal soviel sagen müßte. Betrachten Sie diese Panthea recht genau, Zug vor Zug, und dann lassen Sie Sich sagen: diese Panthea nenn’ ich eine schöne Seele. — Wenn Sie es nicht auch so fühlen, so kann ich nichts dazu; und wenn Ihre Moral Sie daran verhindern sollte, — desto schlimmer für Ihre Moral! W.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1774)

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Raisonnirendes Verzeichniß neuer Bücher aus allen Wissenschaften*). ¼…½

*) Jedem Bande des teutschen Merkurs will man in Zukunft ein solches Verzeichniß beyfügen. Weder kritische Wälder, noch magere Inhaltsanzeigen, sondern r a i s o n n i r e n d e s V e r z e i c h n i ß soll es seyn; nicht um der Gelehrten, sondern um der Dilettanten willen: wiewohl jene in den Fächern, wo auch sie nur Dilettanten sind, vielleicht ihre Rechnung finden werden. Man hofft, jährlich etwas Vollständiges liefern zu können; doch wird man Bücher, die 10

weder kalt noch warm, d. i. mittelmäßig sind, hier vergebens suchen. Was gut und vortreflich ist, soll empfohlen, und was schlecht und elend, zur Warnung des Publikums ausgezischt werden. Die Wissenschaften, die diesmal leer ausgehen, sind schon für die Zukunft besorgt. Der Herausgeber des Merkurs hat diesen Artikel einigen Gelehrten überlassen, auf welche er ein desto gegründeteres Vertrauen sezt, da sie sich im Besitz einer wohlerworbenen Achtung des Publikums befinden. Indessen kann er doch blos diejenige Urtheile, die mit W. unterzeichnet sind, auf seine eigne Verantwortung nehmen.

¼Anmerkung½ R a i s o n n i r e n d e s V e r z e i c h n i ß

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Beweis, daß die Bahrdtische Verteutschung des neuen Testaments keine Übersetzung, sondern eine vorsetzliche und frevelhafte Schändung der Worte des lebendigen Gottes sey, aus dem Augenscheine geführt von Johann Melchior Götze, Hauptp a s t o r z u S t . C a t h a r i n e n i n H a m b u r g . Hamburg, gedruckt und verlegt von Harmsen. 1773. 148 Seiten in 8. Wenn Bonzenfett, nach der Meynung des weisen Danischmende, zu nichts in der Welt gut ist, wozu sollte wohl B o n z e n g i f t gut seyn? W.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1774)

¼ L u s t s p i e l e v o n J o h a n n C h r i s t i a n B r a n d e s . E r s t e r T h e i l . Leipzig, in der Dyckischen Buchhandlung, 1774. 1 Alph. 4 Bogen in 8. … Dieser erste Theil enthält: D e n g e a d e l t e n K a u f m a n n ; D e n G r a f v o n O l s b a c h ; D e n Hagestolz.½

Z u s a t z d e s H . Der Graf von Olsbach gehört, wenn ich nicht irre, selbst mit seinen Mängeln, unter die vorzüglich guten teutschen Dramen. Die beyden andern sind im Grunde zwar nur, was die meisten Molierischen Komödien auch sind, Farcen und Karricatur, eine Art, die ich von jedem verfeinerten Theater verbannt sehen möchte, wiewohl es dem Hrn. B . in den seinigen an 10

wahren komischen Meisterzügen nicht fehlt. Aber sein neues Drama, O l i v i a betitelt, welches er bekannt zu machen begriffen ist, scheint mir zu beweisen, daß er Talent genug hat, in dieser edlern Art von Schauspielen sich nicht gemeine Verdienste zu erwerben, und daß er also wohl thun würde, sich derselben ganz zu widmen.

¼Zusatz: Brandes½ L u s t s p i e l e

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V e r s u c h i n g e i s t l i c h e n O d e n u n d L i e d e r n , 1774. 40 S. in 8. ohne Anzeige, wo sie gedruckt worden. Ungleichartig mit den bisher angezeigten Produkten unsers Parnasses, aber desto verdienstlicher in ihrer Art! Gute geistliche Lieder sind eine Seltenheit, und noch seltener ist es, einen Mann von dem Stande und den Eigenschaften des Verfassers der gegenwärtigen zu sehen, der, bey einer sehr ausgebreiteten Kenntniß der Wissenschaften und Litteratur, Frömmigkeit genug besizt, seine Muse auf eine so erbauliche Weise zu beschäftigen. Ich verstehe unter guten geistlichen Liedern solche, die das Herz mit andächtigen Gesinnungen erfüllen, ohne den Menschenverstand zu beleidigen; in denen die

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Empfindungen des Christenthums immer mit den gereinigten Begriffen und Grundsätzen desselben zusammenstimmen; die aus einem Herzen geflossen sind, das einem gesunden Kopfe zugehört; die man singen kann, ohne bald durch schwülstige und nonsensicalische, bald durch unedle Ausdrücke, falschen Witz, abgeschmackte oder gezwungene Wendungen, elende Reime und auffallende Sprachfehler im Genuß einer vernünftigen Andacht, wie sie dem vernünftigen Gottesdienste der Christen gemäß ist, gestört zu werden. Unter dieser guten Art von geistlichen Liedern nehmen sich die gegenwärtigen dermaßen aus, daß wir nicht umhin können, sie unsern Lesern aus vollem Herzen anzupreisen, und zu wünschen, daß sie in die zum öffentlichen Gebrauch bestimmten Sammlungen aufgenommen werden möchten. — Vorzüglich, auch als Poesie betrachtet, scheinen sich die aus dem L . R a c i n e frey übersezten T o d e s g e d a n k e n , durch ihre mit edler Einfalt verbundne Stärke, auszuzeichnen. W.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1774)

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Lebensgeschichte Tobias Knauts, des Weisen, sonst der Stammler genannt. Aus Familiennachrichten gesammlet. Erster Band. Leipzig, bey S. L. Crusius. 1773. 226 Seiten in 8. Wenn alles im buchstäblichen Sinne genommen werden dürfte, was ein Autor in der Vorrede sagt, so wäre die Ähnlichkeit, die dieses sonderbare Buch sogar in einigen besondersten Wendungen und Singularitäten mit dem T r i s t r a m S h a n d y hat, eine bloße Würkung der Ähnlichkeit des Genies beyder Verfasser. Desto besser für uns, wenn es so ist! Gesezt aber auch, T o b i a s K n a u t wäre ungefehr so eine Nachahmung des Tristrams, wie d e r w e i b l i 10

c h e D o n Q u i c h o t t e , oder wie D o n S y l v i o Nachahmungen des Spanischen Don Quichotte sind; könnte der Verfasser nicht mit dem Lobe zufrieden seyn, daß sein Buch Genie, Witz und Menschenkenntniß genug zeigt, um einen Mann zu verrathen, der Originale schreiben kann, und nicht vonnöthen hat, Lorenz Sternens Manier zu copieren, um sich ein sonderbares Ansehen zu geben? In der That ist dies, wenn ich nicht irre, der Fall unsers ungenannten Verfassers. Er scheint, neben den schon benannten Eigenschaften, so viel eigne Laune zu haben, daß sein Werk unmöglich anders als dabey gewinnen könnte, wenn er, so lang er daran arbeitet, alle Tage eine Stunde in Tristram Shandy lesen würde, bloß — um ihm so wenig als möglich in seinen Sonder-

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lichkeiten ähnlich zu seyn. Ausserdem finde ich in diesem Anfang eines Werkes, das so viele Theile haben kann als dem V. beliebt, alle wesentlichen Eigenschaften eines gemeinnützigen Buches; viel gesunde Vernunft mit viel Witz; feine Kenntniß des Menschen aus eignen Bemerkungen; nützliche Wahrheiten angenehm, mit Laune und meistens in einem guten Tone gesagt; kurz einen großen Theil von dem, was der V. in seiner Vorrede verspricht. Ist übrigens etwas, das ich anders oder lieber gar nicht in seinem Buche haben möchte, so ist es gerade die besagte Vorrede. Sie sagt zwar viel Gutes; aber sie beleidigt durch die hohe Meynung, die der V. von sich selbst, und die schlechte, die er von seinen Lesern zu haben scheint. Wenn ein Verfasser, der sich

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fühlt, nicht nöthig hat, sich in den Beyfall der Leser weder einzubetteln noch einzuschmeicheln: so seh ich doch nicht, warum er ihnen geradezu sagen soll, daß er sie alle samt und sonders für Narren hält. Ein solches Compliment

¼Rezension: Wezel½ L e b e n s g e s c h i c h t e T o b i a s K n a u t s

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erweckt ein gewisses Vorurtheil gegen ihn, das alle Verdienste seines Buches kaum wieder auslöschen können. Wenn ich dem Hrn. W. rathen dürfte, so würd’ ich ihn bitten, dieser Vorrede bey einer künftigen Ausgabe zu thun, wie ich dem ersten Vorberichte des D. Sylvio gethan habe. Mit etlichen großen Queerstrichen kann dem Übel von Grund aus geholfen werden. W.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1774)

Leben und Meynungen des Hrn. Tristram Shandy, aus dem Englischen übersezt ; zweyte Auflage, nach einer neuen Übersetz u n g ; a u f A n r a t h e n d e s H r n . H o f r a t h W i e l a n d s v e r f a ß t . Berlin, bey Lange. 1773. in 8. Ich erwähne dieser Makulatur bloß, um mich bey dem Publiko über das unerhörte Verfahren des Verlegers zu beklagen, der sich einfallen läßt, ohne mein Vorwissen, und ohne erbetene oder erhaltene Erlaubniß, meinen Namen auf dem Titelblat zu mißbrauchen, um eine wieder aufgewärmte elende Übersetzung verkäuflich zu machen, und das Publikum dadurch in seinem 10

eignen Schaden und zum Nachtheil des ächten Tristrams, den wir nun bald von Hrn. B o d e zu erwarten haben, zu hintergehen. Alles Wahre an dem Vorgeben des Verlegers ist dies: daß ich ihm schon vor drey Jahren (da er mich bat, ihm die Übersetzung des Tristram, mit der ich damals selbst umgieng, in Verlag zu geben) begreiflich machte, daß die erste Dollmetschung unaussprechlich elend sey. Der schriftliche Aufsatz, worinn mich dieser Mann bekennen läßt, Hrn. Z ü c k e r t s Ü b e r s e t z u n g s e y b e s s e r , als die e r s t e n C a p i t e l d e r m e i n i g e n , wünschte ich wohl zu sehen. Ich erinnere mich keines solchen Geständnisses, und halte es für unmöglich, daß ich mich selbst jemals so sehr vergessen haben sollte. Hingegen erinnere ich mich von

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meiner damaligen kurzen Correspondenz mit Hrn. Langen noch ganz wohl: daß er mir (als er vermuthen mußte, ich hätte den Einfall, die Tristrammiade zu dollmetschen, wieder aufgegeben) meldete, Hr. Z. habe seine erste Übersetzung durchaus umgearbeitet und verbessert; daß ich ihm dazu Glück wünschte; und daß ich, da mir nach einiger Zeit diese vorgeblich verbesserte Ausgabe in die Hände fiel, sie zwar nicht mehr ganz so nonsensicalisch als vorher, aber doch noch immer in jeder Betrachtung schlecht genug fand, um das Schicksal meines Freundes S t e r n e und das Schicksal der Teutschen zu beseufzen, denen durch die Gewinnsucht der Verleger beynahe von jedem guten ausländischen Buche in möglichster Eil eine elende Übersetzung auf-

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gelogen wird, welche eben darum elend ist und seyn muß, weil man sie von den w o h l f e i l s t e n unter den schmierenden Taglöhnern, und so hastig verfertigen läßt, daß ein guter Übersetzer noch am ersten Capitel des Buchs

¼Rezension: Zückert½ L e b e n u n d M e y n u n g e n

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arbeitet, wenn der hungrige Taglöhner bereits mit dem ganzen Werke fertig ist. W.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1774)

Briefe über die Polizey des Kornhandels, herausgegeben von H. L. W. Barkhausen, Königl. Preuß. Kriegs- und Domainenr a t h . L e m g o 1773. 176 Seiten in 8. Ein kleines aber sehr lesens- und überlegenswürdiges Buch über einen der wichtigsten Gegenstände, das sich durch gesunden Verstand, praktische Einsichten, gute Beobachtungen, Vorsicht in den daher gezogenen Inductionen, Deutlichkeit des Vortrags, und eine dem Herzen des V. Ehre machende Wärme jedem patriotischen Leser empfiehlt. Wir sehen es als ein heilsames Gegengift gegen gewisse bekannte Schriften an, worinn man uns, aus sehr sub10

tilen Gründen und mit sehr scharfsinnigen Paralogismen, eine allgemeine unumschränkte Freyheit des Kornhandels, als das unfehlbarste Mittel, Theurung und Mangel in jedem Lande unmöglich zu machen, angepriesen hat. Hr. B . ist durch seine Betrachtungen und Überlegungen auf manche wichtige Bemerkung gekommen, welche jenen Metaphysikern entgangen zu seyn scheint; und überhaupt ist vorzüglich an seiner Schrift lobenswürdig, daß er sehr gut gezeigt hat, wie wenig allgemein brauchbares sich über solche Gegenstände festsetzen lasse, wie viel dabey allenthalben auf die besondere Localumstände und Verhältnisse ankömmt, und mit wie vieler Klugheit man bey jedem Mittel, wodurch man Böses verhüten will, zu Werke gehen muß, damit

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nicht (wie oft geschieht) die Arzney mehr schade als die Krankheit. W.

¼Rezension: Barkhausen½ B r i e f e ü b e r d i e P o l i z e y

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A b h a n d l u n g e n a u s d e m F i n a n z w e s e n , v o n C . F . H u g o . Berlin. 1774. 398 S. in 8. Ein neuer Schriftsteller in einem Felde, dem man nicht genug Anbauer und Beobachter wünschen kan. Ein heller Kopf, der mit Beurtheilung gelesen und mit Scharfsinn selbst gedacht hat, und ein guter Vortrag, unterscheiden ihn auf eine sehr vortheilhafte Art, und machen uns begierig, auch andre Gegenstände der Finanzwissenschaft von ihm abgehandelt zu sehen. Gegenwärtig sagt Hr. H . seine Gedanken über d a s T h e o r e t i s c h e i n d e n F i n a n z w i s s e n s c h a f t e n , und über die M o n o p o l i e n . In der ersten Abhandlung erklärt er sich freymüthig über die Mängel der ehedem, und zum Theil noch,

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gewöhnlichen Lehrart der zur Staats-Ökonomie gehörigen Wissenschaften, bezeichnet den Umfang derselben, zeigt was zu einem akademischen Lehrer derselben, wenn er dem Staate nützliche Cameralisten bilden solle, erfodert werde, und beurtheilt einige in dieses Fach gehörige Lehr-Bücher, besonders die von J u s t i , S t e w a r t , und S o n n e n f e l s . In der Abhandl. über die Monopolien scheint uns Hr. H . eine böse Sache so gut als möglich, wiewohl zuweilen mit Waffen, deren Schwäche er selbst fühlen muß, zu vertheidigen; aber wenigstens gebührt ihm das Lob, daß er diese sehr verwickelte Materie wohl auseinander gesezt, und die mannichfaltigen Cautelen und Einschränkungen, unter welchen allein, selbst in den angegebenen besondern Fällen, Monopolien unschädlich, oder (seiner Meynung nach) dem Staat sogar nützlich seyn können, mit einem Scharfsinn angegeben, welche der Güte seiner Sache weniger Ehre macht als seinem Kopfe. Die angehängte Übersetzung des zweyten Buches von A r i s t o t e l i s Ö k o n o m i k wird dadurch interessant, weil man daraus sieht — was man freylich ohnehin zu vermuthen Ursache hatte, — daß die Kunstgriffe unsrer neuern Finanzmeister im Jahrhundert Alexanders so unbekannt nicht gewesen sind. W.

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¼ H r n . M i g n o t s , Abts zu Scellieres und Ehrenmitglieds des hohen Raths, Geschichte des Ottomannischen Reichs von seinem Ursprunge bis zum Belgrader Frieden im Jahr 1740. Aus dem Französischen übersezt. Quidquid delirant Reges, plectuntur Achiui. Horat. I. Ep. 2. Mitau und Leipzig, verlegts Jakob Friedr. Hinz. 1774. 686 Seiten in gr. 8, ohne die Dedikation und Vorrede des Übersetzers. … Denn durch das ganze Buch findet man nicht ein einziges Citatum. In der Folge hofft er Zusätze und Anmerkungen von Hrn. Reiske zu erlangen und mitzutheilen. Dieser erste Band endiget sich mit der Regierung Selims des Zweyten* ).½

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*) Das beste wäre wohl, dergleichen Französische Manufactur, die sich täglich anhäuft, gar nicht zu übersetzen. Denn ein historisches Werk, wo dem Leser die Quellen, woraus man geschöpft hat, verborgen werden, ist eben dadurch ganz unbrauchbar, weil man es blos als einen Roman brauchen kann. d. H.

¼Anmerkung: Mignot½ G e s c h i c h t e

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Vermischte Anzeigen. 1) Den Liebhabern, welche bey dem Herausgeber des Merkurs, entweder geradezu, oder durch die Herrn Collecteurs auf den Auszug der S c h w e i z e r i s c h e n A l c e s t e unterzeichnet haben, kann man nun zuverläßig melden, daß, nachdem der Herr Capellmeister Schweizer dieses Werk dem Hrn. Schwikkert, Buchhändler in Leipzig, zum Verlag überlassen, dasselbe nun unfehlbar in bevorstehender Ostermesse die Presse verlassen, und durch den Hrn. Verleger sowohl an die Herren Subscribenten, als an die wenigen, welche vorausbezahlt haben, abgeliefert werden wird. Diejenigen, welche sich innerhalb dieser Zeit noch um den Subscriptionspreis von 2 Rthl. 16 ggr. eines Exem-

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plars versichern wollen, werden ersucht, sich an Hrn. Schwickert selbst zu wenden. 2) Der Herr Canonicus Jacobi in Halberstadt hat, in einem kleinen Programm, eine Art von weiblichem Merkur, unter dem Nahmen I r i s , angekündiget; ein Journal, welches er dem schönen Geschlechte unmittelbar widmet, und das ganz dazu eingerichtet seyn wird, die mannichfaltigen Bedürfnisse des Geistes und Herzens teutscher Leserinnen zu befriedigen. Der Plan hat unsern vollständigsten Beyfall, und was kann man nicht von der Ausführung eines Werkes erwarten, woran der Genie und das Herz eines so liebenswürdigen Schriftstellers zugleich arbeiten werden? Von diesem periodischen Werke soll alle vierteljahre ein Bändchen von funfzehn Bogen, auf Schreibpapier, herauskommen. Der Preiß ist eine halbe Pistole, welche nächstkünftigen December bey Empfang des e r s t e n Theils vorausbezahlt wird. Hier in Weimar ist der Hofrath Wieland zu Annehmung der Subscribenten bevollmächtiget. 3) Von der neuen verbesserten Ausgabe der teutschen Übersetzung von Shakespears theatralischen Werken, die uns die Orell- und Geßnerische Buchhandlung hoffen läßt, sollen, dem Vernehmen nach, die beyden ersten Theile in künftiger Michaelmesse ans Licht treten. Die Wahl zur Ausführung eines solchen Unternehmens hätte nicht glücklicher fallen können, als auf den Hrn.

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Prof. E s c h e n b u r g in Braunschweig, einen Gelehrten der sowohl von seiner Stärke in der englischen Sprache, als von seiner Belesenheit in den kritischen Schriften der Engländer rühmliche Proben abgelegt, und nicht erst seit ehgestern ein besonders Studium aus Shakespears Werken gemacht hat. Diese neue Ausgabe soll durch die noch unübersezten Stücke und durch kritische Abhandlungen eine Vollständigkeit erhalten, welche sie den Liebhabern der schönen Litteratur desto schäzbarer und unentbehrlicher machen wird. W.

Vermischte Anzeigen

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Antworten an unsre Correspondenten. 1) Der Herausgeber des Merkurs hat vor kurzem von einem Ungenannten aus P r a g ein Schreiben erhalten, über welches er, aus Mangel eines andern Weges, sich hier öffentlich erklären muß. Der Ungenannte beginnt, wie natürlich, mit einer höflichen captatione beneuolentiae; und „da anbey (so fährt er fort) Deroselben Teutscher Merkur mit vollkommenstem Rechte gleichsam als ein Probierstein der teutschen Auctorum genennt zu werden verdient: solchemnach habe an niemanden andern als an Ew. etc. mich verwenden zu können vermeynet, um damit der Progreß einer ausserordentlich monstrosen W o c h e n s c h r i f t annoch bey Zeiten gehemmet werden möchte,

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welche hierorts in Prag seit dem 7ten Januarii a. c. zur Schande unsers lieben Böhmerlandes herauskömmt. Ich bin gänzlichen der Meynung, Ew. etc. würden zu unpartheyisch gesinnet seyn, als daß Hochdieselben Sich durch die wiederholten Elogen sollten verblenden lassen, mit welchen man Dieselben in gedachter Wochenschrift, zu bestechen, die leicht zu vermuthende Absicht zu haben scheinet. Ich kann mir ohnmöglich in meinen Gedanken fürstellig machen, welchermassen Dieselben den neuherausgesuchten Stylum, in welchem einige neuere englische Schriften, als ex. g. unter andern das Mischmasch des Tristram Shandy, der sich so nennender empfindsamer Reisen des Yoricks, und unterschiedliche in Teutschland leider zusammengeschmiedete

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Scartequen, als das Buch sub Titulo M** R**, die Beyträge zur Geheimen Geschichte des menschlichen Herzens und Verstandes, und noch einige andere geschrieben seynd, in deren Classe allerdings auch die hiesige neue Wochenschrift, welche W o c h e n t l i c h E t w a s heißt, und wohl mit besserm Fug und Rechte Wochentlich Nichts heißen sollte, an welcher Art Schriften ich hierorts keinen vernünftigen Menschen einigen Geschmack zu finden glaube, und auch so ziemlich weiß. Dannenhero habe Ew. etc. anmit im Namen aller und jeder vernünftiger Prager, ja ich darf sagen, aller Leute von Einsicht, beflissentlich zu ersuchen mich erkecken wollen, welcher Gestalten Dieselben gütigst geruheten, sowohlen überhaupt diesen kauderwellischen Stylum, als in specie, obmehrerwähntes Wochenblatt, sofern es Hochdenenselben

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nicht vielleicht unter aller Kritik zu seyn scheinete, bey nächst sich ergiebiger Gelegenheit in dem Teutschen Mercurio verdienter Maßen herabzumachen, und dadurch die jungen Witzlinge, die dieses Blatt zusammenschmieren, recht empfindlich zu züchtigen, um so mehr, als leider auch verschiedene Liebhaber und Leser Dero verdienstvollen Mercurii Vertheidigere dieses elenden Wochengeschwätzes seynd. Der gütigen Gewährung dieser beflissentlichen meinen Bitte, wodurch Dieselben einen großen Theil des Prager Publici, und namentlich mich gegen Deroselben verbindlich machen können, mich vertröstend, habe ich schlüßentlichen die Ehre etc.“ 10

Sintemalen und alldieweilen nun aber wir, der Herausgeber und die Mitarbeiter des M. 1mo) mehrbesagtes Monstrum einer neuen Pragischen Wochenschrift bis dato zu handen zu bekommen nicht vermögend gewesen, uns aber 2do) verhoffentlichen von dem Hrn. Anonymo und wohldesselben Herren Obern und Committenten nicht wird angesonnen werden wollen, daß wir in unserm Merkurio die besagte Wochenschrift herabmachen und deren Verfassere empfindlich züchtigen sollten, ehebevor wir von dem Corpore delicti allforderst sattsamliche Kundschaft erhoben haben, und von dessen Existenz legaliter vergewissert worden seynd; allermaßen 3tio) ein solches Verfahren, als mit einer unheilbaren Nullität behaftet, den Teutschen Mercurius alles

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seines Verdienstes und der ohnehin dissorts nicht angemessenen Befugsame, gleichsam ein Probierstein der teutschen Auctorum zu seyn, bey allen ehrlichen Leuten auf einmal verlustigen dörfte: als getröstet man sich abseiten eröfterten teutschen Mercurii zu des Hrn. Anonymi und Committenten anwohnender billigmäsiger Gedenkensart, Wohldieselben bey solcher der Sachen Bewandtsamme, von obigem beschwerlichen Ansinnen freywillig abzustehen, und diesseitiges Kunstrichteramt mit derley in Rechten nicht begründeten petitis nicht weiters zu behelligen, von selbsten wohleinsichtlich bedacht und beflissen seyn werden. Sign. Weimar den 1 März 1774. Übrigens hätte sich der Anonymus in seinem Anliegen unmöglich schlim-

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mer, als an den Herausgeber des Merkurs addreßiren können; als der nicht nur, bekannter maßen, ein eifriger Verehrer des englischen Originals von Tristram Shandy und Yoricks empfindsamer Reise ist, sondern überdies noch das Unglück hat, selbst Verfasser der Scarteque, B e y t r ä g e z u r G e h e i m e n G e s c h i c h t e d e s m e n s c h l i c h e n H e r z e n s , zu seyn, ja in der Verstokkung schon so weit gekommen ist, einige Stücke dieser Scarteque, als da sind,

Antworten an unsre Correspondenten

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die Palmblätter des Abulfaouaris und die Auszüge aus dem Philosophen Tlantlaquacapatli, für das Beste zu halten, was er jemals gedacht und geschrieben haben mag. W. 2) Der poetische Brief, F i d a i n E I y s i u m a n i h r e n g e l i e b t e n L ä l i u s , ist zwar nicht ohne Schönheiten, und verräth ein aufkeimendes Talent, welches wir nicht ersticken möchten. Aber wir wünschten daß der Verfasser noch nicht daran dächte, seine Versuche dem öffentlichen Urtheil auszustellen. Wir empfehlen Ihm besonders die Bemühung, seine Gedanken in den wenigsten Worten auszudrücken, und seine Gemählde mit wenigen aber desto stär-

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kern Zügen auszuführen, mehr Rundung in den poetischen Perioden, mehr Musik in der Versification, mehr Aufmerksamkeit auf die genaueste Sprachrichtigkeit, und Vermeidung der sogenannten poetischen Licenzen, — am allermeisten aber der Reminiscenzen aus den Dichtern die er gelesen hat. 3) Schon vor geraumer Zeit ist dem H. ein Fragment eines Heldengedichts in Hexametren von einem Ungenannten zugeschickt worden. Der Verfasser vermuthet selbst daß dieses schon vor vielen Jahren aufgesetzte Stück eines unvollendeten Ganzen, in mehr als einer Betrachtung, nicht mehr in unsre Zeiten passe; und wir glauben, daß Er Recht hat. Einige Stellen hätten uns durch ihre Schönheit beynahe verführt; aber bey zwanzig andern — zupfte uns Apollo oder der gute Genius des ungenannten Dichters beym Ohre; und wir gehorchten der Warnung. 4) Von einigen andern eingesandten Versen wird man diejenige aussuchen, die sich über das Mittelmäßige erheben, und sie nach und nach einrücken, wenn es auch nur wäre, weil in einem Blumenstraus die schönsten Blumen dadurch gewinnen, wenn sie mit minder schönen gepaart sind. W.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1774)

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Einige meiner Freunde haben für nöthig gehalten, daß ich mich und den Merkur gegen die Ausfälle, die ein gewisser H r . W * * im sogenannten P o s t r e u t e r gegen uns gethan, vertheidige. Ich bitte Sie um Vergebung, daß ich nicht ihrer Meynung seyn kann. Wenn es B a y l e’ s , l e C l e r c’ s , B a s n a g e s und ihres gleichen unter uns gäbe, die in Journalen und gelehrten Zeitungen von Büchern urtheilten, und ich würde von solchen Männern getadelt, so würde ich schweigen, und mich zu bessern suchen. Wenn, wie heutiges Tages häufig genug geschieht, Schulknaben und Halbköpfe sich zu Aristarchen aufwerfen, und aus Unverstand oder Muthwillen tadeln oder loben, so weiß ich nichts 10

dabey zu thun, als zu schweigen und zu lächeln. Wenn wir aber von einem kritischen Kleffer angebellt oder beym Rocke gezerrt und besudelt werden, so ist wohl das Klügste, unsern Weg fortzugehen. Auszuweichen ist nicht immer möglich; und sich mit ihm herumzubalgen, würde lächerlich seyn. Man sagt mir, Hr. W** thue sich viel darauf zu gut, d a ß i c h i h m n i c h t a n t w o r t e . Es beliebt ihm zu glauben, ich k ö n n e nicht antworten. Ausser ihm selbst glaubt dies wohl niemand. Nichts ist billiger als daß man Dunse, die sich für gelehrt, witzig, und für Kenner halten, allein reden lasse was sie wollen. Ich habe von den Rechten der kritischen Hunde, Krähen, Frösche und Wespen eine große Meynung, und denke, daß man ihnen nicht wehren könne, ihrer

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Natur gemäß, zu bellen, zu krähen, zu quäcken und zu stechen. Hr. W. und wer seines gleichen ist, kann also ruhig fortfahren, und versichert seyn, daß er es meinethalben so arg machen darf als es ihm seine Dummheit nur immer zuläßt. Diese meine erste Erklärung über ihn ist auch die letzte, und das Publicum, das mich und ihn kennt, kann unmöglich eine andre von mir erwarten. Wieland.

¼Erklärung gegen die Ausfälle½

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An Psyche. 1774.

An Psyche. Die Quelle der Vergessenheit, Aus welcher in der Fabelzeit Die frommen Schatten sich betranken, Und dann, vom Loos der Sterblichkeit, Von Sorgen, Spleen und Nachtgedanken, Von Langweil und von Zwang befreyt, In seel’ger Wonnetrunkenheit Hin auf Elysiums Rosen sanken: 10

Was meynst du, Freundin, was sie war? Dein Beyspiel macht die Sache klar; Du kennst nun Amors Wundertriebe. Von diesem Lethe, glaube mir, Sehn wir die Würkungen an dir: Dies Zauberwasser ist — d i e L i e b e . Ein Tröpfchen, sey es noch so klein, In Unschuld züchtiglich hineinGeschlürft aus Amors Nektarbecher, Thut alles dies! — Was wird geschehn,

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Wenn unerfahrne junge Zecher Im Trinken gar sich übersehn? Das süsse Gift! es schleicht die Kehle So sanft hinab! Was Wunder auch, Wenn eine wonnetrunkne Seele Dem jungen Faun beym ersten Schlauch Ein wenig gleicht, — dem seine Höle, Sein Schlauch, und der geliebte Freund, Der mit ihm zecht, das ganze Weltall scheint? Du staunst mich an? — O! um die Dichterköpfe!

30

Fy! wie mir der Faununculus

An Psyche

1—29

507

(Das ungleichartigste Geschöpfe, Mit Amorn, der von einem einzgen Kuß Zehn Jahre lebt,) da ich ein Gleichnis brauche, Just in die Queere laufen muß? Das närrsche kleine Ding mit seinem ersten Schlauche! Allein, so gehts uns armen Reimern gern. Nicht immer bleiben wir des Flügelpferdchens Herrn. Bald übermeistert uns die Laune Und bald der Reim. Wer sieht den Abstand nicht Vom Gott der Zärtlichkeit zum Faune?

10

Allein den Reim, die Laune ficht Dies wenig an; die wechseln oder paaren, Nach Einfall und Gemächlichkeit, Oft Dinge, die, seitdem der Elemente Streit Ein Gott entschied, noch nie gepaart gewesen waren. Die Laune hohlt zur feinsten Ironie Den Stoff vom V o r g e b ü r g d e r N a s e n ; Und läßt der Reim nicht ohne Müh Den Hasen bey Delphinen grasen? Allein, wie oft ein Narr was kluges spricht,

20

So sprach auch diesesmal der Reim so übel nicht. Denn Etwas, gutes Kind! ist, leider! an der Sache. Nicht, daß ich’s dir zum Vorwurf mache! Die Grazien verhütens! — Aber doch Bleibt wahr, was wahr ist; daß, seit du aus Amors — Schlauche Den großen Zug gethan, du kaum von ferne noch (Der Himmel lohn’s dem kleinen Gauche!) Des Traumes dich besinnst, den wir für würklich hielten, Eh diese Amorn noch um deinen Busen spielten. Denn sprich mit Offenherzigkeit, Wo sind die Bilder jener Zeit, Als, an der besten Mutter Seite, Wir, wie die guten frommen Leute

508

A n P s y c h e (März 1774)

30

Der alten goldnen Schäferzeit, In sel’ger Abgeschiedenheit Von Hof und Welt, wie unsers Geßners Hirten, Im Schatten junger Pappeln irrten? Die, weil sie Panthea mit eigner Hand gepflanzt, In unsern Augen schöner waren Als Tempe, wo mit losgebundnen Haaren Um Daphnens Stamm die junge Nymphe tanzt. Sprich, war in seinen Schäferjahren 10

Apollo glücklicher als ich? Auch dich, Psycharion, auch dich Schien unsre Freundschaft zu beglücken; Ein sanftes geistiges Entzücken In deinem Lächeln, deinen Blicken, Schien der geschwisterlichen Schaar, Die durch dein Anschaun glücklich war, Des Engels Wonne auszudrücken, Der sich allein in seinen Freunden liebt, Und Wonne fühlt indem er Wonne giebt.

20

O gute Psyche, welch ein Leben, Hätt’ ihm ein günstiges Geschick Ein wenig Dauer nur gegeben! Denn ach! es war ein Augenblick! Der Mond gieng auf, der Störer unsrer Freuden, Der Amorn oft die Zeit zu lange macht; Uns kam er stets zu früh; er kam, um uns zu scheiden. Vergebens hoften wir den Flug der braunen Nacht Durch unsre Wünsche aufzuhalten; Wir wurden im Olymp, wie billig, ausgelacht;

30

Die Götter sparen ihre Macht; Kurz, Phöbus gieng zur Ruh, und alles blieb beym Alten. Was war zu thun? Geschieden mußt’ es seyn! Ein traurig Lebewohl erstarb auf jedem Munde. Noch diesen lezten Blick! — da bin ich nun allein,

An Psyche

30—96

509

Und stehe noch, mit ofnem Aug’ und Munde, Als wurzelt’ ich in zauberischem Grunde, Wie ein gebannter Ritter, ein. Nicht wahr, an alles dies erinnerst du dich kaum, Vielleicht, wie man von einem Morgentraum Die schnellzerfließenden Gestalten Vergebens sich bestrebet fest zuhalten? Vergessen ist im Arm des bessern Agathon Der gute Psammis-Danischmende; Die Götterchen von Paphos sehn mit Hohn Auf ihn herab von ihrem Lilienthron, Und klatschen in die kleinen Hände. Doch, was ist hier, ihr Götterchen, am Ende So viel zu klatschen? Spart den Hohn! Hoft nicht, daß uns der Werth der Überwundnen blende! Mit Zauberwaffen trägt man leicht den Sieg davon. Die Wahrheit, Freundin, ist, daß der Von Liebe gar nichts wissen müßte, Der in dies Wunderwerk sich nicht zu finden wüßte. Die erste Liebe würkt dies alles, und noch mehr. Mit ihrem ersten süßen Beben Beginnt ein neues bessers Leben. So sehen wir im May der Sommervögel Heer Auf neuen Flügeln sich erheben. Gleich ihnen, sind wir nun nicht mehr Die Erdenkinder wie vorher; Wir athmen Himmelslüfte, schweben Wie Engel, ohne Leib, daher In einem Ocean von Wonne; Bestralt von einer schönern Sonne, Blüht eine schönere Natur Rings um uns auf; der Wald, die Flur, So däucht uns, theilen unsre Triebe, Und alles haucht den Geist der Liebe.

510

A n P s y c h e (März 1774)

10

20

30

//

O Zauberey der ersten Liebe, Noch izt, da schon zum Abend sich Mein Leben neigt, noch izt beglückst du mich! Noch denk ich mit Entzücken dich, O Götterstand der ersten Liebe! Was hat dies Leben das dir gleicht, Du schöner Irthum schöner Seelen? Wo ist die Lust die nicht der Wonne weicht, Wenn von den göttlichen Clarissen und Pamelen, 10

Von jedem Ideal, womit die Phantasie Geschäftig war in Träumen uns zu laben, Wir nun das Urbild sehn, Sie nun gefunden haben, Die Hälfte unsrer Selbst, zu der die Sympathie Geheimnisvoll uns hinzog; Sie, Im süssen Wahnsinn unsrer Augen Das Schönste der Natur! Aus deren Anblick wir, Wie Kinder an der Brust, nun unser Leben saugen, Von allem um uns her nichts sehen ausser ihr, Selbst in Elysiums goldnen Auen

20

Nichts sehen würden ausser ihr, Nichts wünschen würden, als sie ewig anzuschauen! Von diesem Augenblick nimmt sie als Siegerin Besitz von unserm ganzen Wesen. Wir sehn und hören nun mit einem andern Sinn; Die Dinge sind nicht mehr was sie zuvor gewesen. Die ganze Schöpfung ist die Blinde nur, worinn Die Göttin glänzt, die Wolk’ auf der sie schwebet, Der Schattengrund, der ihren Reiz erhebet. Ihr huldigt jeder Kreis der lebenden Natur,

30

Ihr schmücken sich die Hecken und die Bäume Mit jungem Laub, mit Blumen Thal und Flur; Ihr singt die Nachtigall, und Bäche murmeln nur Damit sie desto sanfter träume; Indem der West, der ihren Schlummer kühlt,

An Psyche

97—164

511

Für sie allein der Blüthen Balsam stiehlt, Und, taumelnd vor Vergnügen, Auf ihrem Busen sich verliebte Rosen wiegen. Sie träumt — ein süßes Lächeln schwebt Um ihren röthern Mund, um ihre vollern Wangen; O! wär es zärtliches Verlangen, Was den verschönten Busen hebt! O! träumte sie — (so klopft mit ängstlicher Begier Des Jünglings Herz), o träumte sie von mir! O Amor, sey der blöden Hofnung günstig!

10

Er nähert furchtsam sich, und selbst der keusche Blick Besorgt zu kühn zu seyn, und bebt von ihr zurück. Doch Amor giebt ihm Muth, die Dämmerung ist günstig, Und, o wie schön ist sie! — Verlohren im Genuß Des Anschauns, bleibt er eine Weile Beweglos stehn, wie eine Marmorsäule. Wie selig er sich fühlen muß! Den Göttern gleich zu seyn, was fehlt ihm noch? Ein Kuß, Ein einzger unbemerkter Kuß, Wie Zephyr küßt, auf ihre sanfte Stirne.

20

Der höchste Wunsch den seine Liebe wagt! Und auch dies wenige, so viel für ihn! versagt Sein Zaudern ihm. Denn eh’ sein Mund es wagt, Reibt Chloe schon den Schlummer von der Stirne. Sie schlägt die Augen auf. Bestürzung, Zärtlichkeit, Und holde Schaam, in zweifelhaftem Streit, Verwirren ihren Blick. Er glaubt, ihr Auge zürne, Sieht bang sie an, und flieht. — Nun ist rings um ihn her Die weite Schöpfung öd’ und leer, Die Luft nicht blau, der May nicht blühend mehr; Das Sonnenlicht hört auf für ihn zu scheinen. Dort sizt er, wo der finstre Hayn Die längsten Schatten wirft, auf einem rauhen Stein,

512

A n P s y c h e (März 1774)

30

Gefühllos jedem Schmerz als ungeliebt zu seyn, Gefühllos jeder Lust als ungestört zu weinen. Schon sinkt des Himmels Auge zu, Schon liegt die Welt in allgemeinem Schlummer; Und er, versenkt in seinen Kummer, Er wird es nicht gewahr. Die Ruh Flieht, Ärmster, deine Brust, und deine Augenlieder Der süsse Schlaf. Der Abend weicht der Nacht, Die schöne Nacht dem schönern Morgen wieder, 10

(Für dich nicht schön!) und du, an Chloens Bild Geheftet, ganz von ihr und deinem Schmerz erfüllt, Bemerkst es nicht! — Und doch, bey allem seinem Leiden, Liebt er die Quelle seiner Pein; Er nähme nicht der Götter Freuden Von seinem Wahn geheilt zu seyn! Doch, welche Wonne, welche Freuden, Erwarten, sanfter Jüngling, dich, Wenn Sie, — die alle deine Leiden Mit dir getheilt, und, wenn bey deinem Anblick sich

20

Oft eine Thrän’ aus ihrem Auge schlich, Kaum Muth genug sich wegzuwenden hatte, — Wenn sie die Kraft verliehrt mehr Wiederstand zu thun, Und, ganz des Gottes voll, das matte, In Liebe schwimmende, unschuld’ge Auge nun An deiner Wange sich des süssen Drucks entladet, Und die vom Übermaas der Lust Dem Schleyer ausgerissne Brust In unverheelten Thränen badet! O J***, bey diesem Bild entfällt

30

Der Pinsel meiner Hand! — Nehmt ihn, ihr Huldgöttinnen; Euch weyh ich ihn! Und aufgestellt In euerm Heiligthum, geliebte Charitinnen, Sey, euch zum Ruhm, das unvollendte Bild.

An Psyche

165—230

513

Von euerm Schleyer sey’s verhüllt Dem Faunenblik des Sclaven seiner Sinnen, Dem unbegreiflich ist, wie man Mit Amors Dienst den euren paaren kann; Der Flammen, die bey ihm nur in den Adern rinnen, Vom Schlauch Silens entlehnt, Und die Empfindungen verfeinter innrer Sinnen In Phrynens Armen hönt. Verachte, Psyche, der Bacchanten Und Satyrn Hohn! Geneuß der sel’gen Schwärmerey,

10

Des goldnen Traums, der uns zu Anverwandten Der Götter macht! Laß kalte Sykophanten Beweisen daß es Täuschung sey, Und glaube du, Glükselige, der Stimme Des Engels, der in deinem Busen wohnt! Neu ist die Wonne dir, womit uns Amor lohnt; Durch manche Thrän’ erkauft, und desto süßer! — Schwimme In diesem Ocean! — Sie, die gefällig sich Mit der Natur und dem Geschick verglich, Dich, schöne Freundin, zu beglücken,

20

Die Tugend billigt dein Entzücken, Und Amors holde Schwestern pflücken Idaliens schönsten Kranz für dich. Du bist beglückt, — und ich — vergessen! Es sey! die Freundschaft eyfert nicht. Noch tanzt das magische Gesicht Um deine Stirne, noch ist alles eitel Licht Und Himmel um dich her; noch fliesset ungemessen, Gleich dem unendlichen Moment der Ewigkeit, Die Zeit der süssen Trunkenheit — O Psyche, auch für mich war einst so eine Zeit! Was hätt ich damals nicht vergessen, Als ich in dem Bezaubrungsstand,

514

A n P s y c h e (März 1774)

30

Worinn du bist, mit Chloen mich befand; Und, wenn ich ihr, so früh es tagte, Bis unbemerkt der lezte Stral verschwand, Was ich für sie empfand, Ein ewig Einerley, auf tausend Arten sagte, Den längsten Tag zu kurz es ihr zu sagen fand. O Wonnetage, gleich den Stunden, In ihrem Anschaun zugebracht! O Wochen, gleich dem Traum in einer Sommernacht! 10

Geliebter Traum! der, längst verschwunden, Noch durch Erinnrung glücklich macht! Wo seyd ihr hin, ihr unbereuten Freuden, Du Blüthe der Empfindsamkeit, Um die wir jene goldne Zeit Schuldloser Unerfahrenheit, Und unbesorgter Sicherheit, Und wesenloser Lust und wesenloser Leiden, Mit aller ihrer Eitelkeit, In weisern Tagen oft beneiden;

20

Du erster Druck von ihrer sanften Hand, Und du, mit dem ich mein entflohnes Leben Auf ihren Lippen wieder fand, Du erster Kuß! — euch kann kein Gott mir wiedergeben! Sie welkt dahin des Lebens Blumenzeit! Ein ew’ger May blüht nur im Feenlande; Und Amors reinste Seligkeit Bringt uns zu nah dem Götterstande, Um dauerhaft zu seyn. Wie selten ist das Glück, Das deine Liebe krönt, Psycharion! Wie selten

30

Erhört das neidische Geschick Der ersten Liebe Wunsch! Wir gäben Thronen, Welten, In ihrem Rausch, um eine Hütte hin; Ein Hüttchen nur, im Land der Geßnerischen Hirten, Just groß genug, um uns und unsre Schäferin,

An Psyche

231—297

515

Die Grazien und Amorn zu bewirthen. Sie wüchsen von sich selbst, im Schutz des guten Pans, Die Bäume, die, indem wir sorglos küßten, Uns Müßiggänger nähren müßten! Wie selig! — Aber Zevs lacht des verliebten Wahns. Sein Schicksal trennt — aus guten Gründen — Den Schäfer und die Schäferin: Und o! wie spitzt sich einst des P a s t o r f i d o’ s Kinn, (Wenn zu den väterlichen Linden Das Glück zurück ihn führt), die holde Schäferin,

10

Auf deren Schwur und treuen Sinn Er seines Lebens Glück versichert war zu gründen, In eines Andern Arm zu finden! Zu glücklich, wenn vielmehr ihr Aschenkrug, Umringt von traurigen Cypressen, Ihm sagt: daß Daphnens Herz, von stillem Gram zerfressen, Aus Sehnsucht brach, und Zug vor Zug Sein werthes Bild mit sich ins Land der Schatten trug; Daß in der lezten Todesstunde Ihr Aug’ ihn noch gesucht, und auf dem kalten Munde,

20

Sein Nahme noch geschwebt; — doch dreymal glücklicher, Wenn, wie A m a n d u s und A m a n d e , Nachdem sie manches Jahr zu Wasser und zu Lande Durch Berg und Thal, von Zara’s heissem Sande Bis an den gelben Fluß, sich rastlos aufgesucht, Der Liebesgott mitleidig ihrer Flucht Ein Ende macht, im Thor von Samarkande Sie unverhoft zusammenfügt, Und, wie sie nun, im vollen Überwallen Der Zärtlichkeit, sich in die Arme fallen, Davon mit ihren Seelen fliegt. Doch, Freundin! setzen wir den seltensten der Fälle; (Denn selbst die Königin der Amorn sah sich nie In diesem Fall; Vulkan vertrat des Ehmanns Stelle,

516

A n P s y c h e (März 1774)

30

Und für Adone seufzte Sie!) Gesezt daß Cypripor und Hymen sich verbanden, Zwo Hälften, die, zum Glück, einander fanden, So zu beseligen, wie mit gesammter Hand Die beyden Götterchen uns glücklich machen können; Kurz, Psyche, setzen wir ein Band Wie Deines ist: glaubst Du, der Wonnestand Der ersten Schwärmerey, er werde dauern können? Wie gerne wollt’ ich Dir den süßen Irthum gönnen! 10

Doch, leben wir nicht unterm Mond? Was bleibt vom Loos der Sterblichkeit verschont? Ja! lebten wir im Lande der Ideen, Dann gäb’ ichs zu! Allein in unsrer Welt, In dieser Werktagswelt, wo, bloß vom langen Stehen, Selbst der Koloß von Rhodus endlich fällt, Wird, glaube mir, so lang sie selbst noch hält, Nichts Unvergängliches gesehen. Da hilft kein Reiz, kein Talisman, Der Zauber lößt sich auf! — Wir essen

20

(Verschlingen oft, und thun nicht wohl daran) Die süße Frucht, und mitten in dem Wahn Des neuen Götterstands, dem magischen Vergessen Der Menschheit, werden uns die Augen aufgethan. So wie die Seele sich dem Leibe Zu nahe macht, weg ist die Zauberey! Die Göttin sinkt herab zum Weibe, Der Halbgott wird ein Mann. — Doch, Psyche, wenn dabey Die, so am meisten wagt, am wenigsten verlöhre, Verdiente Sie, den Grazien zur Ehre,

30

Nicht ein Capellchen in Cythere? Daß übrigens Euch in der stolzen Ruh Des schönsten Irrthums nicht die Prophezeyhung störe! Gesezt, der Ausgang sagt’ ihr zu — Uns anderm Erdenvolk ists immer sehr viel Ehre

An Psyche

298—365

517

Daß uns ein Mann wie Er, ein Weib wie Du, Sobald als möglich angehöre. Der Menschenstand, den Doktor M a n d e v i l Und Freund H a n ß J a c k , (wenn ihn die Laun’, auf Vieren Zu gehn, ergreift), bey uns verkleinern will, Hat seinen Werth; und unter allen Thieren (Die Kaffern nehm ich aus) ist, wie ein weiser Mann Vorlängst gesagt, nicht eines anzuführen, Das sich an Tugenden mit uns vergleichen kann. Vorausgesezt, daß Amor mit den Musen

10

Und Grazien die lezte Hand An uns gelegt! — denn, in dem rohen Stand, Worinn an Mutter Isis Busen Die meisten hangen, geb ich zu Daß mir ein hübscher Sapajou, Der Sperling Lesbiens, ein Täubchen aus Cythere, Und Gressets Papagay zum Umgang lieber wäre. Dir, Schwesterchen, und Deinem künft’gen Mann, Begünstigt wie Ihr seyd von Grazien und Musen, Steht ganz gewiß die schöne Menschheit an,

20

Zu der, so wie das Nektarräuschgen schwindet, Die Göttin unvermerkt sich nüanciert befindet. Auch das Gedächtnis wird dann wieder aufgethan. Im kleinen Hayn der Nachtigallen Wird, Psyche, Dir mein eignes Bild sogar (Nicht ohne Wunder, wo’s so lang geblieben war) Straks wieder in die Augen fallen. Die Freundschaft, eingesezt in ihr erlangtes Recht, Wird nicht mehr, weil Ihr Rosen brecht, Von ferne stehn und sich verlassen grämen; Doch wird sie willig sich bequemen, In Deinem Herzen nur das Plätzchen einzunehmen, Das Amor selbst, der doch nicht alles füllen kan, Ihr gerne lassen will. Auch wird er bald gestehen,

518

A n P s y c h e (März 1774)

30

Daß — wär es nur, um zuzusehen Wie wohl Euch ist — man dann und wann Den Freund, so nebenher, ganz wohl gebrauchen kann. W.

An Psyche

366—403

519

Du, der Du unter diesen von Karolinens wohlthätiger Hand gepflanzten Bäumen wandelst, Was staunest Du und wunderst Dich des geheimen Schauders, der Deine Seele erschüttert? Wisse, dieser Hain ist heilig! 10

Unter diesen Schatten trauert der Tugend Genius Über Karolinens Aschenkrug! Steh’ und feire das Andenken der besten Fürstin, erhaben durch Geburt und Verbindungen, erhabener durch ihren Geist und ihre Tugenden, geprüft in beiderlei Glück und in beiden gleich groß, vergaß sie gerne in diesen der Betrachtung geweihten Lauben

20

jeder andern Größe, dachte hier an des Lebens Vergänglichkeit, wovon sie, ach zu früh! ein Beispiel wurde; und hier wollte sie ihren, von den Thränen ihrer Kinder, ihres Volkes, Aller, die ihr jemals sich nahten, benetzten Staub der Erde zurückgeben. Sie, die den ersten Thron der Welt geziert hätte, Verschmähte den eitlen Pomp kostbarer Denkmale. Denn sie hinterläßt ein Denkmal,

30

das ihrer würdiger das unsterblich ist, wie sie, in den Herzen aller Redlichen.

¼Epitaphium½

521

Der Teutsche Merkur vom Jahr 1774. Sechster Band. Weimar, in Carl Ludolf Hoffmanns Verlag.

Der Teutsche Merkur. Des Sechsten Bandes Zweytes Stück. May 1774. Weimar, bey Carl Ludolf Hoffmann.

Zwey Fragmente aus dem Gedichte Psyche, oder allegorische Geschichte der Seele * ). 1. (Diese Geschichte ist eine von den Erzählungen, womit der junge M a g **), A l k a h o l , die schöne A s p a s i a beym Mondschein zu unterhalten pflegte; (S. Teutsch. Merkur 2. Band S. 120.). Alkahol fängt sie mit einem Gemählde der goldnen Zeit an, welches schon vor einigen Jahren einen Platz in dem ersten Buche der G r a z i e n erhalten hat. Nachdem er mit dieser etwas weitläuftigen Beschreibung fertig ist, fährt die Erzählung also fort:)

10

Hier kömmt, mit Recht, ein unaufhaltbar Gähnen Die aufmerksame Freundin an: Sie weist dem jungen Mann die schönste Reyh’ von Zähnen, Im schönsten Mund, der je sich aufgethan; „ U n d P s y c h e — gähnt Sie aus — w a r d a m a l s s c h o n g e b o h r e n ? “ Sie zupfen mich zu rechter Zeit, Madam, (Spricht Alkahol) ein wenig bey den Ohren. Ich weiß nicht, wie ich da ins Declamieren kam — U n d P s y c h e — dacht ichs nicht! der Faden ist verlohren. Wir müssen schon zurük! — In dieser goldnen Zeit Wovon die Rede war — die Wendung, ich gestehe Ist etwas brüsk, — allein, der Umweg war zu weit! Das Beste scheint, wenn ich zur Sache gehe. In jenen goldnen Tagen dann, (Wo, gilt uns gleich) lebt’ eine junge Dirne, *)

Zwey andre Fragmente dieses zertrümmerten Gedichtes befinden sich, das eine in der

Vorrede zu M u s a r i o n , und das andre als ein Anhang zu den G r a z i e n . **)

Eine Art von Abbe´s bey den alten Persern.

526

D e r T e u t s c h e M e r k u r (Anfang Mai 1774)

20

Das angenehmste Ding, das man Mit einem Schäferstab und Rosen um die Stirne Sich denken mag. Ihr Ursprung, unbekannt; Es ward davon verschiedentlich gesprochen: Doch weil man sie an einer Hecke fand, Gab der gemeine Wahn, von ihrem Reiz bestochen, Ihr G i n n i s t a n * ) zum Vaterland; Denn ihre Wärterin gestand, Die Windeln hätten nach Ambrosia gerochen. 10

Wie dem auch war, genug, daß selbst aus L e d a’ s E y Nichts lieblichers als Psyche ausgekrochen. Sie schien beym ersten Blick die reizendste Copey Von einem Urbild aus dem Lande der Ideen; Ganz Seele, ganz Gefühl, oft bis zur Schwärmerey, Und dann, die Wahrheit zu gestehen, Geneigt, im Rausch der süssen Raserey, Den ersten jungen Faun für Amorn anzusehen, Auch ihren Neigungen nicht immer sehr getreu; Gefällig sonst und bildsam, leicht zu leiten,

20

(Oft nur zu leicht) wiewohl, zu andern Zeiten, Voll Eigensinn; von Launen selten frey, Und sinnreich dann, aus einer Kinderey Sich Stoff zur Lust — oft auch zur Unlust — zu bereiten; Der Ruhe hold, wiewohl nie ruhig; arbeitscheu, Doch unermüdet zum Vergnügen; Leichtgläubig allem, was ihr neu Und unbegreiflich schien, und, wenn ihr Herz dabey Gewann, ein wenig rasch sich selber zu betrügen, (Zwar ohne daß das gute Herz dabey

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An Arges dachte) — frank und frey Von Arglist und von Schadenfreude; Der Schwermuth herzlich gram, so wie der Gleißnerey; *)

So nennen die Perser ein phantasiertes Land der Genien von beyderley Geschlechte, oder,

ungefehr eben das was wir das Feenland nennen.

Zwey Fragmente

527

Und kurz, ein gutes Kind, das seine Augenweide An fremdem Glücke sah, und wenn sie selbst der Freude Sich überließ, in ihrer Phantasey Ringsum sich her was athmet’ glücklich machte, Fest überzeugt, und sehr vergnügt dabey, Daß eine Welt, in der ihr alles lachte, Die Beste aller Welten sey; So war sie, da sie aus den Händen Der Mutter Isis kam; noch ungebildet zwar, Doch voller Stoff. Sie auszubilden war

10

Der Musen Amt — sie zu vollenden Der Grazien. — Was fehlt zur Göttin ihr? Der Götter Glück. Dies zu vollenden, Gebührt allein, o Gott der Liebe, dir! W.

2. Fortsetzung des Stücks: Psyche unter den Grazien * ). Den Grazien und Amoretten Schließt izt, auf ihren Rosenbetten, Der weiche Schlaf die Augen zu; Nur Psychen läßt die Freude keine Ruh, Sich an so schönem Ort zu sehen. Noch staunet sie, und kann, wie ihr geschehen, Nicht fassen; dies nur fühlet sie, Der Ort, und was sie da gehöret und gesehen, Sey nicht ein Spiel erhizter Phantasie. Was läßt nicht solch ein Anfang hoffen? Geliebt vom schönsten Gott! Und, wo sie geht, ein Schwarm *)

S. d i e G r a z i e n . Seite 191–206.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Anfang Mai 1774)

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Von Zephyrn und von Amorinen, Und Charitinnen, Arm an Arm, Die neue Venus zu bedienen! Wem würde nicht der Kopf von solchen Bildern warm? Auch sieht sie schon den hellen Himmel offen, Sieht jeden Gott verliebt in Amors Glück, Und Eyfersucht in jeder Göttin Blick; Schwimmt um und um in Glanz und Wohlgerüchen, Und Harmonie, und nahmenloser Lust, — 10

Und wird zulezt an Amors Brust Von Schlummer unvermerkt erschlichen. Vermuthlich denken Sie, daß Amor — „Ich? woher, Ich bitte, nehmen Sie, daß ich bey dieser Stelle Was denken soll? Ich denke nichts, mein Herr!“ Ich meynte doch, erwiedert er, Die Ursach wäre ziemlich helle; Von Amorn ließe sich schon seinem Nahmen nach Ein wenig Hinterlist vermuthen. Dient ihm sein schwächster Pfeil statt aller Zauberruthen,

20

Wer dächte, daß es ihm am Willen nur gebrach? Auch öfnet er sich Psychens Schlafgemach, Und schleicht hinzu, und sieht. Kann Venus schöner liegen? Wie sanft sie ruht! Wie schmeichelhaft Die leichten Träume sich auf ihrem Busen wiegen! Und, was, aus eyfersücht’gen Taft, Sein irrend Auge niederziehet, — O! T i t o n hätte sich zum Jüngling dran vergaft! Wie hätte Vater Zevs vor diesem Fuß gekniet, Der, halbversteckt, nur desto mehr verführt!

30

Und Amor, der aus Liebe sie entführt, Und Amor sah’s und wurde nicht gerührt? Nichts scheint vom Glaublichen sich weiter zu entfernen; Ich geb’ es zu, Madam. — Allein, wir werden bald z w e e n A m o r n unterscheiden lernen;

Zwey Fragmente

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Halbbrüder zwar, allein an Herkunft und Gestalt Und Neigung wahre Gegenfüßer. Der eine findt den Mund unendlich süßer, Der reizend küßt, als den, der göttlich spricht; Und ihn versucht die Weiseste der Musen, Vielleicht durch einen schönen Busen, Doch sicherlich durch ihre Weisheit nicht. Der andre sieht im schönsten aller Busen Nichts als der Unschuld Widerschein; Ihm sind nur Seelen schön, und fänd’ er an Medusen

10

Das Innre liebenswerth, sie wird ihm Venus seyn! Der Rest ist nicht, warum er sich bekümmert; Die Tugend, die durch Psychens ofne Brust, Wie durch Cristall ihm in die Augen schimmert, Läßt für gemeine Augenlust Ihm kein Gefühl. — Madam, Sie lächeln einer Tugend, Die kaum mit Puppen noch gespielt? Doch unser Amor sieht in Psychens grüner Jugend Den Herbst bereits, den noch die Knosp’ enthielt; Und das Vergnügen, selbst sein Knöspchen zu entfalten,

20

Ist ihm, der so platonisch fühlt, Mehr als genug, sein Herz zu unterhalten. * * * Indessen, ob er gleich das gute Kind bey Nacht Nicht in der Ruhe stören wollte: So war er doch nicht minder drauf bedacht, Daß sie recht schön erwachen sollte. Neun Musen, rings um Psychens Bette Gelagert, wirbelten so reizend in die Wette, Daß Psyche, die davon erwacht, Schon im Olymp zu seyn sich gänzlich überredet. Sie sangen, wie der Krieg, der in der a l t e n N a c h t Das ungestalte Heer der Atomen befehdet, Durch Amors Wink, der Ordnung Platz gemacht;

530

D e r T e u t s c h e M e r k u r (Anfang Mai 1774)

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Wie neue Formen sich zu bilden angefangen, Und, von der Liebe Geist geschwellt, Voll sympathetischem Verlangen, Die Keime gleicher Art einander angehangen; Bis, durch den Ocean des Ethers, Welt an Welt, Gleich Frühlingstagen, aufgegangen. Du, Liebe, sangen sie, du bist der Geist der Welt! u. s. w. W.

Zwey Fragmente

531

¼Über das Ideal einer Geschichte. … In der allgemeinen Weltgeschichte verlange ich durchaus nicht specielle Staatengeschichte, jede von einem andern Mann bearbeitet, daß das Ganze kein Ganzes, sondern nur mehr oder minder gut bearbeitete oder vollständige Theile ausmacht; sondern, wenn ich dann nun aus eigenem Antrieb, oder dazu aufgefordert, eine Weltgeschichte schreiben müßte, wovon ich unendlich entfernt bin* ); so würde ich erst T h a t e n und B e g e b e n h e i t e n , V e r ä n d e r u n g e n auf unserm Erdball, und R e v o l u t i o n e n , welche das Ganze, oder den größten Theil des Ganzen angehen, sammlen, und dann nach vielen Jahren aus diesen zusammen ein für sich bestehendes Ganzes bilden.½

*) Dies brauchte der Verfasser nicht zu versichern. Aber bey dieser Stelle zu

10

lächeln, wird doch wohl erlaubt seyn? d. H.

Anmerkungen zu vorstehendem Aufsatz. Diese kleine Abhandlung rührt von einem jungen Gelehrten her, dessen Genie und Lebhaftigkeit des Geistes viel verspricht. Noch ist er nicht, was er werden könnte, wenn äußere, nicht von ihm abhängende, Umstände, ihm erlaubten, seinen eignen Weg fortzugehen. Was jedem aufmerksamen Leser an diesem und andern Aufsätzen des nemlichen Verfassers sogleich auffallen muß, ist die C r u d i t ä t seiner meisten Begriffe, die E i l f e r t i g k e i t seiner Schreibart, ein gewisser E g o i s m u s , welcher jungen Schriftstellern von feurigem Geist eigen zu seyn scheint, und ein M a n g e l a n B e l e s e n h e i t , der die Ursache ist, daß man mit großer Emphase die bekanntesten Dinge so sagt, als ob man sie zuerst bemerkt hätte. Er übersieht würklich schon eine große Menge von Gegenständen; aber die meisten liegen noch mehr oder weniger mit Nebel und Duft umflossen, vor ihm, gleich den ungewissen Formen der Natur zur Zeit der Dämmerung; er d i v i n i r t ihre wahre Gestalten, aber er s i e h t sie nicht. Damit d e r u m s c h a u e n d e B l i c k d e s p h i l o s o p h i s c h e n G e i s t e s

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Anfang Mai 1774)

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die Natur richtig ins Auge fasse, muß man erst in die Ebnen und Thäler derselben herabgestiegen seyn, und die Gegenstände, einen nach dem andern, einzeln, nach allen ihren Theilen, Eigenschaften, und besondersten Beziehungen, genau betrachtet haben; erst alsdann kann man einen Berg besteigen, um das G a n z e , dessen Theile man kennen gelernt hat, mit alles umfassendem, hellem Blicke zu übersehen. Aber dies kann nicht das Werk etlicher weniger Jahre seyn. Unserm jungen Schriftsteller sieht man an, daß einige neuere Denker, die er, weil sie es in seinem Kopfe sehr helle machten, mit Begeisterung gelesen zu haben scheint, besonders H e l v e t i u s und H e r d e r , einen 10

großen Antheil an seinen gegenwärtigen Begriffen haben: Aber sehr oft wäre zu wünschen, daß er fremde Begriffe nicht z u s c h n e l l zu den seinigen machte, und anstatt sie uns in Gestalt wieder von sich gegebener C r u d i t ä t e n vorzutragen, sie vorher, zu Stärkung seines eigenen Geistes, in Saft und Kraft verwandelt hätte. Dies Gleichnis ist nicht sehr elegant; aber es drückt das, was ich sagen wollte, am besten aus. Der vorerwähnte Egoismus ist einer von den Fehlern, wovor ich angehende Schriftsteller, besonders wenn sie für das eigentliche Publikum schreiben wollen, am meisten warnen möchte. Das ewige I c h , I c h , in dem Munde eines I c h , das erst kürzlich angefangen hat eine Person zu werden, und dem

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größten Theil seiner Leser noch eine unbekannte Person ist, hat etwas widerliches, das diesem I c h selbsten großen Schaden thut. Wie seltsam klingt, zum Exempel, nicht folgende Stelle: — „Wenn ich dann nun, aus eignem Antrieb oder dazu aufgefodert, eine W e l t g e s c h i c h t e schreiben müßte, w o v o n i c h u n e n d l i c h e n t f e r n t b i n : so würde ich erst T h a t e n und B e g e b e n h e i t e n , Veränderungen auf unserm Erdball, und R e v o l u t i o n e n , die das Ganze angehen, u. s. w. sammlen, und dann, nach vielen Jahren, aus diesen zusammen ein für sich bestehendes Ganzes bilden.“ — Hätte der V. anstatt zu sagen, was sein I c h thun wollte, wofern es nicht unendlich entfernt wäre es thun zu wollen, den ganzen Gedanken bescheiden und simpel, als einen Vor-

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schlag was man thun könnte, ausgedruckt, so wäre nichts dagegen einzuwenden. Aber nun klingt es gerade so, als wenn einer sagte: ich bin zwar kein Held, und will keiner seyn; aber wenn ich ein Held wäre, dann wollt’ ich Thaten thun, die alles, was Alexander, Cäsar und Don Esplandian gethan haben, verdunkeln sollten. — Ihr habt gut sagen, ich will kein Held seyn, (würden die Leute sprechen) die Frage ist, ob ihr ein Held seyn k ö n n t e t , wenn

¼Hartmann: Über das Ideal einer Geschichte½ A n m e r k u n g e n

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ihr wolltet. Unter die Stellen, die einem Verfasser nicht entschlüpfen würden, wenn man immer aufgelegt wäre, scharf genug auf sich selbst acht zu geben, und sich seiner ganzen Belesenheit bewußt zu seyn, scheint diejenige zu gehören, wo unser V. vom S a l l u s t i u s spricht: Das d a r f ich d o c h o h n e S c h e u sagen, sein tiefer philosophischer Blick v e r s p r a c h sehr viel. — Warum sollte er nicht vom Sallust o h n e S c h e u sagen dürfen, was unter den Gelehrten längst eine ausgemachte Sache ist? Und überdem glauben die Kenner, Sallusts philosophischer Geist habe in seinen Geschichten, wiewohl sie nur besondere historische Gemählde aus seiner Zeit sind, würklich g e h a l t e n , was er v e r s p r i c h t . Ein Beyspiel, was herauskömmt, wenn man e i l -

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f e r t i g schreibt, ist die gleich auf jene folgende Stelle, die den Tacitus betrift. „Seine Schrift von den Sitten der Teutschen (sagt unser V.) ist der wichtigste Beytrag zur Geschichte der Menschheit, den ich kenne.“ — So weit wird ihm wohl jeder Gelehrte beystimmen; aber was soll nun das Folgende heissen? — „so w a h r , und mit s o v i e l e r T h e i l n e h m u n g geschrieben, daß sie nicht nur für seine Römer, sondern f ü r j e d e s n i c h t e n t n e r v t e V o l k , S a t y r e seyn mußte.“ Das Büchlein de Moribus Germanorum ist Satyre für jedes nicht e n t n e r v t e Volk? — Ich wünschte zu wissen, wie dies zugehen sollte? N i c h t e n t n e r v t e Völker sind entweder poliziert oder nicht. Im lezten Falle sind sie, was die Teutschen damals waren; im ersten Falle sind sie ohne Ver-

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gleichung bessere und glücklichere Menschen, und wo soll dann die Satyre Platz finden? Überdies was soll T h e i l n e h m u n g hier heissen? vermuthlich was das Französische Wort intereˆt; aber es ist immer hiezu ein unschickliches Wort. Wie würde es klingen, wenn man die Redensart, il y a beaucoup d’intereˆt dans cette piece, übersetzen wollte: es ist viel Theilnehmung in diesem Stücke? Ich habe den Aufsatz, der mir zu diesen Anmerkungen Gelegenheit giebt, eingerückt, weil ich den Verfasser desselben aller möglichen Aufmunterung würdig halte; aber ich habe mir, aus mehr als einer Betrachtung, nicht verwehren können, meine Meynung davon zu sagen. Ich hätte sie dem Verfasser ins Ohr sagen können; aber ich hielt für besser es laut zu thun. Denn erstlich sehe ich nicht, warum ein angehender Schriftsteller — zumal einer, der sehr fruchtbar zu werden verspricht — übel finden sollte, wenn man ihm mit freundschaftlicher Freymüthigkeit bessernde Wahrheiten sagt; und dann

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sind der jungen Schriftsteller, die den Vortheil davon unter sich theilen können, so viele! W.

¼Hartmann: Über das Ideal einer Geschichte½ A n m e r k u n g e n

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Viel Wahrheit in wenig Zeilen! „Der Mann, der seines innerlichen Berufs nicht recht gewiß ist, sey ein Clericus, ein Staatsmann, ein Kriegsmann, alles in der Welt, nur kein — P o e t . Stümpert in der Juristerey, in der Arzneykunst, oder worinn ihr sonst wollt; ein paar Dutzend K u n s t w ö r t e r und ein A m t s g e s i c h t oder eine K e n n e r m i n e verbergen den Mangel an Geschicklichkeit. Der elende Minister, der elende Finanzrath, der elende Prediger, der elende Professor, alle haben ein unfehlbares Mittel, sich der Welt für etwas bessers zu geben als sie sind; und sie wissen alle meisterlich damit umzugehen. E r n s t h a f t i g k e i t heißt die M a s k e , unter welcher der große Hauffe D u m m h e i t oder S c h e l m e -

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r e y nie erkennen wird. Aber welche M a s k e , welcher J a r g o n , welche G r i m a s s e * ) könnte den E s e l verbergen, der den G ü n s t l i n g d e r M u s e n spielen wollte?“ — Wohl gesagt, D a v i d G a r r i k ! denn Ihm gebührt die Ehre von diesem Gedanken. Jedem das Seine! Hier ist das Original! Be C h u r c h m a n , S t a t e s m a n , any Thing — but P o e t — In L a w or P h y s i k , quack in what you will, C a n t or G r i m a c e conceal the Want of skill; Secure in t h e s e his G r a v i t y may pass: But h e r e no Artifice can hide the A s s .

*)

J a r g o n und G r i m a s s e sind zwey unentbehrliche Wörter, die unsrer Sprache fehlen. Die

Sachen, die dadurch bezeichnet werden, haben wir so gut als irgend eine Nation in der Welt.

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Über eine Stelle des Cicero, die Perspectiv in den Werken der Griechischen Mahler betreffend. Es ist lang eine von den Gelehrten und Kunstkennern beynahe allgemein angenommene Meynung gewesen, daß die alten Mahler und Künstler in halberhobner Arbeit von den Regeln der Perspectiv entweder gar keine oder doch nur eine sehr unvollkommne Kenntniß gehabt, und in ihren Werken von dem, was sogar die bloße Beobachtung der Natur sie hierüber lehren konnte, wenig oder keinen Gebrauch gemacht haben sollen. 10

P e r r a u l t , in seiner berüchtigten V e r g l e i c h u n g d e r A l t e n m i t d e n N e u e r n , gieng so weit, den Parrhasien und Apellen, und in der That den alten Künstlern überhaupt, die Kenntnis der Perspectiv und der stuffenweisen Verkleinerung entfernter Gegenstände gänzlich abzusprechen. Der Abbe S a l l i e r , der dieses Vorgeben in einer besondern Abhandlung *) untersucht hat, bemüht sich das Gegentheil und wenigstens so viel zu beweisen: daß die alten Künstler in den Gesetzen der Perspectiv nicht so unwissend gewesen, als Perrault aus einigen Bas-Reliefs, und besonders aus denen auf der S ä u l e T r a j a n s geschlossen; und dann, daß wenn sie auch (wie freylich nicht zu läugnen ist) von diesen Gesetzen abgewichen, dies nicht aus U n w i s -

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s e n h e i t , sondern mit V o r b e d a c h t und zu Erzielung andrer in ihren Augen mehr wesentlicher Schönheiten geschehen sey. Man sollte denken, Hr. S a l l i e r hätte sich begnügen können, die Anhänger des berühmten Verkleinerers der Alten theils auf gewisse Basreliefs und Münzen, und sogar auf einige von der Zeit noch geschonte Gemählde von unbezweifeltem Alterthum, z. E. die sogenannte A l d o b r a n d i n i s c h e H o c h z e i t * * ) , die ihn durch den Augenschein widerlegen, zu verweisen; theils aus *)

Discours sur la Perspective etc. in den M e m o i r e s d e l’ A c a d e m i e d e s I n s c r i p t i o n s

Tom. XI. pag. 152. Amsterd. Ausg. von 1736. **) 30

Man sehe hierüber die Abhandl. des Gr. C a y l u s über die Perspect. d. Alten im 39sten Theil

der Mem. de Litterature p. 116. Die im Herkulano gefundene Gemählde konnten dem Hrn. S a l -

Über eine Stelle des Cicero

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der Natur der Sache begreiflich zu machen, daß es eine offenbare Ungereimtheit sey, Künstlern, welche die Natur so sehr studierten wie die Alten, Künstlern wie ein Timanthes, ein Aetion, ein Apelles u. s. w. zuzutrauen, daß sie einen Umstand in der Natur übersehen haben sollten, den jedermann alle Augenblicke zu sehen Gelegenheit hat *). Aber Hr. S a l l i e r glaubte mit seinen Gegnern am kürzesten und sichersten fertig zu werden, wenn er ihnen eine Anzahl Stellen aus alten Autoren vorlegte, welche wenigstens durch richtige Folgerungen bewiesen, daß die Künstler der Griechen mit den Regeln der Perspectiv sehr wohl bekannt gewesen seyn müßten. P l a t o , V i t r u v und P l i n i u s haben ihm diejenige, die

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er anführt, dargeboten; und, wiewohl sich vielleicht manches gegen seine Erklärungen einwenden ließe, so muß man doch gestehen, daß sie scharfsinnig genug sind, um seiner Meynung eine starke Unterstützung zu geben. Indessen weiß ich nicht, wie ihm, und (wo ich nicht irre) noch vielen andern, eine Stelle des C i c e r o entgangen ist, welche mir allein hinlänglich scheint, den Perrault seines Irthums zu überweisen; eine Stelle, die überdies noch dadurch vorzüglich wird, weil sie eine bessere Antwort als die, so Hr. S a l l i e r giebt, für diejenige enthält, welche sich noch immer daran stoßen, daß man gleichwohl in den meisten und zum Theil in sehr vorzüglichen Werken der alten Kunst, die Perspectiv so gänzlich vernachläßiget siehet.

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Diese Stelle befindet sich im 83 s t e n A b s c h n i t t d e s Z w e y t e n B u c h s d e O r a t o r e , wo Cicero von den Vortheilen der G e d ä c h t n i s k u n s t (deren Erfindung dem S i m o n i d e s zugeschrieben wird) und von den vornehmsten Regeln derselben spricht, und zulezt das Verfahren eines in dieser Kunst Geübten mit demjenigen eines g r o ß e n M a h l e r s vergleicht, welcher Ö r t e r und E n t f e r n u n g e n d u r c h d i e V e r s c h i e d e n h e i t d e r F o r m e n u n t e r s c h e i d e — — „ p i c t o r i s cujusdam s u m m i ratione et modo, f o r m a r u m varietate locos distinguentis“. Mir däucht, diese Worte bieten einen Sinn dar, der keine Mißdeutung zul i e r nicht bekannt seyn, und würden ihm auch wenig gegen P e r r a u l t geholfen haben; denn die meisten verstossen gröblich gegen die Perspectiv. *)

Beydes hat der Graf von C a y l u s , ungefehr zwanzig Jahre nach dem Hrn. S a l l i e r , in einer

Abhandlung über das nemliche Süjet (die er blos als einen Nachtrag dessen, was sein Vorgänger vorbeygelassen, oder nur obenhin berührt, angesehen wissen will) mit der ihm eigenen Kunstkenntnis und mit aller nöthigen Unpartheylichkeit ausgeführt.

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läßt, und es folgern sich daraus zween Sätze, in denen alles begriffen ist, was die streitige Frage entscheiden kann. Nemlich 1) es gab unter den Mahlern der Alten e i n i g e , welche die Verschiedenheit der E n t f e r n u n g e n durch die Verschiedenheit der F o r m e n bezeichneten, und also die Gesetze der Perspectiv in ihren Werken befolgten, aber 2) nur M a h l e r v o n d e r e r s t e n C l a s s e besaßen diese Geschicklichkeit, aus welcher sie vermuthlich eine Art von G e h e i m n i s machten, wovon die Würkungen um so viel mehr bewundert wurden, je weniger man von den Regeln wußte, welche sich diese Meister, aus einer scharfsinnigen Beobachtung der Natur, gesammlet hatten, und 10

durch deren Anwendung sie im Stande waren, ihren Werken so viel mehr T ä u s c h e n d e s zu geben als die gemeinen Künstler. In der That würde ohne dies unbegreiflich seyn, wie die besten Mahler der Griechen in einem so wichtigen Theile der Nachahmung der Natur hätten unwissend seyn können, da wir von dem größten Künstler dieses von allen Musen begünstigten Volkes, von dem P h i d i a s , ungezweifelt wissen, daß er, unter den Hülfsstudien seiner Kunst vorzüglich die G e o m e t r i e und die O p t i k getrieben; zu welchem andern Ende, als um die wahren und scheinbaren Verhältnisse der sichtbaren Gegenstände, und vornemlich die Gesetze kennen zu lernen, „aus welchen sich (um mich mit Hrn . L a m b e r t s Worten auszu-

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drücken) bestimmen läßt, wie eine jede Sache, aus dem gegebnen Gesichtspunkte betrachtet, aussehen müsse, und nach welchen sie gezeichnet (oder gebildet) werden müsse, damit die Abbildung eben so in die Augen falle, als ob die Sache selbst gesehen würde?“ Wie hoch es P h i d i a s in dieser Geschicklichkeit gebracht, beweiset sein bekannter Wettstreit mit dem A l k a m e n e s . Beyde sollten die Bildsäule der Minerva arbeiten, damit die schönste davon ausgewählt und auf einer hohen Säule öffentlich aufgestellt werden könnte. Als die beyden Minerven dem Volke vorgezeigt wurden, hatte des Alkamenes seine beym ersten Anblick alle Stimmen. Nichts konnte schöner, ausgearbeiteter und untadelhafter seyn.

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Das Werk des Phidias schien ein Ungeheuer von Häßlichkeit dagegen; stiere, weit aufgerißne Augen, ein großer gähnender Mund, grobe Gesichtszüge, geschwollne Muskeln, Steifigkeit und Härte in den Falten des Gewandes — kurz, die Theile und das Ganze einem rohen Werke ähnlich, welchem noch allenthalben die vollendende Hand der Grazie fehlte! Man konnte nicht begreifen, wie der Mann sich einfallen lassen könne, eine solche Arbeit neben dem

Über eine Stelle des Cicero

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Meisterstücke seines Mitbewerbers sehen zu lassen. Stellet beyde an den Ort, wohin sie bestimmt sind, sagte Phidias. Man that es, und nun triumphierte der weisere Künstler. Die schöne Minerva des Alkamenes schien nun, in der Höhe wo sie stand, ein kleinliches Werk, ohne Würde, ohne Kraft, ohne Ausdruck: die von Phidias hingegen entzückte jedermann durch eine Größe und Vollkommenheit, an der sich die Augen nicht satt sehen konnten. Gleichwohl war Alkamenes ein vortreflicher Bildhauer; aber Phidias hatte die Kenntnis der Perspectiv voraus; und diese mußte, damals wenigstens, noch ein Geheimnis seyn, welches er allein besaß: weil Alkamenes, der für würdig geachtet wurde, mit ihm zu wetteifern, bey einer so entscheidenden

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Gelegenheit, keinen Gebrauch davon machte. Und sollte nicht eben dieser Phidias, in den halberhobenen Arbeiten, die er an der berühmten Bildsäule der M i n e r v a i m P a r t h e n o n angebracht — wo auf der einen Seite ihres Schildes d e r S i e g d e s T h e s e u s ü b e r d i e A m a z o n e n , auf der andern d i e E m p ö r u n g d e r T i t a n e n g e g e n d i e G ö t t e r , — auf den Halbstiefeln der Götter der S t r e i t d e r C e n t a u r e n u n d L a p i t h e n , und an dem Fußgestelle die G e s c h i c h t e d e r P a n d o r a gebildet war, sollte er in allen diesen erhobenen Arbeiten (es sey nun, daß er sie selbst gearbeitet, oder nur die Zeichnungen dazu gemacht) die Gesetze der Perspectiv weniger befolgt haben? So große und reiche Compositionen, lassen

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sich, ohne Beobachtung derselben, in einem verhältnisweise kleinen Raume, nicht einmal denken. Es ist mehr als nur wahrscheinlich, daß die Betrachtung dieser Werke des Phidias nachfolgende Künstler von Genie, vornemlich unter den Mahlern, welche der Perspectiv mehr als die Bildhauer vonnöthen haben, auf die Spur einer Wissenschaft habe leiten müssen, mit deren Hülfe dieser grosse Mann, selbst über die besten seiner Mitbewerber, so glänzende Siege erhalten hatte. Sollte P a r h a s i u s , ein Zeitgenosse, ein Gehülfe, ein Freund des Phidias, — der erste, der, nach dem Zeugnis des Plinius, S y m m e t r i e in die Mahlerey brachte, — seinem Freunde, und der Natur, die er so sehr studierte, und die ihn bis zu dem, was Plinius das H ö c h s t e

in der Mahlerkunst nennt *), führte,

nicht etwas von diesem Geheimnisse abgelernt haben? Sollt’ es wenigstens dem P a m p h i l u s , dem Wiederhersteller der berühmten Mahlerschule zu *)

H i s t . N a t . L. XXXV. c. 10. confessione artificum i n l i n e i s e x t r e m i s palmam adeptus.

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Sicyon, dem Lehrmeister eines A p e l l e s , haben verborgen seyn können? Ihm, von welchem Plinius sagt, daß er der erste gewesen, der die ganze Encyklopädie aller einem Mahler nützlichen Gelehrsamkeit inne gehabt, und vorzüglich in der Arithmetik und Geometrie stark gewesen, als ohne welche, seiner Meynung nach, die Kunst nicht z u r V o l l k o m m e n h e i t gebracht werden könne? Auch Hr. S a l l i e r schließt aus dieser Stelle, auf die höchstvermuthliche Geschicklichkeit dieses Mahlers in der Perspectiv. Aber dann geht er wohl zu weit, wenn er sich beredet, daß diese Geschicklichkeit so a l l g e m e i n unter 10

den alten Künstlern gewesen, und daß der Grund, warum man in den auf uns gekommenen Kunstwerken so wenig Gebrauch davon gemacht sieht, lediglich darinn zu suchen sey, w e i l s i e n i c h t f ü r g u t g e f u n d e n , Gebrauch davon zu machen. Der Graf Caylus selbst gesteht, daß man mit dieser Antwort nicht weit reiche; und die vorhin angeführte Stelle des Cicero — welche beyden, vielleicht weil sie nicht geradezu von der Mahlerey handelt, entgangen ist, — scheint keinen Zweifel übrig zu lassen, daß die Beobachtung der Perspectivischen Gesetze je und allezeit ein Vorzug der g r ö ß t e n u n d g e l e h r t e s t e n M a h l e r geblieben sey. P a m p h i l u s selbst, wiewohl er die Mahlerey l e h r t e , sezte einen so hohen Preiß auf die Mittheilung seiner Wissenschaft, daß

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nur sehr wenige reich genug seyn konnten, sich in seine Schule zu begeben, oder wenigstens darinn bis ans Ende auszuhalten. Denn er erfoderte zehn Jahre zur Erlernung der ganzen Mahler-Encyklopädie, und nahm für jedes Jahr ein attisches Talent. (So däucht mich wenigstens, daß die hieher gehörige Stelle des Plinius, mit dem P. H a r d o u i n , verstanden werden müsse.) Es ist also kein Wunder, daß seine gelehrten Kenntnisse in der Kunst nicht g e m e i n werden konnten. W.

Über eine Stelle des Cicero

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Der Teutsche Merkur. Des Sechsten Bandes Drittes Stück. Junius 1774. Weimar, bey Carl Ludolf Hoffmann.

¼Versuch einer Übersetzung des 26sten Kapitels des Tacitus de Moribus Germanorum *) …½

*) Dieser kleine Aufsatz ist dem Herausgeber des Merkurs von einem U n g e n a n n t e n zugesandt worden, mit der blossen Unterschrift G . d e n 3 t e n M e r z 1 7 7 4 , und mit einer Erklärung solcher Gesinnungen für den Herausgeber, die den leztern zu sehr vieler Dankbarkeit für den edeldenkenden Unbekannten verbinden. Die Leser erinnern sich vielleicht aus dem 3ten St. des Vierten Bandes des T e u t s c h e n M e r k u r s , daß der Verfasser der B e y t r ä g e sich daselbst S. 239 erklärt, daß er den wahren Sinn der Stelle des T a c i t u s , wovon hier die Rede ist, nicht zu errathen wisse. Der Ungenannte hat hievon Anlaß genommen einen Versuch zu machen, diese dunkle Stelle des Tacitus aufzuklären. In wiefern es Ihm gelungen sey, überlassen wir dem gelehrten Publikum zu beurtheilen, und bemerken nur, daß auch durch diese Übersetzung der Hauptsatz des Verf. der Beyträge bestätiget werde. W.

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¼Versuch einer Übersetzung des Orlando Furioso.½ Vorbericht des Herausgebers. Eine Übersetzung von A r i o s t s O r l a n d o F u r i o s o , in achtzeiligen Stanzen, worinn die Vers- und Reimart der italienischen O t t a v e r i m e vollkommen beybehalten wird, ist unstreitig eine der verwegensten und mühsamsten Unternehmungen, an die sich ein teutscher Dichter wagen kann; ja, in Ansehung der Armuth unsrer Sprache an R e i m e n , und des großen Vorzugs, den die Italienische überdies an G e s c h m e i d i g k e i t vor der unsrigen hat, trage ich 10

kein Bedenken, eine solche Übersetzung, wenn sie auch dem A u s d r u c k des Originals getreu bleiben soll, für unmöglich zu erklären. Gleichwohl hat sich ein junger Dichter gefunden, der mich auf eine sehr unerwartete Art, mit dieser Probe, die ich hier dem Publikum mittheile, überrascht hat. Ich weiß nicht, ob die lebhafte Empfindung der unzähligen Schwierigkeiten, mit welchen er kämpfen mußte, mich vielleicht zu nachsichtig gegen seine Arbeit macht; wiewohl ich (zumal, wenn ich ihn mit seinem Original vergleiche) wünschen möchte, sie weniger unvollkommen zu sehen; so halte ich doch für billig, ihm das, was er geleistet hat, zum Verdienst anzurechnen, und immer für Viel zu halten, daß es ihm noch s o g u t gelungen ist. Was ich

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am meisten an seinem Versuche zu loben finde, ist, daß er dem besondern Individual-Charakter der Ariostischen Poesie, oder dem, was ich (nach der Analogie von Yoriks C o r r e g g i t y ) die A r i o s t h e i t des Ariosts nennen möchte, überhaupt ziemlich nahe gekommen ist, und dadurch einigermaßen ersezt, was ihm an T r e u e abgeht, und nothwendig abgehen mußte, so bald er sich vornahm, in O t t a v e r i m e zu übersetzen. Doch, meine Absicht ist nicht, dem Urtheile der Kenner und Liebhaber vorzugreiffen. Finden diese, daß ich zu günstig von dieser Arbeit denke, so wird es der Übersetzer bey dem ersten ohnehin noch nicht ausgefeilten Versuche bewenden lassen: wird er hingegen aufgemuntert, so verspricht er mit verdoppelter Anstrengung fortzufahren,

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so lang ihn der Athem nicht verlassen wird.

¼Vorbericht und Anmerkungen: Werthes½ V e r s u c h

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Indessen kann ich nicht umhin, zu wünschen, daß er im leztern Falle, der kleinen Eitelkeit, den O r l a n d o in O t t a v e r i m e übersezt zu haben, lieber entsagen möchte. Es ist wahr, diese Versart giebt ihm eine Ähnlichkeit mit dem Original, zu deren Wahrnehmung man weiter nichts als Augen und Ohren braucht; überdies liegt unstreitig eine gewisse Musik in dieser Art zu reimen, die für die Italiener vermuthlich nur darum so viel Reiz hat, weil sie für die Vergnügungen des Ohrs empfindlicher sind, als irgend ein andres Volk. Auch die überwundne Schwierigkeit ist für den Liebhaber der Kunst, wenn alles übrige seine Richtigkeit hat, ein Vergnügen mehr, und folglich allemal ein beträchtlicher Zuwachs am Werth eines großen Gedichtes. Aus

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allen diesen Gründen würde ich einem Dichter, der uns mit einem Originalwerk im Geschmack Ariosts oder Tasso’s beschenken wollte, rathen, es in O t t a v e r i m e zu arbeiten. Aber alle diese Gründe sind, wenn die Rede von Ü b e r s e t z u n g eines A r i o s t o ist, von sehr geringem Gewichte. Der gewisseste Vorzug dieses Dichters ist seine P o e s i e d e s S t y l s , seine poetische Farbengebung, sein Ausdruck. Gehen diese verlohren, so kann uns ein Übersetzer zwar einen rasenden Roland liefern, aber nicht den vom A r i o s t , und diesen sollten wir doch haben! Dies würde, wie nur zu sehr zu besorgen ist, der Fall unsers Übersetzers seyn. Eine flüchtige Vergleichung seiner Stanzen mit dem Original ist hinlänglich, meine Besorgniß zu rechtfertigen. In keiner ein-

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zigen haben ihm die dreyfachen Reime gestattet, dem so kunstlosen, aber immer so schönen, warmen und kräftigen Ausdrucke Ariosts getreu zu bleiben. Ich gestehe, daß es mir selbst, und vielleicht jedem anderm, unmöglich seyn würde, unter der nemlichen Bedingung es besser zu machen, (die Rede ist nicht von dieser oder jener einzelnen Strophe) aber eben dies scheint mir einen unumstößlichen Grund abzugeben, warum der junge Dichter von den o t t a v e r i m e abstehen soll. Vielleicht wäre die V e r s a r t d e s N e u e n A m a d i s zu einer Übersetzung Ariosts zugleich die bequemste und angemessenste. Aber demjenigen, der sie für so l e i c h t halten würde, als sie beym ersten Anblick scheint, möcht’ ich nicht rathen, sich ihrer zu bedienen. Sie ist vielleicht unter allen möglichen diejenige, die am meisten musikalischen Sinn, und Aufmerksamkeit auf die Gesetze des P o e t i s c h e n N u m e r u s und der n a c h a h m e n d e n H a r m o n i e erfodert. Wahre Kenner, deren Urtheil weniger in den Verdacht der Partheylichkeit gezogen werden dürfte, als das meinige, mögen dem jungen Dichter rathen, was er thun soll!

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Übrigens habe ich wohl nicht nöthig, von dem innern Werthe des O r l a n d o f u r i o s o viel zu sagen, da der teutsche Merkur wenig Leser haben wird, denen nicht wenigstens so viel davon bekannt seyn sollte, daß die Italiener dieses P o e t i s c h e R i t t e r b u c h allen andern Heldengedichten in ihrer Sprache vorziehen, und auf ihren A r i o s t , als Original-Genie, wenigstens so stolz sind, als die Engländer auf ihren Shakespear. Bey denjenigen, welche das Original nicht durch sich selbst kennen, und die das Urtheil der mehrern Stimmen für verdächtig halten, kann die Hochachtung, die ein so großer Geist, als G a l i l e o G a l i l e i für den O r l a n d o f u r i o s o hatte, und der unendliche Vorzug, den 10

er ihm vor dem G o d o f r e d o des T a s s o gab, ein günstiges Vorurtheil erwekken, welches um so weniger betrügen kann, da Galilei nicht bloß ein großer Sternseher, sondern auch ein Mann von Geschmack, ein Kenner aller schönen Künste, und selbst ein geistvoller Autor war. Doch wozu haben wir hier A u t o r i t ä t e n vonnöthen? Alle Welt weiß, daß Ariosts O r l a n d o , es sey daß man ihn als ein Werk des Poetischen Genius, oder blos als unterhaltende Lectüre betrachte, wenig seines gleichen hat. Und wenn auch dies nicht hinlänglich wäre, die Unternehmung einer Übersetzung desselben dem teutschen Publikum zu empfehlen: so scheint mir der bloße Vortheil, der unsrer S p r a c h e dadurch zugehen würde, schon wichtig genug, um dem Übersetzer, wenn

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es ihm gelänge, kein geringes Verdienst um seineNation einzugestehen. W.

¼26. So flieht das kleine Reh, das auf den Auen, Wo es gebohren war, den Panther sah, Mit ofnem Schlund und blutgefleckten Klauen Hertoben sah, und seiner Mutter — ah! — In Seiten, Brust, und in den Nacken hauen. Wie bebt es nicht! Wie schüchtern flieht es da! Es läuft und keucht von Hain in Haine, Und fürchtet stets, das Ungeheu’r erscheine*).½

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*) Diese Stanze ist eine von denen, welche dem A r i o s t zu viel rauben, und gänzlich umgearbeitet werden müssen.

¼Vorbericht und Anmerkungen: Werthes½ V e r s u c h

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¼32. So bleibt sein Haupt zur Erde nieder hängen Nach längrer Zeit als einer Stunde schon, Da sich aus ihm auf einmal Klagen drängen Mit solchem rührendem und bangem Ton, Der fähig wär’, auch Steine zu zersprengen, Und Tygerthier’ im Wald und auf dem Thron* ) Zu bändigen; sein Auge gleicht der Quelle, Vor der er steht; sein Herz der bängsten Hölle.½

*) Dies i m W a l d u n d a u f d e m T h r o n ist ein Geschenk, das der Übersetzer dem Ariost macht, und wobey Ariost nichts gewinnt. Zum Unglück sind diese

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Zusätze häufig, und ersetzen uns nicht, was man uns mit der andern Hand nimmt. W.

¼34. Die junge Schöne gleicht der Morgenrose, Des Himmels Lust, der frohen Erde Zier; Noch blüht sie einsam auf in Florens Schoose: Aurora lacht, die Weste schmeicheln ihr; Die Sonne brennt, daß sie ihr liebekose*); Der Schäfer und die Hirtin weiden hier. Die Hirtin wünscht, die Brust damit zu schmücken; Der Schäfer eilt, sie zärtlich hinzudrücken.½

*) Ein unleidlicher Vers, wie der Verfasser selbst gefühlt haben muß. W.

¼35. Kaum wird dem mütterlichen Strauch entzogen Die Rose von des Hirten gier’ger Hand, So ist auch jeder Reiz von ihr geflogen, Den erst an ihr noch Erd und Himmel fand.

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Ein Jüngling hat den Honig kaum gesogen Der Blume, die noch mehr als Diamant Die Schöne zu bewahren hat, so wandern Auch ihre Reize schon von jedem andern* ).½

*) Diese Zeile hat gar keinen Sinn — und, bis der Geschmack an der Nonsensicalischen Art zu poetisieren allgemeiner geworden seyn wird, bleibt dies immer noch ein Fehler. W.

¼Vorbericht und Anmerkungen: Werthes½ V e r s u c h

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Über das Schauspiel, Götz von Berlichingen, mit der eisernen Hand. Ich habe versprochen, das bekannte Schauspiel, G ö t z v o n B e r l i c h i n g e n m i t d e r e i s e r n e n H a n d , gegen einige Vorwürfe, die ihm von dem Recensenten desselben — übrigens einem Mann von Geschmack und philosophischem Geiste, und einem großen Bewunderer des s c h ö n e n U n g e h e u e r s , wie er es nennt — im IIIten Bande des Teutsch. Merkurs gemacht worden sind, zu rechtfertigen. Und dies ists, was ich izt thun will, wiewohl ich leicht voraussehe, daß manche wunderliche Leute Ärgerniß daran nehmen, und mir übel ausdeuten werden, daß ich Gerechtigkeit gegen einen Menschen ausübe, der

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es, wie sie sich einbilden, nicht um mich verdient hat. G e r e c h t i g k e i t braucht niemand von uns zu verdienen, dächte ich, wir sind sie einem jeden schuldig, dem Teufel selbst, wie das Brokardicum sagt. Ein Autor ist darum nicht gleich ein D u n s , weil er unbillig oder unartig gegen u n s ist; und warum sollte ein böser Mensch (gesezt auch, daß einer, der uns nicht liebt, darum gleich ein böser Mensch seyn müßte) nicht eben sowohl ein gutes Werk schreiben können, als er, wenn er ein Mahler wäre, ein gutes Gemählde machen könnte, ohne um einen Gran weniger ein böser Mensch zu seyn? Aber, sagt man, es kommt doch so heraus, als ob ihr einen Autor, der euch übel mitgespielt hat, bestechen wolltet, wenn ihr ihn lobt. — Ich muß geste-

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hen, daß mir nie in den Sinn gekommen ist, daß man so etwas vermuthen könne. Mein ganzes Betragen, seitdem ich mich als Schriftsteller in die Welt gewagt habe, sollte, dächt’ ich, mich gegen einen solchen Argwohn schützen — Und wozu hätte ich nöthig, mir durch niederträchtige Mittel Freunde machen zu wollen? Oder, wie sollte ein Mann, der nicht ohne alle Kenntniß der Welt und des menschlichen Herzens ist, sich nur einfallen lassen können, daß jedermann das Beste von ihm denken; daß niemand schief, oder hämisch, oder übereilt, oder partheyisch von ihm urtheilen werde? Freylich wäre zu wünschen, daß die Schriftsteller einander wenigstens mit Anständigkeit behandeln, ihre Talente nicht zu Befriedigung kleiner schlechter Leidenschaften mißbrauchen, und den Stand der Gelehrten nicht durch ihre eigne Be-

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mühungen in den Augen der Weltleute verächtlich machen möchten. Aber wie viele Dinge wären nicht zu wünschen? Wenn Wünsche Pferde wären, wer würde zu Fuß gehen, — sagt ein englisches Sprüchwort. Ferne sey es also von mir, daß ich den Verfasser des G ö t z v o n B e r l i c h i n g e n — der eine eigene Freude daran haben soll, Personal-Satyren auf den Ersten den Besten, der ihm in den Wurf kömmt, zu machen — durch diese kleine Apologie bestechen wollte, meiner zu schonen, wenn es ihm einmal wieder einfallen sollte, in einem Anstoß von Laune sich lustig mit mir zu machen! Ich gönne einem jeden seine Freude, und wiewohl der Muthwille an 10

einem Knaben eine Unart ist, so wünschte ich mir doch keinen Jungen, der nie in dem Falle wäre, die Ruthe zu verdienen. Junge muthige Genien sind wie junge muthige Füllen; das strozt von Leben und Kraft, tummelt sich wie unsinnig herum, schnaubt und wiehert, wälzt sich und bäumt sich, schnappt und beißt, springt an den Leuten hinauf, schlägt vorn und hinten aus, und will sich weder fangen noch reiten lassen. Desto besser! denn wenn es, vt iniquae mentis asellus, die Ohren sinken ließe, und die Lenden schleppte, würde jemals ein B u c e p h a l u s oder B r i g l i a d o r daraus werden können? Praecipitandus est liber spiritus — Da ist kein ander Mittel! Man muß die Herren ein wenig toben lassen; und wer etwan von ungefähr — denn sie meynen es selten so

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übel — von ihnen gebissen oder mit dem Huf in die Rippen geschlagen wird, betrachte sich als ein Opfer für das gemeine Beste der gelehrten Republik, und tröste sich damit, daß aus diesen nehmlichen wilden Jünglingen, so fern sie glücklich genug seyn sollten in Zeiten auszutoben, noch große Männer werden können; wiewohl dies freylich dem einen und andern schon mißlungen ist, und auch fernerhin zuweilen mißlingen dürfte. Wer wohl die jungen Autoren, Kunstrichterchen, und gelehrte Polischinellen seyn mögen, denen man durch diese kleine Apologie einige Nachsicht bey dem Publikum gewinnen möchte? — Nur ein wenig Geduld! sie werden sich bald selbst verrathen. Sie werden so laut wiehern, und so ungebehrdig aus-

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schlagen, daß es unmöglich seyn wird, sie zu übersehen. Dies gehört mit zur Natur eines solchen gelehrten H i n n u l u s . Aber es hat nichts zu bedeuten. Mit der Zeit wird sichs schon geben. Man versichert mich, die Männerchen hätten entsetzlich viel Genie, sehr viel Wissenschaft, und das beste Herz von der Welt. — Genie, Wissenschaft, gutes Herz! dies ist just als ob jemand Feuer im Busen trüge, das kann nicht lange verborgen bleiben! Und so wie ich mich

¼Rezension: Goethe½ Ü b e r d a s S c h a u s p i e l

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kenne, bin ich gewiß, daß wir am Ende noch sehr gute Freunde werden müssen. Aber zu unserm G ö t z v o n B e r l i c h i n g e n ! Immerhin sey dies Schauspiel — das man nicht aufführen kann — bis uns irgend eine wohlthätige Fee ein eigen Theater und eigene Schauspieler dazu herzaubert — immerhin sey es ein s c h ö n e s U n g e h e u e r . Möchten wir viele solche Ungeheuer haben! Der Fortschritt zu wahren Meisterstücken würde dann sehr leicht seyn. Wer hat es gelesen, ohne zu fühlen, (wenn er auch nicht sagen konnte, w i e und w a r u m ) daß ihn nicht leicht eine andre Lecture (immer nehme ich E m i l i a G a l o t t i aus) mit solcher Gewalt ergriffen, so stark intereßiert, so mächtig erschüttert, so durchaus vom ersten Zug bis zum

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lezten in die Begeisterung des Dichters hineingezogen, und ans ununterbrochne A n s c h a u n der lebendigen Gemählde, die er, vt Magus, vor unsern Augen vorbeyführt, angeheftet habe? — Welche Wunder sollte der Genie, der dies gethan hat, nicht auf unserer Schaubühne würken können, wenn es ihm einfiele, Schauspiele zu schreiben, die man aufführen könnte? Es ist augenscheinlich, daß er in dem Augenblick, da er den Entschluß faßte, aus G ö t z e n s von ihm selbst beschriebener Geschichte, ein Schauspiel zu machen, sich vorsezte, alle Regeln des Aristoteles, als Fesseln, mit denen sein noch ungebändigter Genie sich nicht schleppen wollte, von sich zu werfen. Es kann also zu nichts helfen, ihm die Übertretung dieser Regeln zum

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Vorwurf zu machen, oder ihm zu zeigen, was für Nachtheile aus dieser Empörung gegen jenen alten Gesetzgeber der Dichter entstehen mußten. Unfehlbar wußte der Verfasser dies alles so gut als wir; aber er w o l l t e nun einmal allen dreyen E i n h e i t e n auf den Kopf treten, und er glaubte so viel dadurch zu gewinnen, oder gewann vielmehr würklich so viel dadurch, daß er sich das, was er dabey verlohr, nichts anfechten ließ. Vermuthlich wird die Zeit wohl kommen, da er, durch tiefere Betrachtungen über die Natur der menschlichen Seele, auf die Überzeugung geleitet werden wird, daß Aristoteles am Ende doch recht habe, daß seine Regeln sich vielmehr auf G e s e t z e d e r N a t u r , als auf Willkühr, Convenienz und Beyspiele gründen, und, mit einem Worte, daß sich ein sehr triftiger Grund angeben läßt, warum ein Schauspiel — kein G u c k k a s t e n seyn soll. Die beste Antwort auf alles was man ihm wegen Nichtbeobachtung der E i n h e i t e n vorgeworfen hat, ist, daß er bloß ein Drama zum L e s e n schreiben wollte. Ihn zu beschuldigen, daß er sich würklich eingebildet habe, sein

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Drama könnte und sollte auf unsern Schaubühnen aufgeführt werden, würde eben so viel seyn, als ihm, der so viel Genie zeigt, den allgemeinen Menschenverstand abzusprechen. Aber werden nicht S h a k e s p e a r s regelloseste Stücke noch immer in London aufgeführt? — Ich könnte hierauf antworten, daß G a r r i k selbst, der größte Verehrer den Shakespear vielleicht jemals gehabt hat, gleichwohl für gut befunden, einigen der vorzüglichsten Stücke seines Lieblings eine weniger wilde Gestalt zu geben. Aber es bedarf dieser Antwort nicht. Die Engländer haben alle mögliche Ursache, auf ihren Shakespear stolz zu seyn, und seine 10

besten Stücke, mit allen ihren Fehlern, Absurditäten und Barbarismen, den regelmäsigsten Stücken der Franzosen und ihrer eignen neuen Dichter vorzuziehen. Indessen gestehen alle Kenner und Leute von Geschmack in England, daß ein Shakespear, der in unsern Tagen, mit gleichen Talenten, regelmäßige Stücke schriebe, wohl daran thun würde; und daß alle Vortheile, welche man durch Verletzung solcher Kunstgesetze, die sich auf die Natur selbst gründen, erhält, nicht verhindern können, daß Fehler nicht Fehler, und Ungereimtheiten nicht Ungereimtheiten seyn sollten. Sobald ich ein Drama für die Schaubühne schreibe, wird alles was die Illusion hindert, zum Fehler. Schreib’ ichs bloß für Leser, so ist die Rede nicht von

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Illusion; dann ist dem Poeten, eben sowohl als dem Geschichtschreiber, erlaubt, seine Leser von einer Handlung zu einer andern gleichzeitigen, oder von einem Orte zum andern fortzuführen, und, mit gleicher Leichtigkeit Monate und Jahre, oder Gebürge und Meere zu überspringen. Dann ist es bloß darum zu thun, die Leser durch die W a h r h e i t und K r a f t seiner Gemählde zu begeistern, und dann hängt es bloß von ihm ab, wie viel solcher Gemählde er neben einander, oder in Einer zusammengeordneten Folge vor unsern Augen vorbeyführen, und welche davon er völlig ausmahlen, welche blos skizziren, welche nur gleichsam mit Einem einzigen Zug, wie einen Gedanken, aufs Papier werfen will. Vergebens sagt man einem solchen Dichter: „Der Reichthum

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eurer Materien und eure erzwungne Kürze ist euch hinderlich gewesen, hat euch genöthiget Handlungen nur leicht zu berühren, die ihr zu den interessantesten Scenen hättet ausmahlen können.“ D i e s w o l l t’ i c h a b e r n i c h t , antwortet der Dichter; und daran müssen wir uns denn wohl ersättigen. Aber was der Dichter antworten wollte, wenn man ihn fragte: Warum er sein Drama gerade in f ü n f Acte getheilt habe? — Wenigstens, nicht dem

¼Rezension: Goethe½ Ü b e r d a s S c h a u s p i e l

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Aristoteles zu gefallen. Er hätte, nach seiner Weise, vier, sechs, sieben, und, wenn es ihm beliebt hätte, siebenmal sieben Acte machen können. Die Chinesischen Schauspieler führen Tragikomödien auf, die oft acht Tage währen, sagt man uns. Warum sollten wir an einem Drama, das nicht zum aufführen bestimmt ist, nicht acht Tage lesen können? Wollte Gott, G ö t z e n s Verfasser gäb’ uns ein ganzes Jahrhundert in einer Tragikomischen Farce, die im Geiste seines G ö t z e n s geschrieben wäre: Möchte sie doch dreyhundert und fünf und sechzig Acte haben! D i e R e c e n s i o n s a g t : „Der Leser findet höchstunwahrscheinlich, daß ein Mann wie W e i s l i n g e n , der ihm nur als ein H o f m a n n , nicht als ein

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d u r c h a u s v e r d o r b n e r B ö s e w i c h t gezeigt worden, daß ein solcher Mann so leicht Tugend, Rechtschaffenheit und sich selbst einer jählich entstehenden Leidenschaft aufopfert — gegen welche der Leser ihn durch die Freundschaft gegen Götzen und die Liebe gegen Maria genug gesichert glaubt.“ Wenn der Leser dies glaubt, so hat er den Höfling, Weislingen, nicht recht ins Auge gefaßt, oder kennt die Menschen nicht genug. Weislingens Character scheint mir eins von den grossen Meisterstücken unsers Dichters zu seyn. Gerade so wie ich ihn gleich in den ersten Scenen wo er auftrit kennen lerne, ist er der Mann, dem ich alles zutraue, was er im ganzen Stücke thut. Kein durchausverdorbner Bösewicht; nichts weniger; nur ein weicher, wollüstiger, schwa-

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cher Mensch; eine Seele ohne Nerven; gut bey den Guten, aus Neigung; verkehrt bey den Verkehrten, aus Schwäche; gefühlvoll wie alle Wollüstlinge, aber unfähig Widerstand zu thun, wenn ihn ein Fürst, der ihn anlächelt, oder eine schöne, glattzüngige Schlange wie Adelheid, zum Bösen versucht. Das übrige, was ihn auszeichnet, ist blos Verfeinerung dieser Naturanlage — Weltkenntnis, Hofsprache, Geschmeidigkeit; und alles zusammen macht eines von diesen gewöhnlichen Mitteldingen aus, die alles sind, wozu man sie macht; selten Böses thun, als andern zu gefallen; gerne edel und bider wären, wenn die Tugend nur keine Opfer verlangte; in einem Anstoß von Weichherzigkeit die besten Vorsätze fassen, und etliche Wochen später, in der Trunkenheit einer bethörenden Leidenschaft sich zu Werkzeugen der ärgsten Bubenstücke machen lassen. — Dies ist W e i s l i n g e n ; und o! wie wimmelts in der Welt von solchen Z w i t t e r n ! daß ein solcher Mann, auf Götzens Schlosse, in Götzens, Elisabeths und Mariens Gesellschaft, die besten Hofnungen von sich giebt, zumal da sich die Tugend dem weichlichen Menschen in Gestalt der

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jungen, vollblühenden Marie zeigt, wundert mich eben so wenig, als daß er zu Bamberg bey lockenden Zureden eines Fürsten, dessen Günstling er war, sich seine gute Vorsätze wieder gereuen läßt, den verführerischen Reizen einer Adelheid unterliegt, und der Hofnung ihres Besitzes alles aufopfert. — Ich mag alle diese Scenen so oft wiederlesen als ich will, mir fällt nicht ein, zu wünschen, daß der Dichter uns „rührende Auftritte vom innerlichen Kampfe der Liebe zu Adelheit mit Tugend und Ehre“ in dem schaalen Herzen dieses Höflings hätte geben sollen. Dann hätte Weislingen ein andrer Mann seyn müssen! Bey diesem verlohnte sichs der Mühe nicht. Solche Kämpfe sind nur 10

interessant, wenn sie in der Seele eines Mannes vorgehen, der würklich ein Mann von Ehre, und dessen Seele bisher unbefleckt gewesen ist. Die R e c e n s i o n scheint in dem Vorwurfe, den sie unserm shakespearisierenden Dichter macht, daß er viele höchstinteressante Situationen, sonderlich in den leztern Acten, nicht benützt, hingegen in den ersten sehr entbehrliche, wiewohl a n s i c h sehr interessante Scenen angebracht habe, — aus der Acht zu lassen, daß unser Dichter kein regelmäsiges Drama schreiben wollte, und daß er allem Ansehen nach, zu seinem Schauspiel eben so wenig einen nach D i d e r o t s Vorschrift verfaßten Plan, gemacht hat, als Ariost zu seinem Orlando einen Plan nach dem Muster Homers und den Regeln des Aristoteles.

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Bey seiner Weise gewann er, was er auf einer Seite verlohr, auf der andern wieder, und hatte noch das Verdienst, neu und sonderbar zu seyn, oben drein. Ein jeder urtheilt in Sachen des Geschmacks nach dem seinigen. Die Recension hat vielleicht Recht; aber ich, meines Orts, gäbe weder den ehrlichen B r u d e r M a r t i n — zumal da wir durch ihn Götzen gleich anfangs von seiner schönsten Seite kennen lernen, und diese Scene die in den beyden ersten angefangne E x p o s i t i o n , auf eine von dem gemeinen Zuschnitt der Expositionen so meisterlich abgehende Weise, fortsezt — noch die Scene zwischen Maria, Carl und Elisabeth, durch die wir die beyden Damen auf einmal so gut kennen lernen, als ob wir sie gemacht hätten, — ich gäbe, sage ich, keine von

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diesen Scenen um die beste von denen, welche der Poet hätte machen können und sollen, wenn er g e w o l l t , d. i. wenn er nach einem künstlich angelegten Theatralischen Plane gearbeitet hätte. Die R e c e n s i o n meynt: die Charaktere der Frauenzimmer wären dem Dichter weniger g e g l ü c k t , als die männlichen; und auch hierinn, glaube ich, hat sie unrecht. Nichts vom Worte g e g l ü c k t zu sagen, welches nirgends

¼Rezension: Goethe½ Ü b e r d a s S c h a u s p i e l

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weniger als auf ein Stück paßt, wo L a u n e und G e n i e alles und das G l ü c k gewiß nichts gethan haben — so däucht mich, der größte Meister in weiblichen Charakter-Gemählden, Shakespear selbst, sey nirgends grösser in dieser Art von Mahlerey als unser Dichter in seinen Gemählden von Maria, Elisabeth, und Adelheid. Der Verf. der Recens. sagt das Gegentheil in den stärksten Ausdrücken. „Elisabeth, Götzens Gemahlin, zeigt sich n i e m a l s als eine w ü r d i g e G e m a l i n dieses unglücklichen Helden. Der m ä n n l i c h e M u t h , den der Verf. zum Hauptzug ihres Charakters gemacht hat, ist in beleidigende, fast möchten wir sagen, d u m m e U n e m p f i n d l i c h k e i t , ausgeartet, u. s. w.“ Es ist wahr, Elisabeth ist keine Schwätzerin; erscheint durchaus als

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eine ehrliche wenig verfeinerte Hausfrau aus einer Zeit, wo die Frau eines Landedelmanns, gleich dem g u t e n W e i b e S a l o m o n s , vor Tag aufstund, ihr Haus besorgte, ihre Küche selbst bestellte, u. s. w. Aber so wie sie ist, welcher Mann sollte sich keine Frau wie Elisabeth wünschen? Mir hat in dem ganzen Stücke nur eine Stelle das Herz umgekehrt und Thränen der tiefsten Empfindung aus den Augen gepreßt — und diese ist, in der Scene zu Jaxthausen, wo Götz, da es nun mit ihm aufs äusserste gekommen ist, seine Schwester und seinen Freund Sickingen nöthigt sich zu entfernen. Die ganze Scene ist ein Meisterstück von erhabner Einfalt, wahre, ungekünstelte, im höchsten Grade rührende Natur! — M a r i a und S i c k i n g e n haben sich nun endlich aus Göt-

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zens und Elisabeths Armen gerissen. Ich trieb sie, sagt G ö t z , und da sie geht, möcht’ ich sie halten. Elisabeth du bleibst bey mir. „ B i s i n d e n T o d “ antwortet Elisabeth. — Dies einzige Wort, in der Situation, in dem Augenblicke, wo es gesagt wird, ist unendlichmal mehr als alle die schönen Tiraden, die der beste französische Poet sie hätte herdeclamiren lassen. Es stellt ein Weib vor meine Seele, die des größten Helden würdig ist; ein Weib, die durch dies einzige b i s i n d e n T o d , so schön und groß als alle Alcesten, Pantheen, Porcien und Arrien der Fabel und der Geschichte in meinen Augen wird. Auch fühlt’ es Götz, was ein solches Weib werth ist. Wen Gott lieb hat, sagt er, dem geb er so eine Frau! — Und Elisabeth sollte sich n i e m a l s als eine würdige Gemahlin unsers Helden zeigen? — Warlich, die A r i s t a r c h e schlummern zuweilen auch so gut als die Homere! Was unser Aristarch an M a r i e n aussezt, sagt weder mehr noch weniger, als — daß der Dichter keine phantasierte Helden, sondern ein sanftes weibliches Geschöpf schildern wollte, nicht nach einem Modell aus der Welt der

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Ideen, sondern nach der N a t u r , mit allen den liebenswürdigen Schwachheiten, wodurch sie dieses Geschlecht für das unsrige so interessant gemacht hat, und mit allen Nuancen der Sitten und der Religion des rohen Zeitalters, woraus er sein Süjet genommen hat. Doch genug zur Apologie eines Werkes, das so stark für sich selbst spricht. Der Recensent hat ihm übrigens so viel Gerechtigkeit wiederfahren lassen, und die Manchfaltigkeiten und Vortreflichkeiten desselben so scharfsinnig bemerkt und bezeichnet, daß es unbillig wäre, ihm den wenigen, ziemlich bescheidnen Tadel übel aufzunehmen. B e s c h e i d e n h e i t im urtheilen über 10

Werke des Genies ist in unsern Tagen schon eine Art von Verdienst; B e h u t s a m k e i t im Tadeln würde für jene kunstrichterliche Tugend eine sehr nützliche Gesellschafterin seyn. Wie oft scheint uns bey der ersten Lesung tadelhaft, was wir bey der zweyten oder dritten vortreflich finden. Die Shakespearische Manier, in welcher der Dichter gearbeitet hat, bracht es mit sich, auch Personen von den niedrigsten Classen aufzuführen, und diese mußten nun wohl freylich ihre eigene Sprache reden. T a u s e n d s c h w e h re Noth, schert euch naus — Peter das ist ein gefunden Fressen, und dergleichen elegantiae der teutschen Sprache haben also im Munde der Personen, welche der Dichter so sprechen läßt, nichts sehr anstößiges. Die

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S c h e i ß k e r l e im Munde des Hrn. H a u p t m a n n s der Reichs-ExecutionsTruppen möchten weniger zu rechtfertigen seyn; aber noch weniger konnten die ausgeartete Teutschen des achtzehnten Jahrhunderts das Grosse und Heroische in dem Ausdruck Götzens fühlen: „sag deinem Hauptmann: vor Ihro Kayserl. Majestät hab ich wie immer schuldigen Respect. E r a b e r , sags ihm, e r k a n n m i c h i m A r s c h l e c k e n . “ Auch hat der Autor selbst, oder der Corrector wenigstens, in einer neuern Ausgabe für gut gefunden, die Stärke dieses altteutschen Compliments in etwas zu mildern, und sich begnügt nach den Worten e r k a n n m i c h — das was der Hauptmann thun könnte, durch einen G e d a n k e n s t r i c h der Scharfsinnigkeit des Lesers anheimzustellen.

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Ich spreche nicht gerne von den Fehlern eines vortreflichen Werkes, zumahl wo die Absicht z u b e s s e r n nicht statt finden kann; Aber, da doch so manches ohne hinlänglichen Grund an Herrn Göthens G ö t z getadelt worden: so wäre es ein wenig wunderlich, wenn man von dem, was vielleicht der größte und augenscheinlichste Fehler in seinem Stücke ist, gar nichts sagte — ich meyne von der ziemlich häufigen Vermengung der S p r a c h e aus den

¼Rezension: Goethe½ Ü b e r d a s S c h a u s p i e l

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Zeiten M a x i m i l i a n s I mit der von J o s e p h I I welche desto auffallender ist, da der Verfasser affectiert hat, G ö t z e n selbst meistens eben so reden zu lassen, wie er in seiner von ihm selbst verfaßten Lebensgeschichte spricht. Ich verstehe unter Sprache hier nicht bloß Declination, Wortfügung und Redensarten, sondern auch Ausdrücke und W e n d u n g e n , welche eine gewisse V e r f e i n e r u n g voraussetzen, wovon man zu Götzens Zeiten in Teutschland noch gar keinen Begriff hatte. Von dieser Art ist, z. E. Meine Rechte, obgleich im Kriege unbrauchbar, ist gegen d e n D r u c k d e r L i e b e nicht unempfindlich — (S. 14 der neuen Ausgabe.) Es wäre leicht eine Menge solcher Stellen auszuzeichnen, die mit der nai-

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ven, aber ungeschliffnen und von unsrer heutigen himmelweit abgehenden Sprache, welche Götz von Berlichingen selbst in seiner Lebensbeschreibung spricht, den seltsamsten Contrast macht. Es ist freylich, außer unserm Dichter, noch keinem in Europa eingefallen, daß ein dramatischer Autor, der seine Personen aus dem dreyzehnten oder funfzehnten Jahrhundert nimmt, sie auch die Sprache dieser Zeiten reden lassen müsse. Aber wenn er nun ja seinem Stück eine besondere Energie dadurch zu geben glaubte, so hätte er wenigstens alle seine Personen, jeden nach seiner Art, (denn freylich sprachen auch damals die Bischöffe und die Hofleute feiner als Bauern, Zigeuner und der Wirth in der Herberge zu Schwarzenberg) sich durchgängig so ausdrükken lassen sollen, wie man unter Kayser M a x e n zu reden pflegte. — Doch, dem Manne, dessen Philosophie auf den Grundsatz d a s B ö s e s e y g u t , und d a s G u t e , b ö s e , d a s S c h ö n e , h ä ß l i c h , und d a s H ä ß l i c h e , s c h ö n , — gebaut ist, muß es lächerlich vorkommen, wenn man so viel Worte verliehrt, um ein Werk zu vertheidigen oder zu tadeln, worinn alles gut ist und alles nichts taugt. W.

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Über eine Stelle in Lucians Hippias. L u c i a n beschreibt in einem kleinen Aufsatz, H i p p i a s betitelt, ein öffentliches Badhaus, welches er, seiner vortreflichen Bauart, Schönheit und bequemen Eintheilung wegen, für eines der vollkommensten Kunstwerke seiner Zeit ansieht. Der Baumeister war ein gewisser H i p p i a s , ein Mann, der von allen Wissenschaften und Künsten nicht nur, wie viele andre, sehr gut zu reden wußte, sondern in der Geometrie, Mechanik, Baukunst, Musik, Astronomie, einen so hohen Grad praktischer Fertigkeit erreicht hatte, daß er es den größten Virtuosen seiner Zeit in jeder dieser Künste gleich that. 10

Die Meisten (sagt Lucian; wenigstens ist dies offenbar der Sinn seiner Worte) welche sich für gelehrt geben, scheinen sehr viel zu wissen, so lange man sie blos r e d e n hört; aber wenn sie das Versprechen ihrer Kunst halten, wenn sie a u s ü b e n sollen; so befinden sie sich entweder in dem Falle, welchen Sokrates den Physikern vorwirft, „sie wissen zwar sehr viel von den Ursachen des Regens zu sagen, aber sie können keinen Regen machen;“ oder sie können wenigstens nicht mehr thun, als andre vor ihnen gethan haben, sie sind bloße Nachahmer. Lucians Hippias war nicht von dieser Art: alle seine Wissenschaft war praktisch: und jede Kunst, die er trieb, hatte er so vollkommen in seiner Gewalt, daß er immer bereit war, jede Aufgabe, die man ihm vorlegen konnte,

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mit der Gewißheit und Leichtigkeit eines Meisters, der die Kunst selbst e r f u n d e n hätte, aufzulösen. Um uns dieses zu sagen, bedient sich Lucian einer Redensart, welche zwar aus der Geometrie entlehnt ist, aber nichts desto weniger eine Art von Sprüchwort gewesen zu seyn scheint: Hippias (so spricht er) wußte, wie die Geometern zu sagen pflegen, auf jeder gegebenen Linie das verlangte Dreyeck aufzurichten. Man muß große Lust zum Schikanieren haben, wenn man nicht sehen will, daß Lucians Meynung nicht gewesen sey, die Kunst, auf jeder gegebnen Linie das verlangte Dreyeck aufzuführen, für den höchsten Gipfel der Meßkunst auszugeben; sondern daß er bloß die L e i c h t i g k e i t , womit dieser Hippias

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jede verlangte Aufgabe zu Stande zu bringen gewußt, dadurch habe andeuten wollen. Gleichwohl wird ihm von dem hochgelahrten Kritikus M o s e s d ü

Über eine Stelle

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S o u l oder M o s e s S o l a n u s , wegen dieser angeblichen Ungereimtheit und äußersten Unwissenheit der Geometrie, mit aller Grobheit, die den meisten seiner Profeßionsverwandten von jeher eigen gewesen ist, der Text gelesen. Lucian mag wohl kein großer Meßkünstler gewesen seyn: dies geb ich gerne zu; aber da es so leicht ist, seine Worte in einem vernünftigen Sinne zu nehmen; so hatte Hr. Moses dü Soul sehr unrecht, das bischen Geometrie, was er vielleicht mehr wußte als Lucian, auf dessen Unkosten geltend zu machen. Diese Impertinenz des Hrn. dü Soul konnte freylich unserm vortreflichen Joh. Matthias G e ß n e r — der an Verstand, Wissenschaft und Bescheidenheit so wenige seines gleichen gehabt hat — nicht entgehen; aber, ohne sie zu rü-

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gen, begnügte er sich in einer seiner Anmerkungen zu unserm Schriftsteller, den wahren Sinn desselben zu erklären. Natürlicherweise hätte also Hr. R e i z (der Herausgeber der neuesten Ausgabe der sämtlichen Werke Lucians) die Solanische Censur, als unrichtig und unnütze, gänzlich weglassen, oder wenigstens der Geßnerischen, durch welche sie berichtigt wird, vorsetzen sollen; wie sie denn auch der Zeit nach älter war. Aber so vieler Aufmerksamkeit würdigt dieser Herausgeber seinen Autor nicht: ungereimt oder nicht, die Geßnerische Anmerkung muß voran, und die Solanische, gleich als ob diese die Geßnerische verbessern sollte, hinten nach. Man kann diesen Herren, welche sich auf ihr Verdienst, Worte zu berichtigen, Handschriften und alte Aus-

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gaben zu vergleichen, Noten zu machen oder zu sammlen, und neue Ausgaben zu besorgen, gemeiniglich mehr als Recht ist, einzubilden pflegen, diese Schwachheit leicht zu gut halten; aber alsdann ist doch auch das Wenigste, was man von ihnen fodern kann, daß sie uns nicht (wie Hr. R.) beynahe auf allen Seiten ihrer Arbeiten mit Beweisen der Nachläßigkeit, und des wenigen Aufwandes von Verstand und Geschmack, womit sie ihr Handwerk treiben, anstößig werden sollen. Wie soll man, z. Ex. eben diesem Herausgeber den lächerlichen Fehler verzeyhen, daß er den Hippias, von welchem Lucian als von seinem Z e i t g e n o s s e n spricht, mit dem S o p h i s t e n H i p p i a s , den wir aus dem Plato kennen, vermengt; ohne zu bedenken, daß der Platonische Hippias gegen sechshundert Jahre hätte alt seyn müssen, um der Hippias des Lucians zu seyn? Ein solcher Verstoß ist von einem Manne von seiner Profeßion immer arg genug; aber wie unendlichmal ungereimter wird er, da ihn zwoo vorgehende Anmerkungen des Hrn. Du Soul vor diesem schon von G e r h a r d V o ß und G o t t f r i e d O l e a r i u s begangnen Gedächtnißfehler ge-

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warnt hatten? Was könnte abgeschmackter seyn, als sich dabey auf den P h i l o s t r a t u s als eine Q u e l l e zu berufen, der doch alles, was er von dem S o p h i s t e n H i p p i a s wußte, aus dem P l a t o zusammengetragen hat? Doch, zum Beweise, daß würklich noch etwas ungereimters möglich war, citirt er den O l e a r i u s , d e r n o c h e i n m e h r e r s a u s d e m L u c i a n a n g e f ü h r t h a b e ; gleich als ob Olearius, der diesen nehmlichen Hippias des Lucian a u s s c h r i e b , ein mehrers von der Sache hätte wissen können, als Lucian selbst. S o giebt man die Alten heraus, und s o macht man Noten! — Wie selten sind, in ihrer Art, ein S p a n h e i m , ein G e ß n e r , ein E r n e s t i , ein H e y n e ? 10

Dieser lezte besonders, der mit der feinsten philologischen Gelehrsamkeit die Urtheilskraft eines Aristarchs, das feinste Gefühl des Schönen und die Gabe, es sinnreich und glücklich auszudrücken, verbindet. In seine Fußstapfen scheint auch der Hr. Prof. S e y b o l d in Jena zu treten, der sich seit kurzem durch eine anpreißenswürdige Ausgabe einiger auserlesener Stücke Lucians ( L u c i a n i O p u s c u l a s e l e c t a . G o t h a e . sumt. Car. Wilh. E t t i n g e r 1774. kl. 4. 192 S.) und durch eine mit feinen kritischen Anmerkungen begleitete Übersetzung der A l c e s t i s des E u r i p i d e s , als einen Mann gezeigt hat, der die Griechen nicht blos als ein Wortklauber studiert, sondern in ihren Geist eindringt, und durch ihren vertrauten Umgang seinen

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eignen vollkommner macht. Dieser Gelehrte macht uns Hoffnung, daß er uns, auf die nehmliche Art, wie er die opuscula selecta behandelt hat, eine neue, von den bekannten Gebrechen der Reizischen befreyte, brauchbarere und ungleich wohlfeilere Ausgabe d e r s ä m t l i c h e n W e r k e L u c i a n s liefern werde; und wir wünschen dieses Versprechen um so mehr erfüllt zu sehen, je überzeugter wir von der Richtigkeit des günstigen Urtheils sind, welches der große E r a s m u s von diesem geistvollen und mit der feinsten Welt- und Menschenkenntniß angefüllten Schriftsteller fällt, dessen Lektüre man jungen Leuten, quibus de meliore luto finxit praecordia Titan, nicht genug anpreisen kann, zumal wenn sie das Studium der Werke X e n o p h o n s ,

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als ein nöthiges Gegengift gegen das Ausschweiffende in Lucians Laune und gegen das Verführerische in seiner nicht immer gesunden Moral, damit zu verbinden nicht vergessen. W.

Über eine Stelle

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G ö t t e r , H e l d e n u n d W i e l a n d . E i n e F a r c e . Auf Subscription gedruckt. Leipzig 1774. Der Herr D. G ö t h e , Verfasser dieses Werkleins, nachdem er uns in seinem Götz von Berlichingen gezeigt hat, daß er S h a k e s p e a r seyn könnte, wenn er wollte: hat uns in dieser h e r o i s c h - k o m i s c h - f a r c i c a l i s c h e n P a s q u i n a d e gewiesen, daß er, wenn er wolle, auch A r i s t o p h a n e s seyn könne. Denn so wie es ihm in diesem kritischen W r e x e k e k e k K o a x K o a x beliebt hat, mit W i e l a n d und Wielands A l c e s t e sein Spiel zu treiben, so trieb es Aristophanes ehemals mit dem nehmlichen E u r i p i d e s , welchen Hr. G ö t h e hier, mit der ihm eignen Laune, dem Verfasser des Singspiels Alceste auf den Kopf treten läßt. Wir empfehlen diese kleine Schrift allen Liebhabern der pasquinischen Manier als ein Meisterstück von P e r s i f l a g e und sophistischem Witze, der sich aus allen möglichen Standpunkten sorgfältig denjenigen auswählt, aus dem ihm der Gegenstand schief vorkommen muß, und sich dann recht herzlich lustig darüber macht, daß das Ding so schief ist! W.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Anfang Mai 1774)

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Die Collection of Voyages des D r . H a w k e s w o r t h ist ein zu berühmtes Werk, als daß es vielen unsrer Leser ganz unbekannt seyn könnte. Es enthält eine von Meisterhand verfertigte Beschreibung der neuesten Reisen um die Welt, welche von Engländern im Laufe der lezten zehn Jahre unternommen worden, und unter denen sich, auf die vorzüglichste Weise, die von den berühmten Hrn. B a n k s und Dr. S o l a n d e r , aus edelm Wissensdurste, unternommene Reise in dem südlichen Theile unsrer Welt, durch den philosophischen Geist der sie in ihren Beobachtungen geleitet, und durch eine Menge neuer Entdeckungen auszeichnet. Je seltner es ist, daß Philosophen derglei10

chen Reisen unternehmen wollen und können, je merkwürdiger werden solche für die Menschheit; und wiewohl diese neuesten, in einem noch wenig bekannten Welttheile unternommenen, gefahrvollen Wanderungen dem Warheitsforscher noch vieles zu fragen und zu wünschen übrig lassen: so sehe ich sie doch als einen höchstschäzbaren Beytrag zur Geschichte unsers Planeten und seiner Bewohner an, der dem Nachdenken des Philosophen neue Felder eröfnet, und durch die neuen Seiten, die er uns an der menschlichen Natur zeigt, uns in den Stand sezt, einen merklichen Fortschritt in der raisonnierten Naturgeschichte des physisch-moralischen Menschen zu thun, und manchen wichtigen Punkt, worüber wir bloß durch den Weg der Beobachtung ins Klare

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kommen können, der Berichtigung näher zu bringen. Von diesem in so vielen Betrachtungen wichtigen Werke, welches auch für die blossen Liebhaber einer unterhaltenden Lectüre durch die Neuheit der Gemählde, die es aufstellt, und die angenehme Art des Vortrags unendlich interessant ist, liefert uns die H a u d e u n d S p e n e r i s c h e B u c h h a n d l u n g in Berlin eine teutsche Übersetzung, unter dem Titel: G e s c h i c h t e d e r E n g lischen Seereisen und Entdeckungen in der südlichen Hemis p h ä r e , in drey Quartbänden, auf schönes Regalpapier prächtig abgedruckt, wovon die beyden ersten Bände bereits in dieser Ostermesse ausgegeben werden. Die Verleger haben, mit einem aufmuntrungswürdigen Eifer, weder

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Fleis noch Kosten gespart, diese teutsche Ausgabe eines der merkwürdigsten Bücher unsres Jahrhunderts in jeder Betrachtung dem Original so nah zu bringen als möglich. Die, einem in London selbst wohnhaften, und in beyden

¼Anzeige: Hawkesworth½ G e s c h i c h t e

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Sprachen gleichgeübten Gelehrten, übertragne Übersetzung verdient, wenn ich mich nicht sehr irre, ihrer Sprach-Richtigkeit und schönen Schreibart wegen, claßisch genennt zu werden. Die zu dem Werke gehörigen Kupfer, sind nach dem Englischen, (wozu der K ö n i g v o n E n g l a n d — dieser preißwürdigste Freund und Beförderer der Wissenschaften und Künste — selbst die Kosten hergegeben) mit so vielem Fleisse nachgestochen, daß sie den Originalen beynah gleich zu schätzen sind. Kurz, die Verleger haben sich beeifert, diesem Werke einen der ersten Plätze unter den Wenigen zu verschaffen, welche die Ehre der teutschen Typographie gegen die Ausländische behaupten. Wir zweifeln nicht, daß es bey unserm Publicum die günstige Aufnahme finden werde, die es verdient. Welcher Liebhaber einer unterhaltenden Lectüre wollte das Geld, das er vielleicht nach und nach an ein Dutzend schaaler Romänchen oder andrer litterarischer Meteore von der wäßrigen, feurigen oder lüftigen Art, vertändelt hätte, nicht lieber an ein Werk wenden, das das Wahre mit dem Neuen, und das Nützliche mit dem Angenehmen auf eine so vorzügliche Art vereiniget? W.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Anfang Mai 1774)

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Der Buchhändler, Johann Ernst M e y e r , in Breslau hat uns unlängst d e n e r s t e n T h e i l e i n e r t e u t s c h e n Ü b e r s e t z u n g des merkwürdigen Nachlasses des berühmten H e l v e t i u s an die denkende Welt, nehmlich von dessen Werke ü b e r d e n M e n s c h e n , d e s s e n G e i s t e s k r ä f t e und d e s s e n E r z i e h u n g , d. i. über den M e n s c h e n , wie ihn die N a t u r macht, und wie ihn die K u n s t ausbilden und vollenden könnte, geliefert. Von dem Buche selbst läßt sich mit gleichviel Wahrheit, sehr viel Böses und sehr viel Gutes sagen. Es enthält viele, mehr oder weniger nahrhafte, zum Theil ziemlich leichte, zum Theil ziemlich unverdauliche Seelenspeise für philosophische Köpfe; aber vie10

les, was ein gesunder denkender Kopf wohl verdauen kann, ist Gift für schwache oder leichtsinnige oder nicht genug unterrichtete Leser. Um so mehr hätte der Übersetzer eines solchen Buches dasselbe nicht ohne das nöthige G e g e n g i f t , nicht ohne eine gründliche Beurtheilung, und ohne prüfende oder zurechtweisende Anmerkungen in die Welt schicken sollen. K o n n t e er nicht? W o l l t e er nicht? Ließ ihm d e r V e r l e g e r n i c h t Z e i t dazu? Im zweyten Falle hätte der Übersetzer, im ersten und dritten der Verleger sehr unrecht. Werke von diesem Schlage müssen entweder gar nicht, oder von Männern übersezt werden, welche Genie, Gelehrsamkeit, guten Willen und Muße genug haben, sie, durch gehörige Scheidung des Guten und Bösen, un-

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schädlich und gemeinnützig zu machen. W.

¼Anzeige: Helve´tius½ ü b e r d e n M e n s c h e n

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Erklärung des Herausgebers über die Recension N. 2. S. 345 im Fünften Band des M e r k u r. Herr Doctor Z ü c k e r t , in Berlin, ein gelehrter Arzt, der durch viele eigene Schriften sich um die Naturgeschichte und Arzneywissenschaft verdient gemacht, und dessen d e r M e r k u r S. 328 des Fünften B. sehr rühmliche Erwähnung thut, beschwehrt sich in einem höflichen und seinem sittlichen Charakter Ehre machenden Schreiben an mich, darüber, daß ihm in der Rec. II. S. 345 des Fünften B. vom M e r k u r unverdienter weise, übel begegnet worden. Er verlangt zwar deßhalben keine Genugthuung; aber ich halte mich

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verbunden, sie ihm öffentlich zu geben; da nichts meinen Gesinnungen mehr zu wider ist, als Männern von würklichen Verdiensten, auch alsdann wenn ich von irgend einem ihrer Werke Böses sagen m u ß , unwürdig zu begegnen. Ich versichre also hiemit, daß ich über d i e P e r s o n des Verfassers der Berlinischen Übersetzung T r i s t r a m s ganz falsch berichtet war, und, in der gänzlichen Meynung, daß D. Zückert, der Arzt, und Zückert, der Übersetzer Tristrams zween ganz verschiedene Männer wären, von dem L e z t e r n nicht so gesprochen habe, als ich gethan haben würde, wenn ich gewußt hätte, daß es eben derjenige sey, der sich in einem andern Fache die Hochachtung der gelehrten Welt erworben hat. Dieses mir schmerzlichen Irrthums würde ich

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nicht schuldig geworden seyn, wenn ich die im 4ten Stücke des I. B. der B a l d i n g e r i s c h e n B i o g r a p h i e n befindliche Lebensbeschreibung des Hrn. D. Zückerts, und darinn auch sein selbsteignes Bekenntnis über die Gebrechen seiner Übersetzung Tristrams gelesen hätte. Aber wie sollt’ ich auch alles lesen können? Übrigens erfreut michs zu vernehmen, daß Hr. D r . Z . an dem Mißbrauch meines Nahmens, der den Ausfall auf seinen Verleger und Ihn veranlaßte, keinen Antheil gehabt habe. Ob ich z u v i e l Böses von seiner Übers. und von einer gewissen nur allzuzahlreichen Classe von Übersetzern gesagt, darüber mögen Kenner urtheilen. Alles was ich dem Hrn. D . Z ü k k e r t und mir selbst schuldig zu seyn glaube, ist, zu erklären, daß ich mich an

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Anfang Mai 1774)

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seiner Person gänzlich geirret habe, und da ich von der Zückertschen Übersetzung s p r a c h wie ich d a c h t e , weit entfernt war zu wissen was ich nun weiß. Einem Manne von V e r d i e n s t e n eine Thorheit v e r z e i h e n und v e r g e s s e n , ist eine Pflicht der Menschlichkeit; denn wir fehlen alle mannichfaltig. Aber ein elender Übersetzer, der nichts ist als ein elender Übersetzer, wird mit allem Rechte unter die größten Litterarischen Missethäter gezählt, und verdient keine Schonung. W.

Erklärung des Herausgebers

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Nacherinnerung des Herausgebers zu dem auf der 211 Seite befindlichen Urtheil eines Ungenannten über Hrn. L e B r e t. Mit Unwillen werde ich, wiewohl beynahe zu spät, auf der 211 Seite d. B. im Aufsatz eines Ungenannten (der zwar nur zu kennbar ist) den eben so unbilligen als übermüthigen Ausspruch über einen der verdienstvollesten Gelehrten unsrer Nation, über Hrn. L e B r e t gewahr, — wo gesagt wird: e r h ä t t e w a h r l i c h b i s h e r w e n i g g e n u g g e l e i s t e t . Ich übersah diese impertinente Stelle, in der etwas unleserlichen Handschrift; sonst würde ich dem jungen Manne, der der ganzen gelehrten Welt ein so übermüthiges de´menti giebt, mit einem frischen Federstrich diese Thorheit erspart haben. Jedermann weiß, daß Hr. L e B r e t in seinem Fache ungemein viel geleistet hat. Unser junger Idealist hohlt weit aus; wir wollen sehen, was er dann leisten wird! W.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Anfang Mai 1774)

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Druckfehler im 5ten Bande des Merkur. ¼…½ Ausser diesen Druckfehlern, die zum Theil auf Rechnung der Copisten der Manuscripte zu setzen sind, muß ich noch einen ziemlich lächerlichen Verstoß bemerken, den sich der Verfasser der Abderiten hat zu Schulden kommen lassen. Demokritus giebt nehmlich S. 73. seiner ä t h i o p i s c h e n V e n u s Lippen von der schönsten C o r a l l e n f a r b e , da er doch hätte wissen sollen — was alle Welt weiß — daß die Lippen der Negern nicht röther sind als ihre Wangen. — 10

Einem ähnlichen, wiewohl nicht so auffallenden Gedächtnisfehler, auf der 1 Z. der 59 S. des Sechsten Bandes, kann durch Wegstreichung des D i o d o r u s S i c u l u s abgeholfen werden.

Druckfehler

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Der Teutsche Merkur vom Jahr 1774. Siebenter Band. Weimar, in Carl Ludolf Hoffmanns Verlag.

Der Teutsche Merkur. Des Siebenten Bandes Erstes Stück. Julius 1774. Weimar, bey Carl Ludolf Hoffmann.

Der verklagte Amor. Ein Gedicht in vier Büchern. An den Leser. Die beyden ersten Bücher dieses Gedichtes und ein Fragment des dritten erschienen vor zwey Jahren als ein Anhang neben einer Sammlung von Hirtenliedern, womit ein junger Dichter sich zum erstenmal hören ließ. Man hat den Bewegungsgrund, warum der Verfasser des Fragments seinen Bitten, ihm dies unvollendete und zur Vergessenheit verdammte Stück zu überlassen, nachgab, zu gut errathen, als daß hier etwas davon zu sagen nöthig wäre. Die Aufnahme, die es selbst in dem unvollkommnen Zustand eines unbefeilten

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und unvollendeten Aufsatzes erhielt, veranlaßte den Verfasser, es mit mehr Aufmerksamkeit anzusehen. Die meisten Leser hatten gewünscht, daß es vollendet werden möchte; und nun dünkte ihm selbst, sie hätten Recht. Allein eine geraume Zeit fand sich keine Gelegenheit dazu. Die Stunden, worinn ein Dichter, der von Gemüthsart nichts weniger als komisch ist, sich aufgelegt und innerlich angetrieben fühlen kann, den Thoren ein Thor zu werden, in der schwachen Hofnung, sie vielleicht weiser zu machen, — diese Stunden sind nicht die glücklichsten des Lebens. Es gehört eine gewisse Bitterkeit der Seele und ein wenig schlimme Laune dazu, einen Freund der Menschheit dahin zu bringen, daß er die menschlichen Dinge von der komischen Seite ansehe. Gleichwohl ist dies noch immer die unschuldigste Art der Hypochondrie Luft zu machen; wenigstens können wir nicht anders als es für wahre Weisheit halten, wenn P h a n i a s die Menschen, — so sehr sie Thoren sind, N i c h t h a s s e n s w e r t h , nur lächerlich sie findt.

Wir haben nichts dagegen, wenn andre Hypochondristen eine Erleichterung

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Mitte September 1774)

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darinn finden, über die Verirrungen und die Verderbniß der Sterblichen zu weinen; auch zürnen und schelten mögen unserthalben diejenigen, die sich selbst bereden können, daß es Leute gebe, die man durch Zürnen und Schelten besser mache. Wir danken dem Himmel, daß wir — in den meisten Fällen wenigstens — wo mancher andre sein Gesicht verzerrt und seine Gebehrde verstellt, lächeln können. Wir befinden uns wohl dabey, und haben schon oft das Vergnügen gehabt, von wackern Leuten, denen die Mittheilung dieser Laune wohlthätig gewesen ist, Dank zu verdienen. Der verklagte Amor erscheint also hier vollständig, und die durchgängige 10

Auspolirung sowohl, die mit den ersten Abschnitten vorgenommen worden, als die Bequemlichkeit vieler Leser des Merkurs, denen dies Gedicht, als Fragment, nicht zu Handen gekommen, schien zu erfodern, daß man es ganz abdrucken lasse.

Der verklagte Amor. An den Leser

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Der verklagte Amor. Erstes Buch. Der große Tag war nun herbeygekommen, An dem im Götter-Parlament In Sachen zwischen den Weisen und Frommen, Als Klägern an Einem — und Amorn, den man Cupido nennt, Beklagtem, am andern Theil, gesprochen werden sollte. Die Götter versammelten sich, indem das hohe Signal, Der Donner Jovis, siebenmal Rings um die himmlische Burg durch heitre Lüfte rollte.

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Sie schritten herbey; Neptun vom alten Trözen; Von Delos der schöne Apoll, und von den thrazischen Höh’n Der Gott des Weins, begleitet von Vater Silen Auf seinem trägen Thier. Die Jägerin Diane Verläßt den waldichten Cynthus; und ihr gelehrtes Athen Minerva. Nicht geschleppt von ihrem lahmen Vulkane, Vom Kriegsgott, wie im Triumphe, geführt, Schwamm auch Cythere daher in flatterndem Gewande, Und ohne Absicht nicht mit ihrem Gürtel geziert. Ihr sehen die Götter, zumal d i e v o n d e r f r ö l i c h e n B a n d e , Mit Lüsternheit nach, und jeder nimmt sich vor, Wohlfeiler nicht für sie als um den Preis zu sprechen, Um den einst Pallas und Juno den goldnen Apfel verlohr. Denn daß die Göttin die Richter für Amorn zu bestechen Gekommen, zischelt man einander laut ins Ohr. Die Klugheit will, bey zweifelhaften Sachen Die R h a d a m a n t e n sich voraus geneigt zu machen; Und wem ist unbekannt, wie groß in diesem Stück Der Schönheit Vortheil ist? Sogar der H i p p i a s s e n

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Berufne Kunst *) muß ihr den Vorzug lassen; Sie überzeugt durch einen bloßen Blick. Man zeige mir, vor seinem Stufenjahre, Den C a t o oder C a t i n a t , Bey dem (vorausgesezt, er leide nicht am Staare) Ein schöner Busen Unrecht hat! Indessen daß sich nun im großen Saale die Götter Und ihre Damen nach und nach Versammelten, Venus die Männer bestach, 10

Und H e r m e s , der Höfling, und M o m u s der Spötter Der alten V e s t a die Stimme versprach, Wars ziemlich laut im zweyten Vorgemach. Die hohe Dienerschaft der Götter, Der A d l e r J u p i t e r s , und stolz wie seine Frau, Der in sich selbst verliebte P f a u , Dionens Spaz, Minervens Eule, A p o l l o s S c h w a n , und einer der schon grau In Mutterleibe war, und den man sonst nicht gerne Vor zarten Ohren nennt, (wiewohl Freund T r i s t r a m - S t e r n e

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In diesem Punkt (dem Himmel seys geklagt!) Und noch in manchem Punkt nichts nach der Mode fragt,) Kurz, und so züchtiglich, als möglich ist, gesagt, Der E s e l S i l e n s , verkürzten sich die Weile, Die Welt, an der sie viel, sehr viel zu bessern sehn, In eine andre Form zu giessen; Denn so (spricht Doctor K a u z ) so kann es nicht bestehn! Und er beweist den Satz mit langen Kettenschlüssen. Allein, um Rath zu schaffen, müssen Wir (spricht er) auf den Grund des Grunds zurücke gehn.

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Die Leute sind nicht klug, ist eine alte Sage, *)

Die K u n s t d e r S o p h i s t e n eine schlimme Sache gut, oder wie wir sagen, schwarz weiß zu

machen.

Der verklagte Amor. Erstes Buch

1—57

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Und nicht der Weisen nur, sogar der Narren Klage *). Von T r i s m e g i s t zu S a l o m o n , Vom Spötter L u c i a n zu G e r h a r d G e r h a r d s o n , E r a s m u s sonst genannt: ist alles voll davon; Akademien und Lyceen Beweisen es zum Greifen und zum Sehen In Duodez, in Quart, in Folio; Man hört nichts anders! — Gut, ihr Narren, ist ihm so, (Wie denn, nach M a r c u s C i c e r o , Consensus gentium **) die Sache klar beweiset.)

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Was hilft es, wenn ein Narr den andern Narrn belacht, Und keiner weder sich noch andre weiser macht? Zwar hör’ ich den und den, der sein A r c a n u m preiset: Ihr Herrn, es hilft gewiß! Wer kauft mein Elixir, Die Quintessenz der Weisheit aller Zeiten? Es führt die Grillen ab, vertreibt die Übelkeiten, Stärkt Kopf und Herz — Sehr wohl, wir wollen hier Uns nicht um Ziegenwolle zanken; Hilft dein Laudan, so ist dafür zu danken; Nur zeig’ uns, Wundermann! die erste Prob’ an dir.

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Kurz (denn wir andern, welche denken, Sind nicht gewohnt die Worte wegzuschenken.) D i e W e l t i s t v o l l e r N a r r n . Doch, wie zu helfen sey, Hat bis auf diesen Tag noch niemand ausgefunden, Mich kümmerts nicht. Indessen sag’ ich frey, Z e v s , der uns helfen kann, ist auch dazu verbunden. Wär’ ich an seinem Platz — „An seinem Platze? (fällt Der A d l e r ihm ins Wort) ein blinder Herr der Welt? Man muß gestehn, sie wäre wohl bestellt. Doch immerhin, Herr Kauz! an seinem Platze Was thätest du?“ Ihr denkt vielleicht, ich schwatze, *)

Auch, ob der Narr selbst närrisch ist in seinem Thun, noch hält er jedermann für Narren.

R. Salomon. **)

Die Übereinstimmung aller Völker einander lächerlich zu finden und zu verachten.

S . Z i m m e r m a n vom National-Stolz, und H e l v e t i u s de l’Esprit. Disc. II. chap. XX. XXI.

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Doch, glaubt mir, (spricht der K a u z mit wichtigem Gesicht) Der Grund des Übels ist: D i e L e u t e d e n k e n n i c h t ; Zum mindsten, n i c h t g e n u g , und selten, wenn sie s o l l e n ; Und dann verhindert sie auch, wenn sie denken w o l l e n , Die Sinnlichkeit, besonders das Gesicht. Um tief zu denken muß uns nichts von aussen stören, Und was zerstreut uns w i e d a s L i c h t ? Wie gut wir Denker es entbehren, Laßt euch mein eignes Beyspiel lehren. 10

Drey Sinnen, vier aufs höchste sind genug, Zum Hausgebrauch; was soll das Auge dienen? Was ist es als ein Quell von Irrthum und Betrug? Kurz eure Leute sind blos weil sie sehn nicht klug; Die Augen, wär’ ich Zevs, die Augen nähm ich ihnen. Die Augen? (zwitschert ihm C y t h e r e n s V o g e l zu,) Und dies um klug zu seyn? Ich denke nicht wie du! Wiewohl es Zeiten giebt, wo ich mit Einem Sinne Ganz wohl zufrieden bin. Doch, Doctor, ob die Welt Bey deinem Rath so viel gewinne,

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Das lassen wir dahin gestellt. Der ist beglückt, der sich für glücklich hält: Narr oder nicht ist keine Sache! Wenn mich ein Traum entzückt, verdient der meinen Dank, Durch den ich meinem Traum entwache? Die Narrheit ist ein wahrer Nectartrank? Du willst dafür mit Wasser uns beschenken.

O glaube mir, viel denken macht nur krank; Die Leute sind nicht klug, w e i l s i e z u N a r r n s i c h d e n k e n . Mein Wahlspruch ist, die kurze Zeit, 30

Die meine Göttin mir auf einen Frühling leyht, In Rosen süß vorbey zu scherzen. Kein Kummer naht sich meinem leichten Herzen; Warum? Ich denke nur was mich ergötzt. Ich bin Gern was ich bin und die Natur zu meistern,

Der verklagte Amor. Erstes Buch

58—122

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Kömmt keinem Sperling in den Sinn; Wir lassen dieses Amt euch andern großen Geistern; Zehrt euch in einem hohlen Baum Mit Staunen ab! Uns schlüpft des Daseyns Traum In Freuden hin, wozu wir nur Empfindung brauchen, In Freuden, worinn wir gern die trunkne Seele verhauchen. Sind andre Leute nicht klug, so büssen sie dafür. Die Thoren! haben sie nicht Gefühl sowol als wir? Doch sollte Zevs um meinen Rath mich fragen, So würd’ ich ihm in aller Demuth sagen:

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Nimm, grosser Zevs, dem armen Mittelding Von Sperling und von Gott die Macht sich selbst zu plagen; Gieb ihm den leichten Sinn vom bunten Schmetterling; Gieb ihm noch eins dem armen Mittelding! — Ich hört in einem Busch einst einen ihrer Weisen Nicht ohne stillen Neid den Maulwurf glücklich preisen *); Gieb ihm, warum der Mann den Maulwurf glücklich pries! So bleibt dein Ohr verschont von seinen Klagen; So hört er auf sich selbst und alle Wesen zu plagen, Und seinem Plato nachzusagen,

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Daß ihn dein Zorn in diese Welt verwies. Sagt, hab’ ich Recht? Was dünkt euch von der Sache, Herr Nachbar mit dem langen Ohr?

*)

//

Ob der Sperling dem Herrn v o n B ü f f o n Unrecht thue, mögen die eignen Worte des

letztern entscheiden. „Der Maulwurf hat so kleine und versteckte Augen, daß er wenig Gebrauch von dem Sinne des Gesichts machen kann. Zur E n t s c h ä d i g u n g dafür hat ihm die Natur den Gebrauch d e s S e c h s t e n S i n n e s in Übermaas gegönnet, u. s. w. Der Maulwurf ist in dieser Absicht unter allen Thieren am vortheilhaftesten versorgt. Beyde Geschlechter halten sich mit einem lebhaften und gleich starken Triebe zu einander. Sie fürchten oder verabscheuen vielmehr eine jede Gesellschaft von anderer Art, und leben in einer angenehmen Gewohnheit der Ruhe und Einsamkeit — Dis sind seine Natur, seine Sitten und Fähigkeiten; u n d d i e s e h a b e n d e n V o r zug vor Eigenschaften, welche mehr scheinen, aber mit der Glückseligkeit nicht so gut als die verstekteste Dunkelheit bestehen.“ Allgem. Histor. der Nat u r . IV Th. 2 B. S. 49 und 50.

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Ich? (gähnt d a s t r ä g e T h i e r und reckt die Ohren empor,) Nicht daß ich besser mich als andre Leute mache, Doch Jupitern sey Dank, der mich zum Esel schuf! Ich, meinem inneren Beruf Gehorsam, denke nie, und finde nichts zu denken, Ein herrliches Recept sich über nichts zu kränken. Ich trage meinen Herrn und seinen Schlauch dazu, Und fresse meine Disteln in sorgenloser Ruh. Giebts Feigen *) oder Makaronen **) 10

Zu fressen, gut! wo nicht, so gilt mirs einerley. Ihm nachzusinnen mag der Müh sich nicht verlohnen. Ununtersucht glaub’ ich, das Beste sey Was vor mir liegt, und bis zur Schwärmerey Hat, daß ich wüßte, nie kein Thier von meinem Range Geliebet noch gehaßt. Mein Ohr ist leidlich lange, Doch zieh’ ich Leyer und Schallmey J o m e l l i s Symphonie und Ritter G l u c k s Gesange Unendlich vor; wiewohl de gustibus Wer Friede liebt mit niemand zanken muß.

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Kurz, mir ist alles recht. Doch meynt’ ich unmaßgeblich, Erhübe Zevs die ganze Menschenschaar Zu meines gleichen, Paar und Paar, Der Schaden wäre unerheblich, Und für den grössern Theil der Vortheil sonnenklar. Vortreflich, ruft d e r V o g e l , d e r d i e K e u l e D e s G ö t t e r k ö n i g s t r ä g t , den Esel lob’ ich mir! *)

Anspielung an den Esel, über den sich der Comödienmacher Philemon zu Tode lachte, da er

ihn Feigen essen sah. Son Varlet (um die Sache mit R a b e l a i s Worten zu erzählen, der sie dem L u c i a n abgeborgt hat) pour l’entre´e de dipner luy ayant appreste´ des figues nouvelles, pendant 30

le tems qu’il alla au vin, un asne couillart esguare´ estoit entre´ en logis, et les figues appose´es mangeoit religieusement. Philemon survenant et curieusement contemplant a grace de l’asne sycophage dit au varlet: raison veult, puisque a ` ce devot asne as les figues abandonne´ que pour boyre tu luy produise de ce bon vin qu’ as apporte´ &c. Pantagruel. L. IV. chap. 17. **)

Siehe die Geschichte des einzigen Esels in seiner Art, der vermuthlich jemahls Makaronen

zu essen bekam, in Life and Opin. of Tristram-Shandy. Vol. VII chap. XXXII.

Der verklagte Amor. Erstes Buch

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Es lebe das naive Thier! Was der verbuhlte Spatz und die gelehrte Eule Nur zu verstehen gab, sagt Langohr rund heraus. Ich hörte K r a n t o r n einst in Z e n o n s H a l l e * ) schwatzen, Und, in der That, es lief auf eins hinaus. Beym Donner! eine Welt von lauter Eulen, Spatzen Und Eseln sollte mir ein feines Weltchen seyn! Mir leuchtet die Erfindung ein! Noch heute soll dem Oberherrn der Erden Beym Schlafengehn davon Bericht erstattet werden.

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Wer weiß, wozu er sich entschließt, Wenn unsre liebe Frau bey guter Laune ist? So viel ist ausgemacht, er würde Auf diese Art der Weltregierung Bürde, Die izt ihm oft die Galle schwellt, Sich selbst unendlich leichter machen. Was würde nur bey einer solchen Welt An Blitz und Donner erspart! Und wir im Sternenfeld, Wie wollten wir uns gute Tage machen! Was blieb uns noch zu thun, als schmausen, tanzen, lachen?

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Der Esel lebe hoch, und seine beste Welt! Indessen, daß man hier so stark philosophierte, Saß J u n o n s P f a u auf einem Polster da, Dem größten Spiegel des Saals vorüber, und amüsierte Sich mit dem Bilde, das ihr daraus entgegen sah. A p o l l o n s S c h w a n , erzogen unter den Musen, Und zärtlicher als der beste, der je am Strymon sang, Lag schmeichelnd der Schönen zu Füssen, und schlang *)

Die Vorzugsweise sogenannte S t o a oder H a l l e , war der Ort, wo Zeno und seine Nachfol-

ger ihre philosophische Discurse zu halten pflegten. Sie bekamen dahero den Nahmen der S t o i k e r . K r a n t o r war einer der berühmtesten unter Zenons Schülern und Nachfolgern. Die Meynung des Adlers ist: Krantor, indem er seine Zuhörer zu Stoikern habe machen wollen, habe im Grunde (so wie die Eule, der Spatz und der Esel in der olympischen Antischamber) nichts mehr damit gesucht, als alle andere zu s e i n e s g l e i c h e n zu machen.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Mitte September 1774)

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Den langen buhlerischen Hals hinauf an ihrem Busen. (Er hatte von L e d a ’ s S c h w a n die Stellung abgesehn.) „Die Welt, o Schönste, die Welt mag meinethalben gehn, So gut sie kann; Projecte bessern selten; Und wirklich find’ ich nicht sehr viel an ihr zu schelten. Sie scheint zur Rosenzeit, zumal im Mondenlicht, Bey allemdem so übel nicht; Und sie für mich zur besten aller Welten Zu machen, möcht’ ich mir von Zevs nur eins erflehn, 10

Nur dich, o Schönste, stets zu sehn, Dich ewig, aus so vielen Augen, Als man in deinem Schweif bewundert anzusehn, Und ewig s ü s s e n T o d a u s d e i n e m B l i c k z u s a u g e n . Der Einfall ist, ich muß es selbst gestehn, Nicht allzuneu. Doch, wollten Sie vergönnen, Madam, Sie sollten gleich ein schönes Beyspiel sehn, Welch einen frischen Glanz wir ihm ertheilen können. Mir sind (zumal für ein S o n n e t ) Die abgenütztesten Ideen

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Die liebsten; aber sie z u d r e h e n , Z u d r e h n , Madam, z u d r e h n , — o diese Kunst versteht Nicht jeder Kayserlich belorberte Poet! Geruhen Sie“ — Nein, wahrlich, Herr Poet! Und röche dein Sonnet nach lauter Zimmt und Amber Wie M ü h l p f o r t oder L o h e n s t e i n ! Man winkt uns aus der Antischamber Zur Audienz hinein.

Der verklagte Amor. Erstes Buch

172—226

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Der verklagte Amor. Zweytes Buch. Nach Standsgebühr, geliebte Brüder, Vettern, Und Söhne, auch Schwestern, Basen und Töchter lobesam: (So sprach izt Zevs vom Thron zu den versammelten Göttern,) Ich war zu aller Zeit Prozessen herzlich gram Und nie ein Gott von vielen Worten. Um also kurz zu seyn, so ist euch allen kund, Wie lange schon Frau P a l l a s u n d C o n s o r t e n Mit Klagen g e g e n d e n S o h n d e r F r a u v o n A m a t h u n t

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Olymp und Erd’ erfüllen. Er macht es würklich zu bunt, Und täglich laufen aus allen Enden und Orten So viel Beschwerden bey uns ein, Daß unser Richteramt verwehret Ihm länger nachzusehn. Beklagter, dem der Schein Vorhin nicht günstig war, vermehret Durch Trotzen noch die aufgehäufte Schuld, Sein Übermuth zerreißt die Dämme der Geduld. Was hielt ihn ab, als Trotz, sich vor Gericht zu stellen? Ihr wisset, was in solchen Fällen

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Sonst Rechtens ist. Jedoch der ganzen Welt, (Die es theils offenbar, theils heimlich mit ihm hält) Zu zeigen, daß wir ihn nicht ungehört verfällen, Ermangelten wir nicht den V a t e r S a n c h e z dort *) Ihm ex officio zum Anwald zu bestellen. *)

//

Mangel an Einsichten in Geheimnisse der Venus volgivaga war es gewiß nicht, was die

Liebesgöttin gegen den Ehrw. P. Thomas Sanchez einzuwenden hatte, dessen berüchtigtes Buch de Matrimonio nach dem Urtheil des berühmten A b t s v o n S t . C y r a n , ein Werk von unendlicher Gelehrsamkeit in denjenigen Wissenschaften und Künsten ist, welche unter dem unmittelbaren Einfluß des A s m o d e u s stehen, und in welchen unwissend zu seyn, rühmlicher und vor-

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Mitte September 1774)

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Papa (fiel V e n u s hier dem Donnerer ins Wort) Den Anwald wollt’ ich mir im Nahmen meines Knaben, Aus Ursach, sehr verbeten haben. Warum, mein Kind? (spricht Zevs) Wenn ich nicht irrig bin, Sind N a s o selbst und P e t e r A r e t i n In deinen Angelegenheiten Nur arme Layen gegen ihn. Ich war (erwiedert sie) den tiefgelehrten Leuten Von seiner Classe niemals gut, Und fühl in mir, auch ohne Doctorhut,

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Für meinen Sohn im Fall der Noth zu streiten, Beruf und Fähigkeit und Muth. „Gut, gut, mein Töchterchen! Um uns nicht aufzuhalten. Thut was ihr wollt!“ — Zevs sprichts und winkt den Alten, Der einem Ä g i p a n * ) an Aug und Mine glich, Zum Saal hinaus. — Und nun erhoben sich Hier P a l l a s , H y m e n dort als S p r e c h e r an der Spitze Der Klägerschaft, von ihrem Polstersitze. Minerven folgt A u r o r a und D i a n’ Und neben Hymen hinkt der gute Mann V u l k a n .

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Frau P a l l a s räuspert sich, wirft ihren Flor zurücke, Macht einen Kniks und fängt zu sprechen an; Nur Schade, daß man das was ihre schlauen Blicke, Und Stirn’ und Arm und Hand dabey gethan, //

Das ist, das Beste davon, nicht übersetzen kan. theilhafter ist. Vermuthlich rührt also der Widerwille der Göttin blos daher, weil die Göttin der Liebe nicht d i e G ö t t i n d e r Debauche ist. Ein Sachwalter, wie der Doktor Sanchez, würde Amors Sache, durch die Art sie zu vertheidigen, verschlimmert haben; und der Erfolg zeigt, daß Amor sein Interesse am besten verstund, da er sich mit seinen Gegnern in gar keine Rechtferti-

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gung einlassen wollte. *)

Eine Art von Satyren.

Der verklagte Amor. Zweytes Buch

1—48

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„Wir sehn uns, Vater Zevs, und ihr Unsterblichen Alle, Indem wir hier vor euch als Amors Kläger stehn, Im ausserordentlichsten Falle, Worinn sich Kläger je gesehn. Wir haben Müh uns selbst zu überzeugen, Daß unsre Klage möglich sey; Wir stehn verwirrt und möchten lieber schweigen: Doch schwiegen wir, so weckt uns das Geschrey Der Erde, des Olymps, für die gemeine Sache. Wir dulden schon zu lang, und fodern endlich Rache!

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Und gegen wen? Ists glaublich? Kan es seyn? Kaum glauben wirs dem Augenschein; Und welche Meynung wird davon die Nachwelt haben? Die Harmonie der Dinge wird gestört, Die Tugend ausgezischt, der Götterstand entehrt, Die ganze Schöpfung umgekehrt, Und alles dies von wem? — Von einem Knaben! Der (bloß damit kein Unfug unverübt Von ihm gelassen sey) für einen Gott sich giebt; Wiewohl Dione selbst zu ihm sich zu bekennen

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Erröthet, — wenigstens, aus einem Rest von Schaam, Indem sie ihm erlaubt sich ihren Sohn zu nennen, Uns nie gestand, woher sie ihn bekam. Und er — (was darf nicht Amor sich erfrechen) Er prahlt noch mit der Dunkelheit, Die seinen Ursprung deckt. Die N a c h t , hört man ihn sprechen, Hat, lange vor der Götterzeit, Als alles Chaos war, mich e r s t e n G o t t gebohren. Und denket nicht er prahl’ in diesem Ton Aus Unverstand bey Kindern nur und Thoren. Der schlaue Bube zieht davon Den Vortheil, unter dem Nahmen des h i m m l i s c h e n A m o r s in Seelen Von bessrer Art sich heimlich einzustehlen, In Seelen, denen er als A p h r o d i t e n s S o h n Nicht nahe kommen darf. Um diese zu berücken

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Entkörpert sich der Schalk und spielt den Geist, Spricht Metaphysik, spricht von himmlischem Entzücken, Von einer Liebe, die sich blos mit Ansehn speißt, Von Flammen, worinn sich alle Begierden verzehren, Und wie die Seelen, durch ihn aus ihrem Raupenstand Zu S c h m e t t e r l i n g e n entwickelt, ins unsichtbare Land, Das sie gebohren, wiederkehren *). Der Heuchler! macht er nicht Dianens Nymphen weiß, Es bleibe, — wenn sein Geist nach ihrem Busen schiele, 10

Und sich bey diesem schönen Spiele Zum U r b i l d d e r B u s e n emporgezogen fühle, — Sein Blut dabey so kalt wie Alpeneiß. So grob die Schlinge ist, so giebt es schwache Prinzessen, Die unter dem süssen Geschwätz sich unvermerkt vergessen. Doch, dieses alles ist, wiewohl bereits zu viel, Mit dem, was uns zum Klagen zwinget, Verglichen, blosses Kinderspiel. Wo blieb ein Platz im Himmel, auf der Erden, Im Meer, im Schattenreich, von Amorn unentweiht?

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Wo ist der Sterbliche, der Gott, der nicht Beschwerden Zu führen hat? Ihr alle wißt, wie weit Sein Muthwill es sogar mit unserm Stand getrieben, Und wie die Unschuld selbst nicht frey davon geblieben. Gesezt auch, sie verwahre sich Vor seinem P f e i l ; was kann vor seiner N a t t e r z u n g e Sie schützen? Nichts! Ihr unsichtbarer Stich Dringt bis durch m e i n e n Schild. Wie pflegt der wilde Junge Beym Faunenfest, wenn auf der M ä n a s Schoos Der Wein ihn schwärmen macht, uns andern mitzuspielen?

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Ihm ist, sein Müthchen abzukühlen,

*)

Die Anspielungen sind hier zu häufig, als daß sie ohne viele Weitläuftigkeit erklärt werden

könnten. Wer nur mittelmäßig in den Dichtern belesen ist bedarf ohnehin keiner solchen Erklärungen; und wer noch nichts gelesen hat, ließt auch den verklagten Amor nicht.

Der verklagte Amor. Zweytes Buch

49—113

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H e s t i a * ) nicht zu fromm, und J u n o nicht zu groß. Hoft nicht durch W e i s h e i t ihn zur Ehrfurcht zu vermögen! Seyd ohne Tadel, seyd L a t o n e n s T o c h t e r * * ) gleich, Ihm ist kein Frevel zu verwegen; Wenn alles fehlt, so weiß er euch Endymions S c h l a f zur Last zu legen. Auch diesen Muthwill könnte man Auf Rechnung seines Alters schreiben; Und, da sein Wiz uns doch nicht treffen kan, So möcht’ er immerhin, unschädlicher zu bleiben,

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Mit Lästern sich die Zeit vertreiben. Allein dem Unfug zuzusehn, Den er in unsrer Herrschaft stiftet; Vergebens ihm zu widerstehn, Und was wir Gutes thun stets ohne Frucht zu sehn, So lang er ungestraft die Sittenlehre vergiftet. So lang er singen darf: „ein Becher und ein Kuß Könn’ einen Sterblichen froher, und, nach Gestalt der Sachen, Oft besser als er war, und ungleich klüger machen Als alle Philosophien von allen Weisen in u s ! “

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Was dünkt, ihr Götter, euch von solchen Sittensprüchen? Kein Wunder, wenn er längst damit Die Monarchie der Welt erschlichen! Ein Lehrbegriff von diesem Schnitt Wird nie an Schülern Mangel haben; Den jungen Dirnen und den Knaben, Um deren Kinn das erste Milchhaar spielt, Scheint nichts so gründlich. „O, man fühlt, Man fühlt ja (ruffen sie) das Wahre seiner Lehren!“ Nun sagt mir, werden sie der Weisheit Stimme hören, Wo Amor solche Schulen hält? *) **)

Vesta. Diana.

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Wollt ihr die Früchte sehn von seinen Sittenlehren? Werft einen Blick, ihr Götter! auf die Welt, Die i h r regieren sollt, und seht sie von Cytheren Und ihrem Söhnchen so bestellt, Als ob wir übrigen nur Figuranten wären. Wer präsidiert im Rath und bey Gericht? Wer hat die Gnaden auszuspenden? Ich und Asträa wahrlich nicht! Cupido wälzt mit seinen kleinen Händen 10

Den Erdenball, sein Spiel; das Glück Von mancher Völkerschaft entscheidet, Durch seinen Einfluß, oft der Blick Von einer P o m p a d o u r . Sie winkt den Helden zurück, Und ihr Adonis wird in einen Mars verkleidet, Der, troz Homers Achill, ein Fest Erfinden kann, und sich wie Paris schlagen läßt. Verwundern wir uns noch, wenn wir den Scepter sehen, Der unterm Mond die Herrschaft führt, Daß alle Dinge dort so widersinnisch gehen?

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Mich wundert nur, daß er nicht schlechter noch regirt. Der Rest von Weisheit, der noch aus der guten alten Saturnuszeit sich bis daher erhalten, (Wiewohl der beste Geist davon Verdünstet ist) erweißt noch seine Tugend! Doch, selbst den kleinen Rest aus jener goldnen Jugend Der ersten Welt mißgönnt Cytherens Sohn Dem Erdenvolk. Sein Thorenreich zu gründen Soll jede Spur von Sittlichkeit Und Weisheit aus der Welt verschwinden.

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F o r t u n e n s Freunde haben sich Zu diesem grosen Werk vorlängst mit ihm verschworen. Die M u s e n selbst, zu meinen Gespielen gebohren, Die Musen selbst entehren sich und mich, Seit dem sie Amorn zum Führer erkohren. Und ach! die W e i s e n so gar, die Weisen haben verloren,

Der verklagte Amor. Zweytes Buch

114—179

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Was ihren Orden einst den Thoren Verhaßt und fürchterlich gemacht. Der E r n s t ist lächerlich, der von den P y t h a g o r e n Das Zeichen war! Izt trinkt man, scherzt und lacht, Und salbt sein Haar, und kränzt mit Rosen die Scheitel, Ruft mit D i o g e n e s : Der Menschen Thun ist eitel, Und nennt sich P h i l o s o p h , und wird dafür erkannt. Was soll ich sagen, da der Fürst der Sieben Weisen, Ein Mann, der fähig war bis in das Wunderland, Wo Isis herrscht, der Weisheit nachzureisen,

10

Da S o l o n selbst, Lyäen und Amorn anzupreisen, Und was noch schlimmer ist, in seinem siebzigsten Jahr Ihr Priester zu seyn, noch nicht zu weise war *)? Und wie? den w e i s e r n M a n n , den Delphi selbst zum Besten Der Griechen erklärt, den Mann, der meinem Athen Den hohen Platon erzog, bey wenigehrbarn Festen Zum L e h r e r — muß ich es gestehn? — V o n e i n e r T ä n z e r i n erniedriget zu sehn **)! Sprecht, wie gefällt euch dies? Und doch sind’s Kleinigkeiten! Sein Liebling X e n o p h o n macht uns noch mehr bekannt:

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Er läßt ihn gar zu einer Dirne schreiten, Die als Modell (vielleicht für eine L e d a ) stand. Ein Knabe hatte sie u n s ä g l i c h s c h ö n genannt; „Gut, spricht der weise Mann, so werden wir, zu wissen Wie schön sie ist, die Augen brauchen müssen.“ Der Griechen Lehrer geht, die Jünger hinter drein, Bey hellem Tag zu einer Lais ein, — (Ein Zeno wäre bey Nacht zum mindsten eingegangen, Fällt M o m u s unverschämt, nach seiner Art, ihr ein)

*)

„Ich weihe (sagt dieser berühmte Gesetzgeber der Athenienser von sich selbst) den Rest

meines Lebens V e n u s , dem B a c c h u s und den M u s e n , den einzigen Quellen aller Freuden der Sterblichen.“ **)

Diese Begebenheit, welche der spröden Göttin so anstößig ist, muß in ihrem Zusammen-

hang in dem G a s t m a h l d e s X e n o p h o n , nachgelesen werden.

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Und für die Augenlust nicht undankbar zu seyn, Was, meynt ihr, lehrt er sie? Die Weisheit — Herzen zu fangen. *) Nun, Götter, sprecht, ists nicht die höchste Zeit Dem Fortgang dieser Pest zu steuern? Der Unfug geht, beym Styx, zu weit; Was wird der Ausgang seyn, wenn wir noch feyern? Verbannet Amorn, schließt ihn ein; Cytherens Hain soll sein Gefängnis seyn; Dort mag er was er will mit seinen Charitinnen 10

Und Amorinnen und Nymphen beginnen! Ist nur um seinen Mirtenhain Ein Zauberkreis, der ihm den Ausgang wehrt, gezogen; Kan er nur nicht heraus, und niemand zu ihm ein, So spiel er wie er will mit seinem goldnen Bogen; Und singe bis zum Überdruß, Von Kuß und Wein, von Wein und Kuß, Und lenke Löwen oder Schwanen Mit seinem Rosenzaum, und schwatze von Dianen Und Pallas was ihm wohlgefällt;

20

Befreyt, ihr Götter, nur, befreyt von ihm die Welt !“

*)

Xenophons Sokratische Denkwürdigkeiten, III B. XI Cap.

Der verklagte Amor. Zweytes Buch

180—228

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Der verklagte Amor. Drittes Buch. Minerva schwieg, und mit verschämten Wangen Trat H y m e n izt hervor. Die Wahrheit zu gestehn, Sein Aufzug gab kein mächtiges Verlangen Aus Amors Sold in seinen Dienst zu gehn. An Schönheit fehlts ihm nicht, wiewohl sie ziemlich schon vergangen Und abgeschossen schien; hingegen fehlt ihm sehr Der Talisman, womit uns A m o r s S c h w e s t e r n * ) fangen; Matt ist sein blaues Aug, und ohne Anmuth hangen

10

Die Locken ihm um Stirn und Nacken her. Er hätte ( V e s t a selbst bemerkt es heimlich gegen C y b e l e n ) ohne Furcht zu viel darinn zu thun An seinem Puztisch sich noch länger säumen mögen. Doch im Vorbeygehn dies! — denn nun Ists um die Sache selbst, nicht um die Form zu thun; Vielleicht war’s List, die schönen Richterinnen Beym ersten Anblick zu gewinnen, — Zur Liebe freylich nicht; allein Er will auch nicht geliebt, b e d a u r t nur will er seyn; Und dieses konnte man mit Recht ihm nicht versagen. „Ihr Götter! (fängt er stotternd an) Nach einer Pallas noch vor euch zu reden wagen, Ist kühn; allein, was Amor mir gethan Und täglich thut, ist mehr als die Geduld ertragen, Es ist was einen Stein zum Schreyen zwingen kann. Ihr wißt, daß T h e m i s , kurz eh sie der Welt enteilte, *)

Die Grazien.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Mitte September 1774)

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Noch zwischen ihm und mir das Reich der Liebe theilte. Er, dessen sanfter Blick, der lauter Unschuld log, Die Herzenkenn’rin selbst betrog, Er (sprach sie) soll es auf sich nehmen, Den jugendlichen Trotz des Mädchens zu bezähmen, Das, stolz auf seinen Reiz, in wilder Frölichkeit Der Liebe lacht und Hymens Bande scheut. Und ihrem Seladon, dem seine Schüchternheit Mehr schädlich ist als ihre Sprödigkeit, 10

Ihm geb’ er Muth sich freyer auszudrücken, Und seinem Ton Musik, und Feuer seinen Blicken. Er zwinge sie mit sanfter Übermacht Ihr fühlend Herz vergebens zu verheelen; Doch hüt’ er sich (auch wenn die schönste Nacht Der Sinnen Irrthum verzeyhlicher macht) In Hymens Grenzen sich verräthrisch einzustehlen! Er soll in einer jungen Brust Den sanft sich sträubenden verschämten Wunsch entfalten, In Hymens Arm die unbekannte Lust

20

Des Mutternahmens zu erhalten. Ein Kuß zum Pfand von ihrem Liebesbund Mag ihm verwilligt seyn, nur niemals auf den Mund; Was weiter geht, das bleibt, nach unsrer Alten Sehr löblichem Gebrauch, dem H y m e n vorbehalten! So, Götter, sollten wir, in aller Ehrbarkeit, Einträchtig unser Amt verwalten; Und thäte Amor nicht, o welche goldne Zeit! Doch, sehet selbst — Hier kömmt die Kundbarkeit Der Sache meiner Schaam zu statten —

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Was mir der Schalk für Abbruch thut! Wozu er, wenn sein Pfeil das jugendliche Blut Zu Feuer macht, in kupplerische Schatten, Da wo die Rose verliebt sich mit der Myrte verschränkt, Die junge Unschuld lockt, die an nichts Böses denkt! Mit welchem grausamen Vergnügen,

Der verklagte Amor. Drittes Buch

1—60

593

Wenn sie der Arglist sich am wenigsten versieht, Er über ihr sein Garn zusammenzieht; Wie er, die Wachsamkeit der Klügern zu betrügen, Sich stellt, als ließ er sich besiegen, Und jeden warnenden Verdacht Einschläfert oder gar zu seinem Freunde macht! Wie oft er seine Masken tauschet, Und wie geduldig er die Schäferstund’ erlauschet! Mit welchem Fleiß, (nach mehr als T a u s e n d e i n e r N a c h t , Worinn der schlaue Gast Bemerkungen gemacht,

10

Die ihm zu schlechtem Ruhm gereichen) Er die V e r f ü h r u n g s k u n s t * ) in ein System gebracht, Dem wenig’ an Gewißheit gleichen; Und wie es nun (Ihr Schönen, wißt, Ich übertreib’ es nicht) beynah unmöglich ist, Dem Tausendkünstler auszuweichen! O Unschuld, holde Schüchternheit, Und süsse Schaam, Beschützerin der Tugend! Wo seyd ihr hingeflohn, seit Amor unsre Jugend Belehrte, daß ihr Blödigkeit

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Und Vorurtheil und bloße Masken seyd! Seitdem, ich schwör’ es bey den Flüssen Des furchtbar’n Styx! hat Hymen nichts zu thun, Als, gleich dem Gott des Schlafs, auf seinem Pfühl zu ruhn. C u p i d o lehrt die jungen Nymphen küssen, Und lehret sie so gut, daß mir Nichts, das sie nicht schon besser wissen, Zu lehren übrig ist. Und nun, verwundern wir Uns noch, wenn W e i b e r — wie wir sehen, Aus T ö c h t e r n dieser Art entstehen? Wenn M e s s a l i n e n und P o p p e e n — Verzeiht, Göttinnen, mir, allein mein Herz ist voll, Und m e i n e n Schmerz hat noch kein Gott gefühlet! *)

Wahrer Nahme der O v i d i s c h e n K u n s t z u l i e b e n .

594

D e r T e u t s c h e M e r k u r (Mitte September 1774)

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Daß ich, wenn Amor mich bestiehlet, Ihm noch dazu die Fackel halten soll; Gesteht, dies ist zu viel für einen Gott von Ehre! Auch sag’ ich laut, wofern mir nicht noch heut Genug geschieht, und volle Sicherheit Fürs Künftige gegeben wird, so kehre Ich meine Fackel um, und lösche sie, und bin Nicht Hymen mehr! Sey Hymen meinetwegen Wer Schultern hat, die dies ertragen mögen! 10

In eine Gruft des wilden Apennin Will ich zurück mich ziehn, und ein Gelübde schwören — (Beym ersten Tritt von einem Mädchenfuß, Den er im Schnee erblickt — zurück zu kehren, Spricht B a c c h u s laut genug, daß man ihn hören muß) — Und, sag’ ich, ein Gelübde schwören, Der Weiber und des Weins auf ewig zu entbehren!“ Dies war ein schrecklicher Entschluß, Erwiedert lächelnd B r o m i u s ; Dies hiesse A m o r s Schuld an d e i n e m Leibe rächen!

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Seyd unbesorgt (versezt der G o t t v o n L a m p s a c u s ) Ich weiß, wie man ihn fangen muß; Er soll mir bald aus anderm Tone sprechen! Der Gott der Ehen schwieg, und unversehens trat Der Spötter M o m u s auf, und bat Um günstiges Gehör: „Ihr Götter und Göttinnen So fieng er an, ihr wißt, so gut wie ich, mir liegt Daran sehr wenig, wer in dieser Fehde siegt; Ich werde nichts dabey verlieren noch gewinnen. Ich bin dem Hymen gut, ich bin auch Amorn gut;

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Sie geben beyde mir z u l a c h e n ; Und, wie ihr wißt, um frisches Blut zu machen, Ist keine Panacee die beßre Würkung thut. Mit Amorn, wenn es richtig wäre

Der verklagte Amor. Drittes Buch

61—126

595

Daß ihn d i e N a c h t gebohren, hätten wir Sogar verwandt zu seyn die Ehre *). Kurz, wenn ich wider oder für Ihn sprechen werde, bin ich immer Freund der Person, der Sache Feind, Und selbst mein Spott ist herzlich gut gemeynt. Ich sehe, daß das Frauenzimmer, Das gegen ihn mit Hymen sich vereint, Aus Sittsamkeit nicht alles sagen w o l l t e ; Und Schwager Hymen hat, vor Eifer wie es scheint,

10

Das beste, was er sagen s o l l t e , Vergessen. Oder ists vielleicht nicht ahndenswerth, Wie mit uns Göttern selbst der kleine Schalk verfährt? Ich sage nicht, wer Leda’s Schwan gewesen, Nicht, wer Alkmenen eine Nacht Drey Sommertage lang gemacht: Die Dichter geben nur zu viel davon zu lesen, Und unser Ruhm gewinnt nicht sonderlich dabey. Indessen gilt der Vorwurf freylich — a l l e n . Die Hand aufs Herz, und ohne Gleißnerey!

20

Wer unter uns ist nie in Amors Netz gefallen? Wird nicht der V e s t a selbst ein Buhler vorgerückt, Den weder Frau noch Jungfrau gern gestehet **)? Daß just S i l e n s G r a u s c h i m m e l drein gekrähet, War sehr viel Glück für sie; allein es glückt Nicht immer so; „und hätt’ er nicht gekrähet, Wer sagt uns, hätte man den Buhler fortgeschickt?“ So spricht die böse Welt! Man hat nicht immer Zeugen Von seinem Widerstand, und eine einz’ge Nacht Hat große Tugenden um ihren Ruhm gebracht. Man darf Dianen nur von ihrem Wagen steigen

*)

Denn dem Momus wird von einigen Mythologen die Nacht (die Mutter so vieler Götter nach

dem Hesiodus) zur Mutter gegeben. **)

Priapus S. den Fest-Calender des Ovidius.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Mitte September 1774)

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Und sich dem schlummernden Endymion nähern sehn, Sie darf (aus Neugier) nur auf ihn herab sich beugen, So ist es schon um sie geschehn! Sie hat nichts mehr im Wahn der Leute zu verlieren. Und sollte gar ihr Mund den seinigen berühren, So nennt, verlaßt euch drauf, die Welt es einen Kuß; Und weh ihr dann, wenn ein Ovidius Den Einfall hat das Mährchen zu brodieren! Wir wissen insgesamt, wie weise Pallas ist; 10

Und dennoch zischelt man von einem feinen Knaben, (Mit Drachenfüssen zwar) den sie a u s e i n e m Z w i s t M i t M u l c i b e r n * ) soll aufgelesen haben. Man spricht nicht gerne laut davon; Sie wand sich, sagt man, los; doch, h i e r i s t E r i c h t h o n ! Sein Daseyn, denk ich, setzt die Sache Ins Klare. Hatte (wie sie spricht) Das kleine Mittelding von Feuergott und Drache Kein Recht an ihre Mutterpflicht: Was brauchte sie in ihrem eignen Tempel

20

Den Fündling zu erziehn? Man flieht doch gern den Schein! Wiewohl S a t u r n i e n s Exempel Uns freylich lehrt, daß gegen Amors List Die strengste Sittsamkeit noch unzulänglich ist. „Sie sollte sich mit Ganymeden, Der so verhaßt ihr ist, vergehn ?“ — Gut, wenn uns nicht die D a n a e n und L e d e n Zur Rache reizten! — Zwar hat niemand zugesehn, Und I r i s schweigt; allein d i e W ä n d e r e d e n ! Des Himmels Chronik ist ein wenig ärgerlich.

30

Genug davon! — doch, daß die Damen mich Nicht etwan für partheyisch halten, Wer weiß die Kurzweil nicht, die Amor täglich sich Mit uns, uns Männern, macht? Die komischen Gestalten, *)

V u l c a n . Anspielung auf die Fabel vom Ursprung des E r i c h t h o n i u s .

Der verklagte Amor. Drittes Buch

127—190

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Worein er, wo und wann und wie es ihm gefällt, Uns übersezt? Wie klein von uns die Welt Um seinetwillen denkt; und, wenn sie uns verachtet, Wie Recht sie hat? — Der K r i e g s g o t t , (spricht man) ist Der Gott nicht mehr, der Krieg für Lustspiel achtet, Der Hunger, Durst, und Schmerz, und Wunden nur verachtet, Und dem, wenn sich sein Aug’ auf eine Stunde schließt, Der harte Grund ein Schwanenlager ist. Ein Weichling, der an Venus Busen schmachtet, Ist er! Ein A t y s , ein B a t h y l l ,

10

Bey Grazien und Liebesgöttern Entwöhnet von den Donnerwettern Der wilden Schlacht, gepflegt auf Rosenblättern! Und raft er auch sich einmal auf, und will Seyn was er war in Hektors Heldentagen, So fühlt er bald die Sehnen ihm versagen! A p o l l o selbst, der Gott der schönen Schwärmerey, Der Schwärmerey, die jene Thaten zeuget, Auf deren Stufen man zum Sitz der Götter steiget, Ist nicht Apollo mehr. Die Zeiten sind vorbey,

20

Da sein Geschäfte war, die Wilden Am Rhodope *) zu Menschen umzubilden; Da Löwen sich, wenn seine Leyer klang, Entzückt zu seinen Füssen schmiegten, Da Steine, wie beseelt von seinem Zaubergesang, Sich tanzend in einander fügten, Und durch der Dichtkunst süssen Zwang D e u k a l i o n s G e s c h l e c h t aus Wäldern sich entfernte, Gesellig ward und Götter ehren lernte **). Entgöttert schleicht im Hain, am Rosenbach, Der Musengott den Schäferinnen nach;

*) **)

Die Thrazier. Was die alten Dichter von dem O r p h e u s , L i n u s und A m p h i o n erzählen, wird hier dem

Apollo zugeschrieben, welcher Vater der beyden ersten, und der Lehrmeister aller dreyen war.

598

D e r T e u t s c h e M e r k u r (Mitte September 1774)

30

Der von den S p h ä r e n sang, besingt izt junge B u s e n , Singt von des Kusses Wunderkraft, Und ihrem Führer gleich berauschen seine M u s e n Mit Amorn sich in frischem Rebensaft. So könnt’ ich, liebe Herrn und Brüder, Das ganze Götterchor durchgehn; Allein es möchte leicht Satyren ähnlich sehn, Und diese waren mir, ihr wißt es, stets zuwider. Ich bin gewiß kein R i g o r i s t ; 10

Indessen geb’ ich zu bedenken, Ob Amors Lust zu losen Ränken Nicht dieses Übels Triebrad ist? Vom Unfug, den er hier im Himmel Verursacht, machet selbst den Schluß, Wie viel vom schnöden Weltgetümmel Auf seine Rechnung kommen muß. Es wäre viel davon zu sprechen, Doch schweigen hat, wie reden, seine Zeit. Cupido’s Ungebundenheit

20

Bleibt immerfort ein Polizeygebrechen. Man muß ihm Einhalt thun! Doch wie? Dies, wie mich deucht, Ist überhaupt, in allen Sachen, Wo man verbessern will, nicht leicht. Man kann so bald aus übel ärger machen! Bedenket also wohl, ihr Götter, was ihr thut! Ein Schluß ist immer leicht zu fassen, Zumal um Tafelzeit; allein sich reuen lassen Was man gethan, steht Göttern gar nicht gut!“ So sprach der alte Gott der Spötter,

30

Der im Besitze war die andern seel’gen Götter Und all ihr Thun zu höhnen und zu schmähn. Und weil es leichter war, ihn seitwärts anzusehn Und stumm zu seyn, als ihn zu widerlegen;

Der verklagte Amor. Drittes Buch

191—254

599

So thaten auch die Damen, die es traf, Was sie in solchen Fällen pflegen. Die eine stellte sich, als könnte sie dem Schlaf Nicht widerstehn, und schloß die Augenlieder. Unachtsam gaft die andre hin und wieder, Spielt mit den Fingerchen an ihrer schönen Hand, Bespiegelt sich, berichtiget ein Band An ihrem Latz, und flüstert Kleinigkeiten Der Nachbarin, zu beyden Seiten, Mit einem Ernst ins Ohr, als ob sie viel bedeuten.

10

Die Fächer rauschen auf und zu, Kurz, keine thut als ob sie Ohren habe. Uns scheint dies nicht der Damen kleinste Gabe; Wir wünschen ihnen Glück dazu! Auch V a t e r Z e v s läßt, ohne sich zu rühren, Die Danaen sich zu Gemüthe führen. Und M a r s (so lang der Panegyricus Ihm um die Ohren saußt) scherzt achtlos mit A u r o r e n , Fragt, ob ihr Alter noch die Schlafsucht nicht verlohren, Und trägt sich an zu ihrem Zefalus.

20

Der M u s e n g o t t allein — (man weiß wie leicht die Galle Der Dichter schwillt) — fährt zürnend auf und kräht, Als ob die Nymphenwuth ihn plötzlich überfalle. Wie, ruft er, wenn vielleicht ein Reimer sich vergeht, Die Leyer zwingt dem Liebesgott zu fröhnen, Mit Paphos den Parnaß vertauscht Und, statt der klaren Hippokrenen, In Wein von B e a u n e sich berauscht; Soll es der Musen Kunst, soll Phöbus es entgelten? Bekenn ich mich zu jedem Dichterling?

30

Und soll man mich für Amors Sünden schelten? Wohl weislich sagt Esop: Das schlimmste Ding In dieser besten Welt sey eines Narren Zunge! —

600

D e r T e u t s c h e M e r k u r (Mitte September 1774)

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Halt, lieber Sohn! — ruft Zevs vom Thron ihm zu; Besänft’ge dich und schone deiner Lunge. Man kennt den Momus ja! Sey ruhig, guter Junge! Fy! bringt so wenig schon dich um die Seelenruh! Bemerkst du nicht, wie unsre frommen Damen Des Spötters Neckereyn so ruhig auf sich nahmen? Ich selber, wie du siehst, ich thu Als fühlt ich nichts, wenn er von hinten zu Mir eins versetzt. Mit Leuten seines gleichen, 10

Giebt sich kein Kluger ab; man sucht ihm auszuweichen; Und kömmt er dennoch uns mit seiner Pritsche bey, Was hilft ein kindisches Geschrey? Das Klügste ist, sich schweigend wegzuschleichen.

Der verklagte Amor. Drittes Buch

255—300

601

Der verklagte Amor. Viertes Buch. Die Götter schickten nun, bey wohlverschloßnen Thüren, Mit hohem Ernst sich an, in Sachen zu votiren: Als ein entsetzliches Getös’ im Vorgemach Das weitere Verfahren unterbrach. Man stutzt und lauschet nach dem Orte Woher es kömmt; stracks knarrt die goldne Pforte, Die Flügel rauschen auf, und Siehe! Paar an Paar Schleicht, leis und schneckenhaft, ganz Paphos und Cythere

10

Zum Saal hinein; — Der S c h e r z e leichte Schaar Mit finsterm Blick und ungekämmtem Haar, Die G r a z i e n in lange Trauerflöre Wie Klageweiber eingehüllt, (Drey ächte heilige N i t u s c h e n ! ) Die L i e b e s g ö t t e r c h e n , vermummt in Scaramuschen, Mit einem Wort, der ganze Zug ein Bild Des Lustspiels, wo man weint. — Die ernsten Ober-Alten Des Himmels hatten Müh die richterlichen Falten Auf ihrer Stirn’ in Ordnung zu erhalten. Was wird daraus noch werden, dachten sie; Vermuthlich hoft der Schalk, der selber zu erscheinen Sich nicht getraut, durch dieses Possenspiel Die Strafe von sich abzuleinen. Allein sie schossen weit vom Ziel. Denn während daß zu beyden Seiten Die Caravan’ im Saal sich auszubreiten Beschäftigt war, wer, meynt ihr, schloß den Zug? Kein Wunder, wenn das Herz den guten Göttern schlug!

602

D e r T e u t s c h e M e r k u r (Mitte September 1774)

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C u p i d o war es selbst! — und o! so ganz Cupido, Als weder R a p h a e l noch G u i d o , Wiewohl des Gottes voll, ihn jemals dargestellt; So schön, daß Vater Zevs für Ganymed ihn hält, Daß Junons grosses Aug noch eins so feurig spielte, Und Mutter Cybele, indem sie seufzend sich Erinnerte, wie sehr ihm Atys glich, Zum zweytenmal des Lieblings Wunde fühlte: Mit Einem Wort, so schön, daß Mulciber 10

Sich nicht bereden kann, von einem Sohn, wie der, Papa zu seyn, die Stirne sich befühlte, Und bald nach Mars, bald nach Lyäen schielte. So, Amor, schwebtest du daher, Und deinen Feinden fiel der Muth beym ersten Blicke. Selbst Hymen spürt schon keine Galle mehr, Und schmiegt verwirrt sich an Vulkan zurücke. Minerva nur blieb unerschüttert stehn, Und machte Min’ ihr Lied von vornen anzufangen, Allein Zevs läßt es nicht geschehn.

20

Er nimmt das Wort, indem mit feuerfarben Wangen Und halbgeschloßnem Augenlied, Wie einer, der ertappt sich sieht, Der Liebesgott sich vor dem Throne bücket. Dem Nympfchen gleich, das seine Fruchtbarkeit Zum Protokolle zu gestehn sich scheut, Allein, vom Augenschein gedrücket, Sie schweigend stärker eingesteht: Wie sie, in sich hineingebücket, Ein schüchtern Mittelding von Weib und Mädchen steht,

30

Und (unserm Blick den Umstand zu entwenden, Der das verrätherische Blut Ihr in die Wangen pumpt) mit ihren beyden Händen, Was Venus zu Florenz mit einem Händchen, thut. So stund der lose Gast, den Heuchlerblick zur Erde Geheftet, da, mit züchtiger Gebehrde;

Der verklagte Amor. Viertes Buch

1—62

603

Als Vater Zevs beginnt: Mein trauter Enkelsohn, Es thut mir leid; allein sehr große Klagen Sind gegen dich den Göttern vorgetragen. Komm, hurtig! — Denn die Tafel ruft uns schon — Was hast du uns zur Gegenwehr zu sagen? Brings in beliebter Kürze vor! Nichts, leider! nichts; erwiedert Cypripor. Auch komm’ ich nicht, mit losen Rednerstreichen Ein mildes Urtheil zu erschleichen. Nur allzuwahr ist was die Schmähsucht spricht;

10

Und wollt’ ich läugnen, spränge nicht Aus euern Augen mir die Wahrheit ins Gesicht? Ja, Götter, ich bekenn’ und läugne nicht: Das schlimmste was O v i d uns angedichtet, Ist schlimmer nicht als was wir angerichtet, Ich und mein Hofgesind. Wem ist es unbekannt? Gestohlen ward durch uns aus Griechenland Der Leda Töchterchen. Wir hezten am Skamander Um Nichts und wieder Nichts die Helden an einander; Wir steckten Ilion in Brand;

20

Wir trugen Holz zu Didons Scheiterhauffen. Wo Fürsten sich mit Bürgerhaaren rauffen, Wo ein Eroberer in durchgeschwärmter Nacht Die schönste Königsstadt zum zweyten Troja macht Um einen Kuß von Thais zu erkauffen; Mit Einem Wort, wo eine Büberey Verübt wird, seyd gewiß da sind wir auch dabey. Durch wen als uns ward — Jemand einst zum Farren, Zum Bock, zum Schwan, zu allem was ihr wollt? Und wird nicht, um der M i n n e S o l d , Der Weise täglich noch zum Narren? Was braucht es Klagen und Verhör? Hier steh ich, Götter, und bekenne, Bekenne was man mich beschuldigt, und noch mehr.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Mitte September 1774)

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Verdien’ ich noch, daß man mich widerspenstig nenne? Allein (wie Pallas weislich sprach) Der Sünde folgt die Strafe billig nach. Verbannet will die weise Frau mich sehen; Verbannen will ich mich! Ihr Wille soll geschehen. Ich selbst — ersparet euch die Müh Ein Urtheil wider mich zu sprechen — Ich selbst will euch an Amorn rächen. Kommt, meine Grazien, kommt, Brüderchen, wir gehn! 10

Sie wollen’s so! Kommt, gute Knaben! Die sollen scharfe Augen haben Die hier uns jemals wiedersehn. Kaum ist das lezte Wort dem schönen Mund entfallen, So hebt Cytherens lose Schaar Sich in die Luft; die Trauermäntel fallen, In schönen Locken fließt der Charitinnen Haar, Und um die runden Hüften wallen Gewänder, rosenfarb, wie leichte Wolken her. Sie ziehn in lieblichem Gewimmel,

20

Von Zephyrn hoch getragen, durch den Himmel, Und wo sie fliehn, erstirbt sein reines Blau In düstrem freudenleerem Grau. Doch, eh sie sich den Augen ganz entzogen, Zerbricht Kupido seinen Bogen, Wirft ihn herab, und ruft den Göttern zu: Gehabt euch wohl, wir wünschen euch Vergnügen! An Amorn solls gewiß nicht liegen, Wenn fürderhin nicht unbegrenzte Ruh Den Himmel wiegt. Nur wähnet nicht, Göttinnen,

30

Daß, was er thut, er bloß zur Hälfte thu’. Ihr hoft vielleicht dabey noch zu gewinnen, Weil doch mein Brüderchen von linker Hand euch bleibt, Der, wie man sagt, euch stolzen Sultaninnen Oft in geheim die lange Zeit vertreibt.

Der verklagte Amor. Viertes Buch

63—130

605

Doch, ihm das Reich zu übergeben, Das ich verlassen muß, verbeut Die Ehre mir und selbst die Sittlichkeit; Wir werden ihn der Arbeit überheben. So sprach der Gott, und lächelt’ und verschwand. Die himmlische Synode stand Ein wenig dummer da, als Manches vor der Hand Dem andern merken lassen wollte. Man that sein möglichstes um Gutes Muths zu seyn. Doch, was man kann, und was man können sollte

10

Trift, wie ihr wißt, nicht immer überein. Schon bey der Tafel schleicht die Langeweil sich ein, So sehr die Götter sich um Witz zu haben quälen. Man merkt, es gehe nicht, und sucht es zu verheelen; Vergebens! denn, beym Styx, der beste Götterwein Ist Wasser nur, wo Amors Schwestern fehlen. Man ißt und weiß nicht was, man lacht und frägt warum, Man öfnet weit den Mund, will reden, und bleibt stumm. Der Witz verläßt den Gott der Musen, Die Munterkeit den Gott des Weins.

20

Merkur ruft Heben stets: Noch eins! Und schielt, indem er trinkt, nach — Vesta’s platten Busen. Vergebens stimmt der Pieriden Chor Der glühnden Sappho wärmste Oden (Zwar etwas schläfrig) an; man hört mit halbem Ohr, Und bleibt so frostig als zuvor. Die Damen sitzen wie Pagoden In steiffer Majestät, nach Junons Beyspiel, da; Und schleicht sich auch von Viertelstunde Zu Viertelstund’ ein Wort aus einem schönen Munde, So schnappt der Dialog beym ersten Nein und Ja Gleich wieder zu; kurz, sumßte hier und da Nicht eine Wespe noch, so dächte man es stünde Der Puls der Schöpfung still. Zevs, der die Kurzweil liebt,

606

D e r T e u t s c h e M e r k u r (Mitte September 1774)

30

10

20

30

Fand diese Art zu tafeln sehr betrübt. Noch nie ward Hebe so geschwinde Des Diensts entlassen. Aber, ach! Die Langeweile schleicht den guten Göttern nach, Wohin sie fliehn, bis in die Cabinetchen, Bis in die Lauben von Schasmin Und auf die nun nicht mehr wollüst’gen Ruhebettchen. Denn (unter uns) das Teˆte-a ` -teˆte Entschädigte sehr schlecht die hoffenden Göttinnen. Sie wurden bald zu ihrem Schaden innen, Daß o h n e G r a z i e n nichts wohl von statten geht. Vergebens wurde bey Auroren Die Sommernacht ein wenig lang bestellt. Was hilfts, daß sie den Tag zurückehält? Selbst für die H e b e n und die F l o r e n Geht nun, durch Amors Fluch, die schönste Nacht verlohren. Den schlummernden Endymion Kann Lunens wärmster Kuß nicht aus der Schlafsucht küssen, Und zu Aurorens Rosenfüssen Petrarchisiert, trotz d’ U r f e e s Seladon, Der weise Zefalus. Sogar der Gott der Gärten Schleicht von Pomonen sich ein wenig früh davon, Und schwört, gerichtlich zu erhärten, Daß einem Mann wie er durch alle Zauberey Von allen Z i r z e n und M e d e e n , K a n i d i e n , und andern bösen Feen Der ganzen Welt so was noch nie begegnet sey. Die hintergangenen Göttinnen Benahmen zwar dabey sich meisterlich; Sie schienen willig zum Verglich, Und sprachen von der Lust der Sinnen Wie Zenons strengste Schülerinnen: Doch sage mir nur niemand, daß man sich Durch Scenen dieser Art bey ihnen sehr empfehle. Natürlich dünkt ein schönes Weib

Der verklagte Amor. Viertes Buch

131—199

607

Sich etwas mehr als eine nakte Seele; Und Metaphysik ist ein schaaler Zeitvertreib Für Nympfen, die in Lauben wachend schlafen, Und sich gefaßt gemacht, anstatt Dem Günstling zu verzeyhn, der nichts begangen hat, Ihn für Verbrechen zu bestrafen. Wie dem auch sey, so hatten diesesmal Die Götter keine andre Wahl Als Amors Strafgericht so leicht auf sich zu nehmen, Als möglich war; und statt des Zustands sich zu schämen,

10

Wozu er sie verdammt, ihn wo nicht angenehm, Doch ehrenvoll zum wenigsten zu machen. D i o t i m a’ s gepriesenes System *) Ist, wie ihr wisset, sehr bequem Zu diesem Zweck. Zu was für schönen Sachen Giebt es den Stoff? Wie fein es klingen muß, Wenn selbst Priap, dem sonst der beste Kuß Zu leichte Speise war, mit schwärmendem Entzücken Von r e i n e r L i e b e schwazt; sich sättiget an Blicken; Und, in demüthiger Distanz

20

Von seinem Gegenstand, mit einem grossen Kranz Von Agnus castus **) um die Lenden, *)

Dasjenige, so Plato in seinem G a s t m a l e der Sophistin D i o t i m a in den Mund legt, ge-

meiniglich daher das P l a t o n i s c h e genannt. **)

Wenn man dem Plinius glauben darf, so haben die Blätter dieser Staude eine gewisse

kühlende Kraft, welche dem Gelübde der Keuschheit und Enthaltung besonders günstig ist. Die Atheniensischen Damen, welche während den T h e s m o p h o r i e n (einem über acht Tage daurenden Feste der Ceres) sich von ihren Männern gänzlich absondern mußten, bestreuten ihr Lager mit Agnus castus aus einem Mißtrauen gegen sich selbst, welches (wenn das factum wahr wäre) ihrer Gewissenhaftigkeit mehr Ehre machen würde, als ihrem Temperament. S. P l i n . H i s t . N a t . L. XXIV. c. 9. B a y l e hat sich verbunden geglaubt, die Atheniensischen Frauen gegen diese Beschuldigung des Plinius (wie er es nennt) in seinen Schutz zu nehmen, und man muß gestehen, daß seine Apologie nicht scharfsinniger und triftiger hätte seyn können, wenn er im Falle gewesen wäre, eine Belohnung von seinen schönen Clientinnen zu hoffen. v. D i c t i o n . H i s t . e t C r i t . T. IV. Art. T h e s m o p h o r i e s .

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Mitte September 1774)

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P o m o n e n überzeugt, ein Busen, dessen Glanz Den Schnee beschämt, sey nicht gemacht, von Händen Gedrückt zu seyn; und einen kleinen Mund Der reizend spricht und lacht, um einen Kuß zu pfänden Sey Hochverrath. — „Wer kann so schön dich sehn, (So fährt Herr P h a l l u s fort zu krähn) Und mehr als dich zu s e h n verlangen? Die Seele, die dich anschaut, streift Flugs ihren Körper ab, so wie verjüngte Schlangen 10

Die alte Haut; nun fliegt sie auf, durchschweift Ihr neues Element, die Rosen deiner Wangen Die Liljen deiner Brust, vergißt Der Sinnen lezten Wunsch, und fühlt, daß wahrer Liebe Die Liebe selbst die höchste Wonne ist.“ Dies alles, wir gestehn’s, ist schön und gut zum Sagen; Auch sagen es die Götter oft genug Den Damen vor. Man hört in dreißig Tagen Und Nächten nichts als dies. Doch diesen hohen Flug Noch dreißig Tage auszuhalten

20

Fühlt kein Olympier sich stark genug bekielt. Ein anders ist, wenn man dergleichen w ü r k l i c h fühlt, Wie einst P e t r a r c h . Allein bey unsern kalten Entgeisterten Verliebten war gewiß Dies nicht der Fall. Die guten Götter hatten Nichts besseres zu thun, und sagten alles dies (Von Nacht und Mond und kupplerischen Schatten Herausgefodert) bloß in fugam vacui. Die Damen gähnten traun! nicht mehr dabey als sie. Allein dafür erräth sich ohne Müh

30

Wie sich das Lustspiel enden mußte. Denn, trotz der siebenfachen Kruste Von Schnee und Eis, die ihren Busen schüzt, Kann P a l l a s selbst den Mann, der zu nichts andern nüzt Als ihr zu Fuß zu liegen und zu schmachten,

Der verklagte Amor. Viertes Buch

200—255

609

Nicht anders als — aus Herzensgrund verachten. Die Tugendhafteste flößt gern was wärmers ein Als was wir bloß für ihre Tugend fühlen: Und, ohne weniger der Weisheit treu zu seyn, Beym ruhigsten Entschluß, das Feuer nie zu kühlen Das euch verzehrt, ergözt sie innerlich An seinem Spiel, an seiner Flamme sich. Auch sagt mir doch, was für Behagen Gäb’ eine Stellung ihr, wobey sie nichts zu wagen, Nichts zu verliehren sieht? Sich selbst nicht sagen kann:

10

Dein Sieg ist dein Verdienst! dein Gegner war ein Mann! Wir unterstehen uns zu sagen Daß dies so gar auf B i l d e r sich erstreckt; Und daß ein C h e r u b ohne Magen Und Unterleib, in seinem Federn-Kragen, Des frommen Nönnchens Herz nicht halb so gut erweckt Als G u i d o ’ s A m o r — zwar Diuino Der Absicht nach — allein, der, wie ihr wißt Darum nicht minder als ein andrer Amorino Ein sehr vollständig Bübchen ist. *)

20

Ist diesem so, wer kann den überird’schen Schönen Verargen, wenn sie sich, sobald Cupido’s Fluch Durch fehlgeschlagenen Versuch Bestättigt ist, nach andrer Kurzweil sehnen? So manche schöne Sommernacht Vorbeygegähnt! Die nie betrogne Macht Von ihren Reitzungen dem Zweifel preißgegeben! Und Rachsucht sollte nicht die holden Busen heben? *)

Anspielung auf ein bekanntes Blat von R o b e r t S t r a n g e nach einem Gemälde des G u i d o

R e n i . Es stellt einen schlafenden nackten halbjährigen Knaben vor, neben welchem eine junge Nonne mit gefalteten Händen ihre Andacht verrichtet, aber in der That Zerstreuungen zu haben scheint. Statt der Unterschrift, A m o r i s primitiae hätte sich A m o r d i u i n u s um so mehr geschickt, weil dies Blat der Pendant zu einem, gleichfalls nach dem Guido, von S t r a n g e gestochnen C u p i d o ist.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Mitte September 1774)

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Der erste Schäfer wäre just Was eine Göttin braucht, wenn sie der Rache Lust Sich geben will. Oft ist dabey noch zu gewinnen. Allein auch dieses Trosts entbehren die Göttinnen. Der Erdkreis wird von Amors I n t e r d i k t So allgemein wie der Olymp gedrückt. Das einzige, was ihnen zu versagen In Amors Macht nicht lag, war das Talent — z u p l a g e n , Womit das schöne Volk, zumal vom Götterstand, 10

In hohem Grad sich stets versehn befand. Die unfreywilligen olympischen C o m b a b e n Wie sollten sie erfahren haben Was Schönen können, denen man Mißfallen hat, und die uns quälen wollen! Zum Unglück, kömmts dabey, wenn wirs empfinden sollen, Auf einen kleinen Umstand an, Auf den die Herzensköniginnen Sich, wie es scheint, nicht allemal besinnen. Ins Ohr gesagt, ich weiß euch ein A r k a n

20

Womit die Götter sich so fest als Eisen machten. Ihr wünscht es mitgetheilt? Wohlan! V e r a c h t e n , Kinderchen, v e r a c h t e n , Dies ist die ganze Kunst! — Du betest C h l o e n an, Ein saures Blikchen macht dich schmachten; Ein Lächeln ist genug dem Zevs dich gleich zu achten? Du armer Mann! Wenn sie dich quälen will, Blickst du sie sterbend an und hältst ihr still? V e r a c h t e n , kleiner Thor, v e r a c h t e n ! Probatum est! Von den remediis

30

Amoris, glaube mir, hilft keines so wie dies! Sie starrt dich an mit Augen von M e d u s e n ; Versteinert, denkt sie, werdest du Zum Z e i c h e n dastehn! — Aber du, Du bist kein Geck, du hast æs triplex um den Busen, Und issest, trinkst, und pflegst der Ruh,

Der verklagte Amor. Viertes Buch

256—318

611

Und, statt der Quälerin was dummes vorzuweinen, Gehst du davon auf zwey gesunden Beinen. Das Mittel ist bewährt, wiewohl nicht allgemein; Es möchte dann und wann nicht anzuwenden seyn. Verachten was wir lieben m ü s s e n Ist oft unmöglich, immer schwehr; Den Zustand nehm ich aus, worinn das Götterheer Durch Amors Bosheit, wie wir wissen, Seit kurzem sich befindt. Denn freylich, der I n s t i n c t Thut mehr dabey als mancher Göttin dünkt,

10

Wenn ihre Reitzungen uns das Gehirn verrücken. D u r c h i h n sezt oft ein Nymfchen in Entzücken, Ist eine I l i a * ) , ist V e n u s , überall Mit Grazien garniert und tota merum sal **) In euern f a s c i n i e r t e n Blicken, Die, ohne Amors Argelist, Ein sehr alltäglich Thierchen ist. O h n ’ i h n erblickt Adonis in Cytheren Nur eine Frau zum Zeitvertreib, Ohn’ ihn wird Juno zur Megären,

20

Und Galathee zum Austerweib. Sie, deren Lieblichkeit zu hyperbolisieren Die Göttersprache selbst einst unzulänglich war, Sind itzt der Gegenstand von hämischen Satyren. Auroren wird ihr Rosenhaar Zur Last gelegt, Dianen ihre Länge. Mit unbarmherziger kunstrichterlicher Strenge Wird jeder Reiz anatomiert, Und, wie natürlich ist, verliehrt Der Reiz dabey. — Bey Amors Zauberfackel *) **)

Ilia et Egeria est, do nomen quodlibet illi. H o r a t .

xaritvn mia, tota merum sal; ein Ausdruck des L u c r e z , dessen Übersetzung eine Aufgabe

für unsre Sprachkundigen seyn mag. Die Franzosen brauchen das Wort piquant in einem Sinne der dem Worte sal in dieser Stelle entspricht.

612

D e r T e u t s c h e M e r k u r (Mitte September 1774)

30

Muß man die Schönheit sehn! Der kalten Tadelsucht, Die Reiz für Reiz gerichtlich untersucht, Ist H e b e selbst nicht ohne Mackel. Nun, meine Freunde, setzet euch Ein wenig an der Götter Stelle Und sagt mir: ist ein Himmelreich Wo man einander quält, nicht eine wahre Hölle?

O Amor, Gott der Freuden, kehre um, (So ruffen heimlich oft die Götter und Göttinnen) 10

O kommt zurück, ihr Charitinnen, Wo ihr verbannet seyd, da rinnen Kozyt und Flegeton, da quälen Plaggöttinnen, Ach! ohne euch ist kein Elysium, Ist kein Olymp! — Allein dies laut zu rufen, Verbeut noch Stoltz und falsche Schaam. Sie mußten erst durch alle Stufen Der Langenweile gehn. — Zu welchen Mitteln nahm Man nicht die Zuflucht erst? Bald gab der dicke K o m u s , Und B a c c h u s bald ein Freudenfest, wobey

20

Sich niemand freute; oder M o m u s Ein Farcikalisch Allerley, Das desto mehr die Logen gähnen machte Je mehr das Paradies und der Verfasser lachte. Herr Momus war (wie Dichter gerne sind) Für seines Witzes Brut an beyden Augen blind, Und sprach, im ersten Zorn, zu seinem Freund, dem T h i e r e M i t l a n g e m O h r : „Der Henker amüsiere Die Herr’n und Damen, die nicht amüsierbar sind!“ Doch dient’ es ihm zum Trost, daß A z o r u n d Z e m i r e

30

V o n M o n s i e u r M a r m o n t e l nicht beßre Würkung that. Die Musen dachten, so was Neues Wie der Olymp noch nie gesehen hat, Muß Wunder thun. Allein — Apoll verzeyh’ es Der guten E r a t o ! — Man fand sie kalt wie Schnee.

Der verklagte Amor. Viertes Buch

319—382

613

Das T h i e r c h e n , ihr Amant, verdient’ es zwar nicht besser; Doch die Belustigung der Götter-Assemblee War, wie ihr seht, darum nichts desto grösser. Wißt ihr was traurigers, im Himmel, oder hier In diesem Jammerthal, wo wir (nach Standsgebühr Mehr oder weniger) der Langenweile fröhnen, Als, unergötzt, in langen frost’gen Scenen, (Mit Sang und ohne Sang) drey Stunden oder vier Zum Zeitvertreib einander — anzugähnen? Die Götter hieltens auch nicht manchen Abend aus.

10

„Viel lieber, sprachen sie, hojahnen wir zu Haus, Und schneiden Bilder aus, und putzen unsre Puppen.“ Zulezt, nachdem man lang auf neue Kurzweil sann, Beut die Astronomie sich an. Seitdem es Sterne giebt, sah man so schöne Gruppen Um kein Dollondisch Glas gebückt. Die Damen schienen ganz von Wissenslust verzückt, Sie guckten Nächte lang, und hohlten sich den Schnuppen. Der Wettstreit, wer im schönsten Nachtgewand Den Sternen Cour zu machen käme,

20

Trug auch das Seine bey, daß man am Weltsysteme Und am Planetentanz so viel Vergnügen fand. Nehmt noch dazu, was allen Lustbarkeiten (Sogar den feyrlichen, wozu die Glocken läuten) So ein — wie nennt ihrs? — giebt, das sie piquanter macht, Mit Einem Wort, die Zeit der Mitternacht: So hätte wohl zum Glück der Mondesfinsternissen Nur Amor noch darein sich mischen müssen. Allein, da dieser fehlt, verlohr die Warte bald Den ersten Reiz — die Nächte waren kalt — Die Damen klagten über Flüsse, Und Rückenschmerz und Drücken auf der Brust; Man fand, daß man die Wissenslust Gemächlicher zu stillen suchen müsse. Versuche folgen nun in B o y l e n s leerem Raum,

614

D e r T e u t s c h e M e r k u r (Mitte September 1774)

30

Man wiegt die Luft, zergliedert Sonnenstralen, Und lernt, warum sie leichter Wolken Saum Mit siebenfärbgen Lichte mahlen; Man mißt den Schall, man zählt der Sterne Heer, Die Flocken Schnee, die Tropfen Regen, Die auf den Erdkreis und ins Meer Ein Jahr ins andre fallen mögen; Was mißt und zählt man nicht, wenn man mit seiner Zeit Nichts anzufangen weiß? Alsdann ist Zeitersparung 10

Verlohrne Zeit. Die kleinste Kleinigkeit Wird wichtig dann, und eh die Seele Hunger leidt, Zieht sie aus Distelköpfen Nahrung. Noch mehr — Vorausgesezt, daß euer Trismegist Die Klugheit hat, mit Demonstrationen Und a + b die Damen zu verschonen — Wo ist — wenn den Endymionen Was menschliches begegnet ist — Ein Zeitvertreib mit diesem zu vergleichen, „Dem M ü t t e r c h e n N a t u r , die keine Zeugen liebt

20

Wenn sie den Wangen Roth, dem Busen Liljen giebt, Bis an den Putztisch nachzuschleichen? Die Schächtelchen und Büchschen allzumal Eins nach dem andern aufzumachen, Und tausend wunderbare Sachen Wovon euch nie geträumt, aus ihrem Futteral Herauszuziehn, sie zu besehen, Und wenn ihr nun, von Stück zu Stück Sie lange gnug betastet und besehen, Sie in ihr Futteral zurück

30

Zu legen, und dann just so klug davon zu gehen, Als ihr gekommen?“ — Traun! wir müssen es gestehen, Dies Spiel ist wohl so gut als eines in der Welt! Allein so sehr es unterhält, Verliehrts doch, wenn ihrs lange spielet, Der Neuheit Reiz, der anfangs es empfielet.

Der verklagte Amor. Viertes Buch

383—452

615

Ein andrer Spas wird auf die Bahn gebracht, Daurt einen Tag und eine lange Nacht, Wird ungeschmackt, muß einem Dritten weichen, Und diesem gehts, wie allen seines gleichen. Was wollen wir? Da nichts mehr Lindrung gab, Sank man, von Spiel zu Spiel, — zur blinden Kuh herab. Vergebens! Amor fehlt, die Charitinnen fehlen: Die blinde Kuh sogar wird int’ressant durch sie; Doch ohne sie? — ich würde mich empfehlen, Wer Lust hat, spiele mit! — Vergebens, gute Seelen,

10

Hoft ihr Vergnügen ohne sie; Vergebens schwanket ihr von einer Phantasie Zur andern: ohne sie sind Freuden ohne Freude, Ergötzt kein Ohrenschmaus und keine Augenweide, Herrscht Langeweil und dumme Apathie Und Überdruß und Spleen und Agrypnie, Bey aller Lust, beym schönsten Sommerwetter, Beym Nektartisch, bey Tanz, Gesang und Symfonie, Sogar im goldnen Saal der Götter. Die weise Frau verzeyh’ uns, deren Rath

20

Zwar wohl gemeynt, die schlimme Würkung that; Allein, Freund Sokrates scheint wohl gewußt zu haben Wie und warum, wenn er die schönen Knaben, In deren Zirkel er sich gerne finden ließ, Den keuschen Grazien opfern hieß. Der Mann that was wir alle sollten Wofern wir weiser werden wollten; E r f r a g t e d i e N a t u r ; sie war sein G e n i u s , Und seine P y t h i a ! doch, wohl gemerkt! er fragte Wie man, belehrt zu werden, fragen muß; *) Und was sie ihm in Antwort sagte, *)

d. i. er hatte nicht schon vorher bey sich ausgemacht, was sie ihm antworten sollte, sondern

hörte bloß auf das was sie ihm antwortete: Und dies ist gerade was die wenigsten Frager thun.

616

D e r T e u t s c h e M e r k u r (Mitte September 1774)

30

Vernahm er r e c h t und g a n z . — Wem dies ein Räthsel ist, Der laß es sich von X e n o p h o n erklären; Ein jeder ächter Sokratist Versteht uns. Kurz und gut, Frau Pallas (ihren Ehren Unschädlich!) hatte wohl die Folgen nicht bedacht, Da sie den Göttern von Cytheren So strenge den Proceß gemacht. Der Spleen, der nun, seitdem man sie vertrieben, Den Götterhof erfüllt, der Augen trübes Licht, 10

Die finstre Stirn, das grämliche Gesicht, Das Unvermögen was zu lieben, Die Trägheit was zu thun — war noch das schlimmste nicht. Ists erst dahin mit uns gekommen So nimmt das Übel zu. Zevs der die Unterwelt Regieren soll, regiert, so wie ein Würfel fällt, Auf gutes Glück, und plagt die Bösen und die Frommen. Minerva, deren Ernst die sanften Grazien Sonst unvermerkt erheiterten, Ist vor Pedanterey nicht länger auszustehen.

20

Der gute Bacchus wird, seit Amor sich verbannt, Mit Satyrn stets bezecht gesehen. Mars tobt und macht den Sakripant. Die Musen krähen uns in rauhen fremden Tönen Kamtschadkische Gesänge vor, Entsagen, n e u zu seyn, dem S c h ö n e n , Betäuben den Verstand, und ängstigen das Ohr. Man will sogar (wir wollen’s Beßre hoffen) Sie hätten einst in dickem Gerstensaft Mit Wodans wilder Brüderschaft

30

Aus MenschenSchädeln sich besoffen. Genug, der Unsinn stieg von Grad zu Grad soweit, Daß endlich Ä s k u l a p (der Göttern und Göttinnen Früh Morgens und um Schlafenszeit Den Puls befühlt) ihr Blut ein wenig zu verdünnen, Und wieder den Olymp in aller seiner Sinnen

Der verklagte Amor. Viertes Buch

453—518

617

Nutznießung und Gebrauch zu setzen, nöthig fand Auf Amors Rückkehr, vor der Hand, In vollem Amtsernst anzutragen. „Die Krankheit (sprach er) hat die Zirbeldrüse schon Ergriffen; alles hier zu wagen Ist nichts gewagt. So schlimm Cytherens Sohn Auch seyn soll, wird er doch bey unsern Frauenzimmern Und Herren überhaupt im Hirnchen nichts verschlimmern, Hingegen destomehr an Laune, guten Muth, Und selbst am Herzen besser machen;

10

Wir leben wieder, scherzen, lachen, Verdauen, schlafen sanft und machen frisches Blut, Und werden mehr dabey gewinnen Als mancher denkt“ — Der Arzt hat Recht, Rief das olympische Geschlecht. Man hatte Zeit gehabt sich besser zu besinnen. Sogar der Spröden weise Zunft (Wiewohl sie sichs nicht merken ließen) War müde, für Minervens Spleen zu büßen, Und sehnte heimlich sich nach Amors Wiederkunft.

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Die Sache gieng im Götterrathe Einhellig durch. Es liegt dem ganzen Staate Zuviel daran, sprach Zevs, daß wir in Einigkeit Wie Göttern ziemt beysammen wohnen. Straks sendet man Merkurn mit Propositionen Nach Paphos ab. Man gab sich etwas bloß, Dies ist gewiß; allein die Sehnsucht war zu groß Um durch Bedingungen den Frieden zu erschwehren. Ich sage nicht, sprach Momus, daß man es Vermeiden konnte, just so weit zurückzukehren, Als man einst vorwärts gieng — wohl Recht hat Sokrates, „So arg der Schalk auch ist, kan man ihn nicht entbehren“ — Dies sag’ ich nur: das was wir itzo thun

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War schon gethan, und hätten wirs beym Alten Gelassen (wie ich stets für räthlicher gehalten) So brauchten wir itzt nicht zu thun Was schon gethan war; nun ist Amor unser Sieger! Dafür (spricht Äskulap) sind wir um soviel klüger. Von Ungefehr stand mit gespiztem Ohr Das E s e l c h e n dabey und lachte; H e ? gähnt er, s a g t i c h s n i c h t z u v o r ? Die Welt geht, wie ich immer dachte, 10

So gut sie kan; — „Sie sollte besser seyn, (Spricht man) dies fehlt und das“ — Ich merk’ es auch; allein D e n m ö c h t’ i c h s e h n , d e r e i n e b e ß r e m a c h t e !

Der verklagte Amor. Viertes Buch

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Der Teutsche Merkur. Des Siebenten Bandes Drittes Stück. September 1774. Weimar, bey Carl Ludolf Hoffmann.

Stilpon oder über die Wahl eines Oberzunftmeisters von Megara. Eine Unterredung. Jedermann wird uns eingestehen, daß der erste Minister des Königreichs L i l l i p u t , (eines Staats von Doctor S w i f t s Schöpfung, den viele unsrer Leser vielleicht besser kennen als ihr eigenes Vaterland) um die Lilliputer und ihre Nachkommenschaft glücklich zu machen, ein Mann von eben so grossen Talenten, Kenntnissen und Tugenden seyn müßte, als ob er Frankreich oder Spanien zu verwalten hätte. Vorausgesetzt, daß diese Lilliputer eine Art von Menschen sind, möchten sie, mit u n s gemessen, so klein als die Käsemilben

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seyn, es würde immer ein C e c i l , oder S ü l l y , oder C o l b e r t , oder eine Vereinigung mehrerer Männer von diesem Werth erfodert, um Lilliput wohl zu regieren; und in so fern nur in diesen Ministern der Geist eines Cecils, Süllys oder Colberts würkte, möchten sie immerhin nur fünf oder sechs Daumen hoch seyn; dies hätte nichts zu bedeuten. Wenn dies in Absicht der Minister von Lilliput richtig ist, warum sollte nicht das nehmliche von den Vorstehern eines jeden kleinen Staates gelten? Gleichwohl ist das gemeine Vorurtheil wider die kleinen Staaten. Man pflegt sie gewöhnlich mit Verachtung anzusehen, bloß weil sie klein sind; und wer z. B. zu Wien, Berlin oder Hannover im Ernste von einem P h o c i o n , C a t o

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oder C i c e r o der Reichsstadt P f u l l e n d o r f spräche, würde gewiß von den meisten seiner Zuhörer so angesehen werden, als ob er etwas sehr Ungereimtes gesagt hätte. Ich will damit weder bejahet noch verneint haben, daß es in Pfullendorf oder irgend einer andern Reichsstadt jemals einen Phocion, Cato oder Cicero gegeben habe. Ich behaupte nur, daß es ein m ö g l i c h e r Fall sey; und daß die kleinste aller Republiken eben so gut Männer von diesem Schlage in ihrem Schoose hegen könne, als es möglich ist, und sich vermuthlich schon oft zugetragen hat, daß der Herr von einem Paar Dörfern ein Titus oder Antoninus gewesen wäre, wenn der Himmel für gut befunden hätte, ihn über viel zu setzen.

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Wenn Männer von großem Geist und Herzen in kleinen Staaten, z. Ex. in A b d e r a , verhältnißweise seltner sind, als in großen — denn s e l t e n sind sie überall und zu allen Zeiten — so lassen sich davon ein Paar sehr gute Ursachen angeben. Eine davon liegt in den Schwierigkeiten in einem Abdera ein großer Mann zu w e r d e n , und die andre in den Schwierigkeiten, es zu s e y n . Ordentlicher weise w i r d man nur dann ein großer Mann, wenn man durch die Erziehung dazu gebildet, durch Beyspiele aufgefodert, durch Ruhmbegierde oder Hofnung glänzender Belohnungen angefeuert wird. Keine von diesen Ursachen hat gewöhnlich in sehr kleinen Staaten Platz. Wenn wir 10

S p a r t a — welches freylich nur eine kleine Republik war, aber einen der größten Sterblichen zum Gesetzgeber gehabt hatte, — und das alte R o m — welches schon in seinen ersten Anfängen die ganze Anlage seiner künftigen Größe enthielt — ausnehmen, so ist vielleicht keine kleine Republik zu nennen, in welcher E r z i e h u n g und B e y s p i e l vortrefliche Bürger hervorgebracht hätten. Und wie sollten B e l o h n u n g e n diese Würkung thun können in einem Staate, dessen Armut kaum für seine dringendsten Bedürfnisse hinreicht? Gewiß eben so wenig als die Hofnung des N a c h r u h m s , oder wenigsten der Hochachtung seiner Zeitgenossen. Denn was für Hofnung könnte sich der obbesagte Cato oder Phocion der Reichsstadt Pfullendorf machen, in den Jahr-

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büchern der Menschheit zu glänzen, er der im Mindesten nicht darauf rechnen kann, nur wenige Meilen außerhalb der Ringmauren seiner Vaterstadt für den Mann, der er ist, bekannt zu werden? Ihm gilt es also ganz eigentlich, was Cicero dem alten Scipio zu seinem Enkel sagen läßt: d u r c h i h r e n e i g e n e n R e i t z m u ß d i c h d i e T u g e n d z u e d l e n T h a t e n z i e h e n ! Das Bewustseyn seines Verdienstes ist die einzige gewisse und merkwürdige Belohnung auf die er zählen kann. Aber was für feinen Thon muß die Natur nehmen, um solche Herzen zu bilden; und wie selten thut sie das? Noch größer sind in kleinen Republiken *), gewöhnlich, die Hindernisse, die ein Mann überwinden muß, um würklich große Dienste zu leisten. Nirgends

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findet man — die Natur der Sache bringt es so mit sich — eingeschränktere Seelen, härtere Köpfe, kältere Herzen; nirgends mehr Eigensinn, Eifersucht, Neid, Wankelmuth, Falschheit; nirgends hartnäckigere Vorurtheile; nirgends *)

Das Wort R e p u b l i k wird hier immer in der weitesten Bedeutung genommen, deren es

fähig ist.

Stilpon

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mehr Trägheit zu Unternehmungen, die keinen Privatnutzen versprechen; nirgends mehr Widerwillen gegen alles, was Dummköpfe N e u e r u n g e n nennen — als in kleinen Republiken. O Abderiten, Abderiten — pflegte Demokritus seinen geliebten Landsleuten zuzurufen: sträubt euch doch nicht so gegen Neuerungen! alles Alte bey euch taugt nichts; alles muß n e u zu Abdera werden, wenn es g u t werden soll. Aber wie solte diese Denkensart in kleinen Republiken nicht Ketzerey seyn? Jeder Schritt, den man darinn zum Bessern thun will, geht über ehrwürdige oder verjährte Mißbräuche; und bey jedem Mißbrauch, auf den man

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tritt, schreyen etliche — wackere Leute, denen es wehe thut. Daher der Haß, der in solchen Gemeinheiten das wahre Verdienst zu drücken pflegt. Daher, daß es als eine Art von Hochverrath angesehen wird, wenn ein Mensch von gesundern Kopfe sich die Freyheit nimmt, die Gebrechen der Staatsverwaltung wahrzunehmen. Wie dem guten O v i d * ) , wird es hier oft einem armen Schelme zum Verbrechen gemacht, mit seinen Augen gesehen zu haben, was die Herren nicht wollen, daß man sehen soll. In diesem Stücke konnte der Despotismus unter den alten Cäsarn selbst nicht strenger seyn, als er es oft in dem kleinsten Städtchen oder an dem kleinsten Höfchen ist. Die große Schwierigkeit einen kleinen Staat wohl zu regieren, liegt nicht in

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seiner K l e i n h e i t ; denn, warlich, nur mit tausend Männern, die mit zusammengesetzten Kräften auf Einen Punkt loßarbeiten, — lassen sich Wunder thun. Die Schwierigkeit liegt bloß darinn, „Tausend Leute zu — M ä n n e r n zu machen, und dann in diese Männer Einen g e m e i n s c h a f t l i c h e n G e i s t zu hauchen, der alle ihre Bewegungen nach Einem g e m e i n s c h a f t l i c h e n E n d z w e c k richte.“ In kleinen Staaten ist dies oft so schwer, als die gefabelten Wunder des Orpheus und Amphion. Diese Betrachtungen haben mich öfters bewogen, einen Bürgermeister einer unbedeutenden Reichsstadt, oder einen Vorsteher einer kleinen helvetischen Republik mit eben der Ehrfurcht anzusehen, womit man die Bilder der großen Männer des alten Griechenlandes und Roms anzusehen pflegt. Ich könnte mehr als einen nennen, auf dessen Grab ein schlechter von Reisenden unbesuchter Stein liegt, dessen Bild auf Münzen und Cameen die Cabinetter *)

Cur aliquid vidi? cur noxia lumina feci?

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der Kenner zieren, und die Alterthumsforscher beschäftigen würde, wenn er das in Rom gethan hätte, was er in seinem kleinen Vaterlande that! Aber wozu dieser Eingang? — Bloß dazu, damit sich nicht manche unsrer Leser abschrecken lassen, wenn sie sehen, daß es in dem folgenden Gespräche nur darum zu thun ist, ob L a m p u s , oder G o r g i a s , oder M e g i l l u s Oberzunftmeister in der kleinen Republik M e g a r a werden soll, einer Republik, die schon längst Nichts mehr ist, und die, in der That, als sie noch Etwas war, sehr Wenig war. Den M e g a r e r n war an der Auflösung dieses Problems sehr viel gelegen; und wer weiß, ob nicht an der Art, wie es in des Philosophen 10

Stilpons kleinem Gartensaal aufgelößt wurde, mancher kleinem und großem Republik (die vom Diogenes und die Insel Otahity ausgenommen) um ein merkliches mehr gelegen seyn möchte, als an der Frage, ob Skaramuz, ob Skapin besser tanze?

* * * Stilpon befand sich eines Abends in seinem Garten, und half seinem kleinen Knaben Schmetterlinge fangen, — denn, wiewohl der Knabe schon vier volle Jahre alt war, wußte er doch noch nichts von Metaphysik, Geographie, Astronomie, Weltgeschichte, Moral, Statistik, Grammatik und Dialektik; und Stilpon, wiewohl er ein Philosoph war, schämte sich nicht, eines so unwissenden 20

Knaben Vater zu seyn, sondern half ihm, wie gesagt, Schmetterlinge fangen — als man ihm sagte, daß die Rathsherren K l e o n und E u k r a t e s in seinem Gartensaale wären. Diese Herren waren seine Freunde, so gut als Rathsherren Freunde eines Philosophen, der k e i n R a t h s h e r r ist, seyn können; sie schätzten ihn hoch, fragten ihn öfters um Rath, wiewohl gemeiniglich erst, wenn es zu spät war, und wenn es auch nicht zu spät war, folgten sie ihm doch selten. Denn (sagten sie) sein Rath ist zwar gut; es ist klar, daß man es so machen müßte, wenn man’s recht machen wollte; aber — es läßt sich nicht thun; Stilpon würde das eben so gut einsehen als wir, wenn er ein Rathsherr wäre.

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Der Philosoph vermuthete die Ursache ihres Besuchs, und vernahm bald, daß er sich nicht geirret hatte. Die guten Männer waren in grosser Verlegenheit; denn, in der Lage, worinn sich ihre Republik damals befand, war dem gemeinen Wesen an der Wahl eines Oberzunftmeisters unendlich viel gelegen;

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und sie beyde meynten es gut mit ihrem Vaterlande, zumal wenn sie wohl verdauten, gut schliefen, und keine besondere Ursach hatten, fünfe für gerade gelten zu lassen. Rathen Sie uns, Stilpon, sagten sie; helfen Sie uns, wenn Sie können; nie hat sich Megara in einem gefährlichern Augenblicke befunden. Der Tod des rechtschafnen Demokles hat alles Gute, was er angefangen hatte, unvollendet gelassen. Die Redlichen haben ihren Beschützer verlohren, die Übelgesinnten schöpfen Hofnung, und diejenigen, in deren Dummheit oder bösem Willen alles, was zum gemeinen Besten unternommen wurde, immer den entschlossensten Widerstand fand, stehen an der Spitze aller Dummköpfe und bösen

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Buben bereit, die Republik zu überrumpeln. Die Wackelköpfe — wackeln, und die Schiefdenker, die überall Gefahr sahen, wo keine war, wissen sich itzt viel mit ihrer Scharfsichtigkeit, das Schwerdt nicht zu sehen, das an einem Pferdehaar über uns hängt. Alle, die durch Abstellung der alten Mißbräuche verlohren haben, (und Sie wissen, Stilpon, wie groß ihre Anzahl ist) glauben ihre Wiederherstellung als ein Recht fodern zu können, und arbeiten mit Eifer für denjenigen, dessen Schwäche oder verkehrte Denkensart ihnen die meiste Hofnung giebt zu ihrem Zweck zu kommen. Was wird das kleine Häufchen der Wohlgesinnten gegen sie vermögen; zumal, da wir nichts weniger als zusammenstimmen. Denn Einige haben den Muth nicht, etwas zu wagen; Andre

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sind schwach genug, Masken für Gesichter anzusehen; Einige sind es so sehr, daß sie sich einbilden können, ein Mann, den sie in hundert Fällen ungerecht, boshaft, falsch, rachgierig handeln gesehen haben, werde doch wohl kein so schlimmer Mensch seyn, und zum hundert und erstenmale auch so handeln. Kurz, guter Stilpon, wir sind in unmittelbarer Gefahr in die Hände eines L a m p u s oder eines M e g i l l u s zu fallen. Das ist, sagte Stilpon, ungefehr so viel, als entweder an Scylla zu stranden, oder von Charybdis verschlungen zu werden. Die Wahl ist nicht die angenehmste. Lampus ist dumm, Megillus boshaft; und die Megarer, wenn sie ihre Wohlfahrt von dem einen oder dem andern abhangen machten, was wären die? Kl e o n . Du kennst die Welt, Stilpon, und dir sollte fremde vorkommen was beynahe täglich geschieht? Wie oft befinden sich die ehrlichsten Leute in dem traurigen Falle, aus zweyen Übeln eines wählen zu müssen.

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St i l p o n. Da bedaure ich diese ehrlichen Leute! Kl e o n . So bedaure uns beyde. Du kennest unsre Lage. Lampus oder Megillus — Scylla oder Charybdis, wie du sagtest! Es steht nicht in unsrer Macht, zu verhindern, daß nicht einer von diesen beyden erwählt werde: Aber wir haben wenigstens so viel Einfluß, daß wir die Wahl auf den Einen oder den Andern lenken können. Und eben dies ist, was uns verlegen macht. St i l p o n. Aber was haben denn die armen Megarer gethan, daß sie nun schlechterdings einem Lampus oder Megillus aufgeopfert werden sollen? Bedenken Sie, meine guten Herren, daß eine einzige grosse Thorheit oder 10

Übelthat, die ein solcher Mann begehen wird, dem es an den Fähigkeiten oder an der Tugend, die sein Platz erfodert, mangelt, Folgen haben wird, deren Schädlichkeit noch die Kinder unsrer Enkel fühlen müssen! Fehlt es denn so gänzlich an rechtschaffenen Männern in Megara? Könnte die Wahl nicht für einen von Ihnen beyden entschieden werden? Warum soll der Mann, der uns regieren soll, nun eben schlechterdings einen schwachen Kopf oder ein schlechtes Herz haben? Eu k r a t e s. In der gegenwärtigen Lage der Sachen, werden wir uns vielleicht noch glücklich schätzen müssen, wenn es uns nicht noch schlimmer geht. Wissen Sie denn nicht, daß G o r g i a s Himmel und Erde bewegt, um seine

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beyden Mitbewerber zu verdrängen, und daß er, wenn keiner von diesen obsiegt, die größte Hofnung hat? St i l p o n. Dies wäre in der That noch schlimmer als schlimm. Ein verschobenes Gehirn und ein verkehrtes Herz, in Einem Menschen vereiniget, — an der Spitze der Republik wäre gerade, was wir nöthig hätten, um unfehlbar verlohren zu gehen. — Daß es nur möglich seyn soll, so etwas besorgen zu müssen! Der blosse Gedanke empört meine Seele gegen alle eure Republiken und polizierte Staaten, in welchen — und in welchen allein — solcher Unsinn möglich ist. O ihr glücklichen Baktrianer und Korasmier! wer wollte nicht lieber mit euch unter Zelten oder in Grotten, Laubhütten und hoh-

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len Bäumen wohnen? Ihr seyd frey, und wenn ihr einen Anführer gebraucht, so ist es d e r b e s t e M a n n unter euch! Und wir — vergeben Sie, meine Herren — der Gedanke, daß Sie der armen Republik wohl gar einen G o r g i a s zum Vorsteher geben könnten, hat mich einen Augenblick umgeworfen, wie sie sehen. Sie wissen, daß es mir für meine Person gleichviel seyn kann, wer uns regiert. Aber ich kann und will es nicht dahinbringen,

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für das Glück oder Unglück meiner Nebenmenschen gleichgültig zu werden. Eu k r a t e s. Wir eben so wenig, guter Kleon, und blos darum, weil wir überzeugt sind, daß der Republik kein grösseres Unglück begegnen könnte, als die Beute eines G o r g i a s zu werden, sind wir zu allem entschlossen, was ein Mittel, dieses Ärgste von ihr abzuwenden, werden kann. Kl e o n . Es ist wahr, G o r g i a s hat wenig Freunde. Wer sollte den Mann lieben, von dem auch der schaamloseste feileste Lobredner keine einzige edle Neigung, keine einzige gute That anzuführen wußte, um die Schwärze seines Charakters nur durch Eine lichte Stelle zu mildern? Den Mann, den

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irgend ein feindseliger Dämon mit einer so unglücklichen Sinnesart gestraft hat, daß man nur alle diejenigen, die er haßt und verfolgt, zu zählen braucht, um die verdienstvollesten und liebenswürdigsten Personen von Megara herzuzählen. Eu k r a t e s. Dem ungeachtet hat er sich einen Anhang zu machen gewußt. Ja, die meisten sind ihm gerade darum ergeben, weil sie ihn als einen übelthätigen und unversöhnlichen Mann kennen. Die Furcht thut bey vielen Menschen die Würkung der Liebe. Dies weiß G o r g i a s , so dumm er sonst ist; sie mögen mich immer hassen, denkt er, wenn sie mich nur fürchten. Die übrigen halten zu ihm, weil sie selbst dumm und unwissend genug sind,

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daß er ein Mann von Einsicht und Geschicklichkeit in ihren Augen ist, ungeachtet ein paar Dutzend Kunstwörter, etliche wohl oder übel angebrachte Sprüche, die er aus einer Sammlung von Apophtegmen gestohlen hat, und einige subalterne Talente, die ihn allenfalls fähig machten, ein mittelmäßiger Sykophant oder ein erträglicher Schreiber zu seyn, sein ganzes Verdienst ausmachen. Wie dem auch sey, genug, er hat seinen Anhang; er wird unter der Hand von den Atheniensern unterstützt; er ist reich, und hat mittelst einer Freygebigkeit, die durch ihren Beweggrund vielleicht zu seinem größten Verbrechen wird, einen ansehnlichen Theil des Volkes so sehr bethört, daß sie ihn heute noch zum Oberzunftmeister machen würden, wann die Wahl vom Volk abhienge. G o r g i a s ist also furchtbar; wenn wir nicht vorsichtig sind, wird er sich zwischen L a m p u s und M e g i l l u s hineindrängen, und, o! der glücklichen Zeiten, die wir dann erleben werden! Stilpon . Ich wüßte wohl einen Rath; aber er ist nur für die Zeiten unsrer Urälterväter gemacht. Leute, wie wir, müssen sich alles gefallen lassen.

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Kl e o n . Das wäre hart, guter S t i l p o n ! So sehr wollen wir uns selbst nicht verlassen. Da wir keine Hofnung haben, der Republik so viel Gutes thun zu können, als wir wünschten, so muß es nun unsre Sorge seyn, ihr so wenig Böses zufügen zu lassen als möglich. Wenn man nun einmal in der unseligen Nothwendigkeit ist, aus zween oder dreyen Übeln eines zu erwählen, so ist da weiter nichts zu thun, als so genau als möglich abzuwägen, welches das leichteste sey, und dann herzhaft zuzugreifen. Eu k r a t e s. Dies ist es auch eigentlich, was uns zu dir führt, S t i l p o n . Wir wollten dich um deinen Rath bitten. Unglücklicherweise können wir, Kleon 10

und ich, uns nicht vergleichen, ob L a m p u s oder M e g i l l u s das kleinere Übel sey. L a m p u s ist dumm, M e g i l l u s böse, G o r g i a s beydes. Die beyden ersten zusammengenommen sind ungefehr so schlimm als der Letzte allein; aber daraus folgt nicht, daß einer von ihnen gerade so viel wiegt als der andre. M e g i l l u s , so schlimm er ist, hat Verstand, sage ich: L a m p u s , so dumm er ist, hat ein gutes Herz, sagt K l e o n . K l e o n ist für das Herz; ich, für den Verstand: welcher von uns beyden hat Recht? Was ist Ihre Meynung, S t i l p o n ? St i l p o n. Die Frage ist ungefehr wie diese: Wir brauchen zu einer Reise nach Syrakus einen Steuermann; wer taugt besser dazu, ein Tauber oder ein

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Blinder? Ich gestehe Ihnen, meine Herren, ich habe einige Zweifel gegen das gute Herz Ihrer Dummköpfe und gegen den Verstand Ihrer Schurken. (Sie erlauben mir doch den Dingen ihren rechten Namen zu geben; es ist eine böse Gewohnheit, die mir noch von dem ehrlichen D i o g e n e s her anklebt, den ich, wie Sie wissen, so lang er lebte, als meinen Meister ehrte.) Aber ich bin ein Mann, der sich berichten läßt. Lassen Sie hören! Kl e o n . Wenn Sie mir zugeben, daß es am Ende doch immer das Herz ist, was den Menschen regiert, und daß ein Mensch, dessen Herz redlich und gut ist, so schwach er auch übrigens seyn mag, doch immer wenigstens den Willen hat, gut zu handeln: so hoffe ich meine Sache noch wohl gewinnen zu kön-

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nen. Ein Mann von Verstande, dessen Herz schlimm ist, wird desto mehr Böses thun, je mehr er Verstand hat; den Willen dazu hat er ohnehin; aber der Verstand vermehrt seine Macht, giebt ihm mehr Mittel an die Hand, lehrt ihn seine Absichten geschickter verbergen, seine übelthätigen Leidenschaften besser zu bemänteln; setzt ihn in den Stand, sich der Schwachheiten andrer Leute zu bedienen, und oft sogar redliche wohlgesinnte Perso-

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nen zu Werkzeugen seiner bösen Anschläge zu machen. Ein guter Mensch, von sehr eingeschränkten Fähigkeiten, wird aus Unvermögen weniger Gutes thun, als er zu thun wünscht; aber er wird doch gewiß alles Gute thun, wozu man ihm Gelegenheit und Mittel zeigt. Da er selbst gut ist, so wird er auch die Guten lieben; und wenn unter diesen Leute von grossem Verstande sind, so wird es ihnen nicht schwer seyn, ihn dahin zu bringen, daß er alles das Gute thue, das sie selbst an seinem Platze thun würden; zumal wenn sie (nach unsrer Voraussetzung) k l u g genug sind, ihm ihre Stärke und Überlegenheit so wenig als möglich fühlen zu lassen. Der gute schwache Mann wird also (im glücklichen Falle wenigstens) nicht nur selbst so

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viel Gutes thun als er kann und weiß; er wird auch alles, oder doch einen großen Theil des Guten thun, was verständige Personen von rechtschafnen Grundsätzen ihm an die Hand geben; und, wissentlich, wird er gewiß nichts Böses befördern. Denn dies kann ihm nur alsdann begegnen, wenn er entweder von Übelgesinnten falsch berichtet ist, oder seinen eignen Vorurtheilen, oder Leuten von unzuverläßigem Urtheil, die er vielleicht um a n g e n e h m e r Eigenschaften willen liebt, zu viel Gehör giebt; ein Fall, der sich nur selten zutragen wird, wenn die Verständigen und Rechtschafnen so wachsam und thätig sind, als man billig von ihnen erwarten kann. Hingegen der böse Mann, der Verstand hat, wird nicht nur alles Böse thun,

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wozu ihn seine eigenen Leidenschaften und schlimmen Fertigkeiten treiben, und wozu ihm sein Kopf die Mittel zeigt; er wird auch alles Böse thun, was alle übrigen Bösewichter in seinem Würkungskreise mit seinen eigenen Anschlägen und Absichten zu verbinden wissen, und mit unermüdeter Stetigkeit alles Gute hindern, was die Wohlgesinnten in Vorschlag bringen, oder selbst thun wollen. Dieses letztere ist ein sehr wichtiger Umstand, der, wie mich däucht, der Frage den überwiegendsten Ausschlag giebt. Derjenige, der alles Gute, wozu man ihm Gelegenheit giebt, aus Neigung thut, und nur das Böse, wozu er unwissenderweise betrogen wird, wird unendlichmal weniger Böses thun, als ein Andrer, der aus eigner Bewegung alles Böse thut, was er und seine Helfer thunlich finden, und alles Gute hindert, was die ehrlichen und verständigen Leute thun wollen. Die Sache ist, wie Sie sehen, einer Art von Berechnung fähig; und ich habe mich, bisher wenigstens, der Augenscheinlichkeit derselben nicht entziehen können. Ich glaube also nicht fehlen zu können, wenn ich mich für den ehrlichen L a m -

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p u s erkläre, der zwar, wie wir alle wissen, leider! einen sehr schwachen Kopf, aber gewiß kein übelthätiges Herz hat, und also, höchstwahrscheinlicherweise, der Republik, in den vorliegenden Umständen, das wenigste Böse zufügen wird. Eu k r a t e s. Hören Sie nun — St i l p o n. Um Vergebung! wie, wenn wir uns vor allen Dingen etwas deutlicher erklärten, was wir unter einem Manne von guten und bösen Herzen verstehen? Sie wissen, daß nichts zweydeutigers ist, als ein gutes Herz, nach dem Gebrauch, den man im gemeinen Leben von dieser liebenswür10

digen Benennung macht. Der Bettler hält den Ersten den Besten, der ihm ein paar Dreyer giebt, für einen guten Mann, und die Nichtswürdigen, an die ein blöder Fürst seine Wohlthaten verschwendet, werden, wenigstens so lange sie Hofnung haben, noch mehr zu bekommen, vom Lobe seiner Großmuth und Gutherzigkeit überfliessen. Der Pöbel, der die Großen nur von ferne sieht, urtheilt von ihrem Inwendigen nach ihrer Mine; ein freundliches Aussehen, eine muntre Laune, eine gewisse Popularität ist oft hinlänglich, dem schändlichsten Tyrannen eine Zeitlang Liebe zu erwerben. Überhaupt wird S c h w a c h h e i t d e r S e e l e und G u t e s G e m ü t h täglich von den Meisten verwechselt. Wie Vielen schreibt man bloß darum ein gutes

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Herz zu, weil es ihnen an Muth fehlt, so viel Böses zu thun, als sie wünschten; oder, weil sie aus Trägheit, oder Furcht vor einem unangenehmen Augenblick, sich lieber Alles gefallen lassen, lieber Alles übersehen, als sich die Mühe geben mögen, Untersuchungen anzustellen — oder weil sie zu schwach sind, auch zu den unverschämtesten Bitten oder Foderungen Nein zu sagen? Wie manche Regenten haben den Ruf eines guten Herzens einzig und allein dem Umstand zu danken, daß man unter ihrer Regierung ungestraft ein so arger Bube seyn darf, als man will? Und fehlt es etwan an Beyspielen von Heuchlern, die jenen Ruf bloß dadurch erschlichen haben, daß sie vorsichtig genug waren, alles Böse, was sie thun wollten, d u r c h

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a n d r e zu thun? Lassen Sie uns also, eh wir weiter gehen, übereinkommen, was wir für einen Begriff mit den Worten G u t e s H e r z verknüpfen wollen. Kl e o n . Ich glaube mich hierüber bereits deutlich genug erklärt zu haben. Vorausgesetzt, daß ein Mensch, der gar keinen Unterschied zwischen Recht und Unrecht fühlt, ein höchst ungewöhnliches Ungeheuer sey, verdient (deucht mich) derjenige den Namen eines Guten Menschen, der alles Un-

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recht aufrichtig verabscheut, und eben so aufrichtig wünschet, immer recht zu handeln. Die Unzulänglichkeit seiner Einsichten, eine gewisse Schwäche der Seele, die ihn dem Betrug oder der Verwegenheit andrer Menschen bloß stellt, oder ihn vielleicht unfähig macht, seine eigenen Begierden und Leidenschaften gehörig zu regieren, — kann nur zu oft die Ursache großer Übereilungen und Fehltritte werden: aber alles Böse, wozu er solchergestalt verleitet werden mag, kann ihm doch den Namen eines Guten Menschen nicht rauben. Er verdient ihn, weil er gut zu seyn w ü n s c h t , und weil er es auch allezeit i s t , so oft nicht äußere Einflüße, die für ihn zu stark sind, ihn aus seiner gewöhnlichen Fassung setzen, oder

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seinen Bewegungen eine falsche Richtung geben. Stilpon . Was sagen Sie zu dieser Erklärung, Eukrates? Eu k r a t e s. Ich denke, daß es unserm Freunde Kleon vielleicht große Mühe gemacht haben möchte, eine andre zu finden, wobey die blöden Seelen, die er nun einmal in seinen Schutz genommen hat, besser davon gekommen wären. Aber, wie dem auch seyn mag, da diese Erklärung zu dem Zwecke, wozu wir sie gebrauchen, so gut als eine andre ist, so bin ich bereit, es dabey bewenden zu lassen; und behaupte also, ohne weitere Vorrede, daß ein s c h w a c h e r Mensch, mit dem besten Herzen von der Welt, das unfähigste unter allen Wesen sey, sich selbst und andre zu regieren; und, da mir Kleon

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einwenden wird, daß ein solcher schwacher Mensch, weil er doch, um zu regieren, r e g i e r t w e r d e n müsse, eben sowohl durch verständige und gute Menschen, als durch Narren und Bösewichter regiert werden könne; und also wenigstens im g l ü c k l i c h e n F a l l e unendlichmal weniger Böses thun werde, als ein Mann von b ö s e m W i l l e n ; so behaupte ich ferner, daß diese Art von Menschenkindern ihrer Natur nach unfähig sey, sich von verständigen und guten Menschen regieren zu lassen. Ich glaube mir den Beweis dieser Sätze und Ihnen die Mühe, solchen zu fassen, nicht mehr erleichtern zu können, als wenn ich Ihnen nur mit flüchtiger Hand, das Bild eines schwachen Menschen vorzeichne, so wahr und getreu nach dem Leben kopiert, als ich nur immer kopieren kann. Der Originale, die dazu gesessen haben könnten, gehen so viele in der Welt herum, daß nichts leichter seyn wird, als sich zu überzeugen, daß ich keine Schimäre gemahlt habe. Ein s c h w a c h e r M e n s c h — lassen Sie seinen Willen so gut seyn, a l s e r k a n n — hat nicht Verstand genug, Wahres und Falsches von einander zu

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unterscheiden, und dies ist, wo nicht die einzige, doch gewiß die erste und fruchtbarste Ursache alles des Bösen, was ich von ihm zu sagen gezwungen seyn werde. Seine Seele schwebt je und allezeit in einer betrüglichen Dämmerung, wo ihm beynahe alle Dinge anders vorkommen, als sie sind. Desto schlimmer für ihn, wenn er demungeachtet richtig zu sehen glaubt; denn desto unmöglicher wird es, ihm den Dunst von den Augen zu blasen. Vermöge des guten Willens, womit wir ihn begabt voraussetzen, wünscht er, in jedem vorkommenden Falle, recht zu handeln. Aber zum Unglück für den gutherzigen Schwachkopf ist es unmöglich, daß man in irgend einem Falle 10

recht handle, wenn man n i c h t w e i ß , w a s s i c h s c h i c k t , nicht unterscheiden kann, was, i m g e g e b n e n F a l l e , recht ist. Der schwache Mensch der dies nicht kann, möchte gar zu gern alles seyn, was er seyn s o l l t e ; aber die beschwerlichen Fragen, w e r , w a s , w i e , w o , w a n n , w a r u m und w o m i t , Fragen, die zum Unglück für den blöden Kopf alle Augenblicke wiederkommen, verderben ihm immer das Spiel. Denn entweder beantwortet er sich diese Fragen falsch, oder — kürzer davon zu kommen — er fragt gar nicht. Daher kömmt es dann, leider! daß er standhaft ist, wo er nachgeben sollte, und nachgiebt, wo ein weiser Mann wie eine Mauer stünde; daß er Herz hat, wo er zittern sollte, und zittert, wo nichts zu

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fürchten ist; daß er zurückhaltend ist, wo ihm nützlich wäre, offen zu seyn; streng, wo er gelinde; verschwendrisch, wo er sparsam, und sparsam, wo er freygebig seyn sollte. Daher, daß er nie weder die M e n s c h e n , mit denen ers zu thun hat, noch die S a c h e n , wovon die Rede ist, noch die U m s t ä n d e , auf die immer alles ankömmt, zu unterscheiden weiß; daher so viele Fehler, die durch ihre Folgen oft so schädlich sind, daß er mit allem möglichen bösen Willen nichts schlimmers hätte thun können. Daher, daß er, weil er gehört hat, daß einige Spitzbuben Verstand haben, alle Leute von Verstand für Spitzbuben hält; daß er Kleinigkeiten mit Ernst und als wichtige Dinge, die würklich wichtigen Dinge hingegen obenhin behandelt; daß

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er sich einbildet, was einmal gelungen oder mißlungen ist, werde immer gelingen oder mißlingen; oder eine Würkung, die aus ihrer natürlichen Ursache sehr natürlich erfolgte, werde auch ohne Ursache erfolgen. Daher endlich das geheime Mißtrauen, das er in sich selbst setzt, und welches (so widersinnisch dies auch scheint) beynahe immer so groß ist, daß es das allgemeine Mißtrauen, so er in die übrigen Menschen setzt, überwiegt, und

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daher die Ursache wird, warum er seinem eignen Urtheil nur selten, und dann gerad am wenigsten folgt, wenn sichs zuträgt, daß er richtig urtheilt. Gestehen wir, meine Freunde, daß der beste Wille ohne Verstand, und (worauf hier alles ankömmt) ohne den Verstand, den man gerade vonnöthen hat, seinem Besitzer in den meisten Fällen ungefehr so viel Dienste thut, als ein Degen, der nicht aus der Scheide geht, einem Manne, der sich wehren soll. Ich sage, ohne den Verstand, den man dazu, was man vorstellen soll, vonnöthen hat. Denn was hilft dem ehrlichen Lampus, um Oberzunftmeister zu seyn, daß er sich besser als irgend eine obrigkeitliche Person in Griechenland auf die Pastetenbeckerey versteht, und in der Kunst Wach-

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teln abzurichten seines gleichen sucht? Aber (wird mein Freund Kleon sagen) können nicht andre ehrliche Leute für den schwachen Lampus Verstand haben? — Ehrliche Leute? Die ehrlichen Leute, denen er sich anvertrauen sollte, müßten so schwach seyn als er selbst; und wozu würden sie ihm alsdann helfen? Ein Blinder kann freylich eines andern Blinden Führer seyn, in so fern der Führer wieder seinen Führer hat; aber wenn nun auch des Führers Führer blind wäre? so würden alle drey gelegenheitlich in die Grube fallen. Die Sache wird, wie Ihr seht, nicht besser, wenn gleich dreyhundert Blinde einander führen wollten. Und von Blinden, d. i. von ihres gleichen, müssen sich die guten Schwach-

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köpfe nun einmal führen lassen. Sie müßten besonders glücklich seyn, wenn sie von ungefehr auf einen E i n ä u g i g e n oder S c h i e l e r stößen. Man hat Beyspiele davon, aber sie sind selten; und man trift zehn Fälle gegen einen, wo die armen Blinden an einer langen Reihe, immer einer den andern am Ermel haltend, von irgend einem schlauen Spitzbuben dahergeführt werden, ohne zu wissen wohin. Denn was die e h r l i c h e n L e u t e , w e l c h e V e r s t a n d h a b e n , betrift, so ist Erstens ausgemacht, daß sie sich mit den e h r l i c h e n L e u t e n , d i e k e i n e n h a b e n , von jeher nicht wohl haben vertragen können; und dann, gesetzt auch, daß sie sich aus Liebe zum gemeinen Besten überwinden wollten, so könnte dies zu nichts helfen. Denn, wie gesagt, die ehrlichen Leute, welche Verstand haben, sind zum Unglück gerade die einzigen Menschen, denen der schwache Mann nicht traut, und vor denen er sich als vor seinen ärgsten Feinden hütet. Den Schelmen, die ihn umringen, ist alles daran gelegen, einen jeden von ihm entfernt zu halten, der ihre Schliche beobachten und dem Betrognen die

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Augen öfnen könnte. Sie haben also nichts angelegeners als jedem ehrlichen Mann, der nicht von ihrer Rotte ist, noch seyn will, den Weg zu verrennen; und sollte ein solcher zufälligerweise dennoch Mittel finden, das Ohr des schwachen Mannes zu erreichen, so werden sie ihr Haupt nicht eher sanft legen, bis sie ihm weiß gemacht haben, daß der ehrliche Mann ein übelgesinnter, gefährlicher Mensch ist; ungefehr wie die Wölfe in der Fabel den Schafen durch Abgeordnete vorstellen ließen, daß sie eher auf keine glückliche Stunde rechnen dürften, bis sie ihnen die geschwohrnen Feinde ihrer beyderseitigen Ruhe und Freundschaft, den Hirten und seinen Hund aus10

geliefert haben würden. Aber gesetzt auch, der schwache Mann bliebe lediglich sich selbst überlassen, so kann man doch versichert seyn, daß ordentlicherweise diejenigen, die es am besten mit ihm meynen, immer die sind, die er am wenigsten leiden kann. Ein Mann von Verstand kann ihm vielleicht eine Weile zum Zeitvertreibe dienen; aber so bald er sich einfallen lassen wollte, einen ernsthaftern Gebrauch von seinem Verstande zu machen — ein Gedanke, der einem Mann von Verstande sehr leicht kommen kann — so bald er bey Gelegenheit dem schwachen Manne zu verstehen geben wollte, daß er in dieser oder jener Sache Unrecht habe, sich irre, sich betrügen lasse, seine

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Neigungen oder sein Vertrauen übel anlege, und dergleichen — so würde er das Geheimniß gefunden haben zu mißfallen, gähnen zu machen, und endlich unerträglich zu werden. Schwache Leute hassen nichts so sehr als Vorstellungen, die einem versteckten Tadel oder einer indirecten Beschuldigung von Schwachheit ähnlich sehen. Der Mann von Verstande, der ihnen die Wahrheit sagt, weil er es gut mit ihnen meynt, wird ihnen überlästig; sie entledigen sich seiner je bälder je lieber, und kehren zu ihren Schmeichlern zurück, bey denen sie wieder frey athmen, und der beschwerlichen Zurückhaltung nicht bedürfen, durch welche sie sich dem beobachtenden Blick und dem gefürchteten Tadel des verständigen und ehrlichen Mannes zu

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entziehen suchen. Kurz, der schwache Mann müßte noch mehr als schwach, er müßte ein völliger Dummkopf seyn, wenn er Leute von Verdiensten zu seinen Freunden erwählen sollte. Dem Dummkopfe könnte so etwas begegnen, weil er bey allem, was er thut, bloß in einen Glückstopf greift: aber ein L a m p u s , hat gerade noch so viel Verstand, oder Instinkt, (wenn Sie es lieber so nennen wollen) daß er sich zu seines gleichen hält; und wenn er

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jemals aus Übereilung oder Verführung den Fehler begangen hätte, seine Neigung auf einen verdienstvollen Mann zu werfen; so kann man darauf zählen, daß er bald genug von seinem Irthum zurückkommen, und ohne Mühe über eine so unnatürliche Neigung triumphieren würde. Es sind also nicht die Verständigen und Rechtschafnen, nicht Männer von Genie, Tugend und Ehre, die dem schwachen Manne, den wir an die Spitze unsrer Republik setzen wollen, zu Hülfe kommen werden. Alles, was diese für ihn thun könnten, geht in Verlust; es ist unmöglich, daß er sie für seine Freunde ansehe, daß er sich ihnen anvertraue. Sie werden ihm als Grillenfänger, seichte Köpfe und Schwärmer, oder als eigensinnige, aufge-

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blasene, unruhige, auch wohl als übelgesinnte und gefährliche Leute abgemahlt. Anstatt sich ihres Rathes zu bedienen, entfernt er sie so weit von sich, als er immer kann. Sie selbst, überzeugt daß sie unter einer solchen Staatsverwaltung unnütz sind, ziehen sich zurück; und glücklich mögen sie sich schätzen, wenn es noch dabey bleibt; wenn das Mißtrauen, der Kaltsinn, die Abneigung, womit man ihnen begegnet, nicht zuletzt in Haß und Verfolgung ausschlägt, und jede Bemühung für die gute Sache würksam zu seyn, jeder Widerstand, den der blöde Mann und seine Genossen in ihrer Vernunft und Redlichkeit finden, ihnen als ein Verbrechen angeschrieben wird, wofür sie mit dem Verlust ihrer Ruhe, und vielleicht (eine Zeitlang

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wenigstens) selbst mit dem Verlust der öffentlichen Hochachtung bestraft werden. Denn sehr oft ist diese ein bloßer Wiederhall; der Mächtige, auch dann, wenn seine schlechte Art zu denken und zu verfahren eine kundbare Sache ist, hat immer den großen Haufen auf seiner Seite; und je mehr Vorzüge der Verfolgte hat, je geneigter ist man zu glauben, daß er Unrecht habe. Der s c h w a c h e Mann von gutem Willen wird alles Gute thun, wozu man ihm Gelegenheit giebt, und nur das Böse, wozu er b e t r o g e n wird, — s p r i c h t K l e o n . Um Vergebung, guter Kleon! dies ist alles, was sich von dem w e i s e s t e n u n d b e s t e n Manne sagen läßt; denn auch dieser bleibt doch ein Mensch, Bedürfnissen, Leidenschaften und Einflüssen äußerer Ursachen ausgesetzt, bleibt fehlbar und kann hintergangen oder überlistet werden. Aber der schwache Mann wird i m m e r betrogen, von andern oder von sich selbst, und stiftet um so viel mehr Unheil an, weil er sogar alsdenn Böses thut, wenn er es seiner Meynung nach recht gut machen will. Und da

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es ihm gewöhnlich eben so sehr an guten Rathgebern als an Einsicht und Überlegung mangelt, so ist es ein bloßer und in der That seltner Zufall, wenn es ihm etwan einmal begegnet, etwas Kluges zu thun, und es mit einer guten Art zu thun. Um uns aufs stärkste davon zu überzeugen, werfen wir nur einen Blick auf die Staaten, die von einzelnen Beherrschern regieret werden. Wenn man dem Augenschein glauben darf, so werden die meisten dieser Staaten öfter übel regiert als gut; und forschen wir der Ursache nach, so finden wir sie meistens in der Schwäche ihrer Regenten. Vielleicht machen unter ei10

nem solchen blöden Fürsten die Rechtschafnen anfangs einen Versuch sich seiner anzunehmen. Aber zum Unglück fürchten sich blöde Fürsten vor nichts so sehr, als vor dem Gedanken, von Andern regiert zu werden; und da sie sich die Überlegenheit eines Mannes von Verstande nicht verbergen können, so ist natürlich, daß sie ihn als eine Art von Hofmeister ansehen, dessen Obermacht ihnen desto unerträglicher wird, weil sie sich auf das Ansehen der Vernunft gründet, gegen welches sich, zu großem Verdruß der blöden Herren, nichts erhebliches einwenden läßt. Sie möchten immer in allen Dingen bloß n a c h i h r e m B e l i e b e n handeln, und der rechtschaffne Mann beweißt ihnen immer, daß sie nach Grundsätzen, nach Be-

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schaffenheit der Sache, nach einem Gesetz, das über den Fürsten ist, handeln m ü s s e n . Dieser Z w a n g d e r V e r n u n f t , der die F r e y h e i t d e s W e i s e n ausmacht, wird ihnen endlich unerträglich; und wer kann es ihnen verdenken? Alle Augenblicke sollen sie eine Neigung, einen Wunsch, eine Leidenschaft der Gerechtigkeit, der Klugheit, ihrem Ruhme, dem gemeinen Besten aufopfern; wider die Gründe, die man ihnen vorlegt, ist nichts zu sagen; sie fühlen es und geben nach; aber sie fühlen auch, daß nichts unlustigers ist, als immer einen andern Weg gehen müssen, als den man gehen möchte. Verlassen wir uns also drauf, daß sie sich der beschwerlichen Leute, die immer Recht haben, so bald als möglich entledi-

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gen werden. Sie werden sich gefälligere Freunde wählen; die Weisen und Redlichen werden entfernt, oder so lange geplagt, bis sie selbst davon gehen; und bald werden wir Vertrauen, Gunst und Gewalt in den unwürdigsten Händen sehen. Eine Zeitlang glaubt der schwache Fürst sich wohl dabey zu befinden; es ist so angenehm immer geschmeichelt zu werden, immer g e t r e u e , e r g e b e n e Leute um sich zu sehen, die alles schön und

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gut finden, was uns gefällt; alles möglich, was wir wünschen; alles preißwürdig, was wir thun! Aber gemeiniglich währt der süsse Wahn nicht länger, als bis diese Nichtswürdigen sich tief genug eingegraben, sich so oft und fest um ihren Raub herumgeschlungen haben, daß er sich nicht wieder von ihnen loswinden kann. Alsdann geht es ihm gemeiniglich wie den Männern, die sich, aus thörichter Furcht vor den vermeynten Fesseln des Ehestandes, von einer wetterlaunischen und unersättlichen Buhlerin tyrannisieren lassen. Sie seufzen unter einer unendlichmal beschwerlichern Abhänglichkeit; und in Augenblicken der Nüchternheit fühlen sie sich desto unglücklicher, weil sie in der Nothwendigkeit sind, ihre Plage, wie ei-

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nen unheilbaren Schaden, mit sich herum zu tragen und zu nähren. Eine unvermeidliche Folge dieses Zustandes ist das allgemeine Mißtrauen, welches sich endlich solcher Großen bemächtiget und ihr Elend vollkommen macht. Denn wem sollen sie sich vertrauen? Bey wem sollen sie Rath oder Hülfe suchen? Bey den Männern von Verstand und Rechtschaffenheit? Unmöglich? Es ist nicht in der menschlichen Natur, zu jemand Vertrauen zu fassen, den man nicht lieben kann; jemand zu lieben, vor dem man sich scheuet, und den nicht zu scheuen, von dem man Vorwürfe verdient zu haben sich bewußt ist. Und wenn auch dies nicht wäre, so bleibt ihnen doch jeder Mann von überlegnen Fähigkeiten aus eben dem Grunde verdächtig,

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warum ein eifersüchtiger Thersites seine Frau nicht gerne von einem Adonis oder Herkules besucht sieht. Sie können sich nicht entbrechen, ihn als einen Menschen zu fürchten, der auf die eine oder andre Art ihre Schwäche an den Tag bringen wird; und der Gedanke, ihm die Entdeckung davon selbst zu machen, beleidigt ihre Eigenliebe zu sehr, als daß sie sich jemals dazu entschließen könnten. Doch ich bin vielleicht noch viel zu freygebig, wenn ich bey einem schwachen Regenten die Fähigkeit voraussetze, Männer von Genie und Verdiensten u n t e r s c h e i d e n zu können. Die wenigsten, die zu jener Classe gehören, haben so viel Einsicht. Ihre Urtheile von dem Werthe der Menschen bestimmen sich gemeiniglich nach den zweydeutigsten Gründen, und der schlechteste Erdensohn kann in ihren Augen ein großer Mann seyn. Das findet vornemlich bey denjenigen statt, deren Charakter aus einer Vermischung von Gutherzigkeit und Indolenz besteht; die alles gerne von der gefälligsten Seite ansehen, und aus herzlichem Widerwillen gegen alle Be-

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mühung des Geistes, lieber jedermann für das, wofür er sich selbst giebt, gelten lassen, als sich die Mühe geben, zu untersuchen, ob der vermeynte ehrliche Mann nicht vielleicht ein Schurke sey. Daher sehen wir unter guten Fürsten von diesem Schlage die besten und die schlechtesten Leute ungefehr auf einerley Fuße. Man kann ein verdienstloser Mensch, man kann sogar ein Bösewicht seyn, ohne zu fürchten, daß man darum weniger bey ihnen gelten werde *). Sie beobachten eine genaue Neutralität zwischen den Männern von Verdienst und ihren Gegenfüßlern; lächeln die einen so freundlich an als die andern, begegnen ihnen mit gleichviel oder gleich10

wenig Achtung, und können es unmöglich über ihr Herz bringen, einen schlechten Kerl so zu betrüben um ihm merken zu lassen, daß er weniger werth ist als ein braver Mann. Nun ist es den meisten Leuten, wenn sonst alles gleich ist, viel bequemer, schlechte Leute zu seyn, als sich mit Mühe und Aufopferungen um Verdienste zu bewerben, für die man ihnen keinen Dank weiß, und die bey Beförderungen oder andern Belohnungen gar nicht mit in Anschlag kommen. Die natürlichen Folgen hievon sind (und wie könnt es anders seyn?) daß Gerechtigkeit, Vaterlandsliebe, mit einem Worte, Tugend, unter solchen Regierungen ein leerer Name ist; daß Ruhmbe-

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Einen ungemein gut hieher passenden Zug find’ ich so eben in einem der Briefe des P l i -

n i u s . Er betrift den Kayser N e r v a , der noch bis auf den heutigen Tag im Besitze des Ruhms ist, einer der besten C ä s a r n gewesen zu seyn. Dieser g u t e K a y s e r speißte einst mit einer kleinem Anzahl von Personen, mit denen er vorzüglich als mit seinen Freunden umgieng, zu Nacht. Ein gewisser Hofschranze, Namens V e j e n t o , (ein so schlechter Mensch, daß Plinius, um dem Freunde, dem er diese Erzählung macht, in zwey Worten den vollständigsten Begriff von seiner Verächtlichkeit zu geben, die Wendung gebraucht: ich habe alles gesagt, da ich dir den Burschen genennt habe) Dieser V e j e n t o lag zunächst an dem Kayser, und sogar an seiner Brust (etiam in sinu recumbebat.) Von ungefehr war die Rede von einem gewissen C a t u l l u s M e s s a l i n u s , einem der größten Bösewichter aus Domitians heillosen Zeiten; einem Menschen, der (wie Plinius sagt) nicht wußte, was Furcht, Schaam und Mitleiden war, und den der Tyranne wie ein tödtliches

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Geschoß gegen jeden Rechtschaffnen, den er aus seinem Wege haben wollte, gleichsam abzuschiessen pflegte. Man sprach, so lange die Tafel dauerte, von diesem Messalinus, und jeder von den Anwesenden hatte irgend eine Anekdote, die seine ruchlose und blutdürstige Gemüthsart schilderte, beyzutragen. Endlich sagte der Kayser: „Was meynen wir, wie es diesem Menschen ergangen wäre, wenn er noch lebte?“ E r w ü r d e m i t u n s z u N a c h t e s s e n , antwortete einer von den Anwesenden. — Dieses einzige nobiscum coenaret ist, wenn ich nicht irre, das vollständigste Portrait des Kaysers Nerva werth. Wie schwach mußte der Fürst seyn, dem man so etwas sagen k o n n t e ? und wie gut mußt’ er seyn, daß mans ihm sagen d u r f t e ? S. Plin. Epist. L. IV. 22.

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gierde und Nacheiferung erschlaffen und endlich gar nicht mehr statt finden; daß Leute ohne Werth sich in Stellen einschmeicheln oder einbetteln, oder einheucheln oder eindringen, wo sie entweder durch Untüchtigkeit, oder durch bösen Willen, oder durch beydes zugleich, den größten Schaden thun; daß diese Leute sichs recht zur Pflicht machen, jedes hervorglänzende Verdienst zu verdunkeln, jedes aufkeimende Talent zu ersticken, jede gemeinnützliche Unternehmung abzuschrecken; — daß, wo die Tugend keine Ehre giebt, das Laster endlich aufhört sich zu schämen, und ausschweifende oder niederträchtige Menschen Alles wagen, weil sie merken, daß sie n i c h t s dabey wagen; kurz, daß unter einer solchen nervenlosen

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Regierung just darum, weil jeder thut, was ihm beliebt, entweder gar Nichts, (welches oft besser ist als Etwas) oder so viel Unverständiges, Widersinnisches und Verderbliches geschieht, daß oft Menschenalter erfodert werden, die Sachen wieder in einen leidlichen Gang zu setzen. Kl e o n . Ich weiß nicht, ob sich unser Freund Eukrates von seinem angebornen Haß gegen die armen Seelen, die er S c h w a c h k ö p f e nennt, nicht verleiten ließ, uns eine Karicatur hinzumahlen, wozu er vielleicht Mühe haben sollte, ein Original zu finden. Eu k r a t e s. Nicht die mindeste, lieber Kleon; keine größere Mühe als die Augen aufzuthun, und —

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Kl e o n . Allenfalls will ich zugeben, daß in Staaten, wo alles von Einem abhängt, die Schwachheit dieses Einzigen einen großen Theil der schlimmen Folgen, die er uns vorgezählt, nach sich ziehen könnte. Aber in Republiken sehe ich nicht, wie ein schwacher Mann so großen Schaden sollte thun können. Eu k r a t e s. Wir müssen nicht vergessen, daß die Rede von einem schwachen Manne ist, den man an die Spitze der Republik gestellt hat. Kl e o n . Sehr wohl! aber kömmt denn alles auf ihn allein an? Ist seine Macht nicht eingeschränkt? Werden die Verständigen und Wohlgesinnten unthätig bleiben; oder ist es in seiner Gewalt, sie unthätig zu machen? Stilpon . Ich besorge, guter Kleon, in einer Republik, wo man einen Mann, wie euer Lampus ist, eben dadurch, daß man ihn an die Spitze setzt, öffentlich für den B e s t e n erklärt, möchten die Verständigen und Wohlgesinnten schwerlich stark genug seyn, die Narren und Übelgesinnten, die ihm den Staat verwirren helfen werden, an der Ausführung ihres Werkes zu

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verhindern. Eine solche Wahl setzt schon einen Grad von Verderbniß in der Republik voraus, der wenig Hofnung zur Genesung übrig läßt. Eu k r a t e s. Sehr richtig! eine solche Wahl kann nur in einer Republik zu Stande kommen, die schon lange aufgehört hat zu empfinden, was Tugend ist. In dieser machen die Schlimmen gewiß die ungleich grössere Zahl aus; und würden die einen Mann wie Lampus (wenn man anders so ein Geschöpf einen Mann nennen kann) erwählen helfen, wenn sie nicht unter ihm alles zu vermögen hoften? Was werden die wenigen Biedermänner, von denen wir selbst vielleicht schon einen großen Theil ausmachen, gegen ein Bünd10

niß zwischen Dummheit und Bosheit ausrichten? Das Ansehen, wodurch wir ihren Unternehmungen Schranken setzen könnten, müßten uns die Gesetze geben; und sind nicht diese immer auf der überlegenen Seite? Warlich, die Form des Staats macht hierinn keinen wesentlichen Unterschied. Lampus am ersten Platze der Republik schadet schon genug, wenn er ihr nichts nützt; wenn er den Verstand nicht hat, weder das Böse zu verhindern, das die Übelgesinnten thun werden, noch die Parthey der Wohldenkenden zu unterstützen, und ihrer Würksamkeit die beste Richtung zu geben. Ich gestehe gerne, daß er an einem der untersten Plätze im gemeinen Wesen unschädlich seyn würde. Auch hab’ ich, wie Ihr wißt, nichts gegen

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den Mann an sich selbst. Nur will ich nicht, daß ihr den guten Menschen, wider seinen Willen, zum Werkzeug unsers Unglücks, und vermuthlich auch seines eigenen machen sollt, indem ihr ihn an einen Platz stellt, wo er durch seine Unfähigkeit nothwendig schädlich werden muß? „Aber, sagt Kleon, wie können wir uns entschliessen eben diesen Platz einem Manne anzuvertrauen, von dem wir alle wissen, daß er ein Bösewicht ist?“ Freylich ist es eine traurige Nothwendigkeit, die uns dazu bringt. Aber gesezt wir hätten einen Steuermann vonnöthen, der uns über das ägeische Meer nach Kreta führen sollte, und wir könnten in der Eile keinen andern geschickten Steuermann kriegen als einen, der sonst in jedem andern Ver-

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hältnis ein böser Bube wäre; würden wir uns und unser Schiff lieber einem guten, frommen Menschen anvertrauen, der von der Schiffarth gar nichts verstünde? Ich denke, Nein. Unser sind viele, würden wir denken. Wir wollen des bösen Menschen wohl Meister werden, wenn er es uns zu grob machen wollte. So ein arger Bube er sonst seyn mag, so ist er doch ein guter Schiffer; und da er mit uns einerley Schicksal zu gewarten hätte, wenn wir

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zu Grunde giengen, so können wir uns darauf verlassen, daß er sein Möglichstes thun wird, uns zu erhalten. Dies, däucht mich, ist nun gerade unser gegenwärtiger Fall. Megillus hat Verstand und Thätigkeit. Wahr ists, sein Herz taugt nichts; das Glück oder Unglück andrer Menschen ist ihm fremde; er ist stoltz, herrschsüchtig, geizig, hart und grausam; niemals hat er sich über die Sittlichkeit der Mittel zu seinen Absichten ein Bedenken gemacht; ein nützliches Bubenstück hat nichts abschreckendes für ihn, sobald er es ungestraft thun kan. Sein eigner Privatvortheil wird immer der lezte Zweck aller seiner Handlungen seyn; er wird, wenn es ihm zugelassen würde, die Republik als sein Eigenthum behandeln, und die Gesetze nicht

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als Fesseln die er tragen, sondern als Schlingen die er ausweichen muß, ansehen. Er wird alles anwenden sich einen Anhang zu machen, durch den er alles vermöge; und ein jeder Freund seines Vaterlandes, der ihm entgegenarbeitet, wird einen unversöhnlichen Feind in ihm finden. Dies ist alles wahr: Aber Megillus hat Verstand, und dieser ist uns Bürge dafür, daß er mit Bedacht und Vorsicht handeln, und nie mehr, als zu seinem Zweck schlechterdings nöthig ist, Böses thun wird. Er wird sogar, theils um sich das öffentliche Vertrauen zu erwerben, theils um sein Spiel desto besser zu verbergen, zu allem Guten mitwürken, oder wenigstens durch die Finger sehen, was er, ohne Nachtheil seiner besondern Absichten, thun oder zu-

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lassen kan. Sein Ehrgeiz ist die schwache Seite, auf welcher ihn die Redlichgesinnten nicht selten mit gutem Erfolge werden angreiffen können. Ein Mann der Verstand hat, mag ein so schlimmes Herz haben als er will, so sieht er doch immer ein, wie nothwendig es ist, daß er ein Mann von Ehre, ein Beförderer der öffentlichen Wohlfarth, ein Freund der Leute von Talenten und Verdiensten zu seyn s c h e i n e ; und dies macht, daß er oft gerade so h a n d e l n muß, als ob ers w ä r e . Ausserdem haben wir bey einem Manne von diesem Schlage noch den Vortheil, daß wir, weil er mit Überlegung und Klugheit zu Werke geht, beynahe in jedem vorkommenden Falle ziemlich zuverläßig wissen können, was er thun wird; ein Vortheil, auf den wir bey einem Lampus, der es selbst niemals weiß, selten Rechnung machen können. Mit einem Worte, in einem Staate, wo ein Mann von Verstand und Thätigkeit an der Spitze steht, werden andre Männer, die diese Eigenschaften auch besitzen, so sehr sie in Grundsätzen und Absichten seine Gegenfüßler seyn mögen, nie ohne Einfluß seyn, und jenem ziemlich das

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Gleichgewicht halten. Die Gewißheit, daß er bey jedem Schritt aufs schärfste beobachtet wird, macht ihn behutsam; das Ansehen, worinn die Patrioten ihres Charakters oder Platzes wegen stehen, nöthigt ihn, sie zu schonen, und da er doch zuweilen ihres Beystandes vonnöthen hat, sie dadurch zu gewinnen, daß auch er zuweilen etwas Gutes, das sie unternehmen, befördern hilft. Ich gebe zu, daß er, auch wenn er etwas Gutes thut, aus unlautern Beweggründen handelt; aber was bekümmert uns dies? Genug für uns, die wir es mit dem gemeinen Wesen wohl meynen, daß ihn sein Eigennutz selbst oft auf unsre Seite ziehen, und sein Verstand ihn nöthigen wird, 10

manches Böse, wozu er Lust hätte, zu unterlassen, weil es ihm selbst schädlich wäre oder werden könnte, und manches Gute, wider seine Neigung, zu befördern, nicht weil es gut, sondern weil es ihm selbst n ü t z l i c h ist. So reich der Gegenstand, wovon wir reden, ist, so unnöthig ist es, alles zu sagen was sich von einer Sache sagen läßt, sobald man mit Verständigen spricht. Kleon meynte, die Frage, über die wir verschieden dachten, wäre einer Art von Berechnung fähig. Ich glaub’ es selbst, und überlaß’ es nun unserm Freunde Stilpon, den Ausspruch zu thun, auf welcher Seite am Wenigsten zu verliehren ist. St i l p o n. Soll ich Ihnen meine Meinung unverholen sagen? Jeder, däucht

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mich, hat das Beste für die seinige gesagt, was sich sagen ließ, und, sofern es hier auf eine ungefähre Berechnung der Wahrscheinlichkeiten ankäme, hat Eukrates unstreitig den Vortheil; wiewohl nicht zu läugnen ist, daß es in solchen Fällen immer die zufälligen Umstände sind, die am Ende den Ausschlag geben, und diese können eben sowohl für die eine als für die andre Meinung fallen. Aber legen wir die Hand aufs Herz und fragen uns: was müßen die Megarer seyn, und was verdienen sie zu leiden, wenn sie, ohne Noth (denn noch ist es soweit mit uns nicht gekommen, daß wir keinen andern Ausweg hätten) die Wohlfahrt ihres gemeinen Wesens auf eine so gefährliche Spitze setzen? Welch ein Einfall, nur einen Augenblick in ernst-

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liche Überlegung zu nehmen, ob es besser sey die Republik einem guten Manne ohne Kopf, oder einem Schlaukopfe ohne Herz preiß zu geben? Unglücks genug für die Staaten, die ihre Regenten aus der Hand des Glücks empfangen, wenn der Zufall sie mit einem Unwürdigen betrügt. Sie haben keine Wahl! Aber ein Volk, das ofne Augen und freye Stimmen hat, dem sogar Gesetze und Eyd die Ausübung seines kostbarsten Rechtes zur Pflicht

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machen, ein solches Volk muß den Menschenverstand verlohren haben, wenn es sich jemals einen andern als seinen weisesten und besten Mann zum Regenten giebt. Verzeyhen sie meine Freymüthigkeit — Eu k r a t e s. Hier ist nichts zu verzeyhen, guter Stilpon! Sie haben Recht. Aber wenn nun der grössere Theil sich, wie es oft zu gehen pflegt, in seinem Urtheil betrügt, und gerade den Unwürdigsten für den Besten ansieht? Wie dann? Stilpon . Wie dann? Für diesen Fall haben die Gesetze von Megara gesorgt, dächte ich. Eben darum, weil das Volk so leicht einen Mißgrif thun könnte, haben sie das Wahlrecht in die Hände des Senats gestellt; und von den

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Vormündern des Staats darf und soll man doch voraussetzen können, daß sie Verstand genug haben, in jedem gegebenen Falle — Weiß von Schwarz zu unterscheiden. Eukrates und Kleon bedankten sich lächelnd für das Compliment, das der Philosoph ihrem ehrwürdigen Orden zu machen beliebt hatte, und giengen ihres Weges. Zween oder drey Tage darauf war der Wahltag. Die Rathsherren von Megara sahen so gut als irgend ein Philosoph in der Welt, daß es sich nicht schicke, der Republik einen so blöden Mann wie L a m p u s , oder einen so schlimmen Mann wie M e g i l l u s , zum Vorsteher zu geben. Sie verglichen sich also, und erwählten einmüthig — den G o r g i a s , den einzigen Mann in

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Megara, von dem man gestehen mußte, daß er zugleich so dumm und so boshaft sey, als ein und eben derselbe Mensch beydes zugleich seyn kann. Der Mann rechtfertigte ihre Wahl auf die außerordentlichste Weise; denn er gab gleich in den ersten vier Wochen seiner Staatsverwaltung so viel tolles und heilloses Zeug an, als zwanzig weise Männer in eben so viel Olympiaden nicht wieder hätten gut machen können. Bravo! rief der Philosoph Stilpon, wenn er wieder von einem neuen Bubenstücke oder albernen Streiche hörte, womit der Oberzunftmeister Gorgias seine Regierung verherrlichte. Nichts war unschuldiger als Bravo zu rufen. Gleichwohl fanden sich Leute, die in dem Tone, womit er es aussprach, etwas sehr strafbares bemerkt haben wollten, und dem Oberzunftmeister einen Bericht davon erstatteten, der nicht zum Vortheil des Philosophen war. W e r i s t d i e s e r S t i l p o n ? fragte Gorgias — „Ein Philosoph?“ — I c h h a b e d i e P h i l o s o p h e n n i e l e i d e n k ö n n e n , u n d i c h d e n k e , w i r h a b e n s o g a r e i n G e s e t z w i d e r s i e , versetzte Gorgias.

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Würklich war ein altes Gesetz gegen Müßiggänger, Sterngucker, Marktschreyer und Leute, die mit Murmelthieren im Lande herumzogen, vorhanden. Fort mit allem diesem Geschmeisse, sagte Gorgias. Der Philosoph Stilpon erhielt Befehl, binnen Tag und Nacht Megara zu räumen. Bravißimo! rief der Philosoph Stilpon, und zog nach Athen; wo die Philosophen (ausgenommen, daß man ihnen dann und wann für ihr baares Geld einen Becher voll Schierlingssaft zu trinken gab) überhaupt so wohlgelitten waren, als an irgend einem Ort in der Welt. W.

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Arzneywissenschaft und Chymie. Beyde Artickel müßen für dießmal wegen Enge des Raums ausfallen, und sollen im nächstem Bande desto vollständiger geliefert werden.

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A d e l h e i d v o n S i e g m a r , e i n T r a u e r s p i e l i n f ü n f A u f z ü g e n . Dresden, in der Waltherischen Hofbuchhandlung, 1774, 5½ Bog. in 8. Eine sehr einfache Intrigue, die, in eine arnaudische Erzählung gebracht, den Leser einige Augenblicke angenehm unterhalten würde. Aber dasjenige, was zur Rührung auf dem Theater erfodert wird, durchdachte und entfaltete Charaktere, tiefgeschöpfte Sentiments, Illusion, erhöhende Sprache — würden dem Verfasser nicht unmöglich gewesen seyn, wenn er diese höhere Gattung des Trauerspiels derjenigen hätte vorziehen wollen, die man dialogirten Roman nennen könnte. Guter Ton und kurze Reden, eine forteilende und 10

natürlich verwebte Handlung bleiben indessen immer sein vorzügliches Verdienst. Vermuthlich wollte er es nicht wagen, in der Schilderung solcher Leidenschaften, wie Gewissensangst und Argwohn sind, mit Shakespear einen Wettstreit einzugehen. Die Katastrophe sollte vielleicht etwas mehr sich vom Alltäglichen entfernen.

¼Rezension: von Gebler½ A d e l h e i d

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Lebensgeschichte Tobias Knauts, des Weisen, sonst der Stamml e r g e n a n n t . Z w e y t e r B a n d . Leipzig, bey S. L. Crusius. 8. 264 S. Nicht mehr noch weniger Gutes und Böses, als wir vom ersten Bande dieses Buches gesagt haben, können wir von diesem zweyten sagen. Der Verfasser will nun einmal nachahmen, aber man muß gestehen, daß es ihm meistens so leicht von der Hand geht, daß man ihm gerne zutraut, sein Tobias Knaut würde auch ohne Daseyn und Zuthun eines T r i s t r a m S h a n d y und T l a n t l a q u a c a p a t l i gerade so ein sonderliches Geschöpfe geworden seyn, als er nun ist. Die Nachahmung muß stark in die Augen fallen, weil die guten Schwaben etwas davon merkten, und das Buch auf Rechnung ihres bekannten

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Landsmanns setzten; denn der Anfangsbuchstabe W. verführte sie nicht allein. Aber freylich unter dem, was so stark in die Augen fällt, dasjenige zu entdecken, was den Unterschied zwischen W. und W. macht, setzte gewisse Fertigkeiten voraus, die an den Ufern des Neckars und der Iler noch sehr selten sind. — Es hilft nicht viel, wenn man mit einem Autor darüber hadert, daß er sein Buch nicht (nach unsern Gedanken) besser gemacht habe. Vermuthlich w o l l t e oder k o n n t’ er es nicht besser machen. Danke man ihm lieber dafür, daß er es nicht schlechter gemacht! Bey unserm Hrn. W..l hat man große Ursache dazu, wenn man bedenkt, daß bey ihm (nach seiner eignen Versicherung (Vorrede S. XX.)) alles darauf ankömmt, „was für Vorstellungen

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gerade dann, wann er schreibt, aus seinem Blut und Magen in seinen Kopf steigen.“ Wir wollen also die hier und da mit unterlaufenden mauvaises plaisanteries, z. Ex. S. 9. die genaue Berechnung der Refractionswinkel u. s. w. — den E u s t a c h , welcher untröstbar darüber ist, daß sein großer Truthahn vor v i e r Wochen im Fett’ erstickt ist — die w a l l e n d e B r u s t der dicken, schwarzbraunen, zerlumpten Bettelfrau S. 32. und manche solche Dämpfe, die billig auf Rechnung seines Magens kommen, gerne ungeahndet vorbeylassen, und wissen ihm nur desto mehr Dank, daß er uns oft in den meisten Abschnitten dieses zweyten Theils, dem wir noch viele folgende wünschen, so gut hat unterhalten wollen, als er würklich thut.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Mitte September 1774)

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Nachricht, den auf ein Lehrbuch für Landschulen ausgesetzten Preiß betreffend. Die patriotischen Freunde, welche in der Mitte des vorigen Jahres einen Preiß von Sechzig Ducaten für ein nach dem Resewitzischen Plan ausgearbeitetes Lehrbuch zum Gebrauch der Landschulen ausgesetzt, (S. T . M e r k . 3 B . S. 94.) haben ihre Erwartung zwar einigermaßen, aber doch nicht zu ihrer völligen Befriedigung erfüllt gesehen. Unter den eingelaufnen dreyen Manuscripten, die sich um den Preiß bewerben, hat ihnen nur Eines einer vorzüg10

lichen Aufmerksamkeit würdig und in den wesentlichsten Stücken gründlich und zweckmäßig ausgearbeitet geschienen. Aber unglücklicherweise ist dieses an sich würklich schätzbare Werk in f r a n z ö s i s c h e r Sprache, und in einer Provinz geschrieben, deren physische und politische Beschaffenheit um ein beträchtliches von der unsrigen verschieden ist; überdies erhellet auch sowohl aus der beygelegten Nachricht des ungenannten hochachtungswürdigen Verfassers, als aus dem Augenschein selbst, daß das ganze Manuscript schon fertig gelegen, als dem Verfasser die obbemeldte Anzeige im Merkur zu Gesichte kam. Bey so bewandten Umständen sieht man sich veranlaßt, alle teutschen Gelehrten, welche in den Kenntnissen, die zu Verfertigung des ver-

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langten Lehrbuchs erfodert werden, sich eine vorzügliche und durch Erfahrung bestätigte Fertigkeit erworben haben, nochmals zur Mitbewerbung um den annoch bis zu Ende des Heumonats 1775 ausgesetzt bleibenden Preiß einzuladen, in Hofnung, daß noch mehr als ein mit den hiezu nöthigen Geschicklichkeiten und Einsichten versehener Patriot, sich weniger durch den Preiß, als durch das Verlangen der menschlichen Gesellschaft einen wichtigen Dienst zu leisten, werde angetrieben finden, einen so rühmlichen Wettlauf mit einzugehn. In dieser Erwartung behält man sich das Endurtheil über die bereits eingekommnen Preißschriften zur Zeit noch vor; verspricht aber hiemit aufs verbindlichste, daß im dritten Quartal des Teutschen Merkurs vom

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Jahre 1775 der Preiß ganz unfehlbar derjenigen unter den eingelaufenen

Nachricht

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Schriften (so viel oder wenig deren alsdann auch seyn mögen) welche man für die zweckmäßigste erkannt haben wird, zugesprochen werden soll. Übrigens wünscht man, daß die Manuscripte leserlich geschrieben seyn möchten. Unter den bereits eingelaufnen ist eines so übel geschrieben, daß man es auch mit der sauresten Müh und Arbeit kaum deschifrieren kann.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Mitte September 1774)

Antworten an einige ungenannte Correspondenten. Der Herausgeber hat von verschiednen ihm eingeschickten kleinen Liedern keinen Gebrauch machen können, entweder weil sie zu spät gekommen, oder weil er Ursache hatte zu zweifeln, daß, außer dem Verfasser, und vielleicht der Amaryllis der das Liedlein vorgeleyert wird, ihm jemand anders Dank dafür wissen würde. Manche unter diesen Versen würden vor 30 Jahren dem guten G o t t s c h e d viel Freude gemacht haben. 10

Die Erzählung P h i l e m o n und B a u c i s kann bloß als eine Hausübung eines angehenden Dichters angesehen werden. Um das Publicum damit zu beschenken, müßte sie eine Vergleichung mit der H a g e d o r n i s c h e n Erzählung gleiches Inhalts aushalten können. Die T i s c h r e d e in K n i t t e l v e r s e n , mit der Unterschrift famulus concepit, ist in ihrer Art meisterhaft; aber für gewiße Dichter nach der neuesten Mode zu beleidigend, um im Merkur Platz zu finden; D e n n d i e s e G e i s t e r a r t k a n n k e i n e n S c h e r z v e r t r a g e n . Den Verfasser der Tischrede wünschte ich kennen zu lernen. Der junge Helvetier S e l a d o n soll, zum Beweis unsers guten Willens, seine

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H y m n e im 8ten B. des Teutschen Merkurs lesen. Sein Ä l p l e r spricht so unteutsch, daß er nur in einem h e l v e t i s c h e n M e r k u r aufgenommen werden könnte. Ein junger Dichter aus K* in P. der es auf mein Urtheil ankommen läßt ob er noch länger um die Gunst der Musen buhlen soll oder nicht, frage seinen Genius und höre dessen Antwort. Unter seinen zur Probe eingesandten Liedern scheint Eines einen Platz im künftigen Bande zu verdienen.

Antworten

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G r ä c o p h i l u s lasse sich die Socraticas chartas empfohlen seyn. Bey nahe alles was ein junger Liebhaber seinem Mädchen vorsingen oder vorweinen kann, ist so unzählich oft gesungen und geweint worden, daß man nicht mehr hoffen darf, sich dem Publicum durch dergleichen Poetereyen zu empfehlen. Scribendi recte s a p e r e est et principium et fons.

W.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Mitte September 1774)

An die Herren Collecteurs des teutschen Merkur. Der Herausgeber des Teutschen Merkur ersucht diejenigen Herren und Freunde, welche sich bisher, aus besonderer Freundschaft für ihn, dem Amt eines Collecteurs unterzogen haben, in Hoffnung daß D i e s e l b e n diese Gütigkeit gegen ihn für künftiges Jahr fortsetzen werden, ergebenst, die Zahl ihrer Abonenten für den Jahrgang 1775, längstens gegen Ende des N o v e m b e r s ihm selbst unter seiner gewöhnlichen Addresse anzuzeigen. Weimar, den 12 Sept. 1774. 10

Der Herausgeber.

An die Herren Collecteurs

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Druckfehler und Verbeßerungen. Im Fünften Bande. ¼…½

Im Sechsten Bande. ¼…½ S. 340. Z. 12. v o n d e n statt v o n d e m . ¼…½

Im Siebenten Bande. S. 41. Z. 10. a u f statt a u c h . S. 42. Z. 18. h e i ß t statt h e i ß e . S. 44. Z. 6. z w o o statt z w a r . — — Z. 28. Muß das ? weggelöscht werden. S. 337. — — Die Zahl des Artickels V. statt IV.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Mitte September 1774)

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Der Teutsche Merkur vom Jahr 1774. Achter Band. Weimar, in Carl Ludolf Hoffmanns Verlag.

Der Teutsche Merkur. Des Achten Bandes Erstes Stück. October 1774. Weimar, bey Carl Ludolf Hoffmann.

¼Der Einsiedler von Warkworth. Eine Northumberländische Ballade. … Der Biedermann weckt endelich* ) Sein schlafend Feuer auf, Faßt einen hellen Brand und rennt Davon im vollen Lauf.½

*) e i l f e r t i g . Man weiß und ist es schon gewohnt, daß alte Wörter, Redensarten und Wortfügungen, nicht allzuhäufig angebracht, viel beytragen, einer Ballade ihren rechten Ton zu geben. H.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Ende Dezember 1774 /Anfang Januar 1775)

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Proben einer neuen Übersetzung der Briefe des Plinius, von Wieland. 1. An seinen Freund Cornelius Tacitus. I. 6. Sie werden lachen, und ich gebe Ihnen meine Erlaubniß dazu. Stellen Sie sich vor, daß ich, ich selbst — Sie kennen doch den Mann? — drey Schweine, und, wenn Sie es nicht übelnehmen wollen, drey recht große Schweine gefangen habe. Sie selbst? — hör ich Sie fragen. Ich selbst: aber freylich, — damit meine Indolenz und Ruhe so wenig als möglich dabey verlöre, saß ich nicht am Garn; 10

und neben mir lagen, statt der Lanze und des Jagdspießes, Griffel und Schreibtafel. So saß ich, überließ mich meinen Gedanken, und schrieb von Zeit zu Zeit etwas nieder, um, wenn ich mit leeren Händen heim käme, wenigstens mein Taschenbuch voll zurückzubringen. Sie hätten Unrecht, wenn Sie diese Art zu studieren verachteten. Es ist erstaunlich, wie sehr der Geist durch die Leibesübungen und eine mehr als gewöhnliche Bewegung aufgeweckt wird. Und dann noch das angenehme Grauen der Wälder, und die Einsamkeit, und selbst das allgemeine Schweigen, das beym Jagen beobachtet wird, — welche Reitzungen zum Denken! Folgen Sie also immer meinem Beyspiel, und nehmen Sie, wenn Sie auf die Jagd gehen, ihre Schreibtafel eben so richtig mit, wie

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ihren Brodkorb und ihre Kürbisflasche: Sie werden finden, daß Minerva so gern auf den Bergen herumirrt als Diana. * * * Ich liebe diesen kleinen Brief, weil er, ohne daß dies eben die Absicht des Plinius gewesen zu seyn scheint, ein naives Gemähldchen ist, wie Gelehrte zu jagen pflegen. Die Jagd selbst ist ordentlicher Weise, (denn auch hier giebts Ausnahmen) was sie gerade am wenigsten dabey intereßirt. Omnis scriptorum chorus amat nemus, sagt Horaz, und nie ist etwas wahrers gesagt worden. Der Wald, die frische und balsamische Luft, die man darinn athmet, die tiefe

¼Plinius½ P r o b e n e i n e r n e u e n Ü b e r s e t z u n g

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Stille, die weit umher herrscht, die Leichtigkeit, womit der Seele unter diesen Umständen alle ihre natürlichen Verrichtungen von statten gehen, dies ist Alles, was der Gelehrte in der Jagd Anzügliches findet; Hasen, Rehböcke, Hirsche und Schweine haben gute Ruhe vor ihm. Ein ächter Jäger, der die Jagd um — des Jagens willen liebt, wird zu diesem Briefe lächeln; den D e n k e r n hingegen, gesetzt auch, daß sie sich nie in dem Falle befunden hätten, die Erfahrung selbst zu machen, wird es vorkommen, als ob nichts natürlicher seyn könne.

2. An Fundanus. I. 9.

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Es ist was Wundersames, wie übel ein Mann, der seine Zeit zu berechnen gewohnt ist, zu Rom mit seiner Rechnung besteht. Nimmt man jeden Tag für sich, so scheint alles richtig; nimmt man etliche zusammen, so kömmt das Facit nie heraus. Fragen Sie Einen: womit haben Sie Sich heute beschäftigt? So wird die Antwort seyn: Ich habe dieser oder jener Feyerlichkeit, einem Verlöbnis, einer Hochzeit beygewohnt — Dieser hat mich zur Unterschrift eines Testaments, Jener um Führung eines Rechthandels, ein Dritter zu einer Consultation gebeten. Jedes dieser Dinge und zwanzig andre von diesem Schlage, scheinen an dem Tage da man sie gethan hat, wichtig zu seyn; bedenkt man hingegen, daß man nun seit vielen Tagen nichts anders gethan hat

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als dies, so glaubt man Nichts gethan zu haben; besonders wenn man diese Überlegung in der Entfernung von der Stadt und ihren Geschäften oder Zerstreuungen macht. Dann kann man sich nicht entbrechen zu überdenken, wie viele Tage man verlohren, und über welchen nichtswerthen Dingen man sie verlohren hat. So pflegt es mir zu gehen, so oft ich einige Tage auf meinem Gute zu Laurentium zubringen kann. Dort weiß ich meine Zeit ganz anders zu benutzen. Entweder ich lese, oder ich schreibe was, oder ich mache Leibesübungen, die so nothwendig sind um den Geist bey Munterkeit zu erhalten: da höre ich nichts, was mich gehört zu haben — da sag’ ich nichts was mich gesagt zu haben gereuen könnte. Da ist niemand, der mir Böses von Andern spricht; da hab’ ich an Niemand etwas auszusetzen; es müßte denn an mir selbst seyn,

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Ende Dezember 1774 /Anfang Januar 1775)

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wenn ich mit dem, was ich geschrieben habe, nicht recht zufrieden bin. Da plagt mich weder Furcht noch Hoffnung; da beunruhigen mich keine Gerüchte: und ich habe und verlange keine andre Gesellschaft als mich selbst und meine Bücher. O! mein Freund, dies nenn’ ich wahres Leben! O süsser, edler Müssiggang, wie wenig Geschäfte verdienen dir vorgezogen zu werden! O Meer, o Gestade, wahres von der Welt abgeschiedenes Heiligthum der Musen, wie erfindsam seyd ihr, wie manchen guten Gedanken bin ich euch schuldig! Glaube mir, mein liebster F u n d a n u s , folge meinem Beyspiel! Ergreif die erste beste Gelegenheit, dich diesem Geräusche, diesem eiteln Hin- und Her10

Rennen, dieser in so mancher Betrachtung unnützen Geschäftigkeit der Stadt zu entreissen, und wirf dich in die Arme der Ruhe und der Musen. Denn am Ende ist es doch immer besser — nach dem eben so wahren als feinen Ausdruck unsers A t t i l i u s — müßig z u g e h e n , als N i c h t s z u t h u n . * * * Ein vortreflicher Commentar über diese Verse des H o r a z , deren Wahrheit und schöner Ausdruck sie immer so sehr empfohlen hat: O rus, quando te aspiciam, quandoque licebit Nunc veterum libris, nunc somno et inertibus horis Ducere sollicitae iucunda obliuia vitae!

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3. An seinen Freund Atrius. I. 10. Wenn jemals eine Zeit war, wo die schönern und edlern Wissenschaften in unsrer Stadt blüheten, so ist es gewiß die unsrige. Unter den vielen und glänzenden Beyspielen, die ich hievon anführen könnte, will ich mich auf den einzigen Philosophen E u p h r a t e s einschränken. Ich lernte ihn in Syrien, seinem Vaterlande, kennen, wo ich als ein noch sehr junger Mensch meine ersten Kriegsdienste that. Der Zutritt, den er mir in seinem Hause erlaubte, gab mir Gelegenheit, ihn sehr genau kennen zu lernen. Ich bemühte mich eifrig um seine Freundschaft; wiewohl es in der That wenig Mühe kostete;

¼Plinius½ P r o b e n e i n e r n e u e n Ü b e r s e t z u n g

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denn er ist offen, zuvorkommend, und voll von der Menschlichkeit, die er lehrt. Und wollte Gott, ich hätte die Hoffnungen, die er damals von mir faßte, so erfüllt, wie er selbst indessen an jeder Vollkommenheit zugenommen hat — es müßte denn seyn, daß ich ihn itzt nur darum bewundernswürdiger fände, weil ich seinen Werth besser schätzen kann; wiewohl ich mir auch itzt nicht zutraue, daß ich ihn völlig zu schätzen wisse. Denn, so wie von einem großen Mahler, Bildhauer oder andern Künstler nur ein Meister der Kunst richtig urtheilen kann: so ist auch nur ein Weiser fähig, den ganzen Werth eines Weisen einzusehen. So viel ich indessen urtheilen kann, besitzt E u p h r a t e s eine Menge von Vorzügen in so hohem Grade, daß auch die mittel-

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mäßigsten Köpfe davon überwältigt werden müssen. In seinen Discursen herrscht Scharfsinn, Gründlichkeit und Geschmack; und nicht selten erhebt er sich zu jener Platonischen Erhabenheit und Fülle. Sein Vortrag ist reich an glücklichen Ausdrücken und Wendungen, und unterscheidet sich besonders durch eine Annehmlichkeit, die sich auch der Widerspenstigen bemächtiget, und womit er alles aus uns macht, was er will. Zu diesem kömmt noch eine ansehnliche Statur, eine schöne Gesichtsbildung, langes Haar, und ein großer eißgrauer Bart; zufällige Vorzüge, und Kleinigkeiten, wenn Sie wollen: die aber doch nicht wenig beytragen, den vortreflichen Mann desto ehrwürdiger zu machen. In seinem Äusserlichen ist nichts von allem, was die Leute von

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seiner Profeßion zu affectieren pflegen; seine Kleidung reinlich, sein Ansehen ernsthaft ohne Düsterkeit; man nähert sich ihm immer mit Ehrerbietung, nie mit dem Wunsche ihm auszuweichen. Seine Sitten sind, eben so wie sein Leben, rein und untadelhaft. Er verfolgt die Laster, nicht die Menschen; man sieht, daß er nicht züchtigen sondern bessern will. Man hängt so zu sagen an seinen Augen und Lippen, indem er uns Lehren giebt, und, schon völlig überzeugt, wünscht man es noch nicht zu seyn, um ihn desto länger zu hören. E u p h r a t e s hat drey Kinder, worunter zween Söhne, die er vortreflich erzieht. Sein SchwiegerVater Pompejus Julianus, ein Mann von vielen Verdiensten, würde in meinen Augen durch dies Einzige schon ein großer Mann seyn, daß er, da ihm sein Rang in der Provinz unter den edelsten und vortheilhaftesten Verbindungen die Wahl ließ, sich d i e s e n Schwiegersohn erkießte, und den Vornehmsten erwählt zu haben glaubte, indem er den Weisesten erwählte. — Doch wozu spreche ich Ihnen so lange von einem Manne, den ich nicht genießen kann? — Als ob ich mir seine Entbehrung recht geflissentlich

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schmerzhafter machen wollte. — Eines der wichtigsten, freylich, aber gewiß der mühseligsten Ämter raubt mir alle meine Zeit. Da sitz ich den ganzen Tag und muß Audienzen geben, Antworten unter Suppliken setzen, Urkunden unterzeichnen, und eine ungeheure Menge Briefe schreiben; aber Himmel! was für Briefe? die ungelehrtesten, unwitzigsten, unempfindsamsten von der Welt. *) Ich beklage mich zuweilen (denn auch nur s o gut wird mirs selten) gegen den Euphrates über diese beschäftigte Lebensart. Er tröstet mich, indem er behauptet, eben dies sey ein Theil der Philosophie, und zwar der schönste, fürs Gemeine-Wesen arbeiten, die Gerechtigkeit handhaben, und dadurch 10

Ordnung und Ruhe im Staat erhalten helfen. Dies sey gerade das in Ausübung bringen, was er und seinesgleichen lehrten. Aber ich gestehe Ihnen, wenn er mich von allen andern überreden kann, so soll er mich doch davon nicht überreden, daß es besser sey, diese Dinge zu thun, als ihm ganze Tage lang zuzuhören. Um so mehr also, Mein lieber Atrius, rathe ich Ihnen, den keine Geschäfte zurückhalten, sobald sie wieder in die Stadt kommen (und ich hoffe Sie kommen nun desto bälder) sich diesem vortreflichen Manne zur völligen Ausbildung und gleichsam zur letzten Politur zu übergeben. Ich rathe es Ihnen, weil ich nicht, wie viele, die Untugend an mir habe, andern ein Gut zu mißgönnen dessen ich entbehren muß, sondern im Gegentheil es selbst einiger

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maßen zu genießen glaube, wenn ich sehe daß es meinen Freunden zu Gute kömmt.

*)

Lauter G e s c h ä f t s b r i e f e nemlich. Ich mußte diese Wendung und eine Menge Worte dazu

nehmen, um einigermaßen auszudrücken was Plinius mit zweyen Worten sagt: illiteratissimas literas. Dies ist eines von den Wortspielen, die man, in einem Briefe wenigstens für ächten Witz gelten lassen kann, wiewohl sie unübersezlich sind. Umschreibungen sind übrigens allemal dem Original, mehr oder weniger nachtheilig, und einem Übersetzer, der seinen Autor liebt, höchstunangenehm. Aber bey dem gedrungnen und oft ein wenig zu sehr gedrehten Styl des Plinius und bey der großen Verschiedenheit unsrer Sprache von der Römischen, sind sie oft nicht auszuweichen. Vielleicht hätte ein Andrer ohne langes Besinnen u n g e l e h r t e B r i e f e gesetzt. Aber was 30

wir bey dem Worte u n g e l e h r t denken, ist, däucht mich, nicht gerade das was Plinius mit illiteratis hier sagen will. Geschäftsbriefe sind gewöhnlich Briefe wozu man weder Witz noch Geschmack, noch schöne Kenntnisse vonnöthen hat, und eben darum kann für einen Mann von Empfindung und Geschmack, denn dies wollte man damals mit dem Worte Literatus sagen, keine unangenehmere Beschäftigung seyn, als viel solche Briefe zu schreiben haben.

¼Plinius½ P r o b e n e i n e r n e u e n Ü b e r s e t z u n g

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4. An seinen Freund Junius Mauricus. I. 14. Sie verlangen, daß ich Ihnen einen Gemahl für Ihres Bruders Tochter aussuche? Unmöglich hätten Sie mit diesem Auftrag besser an den rechten Mann kommen können, denn Sie wissen, wie sehr ich diesen großen Mann verehrte und liebte; Sie wissen, wie freundschaftlich er sich meiner Jugend angenommen, wie viel Gutes er mir durch seine Ermahnungen gethan, und wie er sogar durch zu frühzeitiges Lob mich aufgemuntert, es desto bälder zu verdienen. Sie hätten mir also unmöglich etwas angenehmers und meinem Herzen wichtigers auftragen können als mir die Wahl des Jünglings zu überlassen, der die

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Ehre verdiene, einem Manne wie Arulenus Enkel zu geben. Vielleicht hätte ich einen solchen Jüngling lange suchen müssen, wenn ich ihn nicht glücklicher Weise in der Person des M i n u c i u s A c i l i a n u s schon gefunden, und recht, als ob er bloß dazu gemacht wäre, bey der Hand hätte. Der junge Mann liebt mich mit so viel Wärme und Vertraulichkeit, als ob ich von seinem Alter — (in der That ist er nur wenige Jahre jünger) — und mit so viel Ehrerbietung, als ob ich sein Großvater wäre. Er wünscht in allem von mir gebildet und geleitet zu werden, und mit einem Wort, er will, daß ich ihm das sey, was ihr *) ehemals mir waret. Er ist aus B r i x e n gebürtig, das ist, aus demjenigen Theile Italiens, wo man noch die meisten Überbleibsel jener alten Bescheidenheit, Mäßigkeit,

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und schier möcht’ ich sagen, bäurischen Einfalt der Sitten findet. Sein Vater Minucius Macrinus, ist gegenwärtig der erste vom Ritterstande, weil er nichts höhres seyn wollte; Vespasianus bot ihm einen Platz unter den P r ä t o r i e r n an; aber er zog unbeweglich seine glückliche Ruhe diesen beschwerdevollen Würden vor, denen unser Ehrgeitz vielleicht mehr Werth beylegt, als sie würklich haben. Die Großmutter meines jungen Freundes von mütterlicher Seite ist S e r r a n a P r o c u l a aus Padua. Sie kennen die vortreflichen Sitten dieser Stadt; ich habe also alles gesagt, wenn ich Ihnen sage, daß Serrana von den Paduanern selbst als ein Vorbild angesehen wird. Sein Oheim, Publius Acilius, ist ein Mann von seltner Unsträflichkeit, Klugheit und Redlichkeit. Kurz, Sie *)

Nemlich, Mauricus und sein Bruder Arulenus.

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werden in dieser ganzen Familie nichts finden, das ihnen nicht gut genug gefalle, um sie mit Vergnügen zur Ihrigen zu machen. Acilianus selbst hat, bey der größten Bescheidenheit, viel Feuer und Talente. Die Quästur, das Tribunat, die Prätur ist er bereits mit Ruhm durchgelaufen, und erspart ihnen also die Mühe, sie erst für ihn brigiren *) zu müssen. Seine Gesichtsbildung ist einnehmend, seine Farbe lebhaft, seine ganze Figur schön und edel; mit einem Wort, er hat alles, was den liebenswürdigen Mann ausmacht, und den Mann von Stand ankündigt. Dies sind nicht so ganz Kleinigkeiten; und ich denke, daß man darauf bey Verheyratung eines Mädchens als auf eine Art von Beloh10

nung, die man ihrer Keuschheit schuldig ist, zu sehen hat. Ich weiß nicht, ob ich hinzusetzen soll, daß sein Vater viel Vermögen hat. Wenn ich mich erinnere, wer diejenigen sind, denen ich einen Tochtermann vorschlage, so däucht mich anständig, diesen Umstand zu übergehen; denke ich hingegen an die Sitten unsrer Zeit, und selbst an die Gesetze unsrer Stadt, die bey Classificirung ihrer Bürger das Vermögen zum Maasstab genommen hat, so däucht mich auch dies kein unwichtiger Umstand. Und in der That, wenn wir bey einer Heyrath die Nachkommenschaft in Betracht ziehen, so ist nichts billiger, als daß man auch das Vermögen unter die Erfordernisse rechne. Vielleicht denken Sie, daß mir die Liebe zu meinem Freunde bey dieser Beschrei-

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bung die Feder geführt habe. Aber ich verbürge Ihnen meine Ehre, daß Sie alles noch vortheilhafter finden werden, als ich es vorgestellt. Es ist wahr, ich liebe den jungen Mann inniglich, wie er es verdient; aber eben darum, weil ich ihn liebe, möchte ich ihm nicht den Schaden thun, eine Erwartung von ihm zu geben, die er nicht erfüllen würde.

*)

Wenn ich nicht irre, so ist dies eines von den ausländischen Wörtern, die das Bürgerrecht in

unsrer Sprache verdienen, weil wir kein eigenes gleichbedeutendes haben, und weil wir uns dadurch der Unschicklichkeit, umschreiben zu müssen, was in allen gebildeten Sprachen ein eigenes Wort hat, erledigen, zumal, da man dessen so oft benöthiget ist.

¼Plinius½ P r o b e n e i n e r n e u e n Ü b e r s e t z u n g

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5. An Septitius Clarus. I. 15. He, guter Freund was soll das seyn; Sie versprechen sich zum Abendessen und kommen nicht? Aber noch ist Gerechtigkeit im Lande; Sie sollen mir die Kosten bis auf den letzten Heller vergüten. Bilden Sie Sich nicht ein, daß Sie so leicht wegkommen werden; ich hatte große Zurüstungen machen lassen. Auf die Person ein Kopf Salat, ein Paar Eyer, und einen Pfannkuchen, mit einer Brüh von Wein, Honig und Eis (denn auch dies sollen Sie bezahlen, und um so mehr da es in der Brüh zerschmilzt und also nicht wieder gebraucht werden kann) wir hatten auch andalusische Oliven, Gurken, Trüffeln, und tausend

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andrer Sächelgen. Sie hätten währender Tafel eine kleine Komödie oder einen Gesang von Homer, oder einen Virtuosen auf der Lyra, oder vielleicht, nach meiner bekannten Freygebigkeit, gar alles dreyes gehabt. Aber Sie wollten lieber, der Himmel weiß bey wem, Austern und feine Ragouts, und Meerigel und gaditanische Tänzerinnen. *) Umsonst sollen Sie mirs nicht gethan haben; verlassen Sie Sich darauf. Es war nicht artig von Ihnen; wiewohl ich Ihnen sagen muß, daß Sie Sich selbst wenigstens soviel Schaden gethan haben als mir. Wie wollten wir zusammen gescherzt, gelacht, und philosophiret haben! Sie können bey hundert Andern kostbarer essen; aber glauben Sie mir, nirgends fröhlicher, ungekünstelter und sorgloser. Kurz, lassen Sie es auf eine

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Probe ankommen; und wenn Sie Sich dann nicht lieber gegen jede Andere entschuldigen, so laß’ ich mir gefallen, daß Sie allemal schon versprochen seyen wenn ich Sie bitte.

*)

Diese Tänzerinnen waren in dem ausgearteten Rom ihrer reitzenden Figur, ihrer muth-

willigen Beweglichkeit und der Schlüpfrigkeit ihrer Tänze wegen vorzüglich geschäzt. Sie pflegten einen Theil des Nachtisches an den Tafeln der Reichen und Üppigen auszumachen, und heissen daher beym J u v e n a l , Sat. XI. 165, Irritamentum veneris languentis et acres Diuitis u r t i c a e — Weil sie den entnervten Wollüstlingen die nehmlichen Dienste thaten, wozu sie sonst auch, wie man in P e t r o n sehen kann, BrennNesseln zu gebrauchen pflegten.

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6. An Cornelius Titianus. I. 17. So verderbt die Sitten unsrer Zeit sind, so giebt es doch noch Beyspiele von Tugend und Ehre unter uns. Noch finden sich Personen, welche edel genug denken, um sich zu Freunden verstorbner Männer von Verdiensten aufzuwerfen. T i t i n i u s C a p i t o erhielt dieser Tagen die Erlaubnis vom Kaiser, dem L u c i u s S y l l a n u s auf dem grosen Platze eine Bildsäule zu stellen. Es ist schön und rühmlich, von der Freundschaft seines Fürsten einen solchen Gebrauch zu machen, und, wieviel man bey ihm gilt, durch die Dienste, die man 10

andern leistet, zeigen. Im übrigen ist diese Hochachtung für große Verdienste ein eigener Zug in Capitons Charakter. Sie können sich nicht einbilden, welche beynahe abgöttische Ehrerbietung er den Bildern eines Brutus, eines Cassius, eines Cato, die in seinem Hause allenthalben, wo nur Raum dazu ist, aufgestellet sind, erweißt. Überdies ist vielleicht kein großer Mann, dessen Verdienste er nicht in sehr schönen Versen besungen hätte. Glauben Sie mir, der Mann, der die Tugend an andern mit solcher Wärme liebt, muß selbst nicht gemeine Vortreflichkeiten besitzen. Dem Syllanus ist nichts als Gerechtigkeit wiederfahren: und Capito, indem er für dessen Unsterblichkeit besorgt war, hat für seine eigene gearbeitet. Denn es ist nicht rühmlicher eine Statue auf

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dem Hauptplatz der Stadt Rom haben, als eine setzen lassen. * * * Vorausgesezt daß Plinius den Capito, dem er in diesem Briefe soviel Beyfall ertheilt, sonst genau genug gekannt hat, um von seinem Charakter das Vortheilhafteste zu denken — (und dies ist um so viel vermuthlicher, da es ohne Zweifel der nehmliche Capito ist, mit dem er sich im 8ten Brief des V. Buchs sehr vertraulich unterhält) — so konnt’ er wohl Grund haben, der Handlung, wovon hier die Rede ist, so viel Verdienstliches beyzulegen. Aber an sich selbst läßt sich von der Statue, welcher dieser Capito dem tugendhaften Syllanus setzte, oder von den Versen, die er auf alle berühmte Männer machte, nicht

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sicherer auf seine eigne Tugend schließen, als man von großen Freygebigkeiten bey gewissen Leuten auf ihre Wohlthätigkeit schliessen kann. Es giebt

¼Plinius½ P r o b e n e i n e r n e u e n Ü b e r s e t z u n g

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kleine Homunculos, die dadurch größer zu werden glauben, wenn sie von den Werken oder Personen großer Männer mit einer Schwärmerey sprechen, die mehr auf ihren Lippen als in ihrem Herzen ist. Und wie Manchen sehen wir, der, mit einer Zudringlichkeit, die er gern für Eyfer angesehen wissen möchte, sich an den großen Genie anhängt, um von ihm in seinem Flug emporgehoben und in den Tempel des Ruhms nachgeschleppt zu werden. Dies könnte sehr wohl der Fall des ehrlichen Capito gewesen seyn, und dann mußte man gestehen, daß er einen von den gemächlichsten Wegen, durch fremdes Verdienst unsterblich zu werden, ausfindig gemacht hätte. Wäre dies, so fiele zwar von der Handlung, welche Plinius so lobenswürdig findet, das Verdienst-

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liche weg; denn dies hängt von der Güte und Lauterkeit des Beweggrundes ab; aber die T h a t selbst wäre darum nicht weniger lobenswerth, wenn gleich dem M a n n e , der sie gethan, kein Lob gebührte; — eine Unterscheidung, die man im Leben tausendmal zu machen Gelegenheit hat, aber selten macht. Übrigens geben wir gerne zu, daß, Männer von Verdiensten zu schätzen wissen, schon eine Art von Verdienst ist, in sofern die würklich e m p f u n d n e Hochachtung für dieselben eine Beschaffenheit des Kopfs und des Herzens voraussezt, von welcher man erwarten kann, daß sie nicht bey einer leeren unthätigen Bewunderung fremder Vollkommenheit stehen bleiben, sondern mit wetteifernder oder nacheifernder Bestrebung verbunden seyn werde.

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7. An den Bebius. I. 24. S u e t o n i u s , mein Hausgenosse, hat Lust das kleine Gütchen zu kauffen, das Ihrem Freunde feil seyn soll. Ich bitte Sie, machen Sie daß er es um den billigsten Preiß bekömmt. Denn nur alsdann kann’s ihn freuen es gekauft zu haben. Ein zu theuer gekauftes Gut ist allemal verhaßt, und wenn es auch nur darum wäre, weil es ein immerwährender Vorwurf einer begangnen Thorheit ist. Wenn der Preiß keine Schwierigkeit macht, so hätte dies kleine Landgut sonst alles was meinem Suetonius Lust machen kann; es liegt nah an der Stadt; an einer Hauptstraße; ist nicht kostbar im Bau zu erhalten; zu klein ihm viel Mühe, und gerade groß genug ihm Vergnügen zu machen. Denn diese Gelehr-

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ten von Profession, wie er ist, sind um und um zufrieden, wenn sie soviel eignen Grund und Boden haben, als sie brauchen, um den Kopf zurück zu lehnen, die Augen an einer Aussicht ins Grüne erquicken, auf dem nehmlichen Fußpfade hin und her kriechen, alle ihre Weinstöckchen auswendig wissen, und über alle ihre Bäumchen ein Register halten zu können. Ich melde Ihnen diese Umstände, damit Sie sehen, wie sehr ich I h n und wie sehr Sie m i c h verbinden werden, wenn sie ihm dies kleine Gut, das sich ihm durch alle diese Herrlichkeiten empfielt, um einen Preiß verschaffen, der keiner Nachreue Platz lasse.

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8. An den Priscus. III. 21. Ich höre, Martial ist gestorben. Sein Tod geht mir nahe. Er war ein vortreflicher Kopf, sein Wiz fein und scharf, sein Herz ehrlich und gut, wiewohl Salz und Galle genug in seinen Schriften ist. Ich hatte ihm, da er Rom verließ ein Geschenk auf die Reise gemacht. Ich glaubte es unsrer Freundschaft, und auch den kleinen Versen, die er mir zu Ehren gemacht hat, schuldig zu seyn. Vor alten Zeiten war es Sitte, mit Ehrenzeichen oder mit Geld diejenigen zu belohnen, welche zum Lob einzelner Personen oder ganzer Republiken geschrieben hatten. In unsern Tagen ist mit andern löblichen Gebräuchen auch

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dieser abgekommen. Seitdem wir aufgehört haben lobenswürdige zu thun, machen wir uns auch nichts mehr daraus gelobt zu werden. Sie fragen mich vielleicht, was das für Verse seyen, die mich so dankbar gegen den guten Martial machten? Ich würde Sie an sein ganzes Buch verweisen, wenn ich nicht einige auswendig wüßte. Gefallen Ihnen diese, so können Sie die übrigen selbst nachschlagen. — Er redet seine Muse an und befiehlt ihr, nach meinem Hause auf den Exquilien zu gehen. Aber — so fährt er fort — Aber nimm Dich in Acht, in trunknem Muthe Nicht zur Unzeit an der beredten Thüre Anzupochen. Er pflegt den ganzen langen

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Tag mit der ernsten Pallas zuzubringen,

¼Plinius½ P r o b e n e i n e r n e u e n Ü b e r s e t z u n g

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Die die Reden ihm machen hilft, womit er Unsre Richter (wie Orpheus einst den strengen Unerbittlichen Höllenhof) bezaubert; Reden, die wir, mit Stoltz, und von der Nachwelt Unbescholten, den ew’gen Meisterstücken Des Arpinischen Demosthen entgegenStellen dürfen. Sicherer wagst du, Muse, Dich des Abends zu ihm, wann späte Lampen Zum geselligen Schmaus den Saal erleuchten. Deine Stunden sind dies, wenn Bacchus schwärmet,

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Wenn die Rose, die nicht mehr finstre Stirne Kränzt, und Salben vom Haare triefen; dann ist Dich zu lesen auch Cato nicht zu weise. *)

Finden Sie nun, daß ich Recht hatte, den Mann, der dies von mir schrieb, damals mit Beweisen der wärmsten Freundschaft von mir zu lassen, und nun da er nicht mehr ist, als einen verlohrnen Freund zu betrauren? Er gab mir das Größte was er mir geben konnte, und würde gerne mehr gegeben haben, wenn er gekonnt hätte. Wiewohl, was kann ein Sterblicher dem andern Größers geben als Ruhm und Unsterblichkeit? — Doch vielleicht werden seine Schriften selbst nicht unsterblich seyn? Vielleicht; aber wenigstens war es, da

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er sie schrieb, sein Wunsch daß sie es seyn möchten. * * *

*)

Hier ist das Original dieser ziemlich freyen Übersetzung: Sed ne tempore non tuo disertam Pulses ebria ianuam videto! Totos dat tetricae dies Mineruae, Dum Centum studet auribus Virorum Hoc quod secula posterique possint Arpinis quoque comparare chartis. Seras tutior ibis ad lucernas, Haec hora tua est, quum furit Lyaeus, Quum regnat rosa, quum madent capilli; Tunc me vel rigidi legant Catones!

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Man weiß sonst wenig von der Lebensgeschichte des Dichters M a r t i a l , dessen Werke die Hoffnung, welche sich Plinius von ihrer Unsterblichkeit machte, glücklich gerechtfertigt haben. Aus diesem Briefe lernen wir ein Paar Umstände, die jenen Mangel einigermaßen ersetzen können. Der eine ist etwas das er mit dem größten Theile der Leute, die von den Renten ihres Witzes leben, gemein hatte; er war arm wie eine Kirchenmaus. Aber dafür hatte er den Verstand, sich einen Mann wie Plinius zum Freunde zu machen, und dies ist die größte Lobrede eines Biographen auf seinen sittlichen Character werth. Daß übrigens der gute Plinius sich überaus gerne loben ließ, ist von jeher eine 10

verzeyhliche Schwachheit aller braven Leute gewesen. Er hat Recht; gegen das Lob der Verständigen sind nur diejenigen gleichgültig, die nichts thun was man loben könnte.

9. An seinen Maximus. VII. 26. Dieser Tage brachte mich der kränkliche Zustand eines Freundes auf die Betrachtung, daß wir nie besser zu seyn pflegen, als wenn wir krank sind. Denn wo sehn wir einen Kranken von Gewinnsucht oder Üppigkeit geplagt? Liebe und Ehrgeiz haben ihre Macht über ihn verlohren; und das kleinste Vermögen übersteigt seine Bedürfnisse, da er es als etwas ansieht, das er bald hinter sich 20

lassen wird. Wie oft begegnete es ihm ehemals, zu vergessen, daß er ein Mensch, und daß eine höhere Macht über ihm sey? Itzt erinnert ihn jeder Augenblick an beydes. Er beneidet niemand, bewundert niemand, verachtet niemand, findet weder Vergnügen noch Unterhaltung, wenn übel von Andern gesprochen wird. Bäder und schattichte Quellen sind alles, womit seine Phantasie sich unterhält, und bezeichnen die äusserste Linie seiner Wünsche. Ein stilles, sorgenfreyes, d. i. ein unschuldiges, glückliches Leben will er leben, wenn er wieder genesen sollte. Aus allem diesem, mein lieber Freund, folgt eine Lection für dich und mich, die in wenig Worten enthält, was uns die Philosophen mit vielem Gepränge in grossen dicken Büchern lehren wollen:

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daß wir in gesunden Tagen so leben, wie wir in kranken zu leben uns vorsetzen würden. * * * ¼Plinius½ P r o b e n e i n e r n e u e n Ü b e r s e t z u n g

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So richtig die Beobachtungen sind, welche Plinius an seinem kranken Freunde machte, und welche jede Krankenwärterin alle Tage zu machen Gelegenheit hat; so gewiß ist es gleichwohl, daß ein kranker oder kränkelnder Mensch gemeiniglich eben so wenig geschickt ist, richtig von den Dingen dieser Welt zu urtheilen, als ein von Gesundheit strotzender Jüngling, seine Einbildungskraft und seine Leidenschaften immer in den Schranken der Weisheit zu erhalten. So wie dieser z u l e i c h t s i n n i g , so pflegt jener z u e r n s t h a f t zu denken. Er spricht, wie Salomon, aber nicht mit Salomons Weisheit, zum Lachen, du bist toll, und zur Freude, was machest du? Er ist immer geneigt, Ärgerniß zu nehmen und Unglück zu weissagen. Eine junge fröliche, in dem

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angenehmen Gefühl ihres Daseyns dahinflatternde Grazie, ist ein Gegenstand, der ihn schwermüthig macht. Ein Scherz ist ihm Sünde, und von einem schönen Busen wendet er sein Auge seufzend auf einen Todtenkopf. Die schuldlosesten Vergnügen der Sinne sieht er für S c h l i n g e n an, die der Tugend gelegt sind, und die Welt, denkt er, ist blos darum mit so viel angenehmen Gegenständen erfüllt, damit wir sie — nicht genießen. Aus ängstlicher Furcht, den Grenzen des Lasters zu nahe zu kommen, macht er die Linie, die das Gute und Böse scheidet, zu einer Spirallinie, die ihn endlich so eng einschließt, daß er sich kaum noch regen kann. Wir haben hypochondrische und schwindsüchtige Sittenlehrer von diesem Schlage gekannt, und jedermann

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hat Gelegenheit die Erfahrung zu machen, daß diese Krankheiten auf jeden, der damit behaftet ist, mehr oder weniger, den beschriebenen Einfluß haben. Was für ein hassenswürdiges Siechenhaus würde die Welt seyn, wenn alle Menschen so empfänden, so dächten, so lebten, wie diese armen Leute? Für einen Kranken sind unzähliche Dinge unbrauchbar; er thut also wohl, sie nicht zu begehren. Aber eben diese Dinge sind für Millionen gesunde Menschen sehr brauchbar, und, was noch mehr ist, sind bloß dazu da, daß man sie brauche. Der Kranke hat also Unrecht, wenn er den Gesunden alles verbieten will, was i h m unnütz oder wohl gar schädlich ist. Er hat Recht, wenn er, in einem Zustande worinn das Leben kein Gut mehr für ihn ist, alle Güther desselben, die ihm nicht in die gehoffte bessere Welt folgen, für Seifenblasen ansieht: aber Unrecht hat er, von den Gesunden das Nehmliche zu verlangen. Niemand soll es ihm verdenken, wenn er mehr Geschmack an ernsten Todesbetrachtungen findet, als an dem schönsten Lied Anakreons: aber er hat Unrecht, das Vergnügen seiner gesunden Nebenmenschen immer durch seine

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Warnungen zu verbittern, und in jeden Gesang der Freude sein klägliches memento mori zu krächzen. Die Vorschriften der wahren Weisheit gründen sich auf Verhältnisse, welche vollständig wahrzunehmen und richtig zu bestimmen nur ein Werk der Glücklichen ist, denen eine gesunde Seele in einem gesunden Leibe zu Theil geworden. Die Sokraten und Epiktete befanden sich wohl, und stunden mit der ganzen Natur in gutem Vernehmen, als sie uns lehrten, wie wir leben müssen, um beym Schluß der Scene, mit uns selbst zufrieden, sagen zu können: W i r h a b e n g e l e b t .

¼Plinius½ P r o b e n e i n e r n e u e n Ü b e r s e t z u n g

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Der Teutsche Merkur. Des Achten Bandes Zweytes Stück. November 1774. Weimar, bey Carl Ludolf Hoffmann.

¼Monvmenta virorvm clarissimorvm ex tenebris saecvli XVIII ervta a Joh. Mart. Moromastige *) ½ *) Gegenwärtige Epigrammen und der folgende Brief sind aus der poetischen Verlassenschaft eines Dichters, der schon vor 17 Jahren, leider! zu früh für Teutschland, die Musen, und seine Freunde, starb.

¼20. Liegt hier Mann, man thut ihn heissen, S * l H e r r v o n : Wer lesen ihn wird denken, ach, wär davon! Verfassers Kopf verwirrt, glaub, der Geschmack nicht blieb, Wenn schämen sich thät und nicht alle Teufel schrieb. Französisches k l e i n e s H a u s gebührt hat ihm beym Leben, Todt kam, sprach, soll Grab schnell das k l e i n e H a u s ihm geben.*)½

*) Die Construktion in diesem Epigramm ist ein Pröbchen von des Hrn. v o n S c h e l Schreibart.

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Der Teutsche Merkur. Des Achten Bandes Drittes Stück. December 1774. Weimar, bey Carl Ludolf Hoffmann.

¼An meine Freundin C. v. S.* )½ *) Dieß und das folgende Gedicht ist mir ein angenehmer Beytrag von einer jungen Dame aus Franken, der ich hiermit öffentlich meinen lebhaftesten Dank bezeige. d. H.

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Rechtsgelehrsamkeit. Wegen Mangel am Raume müssen die hierher gehörigen Schriften bis zu einem künftigen Band aufgesparet werden.

¼Redaktionelle Nachricht½

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Le Memorial d’un Mondain, par Mr. le Comte Max. Lamberg, Chambellan de Leurs Majeste´s Imperiales. Italiam, Italiam — Au Cap Corse. 1774. 142 S. in 8. Wir erwähnen dieses Buches, wiewohl es französisch geschrieben ist und diese Recensionen sich gewöhnlich nur auf teutsche Produkte einschränken, weil es im Grunde würklich ein teutsches Produkt ist und unter die Merkwürdigkeiten unsrer Zeit gehört. Denn der Urheber ist ein teutscher Cavalier, der die Leser seiner R h a p s o d i e durch eine Belesenheit und einen Reichthum von Kentnissen, die man, — niemand zu Leide gesprochen, — von einem Weltmann seines gleichen gar nicht vermuthet, eben so angenehm unterhält als in Erstaunung setzt. Das Buch ist freylich, wie er selbst sagt, nicht sowohl

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ein Buch, als farrago libelli, ein Hauffen untereinander geworfene Materialien, woraus man ein Buch, oder (wenn man nur Lusthäuschen bauen wollte), etliche Dutzend artiger Büchelgen machen könnte. Es ist eine wahre Sylva, eine bis zur Üppigkeit fruchtbare Wildnis von allerley Bemerkungen, Betrachtungen, Einfällen, Reverien, Cruditäten, Witz, Verstand, Sentiment, Anekdoten von einer Menge bekannter und merkwürdiger Personen, Collectaneen in alle mögliche Gefache, Fragmenten von Dialogen und Briefen, Beyträgen zur Natur- Kunst- und Menschenkentnis, kurz von allem was der Verfasser in Corsica, in Italien und anderswo gesehen, gehört, gelesen, gedacht und excerpiret hat; — wo freylich nicht alles von gleichem Werth ist, nicht

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alles die Probe aushält, und manches mit unter läuft — Wie es bey solchen Reisememorialen und Collectaneen zu gehen pflegt — was der Verfasser vermuthlich selbst für nichts mehr giebt als — was es ist. Aber dafür wird man durch eine Menge interessanter Sachen, und vortreflicher, eines freyen und edeln Mannes würdiger, und zum Theil überraschender Gedanken, reichlich entschädiget; und man kann sich nicht enthalten, den Wunsch zu thun, daß recht viele teutsche Edelleute (zumal in gewissen Gegenden, wo man noch durch Belesenheit, Kenntnisse und Geschmack zu d e r o g i r e n glaubt) ihre Köpfe so möblieren, und über manche Dinge so denken möchten, wie Graf Max. von Lamberg. — Dem Verfasser zuzumuthen, daß er diese anmuthige Wildnis ein wenig aushauen, ausputzen und aufräumen sollte, um eine schöne gemächliche Promenade daraus zu machen, möchte wohl zu indiscret

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seyn. Aber wenigstens nur eine neue Ausgabe des Buchs, wie es ist! Denn itzt ist es in einem so abominabeln Geschmacke gedruckt, daß man durch das Lesen desselben beynahe einen MärtyrerKranz verdient. Die Entschuldigung in der Vorrede ist witzig, aber entschuldigt nichts. Etwas mehr Correction in der Sprache möchte auch eine Vollkommenheit mehr seyn; denn P o p e n s qu’importe dans quelle langue on ecrive, womit sich der Herr Graf als mit einem Schilde bedecken zu wollen scheint, geht vermuthlich nicht auf Sprachnachläßigkeiten, so sehr sie auch itzt unter uns Mode werden. — Wer viel gelesen hat, wird zuweilen von seinem Gedächtnis betrogen. Dies begegnet 10

auch zuweilen unserm Verfasser. Z. E. Seite 132. wo ihn eine Anekdote von Graf A l e x i s O r l o f an einen ähnlichen Zug von verwegenem Heldenmuth des J u l i u s C ä s a r erinnert; den er aber, aus dem Gedächtniß, unrichtig erzählt. Der junge Cäsar, da er Seeräubern in die Klauen gefallen war, ließ, als ihr Gefangner, keinen von ihnen hängen — wie hätt’ er das auch machen sollen? — er drohte ihnen nur zum Scherz damit. Aber da er sich wieder los gekauft hatte, jagte er ihnen nach, hohlte sie ein, und machte nun aus dem Scherz Ernst, indem er sie alle hängen ließ — sagt Plutarch. W.

¼Rezension: Lamberg½ L e M e m o r i a l

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T r i s t r a m s S c h a n d y s L e b e n u n d M e y n u n g e n . 9 T h e i l e , in 8. Hamburg bey Bode. Wir kommen zu spät, dieses Werk anzukündigen oder anzupreisen; — denn wo ist der Mann von Verstand und Geschmack, dessen Seele einen Sinn für die Launen des Genies, für Witz und Ironie, für attisches und brittisches, cervantisches und rabelaisisches und (was feiner und piquanter ist als alle diese vier Arten) für Y o r i k i s c h e s Salz hat; für alles was jemals ein Buch so schmackhaft gemacht hat, daß man es auch dann, und dann erst am liebsten ließt, wenn einem vor allen gewöhnlichen Seelenspeisen eckelt, — Wo ist, sage ich, ein solcher Mann, in dessen Händen B o d e n s Tristram nicht schon wäre, der

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nicht lieber alle seine übrigen Bücher, und seinen Mantel und Kragen im Nothfall dazu, verkauffen wollte, um sich dies in seiner Art einzige, dies, mit allen seinen und seines Verfassers Wunderlichkeiten und Unarten, dennoch unschätzbare Buch — worinn die W e i s h e i t , um uns Thoren besser zu gefallen, sich herabläßt Thorheit zu scheinen — dies Buch, so recht geflissentlich zur Erbauung und Belehrung, zur Züchtigung und zum Trost aller Menschen geschrieben, welche M e n s c h e n v e r s t a n d und M e n s c h e n g e f ü h l und ein B i ß c h e n W i t z z u r Z u g a b e aus deinen Händen, gute Mutter Natur, empfangen haben, — anzuschaffen, und von Stund an zu seinem Leibbuch zu machen, und so lange darinn zu lesen, bis alle Blätter davon so abge-

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griffen und abgenutzt sind, daß er sich — zu großem Vergnügen des Verlegers — ein neues Exemplar anschaffen muß? Indessen wenn wir zu spät kommen, diese Übersetzung anzukündigen, so ist es doch nicht zu spät, dem Übersetzer den Dank dafür zu sagen, den er für eine Arbeit verdient, der er vielleicht allein unter allen Teutschen gewachsen war, und deren unendliche Schwierigkeit, nachdem er sie so glücklich überwunden, ihm ein unwidersprechliches Recht an einen großen Theil des Ruhms giebt, der dem Original gebührt. Diese Bodische Übersetzung ist nicht nur eine neue, sie ist würklich die einzige Übersetzung von Tristram Schandy; sie versöhnt den Schatten des unsterblichen Yorik; oder vielmehr, S t e r n e s Geist ist selbst auf Boden herabgestiegen, hat ihn mit seiner ganzen Laune erfüllt, ihm das Verständnis der feinsten Schönheiten seines Werkes geöffnet, ihm alles oder doch b e y n a h e

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alles enträthselt, was auch eben nicht den unverständigsten Lesern des Originals räthselhaft war, ihm das Geheimnis gelehrt die teutsche Sprache so zu zubereiten, daß er sein ganzes Original, mit dem wenigstmöglichen Verlust, in ihr abdrucken konnte; kurz, ihm alle Schwierigkeiten überwinden geholfen: und so haben wir dadurch nicht nur eine verständliche und getreue Übersetzung des Tristram, eine Übersetzung, worinn Sternes Geist lebt und webt, die seine ihm eigene Sprache redt, worinn seine eigene Laune, sein eigenes air, seine ganze S t e r n h e i t durchaus herrscht, sondern auch ein Buch, das unsre Sprache ansehnlich bereichert und ausbilden hilft, gewonnen; — nichts 10

von dem Nutzen zu gedenken, den es uns dadurch schaft, daß es just in diesem k r i t i s c h e n M o m e n t erschienen ist, wo so manche Köpfe Gefahr lauffen überzuschnappen, und wo Tristram eine wahre, vielleicht die einzige Arzney ist, die dem Fortgang des Epidemisch werdenden Schwindels Einhalt thun kann. Nun, nachdem ich so viel Gutes von Herrn Bodens Übersetzung gesagt habe, sollte ich wohl auch etwas von ihren Fehlern und menschlichen Schwachheiten sagen; aber — ich kanns nicht über mein Herz bringen. Freylich in einem meiner fünf Exemplare, das ich ausdrücklich dazu bestimmte, sind eine ziemliche Menge sogenannter E s e l o h r e n — in meiner Provinz

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nennt man sie so — welche, aufrichtig zu reden, nicht viel Gutes bedeuten. Aber, wie gesagt, wenn ich bedenke, welch eine Arbeit es war, den Tristram zu übersetzen, — wie oft auch ich gefehlt haben würde, wenn ich an Bodens Platz gewesen wäre — wie oft und mannichfaltig wir alle fehlen — und wie unendlichmal leichter es ist, Fehler zu suchen und zusammen zu klauben, als selbst was Gutes zu machen: so kann ich mich nicht überwinden, einen Catalogus von Erraten an den Rücken eines Buches zu heften, das i m G a n z e n und in der H a u p t s a c h e so vortreflich ist. Hingegen soll mich nichts hindern, Hrn. Boden zu bitten, daß er, nach dem Beyspiele des gelehrten und würdigen Übersetzers der Y o u n g i s c h e n Werke, nicht aufhöre, an seiner Übersetzung

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zu bessern, bis er im Stande seyn wird, uns in einem Paar Jahren eine durchaus gefeilte, von den allzuhäuffigen Druckfehlern dieser ersten Ausgabe gereinigte, und mit seinen versprochenen C o m m e n t a r i e n bereicherte neue Ausgabe zu liefern; — auf welchen Fall ihm alle Eselohren meines Exemplars von Herzen zu Diensten stehen. Damit inzwischen gleichwohl nicht irgend ein Nasutulus uns vorrücke, als hätten wir uns hier nur airs geben wollen, als ob

¼Rezension: Sterne½ T r i s t r a m s S c h a n d y s L e b e n

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wir viel tadeln könnten, da wir doch nichts zu tadeln wüßten, — so will ich nur etwas weniges zur Probe anführen. Im I Theil. S. 164. „Was das Argumentum Tripodium betrifft, w e l c h e s n i e m a l s v o n e i n e r F r a u g e g e n i h r e n M a n n g e b r a u c h t w i r d “ — dieß macht die ganze Stelle zu Unsinn. Im Englischen steht — which is never vsed but by the woman against the man; w e l c h e s n u r d i e F r a u g e g e n d e n Mann braucht. Im III Theil S. 60. Z. 2. „Corregios C o r r e k t h e i t “ — Nicht so! the C o r r e g i t y o f C o r r e g i o ist nicht seine Correktheit — die war ohnehin eben nicht, was ihn charakterisiert — es ist seine ihm eigene, unnachahmbare Grazie,

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oder vielmehr etwas, wofür die Kunst gar keinen Nahmen hat, wiewohl es alle Kenner in seinen Werken fühlen, und darum nennt es Tristram C o r r e g i o s C o r r e g i o s c h a f t , oder besser C o r r e g i t ä t . III. S. 115. Z. 9. „ i h r e R e i z b a r k e i t “ — wessen? his sensibilities heist ja seine Empfindlichkeiten. Eod. S. 197. „Ob es gleich eine Insel giebt, die in der See schwimmt, obwohl nicht völlig so g e r ä u m i g “ — not altogether at its ease, heißt wohl: nicht immer so gar g e m ä c h l i c h ; — welches der Fall der E n g l ä n d e r , auf die hier angespielt wird, ist; an R a u m fehlts ihnen nirgends. IV. Theil. S. 55. ist im Original selbst ein augenscheinlicher Druckfehler,

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der den Sinn zu Unsinn macht, und also eigenen Gewalts vom Übersetzer verbessert werden darf — nehmlich anstatt „er kann aus zweymal zwey k e i n e fünfe machen“ muß es gerade das Gegentheil heißen: er kann aus zweymal zwey fünfe machen; denn dies ist, wie man aus dem Zusammenhang sieht, die leidige Meynung der N a s i a n e r . ibid. S. 100. Das Obstetricalische Instrument das die Engländer mit seinem lateinischen Wort, forceps, nennen, nennt man in Teutschland ganz gewöhnlich Z a n g e . VII. S. 22. Zeile 3. 4. von unten, hätte, g e t r e u e r und h u m o r i s t i s c h e r , so heissen sollen: daß mir der Nordwind weder mein Zelt noch mein Essen b r i n g e — statt z u w e h e t e . Aber halt! — dies ist mehr als zuviel zur Probe — daß meine Eselohren sehr wenig zu bedeuten haben. W.

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Prolog zum Solimann; gehalten in Erfurt von Madam Abbt. 1769. Von allen Sterblichen die diesen Erdenball Zum Schauplatz ihrer Thorheit machen, Und zum beweinen viel, doch zehnmal mehr zum lachen Uns geben, ist sonder Streit ein Mann, dem ein Serall Zu Diensten steht, das stolzeste Geschöpfe. Ein Sultan! — in der That, es ist ihm zu verzeihn, Was ihn umgiebt ist Sclav; nur er — nur er allein 10

Darf, was er will, und zieht die armen Tröpfe Wie Marionetten am Drat. Er winkt — so fliegen die Köpfe Von Bassen und Großvezieren, wie weggeblasen, herab. Und, daß er fähig sey, durch einen schönen Geliebten Kopf, sein Heer im Nothfall zu versöhnen, Ist eine Heldenthat, von welcher an Irenen Der zweyte Mahomet, das schwarze Beyspiel gab. Mich daurt die Nymphe, mich, die einem solchen Mann Verurtheilt ist im kalten Arm zu liegen; So einen Mann, der zu einer Dame Vergnügen

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So wenig und so viel zu ihrem Unglück kann; Der unter hundert Schönen, die Aug und Herz entzücken, Sein Herz vertheilt, — und Himmel! welch’ ein Herz! — Ein Herz, das, Eine zu entzücken, Zu wenig ist. Nun denket euch den Schmerz, Die Qual, verdammt zu seyn, den Blicken Von einem solchen Mann zur Augenweide bloß Zu dienen, ewig sich zu baden und zu schmücken, Damit er euch, kömmts hoch! auf seinen Schooß Zu setzen würdigt, euch die weisen Schultern zu streicheln

Prolog zum Solimann

1—27

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Die Gnade thut, und seinen stachlichten Bart An euren Wangen reibt. — Und ihm noch gar zu schmeicheln! — Zu buhlen um seinen Blick! — Entzückungen zu heucheln! — O Amor, und ihr Schutzgeister der Schönheit alle, bewahrt Ein jedes reizendes Kind vor Diensten dieser Art! An Solimann, mit dem wir euch heut unterhalten, Stellt uns Herr Marmontel, der Favarts Muster war, Das ächte Bild von einem Sultan dar. Nicht von den mürrischen zwar, Den erschöpften Alten und Kalten,

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Die eine Venus selbst nicht mehr begeistern kann; Dieß ist sein Fehler nicht — nur stolz ist S o l i m a n n . Er ist gewohnt daß ihm die Herzen entgegen fliegen; So wie er kömmt und sieht will er als Cäsar siegen, Und seiner Ungeduld heißt jeder Widerstand Ein Hochverrath — allein — den kleineren Sultanen Zum warnenden Exempel — fand Der Stolze doch zuletzt seinen Herrn in R o x e l a n e n . Wie schön, wie glorreich rächt Ihr reizender Muthwill’ an ihm das weibliche Geschlecht!

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Verzeihet ihm und mir, ihr Herren der Schöpfung! wir zollen Euch den Tribut der euch gebührt; Daß ihr mit gutem Fug die weite Welt regiert, Erkennen wir in Demuth, wie wir sollen; Doch wer regieret euch? — Die Antwort bleibt zurück? Bedarf es wohl sie mühsam zu ergründen? — Wir lesen sie in eurem Blick, Und ihr — ihr werdet sie in eurem Herzen finden! Nur noch ein Wort! Ihr Gönner unsrer Kunst! Thalie hoffet nicht, sucht nicht in eurer Gunst Durch Schmeicheleyn sich einzustehlen. Ihr schätzt Verdienste nur — doch wann uns diese fehlen — So möge wenigstens das eyfrigste Bemühn Euch zu vergnügen, uns den Weg zu eurem Beyfall bahnen,

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T h e a t e r - K a l e n d e r (Januar 1775)

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Und heißt das Schicksal uns aus euren Mauern ziehn, So denkt mit Huld an R o x e l a n e n ! Wieland.

Prolog zum Solimann

28—63

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¼Incerta½

Vom Doktor M e a d * ) . Doktor F r i e n d , der vertraute Freund des berühmten Doktor M e a d , wiedersetzte sich einstmals im Parlamente mit Heftigkeit dem Verfahren des Ministeriums in einer gewissen Sache. Dieses Betragens wegen wurde er im März 1722, unter dem Vorwande des Hochverraths, in den Tower gesetzt. Ein halbes Jahr darauf wurde der Premier-Minister krank, und schickte nach dem Doktor M e a d . Dieser, nachdem er die Krankheit untersucht hatte, sagte ihm, er wolle für seine Genesung stehen; aber er werde ihm keinen Tropfen Arzney eher verschreiben, bis sein Freund aus dem Tower wäre. Der Minister, 10

welcher seine Krankheit zunehmen sahe, erhielt wenig Tage drauf bey Seiner Majestät Pardon für Doktor F r i e n d s vorgebliches Verbrechen, und schickte wieder zum Doktor M e a d . Ohngeachtet Dr. F r i e n d s Pardon schon von der königlichen geheimen Kanzley ausgefertigt ware, so blieb dennoch Doktor M e a d fest bey seinem Entschlusse, bis sein Freund würklich befreyet, und wieder in seiner Familie ware. Der Minister wurde durch Dr. M e a d s Hülfe bald wieder gesund. Während F r i e n d s Gefangenschaft hatte D . M e a d seine Kranken übernommen, und brachte ihm noch an dem nemlichen Abende, da er aus dem Tower kam, F ü n f t a u s e n d G u i n e e n erhaltene Kurkosten; welche, als eine verdiente Belohnung seiner Arbeit anzunehmen, ihn Dr.

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F r i e n d auf keine Weise überreden konnte.

*)

Aus dem London Magazine; May 1773.

Vom Doktor Mead

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Von Signora G a b r i e l i, erster Sängerin der Sicilianischen Oper * ) Die Talente der G a b r i e l i sind schon so allgemein bekannt und berühmt, daß man ihr ohnmöglich eine neue Lobrede halten, oder sie schwärmerischer erheben kann als die Italiener thun, und schon lange gethan haben. In der That haben sie auch Recht, denn ihr Vortrag und die Schönheit und Biegsamkeit ihrer Stimme sind höchst bewundrungswürdig; und wollte sie nur eben so gut gefallen als in Erstaunen setzen, so würde sie fast eben die Wunder mit ihrer Stimme thun können, die man von einem Orpheus und Thimotheus erzählt. 10

Aber so fügt sichs, vielleicht zum Glück für die Ruhe der armen Erdensöhne von feinem Ohr und empfindsamen Herzen, daß ihr Eigensinn und ihre wunderliche Laune wo möglich größer noch als ihr Talent ist, und sie allzeit eben so verhaßt als dieses berühmt macht. Auf diese Art wird ihr Charakter oft das kräftigste Gegengift der Reitze ihrer Stimme und Person. Bey allen ihren Fehlern ist sie demohngeachtet die gefährlichste Syrene unserer Zeit, und hat gewiß mehr Eroberungen gemacht als ein Frauenzimmer auf der Welt. Man muß ihr, aus Gerechtigkeit, das Lob geben, daß sie, den Meisten ihrer Kunstverwandten zuwider, nichts weniger als selbstisch oder habsüchtig ist; sie giebt vielmehr oft große Proben ihrer Freygebigkeit und Uneigennützig-

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keit. Sie ist sehr reich, und wie man vermuthet, durch die Gnade des leztverstorbenen Kaisers, dem es ein Vergnügen machte sie in Wien zu haben. Sie mußte sich aber zulezt aus Wien, so wie aus den meisten Städten Italiens, entfernen, wegen der Unruhen und Zwiste, die ihr unruhiger und friedestöhrender Kopf, vielleicht mehr als ihre Schönheit, verursachte. Ohngeachtet sie schon ziemlich weit in Dreyssig ist, scheint sie doch auf der Bühne kaum achtzehn Jahre; und eben diese Kunst sich so zu verjüngen, ist keine ihrer schlechtesten. Wenn sie bey guter Laune ist, und sich würklich hören lassen will, so hat niemand etwas im ganzen Felde der Musik gehört, das mit ihrem Singen verglichen werden könne. Wenn sie will, so singt sie so gut

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Aus Brydone’s, Tour through Sicily and Malta.

Von Signora Gabrieli

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für das Herz als für die Einbildungskraft, und dann regiert sie jede Leidenschaft mit der gränzenlosesten Gewalt. Aber selten ist sie fähig ihre wundernswürdige Macht ganz zu zeigen; denn selten nur läßt es ihr Eigensinn zu; und eben dieser unüberwindliche Eigensinn, der stets mit den Reitzen ihrer Kunst abwechselt, hat sie schon ihr ganzes Leben hindurch zu einem Gegenstande der Bewunderung und Verachtung gemacht. Sie ist in der Action und im Recitiren fast eben so stark, als im Singen. Oft thaten wenig Worte von ihr, in einem Recitative, mit einem ganz einfachen Accompagnement, eine Würkung bey mir, die ich von keinem andern Sänger fühlte. Sie schreibet viele ihrer Verdienste dem Unterrichte zu, den ihr M e -

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t a s t a s i o , sonderlich in der Aktion und im Recitiren, gab. Ihr Eigensinn ist so hartnäckig und unbiegsam, daß weder Interesse noch Schmeicheley, weder Drohungen noch Strafen Gewalt über ihn haben; Hochachtung oder Verachtung, beydes vermehrt ihn bey ihr. Nur selten läßt sie sich bewegen ihre wundernswürdigen Talente zu zeigen; am allerwenigsten aber wenn sie glaubt, daß man etwas Vortrefliches von ihr erwartet; anstatt ihre Arien wie andere Aktricen zu singen, überbrummt sie sie alsdenn nur a mezza voce, und nichts in der Welt kann sie singen machen, wenn es ihr nicht beliebt. Das würksamste Mittel, so man noch in diesem Falle entdeckt hat, ist ihr

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begünstigter Liebhaber, denn sie hat allezeit einen; diesen sucht man zu bereden, daß er sich mitten in die vorderste Loge sezt. Stehen sie eben auf einem guten Fuße mit einander, welches aber selten der Fall ist, so richtet sie alle ihre zärtlichen Arien an ihn, und treibt ihre Kunst auf das Äuserste. Ihr gegenwärtiger inamorato versprach uns diesen Beweis seiner Macht über sie zu geben. Er nahm, der Abrede gemäs, seinen Platz, aber G a b r i e l i , welche vermuthlich die List merkte, schien ihn gar nicht zu sehen. Also würkt auch sogar dieses Mittel nicht allezeit bey ihr. Der Viceroi, welcher die Musik sehr liebt, hat alles mit ihr, aber umsonst, versucht. Vor einiger Zeit gab er dem vornehmsten Adel von Palermo ein groses Gastmahl, und ließ die G a b r i e l i auch dazu bitten. Jedermann erschien zur gehörigen Stunde, nur G a b r i e l i nicht. Der Viceroi befahl mit dem Essen zu warten, und ließ ihr melden, daß die Gesellschaft auf sie harre. Der Bediente fand sie lesend im Bette. Sie bath ihn, er möchte sie entschuldigen; es thät ihr leid, daß sie die Gesellschaft auf sich habe warten lassen,

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1774)

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aber sie habe ihr Versprechen gänzlich vergessen. Der Viceroi würde ihr diese Unhöflichkeit noch vergeben haben; da aber die Gesellschaft in die Oper kam, spielte G a b r i e l i ihre Rolle äusserst nachläßig und kalt, und sang alle ihre Arien sotto voce, oder so leise, daß man sie kaum hörte. Dieß beleidigte den Viceroi; da er aber ein sehr gutblütiger sanfter Mann ist, so wollte er ihr doch sein Ansehen nicht fühlen lassen; allein da sie bey ihrer unverschämten Halsstarrigkeit verharrte, so zwang sie ihn endlich ihr mit Strafe zu drohen, wenn sie sich länger weigern würde zu singen. Auf diese Drohung ward sie hartnäckiger als zuvor. Macht und Ansehen, 10

sagte sie, werde nie etwas bey ihr vermögen; zum Schreyen könne er sie wohl bringen, aber zum Singen nimmermehr. Der Viceroi schickte sie, auf diese Antwort, in ein öffentliches Gefängnis, wo sie zwölf Tage aushalten mußte. Während dessen gab sie alle Tage die prächtigsten Gastmahle, bezahlte aller der armen Gefangenen Schulden, und theilte beträchtliche Summen an Wohlthaten aus. Der Viceroi muste endlich seinen Zwist mit ihr aufgeben, und sie wurde unter dem Freudengeschrey der Armen in Freyheit gesezt. Sie sagte uns, sie habe verschiedenemal mit den Unternehmern der Englischen Oper in Unterhandlungen gestanden, aber nie den Schluß fassen können nach England zu gehen. Die Ursach davon ist nicht die schlimmste. „Ich

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bin nicht Herr meines Eigensinnes, sagte sie; das meistemal ist er der meinige, und in England würde ich ihm am allerwenigsten nachhängen können. Fiel mir es einmal ein nicht zu singen, so balgte mich der Pöbel herum, oder schlüge mir vielleicht gar Arme und Beine entzwey; und in einer ganzen Haut schlaf ich doch immer gerne, wenn es auch gleich in einem Gefängnis seyn sollte.“

Von Signora Gabrieli

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Die neuesten Offenbarungen Gottes in Briefen und Erzählungen, verteutscht durch D. Carl Friedrich Bahrdt, der Theologie ordentl. Lehrer, des Consistorii Assessor, Definitor und Predig e r a n d e r S t . P a n k r a t i u s k i r c h e z u G i e s s e n . E r s t e r T h e i l , welcher den Matthäus, Markus und Johannes enthält, 480 Seiten. Z w e y t e r T h e i l , worinn die beyden Bücher des Lukas enthalten sind, 376 S. D r i t t e r T h e i l , Briefe von Paullus, 466 Seiten in Oktav. Riga, bey J. F. Hartknoch, 1773. Was man auch gegen diese Übersetzung in Absicht auf die Entfernung von dem gewöhnlichen Lehrbegriff, und auf den modernisierten Ausdruck der 10

heiligen Schriftsteller sagen mag, so muß ich doch, nach bedachtsamen Lesen derselben, und mit aller Unpartheylichkeit eines Biedermanns gestehen, daß sie größtentheils dem Zweck des Verfassers, das neue Testament jedem unstudierten Leser ohne Kommentar verständlich zu machen, entspricht. Luthers Übersetzung mag immer ihren kirchlichen Gebrauch behalten: Aber wer wird läugnen, daß eine unsern Sitten und Zeiten angepaßte, von den Versehen jenes Reformators gereinigte Übersetzung höchstnützlich sey? Nur noch einmal, bey einer neuen Auflage, tüchtig durchgefeilt und die Bemerkungen der Kritiker, sollte auch Bonzengift darunter seyn, gehörig benuzt; dann wird diese Arbeit allen Handbibliotheken studierter und unstudierter

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Christen und Unchristen mit gutem Gewissen anzurathen seyn.

¼Rezension: Bahrdt½ D i e n e u e s t e n O f f e n b a r u n g e n

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Herrn Ludwigs, Freyherrn von Holberg, allgemeine Kirchenhistorie von dem Jahr Christi 1700 bis 1750. fortgesezt von J . T . R . F ü n f t e r T h e i l . Ulm und Leipzig, im Verlag J. C. Wohlers 1773. 522 Seiten in 4. Wer alle in der ersten Hälfte unsres Jahrhunderts vorgefallene, zum Theil sehr erhebliche Zänkereyen der Theologen, unter sich selbst und mit der armen Philosophie, ihren Gegenfüßlern, genau kennen lernen will, findet hier treflichen Unterricht und reichen Stoff zu Betrachtungen über die manchfaltigen Krümmungen des menschlichen Herzens, die manichfaltigen Irrungen 10

des menschlichen Verstandes, und die Natur und Würkungen des neulich erwähnten B o n z e n g i f t s , dessen unselige Ausbrüche, Theologenhaß, Unduldsamkeit und Verfolgungsgeist von jeher so viel Unheil in der Welt angerichtet haben. Der Verfasser dieses empfehlungswürdigen Buches ist Hr. M. Johann Ludwig K ö h l e r , Pfarrer zu Enabeuren im Würtembergischen.

¼Rezension: von Holberg½ a l l g e m e i n e K i r c h e n h i s t o r i e

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¼ N a i v. (Schöne Künste.) Es ist schweer den Begriff dieses Worts festzusezen, das so vielfältig nur willkührlich gebraucht wird; das einmal etwas lächerliches, ein andermal etwas rührendes und liebenswürdiges ausdrükt. Es scheinet überhaupt, daß das N a i v e eine besondere Art des natürlich Einfältigen sey, und daß dieses alsdenn naiv genennt werde, wenn es gegen das Verfeinerte und Überlegte, das einmal schon wie zur Regel angenommen worden, merklich absticht. Ein Mensch der fern von der größern gesellschaftlichen Welt erzogen worden, der von den feineren Lebensregeln, von der raffinirten, aber zur Gewohnheit gewordenen Höflichkeit und dem ganzen Ceremonialgesez der feineren Welt nichts weiß, der nur auf sich selbst, und nicht auf 10

das, was andere von ihm denken mögen, acht hat; ein solcher Mensch wird in den meisten Gesellschaften etwas lächerlich scheinen, nach ihrem Urtheilen ins Grobe fallen, aber n a i v genennt werden. Doch mit eben dieser Benennung werden auch viele Gedanken, Empfindungen und andere Äusserungen einer S e v i g n e belegt, die zwar immer in der großen Welt gelebt hat, und der das ganze Gesezbuch der galanten Welt bis auf den geringsten Artikel bekannt war, die aber sich gar ofte den richtigen Vorstellungen und natürlich edeln Empfindungen ihres eigenen Charakters überlassen hat, welche nichts von dem Modegepräg dessen, was bey ähnlichen Veranlassungen die feinere Welt zu äussern pflegte, an sich hatten. Von welcher Seite her man das Naive untersucht, so zeiget sich, daß es seinen Ursprung in einer mit richtigem Gefühl begabten, von Kunst, Verstellung, Zwang und Eitelkeit unverdor-

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benen Seele habe. Die Einfalt und Offenherzigkeit im Denken, Handeln und Reden, die mit der Natur übereinstimmt, und auf welche nichts willkührliches, oder gelerntes von außenher den geringsten Einflus hat, in so fern sie gegen das feinere, überlegtere, mit aller Vorsichtigkeit das Gebräuchliche nicht zu beleidigen, abgepaßte, absticht, scheinet das Wesen des Naiven auszumachen. Es äußert sich in Gedanken, im Ausdruk, in Empfindungen, in Sitten, Manieren und Handlungen. In Gedanken, oder der Art sich eine Sache vorzustellen, scheinet mir folgendes bis zum Erhabenen naiv. Adrast kommt mit den Müttern der von Theben erschlagenen Jünglinge zum Theseus, ruft ihn um Hülfe gegen den Creon an, der nicht erlauben will, daß die Erschlagenen begraben werden. Theseus, anstatt dem Adrast seine Bitte sogleich zu gewähren, oder abzu-

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schlagen, macht sehr viel Worte ihm zu beweisen, daß er sich in diesen Krieg gar nicht hätte einlassen sollen. Hierauf giebt ihm Adrast diese naive Antwort.

¼Sulzer½ N a i v . ( S c h ö n e K ü n s t e . )

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„Ich bin nicht zu dir gekommen, als zu einem Richter meiner Thaten, sondern, als zu einem Arzt meines Übels. Ich suche keinen Rächer meiner Vergehungen, sondern einen Freund, der mich aus der Verlegenheit ziehe. Willst du mir meine billige Bitte versagen, so muß ich mirs gefallen lassen; denn zwingen kann ich dich nicht. Kommet also ihr unglüklichen Mütter, und kehret zurüke; werfet diese unnüze Zeichen, wodurch Supplicanten sich ankündigen, weg, und rufet den Himmel zum Zeugen an, daß eure Bitte von einem König verworfen worden, der (*) Eurip. unser Blutsverwandter ist.“ (*) ëIketidew. Dies ist gerade zu, was der richtigste natürliche Verstand, und die Einfalt der Empfindung in diesem Fall eingaben. Diese äußert Adrast, ohne die vorsichtige Bedenklichkeit, daß er den Theseus dadurch beleidigen könnte; ohne die, feinern Köpfen gewöhnliche Vorsicht, sich bey

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dem, den man um Hülfe anspricht einzuschmeicheln, legt er das Ungereimte in dem Betragen des Theseus an den Tag, gerade so wie er es empfindet; ohne zu bedenken, daß vielleicht Theseus viel Umstände mache, um seine Hülfe dadurch mehr gelten zu machen, nihmt er es, als für eine unwiederrufliche Weigerung an, und geht davon. Das Naive im Ausdruk besteht in Worten, die geradezu die Gedanken, oder die Gesinnungen der Unschuld ausdrüken, aber durch spizfündige, oder schalkhafte Anwendung einen nachtheiligen Sinn haben können, an den die redende Person aus Unschuld, oder Unwissenheit nicht gedacht hat. Die Schalkhaftigkeit findet darin etwas Ungesittetes oder Grobes, wo blos Unschuld und edle Einfalt ist. Empfindungen und deren Äußerung in Sitten und Manieren sind naiv, wenn sie der un-

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verdorbenen Natur gemäß, und obgleich der feineren Verdorbenheit des gangbaren Betragens zuwieder, ohne Rükhaltung, ohne künstliche Verstekung, oder Einkleidung, aus der Fülle des Herzens herausquellen. Beyspiele davon findet man überall in Bodmers epischen Gedichten aus der patriarchischen Welt; in den Epopöen des Homers, und in den Idyllen des Theokritus und unsers Geßners. Es hat auch in zeichnenden Künsten, im Tanz, in den Gebehrden und Stellungen der Schauspiehler statt. Nichts ist unschuldsvoller, naiver und gegen unsere künstliche Manieren abstechender, als die verschiedenen Stellungen und Gebehrden, die Raphael der Psyche in den Vorstellungen ihrer Geschicht im farnesischen Pallaste gegeben hat. Das Naive macht keine geringe Classe des ästhetischen Stoffs aus; es ist nicht nur angenehm, sondern kann bis zum Entzüken rühren. Deswegen sind blos in dieser Absicht die Werke des Geschmaks, darin durchaus naive Empfindungen und Sitten vorkommen, höchst schäzbar; weil sie den Geschmak an der edlen Einfalt einer durchaus guten und liebenswürdigen Natur unterhalten, und verstärken. Das Naive in den Gedanken thut da, wo man überzeugen, entschuldigen, oder wiederlegen will, die größte Würkung; denn es führet das Gefühl der Wahrheit unmittelbar mit sich. In der

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Elektra des Sophokles wird diese unglükliche Tochter des Agamemnons von der Clytemnestra beschuldiget, sie suche durch ihre Klagen ihrer Mutter Reden und Handlungen verhaßt zu machen. Hierauf giebt Elektra diese höchst naive Antwort, die keiner Gegenrede Raum läßt. „Diese Reden kommen von dir, nicht von mir her, du thust die Werke, die ich b l o s n e n n e . “ ( * ) Sehr naiv und eben dadurch überzeugend ist auch folgendes; wiewol das (*) Soph. El. vs. 626. 627. Weitschweifende dieser Stelle, vielleicht zu tadeln wäre. P s e u d o l u s giebt seinem verliebten jungen Herren, den er durch sein vieles Fragen verdrießlich gemacht hat, folgende Antwort:

Si ex te tacente fieri possem certior Here, quæ miseriæ te tam misere macerant 10

Duorum labori ego hominum parsissem lubens, Mei te rogandi et tui respondendi mihi. Nunc quoniam id fieri non potest, necessitas Me subigit ut te rogitem.(*)

(*) V. Pseudol. Act. I. sc. I.

Der Redner, dem es gelinget den wahren Ton der Einfalt und des naiven Denkens zu treffen, kann versichert seyn, daß er überzeuget. Dieser Ton ist vornehmlich in der äsopischen Fabel nothwendig, wo der Dichter ofte die Person eines einfältigen und leichtgläubigen Menschen annehmen muß, um seinen Leser treuherzig zu machen. Es giebt auch eine schalkhafte angenommene Naivität die in der spottenden Satyre ungemein gute Würkung thut, das Lächerliche andrer recht ans Licht zu bringen. S w i f f t ist darin der 20

größte Meister, und L i s c o v hat mit der verstellten naiven Einfalt, mit welcher er die Philippi und Sivers beurtheilet, diese Helden höchst lächerlich gemacht. In der Comödie kann dieses zur Demüthigung der Narren von sehr großer Würkung seyn. Denn was ist empfindlicher, als von der Einfalt selbst lächerlich gemacht zu werden? Ich begnüge mich hier mit diesen wenigen Anmerkungen über das Naive, um das Vergnügen zu haben, hier einen Aufsaz über diese Materie einzurüken, den mir einer unsrer ersten Köpfe vor vielen Jahren zu diesem Behuf zugeschikt hat. Der izt berühmte Verfasser, schrieb ihn zu einer Zeit, da er noch jung war; aber man wird ohne Mühe darin das sich entwikelnde Genie antreffen, welches gegenwärtig sich in seinem vollen Glanze zeiget. Hier ist er Wort für Wort.½

Ich wundere mich nicht daß der Brief über die Naivete im 3ten Theil des Cours 30

des Belles-Lettres des Abts Batteux ihnen so wenig als das, was Bouhours vom Naiven sagt, ein Genüge gethan hat. Alles was Herr Batteux über diese Materie geschrieben hat, dienet vortreflich sie noch verworrener zu machen, als sie

¼Anmerkungen über das Naive½

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dem Leser vorher hat seyn können. Statt bestimmter Begriffe werden wir mit Bildern, Gleichnissen und Gegensäzen abgefertiget; und wenn wir eine Erklärung verlangen, so antwortet man uns: die Naivetät bestehet in der Kürze — in einer solchen Anordnung der Worte, Glieder und Perioden, die dem Endzwek des Redenden gemäß ist. Nach der lezten Erklärung sehe ich nicht warum die Reden eines Parlamentsadvocaten nicht eben so naiv seyn mögen, als die Briefe der Sevigne oder der schönen Zilia. Ich will mich die Schwierigkeit, die von der Zärtlichkeit dieser Materie entsteht, nicht abhalten lassen, einen Versuch zu machen sie genauer zu behandeln, und die Quelle und eigentliche Beschaffenheit des Naiven aufzusuchen. Es wird alsdenn leicht seyn,

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das Naive des Ausdruks zu bestimmen, wenn wir erst ausgemacht haben, was die Naivete der Gedanken ist. Ich werde aber mit meiner Untersuchung weit oben anfangen müssen. Die Rede soll eigentlich ein getreuer Ausdruk unsrer Empfindungen und Gedanken seyn. Die ersten Menschen haben bey ihren Reden keinen andern Zwek haben können, als einander ihre Gedanken bekannt zu machen, und wenn sie und ihre Kinder die angeschafne Unschuld bewahret hätten, so wäre die Rede nach ihrer wahren Bestimmung ein offenherziges Bild dessen, was in eines jeden Herzen vorgegangen wäre, und ein Mittel gewesen, Freundschaft und Zärtlichkeit unter den Menschen zu unterhalten. Jedermann weiß, daß

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die Sprache von den izigen Menschen meistentheils gebraucht wird, andern zu sagen, was sie nicht denken noch empfinden, so daß die Rede demnach sehr selten ein Zeichen ihrer Gedanken ist. Diese große Veränderung, muß unstreitig die Folge einer wichtigen Veränderung im Innwendigen der Menschen seyn. Diese müssen Empfindungen, Gedanken und Absichten haben, welche sie einander nicht zeigen dürfen. In der That ist die menschliche Natur von ihrer Bestimmung und schönen Anlage so stark abgewichen, daß in dem Innern des Menschen, an die Stelle der liebenswürdigsten Neigungen, anstatt der Unschuld, Gerechtigkeit, Mäßigkeit, Menschenliebe — Boßheit, Unbilligkeit, Unmäßigkeit, Neid und Haß getreten; und im Äusserlichen die Einfalt dem Gezwungenen, die Offenherzigkeit der Verstellung, die Zärtlichkeit der kaltsinnigen Höflichkeit hat weichen müssen. So bald die Menschen von einander betrogen worden, muste sich ein allgemeines Mißtrauen unter ihnen zeigen. Weil sie aber doch in Gesellschaft zu leben sich gemüßiget sahen, so erfanden sie allerley Mittel sich einander zu verbergen, sich in Acht zu neh-

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men einander auszuforschen u. s. f. Und weil man anstatt der herzlichen und brüderlichen Zuneigung, die eigentlich unter den Menschen herrschen sollte, etwas anders haben mußte, das ihr von außen ähnlich sehen, im Grund aber ganz das Gegentheil seyn möchte; so erfand man die Höflichkeit, das Ceremoniel, und alles was dazu gehört. Seit der Zeit ist die Rede der Menschen insgemein weitläuftig, sinnleer, doppelsinnig, unbestimmt, gekräuselt, steif und affektirt worden. Eine Gesellschaft kann etliche Stunden mit aller ersinnlichen Artigkeit und mit beständiger Bewegung der Lippen nichts reden — Todfeinde können einander vertraulich und liebreich unterhalten — einer 10

kann mit großem Wortgepräng von der Frömmigkeit, oder andern Tugenden reden, die er doch nie selbst empfunden hat; man kann izo aus den äußerlichen Zeichen der Freude oder Traurigkeit, der Freundschaft oder des Hasses, mit schlechter Zuversicht auf die wahre Gemüthsverfassung einer Person schließen; denn man hat den Affekten selbst eine Sprache vorgeschrieben, von der die Natur nichts weiß. Bey solchen Menschen würden wir die Naivete, welche eine Eigenschaft der schönen Natur ist, vergeblich suchen. Lassen sie uns in die glüklichen Wohnungen des ersten Paares, oder auch in die einfältigen und freyen Zeiten der frommen Patriarchen zurükgehen, dort werden wir sie mit der Unschuld ge-

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paart finden. Wir werden sie in den Herzen und in der Sprache solcher Menschen finden, die, ihrer Bestimmung gemäß, eine heilige Liebe gegen ihren göttlichen Wohlthäter, und eine allgemeine Zuneigung gegen ihre Mitgeschöpfe tragen, die einen unverderbten Geschmak am Schönen und Guten haben, und alle ihre sanften und harmonischen Begierden nach demselben richten. In solchen Herzen kann kein Mißtrauen, keine Verstellung Plaz haben; alle ihre Handlungen und Reden haben etwas offenherziges und ungekünsteltes. Sie dürfen ihre Gedanken Gott zeigen, warum nicht den Menschen? Sie haben nicht nöthig ihre Affekten zu hinterhalten, denn sie sind gut; ihre Worte müssen ihr Herz ausdrüken, oder ihre Augen und Gesichtszüge

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würden ihren Lippen wiedersprechen. Die Reden solcher Leute sind aufrichtig, wahr, kurz und kräftig, wie ihr Innwendiges unschuldig und edel ist; sie sind herzrührend, weil sie vom Herzen kommen. Sie wissen nichts von Moden und Manieren, nichts von allen den Einschränkungen, dem Zwang welchen das Mißtrauen der Aufführung, ja den Gebehrden der verderbten Menschen anlegt, nichts von der falschen Schaam, über Dinge zu erröthen, die an sich

¼Anmerkungen über das Naive½

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gut unschuldig sind. Und dieses ist dann, meiner Meynung nach, das Naive in den Sitten, der Denkart und den Reden der Menschen. Je näher einer diesem Stand der schönen Natur ist, desto mehr hat er von dieser liebenswürdigen Naivetät. Ich glaube daß ich es kühnlich für eine allgemeine Erfahrung ausgeben darf, daß diese Naivete allemal mit einer gewissen äußerlichen, sichtbaren Anmuth verknüpft ist, die man nicht definiren aber vermittelst eines feinen Geschmaks ganz klar empfinden kann. In der poetischen Sprache könnte man von diesem je ne sai quoi sagen, es sey der Wiederschein eines schönen Herzens. Ohne Zweifel hat diese Anmuth ihren Grund, sowol in der ersten Anlage

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des Körpers, als auch in der Übung in edlen und harmonischen Gemüthsbewegungen, welche eine große Kraft haben, einem sonst nicht schönen Gesicht eine Lieblichkeit zu geben, die weit über den leblosen Glanz der Farben, oder über die Regelmäßigkeit der Züge an einem geistlosen Bilde geht. Sie sehen hieraus, mein Herr, wo die Naivete vornehmlich statt hat, nehmlich bey ganz unschuldigen und kunstlosen Sitten, da die Tugend mehr vom Instinkt, als von deutlichen Überlegungen getrieben wird, und in Reden, Affekten und Thaten welchen man solchen Leuten beylegt. Diese Eigenschaft ist von einer schönen Seele unzertrennlich; sie ist daher auch von einer groben bäurischen Einfalt, die man vielmehr Dummheit heißen sollte, so sehr unterschieden, als

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von der Affectation; so wie die Reinlichkeit gleichweit von Pracht und Unsauberkeit absteht. Die Schäferspiele des Hrn. Gottscheds können deswegen keinen Anspruch auf die Naivete machen, obgleich seine Greten und Hansen die Sprache des gemeinsten Pöbels reden. Der Noah und manche andere Gedichte von demselben Verfasser sind von Beyspielen des Naiven voll. Der Charakter der Sunith in der Sündfluth, die Liebesgeschichte der Dina, die Kerenhapuch im Noah u. s. w. sind schöne Beweise wie liebenswürdig die ungeschmückte schöne Natur ist, ja wie reizend sie so gar durch die Wolke hindurchscheint, die eine Vergehung der Unvorsichtigkeit vor ihre Schönheit ziehet. Ein jeder empfindlicher Leser wird eine zärtliche Gewogenheit gegen Sunith fühlen, da sie ihrer Mutter mit einer so edlen Offenherzigkeit ihre geheimsten Gedanken entdeket, und sich gar keine Mühe giebt, durch besonders ausgesuchte Worte ihre Neigung zu beschönigen oder zu deken, als ob sie sich heimlich bewußt wäre, daß sie verborgen bleiben sollte. Ja wie erhaben wird sie durch das aufrichtige Geständniß, das sie dem

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Dison von der Liebe, die sie zu ihm getragen, macht? Sie darf sich nicht scheuen einem Liebhaber, den sie eben izt unwürdig findt, ihre vorige Neigung zu ihm zu gestehen, weil sie sich auf die Stärke ihres Herzens verlassen kann, welches durch ein solches Geständniß von dem Haß gegen die Laster ihres Liebhabers nichts nachließ. Die Briefe einer Peruvianerin sind vornehmlich wegen ihrer Naivete unvergleichlich schön. Man glaubt die sanfte Stimme der Natur zu hören, wenn Zilia redet. Wir sehen in die innersten Gänge ihres zärtlichen Herzens, wir sind bey der Entwiklung ihrer Gedanken, wir nehmen alle ihre Empfindungen an. Wir weinen wie sie weint, und in der äußersten 10

Bangigkeit ihres Schmerzens, glauben wir, wie sie, einen Anfang der Vernichtung zu fühlen. Unser Gedächtniß sagt uns, daß wir in der Liebe, in der Traurigkeit, in der Verwundrung oder Bestürzung, in einem angenehmen Hayn, u. s. w. wie sie empfunden haben; wir wundern uns nur, daß sie die zarten Empfindungen beschreiben kann, die wir für nahmenlos gehalten, weil wir sie nicht so lebhaft und mit so vieler Apperception fühlten, als sie. Dann eben diejenigen Personen, bey denen am meisten Naivete ist, haben für das Schöne und Freudige sowohl als für das Unangenehme die stärkste Empfindlichkeit; und weil sie wenig äusserliche Zerstreuungen, und viel innerlichen Frieden haben, so wendet sich die Schärfe ihres Geistes mehr auf sich selbst, sie gehen

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mehr mit ihren eigenen Gedanken um, sie hören ihre leisesten Regungen, und können in ihren Vorstellungen ungestörter und weiter fortgehen, als andre. Daher sind auch Personen von dieser Art allemal Original. Zwar ein jeder Mensch würde sich gar merklich, als Original vor den andern ausnehmen, wenn nicht Verstellung, Zwang, Nachahmung, Moden und dergleichen unter uns so gemein und in gewissem Maaß unvermeidlich wären. Wo nun keine Verstellung, keine Nachäffung, keine Furcht vor Mißdeutung, — ist, da kann es nicht fehlen, eine solche freye Seele muß in ihren Empfindungen und Urtheilen sehr viel eigenes äußern. Die Unwissenheit ist noch eine Beschaffenheit, die mit der Naivete mehr oder weniger verbunden ist. Diese Unwissen-

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heit ist zum Theil glüklich, sie ist ein Mangel an häßlichen Auswüchsen, oder überflüßigen und der angebornen Schönheit hinderlichen Zierrathen — zum Theil ist sie eine Leerheit, die der Geist mit einigen Mißvergnügen in sich fühlet, und sich daher bestrebt, sie auszufüllen. Deswegen sind naive Personen allezeit neugierig, wie wir dieses an Miltons Eva, an Zilia, Sunith oder Dina sehen können.

¼Anmerkungen über das Naive½

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Es ist nothwendig mit dem Naiven in Sitten und Gemüthsbewegungen verbunden, daß die Personen welche so glüklich sind, gleichsam unter den Flügeln der Natur zu leben, von einer großen Menge Sachen und Nahmen, welche leztere zum Theil nichts, zum Theil nichts gutes bezeichnen, gar nichts wissen. Ihre Sprache muß daher viel kürzer und eigentlicher seyn, als die unsrige. Sie wissen nichts von einer unzählbaren Menge überflüßiger Nothwendigkeiten, nichts von eben so vielen Wörtern die man erfinden mußte, böse Neigungen und Absichten zu masquiren, oder wenigstens das Ohr mit dem Laster zu versöhnen. Sie nennen die Dinge mit ihrem rechten Nahmen, ihre Reden haben mehr Kürze, ihre Säze mehr Rundung, und überhaupt ihre Gedanken

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ganz besondere Wendungen. Dieses ist die vornehmste Ursach, warum die Sprache der Naivete so einfältig, eigentlich und ausdrukend ist; so wie sie, als ein wahrhaftes Bild ihres schönen Herzens, nett bey allem Mangel an Schmuk, und edel bey aller Nachläßigkeit ist. Übrigens würde man sich irren, wenn man dieser einfältigen Sprache alle Metaphern und Figuren nehmen wollte. Das Herz und die Affecten haben ihre eigne Figuren, und je naiver eine Person ist, desto lebhafter wird sie ihren Affect von sich geben, weil er gut ist, und sie sich nicht scheuen darf, ihn sehen zu lassen. Woher kommt es, daß die moralische Naivete, einer Zilia z. E. oder der siegenden Sunith, uns so stark und bis zur Entzükung gefällt? Ohne Zweifel

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daher, weil nichts schöners ist, als die wahre Unschuld einer Seele, die sich immer entblößen darf, ohne beschämt zu werden. Ein solcher Anblick muß nothwendig unserem moralischen Sinn mehr Vergnügen geben, als uns das Gefühl einer jeden andern Schönheit machen kann. Weil es aber viele Grade und Arten der Naivete giebt, so wollen wir diejenige, welche aus der wahren Unschuld entspringt, das Erhabene Naive nennen. Die übrigen Grade mögen nach ihrer größern oder kleinern Entfernung von der schönen Natur abgemessen werden. Denn es muß auch noch ein Raum für die muthwillige Galathea des Virgils und den alten rosenbekränzten Anakreon übrig seyn. Die Minnegesänge aus dem XIII Jahrhundert sind reich an Beyspielen naiver Passionen und Ausdrükungen derselben. Die Sitten der damaligen Zeit müssen, nach allen Urkunden die uns von der Regierung des vortreflichen Schwäbischen Hauses übrig geblieben sind, von ihrer ehemaligen Rauhigkeit und Wildheit gerad so viel verlohren haben, daß sie bey ihrer Einfalt und Bescheidenheit, Artigkeit und eine gefällige ungekünstelte Wohlanständig-

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keit besizen konnten. Die meisten der Liebesgedichte werden von dem Geist der sittsamen und inbrünstigen Liebe beseelt. Diese Sänger kennen die Sprache der Empfindungen, wie es scheint aus Erfahrung. Eigene oft verwundersame Einfälle und neue anmuthige Wendungen findet man häufig bey ihnen. Ich glaube daß es Ihnen nicht unangenehm seyn werde, M. H. wenn ich ihnen einige Proben davon vorlege: Vil süße Minne du hast mich betwungen Das ich muos singen der vil minneklichen Nach der min Herze je hat da her gerungen 10

Du kan vil suesse dur min Ougen slichen Al in min Herze lieplich unz ze gerunde Wand ane Gott nieman erdenken konte So lieplich lachen von so rotem Munde. Ich wolde ir gefangen sin gerne unverdrossen So das si mich dort solde In blanken Armen haben geschlossen. Niemer könd ich min leit gerechen An der truten bas Ihr Mündel küst ich und wolde Sprechen

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Sich, diner Röte habe du das.

Ich bin also minne wise Und ist mir so rehte lieb ein Wip Das ich in dem Paradyse Niht so gerne wisse minen Lip Als da ich der guoten solde sehen In ir Ougen minneklichen Da möhte lieblich Wunder mir geschehen. Ich wande ich iemer solde lachen. Do ich dich Frouen lachen sah &c.

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Ir vil liehten Ougen blig Wirfet hoher Froeiden vil

¼Anmerkungen über das Naive½

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Ir gruos der git selde und ere Ir schone dü leit den strik Der Gedanke vahen will Des git ir Gedanke lere Mit zuht das irs nieman wissen sol Swes gedenken gegen ir swinget Minne den so gar betwinget Das er git gevangen froeiden zol.

Ich gestehe ihnen mit einem jeden Leser, der die feinen Schönheiten der einfältigen Natur empfinden kann, daß die Fabeln und Erzählungen des Hrn.

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Gellert, die Sie so sehr lieben, größtentheils sehr naiv erzählt sind. Gar ofte entsteht diese Naivete aus den Gedanken selbst, und der aufrichtigen kunstlosen Ausbildung derselben; manchmal aber scheint sie blos in dem Ausdruk oder in der Wendung zu liegen, die aber nicht etwa so neu und sonderbar ist, wie bey den Minnesingern, sondern bloß in der genauen Nachahmung der gemeinen und manchmal pöbelhaften Art zu reden oder zu erzählen besteht, wie man aus der Erzählung vom Bauer und seinem Sohn, der Mißgeburt, vom betrübten Wittwer, und einigen andern siehet. Viele halten diese Fabeln und Erzählungen, vornehmlich um der vielen Fragen, Einwürfe, satyrischen Parenthesen, kleiner lustiger Anmerkungen etc. die in der Erzehlung mit einge-

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schoben werden, für sehr naiv. Ein jeder erinnert sich, daß er wizige und lustige Köpfe in seiner Bekanntschaft gehabt hat, die ohngefehr so auf diese Art erzählen. Man hält deswegen diese Art der Erzählung für sehr natürlich. Die Leser von gesunden Geschmak mögen entscheiden, ob der Verfasser der Erzählungen, die einfältige, ungeschmükte, leichte, aber edle Sprache der Erzählung nicht besser getroffen habe. Man kann übrigens mit Grunde sagen, daß ein guter Theil der Erzählung des Hrn. Gellerts von solchem Inhalt sind, daß sie dergleichen Zierrathen und Fransen sehr nöthig haben, und daß der allgemeine Beyfall zu allen Zeiten nothwendiger Weise auf seiner Seite seyn muß.

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Mich deucht man könne die naive Schreibart gar füglich und im Gegensaz mit der gekünstelten und gezierten, mit jenem angenehmen Mädchen vergleichen, dessen natürliche Schönheiten und unerworbene Reizungen den Cherea beym Terenz so sehr entzünden.

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A l l g e m e i n e T h e o r i e ¼…½. Z w e y t e r T h e i l (Anfang September 1774)

Haud similis virgo est virginum nostrarum, quas matres student Demissis humeris esse, vincto pectore, ut gracilæ sient Si qua est habitior paulo, pugilem esse ajunt, deducunt cibum Tametsi bona est natura, reddunt cultura junceas — — Sed istæc nova figura oris Color verus, corpus solidum et succiplenum.

¼Anmerkungen über das Naive½

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Die deutsche GelehrtenRepublick, ihre Einrichtung, ihre Gesetze, Geschichte des letzten Landtags, auf Befehl der Aldermänner durch Salogast und Wlemar, herausgegeben von Klops t o c k , e r s t e r T h e i l , Hamburg, gedruckt bey Bode, 1774. 8. 1 Alph. 5 B. und 4½ B. Verzeichniß der Subscribenten. Was J a n u a r i u s für die Juristen gethan hat, das thut hier Hr K l o p s t o c k für unsern ganzen gelehrten Staat; er giebt uns nemlich ein Ideal, wie er einzurichten wäre, und viel Spott über seine bisherigen Gebrechen. Wenn es auch die teutsche Freyheit nicht längst Mode gemacht hätte, daß die Richter wieder 10

gerichtet würden, so würde mir doch Hr K l o p s t o c k s eignes Geständniß, „nicht G e s e t z g e b u n g , sondern V o r s c h l a g versucht, nicht Reformation, sondern Wünsche unternommen zu haben“ die Erlaubniß geben, meine Gedanken darüber zu sagen. Vom Plato an bis auf den Grafen von Lauragais hat man dergleichen Träumer liebenswürdig gefunden, und so wird man sich auch hier mit Dingen, die vielleicht nie geschehn werden, angenehm unterhalten. So wie der Verfasser des l’An deux mille ein Kosmopolit und Menschenfreund zu heißen verdient, so hat Herr Klopstock einen warmen Patriotismus für die ganze teutsche oder, wenn er lieber will, deutsche gelehrte Republik an den Tag gelegt. Seinen Eifer für alles, was Teutsche angeht, kann-

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te und bewunderte man schon längst. Ob aber alle Klassen der Gelehrten mit seinem public spirit für die ganze gelehrte Republik zufrieden seyn, ob nicht die einen und die andern in dem Tone urtheilen werden, wie S c h l ö t z e r neulich von den Bellettristen, wird die Zeit lehren. Man hat je zuweilen den Plato in die Zahl der Dichter aufnehmen wollen wegen seines Reichthums in Dichtungen und in der Ausführung derselben. Wenn nun gar ein gebohrner Dichter, wie hier, ein ganzes Buch von allegorischen Fiktionen zusammengewebt, so kann es an Mannigfaltigkeit von Phantasien nicht fehlen. In der That hat Klopstock seine Idee so reich gefunden, daß er noch einen zweyten Theil verspricht. Nur fürchte ich, daß Leser, die sogleich durch die ganze

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Hülle hindurch sehen können, oft einerley auf mannigfaltige Art allegorisirt finden werden. Überhaupt erregen Allegorien, zumal von solcher Länge, sehr leicht Langeweile. Auch sind nicht alle Fiktionen von gleichem Werthe, wie

¼Rezension: Klopstock½ D i e d e u t s c h e G e l e h r t e n R e p u b l i c k

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z. E. die von der Freygeisterkirche keine sonderliche Würkung thut. Für ungeübtere Leser möchte wohl (und das beklage ich wegen der dadurch gehinderten Gemeinnützigkeit) vieles eine räthselhafte Dunkelheit haben. Zu geschweigen, daß dies eine natürliche Folge gehäufter Allegorien seyn muß, so sind einige in der That zu geheimnißvoll. In den Gesetzen ist die Kürze zuweilen so lakonisch worden, daß sie eines weitläuftigen Kommentars bedürften. In den Rathschlägen der Aldermänner wird das Spruchreiche, das darinn herrscht, oft zu zugespitzt. Nach des Verfassers eigner Regel (S. 124) soll ein Meister jedesmal nur den zwanzigsten Gedanken hinsetzen, und alle andre weglassen. Die Aufsätze im nordischen Aufseher und die Abhandlungen von

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der Meßiade haben es schon gezeigt, daß es der Prosa des Herrn Klopstock an natürlichem Zusammenhang fehle. Überdies erfoderte die Beschaffenheit dieses Werks oft Witz, und dies Talent verträgt sich mit den höhern Bestandtheilen des Klopstockischen Genies nicht. Sein Witz wird leicht unverständlich und gezwungen, wie verschiedne hier eingestreute Epigramme offenbar bestätigen. Daher sind auch nur wenige satirische Stellen ganz geglückt. Ja manche (z. E. S. 40, 165, 290, 362) möchte ich fast des Verfassers unwürdig nennen. Welche Gewalt er über unsre Sprache besitze, wie er sie nach allen ihren Epochen und Schattirungen studiert habe, wird jeder Leser von selbst empfinden; mancher jedoch beseufzen, daß solche Talente und Kenntnisse zuweilen zum Sonderbaren gemißbraucht werden. Die eingeschalteten grammatikalischen Fragmente sind mir das Wichtigste des ganzen Werks gewesen. Der Raum erlaubt es hier nicht, die Wahrheit oder Neuheit der mancherley Meynungen und Sentiments zu untersuchen. Glänzende Einkleidung und sententiöse Kürze verleiten oft zu halb wahren oder zu gemeinen Ideen. Nur dies bemerke ich noch, daß die Aristokratie, die Hr. Klopstock einführt, nicht eingeschränkt genug zu seyn, und sich zuweilen der venetianischen Verfassung zu nähern scheint.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Mitte September 1774)

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L a i d i o n , o d e r d i e E l e u s i n i s c h e n G e h e i m n i ß e , e r s t e r T h e i l , Lemgo, in der Meyerischen Buchhandlung, 1774. 8. 1 Alphabet, 6 Bogen. Nicht sowohl Leidenschaften und Sitten zu schildern, als M e i n u n g e n vorzutragen und zu bestreiten, ist des Verfassers Hauptabsicht gewesen. Nicht sowohl unser Herz, als unsern Verstand und unsere Phantasie suchte er zu weiden; denn einige wenige Stellen, wo das erstere intereßirt wird, (wie z. E. S. 289) gehören nur zu den Ausnahmen. Daß ein Frauenzimmer, und daß eine Lais hier ihr S y s t e m vorträgt, (wenn sich anders dis Wort hier brauchen läßt) wird niemanden befremden, der für die Griechen so eingenommen ist, 10

als der Verfaßer. Daß er sich aber eine Rolle eines weiblichen Philosophen wählte, stimmt mit seiner Jugend überein, die durchgehends hervorschimmert. Bey aller Anlage, die er besitzt, den Leser mit Philosophie zu amüsiren, mußte er als Jüngling theils ein sehr bearbeitetes System wählen, theils sich in eine Situation setzen, die den Leser abhält, die Wahrheit der Raisonnemens gar zu genau zu prüfen. Den Hang zum Neuen und Paradoxen, und die Begierde dergleichen Sätze als G e h e i m n i s s e zu verkaufen, leite ich von der Jugend des Verfassers her, wenn ich gleich von dem Jüngling viel hoffe, der nicht auf der alten Heerstrasse fortschlendert. Er bekennt selbst, daß sein Werk viele gewagte und spitzfindige Gedanken enthalte. Seine Heldin ist aus einer

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andern Welt, sie ist zu einer Aspasia veredelt, sie steht ohne alle Nebencharacters da; alles dis rechne ich dem Verfasser zum Ruhm an, in sofern er vermuthlich es sich nicht zutrauete, die Natur in Characteren zu erreichen. Empfindungen und Beschreibungen sind gewöhnlich die Seiten, von denen jugendliche Werke am meisten glänzen, und in diesen beyden grosen Eigenschaften eines Dichters hat der Verfasser schon viel geleistet. Wären sie sparsamer angebracht, kürzer gefaßt, weniger überladen, und dem Innhalt nach mannigfaltiger, so würde ich sie ohne Einschränkung loben. Elysische Empfindungen und Gemälde sinnlicher Ergötzungen brachte der Stof natürlich mit sich, aber man findet sie auch, wo wir sie nicht nöthig haben; sie sind oft

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mit zu viel Taumel entworfen, sie machen durch die Wiederhohlung Überdruß. Eine jugendlich siedende Phantasie verbreitete oft eine Wärme, die den kältern Lesern Affectation scheint; die Empfindung erhebt den Ton oft zu

¼Rezension: Heinse½ L a i d i o n

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poetischer Prosa. Ich behaupte gar nicht, daß es dem Verfasser mehr um Verzierung als um Sachen zu thun gewesen, oder daß sein Schmuck immer nur sophistisch sey; die Zeit selbst wird sein Feuer mäsigen. Lais darf wohl als Frauenzimmer ein wenig plaudern, zumal da sie meistens eine angenehme Schwätzerin ist. Wenn aber künftig der Verfasser das Ganze gedrängter und bündiger machte, so würde sein Werk mehr gewinnen als verlieren. Ein A n h a n g giebt sechs und funfzig Stanzen einer ernsten romantischen Epopee. Es sey nun das gelassene Gefühl der unschuldigen Teutschen, um dessentwillen S. 453 Lücken geblieben, oder sonst etwas Ursache, die romantische Epopee möchte wohl, ganz vom Komischen entblößt, in Teutschland nicht viel Glück

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machen, da ich sogar hie und da einen stoisch kalten Leser behaupten hören, daß Idris und Amadis zu viel Imagination und zu wenig Intereße habe. Dieser Verfasser hat sich ausserdem selbst viel Schwierigkeiten in den Weg gelegt. Er hat die regelmäsige Form der italienischen Stanze mit fünf weiblichen Reimen beybehalten. Mahlerische Talente, Fertigkeit der Versification und Bekanntschaft mit den italienischen Dichtern hat er immer dadurch bewiesen, wenn ich ihm gleich nicht rathe, zwanzig solche Gesänge zu vollenden. Sie möchten (für den t e u t s c h e n Leser) dem Thale gleichen, worein Amor den Ascanius verbarg: — vbi mollis amaracus illum Floribus et dulci adspirans complectitur vmbra.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Mitte September 1774)

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V e r s u c h ü b e r d e n R o m a n . Leipzig und Liegnitz, bey Siegerts Wittwe. 1774. 8. 1 Alphab. 10 Bogen. Zu einer Zeit, da es in unsern Poeticken noch so wichtige Lücken giebt, als die ganze Theorie der Epopee und mehr als ein Theil der dramatischen Kritick ist, ein Aristoteles für die prosaischen Homere werden wollen, ist in der That ein kühnes Unternehmen. Ja, wenn auch alles dieses schon vorgearbeitet wäre, so würde es dennoch ein schweres Geschäfte seyn, alles zu erschöpfen, was sich über Kompositionen von solchem Umfange und solcher Mannigfaltigkeit, als der Roman ist, sagen ließe. Was unter dem Monde geschiehet, oder 10

auch geschehen könnte, ist ihr Stoff; und wer kann ihre Formen zählen? Wer kann die mancherley Absichten bestimmen, in denen Romane geschrieben werden? Der Verfasser hat die Schwierigkeiten seiner Unternehmung selbst eingesehen. Er wagt es nicht, den Reformator und Erfinder in der kritischen Dogmatick zu machen, sondern bleibt bey dem Allgemeinen und Bekannten unsrer Ästheticker stehn. Besitzt er indessen gleich den Scharfsinn eines Leßings und die philosophische Fülle eines Garve nicht, so hat er sich doch fremden Reichthum gut zu eigen gemacht. Um nicht alles zu umspannen, gab er nur einen Versuch, und kein ausgearbeitetes Lehrgebäude. Wenn er die ganze Ästhetick, Rhetorick und Poetick auf den Roman hätte anwenden, wenn

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er die ganze Stammtafel aller Gattungen hätte entwerfen, wenn er so sehr in das besondere der Regeln hätte gehen wollen, als zu ihrer vollkommnen Brauchbarkeit nöthig wäre, so hätte das Buch noch dicker werden müssen, als es jetzt ist. Erfindung neuer Charaktere oder neuer Seiten derselben, Beobachtungsgeist über das menschliche Leben, und wahrscheinliche Verbindung der Begebenheiten sind bald im Allgemeinen vorgeschrieben: aber das w i e aller dieser Dinge erfodert weitläuftige Abhandlungen, die am Ende doch dem Romandichter selbst am wenigsten nützen. — Die Werke bloßer Imagination, wie die Feenmährchen, hätten nicht ganz mit Stillschweigen übergangen, wenigstens als Allegorien betrachtet werden sollen. Die Betrachtungen über den

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Einfluß der politischen Verfassung auf den Geschmack eines Volks und über die Episoden sind dem Verfasser am besten gelungen; besonders hat er über die letztern viel Neues und Wahres gesagt. Seine Beyspiele sind öfter aus

¼Rezension: von Blanckenburg½ V e r s u c h

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Schauspielen, als aus Romanen entlehnt, und er hat sich darüber selbst erklärt. Wenn er auch viel Beyspiele wählt, auf die ihn Home und andre schon hinwiesen, so hat er sie doch selbst zergliedert; und die Kunst, jungen Leuten dadurch nützlich zu werden, versteht er vollkommen, wie die Detaillirung der Scenen aus dem Lear und aus dem Macbeth beweisen. Unter den eignen Beyspielen ist vornemlich die Auseinandersetzung von Marinellis Charakter sehr gut gerathen. — Eine gewisse Leichtigkeit im raisonnierenden Vortrag macht das Werk angenehm, hat es aber auch zu einer Länge ausgedehnt, die dem unkritischen Leser lästig, und dem kritischen zuweilen schwatzhaft scheinen möchte.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Mitte September 1774)

H y m n e n , Leipzig, in der Dyckischen Buchhandlung, 3½ Bogen, 1774, 8. Im Einleitungsgesang wünschte ich gleich die erste Strophe hinweg: Entschwinge dich einmal den Myrthen, Mein Geist! Was preisest du der Hirten Und Schäferinnen Frölichkeit? Was jagst du bey den Eichenbäumen Nach Phantasien und nach Träumen Betrüglicher Erhabenheit?

Denn so hat es das Ansehn, als ob Herr K r e t s c h m a n n seine Bardenlieder 10

und seine scherzhaften Gesänge für Sünde erklärte, und doch sind selbst in dieser Sammlung die beyden Hymnen über die Freude und über die Liebe, vornemlich die letztere, die vortreflichsten. Vielleicht werden manche wünschen, daß Herr K. das Lob Gottes im Character eines Barden gesungen hätte. Wenn sie aber etwa glauben, daß dies der einzige Weg gewesen wäre, so oft bearbeitete Gegenstände neu vorzutragen, so widerlegt sie hier der Augenschein. Der Dichter hat auch ohne Bardencostume die Originalität, das Feuer, und die Würde, die solche Gegenstände erfodern. In der zweyten und dritten Hymne hat er auch die Psalmen benutzt, aber nicht nach der gemeinen Art unsrer KirchenLiederDichter. Der Hymnen sind in allen sechs, nemlich: d a s

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Lied der Weihe ; die wahre Stärke ; Gott der Weltschöpfer ; an die F r e u d e ; d i e L i e b e ; und a m C h a r f r e y t a g e . Eines der rührendsten Bilder findet man in den Schlußstrophen S. 35.

¼Rezension: Kretschmann½ H y m n e n

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K a t u l l i s c h e G e d i c h t e . Berlin, bey Himburg, 1774. 6½ Bog. in 8. In dem Gebiete der Laune wären allerdings noch manche Eroberungen zu machen, wenn die Phantasie unsrer jungen Dichter nicht zu hoch aufbrauste, um diese Sphäre ihrer würdig zu finden. Hier kommt abermal ein Poet aus den Regionen der Erscheinungen zurück, und vertauscht den P e t r a r c h mit dem K a t u l l . Nicht die Lieblichkeit, nicht die Wärme, nicht das Bilderreiche des Katull sowohl, als sein loser Muthwille, seine vertraute Sprache, sein nachläßiger Scherz sind das Ziel, das er sich gesteckt hat, und das er oft glücklich erreicht. Oft kann man hier den Unterschied aufs neue bestätigt finden, 10

den man zwischen dem Humor der Alten und der Neuern bemerkt hat. Wo Katull nur U r b a n i t ä t hat, da ist beym Teutschen schon mehr K a r r i k a t u r , welches man desto leichter empfinden kann, da bey einigen genauern Nachahmungen das lateinische Original beygefügt ist. Die Wiedererweckung mancher alten Kernworte verdient den Teutschen besonders zum Ruhm angerechnet zu werden. Sollte mancher Leser die ganze Sammlung nicht in einem Athem durchgehn können, so bedenke er, daß die Laune in kleinern Gedichten geschwinder ermüdet, als in größern, und daß einerley Sylbenmaas, besonders aber das, worinnen diese Gedichte abgefaßt sind, bald Monotonie erzeuge. Wenn der Verfasser sich künftig immer mehr vom Manier-

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ton entfernt, und für einen eben so großen Reichthum an komischen Ideen sorgt, als er im komischen Phrasen besitzt, so wird er sich noch mehr Ruhm erlachen, als er sich ehedem erseufzt hat.

¼Rezension: Schmidt½ K a t u l l i s c h e G e d i c h t e

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Über die dramatische Dichtkunst von Hrn. Marmontel. Aus d e m F r a n z ö s i s c h e n , e r s t e r T h e i l . Leipzig, bey Schwickert, 1774, 7 Bog. in 8. Ob Kupferstiche und Vignetten denenjenigen, welche Alter, Stand, Denkungs- und Lebensart von der Bühne zurückhalten, die theatralische Vorstellung ersetzen können, möchte wohl großem Zweifel unterworfen seyn. Da also von dieser Seite die Chefs - d’oeuvre dramatiques in Teutschland schwerlich benutzt werden möchten, so hat Herr B e r t u c h den Freunden der dramatischen Kritick keinen unwichtigen Dienst geleistet, daß er die Abhandlun10

gen daraus einzeln und auszugsweise übersetzt hat. Philosophische Leser sind freylich durch unsers Leßings Dramaturgie verwöhnt; indessen werden diese Aufsätze vielen als Beylagen zur Dichtkunst des Hrn. Marmontel willkommen seyn. Sie handeln v o m S y s t e m , U r s p r u n g u n d F o r t g a n g d e r d r a m a t i s c h e n D i c h t k u n s t und vom T r a u e r s p i e l , und enthalten (wenn man auch den Werth des schönen Vortrags nicht mit in Anschlag bringen will) manche, wo nicht ganz neue, doch gewiß nicht genug bekannte und benutzte Bemerkungen und Reflexionen.

¼Rezension: Bertuch½ Ü b e r d i e d r a m a t i s c h e D i c h t k u n s t

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L u s t s p i e l e n a c h d e m P l a u t u s , f ü r s t e u t s c h e T h e a t e r . Frankf. und Leipz. 1774, 22 Bog. 8. Jetzt, da man so geschäftig ist, die grosen Geister der Alten wieder zu erwecken, hat jemand hier auch den Plautus beschworen, der zwar schon oft in Teutschland als Gespenst, aber noch nie so erschienen war, daß die Teutschen seine wahre Physiognomie hätten kennen lernen. — Weder buchstabierende Übersetzung, noch freye Nachahmung, sondern eine Art von Nachbildung erhalten wir hier, wie wir, so viel ich weiß, noch von keinem alten Dichter besitzen. Treue war nur ein Gesetz des Verfassers in Ansehung des Plans und 10

der wesentlichen Gedanken; hingegen dichtete er sich in die Person seines Plautus so sehr hinein, daß er, gleich einem Schauspieler vom Genie, ihm Ideen und Worte unterschieben konnte, die Plautus selbst billigen mußte. Nie suchte er ihn zu verschönern, sondern er verstärkte nur zuweilen einen Zug, damit er einleuchtender würde, rückte näher zusammen, was zu weit entfernt stand, füllte kleine Lücken aus, die sonst ein gelehrter Kommentar ausfüllen mußte. Die leichteste Arbeit war, neue Sitten mit alten zu vertauschen, wegzuwischen, was den letztern zu sehr entgegen lief, Auswüchse wegzuschneiden, beschwerlichen Überfluß zu tilgen und dergleichen. Da sich durch solche sorgfältige Bemühungen und durch die eigne komische Anlage des Überset-

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zers die Sprache zum Original umgebildet hat, so könnte man wohl wünschen, daß er sich auch in der Ökonomie der Stücke dieselbe Freyheit erlaubt hätte. Ein verstärkteres Interesse, ausgearbeitetere Charactere, verbesserte Entwikkelungen, würden ihm noch grösern Ruhm erworben haben. Nichts ist willkührlicher, als die Titel des Plautus, und daher sind auch diese abgeändert worden. Die Asinaria heißt das V ä t e r c h e n , weil der Vater seinem Sohne in allen Ausschweifungen Gesellschaft leistet, Aulularia die A u s s t e u e r , weil der Geitzige doch zuletzt eine Mitgift geben muß, der Miles gloriosus die E n t f ü h r u n g e n , weil dem Prahler, der eine Frau zu entführen meinte, seine Geliebte entführt wird, der Truculentus die B u h l s c h w e s t e r , weil mehr die

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Sitten dieser Gattung von Menschen den Innhalt ausmachen, als die Grobheiten eines Landjunkers, der Curculio die T ü r k e n s c l a v i n , weil die Erkennung und Befreyung derselben das Hauptintereße ist.

¼Rezension: Lenz½ L u s t s p i e l e

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Der Hofmeister, oder die Vortheile der Privaterziehung, eine K o m ö d i e , Leipzig, in der Weygandischen Buchhandlung, 1774, 10½ Bog. 8. Wenn ein Dichter beydes leistet, die Natur getreu schildert, und sich als einen Meister in der Kunst beweißt, so kann man in der That nicht mehr von ihm fodern. In der Mannigfaltigkeit der Charactere, in ihrer Entwicklung, in der Wahrscheinlichkeit und dem Anschauenden der Gesinnungen hat sich dieser Dichter als ein nicht gemeiner Kenner der Natur bewiesen. Ein Vater, der für blinde Liebe und Unwissenheit in der Erziehungskunst mit Verlust seines Verstandes büssen muß, eine Dame, die Dummheit und Airs genug hat, 10

den Hofmeister als den ersten Domesticken im Hause zu betrachten, ein romantisches Mädchen, das ein Opfer seiner verdorbnen Einbildungskraft wird, ein Schulmeister, der bey aller Pedanterey mehr Weisheit besitzt, als alle übrige Personen des Stücks, eine Wucherin, Frau Blitzer genannt; dis sind die vier Rollen, bey denen man am meisten den Beobachtungsgeist des Verfassers bewundert. Und doch treten ausserdem noch neunzehn Personen auf, die zwar nicht alle handeln, aber doch alle characteristisch reden. Illusion in leidenschaftlichen Gemälden hat er vollkommen in seiner Gewalt. Die Gradation in der Raserey des Vaters, die Scenen S. 21. 42. 57. 58, die Mischung von Liebe und Wuth S. 109, können unter einer grosen Menge ähnlicher Auftritte

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und Stellen zu Beyspielen dienen. Mit Recht hat er der Natur je zuweilen das aufgeopfert, was man Anstand zu nennen pflegt, und kein billiger Leser wird sich an Ausdrücken, wie S. 8, 35, 38 vorkommen, ärgern. Seine Stärke in der Kunst entdeckt uns die mehr als gemeine Philosophie, die durch und durch eingewürkt ist; die Geschicklichkeit, eine große Menge ausserordentlicher Begebenheiten gut vorzubereiten; die Ausbildung von den Charakteren des Pätus und Fritz von Berg, die den Leser bey allen ihren Thorheiten und Fehlern mehr an sich ziehen, als fast alle übrige Personen, (man lese z. E. S. 70, 134, 140); die raffinirte Laune in den Rollen des Wenzeslaus und Rehaar. — Hätte er doch, ein gleich großer Kenner der Natur und Kunst, beyde auch

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immer unzertrennlich mit einander verbunden! Aber so vermißt man zuweilen bey der Natur die Kunst, und bey der Kunst die Natur. Es mag in der Natur solche maschinenmäßige Seelen geben, wie der Hofmeister dieses Schauspiels

¼Rezension: Lenz½ D e r H o f m e i s t e r

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ist. Hier sollen wir Mitleid mit ihm haben, und dies ist unmöglich, wir müssen ihn v e r a c h t e n . In der Natur unterbrechen sich die Begebenheiten eben so sehr, als die hier nur gar zu sehr gehäuften Ereignisse. Aber dadurch wird der getäuschte Leser oft da verlassen, wo er am begierigsten ward, und keine Person ist so durchgeführt, daß wir uns befriedigt fühlten. In der Natur giebt es solche Raisonneurs, wie hier der Geheimerath ist. Doch bey allem Feuer seiner Reden (S. 36) bleibt er für das Schauspiel ein kalter Vertrauter. Um der Kunst willen, das heißt, um ein Stück, das einmal nicht Trauerspiel seyn sollte, nicht tragisch zu enden, ist die Entwicklung unnatürlich übereilt worden. Aussöhnungen, Verzeihungen, Wiedervereinigungen, Lotterien, Heyrathen folgen Schlag auf Schlag, so viele Schwierigkeiten allen diesem entgegenstanden. Am unnatürlichsten und übereiltesten ist des Hofmeisters Schicksal. Zu viel Kunst endlich in gesuchten Ausdrücken und einige Anglicomanie sind Lieblingsfehler unsrer Zeiten.

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D e r T e u t s c h e M e r k u r (Mitte September 1774)

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Vermischte Schriften von Joh. Caspar Lavater, erstes Bändc h e n , Winterthur, bey Steinr und Comp, 8. 22 Bogen. V e r m i s c h t e S c h r i f t e n heissen hier nicht gesammelte Aufsätze, die schon einzeln erschienen waren, (nur das erste Stück dieses Theils macht eine Ausnahme) sondern ein Magazin rhapsodischer Arbeiten, die Herr L a v a t e r von Zeit zu Zeit dem Publicum vorlegen will. Abhandlungen, einzele Gedanken, Auszüge aus Predigen, Erklärungen von Schriftstellen, Briefe, Gebete, Beobachtungen, Gedichte, Urtheile über alte und neue Bücher, Anzeigen guter Bücher, die gedruckt und noch nicht gedruckt sind, Erzählungen, Ge10

spräche, Rathschläge, Wünsche, Erfahrungen, Hofnungen — Dies sind die Rubriken, welche Herr L. ankündigt. Die Fruchtbarkeit seines Genies, und sein arbeitsames Leben versprechen den Lesern öftere und mannichfaltige Unterhaltungen. Diesmal giebt er ihnen 1) D e n k m a l a u f J o h . F e l i x H e ß , mit Lavaterischer Wärme abgefaßt. Ist es für eine Biographie zu panegyrisch, so reißt es doch den Leser hin; ist es durch eingeruckte Briefe zu weitläuftig, so ist es doch interessant. 2) M e i n e e i g e n t l i c h e M e y n u n g v o n d e n G a b e n d e s h e i l i g e n G e i s t e s , d e r K r a f t d e s G l a u b e n s u n d d e s G e b e t s , ein durch bekannte Widersprüche abgenöthigtes Glaubensbekenntniß. 3) E n t wurf zu einer einfältigen Form das heil. Abendmahl zu halten,

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ein sehr biblisches Formular. 4) E i n i g e p o e t i s c h e G e m ä h l d e a u s d e r e v a n g e l i s c h e n G e s c h i c h t e , drey Wunder Christi und die Geschichte seiner Geiselung in Hexameter gebracht. 5) E i n i g e O d e n u n d p o e t i s c h e B r i e f e an Breitinger, Bodmer, Basedow, Nüscheler, Ramler. Letztern ermahnt Lavater, nicht mehr Götterfabeln und die Lügen der Hölle zu mahlen, und versichert uns, daß Herr Ramler die Ermahnung gütig aufgenommen habe. 6) A n a l l e H e r r n B u c h h ä n d l e r i n d e r S c h w e i t z u n d i n T e u t s c h l a n d , eine Protestation gegen den Nachdruck.

¼Rezension: Lavater½ V e r m i s c h t e S c h r i f t e n

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Schlesische Anthologie herausgegeben von Carl Friedrich Lentn e r , d e r A r z n e y w i s s e n s c h a f t D o c t o r . Z w e y t e S a m m l u n g . Breslau und Leipzig, bey Gutsch, 1774, 258 S. in 8. Diese Sammlung hat, nach dem eignen Geständnisse des Herrn L e n t n e r , zu viel Lokalabsicht, als daß der M e r k u r ihrer gedenken würde, wenn er nicht von dem Verfasser n a m e n t l i c h wäre aufgefordert worden. Er soll ihm nemlich die Frage beantworten: „Ob es nicht gut wäre, die guten Stücke der Vergessenheit zu entreißen, welche in den Werken u n s r e r verstorbnen beynahe vergeßnen Dichter vergraben liegen?“ Die Antwort ist nicht leicht, weil 10

die Frage, dem Zusammenhang nach, Zweydeutigkeit hat. Redet Hr. Lentner, wie es scheint, von verstorbnen s c h l e s i s c h e n Dichtern, so wird es dem Publikum allerdings angenehm seyn, wenn er Stücke auffindet, die der Erhaltung eben so werth sind, als die der Vergessenheit entrissenen Gedichte von S c u l t e t u s und L o g a u . Meynt er die teutschen Dichter überhaupt, so ist seine Idee nicht neu, und von Hrn. Z a c h a r i ä , unsre Anthologen und Kalendermacher ungerechnet, zum Theil schon ausgeführt. Auf alle Fälle wäre die k r i t i s c h e S t r e n g e anzuwenden, wie er selbst gesteht. Ob er sie aber besitze, entscheidet seine schlesische Anthologie nicht, da er hier seine Gründe hatte, ihr zu entsagen.

¼Rezension: Lentner½ S c h l e s i s c h e A n t h o l o g i e

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G e d i c h t e v o n d e m Ü b e r s e t z e r d e s t r e u e n S c h ä f e r s , Mietau, bey Hinz, 1774. 5½ Bog. 8. Die Übersetzung des Pastor fido kündigte eben keinen gebohrnen Dichter an, doch hatte der Verfasser die Schönheiten seines Originals empfunden. Auch hier trift man hier und da eine gute Empfindung an, und, wenn gleich den Leser kein hoher Dichtergeist überraschen wird, so sind es doch immer Gedichte, die sich e i n m a l lesen lassen.

¼Rezension: Scheffner½ G e d i c h t e

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L y r i s c h e B l u m e n l e s e . Leipzig, bey Weidemanns Erben und Reich. 1774. Was l y r i s c h hier bedeute, wissen Alle die, welchen diese Sammlung als eine Fortsetzung der L i e d e r d e r T e u t s c h e n (von 1766) bekannt ist. Nicht unsre höhern Oden, sondern nur das Beste von unsern s i n g b a r e n Gedichten hat darinnen vereinigt werden sollen. Doch sind auf der einen Seite die größern Singstücke, Kantaten und Oratorien ausgeschlossen, auf der andern, Stücke, die ursprünglich zum Singen nicht bestimmt waren, (z. E. verschiedne Fragmente aus K l e i s t s Frühlinge) um der ausserordentlich melodischen Versifikation willen, aufgenommen worden. Da die Auswahl bey dergleichen 10

Sammlungen nicht sowohl auf allgemeinen Grundsätzen, als auf der, so mannigfaltig modificirten Empfindung beruht, so wird jeder selbst gegen einen R a m l e r Einwendungen zu machen haben. Ob die Nachwelt seine Wahl, wie die Klassification des Aristarch, ehren werde, darüber will ich hier keine Muthmasungen anstellen. Vornemlich, glaube ich, sollten diejenigen, welche nur einzeln und ohne jeden höchsten Grad der Vollkommenheit zu erreichen, Lieder gesungen haben, Herrn Rammler für die Erhaltung ihrer Arbeiten danken. Ich rechne dahin die Hrn. M ü l l e r , B e h r , F u c h s , B i s m a r k , H e n s l e r , T h o m s e n . — Unter den Dichtern von höherm Range kömmt Herr W e i ß e am häufigsten vor. Nach ihm rühren die meisten und besten

20

Gesänge von dem Ungenannten her, dessen Werth (aus den Liedern der Teutschen) bekannter als sein Name ist; und man darf nur hier das Lied S. 5 oder 58 lesen, um seine Manier wieder zu finden. — Einmal, nemlich in der W a r n u n g a n e i n e n s c h ö n e n K n a b e n S. 176 glaube ich Herrn Ramler selbst zu entdecken. Zahlreicher sind in dieser Fortsetzung, als sonst, die Gesänge mit Refrains. Nur zweymal habe ich ganz alte aus dem vorigen Jahrhundert bemerkt.

¼Rezension: Ramler½ L y r i s c h e B l u m e n l e s e

735

C l a v i g o , e i n T r a u e r s p i e l v o n G ö t h e . Leipzig, in der Weygandischen Buchhandlung, in 8. Woher der Inhalt dieses Trauerspiels entlehnt sey, ist keinem von den Lesern des Merkur mehr unbekannt, da im vorigen Bande die Übersetzung von der Geschichte gegeben worden, die der Dichter benutzt hat. B e a u m a r c h a i s kommt an, seine Schwester zu rächen; dies macht den ersten Act aus. Er beschämt den Clavigo auf die Art, wie daselbst erzählt worden; dies geschicht im zweiten. Clavigo sucht und erhält Verzeihung im dritten Aufzug. Im vierten keimt und reift seine neue Untreue; doch ist sie nicht von so viel 10

schwarzen Thaten begleitet, als in der Geschichte. Beaumarchais wird nicht so herumgezogen, nicht beraubt, und Clavigo thut alles erst auf Antrieb eines bösen Menschen, der ihn regiert. Der fünfte Aufzug muste von der Geschichte abweichen. Mariens Tod war nöthig, um das Stück zu einem Trauerspiele zu machen. Der Gram rafft sie hin. Nicht sie selbst, sondern ihre Leiche erscheint im letzten Act. Clavigo, der nach der wahren Geschichte nur seine Ämter verlor, wird auf ihrem Sarge entleibt. Sonst findet man oft die nemlichen Worte gebraucht, derer sich Beaumarchais in der Erzählung bedient. Jeder Leser von Gefühl wird in der Geschichte zwey interessante Hauptscenen gefunden haben, die Entschlossenheit des Beaumarchais und seine Gefangen-

20

nehmung. Die letztere hat der Dichter nicht benutzen wollen, aber dafür zwey andre rührende Auftritte ausgeführt, Mariens Verzeihung und ihr Leichenbegängniß. Am innigsten rührt die Verzeihung, und der Affect ist hier so steigend vorgestellt worden, daß der Dichter endlich Marien muß hinwegführen lassen. Aber die Procession mit aller ihrer brittischen Feyerlichkeit, und der gewöhnliche tragische Tod des Clavigo würde den Schluß des Stücks immer kalt laßen, wenn nicht Clavigos Monolog noch thäte, so wie überhaupt die Selbstgespräche den Verfasser in seiner Stärke zeigen. Clavigos Schicksal ist es übrigens nicht, das unsre meiste Theilnehmung fesselte. Ein zweydeutiger unentschlossener Charakter, dessen Meineid aber doch immer mehr empört,

30

als seine Reue rührt. Ein kalter Raisonneur, wie er ist, kann kein mächtiges Interesse hervorbringen. Er ist wohl ein gemilderter Bösewicht, aber seine Schwächen sind keine liebenswürdigen Schwächen. Das unglückliche Mäd-

¼Rezension: Goethe½ C l a v i g o

737

chen hat eine noch schwächere Rolle, als die Galotti, und das mit Recht, weil man der klagenden verlaßnen Mädchen zu gewohnt ist. Der Heroismus des Beaumarchais bleibt daher der wichtigste Theil dieses Dramas, und er würde unsre ganze Bewunderung haben, wenn nicht seine Rachsucht zu schauderhaft wäre. Am meisten sieht man die Kunst des Dichters in der stufenweisen Ankündigung von Clavigos neuer Untreue, S. 82. Nicht daß die einfache Geschichte mit unnöthigen Dichtungen überladen, aber doch daß aus der Erziehung der Franzosen so viel Züge, Wendungen, Gedanken, Sentiments gezogen würden, als die dramatische Illusion erfodert, wird jeder erwarten. Wenn nicht von dem, der viel hat, viel gefodert würde, so würde ich den Verfasser ohne Einschränkung loben. Bey so mancher Stelle, woran man den Meister erkennt, scheint er sich zuweilen vom Dialog in den Erzählungston zu verlieren, nicht immer gleich lebendige Gemälde zu geben, zu weilen ein wenig rednerisch überzuströmen, auch mit unter zu lang reden zu lassen. — Wenn Clavigo S. 53 kalt genug ist, im ersten Augenblick, da er Marien wiedersieht, eine ausgearbeitete Apologie von zwey Seiten herzusagen, muß man ihn hassen, zumal wenn er hernach selbst sagt: „Ich hätte mich zu deinen Füssen werfen, stumm meinen Schmerz, meine Reue ausweinen wollen, du hättest mich ohne Worte verstanden.“

738

D e r T e u t s c h e M e r k u r (Ende Dezember 1774 /Anfang Januar 1775)

10

Der neue Menoza, oder Geschichte des cumbanischen Prinzen T a n d i , e i n e K o m ö d i e , 132 S. in 8. 1774. in der Weygandischen Handlung. Unsre Dramenschreiber haben das Romantische schon zu sehr in unsre Schauspiele gebracht, als daß wir nöthig hätten, unsre Lustspiele so unwahrscheinlich zu machen, als wir das Trauerspiel wahrscheinlich zu machen suchen. Was Schakespearn auch in seinen Komödien aus den Novellen anklebt, sollte nicht nachgeahmt werden, wie es hier geschehen ist. Der Verfasser hat seine Abentheuer ganz selbst erfunden, aber solche Erfindungen sind nicht so rühmlich, als ehedem. In Ansehung der Ausführung sollte es lieber M i s c h 10

s p i e l als Komödie heißen. Raserey, und Enthusiasmus sind häufiger und lebhafter ausgedruckt, als komische Charaktere. So sehr auch der Verfasser in der Person des Bürgermeisters aller Kritik und aller Regeln spottet, so müste ich doch einige Erinnerungen über die Gattung vorausschicken, zu der er sein Product rechnet — Ich glaube seinen Lesern den besten Rath zu geben, wenn ich sie bitte, nur eine Scene auf einmal, und nie das Ganze zu lesen. Für einige bizarre und unnatürliche werden sie dann desto mehrere finden, wobey ihr Verstand, ihr Herz, und ihr Zwerchfell den heilsamen Anstoß erhalten, der zu neuen Bemerkungen in der moralischen Welt, zu grösserer Empfindsamkeit, und zu besserer Laune geneigt macht.

¼Rezension: Lenz½ D e r n e u e M e n o z a

739

D i e L e i d e n d e s j u n g e n W e r t h e r s , z w e y T h e i l e . Leipzig bey Weygand 1774. in 8. Nicht Leiden in dem Sinne, wie sonst die Romanhelden zu Wasser und zu Lande tausend Fährlichkeiten, auszustehen hatten, sondern ein Gemälde eines innern Seelenkampfes, wie der nur entwerfen kann, der den Schöpfer des Hamlet und des Othello studiert hat. Gresset ist, so viel ich weiß, der einzige dramatische Schriftsteller, welcher den S e l b s t m o r d nicht zur Pointe sondern zum Thema eines Stücks gemacht hat. Hier ist es aber nicht um kalte moralische Discussionen, sondern darum zu thun, die Wahrscheinlichkeit zu 10

zeigen, wie ein vernünftiger und sonst schätzbarer Mann bis zu einem solchen Schritte gebracht werden kann. Im Drama muß es noch immer eine rasche That scheinen, so wie man bey aller Mühe des Dichters die Ermordung der Emila Galotti durch ihren Vater doch unwahrscheinlich genannt hat. Hier aber in einer langen Reihe von Briefen können wir den Charakter desselben nach allen seinen kleinen Bestimmungen so durchschauen, daß wir ihn selbst an den Rand des Abgrundes begleiten. Und der Dichter hat ihn wie Pygmalions Bildsäule so beseelt, daß wir ihn vor Augen zu sehen glauben, und kein einziger Zug von ihm unkenntlich bleibt. Einen einzelnen Selbstmörder rechtfertigen, und auch nicht rechtfertigen, sondern nur zum Gegenstande des

20

Mitleids zu machen, in seinem Beyspiele zu zeigen, daß ein allzuweiches Herz und eine feurige Phantasie oft sehr verderbliche Gaben sind, heißt keine Apologie des Selbstmords schreiben. Dennoch ist dieser gewöhnliche Fehlschluß auch bey diesem Buche gemacht worden, unerachtet der Verfasser ausdrücklich die Erzählung nur denen zum Troste empfiehlt, die aus Geschick oder eigner Schuld keinen bessern finden können. Unzufriedenheit mit dem Schicksale ist eine der allgemeinen Leidenschaften, und daher sympathisirt hier jeder, zumal da Werthers liebenswürdige Schwärmerey und wallendes Herz jeden anstecken müssen. Ausser der Kunst des Verfassers, die Nüancen aller Leidenschaften zu treffen, verdient die populäre Philosophie Lob, womit

30

er sein ganzes Werk durchwürzt hat. I c h w i l l d a s G e g e n w ä r t i g e g e n i e ß e n , u n d d a s V e r g a n g n e s o l l m i r V e r g a n g e n s e y n , und hundert solche Maximen, die aus Werthers nicht misantropischen sondern bewegten

¼Rezension: Goethe½ D i e L e i d e n

741

Herzen fließen, machen mehr Eingang, als die strotzenden Predigten unsrer täglichen Romane.

742

D e r T e u t s c h e M e r k u r (Ende Dezember 1774 /Anfang Januar 1775)

Taschenbuch für Dichter und Dichterfreunde. Erste, zwoote u n d d r i t t e A b t h e i l u n g . Leipzig in der Dyckischen Buchhandlung. 8. 1774. Es ist ein eignes Ding um unser liebes Publikum, daß es gesunde Speise nicht lange in einerley Schüssel aufgetragen, und ein fortgehendes an sich gutes Werk unter einerley Titel sehen will. Ein Beweis davon ist Hrn. Rammlers l y r i s c h e B l u m e n l e s e , und gegenwärtiges T a s c h e n b u c h , welches ehedem A n t h o l o g i e d e r D e u t s c h e n hieß, und sich noch immer in seinem vorigen Werthe erhält. Dergleichen Sammlungen, wenn sie unter der Aufsicht eines geschmackvollen Kunstrichters gemacht werden, sind sowohl nützlich, 10

als auch dem Dichter, der seine geliebte Muse nur in seinen Erhohlungsstunden umarmen kann, angenehm. Sie kommen mir vor wie die öffentlichen Ausstellungen einer Mahlerakademie. Dort hängt der Professor und der Lehrling sein Gemählde auf, und hier finden wir schon geehrte Nahmen, von Meistern der Kunst, neben halbversteckten von Jünglingen, die noch hinter dem Vorhange stehen, und den aufmunternden oder zurückweisenden Zuruf des Publikums erwarten. Klug, wer sich nicht gleich durch das erste laute l’auteur! l’auteur! verführen läßt hervorzutreten!

¼Rezension: Schmid und Dyk½ T a s c h e n b u c h

743

E i n e B e r i c h t i g u n g . Im 7ten Bande unsers T . M e r k u r wird S. 347 der G r a f v o n L a u r a g a i s als Verfasser des l’an 2440 angegeben, welcher es aber nicht ist. Der wahre Verfasser davon ist Hr. M e r c i e r , der auch das vor kurzem erschienene Werk, Sur l’art dramatique, geschrieben hat.

Eine Berichtigung

745

Der jüngere Hr. Richter in Altenburg fährt mit seinem Verlag Engländischer Originale fort, und hat uns vor kurzem den E r s t e n B a n d von seiner Collection of New Plays geliefert, welcher 4 Stücke, nemlich the Westindian, the mistakes of a night, beydes Komödien, jene von C u m b e r l a n d , diese von G o l d s m i t h , Alzuma, eine Tragödie von M u r p h e y , und the monument in Arcadia, ein wäßerichtes Ding von K e a t e , enthält.

¼Anzeige: Richter½ C o l l e c t i o n

747

Inhaltsverzeichnis [180]

Die Wahl des Herkules. Ein lyrisches Drama

..................

1

[180.1]

Die Wahl des Herkules. Ein lyrisches Drama . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

[180.2]

Die Tugend an den Durchlauchtigsten Herzog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

[181]

Die Wahl des Herkules. Ein lyrisches Drama [  180]

[182]

Der Teutsche Merkur

[182.I]

Der Teutsche Merkur. Des dritten Bandes Erstes Stück

.....

27

27

¼Anmerkung: Friedrich August Clemens Werthes?½ Der Mohr von

[182.I.1]

[182.I.2]

[182.II]

.............................................

Venedig. Eine Erzählung nach dem Italiänischen des Giraldi Cinthio

30

Aufgabe eines Preises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

Der Teutsche Merkur. Des dritten Bandes Zweytes Stück

...

33

[182.II.1]

Vorbericht zum Anti-Cato . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

[182.II.2]

Die Wahl des Herkules. Eine dramatische Cantate [  180] . . . . . . . . . . . 50

[182.II.2.1]

Vorbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

[182.II.2.2]

Die Wahl des Herkules. Ein lyrisches Drama [  180.1]

[182.II.2.3]

Die Tugend an den Durchlauchtigsten Herzog [  180.2]

[182.II.3]

¼Friedrich Justin Bertuch: Die Regierungskunst, oder Unterricht eines alten Persischen Monarchen an seinen Sohn. Nach dem Englischen½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

[182.II.3.1]

Zusätze zu den mit Sternchen bezeichneten Stellen dieses Stücks

54 57

[182.II.3.1.1]

¼Zusatz½ (*) „Die Schwäche eines Regenten …“ . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

[182.II.3.1.2]

¼Zusatz½ (**) „Wenn die Staatsverfassung …“ . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

[182.II.3.1.3] [182.II.4] [182.II.4.1]

¼Zusatz½ (***) „Es ist unwidersprechlich …“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Der Geist Shakespears . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Der Geist Shakespears . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

[182.II.4.2]

Auszüge aus dem Hamlet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

[182.II.4.3]

¼Epilog½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72

Inhaltsverzeichnis

749

Der Teutsche Merkur. Des dritten Bandes Drittes Stück

[182.III] [182.III.1]

....

¼Anmerkung: Charlotte Reclam½ Wiegen-Lied an meinen Freund C**, da er mir klagte, daß er nicht schlafen könne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

[182.III.2]

[182.III.2.1] [182.III.3]

73

74

¼Friedrich Heinrich Jacobi½ An den Herausgeber des teutschen Merkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

¼Anmerkung½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

¼Anmerkung: Christoph Meiners? oder Christian Heinrich Schmid?½ Götze von Berlichingen, mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel. 1773

77

[182.III.4]

¼Anmerkung½ Auszug der merkwürdigsten politischen Neuigkeiten

78

[182.III.5]

Nachrichten an die Leser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

[182.III.5.1]

1. ¼Über den Danziger „Merkur“-Nachdruck½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

[182.III.5.2]

2. ¼Ankündigung eines Auszugs von Schweitzers Musik zur „Alceste“½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

Der Teutsche Merkur

[183]

.............................................

83

Der Herausgeber des Merkurs an das Publicum, besonders an die

[183.1]

Herren Collecteurs und Abonenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

Der Teutsche Merkur. Des vierten Bandes Erstes Stück

[183.I]

.....

87

Über einige ältere teutsche Singspiele, welche den Nahmen Alceste

[183.I.1]

führen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Der Teutsche Merkur. Des vierten Bandes Zweytes Stück

[183.II]

88

. . . 117

¼Anmerkung½ An einen Kastanienbaum, der einsam im K**schen

[183.II.1]

Garten in D** stand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 ¼Anmerkung: Friedrich August Clemens Werthes?½ Auszug aus des

[183.II.2]

Herrn P. Brydone Reise auf den Ätna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Ein sonderbares Beyspiel der herrschenden Sucht witzig zu reden,

[183.II.3]

in den Zeiten der Königin Elisabeth von England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Über eine Anekdote in Voltaire’s Universal-Historie, die Herzogin

[183.II.4]

von Mazarin, Hortensia Mancini, betreffend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

Der Teutsche Merkur. Des vierten Bandes Drittes Stück

[183.III] [183.III.1]

. . . . 135

Zusatz des Herausgebers ¼zu: Christian Heinrich Schmid½ Fortsetzung der kritischen Nachrichten vom teutschen Parnaß . . . . . 136

750

Inhaltsverzeichnis

[184]

Die Wahl des Herkules. Ein Lyrisches Drama [  180]

[185]

¼Handbuch. 1774: Disposition½ Salomon Helmonds Nachrichten aus der Geisterwelt. s. der Neue Geisterseher [ ¤ 185]11.2

[186]

¼Handbuch. 1774: Vorgemerkte Themen½ [ ¤ 186]11.2

[187]

¼Handbuch. 1774: Entwurfsschema½ [ ¤ 187]11.2

[188]

¼Handbuch. 1774: Anfang eines Entwurfs½ „Im Anfang dachten sich die Menschen …“ [ ¤ 188]11.2

[189]

¼Handbuch. 1774½ Betrachtungen über Apollonius von Tyana, mit einem Auszug seiner Geschichte [ ¤ 189]11.2

[190]

An Alcesten. An Madame Koch den 17ten Februar 1774

[191]

Der Teutsche Merkur

[191.I]

Der Teutsche Merkur. Des Fünften Bandes Erstes Stück

[191.I.0]

. . . . . . . . 137

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

. . . . 145

Nachricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

[191.I.1]

Nahmen der Herren Collecteurs für den Teutschen Merkur . . . . . . . . . 148

[191.I.2]

Neujahrswunsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152

[191.I.3]

Die Abderiten. Eine sehr wahrscheinliche Geschichte . . . . . . . . . . . . . . 156

[191.I.3.0]

Vorbericht des Verfassers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156

[191.I.3.1]

Die Abderiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158

[191.I.3.1.1]

1. ¼Kapitel½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158

[191.I.3.1.2]

2. ¼Kapitel½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

[191.I.3.1.3]

3. ¼Kapitel½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168

[191.I.3.1.4]

4. ¼Kapitel½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

[191.I.3.1.5]

5. ¼Kapitel½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

[191.I.3.1.6]

6. ¼Kapitel½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184

[191.I.3.1.7]

7. ¼Kapitel½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

[191.I.3.1.8]

8. ¼Kapitel½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

Inhaltsverzeichnis

751

[191.I.3.2]

Fortsetzung der Abderiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

[191.I.3.2.1]

9. ¼Kapitel½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

[191.I.3.2.2]

10. ¼Kapitel½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

[191.I.3.2.3]

11. ¼Kapitel½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214

[191.I.3.2.4]

12. ¼Kapitel½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222

[191.I.3.2.5] [191.I.3.3] [191.I.3.3.1] [191.I.3.4] [191.I.3.4.1] [191.I.3.5]

13. ¼Kapitel½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Fortsetzung der Abderiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 14. ¼Kapitel½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Die Abderiten. Zweyter Theil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 1. ¼Kapitel½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Die Abderiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268

[191.I.3.5.0]

An den Leser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268

[191.I.3.5.1]

15. ¼Kapitel½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

[191.I.3.5.2]

16. ¼Kapitel½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

[191.I.3.6] [191.I.3.6.1] [191.I.3.7]

Die Abderiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 17. ¼Kapitel½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 Die Abderiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298

[191.I.3.7.1]

18. ¼Kapitel½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298

[191.I.3.7.2]

19. ¼Kapitel½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302

[191.I.3.7.3]

20. ¼Kapitel½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305

[191.I.3.8] [191.I.3.8.1] [191.I.3.9]

Die Abderiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 21. ¼Kapitel½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Die Abderiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318

[191.I.3.9.1]

22. ¼Kapitel½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318

[191.I.3.9.2]

23. ¼Kapitel½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321

[191.I.3.9.3]

24. ¼Kapitel½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322

[191.I.3.9.4]

25. ¼Kapitel½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324

[191.I.3.9.5]

26. ¼Kapitel½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325

[191.I.3.10]

Onoekiamaxia oder der Proceß um des Esels Schatten. Ein Anhang zur Geschichte der Abderiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330

[191.I.3.10.0]

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330

[191.I.3.10.1]

1. ¼Kapitel½ Veranlassung des Prozesses, und Facti Species . . . . . 332

[191.I.3.10.2]

2. ¼Kapitel½ Verhandlung vor dem Stadtrichter Philippides . . . 334

[191.I.3.11]

752

Der Proceß um des Esels Schatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338

Inhaltsverzeichnis

[191.I.3.11.1]

3. ¼Kapitel½ Wie die Partheyen sich höhern Orts um Unterstützung bewerben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338

[191.I.3.11.2]

4. ¼Kapitel½ Gerichtliche Verhandlung. Relation des Assessor Miltias. Urthel, und was daraus erfolgt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343

[191.I.3.12] [191.I.3.12.1]

Der Prozeß über des Esels Schatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 5. ¼Kapitel½ Gesinnungen des Senats. Tugend der schönen Gorgo, und ihre Würkungen. Der Priester Strobylus tritt auf, und die Sache wird ernsthafter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348

[191.I.3.12.2]

6. ¼Kapitel½ Abdera theilt sich in zwoo Partheyen. Die Sache kommt vor Rath . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355

[191.I.3.13] [191.I.3.13.1]

Die Onoskiamachie fortgesetzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 7. ¼Kapitel½ Gute Ordnung in der Kanzley von Abdera. Präjudizial-Fälle, die nichts ausmachen. Das Volk will das Rathhaus stürmen, und wird von Agathyrsus besänftigt. Der Senat beschließt die Sache dem großen Rath zu überlassen . . . 360

[191.I.3.13.2]

8. ¼Kapitel½ Politik beyder Partheyen. Der Erzpriester verfolgt seinen erhaltenen Vortheil; die Schatten ziehen sich zurück, und der entscheidende Tag wird fest gesetzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366

[191.I.3.14] [191.I.3.14.1]

Die Onoskiamachie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 9. ¼Kapitel½ Was für eine Mine der Priester Strobylus gegen seinen Kollegen springen läßt. Zusammenberufung der Zehnmänner. Der Erzpriester wird vorgeladen, findet aber Mittel, sich sehr zu seinem Vortheil aus der Sache zu ziehen

[191.I.3.14.2]

373

10. ¼Kapitel½ Agathyrsus beruft seine Anhänger zusammen. Substanz seiner Rede an sie. Er ladet sie zu einem großen Opferfeste ein. Der Archon Onolaus will sein Amt niederlegen. Unruhe der Parthey des Erzpriesters über dieses Vorhaben. Durch was für eine List sie solches vereitelten . . . . . . . . . . . . . . . . 380

[191.I.3.15] [191.I.3.15.1]

Beschluß der Onoskiamachie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 11. ¼Kapitel½ Der Entscheidungstag. Maasregeln beyder Partheyen. Die Vierhundert versammeln sich, und das Gericht nimmt seinen Anfang. Philantropisch-patriotische Träume des Herausgebers dieser merkwürdigen Geschichte . . . . . . . . . . . . . . 387

[191.I.3.15.2]

12. ¼Kapitel½ Rede des Sykophanten Physignatus . . . . . . . . . . . . . . 392

[191.I.3.15.3]

13. ¼Kapitel½ Antwort des Sykophanten Polyphonus . . . . . . . . . . . 399

Inhaltsverzeichnis

753

[191.I.3.15.4]

14. ¼Kapitel½ Bewegungen, welche die Rede des Polyphonus verursachte. Nachtrag des Sykophanten Physignatus. Verlegenheit der Richter. Unvermuthete Entwicklung der ganzen Komödie und Wiederherstellung der Ruhe in Abdera

403

[191.I.3.16]

Das lezte Kapitel der Abderiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410

[191.I.3.17]

Fortsetzung und Beschluß des lezten Kapitels der Abderiten . . . . . 438

[191.I.3.18]

Nachschrift des Herausgebers an die sämmtlichen S. T. Herren Nachdrucker im H. R. Reich, in specie die zu Carlsruh und Tübingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 Über ein seltsames Compliment, das der deutschen Litteratur im

[191.I.4]

London Magazine gemacht worden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 [191.I.5]

Vom Doktor Mead [  Incerta]

[191.I.6]

Von Signora Gabrieli, erster Sängerin der Sicilianischen Oper [  Incerta] Druckfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468

Der Teutsche Merkur. Des Fünften Bandes Zweytes Stück

[191.II]

469

¼Anmerkung: Charlotte Reclam½ Poesien ¼An Herrn R**. Abschied an

[191.II.1]

Aglaja und Damon. An meinen Mann, zu seinem Geburtstag½ . . . . . . . 470 ¼Anmerkung: Samuel Heinrich Catel½ Die Freuden des Landlebens.

[191.II.2]

Eine Umschreibung der zweyten Epode des Horaz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 Fortsetzung der Abderiten [  191.I.3.2]

[191.II.3] [191.II.3.1]

9. ¼Kapitel½

[191.II.3.2]

10. ¼Kapitel½

[191.II.3.3]

11. ¼Kapitel½

[191.II.3.4]

12. ¼Kapitel½

[191.II.3.5]

13. ¼Kapitel½ ¼Anmerkung: Karl Theodor von Dalberg½ Von Bildung des

[191.II.4]

moralischen Charakters in Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 Druckfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478

Der Teutsche Merkur. Des Fünften Bandes Drittes Stück

[191.III]

. . . 479

Von schönen Seelen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480

[191.III.1] [191.III.2]

¼Anmerkung½ Raisonnirendes Verzeichniß neuer Bücher aus allen Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487

754

Inhaltsverzeichnis

¼Anzeige: Johann Melchior Götze½ Beweis, daß die Bahrdtische

[191.III.3]

Verteutschung des neuen Testaments keine Übersetzung, sondern eine vorsetzliche und frevelhafte Schändung der Worte des lebendigen Gottes sey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488 [191.III.4]

¼Zusatz½ Lustspiele von Johann Christian Brandes. Erster Theil . . . . . 489

[191.III.5]

¼Rezension: Ludwig Heinrich Freiherr von Bachoff von Echt½ Versuch in geistlichen Oden und Liedern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490 ¼Rezension: Johann Karl Wezel½ Lebensgeschichte Tobias Knauts,

[191.III.6]

des Weisen, sonst der Stammler genannt. Aus Familiennachrichten gesammlet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 ¼Rezension: Johann Friedrich Zückert½ Leben und Meynungen des

[191.III.7]

Hrn. Tristram Shandy, aus dem Englischen übersezt . . . . . . . . . . . . . . . 493 ¼Rezension½ Briefe über die Polizey des Kornhandels, herausgegeben

[191.III.8]

von H. L. W. Barkhausen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 [191.III.9]

¼Rezension½ Abhandlungen aus dem Finanzwesen, von C. F. Hugo . . . 496

[191.III.10]

¼Anmerkung: Johann Gottfried Wachsmuth½ Hrn. Mignots … Geschichte des Ottomannischen Reichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 Vermischte Anzeigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498

[191.III.11] [191.III.11.1]

¼Anzeige: Wieland und Schweitzer½ Alceste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498

[191.III.11.2]

¼Ankündigung: Johann Georg Jacobi½ Iris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498

[191.III.11.3]

¼Ankündigung: Johann Joachim Eschenburg½ Übersetzung von Shakespears theatralischen Werken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498 Antworten an unsre Correspondenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500

[191.III.12] [191.III.12.1] [191.III.12.2]

1) ¼Antwort auf einen Brief eines Ungenannten aus Prag½ . . . . . . . . 500 2) ¼Beurteilung der Epistel Fida in EIysium an ihren geliebten Lälius½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502

[191.III.12.3]

3) ¼Beurteilung Fragment eines Heldengedichts in Hexametren von einem Ungenannten½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502

[191.III.12.4]

4) ¼Absichtserklärung, eingesandte Verse zu begutachten und künftig abzudrucken½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502

[192]

¼Erklärung½ „gegen die Ausfälle, die ein gewisser Hr. W* *

im sogenannten Postreuter gegen uns gethan …“

. . . . . . . . . . . . . 503

Inhaltsverzeichnis

755

[193]

An Psyche. 1774 ¼„Die Quelle der Vergessenheit …“½

[194]

¼Epitaphium für die Landgräfin Caroline von Hessen-Darmstadt½

. . . . . . . . . . . . . . . . . 505

„Du, der Du unter diesen von Karolinens wohlthätiger Hand gepflanzten Bäumen wandelst …“

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521

[195]

Alceste von Wieland und Schweitzer [  171]

[196]

Der Teutsche Merkur

[196.I]

Der Teutsche Merkur. Des Sechsten Bandes Erstes Stück

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523

An Psyche ¼„Die Quelle der Vergessenheit …“½ [  193]

[196.I.1]

Des Sechsten Bandes Zweytes Stück

[196.II]

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525

Zwey Fragmente aus dem Gedichte Psyche, oder allegorische

[196.II.1]

Geschichte der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526 [196.II.1.1]

1. ¼Fragment½ „Diese Geschichte ist eine von den Erzählungen, womit der junge Mag, Alkahol, die schöne Aspasia beym Mondschein zu unterhalten pflegte …“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526

[196.II.1.2]

2. ¼Fragment½ Fortsetzung des Stücks: Psyche unter den Grazien

528

Fortsetzung der Abderiten [  191.I.3.3]

[196.II.2] [196.II.2.1]

14. ¼Kapitel½ ¼Gottlob David Hartmann: Über das Ideal einer Geschichte½ . . . . . . . . 532

[196.II.3] [196.II.3.1] [196.II.3.2]

¼Anmerkung½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532 Anmerkungen zu vorstehendem Aufsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532

[196.II.4]

Viel Wahrheit in wenig Zeilen! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536

[196.II.5]

Über eine Stelle des Cicero, die Perspectiv in Werken der Griechischen Mahler betreffend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537

Des Sechsten Bandes Drittes Stück

[196.III] [196.III.1]

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543

¼Anmerkung: Ernst August Anton von Göchhausen?½ Versuch einer Übersetzung des 26sten Kapitels des Tacitus de Moribus Germanorum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544

[196.III.2]

¼Friedrich August Werthes½ Versuch einer Übersetzung des Orlando Furioso . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545

756

Inhaltsverzeichnis

[196.III.2.1] [196.III.2.2] [196.III.3]

Vorbericht des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 ¼Anmerkungen 1–4½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 ¼Rezension: Johann Wolfgang Goethe½ Über das Schauspiel, Götz von Berlichingen, mit der eisernen Hand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550

[196.III.4]

Über eine Stelle in Lucians Hippias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559

[196.III.5]

¼Rezension½ Die neuesten Offenbarungen Gottes in Briefen und Erzählungen, verteutscht durch D. Carl Friedrich Bahrdt [  Incerta]

[196.III.6]

¼Rezension½ Herrn Ludwigs, Freyherrn von Holberg, allgemeine Kirchenhistorie von dem Jahr Christi 1700 bis 1750 [  Incerta]

[196.III.7]

¼Rezension: Johann Wolfgang Goethe½ Götter, Helden und Wieland.

[196.III.8]

¼Anzeige der Übersetzung: John Hawkesworth½ Geschichte der

Eine Farce . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562

Englischen Seereisen und Entdeckungen in der südlichen Hemisphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 [196.III.9]

¼Anzeige der Übersetzung: Jean Claude Adrien Helve´tius½ über den Menschen, dessen Geisteskräfte und dessen Erziehung . . . . . . . . . . . . . 565

[196.III.10]

Erklärung des Herausgebers über die Recension N. 2. S. 345 im Fünften Band des Merkur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566

[196.III.11]

Nacherinnerung des Herausgebers zu dem auf der 211 Seite befindlichen Urtheil eines Ungenannten über Hrn. Le Bret . . . . . . . . . 568 Druckfehler im 5ten Bande des Merkur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569

[197]

Die Abderiten¼.½ Eine sehr wahrscheinliche Geschichte [  191.I.3]

[197.0]

Vorbericht des Verfassers [  191.I.3.0]

[197.1]

Die Abderiten [  191.I.3.1]

[197.1.1]

1. ¼Kapitel½ [  191.I.3.1.1]

[197.1.2]

2. ¼Kapitel½ [  191.I.3.1.2]

[197.1.3]

3. ¼Kapitel½ [  191.I.3.1.3]

[197.1.4]

4. ¼Kapitel½ [  191.I.3.1.4]

[197.1.5]

5. ¼Kapitel½ [  191.I.3.1.5]

[197.1.6]

6. ¼Kapitel½ [  191.I.3.1.6]

[197.1.7]

7. ¼Kapitel½ [  191.I.3.1.7]

[197.1.8]

8. ¼Kapitel½ [  191.I.3.1.8]

[197.1.9]

9. ¼Kapitel½ [  191.I.3.2.1]

Inhaltsverzeichnis

757

[197.1.10]

10. ¼Kapitel½ [  191.I.3.2.2]

[197.1.11]

11. ¼Kapitel½ [  191.I.3.2.3]

[197.1.12]

12. ¼Kapitel½ [  191.I.3.2.4]

[197.1.13]

13. ¼Kapitel½ [  191.I.3.2.5]

[197.1.14]

14. ¼Kapitel½ [  191.I.3.3.1]

¼Johann Georg Sulzer½ Naiv. (Schöne Künste.) [  Incerta]

[198]

¼Anmerkungen über das Naive½

[198.1]

[199]

Der Teutsche Merkur

[199.I]

Der Teutsche Merkur. Des Siebenten Bandes Erstes Stück

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571

573

Die Abderiten. Zweyter Theil [  191.I.3.4]

[199.I.1] [199.I.1.1]

1. ¼Kapitel½ Der verklagte Amor. Ein Gedicht in vier Büchern [  164]

[199.I.2] [199.I.2.0]

An den Leser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574

[199.I.2.1]

Erstes Buch [  164.1] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576

[199.I.2.2]

Zweytes Buch [  164.2] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584

[199.I.2.3]

Drittes Buch [  164.3] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592

[199.I.2.4]

Viertes Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 602

Der Teutsche Merkur. Des Siebenten Bandes Drittes Stück

[199.III] [199.III.1]

621

Stilpon oder über die Wahl eines Oberzunftmeisters von Megara. Eine Unterredung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 622

[199.III.2]

¼Redaktionelle Nachricht zu den Rezensionsrubriken½ Arzneywissenschaft und Chymie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646

[199.III.3]

¼Rezension½ Die deutsche GelehrtenRepublick, ihre Einrichtung, ihre Gesetze, Geschichte des letzten Landtags, auf Befehl der Aldermänner durch Salogast und Wlemar, herausgegeben von Klopstock, erster Theil [  Incerta]

[199.III.4]

¼Rezension: Johann Jakob Wilhelm Heinse½ Laidion, oder die Eleusinischen Geheimniße, erster Theil [  Incerta]

[199.III.5]

¼Rezension: Christian Friedrich von Blanckenburg½ Versuch über den Roman [  Incerta]

[199.III.6]

758

¼Rezension: Karl Friedrich Kretschmann½ Hymnen [  Incerta]

Inhaltsverzeichnis

[199.III.7]

¼Rezension: Klamer Eberhard Karl Schmidt½ Katullische Gedichte

[199.III.8]

¼Rezension: Friedrich Justin Bertuch½ Über die dramatische

[199.III.9]

¼Rezension: Jakob Michael Reinhold Lenz½ Lustspiele nach dem

[199.III.10]

¼Rezension: Jakob Michael Reinhold Lenz½ Der Hofmeister, oder die

[  Incerta]

Dichtkunst von Hrn. Marmontel [  Incerta]

Plautus, fürs teutsche Theater [  Incerta]

Vortheile der Privaterziehung, eine Komödie [  Incerta] [199.III.11]

¼Rezension: Tobias Philipp von Gebler½ Adelheid von Siegmar, ein Trauerspiel in fünf Aufzügen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647

[199.III.12]

¼Rezension½ Vermischte Schriften von Joh. Caspar Lavater, erstes Bändchen [  Incerta]

[199.III.13]

¼Rezension½ Schlesische Anthologie herausgegeben von Carl Friedrich Lentner, der Arzneywissenschaft Doctor. Zweyte Sammlung [  Incerta]

[199.III.14]

¼Rezension: Johann George Scheffner½ Gedichte von dem Übersetzer des treuen Schäfers [  Incerta]

[199.III.15]

¼Rezension: Johann Karl Wezel½ Lebensgeschichte Tobias Knauts,

[199.III.16]

Nachricht, den auf ein Lehrbuch für Landschulen ausgesetzten Preiß

des Weisen, sonst der Stammler genannt. Zweyter Band . . . . . . . . . . . . 648

betreffend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649 [199.III.17]

Antworten an einige ungenannte Correspondenten . . . . . . . . . . . . . . . . . 651

[199.III.18]

An die Herren Collecteurs des teutschen Merkur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653 Druckfehler und Verbeßerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 654

[200]

Der verklagte Amor ein Gedicht in vier Büchern [  199.I.2]

[201]

Der Teutsche Merkur

[201.I]

Der Teutsche Merkur. Des Achten Bandes Erstes Stück

[201.I.1]

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655

. . . . . 657

¼Anmerkung: Johann Heinrich Campe½ Der Einsiedler von Warkworth. Eine Northumberländische Ballade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 658

[201.I.2]

Proben einer neuen Übersetzung der Briefe des Plinius, von Wieland 659

[201.I.2.1]

1. An seinen Freund Cornelius Tacitus. I. 6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659

[201.I.2.2]

2. An Fundanus. I. 9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 660

Inhaltsverzeichnis

759

[201.I.2.3]

3. An seinen Freund Atrius. I. 10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 661

[201.I.2.4]

4. An seinen Freund Junius Mauricus. I. 14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664

[201.I.2.5]

5. An Septitius Clarus. I. 15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 666

[201.I.2.6]

6. An Cornelius Titianus. I. 17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667

[201.I.2.7]

7. An den Bebius. I. 24 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 668

[201.I.2.8]

8. An den Priscus. III. 21 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669

[201.I.2.9]

9. An seinen Maximus. VII. 26 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671

Der Teutsche Merkur. Des Achten Bandes Zweytes Stück

[201.II]

. . . 675

¼Anmerkungen: Johann Friedrich Freiherr von Cronegk½ Monvmenta

[201.II.1]

virorvm clarissimorvm ex tenebris saecvli XVIII ervta a Joh. Mart. Moromastige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 676

Der Teutsche Merkur. Des Achten Bandes Drittes Stück

[201.III]

. . . . 677

[201.III.1]

¼Anmerkung: Carolina von der Lühe½ An meine Freundin C. v. S. . . . . 678

[201.III.2]

¼Redaktionelle Nachricht zur Rezensionsrubrik½ Rechtsgelehrsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679

[201.III.3]

¼Rezension: Karl Wilhelm Ramler½ Lyrische Blumenlese [  Incerta]

[201.III.4]

¼Rezension½ Clavigo, ein Trauerspiel von Göthe [  Incerta]

[201.III.5]

¼Rezension: Jakob Michael Reinhold Lenz½ Der neue Menoza, oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi, eine Komödie [  Incerta]

[201.III.6]

¼Rezension: Johann Wolfgang Goethe½ Die Leiden des jungen Werthers, zwey Theile [  Incerta]

[201.III.7]

¼Rezension: Christian Heinrich Schmid und Johann Gottfried Dyk½ Taschenbuch für Dichter und Dichterfreunde. Erste, zwoote und dritte Abtheilung [  Incerta]

[201.III.8]

¼Rezension½ Le Memorial d’un Mondain, par Mr. le Comte Max. Lamberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 680

[201.III.9]

¼Rezension: Laurence Sterne½ Tristrams Schandys Leben und Meynungen. 9 Theile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 682

[201.III.10]

Eine Berichtigung [  Incerta]

[201.III.11]

¼Anzeige: Johann Ludwig Richter½ Collection of New Plays [  Incerta]

760

Inhaltsverzeichnis

[202]

Prolog zum Solimann; gehalten in Erfurt von Madam Abbt. 1769

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 685

Incerta [191.I.5]

Vom Doktor Mead

[191.I.6]

Von Signora Gabrieli, erster Sängerin der Sicilianischen Oper

[196.III.5]

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693

¼Rezension½ Die neuesten Offenbarungen Gottes in Briefen

und Erzählungen, verteutscht durch D. Carl Friedrich Bahrdt [196.III.6]

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 697

¼Rezension½ Herrn Ludwigs, Freyherrn von Holberg,

allgemeine Kirchenhistorie von dem Jahr Christi 1700 bis 1750 [198] [198.1]

[199.III.3]

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 699

¼Johann Georg Sulzer½ Naiv. (Schöne Künste.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 701 ¼Anmerkungen über das Naive½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703 ¼Rezension½ Die deutsche GelehrtenRepublick, ihre

Einrichtung, ihre Gesetze, Geschichte des letzten Landtags, auf Befehl der Aldermänner durch Salogast und Wlemar, herausgegeben von Klopstock, erster Theil [199.III.4]

¼Rezension: Johann Jakob Wilhelm Heinse½ Laidion, oder die

Eleusinischen Geheimniße, erster Theil [199.III.5]

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 715

¼Rezension: Christian Friedrich von Blanckenburg½ Versuch über

den Roman [199.III.6]

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 717

¼Rezension: Karl Friedrich Kretschmann½ Hymnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 719

Inhaltsverzeichnis

761

[199.III.7]

¼Rezension: Klamer Eberhard Karl Schmidt½ Katullische Gedichte

[199.III.8]

¼Rezension: Friedrich Justin Bertuch½ Über die dramatische

Dichtkunst von Hrn. Marmontel [199.III.9]

721

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723

¼Rezension: Jakob Michael Reinhold Lenz½ Lustspiele nach dem

Plautus, fürs teutsche Theater

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 725

[199.III.10] ¼Rezension: Jakob Michael Reinhold Lenz½ Der Hofmeister, oder

die Vortheile der Privaterziehung, eine Komödie

. . . . . . . . . . . . . 727

[199.III.12] ¼Rezension½ Vermischte Schriften von Joh. Caspar Lavater,

erstes Bändchen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 729

[199.III.13] ¼Rezension½ Schlesische Anthologie herausgegeben von Carl

Friedrich Lentner, der Arzneywissenschaft Doctor. Zweyte Sammlung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 731

[199.III.14] ¼Rezension: Johann George Scheffner½ Gedichte von dem

Übersetzer des treuen Schäfers

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 733

[201.III.3]

¼Rezension: Karl Wilhelm Ramler½ Lyrische Blumenlese . . . . . . . . . . . . 735

[201.III.4]

¼Rezension½ Clavigo, ein Trauerspiel von Göthe . . . . . . . . . . . . . . . . . 737

[201.III.5]

¼Rezension: Jakob Michael Reinhold Lenz½ Der neue Menoza, oder

Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi, eine Komödie [201.III.6]

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 739

¼Rezension: Johann Wolfgang Goethe½ Die Leiden des jungen

Werthers, zwey Theile [201.III.7]

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 741

¼Rezension: Christian Heinrich Schmid und Johann Gottfried Dyk½

Taschenbuch für Dichter und Dichterfreunde. Erste, zwoote und dritte Abtheilung

762

Inhaltsverzeichnis

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743

[201.III.10]

Eine Berichtigung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 745

[201.III.11] ¼Anzeige: Johann Ludwig Richter½ Collection of New Plays . . . . . . . . . 747

Inhaltsverzeichnis

763